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Tabu

One Shots für Harry Potter RPGs
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Liebste Monny,
ein wenig zu spät, aber ich hoffe, du freust dich dennoch über dein Geburtstagsgeschenk ♥ Alles Gute, meine Liebe und ich freue mich darauf, die beiden auch einmal intime auszuprobieren. Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Meine liebe Moony,
zu deinem Geburtstag alles Gute ♥ Ich hoffe, die kleinen Episoden sagen dir zu, auch wenn es nicht viel ist und ich an einigen Stellen sehr unzufrieden bin, ABER es musste raus und es fühlt sich gut an, es dir endlich überreichen zu können :D

Akt I: 12 Jahre / 13 Jahre
Akt 2: 15 Jahre / 16 Jahre
Akt 3: 17 Jahre / 18 Jahre
Akt 4: 20 Jahre / 21 Jahre
Akt 5: - heute - Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Moonylein~ Dieses Mal nicht zu spät .. dafür ein wenig zu früh. ♥
Ich hoffe du freust dich über die beiden! :3 Ich denke, sie sind eine doppelte Überraschung. *hust* Komplett anzeigen

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Tabu

Da saßen sie wieder.

Sein Magen verkrampfte sich. Alles in ihm zog sich zusammen. Wut. Heiße, blinde Wut. Wildes, unbändiges Verlangen. Grenzenlose, herrische Eifersucht. Das alles vermischte sich zu einem tödlichen, alles mit sich reißendem Sog und hinterließ nur einen Gedanken: ich will sie. Ich werde sie bekommen.

Doch dem war nicht so.

Drei Jahre. Drei Jahre lange begehrte er sie nun schon, liebte sie, vergötterte sie. Hatte Landon es nicht bemerkt? Oder hatte er es bemerkt und es war ihm egal? Die Wut wurde stärker, erbarmungsloser. Verzweiflung durchflutete seine Gefühlswelt, hinterließ Kopfschmerzen und geöffnete Tränendrüsen.

Eigentlich hätte er sich schon lange daran gewöhnt haben müssen. Sie waren nicht erst seit gestern ein Paar. Nein, sogar schon ziemlich lange. Seit sieben Monaten nun schon musste er ihr Glück, ihre Liebe, ihr Zusammensein ertragen. Landon fragte ihn immer wieder, was er in letzter Zeit hatte, aber was sollte er sagen? „Ich liebe deine Freundin“?

Mitleidig wandte er sich von der Szene ab. Er zog die Nase hoch, als er bemerkte, dass er weinte und ballte die Hände zu Fäusten. Es gab keinen Ort, wo er sich vor den beiden verstecken konnte. Er konnte nirgends hin. Verzweiflung machte sich in ihm breit, füllte jeden noch so kleinen Teil seines Körpers aus und brachte ihn dazu, laut loszuschreien. Verwirrte Augen lagen auf ihm, doch keiner der beiden rannte ihm nach, als er den Gemeinschaftsraum verließ.

Was hatte er auch erwartet?

Einen umsichtigen Freund, der ihm den Vortritt lässt, wie er es einst getan hat?

Eine liebende Freundin, die sich endlich für ihn entscheiden würde?

Die Tränen flossen – er hasste sich in dem Moment für seine Schwäche. Das war nicht er. Er war nicht so. Aber was sollte er tun? Er liebte Trish – die Freundin seines besten Freundes. Er wollte Landon nicht verletzten, doch er wollte Trish. Je weiter sie entfernt war, je enger sie mit Landon zusammen war, je glücklicher die beiden waren … desto mehr wollte er sie. Desto schneller wollte er sie sein eigen nennen. Desto heftiger wurden seine Gefühle ihr gegenüber.

Wieso konnte es nicht aufhören?

Wieso er?

Wieso sie?

Wieso Landon?

Schmerzhaft krampfte sich sein Herz zusammen, als das Bild der beiden vor seinem inneren Auge auftauchte. Seine Lungen brannten, er achtete nicht auf die Leute, die ihm entgegen kamen. Ängstlich rasselte sein Atem – würde Landon es herausfinden?

Frische Luft.

Der Regen durchnässte sein Oberteil binnen weniger Sekunden. Der Wind tobte, schrie mit ihm um die Wette, als er am Rand des Sees auf die Knie zusammenbrach und die Hände ins Gras krallte. Immer wieder schlug er auf den Boden ein, die Tränen vermischten sich mit dem Regen. Grelle Blitze erhellten den Himmel und gaben den Blick auf die kümmerliche Gestalt des jungen Mannes preis.

Erschöpft fiel er ins Gras. Das Gesicht schmiegte sich an die nasse Erde. Er zitterte. Weinte. Wie ein kleines Kind, das nicht bekam, was es wollte.

Ja, er bekam nicht das was er wollte.

Er hatte es freiwillig hergegeben. Hatte es Landon überlassen.

Wusste er eigentlich was er ihm damit antat? Wusste Landon, was er für ihn durchlitt?

Nein, vermutlich nicht und es war besser so.

Das Bild der beiden, glücklich vereint, presste ihm alle Luft aus den Lungen, machte es ihm schwer zu atmen. Alles in ihm rebellierte. Er wollte sie, aber Landon wollte sie auch. Was sollte er machen, beim verdammten Salazar Slytherin, was?!

Sie war Tabu. Landons Freundin. Und doch…

Sie raubte ihm den Atem. Hatte sein Herz gestohlen. Und diese räudige Diebin wusste noch nicht einmal etwas davon…

Schwach, die Arme wie Pudding, die Beine zu nichts zu gebrauchen, richtete er sich auf die Knie auf und starrte in den schwarzen Himmel, ließ sein Gesicht beregnen. Sein Gesicht war zu einer hässlichen, wütenden, verletzten Fratze verzogen, der Mund stand ihm offen. Der Regen tat nicht gut, wie er gehofft hatte. Er tat noch mehr weh. Riss ein neuerliches Loch in seine Brust.

„VERDAMMTE SCHEIßE!!! ICH LIEBE DICH!!!“
 

Sie stand vor ihm. Die Verkörperung seiner Liebe, seines Verlangens, seiner Lust, seiner unendlichen Begierde. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals, als sie ihn anschaute und ein minimales, überhebliches Lächeln ihre Lippen zierte. Sie wusste, wie es um seine Gefühle stand. Er hatte es ihr gesagt. Er hatte es nicht mehr ausgehalten, war beinahe explodiert. Er hatte Landon betrogen und dennoch fühlte es sich richtig an.

Das erste Mal seit sieben verdammten harten Monaten fühlte sich etwas wieder richtig gut an.

Doch ein kleiner Haken war da…

Sie war ihm nahe.

Sehr nahe.

Zu nahe…

Er konnte ihren Atem auf seinen Lippen spüren, ihre Hände an seinem Rücken entlangfahren spüren und ihre Brüste an seiner Brust spüren. Ihr kontinuierlicher Herzschlag war ein Witz, scherzte über den seinen, der nicht mehr normal war. Ihre Berührungen taten unendlich gut und hinterließen brennende Bahnen, wo immer sie ihn anfasste. Ihr Atem löste Gänsehaut aus und er vergrub sein Gesicht in ihren rosig duftenden Haaren. Sog ihren Geruch tief ein, schlang die Arme um sie.

Seins.

Endlich.

Nur für diesen Moment.

Sie wehrte sich nicht. Im Gegenteil. Drückte sich noch enger an ihn.

Plötzlich durchzuckte ein Schmerz seinen Kopf. Das Bild Landons tauchte vor ihm auf. Sein bester Freund, sein Bruder, sein Ein und Alles seit Jahren, schon vor ihr. Leicht drückte er sich von ihr, nicht gewillt, sie ganz herzugeben.

Er schüttelte den Kopf, sie hob eine Braue, fuhr die Brustmuskeln nach.

Schwach lehnte er sich gegen die Wand hinter sich, hielt ihre Hand fest und schüttelte abermals den Kopf, flehentlich. Sie durfte nicht weitermachen. Sie musste…

„Gehen… Bitte. Geh“, hauchte er, doch seine Worte klangen erzwungen, nicht ehrlich. Ihre Finger legten sich auf seine Lippen, ihr Körper war präsent, sein Herz hämmerte, immerzu. Sein Verstand verabschiedete sich, all die Vorsätze, sie endlich an Landon freizugeben… Sie endlich gehen zu lassen… Sie verschwanden mit ihrem ersten Kuss.

Und aus einem Kuss wurden immer mehr.

Es blieb nicht bei einem, zwei oder auch zehn. Sie trafen sich immer wieder, bald wurde aus Küssen Anfassen und aus Anfassen Sex.

Neben der unendlichen Zufriedenheit, war jedes Mal der bittere Beigeschmack einer Lüge bei ihrem Treffen. Nun war sie endlich sein … Und doch war da ständig das Gesicht Landons, das ihn verfolgte.

Landon war immer treu, loyal und ehrlich. Und er? Er Verräter lag nun an seinem Platz.

Tabu.

Die Freundin des besten Freundes war Tabu.

Was hatte er nur angerichtet…?

Ein Blick auf die Frau neben sich blies seine Gedanken hinfort.

Das einzig Richtige. Für sich. Und leider war er ein Egoist.

Désir

Er spürte die Hände auf seinem Oberkörper. Sanft. Sündig. Genießerisch schloss er die Augen, gab sich den Berührungen hin. Überall brannte die Leidenschaft in seinem Körper, sie prickelte und drohte überzukochen. Sie verzehrte ihn von innen heraus, aber dennoch tat sie gut. So verdammt gut. Wenn das hier Sünde war, dann bekannte er sich schuldig in allen Punkten.

Der heiße Atem perlte von seinen Lippen ab, bevor er sich auf selbige biss und sich weit zurücklehnte. Ganz leicht nur winkelte er eines seiner Beine an, ließ die Sünde zwischen seine Beine rutschen und die feurigen Lippen legten sich ein ums andere Mal auf seine gierig aufgesperrten.

“Nun beende es schon”, keuchte er leise, doch die Sünde verschlang seine Worte. Erstickte seinen Protest im Keim, als die Hände über Schulterblatt und Schultern fuhren. Ein wirres, haltloses Stöhnen entfuhr ihm. Heiseres Lachen mischte sich in sein unregelmäßiges Keuchen. Die Luft war erfüllt von Erregung und Verlangen. Warum wurde er so gequält?

Hektisch zog er sich den Pullover aus, fummelte an der Gürtelschnalle der Sünde herum, doch seine Finger zitterten vor Aufregung und Lust. Helfende, sichere Hände kamen ihm zur Hilfe und er schluckte beim Anblick der Vollkommenheit. “Was … soll ich tun?”, fragte er und schaute auf. Tiefbraune Augen schauten in die seinen, fingen seinen Blick ein, drangen tief in sein Bewusstsein ein. Ein ungehaltenes Stöhnen entwich ihm, als die Sünde ihn sanft verwöhnte. Er warf den Kopf in den Nacken, krallte sich in die brünette Haarpracht und spürte, wie die Hitze sich überall im Körper ausbreitete. “Tu, was immer du willst”, hörte er die Stimme der Sünde in seinem Ohr kitzeln und bevor er wusste, was er da tat, übernahm er die Oberhand. Drückte den sehnigen Oberkörper in die Bettlacken, schwang eines der Beine über den Unterleib der Sünde und versiegelte die Lippen, bevor Widerstand laut wurde. Wie einfach das alles ging. Als befände er sich in einem Traum…

Gefangen von der Leidenschaft, wanderten seine Hände ziellos über die Brust der Sünde, liebkosten sie mit den Lippen. Seine Zähne bissen sich fest. Er saugte an dem harten Fleisch, genoss jeden salzigen Tropfen Schweiß, den er aufnahm. Genoss jeden einzelnen Muskel, den er aufmerksam mit den Fingerspitzen nachzog. Genoss den herben Geruch nach Duschgel und er genoss den Anblick Logans unter sich.

Logan - die Sünde.

Schauer liefen über seinen Rücken, doch er ließ sich nicht mehr bändigen. Er konnte gar nicht mehr anders, sondern befreite die Sünde von dem überflüssigen Stück Stoff. Shirt und Boxer folgten dem viel zu dicken Pullover auf den Boden - er trauerte ihm keinen Moment nach. Quälend langsam folgten die schlanken Finger den Bahnen des männlichen groben Körpers, hielten am Schamansatz inne und er schaute auf.

Das Gesicht des Brünetten war gerötet - ob vom Alkohol oder von der Situation vermochte er nicht zu sagen. Sein einer Arm hing nutzlos vom Bett hinunter, der andere war über die wunderschönen Augen gelegt, gerade so, dass er unter ihm hindurch zu Matthew schielen konnte. Kleine Schweißtropfen nässten das Haar am Ansatz, die Hand suchte nach Matthews Kopf.

Er ließ sich ziehen.

Ließ es zu, dass Logan sich einen Kuss stahl, die Sünde fortgesetzt wurde. Schmerzhaft zog Logan seinen Kopf zurück, als er sich aufsetzte und nun seinen Hals mit Küssen übersäte. Doch nur für einen kurzen Augenblick. Seine Lippen glitten zum Schlüsselbein, während seine Hand auf eine wahnwitzige Erkundungstour ging - zuerst über die Brust und die empfindlichen Knospen. Unter der harten Berührung wurden sie ganz zart, ganz rosig. Die kalten Hände hinterließen Gänsehaut, wohin auch immer sie fuhren. Hüfte. Hüftknochen. Taille. “Ah!”

Viel, viel tiefer.

Logans Hand fuhr ungehalten über seine Männlichkeit, seine Lippen hinterließen rote Spuren, seine Zähne blutige Leidenschaft. Immer wieder stöhnte er ungehalten und seine Laute mischten sich zu Logans ungleichmäßigem Atem, bis sie ein und der selbe Ton waren.

Plötzlich war seine Jeans weg.

Die Boxer auch. Es war ungewohnt luftig um die Männlichkeit, doch es sollte nicht lange kühl bleiben, denn Logans harte, große Hände umschlossen sie sofort. “S-Stopp! Warte!”

“Worauf?”

“Ich habe … etwas gehört.”

“Sehr schmeichelhaft, Matty, aber ich habe dich doch noch nicht um den Verstand gebracht, hm?” Die rauen Worte an seiner Ohrmuschel brachten Matthew um jeglichen Funken Verstand. Hatte er eine Wahl? Nein, die Sünde fragte nicht, ob sie begangen werden durfte, sie nahm sich, was sie wollte. Schon damals hatte Matthew gewusst: er war Wachs in seinen Händen. Aber heißer Wachs. Entschlossen, doch mit zitternden Fingern entfernte er Logans Hände, beugte sich weit hinunter und sein heißer Mund umschloss das pulsierende Leben Logans. Er war zufrieden, als er das haltlose Stöhnen hörte, spürte, wie er unter ihm nachgab, zitterte und schon bald danach flehte, genommen zu werden. Das kühne Lächeln auf Matthews Lippen war verschleiert von Lust und Liebe, als er Logans Bitten im Keim erstickte. Gierige Lippen landeten aufeinander, verschlangen sich ineinander wie die beiden schwitzenden Männerkörper. Es war heiß hier im Raum, doch das war nicht im Gegensatz zu der Hitze, die sich in Matthew ausbreitete, als die Spitze seiner Männlichkeit sachte in Logan vorstieß.

“Ah, Matty, pass doch auf.”

“Ich bin ja schon so ruhig, wie ich kann!”

“Du kannst es eben nicht.”

“Sei bloß vorsichtig, ich sitze am längeren Hebel.” Das lustschwere Grinsen Logans ließ erkennen, dass er ihm widersprechen wollte, doch Matthew ließ es nicht zu. Sachte drängte er weiter voran, ließ ihm keine Zeit, sich auszuruhen. Keine Zeit, um Einwände zu erheben. Keine Zeit, um zu protestieren. Zu reden. Er wollte jetzt nicht reden, wollte Sex, hier und jetzt.

Er presste sich an ihn, ihr Atem verschmolz zu einem, ihre Körper begannen sich zu bewegen, wie das endlose Schicksal. Nur schwerlich konnte Matthew sich beherrschen, es voll und ganz zu genießen. Nicht zu früh zu kommen. Nicht in ihm zu kommen. Und vor allem nicht laut zu schreien. Sie hätten sich verraten.

“Ah, Matty, ich … lass … ah…”

Matt.

“Was?”

“Nichts, aber warum hörst du auf?!”

“Ich dachte, ich hätte…”

Matt!

Plötzlich wurde alles weiß. Milchig. Wie in weiter Entfernung. Verwirrt registrierte Matthew, dass er keinesfalls auf (oder besser in) Logan lag, sondern in dem schmalen Bett mit Vorhang - zum Glück. Er sah Schatten vor seinem Bett und brummte leise, als Antwort, dass er gehört hatte. Verdammt, brummte sein Kopf! Ein Blick nach unten zeigte: und nicht nur der. Scheiße, seine Träume wurden in letzter Zeit immer wilder und realer, er hörte Logans Stimme noch immer in seinem Kopf, doch je mehr er versuchte, sich an die Worte zu erinnern, desto weiter in Ferne rückten sie.

“Matt, es ist spät, steh auf.”

Verwirrt über die samtweiche Mädchenstimme wischte er die Vorhänge zur Seite. “Gab?”

“Ja, Dummerchen, wer sonst?”

Was war hier los?

“Bin ich betrunken? Oder träume ich noch?” Gabrielles glockenhelles, engelsgleiches Lachen ertönte und verfrachtete ihn sofort auf Wolke Sieben. Sein Herz begann schneller zu klopfen und er konnte dem Drang nicht widerstehen, ihr durch die goldenen Locken zu fahren. Ihr Lächeln gefror. “Matt… Ich bin jetzt mit Logan zusammen.” Als hätte er sich verbrannt, zog er die Hand zurück. “Ach ja…” Die Stimmung sank und er seufzte gequält. Er spürte ihren Blick, er brannte unangenehm auf der Haut. Vorsichtig schaute er wieder in die warmen Augen und folgte ihrem Blick. Ihre Lippen waren erstaunt ein wenig geöffnet und genau dieser Blick trieb ihm die Schamesröte ins Gesicht.

“Matt, du…”

“Jah, Ständer. Is normal”, wehrte er hilflos ab, versuchte aus dem Bett zu kriechen und sich an Gabrielle vorbei zu drängen. Auf einmal spürte er ihre zierliche, weiche Hand um sein Handgelenk und er schaute zu ihr. “Ich hoffe du weißt, dass ich dich wirklich geliebt habe.” Sie war so ehrlich zu ihm. Sein Magen zog sich zusammen, doch sein Herz sprach eine ganz andere Sprache.

Scheiß auf Logan und den Traum! Scheiß auf Moral und Freundschaft! Scheiß auf diese ganzen Gefühle.

Und genau dieser Gedanke war es, der seine Lippen auf die ihren führte. Ein Stoß ging durch seinen Körper, als habe er soeben einen üblen Zauber abbekommen, doch entgegen seiner Angst, spürte er sie nachgeben. Ihre Arme um seinen Nacken. Den wohligen Körper an seinem. Ein Seufzer entwich ihm.

Sünde, süße Sünde, was konnte man schon gegen sie tun?

Vorsichtig löste er den Kuss, löste sich von dem brennenden Verlangen, das sich wieder in ihm ausbreitete und nur schwerlich konnte er sich beherrschen, sie nicht hier und jetzt flachzulegen. Ein Kuss, das war ja wohl okay, oder? Einfach freundschaftlich. Nichts Ernstes. Und scheinbar schien das auch Gabrielle zu denken, denn als ob sie aus einer Trance erwachen würde, ließ sie von ihm ab und brachte Distanz zwischen sie. “Ähm”, setzte sie an, doch Matthew schüttelte leise lächelnd den Kopf. “Das war doch nur ein Gute-Morgen-Kuss. Ich wette, du weckst Logan jeden Tag so. Und ich, als Zecke in eurer Beziehung, verdiene das Gleiche!” Trotz. Schmerz. Wut. Doch in allererster Linie Enttäuschung.

Nein, er würde keinen von beiden haben können.

Aber er würde es zumindest versuchen können.

“Matt”, ihre Stimme fuhr durch seinen Körper wie eine laue Sommerbriese und ein letztes Mal genehmigte er sich einen tiefen Blick in ihre Augen, eine flüchtige Berührung ihrer Schulter und ein kurzes Schnuppern in ihre Richtung. “Schon okay. Es ist perfekt so.”
 

Sünde, süße Sünde.

Nimm mich an die Hand.

Führe mich, leite mich.

Ohne dich bin ich haltlos.

Kopflos.

Ich bin bereit, zu sündigen.

Auf immer.

Sünde, süße Sünde.

Lass mich nie mehr gehen.

A new Day

“Verdammt. Das war …”

Matthew schaute in den Spiegel und eisige, müde blaue Augen starrten ihm entgegen. Und doch schimmerte in ihnen ein Funke, den er noch nie bei sich entdeckt hatte. Mit einem breiten Lächeln biss er sich auf die Unterlippe und strich sich die dunklen Haare aus dem Gesicht. Noch immer spürte er die Nacht in seinen Knochen, doch nicht negativ, nein, wirklich nicht. Im Gedanken daran, was er vor einer Woche getan hatte… Seine Nackenhaare stellten sich auf, er hatte keine Ahnung, was da genau gelaufen war, es war alles wie in einem Traum verlaufen. Niemals hätte er erwartet, dass es passieren würde. Er hatte es sich erhofft, sich danach gesehnt und dennoch hatte er es nicht für möglich gehalten. Es war passiert und es ließ sich nicht leugnen. Seitdem hatte er Logan und Gabrielle nicht mehr gesehen. Das war auch besser so, er hätte ihnen nicht in die Augen schauen können, obwohl er nur positive Erinnerungen und ein warmes Brustgefühl hatte. Aber er hatte Respekt vor ihrer Beziehung. Respekt, den er vorher nicht gehabt hatte. Vielleicht hatte ihre Nacht ihn bekehrt, vielleicht befreit, vielleicht noch viel mehr an sie gebunden - momentan war das nicht wichtig. Anfangs so verwirrt, dass er keinen klaren Gedanken hatte fassen können, war er in Rebeccas Arme gelaufen und … und das war vollkommen in Ordnung gewesen, obwohl sie das Gefühlschaos in dem jungen Ravenclaw nur noch verstärkte.

Seufzend kleidete er sich an - obwohl die Schule momentan so nebensächlich schien, wie noch nie zuvor, war sie notwendig. Wohl oder übel. Er packte seine Sachen, griff nach den Schulbüchern und erwischte dabei ein Muggelbuch mit hellblauen Einband. Verwirrt blinzelte er. Was war das? Das Buch kannte er gar nicht… Nachdenklich drehte er es um und las die wenigen Worte. Die Nebel von Avalon. Okay, strange. Wirklich strange. Wie war das hier her gekommen? Hatte Matt es sich wohlmöglich in einem seiner Rauschzustände ausgeliehen und wusste nun nichts mehr davon? Vielleicht hatte es einer seiner Schlafsaalgenossen liegenlassen?

Egal, er würde zu spät kommen, wenn er sich weiter aufhalten ließ. Er wollte das Buch in die Ecke schleudern, doch es war, als klammerte es sich an sein Herz - er konnte es nicht. Nachdenklich schaute er die Frau auf dem Cover an. Brünett. Ein lilafarbenes, gewelltes Gewand. Sie stand auf einem Boot, nein, einer Barke, ihre Haare wehten im lauen Wind, der über den See ging. Er konnte sich nahezu vorstellen, wie die junge Frau auf ihrem Boot durch den Nebel fuhr, den tief hängenden Zweigen auswich und dennoch ihren ernsten, pflichtbewussten Blick aufrecht hielt. Eine Hexe. Eine Magierin. Eine unglaubliche Anziehungskraft ging plötzlich von diesem Werk aus, der Matthew sich nicht verwehren konnte und wollte. Impulsiv ließ er sich auf sein Bett fallen, das Buch schlug auf und Matthews Augen glitten aufmerksam über die Seite. Seite 448. Gierig, als hätte er Durst und das Buch sei sein Elixier, begann er zu lesen und sog jedes einzelne Wort in sich auf, ohne die Geschichte an sich zu kennen. Aber das brauchte er auch nicht. Sie berührte ihn, kaum hatte er die ersten Worte gelesen.

Es ging um einen jungen, gutaussehenden Mann mit Namen Lancelot, der von einer Frau geliebt wurde, die er selbst lieben wollte, aber nicht konnte, da sein Herz bereits vergeben war. Er war nervös, verloren, verwirrt - in sich selbst und in seiner Verzweiflung gefangen. Matthew spürte die Verbundenheit mit dem Jungen, als sei er es selbst, der da vor Morgaine auf und ab lief, über die Mordlust an seinem Halbbruder erzählte und über die Liebe zu einem Mann sinnierte. Matt schluckte. War er es nicht sogar, der dort über die Bretagne erzählte, über die Männer dort, die sich Jungen als Gespielen nahmen - ob diese es wollten, oder nicht? War er es nicht sogar, der in einem Taumel aus Liebe und Verzweiflung gefangen nie wieder die Wasseroberfläche erreichen sollte und zu ewigem Ertrinken verdammt war? Ihm wurde ganz anders zumute, wie er sich Lancelot verbunden fühlte. Wie er ihm zuschaute. Es war, als könnte er sehen, wie der Ritter auf und ab ging, es spüren, seine Gefühle wahrnehmen.

“Der Ärmste”, entwich es ihm, wohl wissend, dass er damit sich selbst bemitleidete. Die gleiche Situation. Haargenau. Lancelot war den Männern verfallen und hatte versucht, sich dank Frauen bekehren zu lassen. Hatte es immer und immer wieder versucht und war gescheitert, bis er Gwenhwyfar gesehen hatte und sein Herz an sie verlor. Es war Matthew, als nehme die Königin Britanniens Gabrielles liebliche Züge an und er hatte nur eine ungefähre Ahnung, wie nahe er damit der Wahrheit kam. Gabrielles Schönheit und die Gwenhwyfars… Sie waren eins. Wuchsen zu einem noch schöneren Wesen und Matthew fragte sich ernsthaft, wie ein Mann sich ihrer Schönheit verwehren könnte, selbst wenn er den Männern verfallen war. Er verstand Lancelot, begann sich selbst zu verstehen und das Mitleid für ihn und sich selbst wuchs. Er biss sich auf die Unterlippe und nickte. Nach Gabrielle hatte es keine andere mehr gegeben. Die Nachbarin - wer war sie schon? Eine Unbedeutende Statistin. Rebecca… Es tat weh, sie mit der Fee Morgaine zu vergleichen, aber war dem nicht so? Liebte sie ihn nicht und Morgaine Lancelot? Versuchte Lancelot nicht auch Morgaine zu lieben und war dennoch in seiner ewigen Liebe zu Gwenwhyfar gefangen? Und versuchte nicht auch Matthew mit allem, was ihm gegeben worden war, Rebecca zu lieben, obwohl sein Herz eigentlich Gabrielle gehörte?

Zitternd schaute er von dem Buch auf. Wie war es möglich, dass es so viele Parallelen gab? Wie war es möglich, dass die Eigenschaften dieser Charaktere so unglaublich perfekt auf die seiner Lieben passten? Morgaine war Rebecca, Gwenwhyfar war Gabrielle und er selbst Lancelot. Das war so … offensichtlich, dass es ihn überraschte, es nicht schon viel früher erkannt zu haben. Aber wie denn auch? Bisher war ihm die Existenz dieses Buches vollkommen fremd gewesen und das, obwohl es sein eignes Schicksal beschrieb.

Es schüttelte ihn, als er die Augen wieder senkte, um weiter zu lesen.

Morgaine brachte die Tragik zu Tage: Gwen war an Artus versprochen, sie waren verheiratet und sie versuchten einander zu lieben - vielleicht taten sie das sogar? Artus… Matthew hatte von ihm gehört. Der mächtige, gütige König, der ganz Britannien geeint hatte. Ob diese Beschreibung auf Logan passte? Oder war das vielleicht ein wenig hochgegriffen? Nun, Logan war sicherlich nicht das Herz der Nation und nicht alle lagen ihm zu Füßen, doch er hatte etwas an sich, das jeden sofort Vertrauen fassen ließ. Er konnte das Herz eines jeden für sich gewinnen, ohne viel dafür tun zu müssen und manchmal sogar, ohne es zu wissen. So war es bei ihm, Matthew gewesen - und vielleicht erging es Lancelot mit Artus ja genauso? Gierig huschten seine Augen weiter. Er fühlte sich wieder in die Situation ein, fühlte Lancelots Leid - er war Gwen verfallen, so sehr, dass er bereit war, mit Artus zu brechen. Doch Artus war sein Freund. Er … liebte ihn sogar. So sehr, dass er nicht in der Lage war, ihm Gwen zu nehmen. So sehr, dass er bereit war, für ihn zu leiden. So sehr, dass er am Liebsten sterben würde.

Matthew schauderte.

Jah.

Sein Schicksal. Sein Leid. Es stimmte, passte, so war es. Er liebte Gabrielle. Aber er liebte auch Logan. Ihm zuliebe hatte er von ihr gelassen, hatte sie nicht angerührt. Und ihrer Ehre zuliebe. Wo würde es ihn und Lancelot hinführen?

Lancelot brachte es auf den Punkt. Es war eine Folter. Eine qualvolle Folter. Matt schloss die Augen und lehnte sich an die Rückwand seines Bettes. Oh ja, das war es, eine so bittersüße Folter… “Lancelot…”, sprach er den Namen des Ritters leise aus und hatte das Gefühl, er sprach seinen eigenen Namen. Lancelot würde Artus bitten, eine Aufgabe zu erfüllen. Eine Aufgabe, weit weg von Gwen und ihm. Ob er das auch tun sollte? Ob es klug wäre? Vielleicht sollte er sich Rebecca annehmen, sie mit sich nehmen und einfach weit weg von hier gehen… Ob es das war, was er wollte? Gabrielle und Logan aus dem Weg gehen? Nein, Lancelot konnte unmöglich glauben, dass das der Wunsch seines Herzens war. Und Matt behielt Recht. Lancelot konnte nicht mehr weinen. Seiner Trauer keinen Ausdruck mehr verleihen, weil es über die Ausmaße der menschlichen Trauer hinausging. Er war zum Schweigen verpflichtet, doch Morgaine gegenüber konnte er ehrlich sein - ob es auch Matt so gehen würde? Ob er Rebecca erzählen könnte, was ihm auf dem Herzen lag? Ob er sie zu seiner Vertrauten machen könnte? Oh, er hoffte es und doch machten es Morgaines Worte zunichte. Eine schlechte Frau - ob Rebecca sich auch so sah? Ob sie dachte, sie wäre eine schlechte Frau? Und worauf lag die Betonung - auf schlecht insgesamt, oder auf einer schlechten Frau? Er war verwirrt. Dennoch konnte er nicht aufhören zu lesen. Seite 449. Er sog das Leid des Ritters in sich auf und erstarrte.

An dieser Stelle muss zittiert werden, was Matthew so sehr entsetzte, was ihn so überraschte:
 

"Nein, nein. Ich glaube, ich hätte Gawain heute abend umgebracht, wenn du uns nicht getrennt hättest", sagte Lancelot. "Er hat zwar nur Spaß gemacht, aber er würde vor Entsetzten sterben, wenn er wüßte..." Lancelot wendete den Blick ab und sagte flüsternd: "Ich weiß nicht, ob das, was er gesagt hat, wahr ist. Ich sollte den Hof verlassen und Gwenhwyfar mitnehmen, ehe der Skandal an allen Höfen bekannt wird. Ich liebe die Gemahlin meines Königs, und doch... ist es Artus, den ich nicht verlassen kann... Ich weiß nicht, vielleicht liebe ich sie nur, weil ich so ihm nahe bin."
 

Matthews Herz krampfte sich zusammen und erschrocken schlug er das Buch zu, schleuderte es von sich. Wie konnte er nur! Wie konnte er denken, seine Liebe zu Gabrielle wäre nicht echt?! Wie konnte er denken, dass all das nur wegen Logan geschah?! Wie konnte er auch nur aussprechen, dass er Zweifel an der reinsten Form der Liebe hatte?!

Wütend und entsetzt zugleich sprang Matthew auf und lief auf und ab. Wie Lancelot zuvor warf er die Hände in die Luft, brabbelte wild vor sich her und konnte in dem Moment froh sein, keinen seiner Genossen um sich zu haben, denn ansonsten wäre er vermutlich … er wäre … Herrje! Warum war er noch nie auf diesen Gedanken gekommen? Wie hatte er übersehen können, dass er Gabrielle erst wieder verehrte, seitdem seine Gefühle für Logan entbrannt waren? Nein, nein, nein, so durfte er nicht denken! Ein albernes, vollkommen bescheuertes Werk aus Muggelhänden brachte ihn dazu, seine Beziehung zu den beiden vollkommen neu zu beleuchten und das passte nicht, das stimmte nicht! Wütend schlug er mit der Faust gegen die Wand, immer wieder, wie Lancelot es zuvor getan hatte. Im Herzen waren sie eins, er und der Ritter. Logan und der König. Gabrielle und die Königin. Rebecca und die Herrin vom See. Wie war das möglich? Wie konnte das alles so gut passen?

Und wie konnte ihm dieses Buch so viel Leid bringen?

Sein Herz krampfte sich unkontrolliert zusammen. Der Unterricht war schon lange vergessen, was war wichtiger, als sein Seelenheil? Verzweifelt stürmte er zu dem Buch, hob es vom Boden auf und betete, dass es eine Lösung für ihn übrig hatte. Dass es einen Weg für Lancelot und ihn gab, weiterzuleben, ohne ein gebrochenes Herz davonzutragen. Ohne jemanden zu verletzen.

Gänsehaut überfiel seinen Körper und in eisigen Schauern rieselte sie auf ihn herab, als er die nächsten Worte Lancelots aufnahm.
 

"Ich muß mit jemanden darüber sprechen, oder ich werde daran sterben... Morgaine, weißt du, wie es dazu kam, dass ich zum ersten Mal mit der Königin schlief? (Matthew schnappte nach Luft) Ich liebe Gwenhwyfar, seit ich sie zum ersten Mal in Avalon gesehen habe. Aber ich dachte, ich würde mit meiner ungestillten Leidenschaft leben und sterben müssen... denn Artus ist mein Freund, und ich kann ihn nicht betrügen... Und sie... sie... du darfst nicht glauben, dass sie mich verführt hat. Aber... es war Artus’ Wille", bekannte er. "Es geschah an Beltane..."
 

In Matthew breitete sich eine Vorahnung aus.

Sollte es etwa auch hier so geschehen, wie es bei ihm, Logan und Gabrielle geschehen war? Und sollte Rebecca dort hineinrutschen, weil sie ihn, Matthew, liebte? Oh je, das war so kompliziert, so verfahren, so … real, wie es ihm nun dieses Buch bewies. Es war ganz … normal. Und deswegen umso schmerzhafter.

Ihm wurde schlecht. Lag erstens daran, dass er noch nichts gegessen hatte, zweitens daran, dass ihm die Gefühle Lancelots dermaßen auf den Magen schlugen. Und obwohl er aufhören wollte, konnte er es nicht. Er musste weiterlesen.
 

"Aber du weißt noch nicht alles", flüsterte Lancelot. "Als wir zusammenlagen... niemals, niemals war etwas so... so..." Er schluckte und rang nach Worten, um auszusprechen, was Morgaine nicht hören wollte. "... Ich... ich berührte Artus... Ich berührte ihn. Ich liebe sie, o Gott, verstehe mich nicht falsch, ich liebe sie. Aber wenn sie nicht Artus’ Frau wäre, es wäre nicht... Ich bezweifle, daß selbst sie..."
 

. . .

Matt schlug das Buch sanft zu und legte es auf sein Kopfkissen.

Lancelot hatte mit Gwenhwyfar UND Artus geschlafen. Es überfiel ihn und er ließ sich aufs Bett fallen. War es also genau so, wie es bei ihm war? War es wirklich so, dass er mit dem Königspaar von England geschlafen hatte, er, der treue Ritter der Königin? Er verbarg sein Gesicht in seiner Hand. Für einen Moment wusste er nicht, wer er war: Lancelot, der schöne, tugendhafte Ritter, der seinen Herren und seine Herrin liebte, ehrte und begehrte oder aber Matthew, der rüpelhafte Zauberer, der einen Freund und dessen Freundin liebte, ehrte und begehrte. Die beiden Menschenbilder mischten sich und er glaubte, er sei beide.

Vielleicht war es so, wie der Merlin sagte? Vielleicht wurden sie alle immer wieder geboren und Matthew war die Wiedergeburt Lancelots, Logan die Wiedergeburt Artus’ und Gabrielle die Wiedergeburt Gwenhwyfars… Und Rebecca die Wiedergeburt der ehrwürdigen Morgaine.

Matthew lachte.

“Gott, ich bin krank”, murmelte er leise und schleppte sich aus dem Bett. So war es sicherlich nicht, wie denn auch? Er war Zauberer, Muggelstämmig und nicht irgendein Ritterfutzel. … Obwohl es eine schöne Vorstellung war, dass es jemandem genauso erging, wie ihm selbst, auch wenn es vor 1400 Jahren gewesen war. Das war erbaulich. So, als habe er jemanden, an den er sich wenden konnte. Wie dämlich! Hmpf!
 

In der großen Pause saß er zum Mittagessen wie so häufig am Gryffindortisch neben Chuck, als Rebecca die Treppe runter kam. Seine Aufmerksamkeit lag sofort auf ihr, ließ sich nicht mehr ablenken. Warum? Keine Ahnung. Er musste zwangsweise an Lancelots Geständnis vor Morgaine denken und dachte bei sich, dass er Rebecca das niemals antun würde. Niemals. Sie liebte ihn und er versuchte, die warmen Gefühle zu erwidern. Irgendwie klappte das auch und würde Lancelot ihn nicht so verwirren, würde er aufrichtig und ehrlich sagen: ich liebe Rebecca Smith. Aber es war zu schwierig, momentan konnte er nicht ehrlich sein und so wollte er versuchen, sie zu lieben. Aufrichtig. So ehrlich, wie es nur ging.

“Becca! Hier!” Er winkte sie zu sich, das gewohnt breite Grinsen auf den Lippen, das sich fröhlich erweiterte, als er beobachtete, wie sie rot wurde. Anfangs hatte er sich keinen Reim darauf machen können, hatte es ihn irritiert. Wie blind war er gewesen? Wie dumm? Erst vor einer Woche hatte Rebecca ihm an den Kopf geknallt, was los war. Komisch, eh? Kurz nachdem er mit Gabrielle und Logan geschlafen hatte, fand er einen Halt, jemanden, der ihn liebte, so wie er war, der ihn so wollte, wie er Gabrielle oder Logan wollte und ganz ehrlich? Wie könnte er Rebecca in dem Falle von sich stoßen? Er wäre ein Unmensch.

Die Brünette setzte sich neben ihn und nuschelte ein beinahe unverständliches “Hallo”, das Matthew fröhlich erwiderte. “Du bist gestern geflogen, oder? Ich hab dich gesehen…”

“Ach, hast du das?” Ihre Antworten fielen immer spitzer und aggressiver aus, je länger er sich mit seiner Antwort Zeit ließ. Sie musste sich dumm vorkommen. Unglaublich dumm. Er warf Chuck einen ergebenen Blick zu, griff nach Rebeccas Hand und verschloss sie mit der eigenen. Ohne zu wissen, was er da genau tat, drückte er ihr einen Kuss in die dunklen Haare und resignierte. Scheiß auf Lancelot und dessen Gefühle, warum sollte er nicht auch mit Morgaine glücklich werden können, obwohl gerade das so nahe lag. “Ich sage ja, Rebecca.” Und nie hatte ihr Name aus seinem Munde schöner geklungen als jetzt.

“Ja.”

Ja zu ihr. Ja zu einer Beziehung. Ja zu Morgaine und Lancelot. Ob sie sich so freute, wie Morgaine sich gefreut hätte? Oder empfand sie es als Lüge, als Scherz? Um ihr den Wind aus den Segeln zu nehmen, setzte er sanft und nur für sie hörbar hinzu: “Und ich meine das vollkommen ernst. Lass uns sehen, was dabei rauskommt. Lass es uns versuchen.” Er schluckte. Ob er bereit dazu war, ihr das zu sagen? Aber wie sollte er seine Entscheidung sonst rechtfertigen? Er befeuchtete seine Lippen, drückte ihre Hand kurz und beugte sich ein weiteres Mal ganz nahe an ihr Ohr, in das er leise flüsterte: “Ich liebe dich auch, Rebecca.” Das Grinsen wurde breiter und in Gedanken fügte er hinzu: Gewnhwyfar und Artus zum Trotz, ihr treuer Ritter Lancelot liebte Morgaine!
 

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Die genutzten Zitate sind tatsächlich aus besagtem Werk von Marion Zimmer Bradley "Die Nebel von Avalon" und sind nicht aus meiner eigenen Feder! Ich verdiene damit auch kein Geld.

Advent, Advent, ein Lichtlein brennt. ♥

Ich schloss die Augen auf Halbmast. Mein Herz flatterte vor Aufregung über das Kommende, vor Empfindungen und vor Nervosität. Ich sah, wie seine Lippen den meinen immer näher kamen, spürte seinen heißen Atem von meinen Lippen abperlen, fühlte, wie seine Fingerspitzen vorsichtig, ein wenig ungeschickt über meine Wange zu meinem Nacken wanderten. Sanfter Druck. So sanft, dass ich ihn kaum bemerkte und einfach das tat, was mein Herz schon die ganze Zeit sagte.

Ich beugte mich zu ihm herab, die Augen nun voll und ganz geschlossen.

Heiß.

Hitze.

Meine Lippen trafen nur seinen Mundwinkel, er lachte rau, zog mich dann bestimmt zu sich herunter. Herrgott, machte der das öfter? Wenn ja, dann machte er das verdammt gut. Ich fühlte mich sicher in seinen Händen und gab mich ihm hin. Alles in mir kribbelte, als sein schmalen Lippen raubten mir den Verstand, als sie sich beherrschend an meine drückten. Beinahe schon hysterisch fieberte ich dem entgegen, was nun kommen würde oder kommen sollte. Voller Erwartung öffnete ich meinen Mund, ganz sachte nur und ließ zu, dass er mich weiterhin in seiner Hand hatte.

Ich konnte machen, was ich wollte, er schien mich schon lange verhext zu haben. Himmel, und wenn das nicht gut war, dann wusste ich auch nicht, was jemals gut sein könnte! „Thomas“, raunte ich gegen die herb schmeckenden Lippen, als seine Zunge forsch nach ihnen schlug. „Pscht. Alles gut“, beruhigte er mich – klang ich etwa verängstigt? Oder erschrocken? Ah, wie konnte er das nur denken?! Also hieß es nun, den nächsten Schritt zu machen. Sachte glitt ich von meinem Bett auf die Matratze, auf der er sich niedergelassen hatte. Er war überwältigend! Sein ganzes Wesen nahm mich voll und ganz ein, ich hörte nur noch das Blut in meinen Ohren rauschen und seine sonore, melodische Stimme. Wah.

„Matthew“, hauchte er mir da in seinem Wahn entgegen und vermutlich wusste er ganz genau, was er damit in mir auslöste. Von wilder Leidenschaft und der Neugierde gepackt, wagte ich einen weiteren Schritt und drückte ihn gegen das Bettgestell, fühlte die Daunen sich unter meine Fingernägel graben. Ah. Das war so verdammt gut.

Seine Zunge an meiner.

Seine Lippen auf meinen.

Sein Oberkörper rieb verführerisch an meinem, wann immer ich mich ein wenig weiter vorwagte.

Seine Hitze besiegte die meine.

Und ich versank in den Berührungen.
 

Wie war es nur so weit gekommen? Wie hatte ich, Matthew James Gallagher, 14 Jahre, Zauberer und Querkopf der perfekten Muggelfamilie Gallagher es so weit kommen lassen, dass ich mit ihm, Thomas MacLynn, 17 Jahre, Muggel und Sohn des Chefs meines Vaters knutschte? Dass ich mich ihm dermaßen hingab?

Nun. Es kam einfach dazu...
 

Ein halbes Jahr zuvor, Sommer 2008, Limerick, Irland.

Sommer. Ein ziemlich heißer sogar. Achtundzwanzig Grad im Schatten und hier in Limerick gab es nicht viel Schatten – obwohl Irland als die grüne Insel betitelt wurde, sah es in großen Städten oft anders aus. Besonders in großen Städten. Die Sonne brannte unbarmherzig auf die volle Stadt, die Straßen waren überfüllt mit Menschen – Touristen, Eingeborenen, Geschäftsmännern – und die Eiscafés, die sonst nicht so viel Erfolg hatten, machten im Sommer 2008 das Geschäft ihres Lebens.

Ich saß auf einem der unbequemen Stühlen in einem der besagtes Eiscafés und spielte lustlos mit den Röllchen meines Schokoeisbechers. Ich hatte keine Lust auf dieses Familientreffen, starrte schon die ganze Zeit abwesend auf den Tisch, während Mister Perfect unsere Eltern bestens unterhielt! Ich knirschte mit den Zähnen, lugte zu der hübschen Brünetten, die neben seinem herzallerliebsten Bruder saß und immer wieder lachend einstimmte. Grr. Hatte er wieder alle Sympathien für sich gewonnen, dieser Schleimsack. Gut. Schön. Mir doch egal! Ich würde ihm den Gefallen sicher nicht tun. Einfach ignorieren, das würde ihn am meisten ärgern!

Plötzlich schaute Jayden alias Mister Perfect zu mir und lächelte mich frech an. „Und, Matthew? Wie läufts in Hogwarts?“ Eigentlich hatte ich ja vorgehabt, ihn komplett zu ignorieren, aber das klappte nun wohl nicht mehr. Ich zuckte gewollt gleichgültig mit den Schultern und erwiderte in dem widerlichsten Englisch, das ich aufbringen konnte: „Gut, aber wie sollte es auch anders laufen? Das Zaubern liegt mir eben.“ Herausfordernd lagen die blauen Augen in den braunen meines Bruders, der jedoch nur lachend abwinkte und mir dann auch noch zustimmte! Unverschämtheit, ruinierte der meinen schönen Steilpass.

„Ach, meine Lieben. Ich habe zu Weihnachten Mister MacLynn und seine Familie eingeladen. Ist dir das Recht, Jayden? Könnt ihr denn kommen?“ Jayden nickte und erwiderte fröhlich: „Natürlich, ich wollte deinen Chef eh schon mal kennenlernen, Dad. Und wir haben nichts anderes vor. Außer natürlich Sophias Eltern besuchen.“ Er schenkte seiner Freundin dieses widerlich freundliche Lächeln und ich schaute weg. Natürlich wurde ich nicht gefragt, ob mir Recht war, dass die MacLynns kamen – aber ehrlich gesagt hatte ich auch nicht viel dagegen. Der Sohn von Papas Chef, Thomas, war ein guter Freund von mir, obwohl uns drei Jahre trennten. Er hatte oft auf mich aufgepasst, als ich noch kleiner war und war mir viel mehr ein großer Bruder, als Jayden es war. Ich warf ihm einen vernichtenden Blick zu, den er natürlich komplett übersah. Was auch sonst. „Denkt daran: ich will mich nicht vor meinem Chef blamieren.“ Die Augen Papas lagen recht lange auf mir und ich starrte trotzig zurück. Erst Jaydens Lachen lenkte natürlich wieder alle Aufmerksamkeit auf ihn. Er strich mir durch die Haare und säuselte in diesem verdammt noch mal zärtlichen Ton: „Dad, Matt wird sich schon benehmen. Der weiß doch, wie der Hase läuft und wird in Hogwarts gut erzogen.“ Ihre Mutter mischte sich nun gespielt beleidigt ein: „Was soll das heißen? Dass Matthew bei uns nicht gut erzogen wird?“

„Ach Mum, du weißt genau, was ich meine!“ Es folgte ein sachter Kuss auf den Wangenknochen ihrer Mutter, der mich beinahe zum Kotzen brachte. Ohne weiter darauf zu achten, wie sie guckten, stand ich auf und ging nach Hause.
 

Diese gespielte und geheuchelte Familienidylle war doch nicht zum Aushalten! Weder mein Vater noch meine Mutter glaubten daran, dass ich mich gut benehmen würde oder dass ich gut erzogen war – das hatten sie selbst ordentlich vergeigt.

Jayden hier, Jayden da... Das brachte selbst den stärksten kleinen Bruder aus dem Konzept. Ich massierte mir die schmerzenden Schläfen und beschloss, noch nicht ins Haus zu gehen, sondern noch ein wenig die Landschaft zu genießen.

Irland war schön. Sehr sogar! Ich war die letzten sechs Monate in Schottland gewesen, in meiner Schule Hogwarts. Nichts Schlechtes, nein, so konnte ich meinen Eltern entgehen und ich machte mich eigentlich ganz gut. Die Schule war schön, ich hatte meine Freunde und es war an sich alles klasse. Nur Irland fehlte mir sehr. Sie hieß nicht umsonst die grüne Insel, auch wenn es eben in den Städten selten grün war. Wir hatten ein Haus am Rande Limericks mit einigen Ländereien geerbt – soweit ich das richtig verstanden hatte von einem Onkel des 3. Grades meiner Mutter. Aber ich konnte mich auch verhört haben. Die Landluft tat gut. Sie machte den Kopf so herrlich frei und ich lehnte mich ins Gras zurück. Ausnahmsweise störte ich mich nicht an den Krabbelviechern, die nun meinen Kopf auf und ab wanderten, sondern genoss die Zeit für mich alleine.

Sommerferien waren scheiße.

Bisher war Weihnachten immer klasse gewesen. Ich war in Hogwarts geblieben und ein Jahr war sogar Chuck – mein bester Freund – geblieben. Mir zu liebe. Aber dieses Jahr kam ich in die vierte Klassenstufe und da ein großes Familienfest stattfinden sollte, würde ich wohl nicht drumherum kommen, nach Hause zu fahren. Nachdenklich starrte ich in den blauen Himmel, der keine Wolke aufwies und seufzte aus tiefstem Herzen. „Das ist doch alles Scheiße.“ War es ja auch! Kaum war Jayden wieder da, musste schon alles nach seiner Pfeife tanzen. Vielleicht machte er das noch nicht einmal mit Absicht, er hatte einfach ein Talent dafür, andere Menschen um den Finger zu wickeln. Aber mich nicht, oh nein! Ich hatte die Abgründe seiner Seele entdeckt. Düster erhob ich mich und verschloss mich in meinem Zimmer.
 

Ein Gutes hatte dieses Familienfest: ich würde Thomas nach langer Zeit mal wiedersehen. Wir sahen uns kaum noch, seitdem ich der selbst erklärte pubertierende Rebell der Familie war. Mister MacLynn hielt den Umgang mit mir für fatal für seinen Sohn – denn offiziell ging ich auch auf eine Schule für Schwererziehbare Jugendliche. Hätten meine Eltern nicht einfach Privatschule sagen können? Ach, was machte ich mir vor? Dafür hatten wir nicht genug Geld und die Lüge wäre aufgefallen. Trotzdem! Oder gerade deswegen – für Jayden hätten sie das sicherlich sofort gemacht!

Huh.

Nicht an Jayden denken, sondern an Thomas.

Wie lange hatte ich ihn schon nicht mehr gesehen? Ich drehte mich auf den Bauch und vergrub den Kopf so in den Kissen, dass ich an die Wand schauen konnte. Dort hingen Fotos von meinen Freunden – auch verzauberte. Die musste ich aber bald abmachen. Da war auch eins von Thomas und mir, als wir noch klein waren. Ich hing an seiner Hand, als würde ich gleich ertrinken und er grinste breit, zufrieden. Warme Gefühle stiegen in mir auf und ich lächelte. „Du warst immer ein viel besserer Bruder!“, brummte ich dem Bild entgegen und wischte kurz über das Gesicht meines Freundes, ehe ich die verzauberten Bilder abnahm und in den Koffer legte, den ich wieder mit nach Hogwarts nehmen würde. Das von Thomas blieb aber hängen und ich prägte mir sein Gesicht ein, um später zu erkennen, wie er sich verändert hatte: auf dem Bild war er ungefähr 13 Jahre, vielleicht auch jünger oder älter. Schulterlange, lockige blonde Haare. Warme und tiefe braune Augen. Das sympathische, gewinnende Grinsen auf den schmalen Lippen und hohe, markante Wangenknochen. Er hatte etwas an sich, was den Leuten versicherte, aufgehoben zu sein. Er schaffte es leicht mit seinem sympathischen Grinsen Menschen für sich zu gewinnen. Aber anders als Jayden. Auf eine ehrliche, nette Art.

Ich lachte. „Ich analysiere dich schon wie eine historische Figur!“ Ich rappelte mich auf und ging ins Bad. „Als ob du n Troll wärst, oder so“, sprach ich noch immer mit mir selbst.
 

An diesem Abend konnte ich gut schlafen.
 

Zwei Tage vor Heiligabend, Winter 2008, Limerick, Irland, bei Gallagher zu Hause

„Hey Ty.“

„Oh, Matt! Oooooh. Lange her, was?“

„Jah. Zu lange, wenn du mich fragst. Was treibst du so?“

„Ach, dies und das. Ich schaffe das Abitur einfach nicht, haha, das will mir einfach nicht gelingen!“

„Was? Kann ich mir nicht vorstellen...“

„Doch, Matt, du wirst lachen. Mathe und Deutsch sind die Hölle! Und ich nehm die als LK...“

„LK?“

„Hast du sowas auf deiner Schule nicht?“

„Äh, nein. Wir . . . äh . . . haben . . . äh...“

„Du brauchst nicht drüber reden, schon okay.“

„Äh, klar.“

„Und was machst du so? Musst doch tierisch froh sein, endlich da raus zu sein, oder?“

„Ehrlich gesagt nein. Jayden ist hier.“

„. . . Ouw. Big Brother daheim heißt immer Ärger bei dir, huh?“

„Das ist ja das Schlimme, genau das Gegenteil! Es scheint wieder alles total herrlich und friedlich zu sein und wir sind alle total cool und gut miteinander – ich hasse dieses Spielchen.“

„Kann ich verstehen. Das ist wie mit Paps Ex. Die taucht auch immer auf und weil er noch was von ihr will, spielt der auch immer brav ihre Spielchen. Das ist so . . . stupid!“

„Jo, du sagst es.“

„Hm. Ach, weshalb hast du eigentlich angerufen?“

„Ach ja, kommst du denn mit übermorgen?“

„Kla! Ich lasse mir doch eine Chance, meinen Matt wiederzusehen nicht entgehen!“

„. . . Haha, jah! Äh.“

„Muss dir doch nicht peinlich sein, little boy, ich habe auch schon das perfekte Geschenk für dich.“

„Was denn?“

„Ach komm, du kennst mich! Das sage ich dir sicherlich nicht!“

„Komm schon, Ty, bitte.“

„Na, ne. Das wird eine Überraschung. Weißt schon, surpirse and so on.“

„Kla.“

„Na denn. Weißt du noch was?“

„Eine ganze Menge, aber ich will dich nicht aufhalten.“

„Matt, ich habe immer Zeit für dich.“

„Danke, Kumpel.“

„Bis übermorgen! Ich freue mich, dich wiederzusehen. Wirklich!“

„Ich auch. Bis dann.“
 

Heiligabend, Winter 2008, Limerick, Irland, Festhalle

Mir stockte der Atem. So viele Leute. Staunend tapste ich durch die große Halle, die zum Bersten gefüllt war. In meiner Verwirrung vergaß ich mein Gift zu verteilen und fragte vorsichtig: „Dad? Wo kommen die ganzen Menschen her?“ Er schien ähnlich überrascht wie ich und schüttelte den Kopf. „Ich … habe keine Ahnung!“ Dann folgte ein gelöstes Lachen und ich schaute zu ihm auf. So glücklich hatte ich ihn schon lange nicht mehr gesehen und es entlockte mir ein kleines Lächeln, ihn so zu sehen. Aber das Lächeln erstarb, als ich sah, wem sein Lachen galt: Jayden, wem auch sonst. „Schau, da ist dein Bruder! Sophia! Jayden! Kommt zu uns!“

Okay, das wars, ich verzog mich, ohne meinen Bruder und seine Freundin auch nur eines Blickes zu würdigen und mischte mich unter die Leute.

„Bist du der Kleine Matthew?“ Ich schaute abermals auf und sah mich einer alten, eingebrochenen Dame gegenüber, die mich wohlwollend musterte. „Ah, jetzt sehe ich es! Diese Augen vergisst man nicht“, lachte sie und kniff mir in die Wange.

Bitte was war hier los? Wo kamen die ganzen Leute her und warum schienen sie mich alle zu kennen? Ich zögerte, fragte dann aber doch: „Entschuldigen Sie, aber muss ich Sie kennen?“

„Ach nein“, winkte sie ab und schenkte mir noch eine Tasche voll mit leeren und vollen Glasflaschen – komischer Brauch. „Ich bin die Frau deines … ähm … Urgroßvaters mütterlicherseits. Das muss alles sehr verwirrend für dich sein. Komm mit mir, ich stell dich allen vor.“

ALLEN?! In mir wuchs das Entsetzen, während ich Cathal, Finn, Aimee, Joseph, Eoghan, Aisling und und und vorgestellt wurde. Kaum hatte ich mich mit einem Namen angefreundet und begriff, wie und warum ich mit der Person dahinter verwandt war, da zerrte mich meine Urgroßmutter schon weiter und stellte mich der nächsten vor. Irgendwann hatte ich es aufgegeben so zu tun, als würde es mich interessieren und lächelte nur noch mechanisch. Das … ging mir jetzt schon gegen den Strich. „Du, Omi.“ Ich war dazu übergegangen, so zu nennen und ihr schien es zu gefallen. „Ich muss mal dringend. Wir … äh … sehen uns sicherlich.“ Sie lächelte gönnerhaft und strich mir über die Wange – brr! - bevor sie sagte: „Natürlich. Lebe wohl.“Diese Worte hatten einen bitteren Nachgeschmack, aber ich trat dennoch den Rückzug gen Toiletten an.

Als ich den halben Weg schon hinter mir hatte – bei Merlin, man sah den Boden vor lauter Menschen nicht mehr! - spürte ich etwas auf der Schulter. Eine Hand. Nein! Verdammt! Mit mechanischem Lächeln wandte ich mich um. „Entschuldigung, aber ich muss verdammt dringend pissen“, entfuhr es mir ungehalten und die Mundwinkel zuckten.

Ich war überrascht ein vertrautes Lachen zu hören und schaute noch einmal genauer hin.

Kurze blonde Haare. Groß. Schlank. Vielleicht ein wenig zu schlank. Schmale Schultern, schmales Becken. Keine Taille. Eine eckige Brille auf der Nase.

Ty hatte sich sehr verändert, das war nicht zu bestreiten, aber die Augen waren die gleichen lebensfrohen Mandeln, die ich vor ungefähr zwei Jahren das letzte Mal in natura gesehen hatte. Ich konnte nicht verhindern, dass ich ihn ungeniert anstarrte. „Matthew, Matthew, ich hätte erwartet, dass man dir auf deiner Schule Manieren beibringt“, scherzte Thomas und breitete die Arme aus. Ohne groß nachzudenken umarmte ich meinen alten Freund und grinste breit. Aw, das war toll! Thomas hatte mich gefunden unter all den Menschen, das war ein klasse Gefühl! Und noch toller war es zu wissen, dass er hier war. Dass ich nicht ganz alleine und verloren unter all den Fremden war sondern einer da war, mit dem ich klarkam, den ich mochte und dem ich ein uneingeschränktes Vertrauen entgegen brachte.

Ich lachte vor Freude und er stimmte ein. „Hab dich vermisst, Kleiner“, brummte er zufrieden, als er mich ein letztes Mal fest an sich drückte und ich ließ es geschehen. Musste schon jetzt arg gegen die Tränen kämpfen und bekam kein Wort heraus. Also nickte ich nur. Man war von mir ja gewohnt, dass ich emotionaler reagierte, als die meisten – in alle Richtungen – aber dennoch überwältigte mich die Flut an Gefühlen, die über mir hereinbrach.

Thomas ließ mich los und begutachtete nun mich. Ich machte einen Diener und lachte. „Du hast dich verändert, Ty. Brille! Steht dir aber gut.“

„Ja, ne? Ich war ja zuerst skeptisch, aber ich fand mich auch ziemlich sexy damit“, grinste er und schlug mir auf die Schulter. „Aber ich wollte dich nicht vom pissen abhalten. Zisch ab. Ich warte bei der Band auf dich.“

Bei der Band? Naja gut, besser, als ziellos herumzuirren.
 

Ich fand mich irgendwie bei der Band wieder und Thomas stellte mich allen vor. . . . Hä? „Du … singst?“ Thomas nickte zufrieden und antwortete: „Das sogar ziemlich gut, wenn ich das so sagen darf. Auch wenn Paps es nicht so gerne sieht, aber das ist eh equal, was der Kerl sagt. In einem Jahr bin ich raus.“ Das überraschte mich. „Ich dachte, zwischen euch läuft es gut?“ Er zuckte mit den Schultern und setzte sich auf eine der Boxen – ich ließ mich neben ihm nieder, nach einer der Gitarren greifend. „Nun, ja. Eigentlich... Ja, ich kann wirklich nicht klagen. Er ist n klasse Dad und so, aber n beschissener Lover. Also, nicht falsch verstehen.“ Er lachte abermals und es überlief mich eiskalt. „Ich meine damit die Ex. Mich nerven seine Geschichten. Und Neven...“, er deutete auf einen hochgewachsenen Mann in der Nähe der Drums, der mich skeptisch musterte, „...nimmt mich in nem halben Jahr auf. Wir werden dann vermutlich n bisschen rumreisen und so. Das Abi schaff ich eh nicht.“ Irgendwie tat er mir leid. Ich legte ihm die Hand auf die Schulter, doch er lachte nur und winkte ab. „Keine Sorge, Matt. Alles in Ordnung, sonst hätte ich dir das doch schon längst gesagt.“ Er klopfte mir abermals auf die Schulter und ich war mir des Blickes Nevens gewiss. Ich schluckte. „Neven ist … ein Freund?“

Ich bemerkte Thomas Blick.

Lange.

Intensiv.

Aber nicht auf mir, sondern auf Neven. Dieser erwiderte den Blick. „Jah. So etwas in der Art. Das ist … kompliziert“, antwortete Thomas wage und schaute mich unsicher an. „Matt? Darf ich dich was fragen, ohne dass du austickst?“

„Nur, weil ich angeblich auf ne Behindi-Schule gehe, heißt das nicht, dass ich wahllos jeden verprügel, der mir vor die Nase kommt...“

„Weiß ich ja. Mir ist das nur sehr wichtig.“ Er zögerte kurz, wirkte ernst und nachdenklich. „Du bist mir wichtig. Ich will es mir mit dir nicht verscherzen, Matt.“ Der machte es aber spannend. Ich spürte mein Herz rasen. „Schieß los.“ Klang ein wenig heiser und fremd.

„Wie … Wie stehst du … Ach, das ist blöd, vergiss es!“ Er lachte nervös und stand auf, mich einfach sitzen lassend.

Na danke auch!

Verwirrt schaute ich ihm nach, wie er zu Neven ging, ihm vertraut etwas zuflüsterte und Neven daraufhin mich anschaute. Oh. Sie redeten von mir? Jedenfalls nickte der große Schlagzeuger und kam mit Thomas zu mir zurück. Unsicher, was ich nun denken oder sagen sollte, schaute ich von einem zum anderen. „Willst du nachher mitspielen?“, fragte Ty mich dann vollkommen unvorbereitet und aus einer Motivation heraus, sagte ich sofort zu.

Wow.

Euphorie packte mich so schnell, dass ich gar nicht mehr wusste, wohin damit, als Thomas mir die nötigen Griffe zeigte. Seine Finger lagen immer wieder auf meinen und ich grinste zu ihm auf, wann immer unsere Blicke sich trafen. Dümmlich. Naiv. Wie ein kleiner Bruder seinen großen angrinsen würde. In freudiger Erregung, etwas Neues und Aufregendes zu tun.
 

Da stand ich also. Mir ging die Pumpe, so vor vielen Menschen und so. Ich wusste noch nicht mal, ob ich die Griffe richtig drauf hatte, aber ich versuchte mich trotzdem daran. Thomas hatte ja auch ne Gitarre um und der Trompetenspieler hinten spielte immer ein wenig heftiger, wenn ich mich vergriff. Bemerkte keiner. Die meisten waren eh schon betrunken da unten.

Aber es machte verdammt großen Spaß! In fiebriger Freude spielte ich mich in Ekstase, rannte die Bühne auf und ab, sprang und sang laut mit, sofern ich die Texte kannte, die Thomas mit seiner rauchigen Stimme anstimmte. Wah, mir jagte seine Stimme immer wieder Schauer über den Rücken. Einmal wagte ich mich ganz nahe an Ty heran, sang mit ihm in ein Mikro, fing den Blick aus braunen Augen auf und … drohte zu fallen.

Der Boden wurde mir spontan unter den Füßen weggezogen und ich verlor mich vollkommen in ihnen. Meine Lippen bewegten sich automatisch und leise Worte verließen meinen Mund, ja, das konnte man nicht bestreiten, aber mein Hirn hatte komplett ausgesetzt.

Scheiße.

Deshalb vermied ich es seitdem, ihm zu nahe zu kommen. Mister MacLynn hätte es bestimmt eh nicht gerne gesehen, wenn ich da so mit seinem Sohn zusammenklebte. War ja klar, schlechter Einfluss und so.
 

Die Band wurde im späteren Verlauf des Abends nicht mehr gebraucht und Thomas, Neven und Claus – der Trompeter – wollte alle drei gehen. Aus einem Impuls heraus griff ich nach Thomas Handgelenk und murmelte: „Geh nicht. Ich will hier nicht alleine sein.“ Ich weiß nicht, was mich dazu bewegt hatte und weiß nicht, warum er zusagte, aber er blieb. Den ganzen Abend und noch länger, fing sich bedrohliche Blicke vom großen Drummer ein, der mit dem Trompeter abdampfte.

Danke sagte ich trotzdem nicht. Es war irgendwie selbstverständlich, dass er blieb. Warum auch immer.

Das war das zweitschönste Weihnachten, dass ich jemals gehabt hatte. Das schönste war das erste mit Chuck gewesen in der ersten Klasse. Da gab es kein Vertun.

„Matt. Ich bin tierisch müde und Paps sieht nicht so aus, als würde er noch alleine nach Hause kommen“, brummte Thomas gegen zwei Uhr morgens leise und ich seufzte ergeben. Doch dann fiel mir etwas ein. „Bleib doch einfach! Also, du und dein Vater. Dein Vater kann in unserem Gästezimmer schlafen, das ist kein Ding. Und ich hab genug Platz.“ Ich freute mich über meinen grandiosen Einfall und Thomas lächelte breit. „Klar! Aber sofort! Los, komm schon, ich bin müde. Hast du einen Schlüssel?“ Als Antwort klimperte ich mit dem Schlüssel in meiner Hosentasche.

Wir traten den Heimweg an. Die Festhalle lag nicht weit von unserem Haus entfernt, allerdings hatte Ty schon ein bisschen was getrunken und stützte sich schwer auf mich. Ich hatte lieber nichts getrunken – ich vertrug Alkohol nicht so besonders. Im Dunkeln war der Weg schwer zu finden und ich musste mich voll und ganz auf meinen – gelinde gesagt – beschissenen Orientierungssinn verlassen. Irgendwie schaffte ich es aber, mich und meinen Freund nach Hause zu schleppen. Der Schlüssel drehte sich schwerfällig im Schloss und wir erklommen die Treppenstufen.

„Setze dich aufs Bett. Ich hole dir Wasser und Bettzeug“, wies ich Thomas sanft an, der schon leicht weg dämmerte und nur nickte. Kurz Treppen wieder runter, Wasserflasche, Gläser, Bettdecke und Kissen geholt und damit wieder die Treppe hoch. „Da bin ich wi-“ Ich unterbrach mich. Thomas war bereits eingeschlafen. So viel zum Thema mehr Zeit füreinander. Aber das war okay. Ich lächelte und konnte mich nun endlich für die etlichen Male bedanken, die er mich schon zugedeckt hatte.

Ich zog die Matratze unter meinem Bett hervor, legte eine leichte Decke drüber, bezog Kopfkissen und Decke und legte alles feinsäuberlich auf das Gästebett. Glas und Wasser wurden erst mal abgestellt.

Hm.

Und nun? Ich überlegte, ob ich auf der Matratze schlafen sollte, aber nach der Inspektion meines Bettes kam mir das nicht sehr schmackhaft vor. Ty schlief eh schon, der würde nichts merken.

Ich war zwar einige Zentimeter kleiner, dafür aber beinahe doppelt so breit und stämmiger als er. Es war ein leichtes für mich, ihn aus meinem Bett auf seines zu rollen, ihn sanft zuzudecken und das Licht auszumachen.

Meine Hose fiel, als ich es Rascheln hörte. „Matt? Warum hast du mich nicht geweckt?“ Ich stieg aus der kurzen Jeans, während ich leise erwiderte: „Ich wollte nicht. Ging doch auch so.“ Er brummte. Dann ertönte wieder seine Stimme, gedämpft von dem T-Shirt, dass ich mir gerade über den Kopf auszog. „Aber du bekommst doch noch dein Geschenk!“ Oh, stimmte! Das hatte ich vollkommen vergessen. Nachdenklich biss ich mir auf die Lippe – ich hatte nichts für ihn. „Ach, das muss nicht. Der Tag heute war Geschenk genug.“ Ich setzte mich auf mein Bett und deutete auf die Flasche. „Wasser. Dir muss schlecht sein.“

Plötzlich eine Hand auf meiner statt einer Antwort. Verwirrung. Finger, die sich fest um mein Handgelenk schlossen. Aufsteigende Hitze. Ein nach Bier riechender Thomas, der sich aufsetzte und flüsterte: „Mir ist nicht schlecht. Nur ein wenig kalt.“ Ohne nachzudenken erwiderte ich trocken: „Dann deck dich zu.“ Er lachte rau, männlich und plötzlich wurde mir bewusst: wir waren keine Kinder mehr. Er war fast erwachsen und ich tat so, als wäre ich es schon lange. Wir waren nicht mehr die Kinder von früher und auch nicht mehr die Brüder, wie wir sie mal waren. „Nicht die Art von Kälte, Matthew.“ Mein ganzer Name aus seinem Mund. Ich schauderte. „W-Welche Art dann?“, brachte ich hervor und bereute es sogleich. Ein Ruck ging durch seinen Körper und sein Kopf lag auf meinem Schoß. Ich hatte das Gefühl, eine Ewigkeit verstreiche, während er mit seiner anderen Hand nach meiner anderen suchte und sie ineinander verschränkte.

Was sollte das?

War das mein Geschenk? Darauf konnte ich gut verzichten. Ich wollte meine Hände wegziehen, seinen Kopf wegschieben, doch … etwas in mir … Nein. Ich wollte, dass er dort liegen blieb, wie er dort eben lag. Er kam mir schutzlos vor, verletzlich. Es war an der Zeit, dass ich für ihn sorgte und nicht andersherum. „Welcher Art, Thomas? Du hast meine Frage nicht beantwortet“, erinnerte ich ihn so sanft wie es mir möglich war und hörte ein Seufzen als Antwort. Na toll. Die innere Unsicherheit steig und ich wurde nervös. Wohin würde das hier führen? Was hatte er vor und warum ließ ich ihn gewähren? Er sollte mir nicht so nahe sein. Ich hatte mich zwar nie mit Moralfragen beschäftigt, aber jetzt schossen mir die typischen durch den Kopf: darf ein Mann mir so nahe kommen? Darf ich einen Mann so lieben? Darf er mich so anfassen? Darf ich es ihm erlauben? Hausgemachter Unsinn, wenn man mich fragte, man sollte lieben dürfen, wen man wollte, aber dennoch...

„Du Idiot.“

Ich schreckte auf. Wieso beleidigte er mich nun? Ich entkam ihm irgendwie, riss meine Hände zurück und schob seinen Kopf weg, rutschte fort. Das war nicht schön. Warum tat er das? Es war gerade schön gewesen, sehr schön und er machte es kaputt. Ich schaute dorthin, wo ich sein Gesicht in der Dunkelheit vermutete und schenkte ihm einen bösen Blick, den vermutlich nicht einmal bemerkte. „Warum … gehst du weg?“, fragte er mich vorsichtig und die Unsicherheit in seiner Stimme erschreckte mich. Was war los? Thomas stand Unsicherheit nicht. Er war ein selbstbewusster junger Mann, der wusste was er konnte und was nicht. Aber warum dieser Zweifel? „Ich … weiß nicht“, log ich und er erwiderte schnell: „Dann komm wieder her! Bitte! Ich mag es nicht, wenn du mich so anschaust.“ Was? Sah er meinen Blick doch? Nun war es an mir, unsicher zu sein und langsam rutschte ich wieder an den Rand meines Bettes, die Augen fest auf seine gerichtet. Nun erkannte ich auch endlich etwas – sie hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt. Er hatte seine Brille abgenommen. Huh. Mit gefiel er mir besser.

„Matt?“

„Hm?“

„Die Frage von vorhin... Gilt die noch?“

„Welche?“

„Na, dass ich dir eine stellen darf?“

„Klar.“

Ich hörte ihn durchatmen, spürte seine Hand warm und ein wenig feucht auf meiner – die war eiskalt. Es brannte sogar ein bisschen. „Komm her“, raunte er. „Das ist keine Frage.“

„Würdest du herkommen?“ Ich zögerte. „Jah.“ Und rutschte noch ein wenig näher. Sein Kopf lehnte an meinem Knie. Irgendetwas veränderte sich gerade und das machte mir Angst. Er griff abermals nach meiner Hand, dieses Mal zog ich sie schnell weg, ohne dass er sie berührte. Aber er merkte es trotzdem. „Würdest du mir deine Hand geben?“ Ich zögerte wieder. Aber ich gab sie ihm. Seine Finger schlossen sich endgültig um die meinen und es … fühlte sich gut an. Ich schluckte. „Würdest du zudrücken?“ Ich zögerte. Aber ich drückte zu. Und ein Stich ging durch meinen Körper, elektrisierend und schockierend zugleich. Ich starrte ihn an. Seine Mundwinkel waren unsicher verzogen. „Matthew? Ich … ah, was solls. Deine Augen sind der Hammer, Kleiner. Und du hast dich in den letzten zwei Jahren so stark verändert. Ich habe dich kaum wiedererkannt. Du bist gewachsen. Hast mich ja fast eingeholt! Und deine Schultern...“ Seine Hand rutschte aus meiner und wanderte den Arm empor bis zu der Schulter. Wo immer sie lang fuhr, hinterließ sie ein angenehmes Gefühl auf der nackten Haut. Es kribbelte. Es prickelte. Es war aufregend. Neu. „Wahnsinn, wie du dich verändert hast. Du siehst jetzt … männlich und … erwachsen aus. Du bist nicht mehr mein kleiner Matt.“ Das war ein Schlag in die Magengrube. Ich wandte den Blick ab und biss mir auf die Unterlippe. „Du bist jetzt Matthew. Ein fast schon erwachsener Mann. Ich erkenne dich kaum wieder. Nur deine Augen.“ Ich schaute wieder auf. „Deine Augen sind dieselben.“ Seine Hand wanderte um meine Schulter herum, fuhr den harten Knochen nach, segelte über das Schlüsselbein und ich begann zu zittern. Mir wurde heiß und kalt. Hatte ich nicht dasselbe gedacht, als Thomas wieder vor mir gestanden hatte? Aber ich bekam keinen Ton heraus. Seine Hand wanderte weiter, zwischen dem Schlüsselbein herab auf die Brust, weiter, weiter, immer weiter bis zum Bauch. Ich sog zischend die Luft ein. „Das … kitzelt, Ty...“

„Ich bin auch nicht mehr Ty für dich, Matthew, oder?“ Ich musste über den Sinn seiner Worte nachdenken. Und schüttelte den Kopf. Irgendwie wirkte er zufrieden, als seine Hand wieder in meiner landete. Dieses Mal war ich derjenige, der unsere Hände ineinander verschloss. „Nein. Du bist … Thomas. Aber immer noch mein Thomas. Und das wird sich auch nicht ändern.“ Woher ich diese Worte nahm, wusste ich nicht. Und was danach geschah, war nur noch ein verschwommenes Hochgefühl der Emotionen.
 

Heute, 1. Weihnachtsfeiertag, Limerick, Irland, Matthews Schlafzimmer

So war das also passiert. Ich erinnerte mich. Und im gleichen Augenblick war es mir egal.

Ich erzitterte unter den präzisen Berührungen meines Freundes. Gab mich ihm vollkommen hin. Und dennoch hielt er irgendwann inne. Ich öffnete die Augen und hörte sein zufriedenes Seufzen, als er seine Zähne an meinem Hals versenkte. Ich keuchte. „Matthew, mein Matthew. Matthew, Matthew, Matthew“, wiederholte er immer wieder meinen Namen und ich verlor den Verstand. Wollte mehr, viel mehr.

Aber er gab es mir nicht.

Langsam setzte er sich auf und zog mich mit sich hoch, küsste mich immer wieder. Mund – Hals – Kinn – Wange – Stirn – Mund. Ich genoss. Aber warum hörte er auf? Das Feuer war verschwunden. Hatte ich etwas falsch gemacht? War ich zu passiv gewesen? Hatte er sich mehr oder auch weniger erhofft? Ich war verwirrt. Legte meine Hand in seinen Nacken. Zog ihn noch einmal zu mir heran. Wollte den herben Geschmack von Bier auf meinen Lippen und meiner Zunge. Er beugte sich. Und nie hatte ein Kuss so süß und gleichzeitig bitter geschmeckt.

Seine Hand fuhr auf und ab, es fühlte sich an, als habe er nicht nur eine davon, sondern hunderte davon am Werk. Ich spürte sie überall und sie entlockte mir immer wieder heiseres Keuchen. Was tat dieser Mann mit mir? Es war mir egal.

Thomas liebkoste meine Brust, meine empfindlichsten Stellen und schließlich widmete er sich einer ganz besonders, die danach schrie, erlöst zu werden. Sein heißer Mund brachte mich um den Verstand, wie von Sinnen erwiderte ich seine Zärtlichkeiten, ließ ihn gewähren, verwöhnte auch ihn. Spürte, wie sein Leben in meiner Hand pulsierte und nach Erlösung schrie. Ich presste mich an ihn, er zitterte.

Dann stieß er mich von sich.

„Matthew. Wir müssen aufhören. Ich … will dich nicht entehren. Ich liebe dich, oh Gott, ich liebe dich mehr, als ich jemals jemanden lieben könnte, aber... Aber ich will es zwischen uns nicht kaputt machen.“ Er lehnte sich zitternd und keuchend an mich und ich lehnte mich an die Wand, fuhr ihm durch das kurze Haar. Verstand noch nicht. War noch zu vernebelt. „Ich … ich … Was habe ich mir nur dabei gedacht! Du warst immer ein kleiner Bruder für mich.“ Ein vernichtender Stich in die sich schnell hebende und senkende Brust. „Aber heute... Matthew, sag mir, dass ich mir das nicht nur eingebildet habe, bitte, sag es mir!“

„Du hast es dir nicht nur eingebildet“, echote ich, keine Ahnung, was ich da genau sagte. „Es tut mir leid, so leid. Ich will dich nicht verletzen, ich wollte dich immer nur beschützen! Aber heute... Du... Matthew, du hast dich so verändert! Du bist so erwachsen geworden...“

„Ist doch gut.“

„Nein, nein, nichts ist gut! Ich werde dich verletzen, du hast dir etwas erhofft, aber ich werde nicht mit dir schlafen.“ Schock. Ich starrte ihn an. „Das will ich doch auch gar nicht.“

„A-Ach nein?“

„Nein, Thomas. Mir reicht es zu wissen, dass du mich lieben wirst, egal, was andere sagen“, grinste ich und er schüttelte fassungslos den Kopf. „Du bist doch ein naiver Trottel, Matt. Idiot...“ Ich zuckte mit den Schultern und gähnte. „Ich bin müde, lass uns schlafen.“ Er biss sich auf die Unterlippe und nickte langsam, zog mich mit sich. Wir rollten uns zusammen, kuschelten uns aneinander. Dann fiel mir etwas ein. „Was das dein Geschenk an mich?“, fragte ich sanft. Er zögerte. Doch dann bejahte er. „Danke. Das war … haha, wunderschön“, lachte ich atemlos und schloss die Augen. Die letzten Worte, die er flüsterte, verstand ich nicht mehr.
 

Erst Tage später sollte mir klarwerden, dass wir uns nie wieder sehen würden. Ohne es zu wissen, hatte ich dem ersten Menschen das Herz gebrochen und er das meine. Und vermutlich würde ich auch das nie erfahren.

Aber seitdem brannte ein Licht in mir lichterloh und suchte nach jemandem, der sich an ihm wärmen wollte.

Ich wache über dich

„Raymond. Komm da runter.“

Der Blonde schnalzte mit der Zunge und hob eine Augenbraue, die Füße neckisch übereinander schlagend. „Warum?“, fragte er und Laurence antwortete prompt: „Weil das Sitzen auf den fahrenden Treppen verboten ist.“

„Immer die gleiche Leier. Fällt dir nichts Neues ein?“

„Regeln werden nun einmal nicht neu erfunden, Raymond.“ Ein tiefer Seufzer entfuhr dem Blonden und er legte den Kopf schief, noch immer das spitzbübische Grinsen auf den Backen. „Doch, das werden sie. Von den Kreativen. Von Leuten wie mir. Du hingegen ...“ Ehe er weitersprechen konnte, unterbrach ihn Laurence ruhig, aber mit steigendem Unwohlsein: „Raymond. Ich bin Schulsprecher. Zur Not werde ich dir Punkte abziehen.“

„Oh? Deinem eigenen Haus?“

„Du weißt, ich gebe nichts auf Häuser.“

„Aber auf Regeln.“

„Ja. Und auf die Einhaltung. Also runter nun.“

„Worum geht es dir hier wirklich, hm, Cousin?“ Raymonds Gesicht wurde ernst und er rutschte von dem Treppengeländer. Die magische Treppe setzte sich ruckartig in Bewegung, als habe sie nur darauf gewartet, dass der ungebetene Gast sich endlich entfernte. Raymond lehnte sich an das Geländer, während er Laurence Gesicht musterte. „Um die Einhaltung der Regeln? Oder um einen Sieg über mich, hm?“ Er sah, wie die Pupillen seines Cousins kleiner wurden, die eisblauen, kalten Augen verengten sich und Raymond sehnte sich nach den eigentlich warmen, braunen Augen – warum nur diese farbigen Kontaktlinsen? Brille stand ihm eh viel besser... „Also? Ich warte...“

Doch anstelle einer Antwort, ging ein Ruck durch die Treppe und Laurence stand eine Weile unschlüssig vor dem Blonden, das Gesicht verzogen zu einer Miene aus Stahl und hob dann eine Hand.

„Fünf Punkte Abzug für Ravenclaw, dass du dich den Regeln widersetzt hast, Carrow.“ Und kaum hörbar flüsterte Laurence: „Und fünf Punkte Abzug für Missachtung meiner Gefühle.“ Letzteres würde niemals auf dem Stundenglas erscheinen.

Ein kurzer Blick.

Blau traf auf Blau. Eis auf Feuer. Liebe auf Hass.

Dann war alles vergangen.
 

~*~
 

„Wie oft muss ich es noch wiederholen?“

„So oft, bis ich es verstanden habe, schätze ich.“

„Du bist unverbesserlich!“

„Nun, so scheint es wohl. Damit stehe ich dir in nichts nach, wie?“

„Raymond! Nicht in diesem Ton!“

„Sonst was, eh? Noch mal Abzug? Auf der großen Tafel oder auf deiner persönlichen Liste, hm? Du missbrauchst dein Amt echt, Amy, das sieht dir gar nicht ähnlich. Willst du mir nicht erzählen, was los ist?“

„...“

„Gut. Ich bin da, das weißt du.“

„...“

„Amy?“

„Hm?“

„Du hast vergessen, mir die Hausaufgaben zu geben.“

„... Mach sie selber, faules Aas.“
 

~*~
 

Laurence sank in sich zusammen, als die Tür zum Schlafsaal zufiel. Es war niemand da, niemand, der ihn beobachten konnte, niemand, der ihn verurteilen konnte, niemand, der auch nur einen Blick auf das zerrüttete Wesen des Laurence Amycus Carrow werfen konnte.

Sein Atem ging schwach, doch stoßweise. Er hatte das Gefühl, kaum richtig Luft zu bekommen, dass seine Lungen sich bei jedem Atemzug zusammenzogen und etwas sich so eng um sie schlang, dass es ihm den Atem nahm. Die Pflicht? Der Hass? Der Zorn?

Nein.

Nein, es waren die Worte, die Raymond gesagt hatte. Die ihm immer wieder durch den Kopf schossen, ihm Nachts den Schlaf nahmen und Tagsüber nicht zur Ruhe kommen ließen. Die jede Sekunde seiner eh bemessenen Zeit in Anspruch nahmen und ihn zerschmetterten.

Ein Sieg über seinen Cousin?

Wozu?

Warum sollte er das wollen?

Er hatte kein Bedürfnis, sich mit Ray zu messen. Nicht, weil er es nicht gekonnt hätte oder weil er Angst vor Konfrontationen hatte, nein, es war die Beziehung, die ihm Sorgen machte. Die Beziehung zu seinem Cousin. Ah. Er liebe ihn aufrichtig. So, wie man einen Bruder lieben würde, würde man einen haben. Ray und er waren zusammen aufgewachsen. Hatten ein Bett geteilt.

Laurence lächelte und es sah gequält aus, als er sich im Spiegel betrachtete.

Schon damals hatte er stets versucht stark zu sein und war an Rays Stärke zerbrochen.
 

~*~
 

„R-Raymond?“

„Heya Amy. Alles gut soweit? Wo sind Mum und Dad?“

„Weg. Eine Versammlung.“

„Aha. Was ist los? Du bist so ruhig.“

„Ich … ich habe Angst, dass … dass sie nicht wiederkommen, Ray.“

„Hey... Warum sollten sie nicht wiederkommen?“

„Die anderen sind auch nicht wiedergekommen.“

„Du meinst Onkel Amycus? Und meine Mum? Das war … etwas anderes. Bleib ruhig so ruhig. Mich stört es nicht.“

„A-Aber … hast du denn gar keine Angst?“

„Warum sollte ich denn? Ich habe doch dich! Solange du da bist, kann mir gar nichts passieren.

Ich habe dich. Mehr brauche ich nicht. Du bist mein Bruder. Jedenfalls fast. Und Brüder halten zueinander, egal, was passiert!

Mum und Dad kommen schon wieder.“

„Und was, wenn nicht?“

„Dann … dann haben wir immer noch uns, oder nicht? Zählt das gar nicht, Laurence?“

„Doch... Doch, schon!“

„Bist du immer noch nicht beruhigt?“

„... Hm … Nein, aber mir geht es jetzt besser. Danke.“

„Naaa, nicht dafür. Das tun Brüder füreinander!“

„Und was wäre, wenn wir keine Brüder wären? Sind wir im Grunde ja auch nicht, oder?“

„Doch, natürlich sind wir das! Da drin! Im Herzen!“

„Aha.“

„Das verstehst du noch nicht, hm?“

„Doch, schon...“

„Aber wenn wir keine Brüder wären, dann … dann wären wir richtig dicke Freunde! Und ich würde dich immer noch lieb haben und dich beschützen. Immer, Laurence, immer.“

„Ich brauche nicht beschützt werden. Das kann ich selber.“

„Haha, ich weiß! Irgendwann wirst du einmal auf mich aufpassen, nicht wahr?“

„Ja, klar! Irgendwann...“

„Geht es dir jetzt wieder gut?“

„Jah … Du?“

„Hm?“

„Kann ich heute Nacht bei dir schlafen?“

„Hm … Jah. Naja, auch das tun Brüder wohl füreinander...“
 

~*~
 

Was hatte sich verändert? Was war geblieben von der einstigen Vertrautheit? Warum traute ich Raymond nun nicht mehr über den Weg? War es die eigene Unsicherheit? War es der Unwille, sich jemandem anzuvertrauen? Die Unfähigkeit, Freundschaften zu schließen? Das vererbte Misstrauen, die verdammte Einsamkeit und das Erbe unseres Namens?

Aber warum war Raymond dann nicht so?

Ah, mein Kopf begann zu schmerzen und ich legte mich aufs Bett, die Augen gen Himmel gerichtet. Er war blau. Wolkenfrei. Gab den Blick auf höhere, weitere Sphären frei, welche die Menschen nicht erreichen konnten. Noch nicht. Irgendwann würden sie es können.

Irgendwann...

Ich hatte mir an meinem 11. Geburtstag geschworen, nie wieder schwach vor Raymond zu sein. Nie wieder Schwäche vor irgendjemandem zu zeigen. Meiner Mutter ein guter Sohn zu sein und meinem Vater ein guter Erbe.

Mein Vater...

Todesser Amycus Carrow. Gehasst, gefürchtet, verurteilt. Wie lange er wohl noch aushalten würde, in Askaban? Man sagte, selbst die Hölle sei ein gnädigerer Ort als dieser. Oder waren das nur die Märchen, um Kinder zu verschrecken? Amycus Carrow. Ein Bestandteil meines eigenen Namens, der ganze Stolz der Linie. Schon im Ansatz hatte ich versagt. Hatte ich mir stets zu viele Gedanken gemacht, mich stets zu viel gesorgt, mich stets in etwas hineingesteigert, was ich niemals würde erfüllen können: die hohen Ansprüche meiner lieblosen Mutter.

Ich hatte versagt.

Ich war kein Slytherin geworden wie meine Eltern. Wie der große Todesser Amycus Carrow und seine Frau Abigail. Wann hatten sie wohl geheiratet? Wie hatten sie Zeit für ihre Liebe gefunden? Ob sie sich überhaupt geliebt hatten? Es hieß, mein Vater war ein grausamer, verrückter Mann gewesen, der nur Augen für den Dunklen Lord oder seine eigene Schwester hatte.

Alecto Carrow.

Ebenso grausam. Ebenso gefürchtet. Und ebenso verdammt in einer nie enden wollenden Hölle zu leben. Die Mutter meines Cousins, meines Freundes Raymond Alecto Carrow. Und auch hier der doppelte Name, der Wunsch, man könne die Linie der Carrows aufrecht erhalten. Der Wille, man würde etwas Großes schaffen. Der Glaube, man könne dem dunklen Lord auch im Tode noch dienen. Doch was brachte uns das, mir und Raymond? Wir kannten weder den dunklen Lord, noch die Umstände, die unsere Eltern dazu brachten, sich ihm zu verschreiben. War es Angst? Hass? Gier? Die Macht? Oder war es Zwang?

Meine Mutter war sehr stolz auf ihre Herkunft. Auf ihr reines Blut. Ich hatte nie viel damit anfangen können, mit der Reinblütigkeit. Der Stammbaum ging weit in die Jahrhunderte zurück – das einzig interessante daran. Es wurde von mir verlangt, dem Namen Carrow alle Ehre zu machen.

Und ich hatte versagt.
 

Slytherin … nein, das war weit entfernt. Ich war keine Schlange. Mein Haus war das des Adlers, des freien Stürmers, der dem Himmel entgegen strebt. Nach Freiheit, Weisheit und Güte strebend, niemals zurückblickend auf das, was geschehen ist und niemals vorausschauend auf das, was noch geschehen wird. Die Gegenwart, die zählte.

Doch wer war ich, dass ich die Tradition brechen durfte?
 

Meine Mutter... Ihre Augen waren kalt, voller Härte und ohne jegliche Emotionen. Onkel James stand neben ihr, Raymond neben mir selbst. Ich hatte ihn an der Hand fassen, mich hinter ihm verstecken wollen und doch hatte ich mich vor ihn gestellt. Hatte meiner Mutter ernst ins Gesicht geblickt und hatte damals gesagt: „Mutter. Es ist keine Schande, ein Adler zu sein. Ich bin stolz darauf. Ich wäre gerne eine Schlange geworden, doch ich bin es nicht. Wirst du mich so akzeptieren und mit vergeben?“

Doch meine Mutter hatte nichts erwiderte. Die Ohrfeige brannte auch Jahre danach unbarmherzig ein Loch in mein Herz. Die kalten Augen hatten auch für einen Moment auf Ray gelegen, der unter ihnen erbleichte. Warum? Er war so stark. Er hatte das Herz eines Löwen, den Verstand eines Adlers und den Geist eines Dachses. Er war noch so viel weniger Schlange, als ich selber. Noch so viel liebenswürdiger, begehrenswerter.

Onkel James hatte Abigail beruhigt. Er hatte es irgendwie geschafft, dass wir alle an dem Abend zusammen aßen.

Niemand sagte ein Wort, ehe Raymond das Zepter in die Hand nahm, und nach seiner Mutter fragte. In dem Moment schien die Welt stillzustehen. Wir, die Cousins aus dem Hause Carrow, wir, die wir verdammt sind, die schwarzen Schafe, die Sünder zu sein, wir wollten um jeden Preis noch immer zu dieser Familie gehören.

So kalt und unfamiliär sie auch war, wir liebten sie. Wir lieben sie noch immer.

Meine Mutter hatte nichts gesagt und James einen Blick zugeworfen. Trotz der Jahre, in denen sie uns zusammen aufgezogen und uns gute Eltern gewesen waren, waren sie einander niemals näher gekommen. Aus Angst? Aus Respekt? Oder liebten sie ihre inhaftierten Partner wirklich?

Mein Onkel hatte seinen Sohn lange angeschaut und gesagt: „Raymond. Deine Mutter ist sehr krank und unglücklich, dort, wo sie jetzt ist. Wir können sie nicht mehr besuchen fahren. Es wird … Sie wird dich nicht mehr erkennen, wenn wir erst dort sind.“

Ich weiß noch, dass ich Raymond in dieser Nacht habe weinen hören.

Vielleicht war es der Tag, an dem wir uns unweigerlich von einander trennten? Ich konnte nicht weinen. Ich verspürte nicht den Drang, nicht den Wunsch. Tante Alecto … ich kannte sie nicht, ebenso wenig, wie meinen Vater. Natürlich war ich traurig. Und natürlich hätte ich weinen wollen, doch ich konnte nicht.
 

Etwas war in dieser Nacht in Ray zerbrochen. Ich kann es heute nicht mehr sagen, was es war, doch ich habe es in seinen Augen gesehen. Ab und an sehe ich diesen Schimmer auch heute in seinen unendlichen Augen liegen. Obwohl ich versuche, so zu sein wie er, meine Augen den seinen anzupassen, mich so zu verhalten, wie er – selbstbewusst, stark und meinen eigenen Weg suchen – kann ich nie so sein, wie er.

Raymond kann weinen.

Er kann toben.

Lachen.

Schreien.

Wüten.

Aber er könnte niemals töten. Er ist ein guter Mensch, ein wahres schwarzes Schaf und deshalb … deshalb muss ich ihn beschützen. Das wollte ich schon immer, das musste ich schon immer. Vielleicht habe ich ihn früher dadurch beschützt, dass ich so schwach war? Vielleicht konnte er dadurch stärker werden? Stärker erscheinen, als er wirklich war? Ich sehe es in seinen Augen, immer wieder, er ist zerbrechlich. Die Kämpfe, die wir austragen, die finden nicht so statt, dass andere sie bezeugen könnten. Sie finden in unserem Herzen statt.

Ray kämpft damit, seine Mutter nicht zu kennen. Er kämpft mit seinen Emotionen, mit seiner Liebe, mit seiner Wut.

Ich dagegen kämpfe um die Anerkennung meiner Mutter, ignoriere meine Emotionen, empfinde keine Liebe oder Wut und mein Vater … ich vermisse ihn. Oft frage ich mich, ob er anders ist, als meine Mutter. Ob er wärmer ist, ob er lieber ist. Ob er ein richtiger Vater ist. Aber immer wieder führe ich mir vor Augen, wer mein Vater ist … oder bestenfalls war: ein Todesser. Ein Schwarzmagier. Ein Anhänger Lord Voldemorts. Ein düsterer, grausamer, brutaler Magier, der vor nichts zurückschreckte, um die Gier nach Macht und Einfluss zu befriedigen. Er kämpfte im großen Krieg, benutzte schutzlose Kinder als Schild und floh, bevor ihn der Tod ereilen konnte.

Wie kann man so einen Menschen lieben?

Wie kann ich das Kind eines solchen Menschen sein?

Es gibt nur eine Erklärung: irgendwo, tief in mir drin, fühle ich genauso wie er. Ich fühle den Drang, etwas Besonderes zu vollbringen. Ich spüre die Anziehungskraft der Macht und des Verbotenen. Ich … ich bin anders, als Raymond. Wir sind absolut gegensätzlich. Er hat sich mit seiner Position als schwarzes Schaf abgefunden, während ich verzweifelt versuche, mich reinzuwaschen. Doch von was? Von meinem wahren Wesen?
 

Ah, der Kopf beginnt zu rotieren. Mir wird schwindelig. Ich höre, wie die Tür aufgeht, doch der Schlaf hält mich in dem Moment gefangen, als ich die Augen schließe.
 

~*~
 

Die Stärke eines anderen war stets schwer einzuschätzen. Man wusste nicht genau, worauf man sich einließ, wenn man jemand Größerem gegenüberstand. Gewicht, Masse, Muskeln … das alles spielte eine Rolle. Aber vor allem die Geschwindigkeit.

Ich pustete mir eine der goldenen, jetzt ein wenig verklebten Haare aus dem Gesicht und reckte den Mittelfinger empor. „Komm schon!“ Schmerz explodierte in meinem Kopf, knapp unter der Schläfe und die Schwärze griff so bekannt nach mir, dass ich mich fallen ließ.
 

Feigling.

Ich bin ein Feigling.

Ich beneide Laurence für seine Geradlinigkeit, für seinen Ehrgeiz, für sein Pflichtbewusstsein. Ich könnte das nicht. Ich laufe eher weg, als dass ich mich einer Schwierigkeit stelle. Als dass ich mich dem Unerwarteten wirklich stelle. Wozu auch? Die Vergangenheit hat gezeigt, wie dumm dieses Verhalten ist.

Ich bin weder ein Held, noch ein Märtyrer. Und erst recht kein Antiheld.

Laurence hat schon recht, wenn er mit mir schimpft. Er hat im Grunde immer Recht, wenn es um Regeln, den Glauben oder die Moral geht. Es gibt nichts, was er nicht kann, er versucht alles, um anderen zu beweisen, wie gut er ist. Und dass er gut ist, das weiß ich. Unglaublich gut. Die Schule … auch, wenn ich nur halb so viel lernen würde wie er, ich würde genauso gute Noten schreiben, weil ich ein Naturtalent bin. Aber ich ruhe mich auf Erfolgen aus. Ich trainiere und lerne nicht, ich bilde mir auf meine Auszeichnung als Naturtalent etwas ein. Ich faulenze lieber, träume, stelle Sachen an, alles, nur um nicht auf dümmere Gedanken zu kommen.

Ich beneide ihn. So sehr, dass mich der Neid aufzufressen droht.

Seine kühle Arroganz. Ihn scheint nichts zu verletzen.

Die stoische Gelassenheit. Man kann ihn angreifen wie man will, er fährt nicht aus der Haut.

Und die Augen. Laurence hat Augen, die einen umbringen können. Von innen nach außen. Sie lassen einen erfrieren, so kalt sind sie, und im gleichen Moment trocknen sie einen von innen aus, so warm sind sie. Er ist ein Wechselbad und dennoch gleichbleibend. Er schafft einen Spagat, den ich niemals schaffen würde. Ich bin lieber ich selbst. Bin lieber das Wechselbad, das immer heiß ist. Ich lasse mich lieber provozieren, gehe lieber auf Spiele der anderen ein und das, ja, das ist der Unterschied.

Spiele.

Ich liebe sie. Ich kann nicht ohne sie, Spiele sind das A und O. Laurence hingegen … er verabscheut Spiele. Wetten. Karten. Brettspiele. Frauen. Selbst als diese Klatschspiele modern waren, vielleicht in der zweiten Klasse, hat er nur abschätzig eine Braue gehoben. Weshalb das wohl so ist? Hat er Angst, seine kühle Maske zu verlieren? Hat er Angst seinem Namen nicht zu entkommen?

Er ist in all seiner Intelligenz, in all seiner Klugheit unglaublich dumm.

Er glaubt, dass der Name Carrow ihn zu etwas verpflichtet. Dazu, das Erbe eines dunklen Magiers anzutreten. Aber die dunklen Zeiten sind vorüber, er braucht keine Angst zu haben. Wenn ich ihm das sagen würde, würde er es mir glauben?

Hmpf.

Nein, vermutlich nicht. Er glaubt nur noch das, was er fassen kann. Was er logisch berechnen kann. Was in den geschichtlichen Aufzeichnungen steht. Irgendwie logisch, dass jemand wie er immer für alles eine Erklärung braucht.

Aber gerade deshalb liebe ich ihn. So sehr, wie ich einen Bruder nur lieben kann. Es wäre nicht fair, ihn dafür zu verurteilen, anders zu sein als ich. Das ist gut so. Ich bin das schwarze Schaf. Wenn es ihm hilft … Wenn es ihm hilft, würde ich alles tun, damit er mich hasst. Damit er sich von den Freveln reinwaschen kann. Damit er nicht mehr leiden muss. Damit er seinen eigenen Erwartungen gerecht wird.
 

~*~
 

„Mensch, Amy... Lass doch gut sein, eh?“

„Das … Du siehst schrecklich aus.“ Raymond lachte unbeholfen, was schließlich in ein Röcheln überging. Sanft fanden seine Finger den Weg auf die Schulter seines Cousins, wo sie warm und ruhig lieben blieb. Wie ein Fels in der Brandung. „Das nenne ich mal … ein charmantes Kompliment.“ Das Grinsen schlich sich auf seine Züge. „Wenn du … so weitermachst, dann liegen dir die Mädels … bald echt zu Füßen!“

„Du solltest nicht so scherzen. Cameron hat dich übel erwischt.“

„Cameron! CAMERON! Du solltest dich mal hören!“ Raymond klang wütender, als er beabsichtigt hatte und er drehte den Kopf so, dass Laurence ihn von seiner Position aus nicht mehr sehen konnte. Das Gesicht war von Schatten verdeckt, als Ray weiterredete: „Nennst diesen Arsch schon beim Vornamen. Der hat dich vorgeführt! Den Namen Carrow beschmutzt.“ Ruckartig drehte sich der Kopf zu Laurence und er konnte sehen, wie seinem Cousin die Bewegung kurzzeitig die Lichter ausschaltete. „Ich sorge dafür, dass dieses Arsch blutet, glaub mir.“

„Das ist das Problem. Ich glaube dir. Du machst nichts, verstanden?“ Ein Grinsen. „Kla. Verstanden.“

„Raymond! Ich meine es ernst.“

„Jah doch. Ich verstehe ja schon … Ich … mache nichts.“

„Hm.“

„...“

„Schlaf jetzt. Ich komme später noch einmal.“
 

~*~
 

Ja.

Ich liebe ihn. So abgöttisch, dass es an Dummheit grenzt. Er darf sich alles erlauben, darf mich behandeln, wie er will, mich treten, bestrafen, töten – ich würde ihm alles vergeben.

Alles.
 

Vor meinen Augen verschwimmt alles, als ich sie schließe, um ein wenig zu schlafen. Dämlicher Idiot. Er ist zu weich. Zu leicht zu zerbrechen. Er will keinen Streit, keinen Ärger. Aber das steht in Konflikt mit seinen Genen – und mit mir.

Laurence.

Amy.

Jah, mein Amy. Würdest du mich hergeben, wenn das dein Weg in die Ahnenhalle wäre? Würdest du mein Wohl für deines Opfern?

Ah, was frage ich so dumm.

Niemals.

Wir gehören zusammen. Ich habe dich immer beschützt, du hast mich stets beschützt. Wir haben uns die Liebe gegeben, die Mutter und Vater nie für uns übrig hatten. Wir sind wie Brüder. Nur noch viel mehr.

Würdest du das, was du am meisten liebst, für den Regen opfern, der dich von allem reinwäscht?

Würdest du das, was du am meisten liebst, leichtfertig wegwerfen, um nie wieder dreckig zu werden?

Würdest du mich wegwerfen, opfern?

Sag, Laurence, würdest du?
 

„Nein.“
 

Ich schrecke auf.

Mein Kopf pocht, die Gedanken drehen sich. Ich schaue träge zu meiner Seite und sehe in die wärmsten braunen Augen, die Gott je geschaffen hat. Ich lächle. Scheiße, habe ich etwa Zähne verloren? Laurence sitzt neben mir, hat wohl bis eben geschlafen. Er ist ein Morgenmuffel, ich weiß. Man sollte ihn niemals vor der Zeit wecken und dennoch sitzt er hier, auf den ernsten, kühlen Zügen ein ungeahnt sanftes, liebevolles Lächeln. Die warmherzigen Augen drohen mich beinahe zu verschlucken.
 

„Ich würde dich niemals hergeben, Ray, glaub mir.“
 

Mir steigen die Tränen in die Augen. Warum? Ich habe keinen Grund zu weinen.

Oh.

Doch.

Ich bin glücklich. Ich glaubte, dass ich mich auf ihn verlassen kann, immer. Aber glauben ist etwas vollkommen anderes als wissen. Nun weiß ich es. Nun werde ich nie wieder Zweifel an ihm aufkommen lassen. Haha, naja, solange eben, bis er mir das Gegenteil beweist.
 

„Ich weiß. Eigentlich.“

„Ray. Weißt du noch? In der einen Nacht?“

„Es gab viele Nächte...“

„Dummkopf. Du weißt es.“

„...“

„Ich gab dir damals ein Versprechen.“

„Ja?“

„Ja. Dass ich auf dich aufpassen würde. Irgendwann.

Der Tag ist jetzt gekommen. Ich löse dich jetzt ab. Irgendwann musste der ja mal kommen. Du wartest schon viel zu lange.“

„...“

„Und, Ray?“

„Hm?“

„Du bist kein schwarzes Schaf. Du bist nur das Grauste unter den Carrows. Mum und Dad können stolz auf dich sein. Auf deine Stärke.“

„Aber sie sind es nicht.“

„Vielleicht ja doch?“

„Ich glaube nicht. Außerdem bin ich nicht stark. Ich beneide dich für die Stärke, die du beweist, Laurence. Stoisch schaust du über alles hinweg … Warum kannst du das?“

„Weil ich … anders bin als du, Ray.“

„Hm...“

„Ich bin genauso wenig stark, wie du schwach bist, Ray. Wir halten einander für stark, weil wir einander beneiden und lieben. Wir wissen nicht, was nun eigentlich überwiegt: der Neid, über die Stärke oder die Liebe, für die Schwächen des anderen. Ich weiß, wie es dir da geht. Ich bin neidisch auf deine Ignoranz, auf deine Wärme, deine Liebe. Auf deine Geduld, dein Temperament, auf deine Gefühle, auf deine Tränen.

Nein, wisch sie nicht weg. Sie stehen dir. Du bist Leidenschaftlich. Emotional. Das bist du, Ray, und ich liebe dich so, wie du bist.“

„Das war … viel Gesülze für einen Tag, oder?“

„Hm. Schlaf jetzt.“

Ein Grinsen. „Kriege ich noch einen Gute-Nacht-Kuss?“

Laurence grinste auch. „Nein. Du bist doch schon ein großer Junge.“
 

Trotzdem fuhren die Fingerspitzen des Dunkelhaarigen sanft durch die goldfarbenen Haare und hinterließen das Gefühl eines Kusses. Nur sehr viel intimer. Sehr viel … ehrlicher.
 

„Ich hab dich lieb, Bruder“, raunte Raymond und Laurence Stimme klang gewohnt ruhig, gewohnt streng: „Genug jetzt. Schlaf endlich.“

Torn

Torn ~ Zerrissen

by Robin Simmonds


 

Ich habe schon immer nach etwas in meinem Leben gesucht, nach etwas verlangt. Oft dachte ich, dass es für einen Jungen in meinem Alter seltsam war, sich Fragen zu stellen wie „lebe ich wirklich?“ oder „lohnt es sich zu leben?“ und schlussendlich „was ist das Leben?“. Ich weiß heute, dass diese Fragen ein Resultat meiner inneren Leblosigkeit waren. Es stimmt. Bis zu dem Tag, an dem Licht meine hohle Hülle durchflutete, vergingen viele Jahre, die ich besser hätte nutzen können, als auf der Suche nach etwas, von dem ich erst heute weiß, was es ist. Damals wusste ich es nicht, konnte es gar nicht wissen. Ich fühlte mich leer, alleine, einsam, obwohl meine Eltern an sich keine schlechten Menschen waren. Weder fies, noch gewalttätig oder besonders streng – einfach ziemlich mittelmäßig. Sie … machen ihre Sache sogar selbst jetzt noch ziemlich gut, auch wenn ich nichts mit ihnen zu tun haben will. Dafür können sie im Endeffekt nicht einmal etwas.

Aber eins nach dem anderen.

Wie gesagt, ich fühlte mich leer. Aber 'leer' ist nicht die komplette Beschreibung für das Gefühl, das mich beschlich, denn Leere zeugt davon, das etwas einmal voll gewesen sein musste – ich jedoch war mir im Alter von acht Jahren absolut sicher, niemals richtig gelebt zu haben und es auch niemals zu können. Ich war … am Ende. Am Boden. Unvollständig. Immer fehlte etwas, um wirklich lebendig zu sein. Ob eine Emotion war, ein Gefühl oder auch nur eine Regung – eine Reaktion auf meine Umwelt, von der ich mich schon damals systematisch abgrenzte. Mache ich auch heute noch.

Heute fällt es nur nicht mehr so sehr auf.

Mit Acht war ich also schon ein Einzelgänger und hoffnungslos in meiner inneren Zerrissenheit gefangen. Und genau das beschreibt es perfekt: zerrissen. Obwohl ich noch keine Ahnung hatte, wie ich dieses Gefühl beschreiben sollte und meine Eltern alles versuchten, meine Lehrer mich anstachelten und mein Psychiater die wagemutigsten Versuche wagte – es half nichts. Keiner konnte mir helfen, weil sie nicht wussten, was mich bedrückte. Ich wusste es damals selber nicht. Ich hatte keine schlimme Kindheit, keinerlei Brutalität im Umfeld und das Fernsehen hatte keinen Einfluss auf mich. Ich hatte sogar einen Freund in der Nachbarschaft, war immer viel draußen, alleine und mit Nachbarkindern, meine Großeltern waren immer großherzig, meinen anderen Verwandten begegnete ich mit größter Höflichkeit. Jeder erfreute sich an meiner höflichen Ader, nannte mich ein freundliches Kind, einen guten Jungen.

Hm.

Würden sie mich heute sehen, würden sie staunen, was aus ihrem guten Jungen geworden ist.

Im Grunde wusste ich es schon mit acht: ich war kein guter Junge, kein freundliches Kind. Ich machte mir nichts aus den Worten, die ich anderen sagte, pfiff auf ihre Sympathie und ihr Wohlwollen. Das änderte sich später, doch auch dazu mehr. Ich konzentrierte mich nur auf mich selbst und auf das, was in mir fehlte. Diese innere Zerrissenheit machte mich verrückt – dabei fiel ich nicht mehr auf, als jeder andere Achtjährige. Ich schmiss mit Steinen nach Katzen, riss Fliegen die Beine aus und flutete Ameisenhügel. In der Schule schrieb ich ab oder störte ab und an den Unterricht mit lautem Lachen, doch auch hier tat sich nichts Abnormales hervor.

Und doch wusste ich mit acht Jahren: ich war nicht wie die anderen. Ich dachte nicht wie sie. Schon da dachten sie nur ans Küssen und wie sie die Mädchen am besten verarschen konnten. Mich interessierte das nicht. Weder die Mädchen, noch wie groß der Popel von einem Nachbarjungen war und erst recht nicht, wer die Kirschkerne am weitesten spucken konnte. Natürlich bemerkte niemand etwas, doch ich wusste es einfach. Da war mehr. Es musste einfach mehr als das geben. Ich konnte nicht glauben, dass es hieß zu leben, wenn man Kirschkerne spuckte, Mädchen mit großen und kleinen Popeln ärgerte und Ameisen platt trat. Das war … Ich versuchte alles. Doch nichts füllte meine Leere, nichts vermochte mir zu zeigen, dass ich lebte.


 

Bis der Brief kam.


 

Als ich Elf wurde, hatte ich bereits jede Hoffnung auf Heilung aufgegeben. Niemand ahnte etwas davon, dass sich in meinem Inneren etwas angestaut hatte, eine Wut und Leere, die sich nicht in Worte fassen lässt. Obwohl ich mich normal weiterentwickelte, versuchte ich alles, nicht normal zu werden. Ich ließ mich mit den falschen Jungen ein, rauchte meine erste Zigarette mit zehn hinter den Mülltonnen und probierte mein erstes Bier mit zehn ein halb. Ich tat das, wovor mich meine Eltern gewarnt hatten und lernte aus den Fehlern, welche die Menschen im Fernsehen ständig machten: ich ließ mir meine Wandlung nicht anmerken, baute schon mit Zehn eine Fassade auf, die weder Eltern, noch Lehrer, noch mein Psychiater knacken konnten. Ich war noch immer der normale Junge, obwohl ich doch alles tat, um es nicht zu sein.

Verrückt.

Das dachte ich zumindest.

Bis ich alles begriff. Ich erinnere mich noch immer glasklar an den Tag meines 11. Geburtstags. Er ist mir ins Hirn gebrannt, wie nur noch ein anderer Tag außer ihm.

Ich stand früh auf, wie immer. Ich konnte nie gut schlafen, etwas hielt mich wie immer bis spät in die Nacht wach, meine Gedanken drehten sich alleine um meine Misere, ehe mich die Sonne am Horizont wach küsste, wann immer sie über die Hügel kroch. Ich rappelte mich also auf, tapste ins Bad, verrichtete mein Geschäft, putzte mir die Zähne und wusch mir das Gesicht. Dann zog ich mich an und trat vor die Haustür, um die Zeitung ins Haus zu holen. Das Datum stach mir ins Gesicht und ich lachte – aber irgendwie hatte ich mich nie auf meine Geburtstage gefreut. Als ich wieder ins Haus zurückkam, nahm meine Mutter mich in ihre Arme und drückte mir Küsse auf, gratulierte mir und reichte mich an meinen Vater weiter, der das gleiche Ritual vollzog. Ich ließ es über mich ergehen, obwohl ich schon im Alter von acht und auch jetzt noch einen gewissen Abscheu gegenüber dieser Überschwänglichkeit hege. Besonders, wenn sie von meinen Eltern ausgeht.

Sie führten mich zum Tisch und ich durfte meine Geschenke auspacken. Ein Fußball. Ich interessierte mich kein Stück für diesen hirnrissigen Sport, beinahe noch weniger, als für Quidditch … Ein gerahmtes Bild von einem damals ziemlich berühmten Sänger, Robbie Williams. Ich mochte ihn, aber auch nur, weil seine Augen so eine gewisse Traurigkeit ausstrahlten. Nur wenige seiner Texte drückten genau das aus, was er wirklich sagen wollte. Zumindest glaubte ich fest daran. … Eine kleine Geldbörse mit zehn Pfund. Und einige Karten von Verwandten. Oma Hildegard hatte mir wie immer auf mein Konto Geld überwiesen, während Tante X und Onkel Y mir alles erdenklich Gute wünschten.

Ich fing an zu weinen. Meine Mutter fragte mich, ob alles in Ordnung war.

Nein, nichts war in Ordnung. Ich war zerrissen. Ich war komplett zerstört, kein bisschen Leben füllte diesen jungen Körper aus. Noch im Erblühen war ich verwelkt.

Doch ich bejahte und in dem Moment, als mein Vater die Torte holen wollte, raschelte es im Kamin und ein vollkommen verrußter, schrecklich magerer Kauz rauschte in unser Wohnzimmer. Meine Eltern waren erschrocken, doch ich wusste, dass sich nun alles verändern würde. Meine kindliche Intuition riss mich vom Stuhl. Ich eilte zu dem Kauz, half ihm wieder auf seine braunen Füße und nahm ihm den Brief vom Fuß. Ehe ich mich versah, kreischte das Tier und ich verstand, ohne wirklich verstanden zu haben. Ich griff nach einem der Kekse auf dem Tisch und reichte ihn dem Vogel, der zuerst skeptisch den Kopf schräg legte, dann aber fröhlich Gurrend den Keks nahm und auf dem Weg ging, wie er erschienen war.

Als der Vogel weg war, richtete sich meine gesamte Aufmerksamkeit auf den Brief und aufgeregt fingerte ich an dem Umschlag herum. Es lag Magie in der Luft, ich atmete, inhalierte sie, wusste, jetzt war ich am Ziel. Es veränderte sich alles: meine Finger zitterten, so, wie sie noch nie zuvor gezittert hatten. Mein Herz schlug Purzelbäume, wo es seit elf Jahren im Einklang geschlagen hatte und mir stand der Schweiß auf der Stirn, wo ich elf Jahre lang keine Regung auf etwas gezeigt hatte. Ich lachte wie im Wahn, während ich die Zeilen drei Mal, vier Mal, sogar ein fünftes Mal las und meine Eltern wollten schon den Psychiater anrufen, doch ich kreischte plötzlich vor Freude und sie sahen mich das erste und einzige Mal auf ihrem Wohnzimmertisch tanzen. Ich erlaubte mir diesen Überschwang kindlicher Freude. „Was ist nur mit ihm? Schatz? Robin? Liebling? Was hast du denn? Von wem ist der Brief?“, hörte ich sie fragen, doch scheinbar dachten sie, ich litt an einer ansteckenden Krankheit, denn sie kamen nicht näher. „Ich bin ein Zauberer!“ Ich höre meine Stimme noch immer überschwänglich purzeln und mein Lachen klingelt noch immer in meinen Erinnerungen nach.

Es war das erste Mal in meinem Leben, in dem ich mich wirklich lebendig fühlte.


 

Diesem wahnsinnigen Ereignis folgten Jahre der Unsicherheit, der Angst, des Misstrauen, des Versteckspielens.

Ich wurde Zauberer. Mein wacher Geist, mein listiges Wesen und mein Wille, alles für ein Ziel zu tun, dass ich damals noch nicht kannte und das mir heute klarer denn je ist, verschlugen mich in das Haus der Schlange; Slytherin.

Von da an veränderte ich mich noch einmal. Ich wusste es, doch ich hatte nicht vor, etwas dagegen zu unternehmen. Ich hatte das Gefühl, alles richtig zu machen, als ich versuchte, meine innere Zerrissenheit zu leugnen und zu kitten.
 

Indem ich sie verbarg.

Mein Leben änderte sich schlagartig. Ich war plötzlich ein Zauberer, konnte Dinge vollbringen, von denen ich zuvor nur geträumt hatte – ich musste die Steine nun nicht mehr auf Katzen schmeißen, ich konnte sie zielgerade auf die Schädel der Tiere niedersausen lassen, ohne auch nur mehr als ein Stück Holz zu bewegen. Ich musste Fliegen nicht mehr die Beine ausreißen, ich konnte sie mit einem einfachen Spruch in ihrer Bewegung erstarren lassen und ihnen schließlich langsam das Leben nehmen. Ameisenhügel musste ich nicht länger fluten, auch hier half mir das kleine Holz. Ich fühlte mich allmächtig, unbesiegbar. Mich konnte man gar nicht mehr aufhalten, denn ich wusste endlich, wohin ich gehörte und begann, mein Leben, Hogwarts und die Welt der Zauberer zu lieben. Nie, nie wieder wollte ich als Muggel leben.

Und da fing das Problem an.

Slytherin war dafür bekannt, nur Reinblüter und ehrenhafte Halbblüter in seine Reihen zu lassen. Nur wenige Ausnahmen waren 'Schlammblüter', wie sie von den Schlangen genannt worden – Menschen wie ich. Es schmerzt, noch heute. Und ich habe eine Mörderangst. Niemals war ich gleichzeitig so glücklich und gleichzeitig so zerrissen, wie in dem ersten Jahr auf Hogwarts. Ich suchte meine Mitte, eine Möglichkeit, irgendwie meine Herkunft und das zu vereinen, was ich gerne sein wollte.

Keine Chance.

Nicht damals und nicht heute.

Entweder musste ich meinen großen Traum, Fuß in der Welt der Zauberer zu fassen, aufgeben, oder aber meine Familie. Die Wahl war mir damals nicht sehr schwergefallen und ich bereue sie keinen Moment in meinem Leben. Zu keinem Zeitpunkt glaubte ich, eine falsche Entscheidung getroffen zu haben. Nie. Auch heute nicht.

Ich kapselte mich von den anderen Slytherin ab, war in der ersten Klasse als Streber und Sonderling abgestempelt und wann immer jemand auf mich zukam, schmetterte ich ihn ab. Ich konnte niemandem trauen. Wenn auch nur einer herausfinden sollte, wer mich geboren hatte, welches Blut ich in mir trug … Nein. Nein, ich konnte keine Risiken eingehen. Im Übrigen war ich in meinem ersten Jahr noch der vollen Überzeugung gewesen, in der Schule zum Lernen und nicht um Freunde zu finden zu sein.

Diese Einstellung änderte sich mit einem Schlag, als ich Neil kennenlernte.

Neil ist so ein Mann vom Schlag Bester Freund. Den würde jeder gerne als solchen haben. Er ist nett, zuvorkommend und man kann alles mit ihm machen – eine lustig-charmante Fassade. Aber mehr als eine solche, war es auch nicht. Das wusste ich im ersten Moment, als wir uns sahen.

Wir lernten uns kennen, als ich gerade versuchte, eine Tasse in eine Ratte zu verwandeln. Der Sinn dieser Übung entzog sich meinem Wissen, doch ich war erpicht darauf, alles zu tun, um einen Sinn zu finden und die Aufgabe zu erfüllen. Ich wollte ein Ziel erreichen. Ich hatte mir für meine Zwecke einen der leeren Kellerräume ausgesucht, als die Tür aufging und drei lachende Slytherin den Raum betraten.

Das ist der zweite Moment, der mir ins Hirn gebrannt ist.

Neil stutzte, als er mich sah. Er war nur ein Jahr älter und dennoch sah er mit seinen zwölf Jahren schon unglaublich erwachsen aus. Groß. Ich musste damals ganz schön zu ihm aufsehen. Das hat sich bis heute nicht geändert. Neil schoss bis zu zwei Meter in die Höhe und ich blieb auf halber Strecke bei meinen 175 cm liegen.

Jedenfalls zog ich meine Masche ab, die ich immer abzog.

Ich schnappte mir meine Sachen, warf den Anwesenden einen hoffentlich bitterbösen Blick zu und wollte aus dem Klassenzimmer flüchten, da legte sich unverhofft eine Hand auf meine Schulter; fest und unnachgiebig. „Na, Simmonds, wo geht es hin?“, höre ich Neil damals wie heute fragen. Ich wusste noch, dass ich mir beinahe vor Angst in die Hosen machte. Nicht nur, weil mein Geheimnis jeden Augenblick auffliegen konnte, nein, die beiden Typen, die Neil bei sich hatte, waren mindestens aus der Dritten und echte Hünen – aus der Sicht eines damals 135 cm kleinen Wichtes. Doch es kam ganz anders. Neil lachte abermals und zog mich unbarmherzig zurück in den Klassenraum, schloss die Tür vor der Nase der beiden Hünen und setzte sich mit mir zusammen auf einen der Tische.

„Du bist Robin, oder? Aus der Ersten.“

„Jah.“ Ich weiß noch, wie furchtbar kratzig sich meine Stimme angefühlt hat.

„Ich kenne dich. Glaube ich. Zumindest weiß ich, dass wir uns ziemlich ähnlich sind.“

„Aha?“

„Du bist wohl nicht sehr gesprächig?“ Damals wie heute bemühe ich mich, erst das Wesen meines Gegenüber herauszufinden, um dann die Antworten geben zu können, die er hören will. Das ist sicherer. Das verhindert unangenehme Fragen. Mit einem Schlag durchschaute ich die Fassade des für einen Slytherin verdächtig netten Jungen und sah einen verschlagenen Lügner vor mir, der vor Sarkasmus und Ironie nur so troff. Er machte sich nichts aus anderen Menschen, machte sich einen Spaß daraus, sie das Gegenteil glauben zu lassen und nur sein einnehmendes Wesen erlaubte ihm, genau das zu tun, was er tat: die Leute wurden abhängig von ihm.

Und das war der Moment, an dem ich mir sagte, ich würde genauso werden. Meine Fassade würde ebenso wirksam sein wie die seine, meine wahren Motive weit unter ihrer Oberfläche verstecken und niemand würde jemals auf die Idee kommen, meine Motive zu hinterfragen, weil er von Anfang an glauben würde, ich hätte welche. Nur die falschen. Die Wahrheit würde niemals ans Tageslicht kommen. Ich würde dafür sorgen.

Und Neil würde mir, ohne dass er es ahnte, helfen.

„Doch. Aber nur bei den richtigen Leuten“, hatte ich ihm geantwortet und in dem Moment kopierte ich seine Fassade so hoffnungslos penibel, dass es ihm unmöglich werden sollte, in mir zu lesen. Jedenfalls glaubte ich das.

Seitdem habe ich es mir angewöhnt, zu jedem gleich freundlich zu sein, gleich höflich und niemals über Persönliches zu sprechen. Natürlich verriet ich meine Motive ab und an, aber das war nötig, um die Menschen zu finden, die mir mittlerweile alles bedeuten. Ich weiß, wie gefährlich das sein kann. Und ich bin mir sicher: im entscheidenden Moment weiß ich, was wichtig sein wird – meine Wahrheit, oder die ihre.
 

Meine Einstellung hing ich nie an die große Glocke; Neil schon. Und allein die Tatsache, dass wir seit dem Treffen unzertrennlich waren, zeigte, dass ich vollkommen mit ihm übereinstimmte: Schlammblüter raus. Dass mich das selbst mit einbezog, raubte mir zwar den Schlaf, aber nicht den Mut. Ich vertraute fest darauf, dass ich eine Lösung finden würde, mich beweisen würde und schlussendlich, wenn ich bereit war, die Wahrheit zu sagen, niemand mehr auf mich verzichten wollen würde.

Naiv.

Dumm.

Absolut nicht überlebensfähig.

Also ließ ich es. Ich erzählte niemandem von meiner Herkunft.

Und obwohl ich glaubte, endlich angekommen zu sein, endlich meine Mitte gefunden zu haben und endlich die Leere füllen zu können, die seit meiner Ankunft auf Hogwarts nicht mehr da war, zerriss es mich innerlich.

Herkunft – Stolz.

Slytherin – Familie.

Blut – Wert.

Ich wusste nicht, ob all das richtig war, was ich propagierte; wenn auch inoffiziell. Ich wusste nicht, wie lange ich dieses Spiel spielen konnte. Ich wusste nicht, ob ich irgendwann daran zerbrechen würde. Ich wusste nur, dass ich mich auf verdammt dünnen Eis bewegte. Und dieses Wissen, dieses beschissene Wissen bringt mich noch heute um den Schlaf. Macht mich noch heute zu einer unkontrollierbaren Bestie. Nein, gut, so schlimm ist es dann nun auch wieder nicht. Aber ich glaube, dass ich diese Bürde nicht mehr lange tragen kann. Wenn ich daran denke, es ewig tun zu müssen – bis in meinen Tod … Dann wird meine Lüge auffliegen. Und man wird sich an Robin Simmonds mit den Worten 'das Leben einer großen Lüge' erinnern und nicht als stolzes Reinblut, das für seine Ideale gekämpft hat.

Oder wenigstens als ein Schlammblut, das sich selbst für sein Blut verabscheut, das sich am liebsten die Adern aufschlitzen, alles Blut aus sich raus pumpen lassen und alles für ein Leben als Reinblut geben würde. Doch das zählt nicht. Es zählen nicht die Werte, für die man kämpft und einsteht, nein, in Slytherin zählt nur das Blut. Die Herkunft. Die Familie. Man schaue sich nur einmal den bemitleidenswerten Severus Snape zu seiner Schulzeit an. Keine Freunde, nur Feinde. Ich will nicht so enden wie er.


 

Ich lernte schnell: ich musste lügen.

Ohne meine Lüge kam ich nicht sehr weit.

Nicht bei Neil, nicht bei den anderen Slytherin. Ich erinnere mich noch haargenau an die Reaktion, die Neil auf meine Frage zeigte. „Bist du denn vollkommen von Sinnen, so eine Frage zu stellen? Du bist ein Slytherin, damit solltest du dich gar nicht befassen! Ein Schlammblut … tche, niemals kann das ein würdiger Erbe Salazar Slytherins sein! Nicht einmal ein Halbblut könnte das. Wage es nie wieder, in meiner Gegenwart auch nur daran zu denken. Das ist ja … abartig.“

Wenn ich ihn damals gefragt hätte, ob er mir glauben würde, dass ich dieser schlammblütige Erbe Salazar Slytherins war … wäre sein Urteil genauso ausgefallen oder hatte er mich schon genug gemocht, um darüber hinweg zu sehen?

Nein. Bestimmt nicht.

Es war unmöglich sich einzufinden, wenn man so war, wie ich. Wenn man mit dem falschen Blut, mit den falschen Eltern gestraft war. Ich bin nie gottgläubig gewesen und das Schicksal kann mich mal kreuzweise, aber damals habe ich oft gebetet, alles sei nur ein Traum und ich würde bald wieder aufwachen.

Tat ich natürlich nicht.

Irgendwann hörte ich auf zu beten, verlor mein letztes bisschen Hoffnung und träumte nicht länger davon, jemand anderes zu sein, sondern war jemand anderes. Robin Simmonds, dreizehn Jahre, stolzes Reinblut und ein offizielles Arschloch. Kam ich aber gut mit klar und ich kann mich nicht beklagen; irgendwie klappte doch irgendwie bisher alles. Ich lernte Nikita kennen und hassen – er war all das, was ich immer hatte sein wollen.

Erstens: er kam aus einer starken, reinblütigen Familie, die stolz und ungebrochen war.

Zweitens: er hatte einen großen Bruder, der ihn zwar nicht scherte und den ich auch nicht besonders mochte, doch er hatte einen.

Drittens: Nik sah selbst mit zwölf schon ziemlich gut aus und überragte mich schon um einen Kopf.

Viertens: er war klug, intelligent und gerissen für sein Alter.

Fünftens: er war, wie er war.

Nein, Nikita verstellte sich nicht. Er hatte es nicht nötig, sich zu verstellen. Ohne es zu wissen und zu würdigen, hatte Nikita alles, was man sich nur wünschen konnte und ich hasste ihn so sehr für seine Ignoranz und seine Dummheit, dass ich einige dumme Fehler machte. Ich duellierte mich mehrere Male mit ihm, das letzte Mal wurden wir geschnappt. Wir mussten zusammen nachsitzen und so entwickelte sich eine verdrehte, seltsame, aber durchweg positive Freundschaft. Nikita und ich – bei weitem nicht das innige Vertrauen, das ich zu Neil hatte, aber es wuchs. Wie eine Knospe. Der Tag kam, an dem sie aufging und begann zu blühen. Felice Walker gesellte sich immer öfter zu Nikita und mir und bis zum Ende meines vierten Schuljahres hatte ich nicht nur einen, nein, ich hatte drei beste Freunde, für die ich zwar ohne zu zögern einen meiner Finger hergegeben hätte, aber niemals die Wahrheit.

Die Wahrheit ist der Tod. Und mein Leben eine einzige Lüge.


 

Dann trat Lilian in mein Leben.

Sie war plötzlich einfach da. Lächelte, scherzte, lachte. Heute wie damals fesselt sie mich mit ihrem ganzen Sein. Ich kann es weder beschreiben, noch in Worte fassen. Ich habe das Gefühl, durch nur einen ihrer Blicke erhebt sie mich in einen Stand, der ihrem gerecht wird. Nein, ich würde niemals so weit gehen zu sagen, ich würde ihr gleichwertig werden. Das ist schier unmöglich.

Aber ich riskierte alles, um sie an mich zu binden. Auf eine emotionale Art, wie ich es nie zuvor getan hatte.

Ab ihrem vierten Jahr tanzten wir zusammen in der AG und jedes Mal wurde sie hübscher. Besser. Graziler. Schon mit 14 war sie eine junge Frau und es wert, mit einem längeren Blick bedacht zu werden, als es die zarte Freundschaft zwischen uns erlaubte.

Ich war ein dummer pubertierender Vollidiot, als ich sie nach einer der Tanzstunden zur Seite nahm und zu einem Kaffee einlud. Ganz unverbindlich. Unter Freunden. Das sagte ich ihr mit einem linkischen Lächeln auf den Lippen, doch sie schien nur meine Worte zu hören, nicht die Geste dahinter. Sie wusste nicht, dass hinter meinen Worten immer etwas steckte, dass ich mich stets verstellte. Sie hatte niemals hinter meine Fassade geblickt – war es also wirklich eine gute Idee, ihr von meiner wahren Herkunft erzählen zu wollen?

Ah, das Gewicht der Lüge drückte bereits damals so schwer auf mich, dass ich kaum eine Möglichkeit hatte, zu atmen. Und in Lilians Anwesenheit fiel mir das Atmen noch schwerer. Ich glaubte, wenn einer mich verstehen würde, dann war es sie.


 

Wir saßen im Schülercafé. Ich saß ihr gegenüber, schaute die ganze Zeit über nur sie an, während sie mir mit Feuereifer erzählte, was sie vorhatte, wie sie die Zeit totschlug, dass sie vorhatte, Quidditch zu spielen, was sie zum Ball tragen würde, wie es ihr ging, dass sie Charlotte noch etwas fragen musste und dass sie noch Briefe an ihre Familie schreiben musste.

Ich fühlte mich deplatziert. Sie redete, ich hörte ihr zu. So war es schon immer gewesen, ich hatte mich schon immer vor ihr zurückgezogen, zurückgehalten. Immer das gleichbleibende höfliche Lächeln auf den Lippen, aber nie hatte sie bemerkt, was hinter diesem Lächeln steckte. Nie hatte sie meine Warmherzigkeit ihr gegenüber hinterfragt, niemals hatte sie auch nur eine Ahnung davon gehabt, was sich hinter meiner Fassade versteckte. Sie hatte kein Gespür für mich. War es dann wirklich richtig, sie einzuweihen?

Ihre Augen fesselten die meinen.

Und alles war vergessen.

Damals wie heute.

Die innere Leere war plötzlich ausgefüllt von einem derart warmen Gefühl, dass mir schlecht wurde und die innere Zerrissenheit fügte sich nahtlos zu einem Gestrüpp einer geplagten Seele zusammen. Ich verzog damals das Gesicht und sie bemerkte es nicht. Sie hatte keine Ahnung, was in mir vorging, wie es mir ging.

Und mit einem Schlag war das warme Gefühl verschwunden, die Übelkeit vergangen und alles in mir zerriss wieder in tausend kleine Einzelstücke.

Sie hatte keine Ahnung.

Ich weiß heute nicht, was mich schwerer traf: die Erkenntnis, dass sie wirklich keine Ahnung hatte, oder die Tatsache, dass es sie auch kein bisschen interessierte.

„Ach, Robin, danke fürs Zuhören. Das tat gut. Wir sehen uns dann nachher!“

Und weg war sie.

Ich hatte ihr lange nachgeschaut, auf die Stelle gestarrt, an der sie gestanden hatte und die Leere, die in mir zurückblieb war stärker gewesen – und sie ist es noch immer – als jemals zuvor. Es war eine andere, vollkommen fremdartige Leere und ich konnte nichts damit anfangen. Selbst heute kann ich es noch nicht. Aber ich schwor mir, ihr irgendwann zu erzählen, woher ich kam, wer ich war und ich wusste, dass sie es verstehen würde.

...

Sie musste es einfach.

Wenn nicht sie, wer sonst?


 

Aber Lilian blieb nicht weg, nein, sie kam wieder. Direkt in meine Arme. Man kann sich die geistige Verwirrung nicht vorstellen, die ich empfand, als ihre Lippen die meinen benetzten, ihre Haut die meine berührte und ihr Atem mit meinem verschmolz. Noch heute klopft das Herz, noch heute bin ich verwirrt, wenn ich an diese eine Nacht zurückdenke. Ich weiß nicht, weshalb sie es zugelassen hat, dass ich mich ihr auf diese Art nähere und ich weiß nicht, weshalb nichts Ernstes daraus geworden war, wie bei Aimee. Aber ich weiß, dass ich keine Sekunde dieser Nacht bereue und es jederzeit - auch mit Hinblick auf meine jetzige Beziehung - wiederholen würde.

Allerdings hat mir Lilian recht schmerzlich klargemacht, dass sie es nicht so sieht. Eine einmalige Sache. Es kommt nie wieder vor. Nein, natürlich nicht, warum auch? Niederer Abschaum ... In ihren Augen war ich nichts weiter als niederer Abschaum, ganz sicher.


 

Deshalb verstand ich nicht, dass es gar keinen Unterschied machen würde, ob ich es ihr die Wahrheit erzählen würde. Sie interessierte sich nicht in dem Ausmaß für mich, dass es sie tangieren würde. Dass ich wirklich ihre ungeteilte Aufmerksamkeit hätte. Ein Gelegenheitsfick: okay. Freundschaft: okay. Aber eine innige, wirklich ernsthafte Beziehung...dafür reichte die Aufmerksamkeit nicht.

Und diese Aufmerksamkeit brauche ich. Ich brauche Bestätigung, Zusagen, Aufmerksamkeit. Ich geifere geradezu danach. Es ist so, als würde ich nur für das Lob anderer leben, um mich lebendig zu fühlen. Und wenn es nur ein einfaches „Danke fürs Zuhören“ ist. Auch das ist Lob.

Ah, mein Psychiater würde nun sagen: „Mister Simmonds, Sie suchen die Bestätigung in anderen, weil Sie die in sich selbst nicht finden. Sie verleugnen sich selbst und wollen deshalb, dass andere Sie mit Leben ausfüllen. Sie versuchen, andere für Ihre Taten verantwortlich zu machen, doch das wird nicht funktionieren.“

Natürlich wird es das nicht. Das weiß ich. Und ich weiß auch, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis alles in sich zusammenfällt. Wie mit der netten Metapher vom Kartenhaus. Nur meine Version wird für eine Seite absolut tödlich ausgehen.


 

Mein Glück ist damals wie heute, dass ich einen Menschen fand, dem ich uneingeschränkt vertrauen konnte: Aimee.

Ohne es zu wissen, schenkte ich ihr mein Herz und sie mir das ihre. Ich weiß nicht genau, wann und wie es geschah, aber zwischen uns entwickelte sich etwas, was über die erste große Liebe weit hinaus ging. Ich glaubte, mit ihr das Mädchen gefunden zu haben, mit dem ich den Rest meines Lebens verbringen wollte. Der großen Leere in mir zum Trotz, die erträglicher erschien, wenn sie bei mir war. Ich liebte sie so aufrichtig, wie ein Mann nur lieben kann, der sich selbst dermaßen verabscheut.

Ja. Ich hasse mich. Ich verabscheue mich. Für all die Lügen, all die Niederträchtigkeiten, all die Fassaden. Für alles. Mein ganzes Sein ist eine einzige Farce, eine Tragikomödie mit schlechtem Ausgang. Ich glaube nicht mehr daran, dass ich lebendig aus der Sache rauskomme. Denn mit Aimee kam auch die Erkenntnis. Niemand würde mich je so akzeptieren, wie ich nun einmal war. Die Reinblüter nicht, weil ich nicht selbst einer war und die Muggelstämmigen nicht, weil ich sie verabscheute. Gegen sie kämpfte. Aber obwohl ich für die Reinblüter kämpfte, würden sie ein Schlammblut in ihren Reihen nicht dulden. Oder hätte ich von Beginn an ehrlich sein müssen, darauf bauen, dass meine Fähigkeiten mich weit bringen würden und ähnlich wie Severus Snape darauf vertrauen, dass mein Meister meinen Wert erkennen würde?

Eric, würdest du meinen Wert erkennen, wenn ich Muggelstämmig wäre? Würdest du?

Nein, ich bezweifele das stark.

Aimee gab mir viel Kraft. Die Nächte mit ihr … Der Sex mit ihr ist unglaublich. Sie versteht mich besser, als ich mich selber und das macht mir Angst – weiß sie es wohlmöglich längst? Wenn sie Nachforschungen angestellt hat, dann weiß sie, dass ich mich auf dünnem Eis bewege. Dass es keine reinblütige Familie Simmonds aus dem verschneiten Island gibt, die vor zwei Jahrhunderten nach Großbritannien kam, um hier ein neues Leben zu beginnen, fernab von Tradition und Zwang. Würde sich nur einer die Mühe machen, meiner Geschichte auf den Grund zu gehen …

Ob Eric sich die Mühe gemacht hatte?

Nein, dann hätte er mich sicherlich nicht zu den Erben geladen. Dann wäre ich ihm jetzt nicht so nahe, dann würde er nicht zulassen, dass ich ihrer Verschwörung beiwohne.

Oder?

Aimee und ich sind ein gutes Paar. Sie verzeiht mir meine Art. Und dafür liebe ich sie. Rein. Unendlich. Unschuldig.


 

Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, dass es so etwas wie das Schicksal doch gibt und es mir in allem einen makaberen Strich durch die Rechnung machen würde.

Aber, nun. Eigentlich sollte mich gar nichts mehr wundern.

Ich bin ein Lügner, ein Schmarotzer, ein Identitätsdieb. Ich bin nicht Robin Simmonds. Ich bin nicht der Sohn, den meine Eltern aufzogen, die ich seit meinem 11. Geburtstag nie wieder sah. Ich bin nicht Aimees fester Freund. Ich bin nicht Nikitas und Felice' bester und erst recht nicht wie Neils Bruder. Ich bin nicht Erics Vertrauter, Olivers Neider und vor allem nicht Williams oder Brandons Freund.

Nein.

Nichts davon bin ich.

Wer ich dann bin?

Nichts.

Eine leere Hülle ohne jegliches Gefühl, ohne jegliche Emotion, ohne jegliche Regung. Meine Zerrissenheit hat mich so weit getrieben, mein Lügengebilde mich so weit ausgehöhlt, dass ich keine Möglichkeit habe, jemals wieder etwas zu sein.


 

Ich lebe.

Das ist alles, was ich bin.

Lebendig.

Und das genügt mir.
 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 


 

Amnesia

Blaue Augen suchten den Horizont nach einem Zeichen ab. Einem Zeichen, von dem sie selbst nicht wussten, was es bezeugen sollte – Aufgeben? Oder weiterkämpfen? Erschöpfung zeichnete die dunklen Augenringe unter die leuchtenden Saphire und müde senkten sich die Lider. Wie lange hatte er schon gekämpft? Und wie vergeblich war dieser Kampf gewesen?

Der Wind riss an Matthews Haaren, zerzauste seine Kleidung und trieb ihm die Tränen in die Augen. Er redete sich relativ erfolgreich ein, dass es lediglich die beißenden Böen waren, die ihn weinen ließen und nicht das Gefühl, alles verloren zu haben, ehe er es überhaupt besessen hatte. Es … Er traute sich nicht einmal, es zu benennen, aus Angst, vollkommen die Kontrolle zu verlieren.

Die Hand des Treibers klammerte sich um seinen Besen und er schwang sich auf das magische Transportmittel, stieg ruckartig höher und höher, riss an dem Stiel und zwang seinen alten Freund grob dazu, eine wacklige Runde nach der anderen um das Spielfeld zu fliegen. Niemand würde ihn hier oben leiden sehen und wenn er nur lange genug flog … würde er sich selbst vielleicht genug vergessen, um selbst nicht mehr zu leiden.
 

»There’s a fire starting in my heart

Reaching a fever pitch and it’s bringing me out the dark«
 

Ruhiger als zuvor schritt der Gryffindor über die Ländereien. Langsam aber sicher kam die Dämmerung, es wurde Abend. Der Sommer auf Hogwarts war bombastisch gewesen – Jamie und er hatten so viel Unsinn angestellt und waren dennoch kaum belangt worden. Sie hatten geile Spiele gehabt und Matt hatte zusammen mit Noah, Jamie und Mason Bruderschaft getrunken, mehrere Male. Eine Feier hatte die nächste gejagt – seine Gitarre hatte endlich wieder eine Existenzberechtigung gehabt und sie hatten so verdammt viel Spaß gehabt.

Und da war noch er gewesen.

Der Blick verlor sich in der Ferne und dachte an die grüne Insel, an die Heimat. Wie gerne wäre er jetzt zu Hause, zu Hause bei seinen Eltern und würde sich einigeln. Es würde nicht mehr lange dauern – es waren nur noch vier Tage, bis zu den Sommerferien und alleine wenn er daran dachte, ihn sechs Wochen nicht mehr sehen zu können, zog sich alles in ihm zusammen.

Aber würde er ihn jemals wieder sehen können? Nach der Entscheidung, die er heute treffen würde?

Ein Seufzen verließ seine Lippen. Er hatte schon immer viel zu viel nachgedacht, das Für und Wieder so lange hin und her geschoben, bis der perfekte Moment schon längst wieder vergangen war. Also … wieso es nicht einfach tun? Wieso nicht einfach ins eiskalte Wasser springen und schauen, ob er schwimmen konnte?

Weil er Angst hatte.
 

Trotzdem ging er zurück ins Schloss, zerzaust und erschöpft vom Ritt auf dem Besen. Ganz automatisch fanden seine Füße zu Jamie und sein Bester fand den Weg zum Gemeinschaftsraum – der sorgenvolle Blick blieb nicht aus, denn Matthew sah übel aus. Er hatte einen Entschluss gefasst und war selbst nicht vollkommen zufrieden damit – Jamie spürte, dass etwas nicht stimmte, wie es sich für einen besten Freund nun einmal gehörte. „Hey, Matt? Alles okay?“, hörte er den Blonden neben sich fragen und zweifelnd schaute Matt zu eben jenem, schüttelte den Kopf, hob unwissend die Schultern. „Ich … Frag mich nachher nochmal.“ Die Augen Jamies wurden groß und er öffnete den Mund, doch er musste die Frage nicht stellen, sie stand ihm ins Gesicht geschrieben. Deshalb nickte Matt nur ernst und verließ den Schlafsaal wenige Minuten später wieder, frisch gewaschen, angezogen und ohne Besen in der Hand.

Seine Wege führten ihn durch die vollen Gänge. Er wich den anderen Schülern aus, grüßte nicht einmal Noah und John, die ihm entgegenkamen und erntete dafür skeptische Blicke – aber um ehrlich zu sein, nahm er sie nicht einmal war. Sein Blick war auf das Ziel fokussiert, das er hatte und das lag im anderen Turm in Hogwarts.
 

„Was hört ohne Ohren, schwatzt ohne Mund und antwortet in allen Sprachen?“, wollte der Greifenkopf wissen und Matt fluchte laut. „Lass mich einfach rein, okay?!“

„Was hört ohne Ohren, schwatzt ohne Mund und antwortet in allen Sprachen?“, wiederholte der Greifenkopf ohne zu erkennen zu geben, ob er Matts Fluchen oder aber die Bitte gehört hatte. Der Gryffindor knirschte mit den Zähnen. „Drecksding. Lass mich rein, komm schon, ich bleibe auch nicht lange.“

„Was hört ohne Ohren, schwatzt ohne Mund und antwortet in allen Sprachen?“

„Ach, verflucht! Welcher Idiot soll denn so etwas…“

„…das Echo…“, antwortete jemand hinter Matthew und der Löwe zuckte zusammen. Abschätzige grüne Augen lagen auf ihm und O’Dwyer schnaubte: „Ich sehe hier nur einen Idioten. Was willst du hier, Gallagher?“ Die aufkommende Wut zurückdrängend, nutzte Matt die einzige Chance, um jemals in den Gemeinschaftsraum der Adler zu gelangen und quetschte sich an O’Dwyer vorbei in eben jenen, ohne auch nur auf ihn zu achten. Sollte das Arschloch doch denken, was er wollte, so! Der war jetzt sein geringstes Problem.

Das wirklich richtige Problem saß nämlich auf dem Präsentierteller vor ihm.

Matt schluckte trocken und sah sich selbst zu Hadrian herüber wanken, vollkommen gelähmt und gleichzeitig unter Strom. Er war wie ferngesteuert, als er die Hand auf die Schulter des Blonden legte, sachte Druck ausübte und erst dann seinen Mund an dessen Ohr platzierte, als Hadrian zu ihm aufschaute. „Wir … müssen reden.“ Er wusste nicht, ob es der Atem am Ohr des Adlers war oder aber seine ernsten Worte, doch er sah Gänsehaut am Nacken des Älteren und er wusste nicht, ob es ihn nun erfreuen oder eher verängstigen sollte. Beides traf zu. Sein Herz donnerte gegen seine Brust – er spürte nur zu deutlich, wie es den Rhythmus von Hadrians Namen polterte, wie es auf die skeptischen blauen Augen reagierte und auf die Berührung seiner Hand durch Hadrian, auf das Beugen des Oberkörpers, das fahrige Zurückstreichen der blonden Haare. Wie es jede noch so kleine Regung des Ravenclaw wahrnahm und heftiger darauf reagierte, als es sollte und wie es gegen Matthews Angst rebellierte, wie es frei sein wollte, wie es endlich zu dem Mann wollte, der es nun schon so lange besaß ohne es zu wissen.

„Also los.“ Hadrian deutete auf den Sessel sich gegenüber, doch Matt schüttelte den Kopf und deutete auf den Ausgang. „Nicht hier. Lass uns gehen, ja?“ Ein kurzes Grinsen zupfte an den Lippen des Blonden und machte Matt verrückt, so verrückt! Ein Kribbeln ging durch seinen gesamten Körper und mündete eindeutig im unteren Bereich, als seine Augen Hadrians Lippen absuchten. Scheinbar war das Aufforderung genug, denn der Adler folgte Matt aus seinen angestammten Gefilden und sie suchten den Ort auf, der ihnen zum mehr oder weniger heimlichen Treffpunkt geworden war: das Wahrsageklassenzimmer.
 

»I drove by all the places we used to hang out getting wasted

I thought about our last kiss, how it felt the way you tasted«
 

Ein Keuchen verließ die Lippen des Löwen. Genießerisch sog er die Luft zwischen den Lippen ein und krallte sich in die so verführerischen Haare, riss den Kopf des Blonden zurück und stahl sich einen weiteren dieser süßen, verheißungsvollen Küsse. Alles in ihm pulsierte und wollte ausbrechen – er wollte diesen Mann, so sehr, wie noch nie zuvor. Was einiges bedeutete, so oft wie sie schon … kurz davor gewesen waren … Doch Matt war nicht einfach irgendeiner von Hadrians Spielzeugen. Er ließ sich nicht benutzen und dann wegwerfen, auch wenn der Blonde schon oft genug deutlich gemacht hatte, dass er mehr wollte als bloß knutschen und mal eben einen Blowjob. Er wollte Matthew und der wusste nicht, ob es nur um Sex ging oder um mehr. Er befürchtete, nur um Sex, er hoffte, um mehr.

Doch wann wurden seine Hoffnungen schon einmal erhört.

„S…stopp…“, raunte Matt schwach und hielt Hadrians Hand fest, die besitzergreifend um sein hartes Glied gelegt war. Verwirrung stach ihm aus blauen Augen entgegen, doch Matt schüttelte nur den Kopf und zog die Hand weg. „Habe ich …“, doch Hadrian schluckte die Frage runter. Natürlich hatte er nichts falsch gemacht und dem Adler war genau das auch bewusst – und schien langsam aber sicher den Braten zu riechen. Misstrauisch runzelte er die Stirn und lehnte sich, halbnackt wie er nun einmal war, in die Kissen. „Was ist los?“, wollte er nun wissen und Matt fiel es schwer, den Blick vom nackten Oberkörper Hadrians abzuwenden und sich dem eigenen Herzen zuzuwenden, das ihn dazu gebracht hatte, Hadrian aufzuhalten.

Es fühlte sich alles nur noch falsch an.

So sehr er diesen Mann auch körperlich begehrte … er konnte nicht mit ihm schlafen. Es ging nicht. So sehr er es auch wollte, so sehr er es sich wünschte … Es.ging.nicht. Hadrian hatte damit keine Probleme. Sex schien für ihn nicht wichtiger zu sein, als seine Unterhose jeden Tag zu wechseln und dass er das tat, wusste Matt – traurigerweise auch, dass Hadrian sich den Sex anderswo holte im Gegensatz zum Gryffindor, der treu war. Bescheuert. Dabei waren … sie … nicht einmal …

Und genau an diesem Punkt der Gedanken begann sein Herz zu schreien.

Sie waren kein Paar. Matt wusste nicht einmal, ob Hadrian irgendetwas fühlte, denn Gefühle … waren ein Tabu-Thema. Das war für den Gallagher gar kein Problem gewesen, bis … bis … bis er sich rettungslos in Hadrian verliebt hatte. Nicht erst gestern oder vor zwei Wochen oder vor zwei Monaten. Er war nun seit Anfang des Jahres in diesen Mann verknallt, hochgradig, mit Bauchweh, Appetitlosigkeit, Glücksgefühlen und Herzschmerz – mit allem. Nur intensiver. Viel intensiver, als er es je zuvor gespürt hatte.

Zuerst hatte er es ignoriert. Das wird schon wieder, hatte er sich eingeredet und wann immer er Hadrians Lippen auf seinem Körper gespürt hatte, war es gut gewesen. Verdammt gut. Sie waren wie Balsam und hatten all die Sehnsucht mit sich genommen. Doch kaum waren sie selbst gegangen und mit ihnen Hadrian, war all die Gedanken, die Gefühle wieder da gewesen – stärker noch als zuvor.

Und genau deshalb konnte er nicht mit Hadrian schlafen. Er wusste nicht, wie Hadrian empfand und solange er es nicht wusste … solange er … solange er …
 

Er atmete tief durch.

„Ich … kann das nicht mehr tun, Hadrian“, ließ er die Bombe platzen und wich den stechenden blauen Augen aus. „Nicht mehr .. so. Es geht nicht. Ich ..“ Er stockte. Suchte nach den richtigen Worten, auch wenn er ganz genau wusste, welche die richtigen waren. Er traute sich nicht, Hadrian anzuschauen, traute sich nicht, ihn zu berühren, traute sich nicht einmal, die verdammte Hose hochzuziehen! Keinen einzigen Finger rührte er – er atmete nicht und hätte sein Puls nicht in den eigenen Ohren gerauscht, so hätte er schwören können, auch sein Herz hatte ausgesetzt.

„Ach? Plötzlich plagt dich das Gewissen?“ Der Schalk des Wynshire tat weh und nun schaute Matt doch zu ihm, die Finger suchten nach Hose und Gürtel und schlossen beides. Er sah die Enttäuschung in den arroganten Zügen, sah die Skepsis in den blauen Augen und schließlich auch … ja, was war es? Angst? Zweifel? Wissen? Ah, Hadrian Wynshire hatte sicherlich schon dutzende Affären gehabt, die ausgeufert waren – Matt kam sich bescheuert vor. Er hätte alles haben können, stattdessen … nun, stattdessen musste es endlich raus.

„Nein. Das Herz.“

Stille.

Nicht gerade die erhoffte Reaktion, wohl aber die erahnte. Matts Züge wurden hart – es gab kein Zurück mehr. „Ich habe mich in dich verliebt.“
 

»We could have it all rolling in the deep

You had my heart inside your hand

And you played it to the beat«
 

Und damit war es zu Ende gewesen. Alles, was sie die letzten Monate geteilt hatten, hatte Matt mit diesen Worten zerstört. Nein. Nicht Matt hatte es zerstört – Hadrian zerstörte es, indem er zuerst schwieg, dann den Kopf schüttelte und ihn schließlich abschmetterte. Nicht nur mit Worten: er ging. Ging und ließ Matthew alleine im Wahrsageklassenraum zurück, zwischen all den Kissen, dem Geruch nach Myrre und Sex, nach Schweiß und Weihrauch, nach … Hadrian.

Zittrig schloss er die Augen.

Er hätte es wissen sollen.

„Verdammter …“

Doch kein Fluch kam über seine Lippen. Stattdessen sank er in die Kissen, starrte an die Decke und wartete, bis Jamie ihn fand – und dass er ihn fand, dafür sorgte natürlich der werte Hausmeister, der keinerlei Gnade kannte, sie vor ihren Hausdrachen schleifte und dafür verantwortlich war, dass Gryffindor zehn Punkte verlor – und Matt seine Freizeit bis zu den Sommerferien mit lovely Professor McAlistair verbrachte.

Super.

Mit der Mum vom besten Freund seines Ex-Lovers. Großartig.

Zuerst war da nur Wut. Er hatte keinen Raum für Enttäuschung oder gar Traurigkeit, da war nur heiß pulsierende Wut. Zum Nachsitzen kamen noch saftige Strafarbeiten dazu, denn Matthew flüchtete sich in Prügeleien, die allesamt nicht gut für ihn ausgingen. Jamie versuchte, ihn davon abzuhalten, mitzumachen, zu schreien und zu lachen – doch nichts davon half. Matt war wie in Watte gepackt, nicht mehr Herr seiner Gefühle und Taten.

… noch weniger als sonst.
 

»I wish that I could wake up with amnesia

And forget about the stupid little things

Like the way it felt to fall asleep next to you

And the memories I never can escape«
 

Es war niemals nur eine körperliche Affäre gewesen. Matthew hatte Hadrian gekannt. Viel besser vielleicht, als jemals ein Mann vor ihm. Nicht nur, wo er ihn berühren musste, wie er ihn berühren musste, um den Höhepunkt so lange wie möglich hinauszuzögern, um es ihm so angenehm wie nur irgendwie möglich zu machen, um ihn so glücklich wie niemand anderes zu machen. Nicht nur, dass er nur seinen Nacken küssen musste, zärtlich, und schon gehörte er ihm. Nicht nur, dass er nur sachte beißen musste, Ohr, Nacken, Schulter, und schon zerfloss er zwischen seinen Fingern. Nicht nur, dass er Wachs war, wenn man ihn zwang, sich fallen zu lassen …

… sondern auch, dass Hadrian einsam war. Einsam, obwohl er einen Freund wie McAlistair hatte, einsam, obwohl er eine große Familie hatte, einsam, obwohl er niemals alleine nach Hause ging.

Er war schrecklich einsam.

Es hatte nur so wenige Wochen gedauert, bis Matt aus den Treffen mehr gemacht hatte. Nicht nur die feuerwerksartigen Explosionen, wann immer es sie überkam und sie am bestmöglichen Ort verschwanden, nein. Irgendwann begann Hadrian zu reden. Zu erzählen. Über seine Heimat, seine Eltern, seinen Onkel … seine Kindheit und die vermisste Mutter, über den Süden Englands, über die Pflichten eines Erben. Matt war sich sicher, dass er seine Familie bereits bestens kannte, ohne sie jemals gesehen zu haben, auch wenn Hadrian niemals besonders freigiebig mit seinen Informationen war – viel mehr war Matt derjenige, der zu reden begonnen hatte. Irgendwann. Einfach so. … Nun, nein. Jetzt wusste er, dass es aus dem Wunsch passiert war, dass Hadrian ihn besser kannte. Ihn zu mögen begann.

Und niemals wieder aufhörte damit.

Jetzt tat all das nur noch weh. Jedes verfickte Kaminfeuer brannte in seinen Augen und seinem Herzen, erinnerte ihn an heimliche Ausflüge und einen nackten Körper, der sich in der kalten Nacht an ihn schmiegte, hungrig nach Leidenschaft, hungrig nach Zweisamkeit.

Hatte Hadrian immer nur versucht, seine Einsamkeit zu kompensieren?
 

Nun saß er ihm also wieder gegenüber.

Hadrian wirkte abwesend und Matthew, der eh kein gutes Gefühl hatte, ließ den Kopf hängen. „Ich kann und werde deine Gefühle nicht erwidern“, verließen kalte Worte die Lippen des Adlers und Matthew schauderte. Schaute auf. Sah kein Anzeichen einer Lüge, eines Versuchs, sich selbst zu schützen, wie er es erwartet hatte.

Für einen kleinen Moment rebellierte alles in ihm.

Er wollte Hadrian am Kragen packen, schütteln und gegen die nächste Wand schleudern, ihm die Visage polieren und brüllen „sag das noch mal und dieses Mal lüg nicht!!, ihn umarmen, küssen und nie wieder loslassen …

… doch der Moment war schnell vorbei. Krampfhaft suchte Matt nach seiner Stimme, versuchte sich die Lippen mit der trockenen Zunge zu befeuchten und scheiterte nicht nur daran kläglich. „Dann ist …“, ihm versagte die Stimme. Tränen schnürten seinen Hals zu, doch blieben aus. Er ballte die Hände zu Fäusten, stand auf und schaute auf Hadrian herab. „…es aus…“ Er hielt es nicht länger in einem Raum mit ihm aus. Er musste raus. Weg. Bloß weg von hier.

Bloß weg von Hadrian.
 

»Sometimes I start to wonder, was it just a lie?

If what we had was real, how could you be fine?
 

'Cause I'm not fine at all«
 

Tage zogen ins Land bis zu den Sommerferien, die grausam und duster waren. Er hätte mit Jamie rausgehen können, hätte Mason oder Noah besuchen können … hätte mit seinem Vater zu Arsenal gehen können oder einfach nur in den Pub um die Ecke.

Er blieb im Bett.

All die Wochen lang verließ er sein Zimmer nur, um zu essen und auf Toilette zu gehen und mutierte streckenweise zu einem ungewaschenen, hässlichen Ungeheuer – Jaydens Besuch ignorierte er komplett. Auch das zaghafte Klopfen seines großen Bruders an der Tür, die kleinen Zettel, die er darunter durchschob mit der filigranen Handschrift und den lustigen Zitaten aus ‚Das Dschungelbuch‘ wurden verschmäht. Selbst als Jayden das Zauberwort ‚fliegen‘ erwähnte, kam nur ein aggressives „verpiss dich endlich“ von Seiten des Jüngeren und Jayden sah ein, dass es besser war, Matt seinen Willen zu lassen.

Das letzte, was er brauchte, war der perfekte große Bruder mit seinem perfekten Abschluss und seiner perfekten Freundin und den perfekten Abenteuern, die er erlebte und dem perfekten Schottlandurlaub und den perfekten Plänen für die Zukunft!

Verrotte in der Hölle, Jayden! Verrottet doch alle in der Hölle!
 

Irgendwann gelang es James, seinen Sohn doch hervor zu locken und die letzte Woche der Sommerferien machte er sich daran, zu seinen Kumpel wieder Kontakt aufzunehmen. Jamie war ungeheuer erleichtert, dass es ihm wieder besser ging und schwor, noch am Abend irgendwie vorbei zu kommen. Sein Bester stand tatsächlich einige Stunden später mit Fußball und Comicheften in der Hand vor der Tür und irgendwie schaffte er es, Matt aus seinem Loch zu holen.

Zumindest für kurze Zeit.
 

Denn dann ging es wieder nach Hogwarts. Matthew hatte seine Eltern angefleht, ihn doch bitte ein Jahr nach Durmstrang zu schicken, doch sie waren der festen Überzeugung, dass er sich seinem Dämonen stellen musste und so schlimm würde es schon nicht sein. „Matt“, hatte sein Vater gesagt, „du glaubst vielleicht jetzt, dass die Welt untergeht. Wenn schon nicht die gesamte, dann wenigstens deine und glaube mir, als deine Mum den Heiratsantrag das erste Mal abgelehnt hat, war ich kurz vorm Nervenzusammenbruch“ – „er hatte einen!“ – „aber es wird besser werden. Jeden Tag ein bisschen einfacher, ihn zu sehen und irgendwann wirst du vielleicht sogar wieder mit ihm reden können, wenn du das möchtest. Du wirst ihn überstehen und dann jemanden finden, der dich genauso liebt, wie du ihn. Versprich mir einfach, dass du es vier Wochen ausprobierst, okay? Wenn du es nicht aushältst, holen wir dich nach Hause.“ Liebevoll wuschelte James seinem Sohn durch die Haare und zog ihn eine unbarmherzige, viel zu lange Umarmung, sodass es Matt unendlich peinlich war, als er ihn wieder losließ und seine Mutter wissend lächelte. „Matt ist doch schon groß, James. Du brauchst ihn nicht zu drücken, wie einen Fünfjährigen.“ Dann drückte auch sie ihn viel zu lange. „Du musst ihn richtig fest drücken! RICHTIG FEST! Sonst hat er doch nichts davon.“ Grinsend entließ Nala ihren verstörten Sohn wieder in die Freiheit und gab ihm einen Klaps auf dem Po. „Und jetzt zeig diesem Bastard“ – „Liebling!“ – „was er sich entgehen lässt. Oder komm nach Hause gekrochen, je nachdem.“
 

Matt schwor sich, nie wieder mit seinen Eltern über so etwas zu reden, doch unerklärlicherweise ging es ihm so viel besser, als noch zuvor. Er las all die Zettel, die Jayden ihm unter der Tür durchgesteckt hatte, all die kleinen Liebesbekundungen und Besserungswünsche, all die lustigen Wahrheiten über seine eigene erste große Liebe – die übrigens nicht Sophia gewesen war, hm – und all die schönen Zitate auf Gälisch.

Er hatte eine tolle Familie.

… Doch er kannte einen Ravenclaw, der nicht das Glück hatte und all das Glück, das er noch vor wenigen Sekunden empfunden hatte, starb sofort.
 

Am Bahnhof erkannte er die schlanke Statur Hadrians sofort. Seine Augen leuchteten wie ein Signalfeuer durch all die anderen Schüler hindurch und kamen in den eigenen zum Liegen. Matts Gesicht verzog sich zu einer Maske der Gleichgültigkeit und stur ging er an dem Blonden vorbei. Schulter berührte Schulter. Hadrian machte einen unegschickten Schritt zur Seite, sog die Luft ein und Matt wusste, dass er ihn rufen würde … Dass sein Name auf den Lippen des Blonden lag … Dass er versucht war, ihn am Ellenbogen zu fassen und aufzuhalten …

Er würde es ihm einfacher machen.

Wütend schlug er die Hand weg, noch ehe sie ihn berührte und fauchte: „Lass stecken, Wynshire. Ich habs vor den Ferien kapiert, ich kapiers auch jetzt. Also … lass es einfach stecken.“
 

»If today I woke up with you right beside me

Like all of this was just some twisted dream

I'd hold you closer than I ever did before«
 

Leere.

Das war kein Sieg gewesen. Er hatte das nicht für sich getan. Er war nicht für sich so unbarmherzig gewesen. Schnell flüchtete er sich auf die erste Toilette, die er sah und atmete tief durch. Die Hände zitterten unkontrolliert. Wasser. Schnell. Er schmiss sich das eiskalte Wasser ins Gesicht und unterdrückte den Schauer kontrolliert, ehe er sein Spiegelbild betrachtete.

Er hatte das für Hadrian getan. Was auch immer der Adler hatte sagen wollen, hätte die letzten Wochen zunichte gemacht. Ob es nun war „hei Gallagher, Lust auf eine zweite Runde?“ oder „lass uns doch noch ein letztes Mal, hm?“ oder „auf die Knie mit dir“ oder „ich habe einen Fehler gemacht“ – all das war nicht mehr wichtig.

Matt war fertig mit ihm. Punkt.

… nun musste nur noch das rebellierende Ding in seiner Brust das verstehen.
 

Die erste Woche war hart. Die zweite ertrug er. Und in der dritten begann er wieder zu leben, zu lachen. Seine Kumpel halfen ihm ziemlich – Jamie und er lachten und scherzten, mieden jedoch gekonnt das H-Thema. Sein Bester war so geschickt darin, um das Thema herum zu rudern und ihm dennoch zu versichern, dass er voll hinter ihm stand.

In der vierten Woche war es schwierig, Hadrian mit McAlistair zu sehen … und mit einem Slytherin aus der Fünften … Aber es war erträglich. Zumal immer häufiger grüne Augen durch die Menge zuckten, nach Matthew Ausschau hielten und das ‚Idiot‘ von vor einem halben Jahr vielleicht gerne noch einmal überdacht hätten … Und immer häufiger hielt der Löwe unterbewusst nach diesem Jungen Ausschau, der vielleicht doch nicht so ein Arschloch war, wie er gedacht hatte.

Und in der fünften Woche kam Matt damit klar, dass Hadrian und er niemals sein würden. Dass er sein Herz leichtsinnig verschenkt hatte, es gebrochen worden war, kurzzeitig verloren gegangen und jetzt endlich wieder da, rebellierend wie eh und je. Er sah ein, dass es von Anfang an auf der Kippe gestanden hatte, Hadrian und er. Vielleicht wäre es anders gekommen, hätte er mehr gekämpft – vielleicht aber auch nicht.

In der sechsten Woche hatte er es abgehakt.

Das Leben ging weiter. Die Liebe suchte sich immer ihren Weg.
 

»And you'd never hear me say

We almost had it all«

Hathaway

Meine Eltern haben mich Gwendolyne Leana getauft und mit diesem alten Namen eine unendlich lange Tradition fortgeführt – jede dritte Generation wird ein Liam oder eine Leana auf die Welt kommen und genau so genannt werden. Ein altes Hathaway Erbe, dem mein Vater gefolgt ist. Mein lieber Bruder wurde ein Liam, wenn auch nur mit zweitem Namen, und ich wurde eine Leana, ebenfalls nur mit zweitem Namen.

Was sagt das über uns aus?

Dass wir so offensichtlich gegen diese wundervolle Tradition rebellieren und sie dennoch befolgen? Oh, ich glaube, mein Dad hat damit versucht, uns zu zeigen, dass Traditionen nichts Schlechtes sind, sie allerdings von Zeit zu Zeit eine … Verbesserung bedürfen. Wir sind eine Familie, die reines Blut hat. Jenes reine Blut, das vor zwei, drei Generationen Lord Voldemort gedient hat. Jenes reine Blut, das uns vor Tod und Folter bewahrt hat – nicht jedoch vor Schmerz. Wir litten und bluteten wie alle anderen im großen schwarzen Krieg und wir zitterten und bangten um die Leben unserer Lieben. Nein, nicht ich persönlich und auch Dad hat nichts darüber zu berichten, doch wenn ich in Grandmas Augen schaue … wenn ich das gezwungene Lächeln auf Grandpas Lippen sehe … Ich spüre, dass sie noch immer leiden.

Und ich bin diejenige, die ihre Augen zum Leuchten bringt und ihr Lächeln so friedlich aussehen lässt. Nur deshalb bin ich so, wie ich eben bin. Mädchenhaft. Lieb. Höflich. Schüchtern. Vorsichtig. Nun. Zumindest scheine ich so. Dass ich tatsächlich höflich und vorsichtig bin, ist eine Tatsache. Schüchtern? Oh nein, keineswegs. Lieb? Liegt vermutlich im Auge des Betrachters. Mädchenhaft? … In allen Belangen. Ich bin ein gutes Mädchen, das mit jeder Faser ihres Körpers versucht, das Böse zu vertreiben und gleichzeitig ein bisschen böse sein zu dürfen.

Oh, dramatisch, nicht wahr? Aber so ist das Leben als Reinblut nun einmal. Dramatisch. Heutzutage muss man sich so oft für seine Abstammung rechtfertigen, ist genauso vielen Schmähungen und Blicken ausgeliefert, wie Muggelstämmige. Selbst wenn man nicht die Ansichten der schwarzen Magier von damals teilt.

Ich bin keine Slytherin geworden, doch unsere Familie war nie besonders Schlangenreich. Hathaways – und auch McCarthys, wie meine Mum eine ist – waren schon immer in allen Häusern willkommen.

Ob bei den listreichen Schlangen, den mutigen Löwen, den intelligenten Adlern oder den treuherzigen Dachsen.
 

Ich wurde ein intelligenter Adler.
 

Anfangs ließ ich die Intelligenz jedoch reichlich vermissen. Ich bin fleißig, eher ein Huffflepuffattribut und sehr trickreich, eher eines Slytherin würdig. Ein Gryffindor werde ich niemals sein – mir fehlt die wagemutige Anwandlung, zugegeben, und rot stand mir nie wirklich.

Aber ein Ravenclaw? Ich? Der sprechende Hut schien Dinge in mir zu sehen, die mir selbst nicht klar waren. Mittlerweile sind sie mir klar. Ich bin äußerst intelligent und geschickt darin, meinen facettenreichen Charakter zu meinen Gunsten zu nutzen. Nein, das halte ich nicht für Slytherin würdig. Niemals. Ich tue das nicht, um anderen zu schaden. Oder um mir einen gigantischen Vorteil zu erpressen, erspielen. Ich erpresse und erspiele überhaupt nichts.
 

Ich bin Daddys Augenstern.

Ich bin Jaspers Schutzbefohlene.

Ich bin Anaths verschwiegenste Vertraute.
 

Aber ich bin auch … eine ziemlich miese Person … wenn ich es für richtig und gut halte. Ein Widerspruch an sich, es klingt alles so falsch. Aber … ich halte es für richtig, hier und da falsch zu sein, wenn man sich der Konsequenzen durchaus bewusst ist und niemand anderen dabei verletzt … ist es für mich vollkommen in Ordnung, zu lügen und zu hintergehen. Ich bin intelligent genug, um mich dabei nicht erwischen zu lassen. Und ich bin intelligent genug um zu wissen, dass es dafür keine Rechtfertigung gibt.

Fürs Lügen und Betrügen, fürs einfach nur schlecht sein.

Aber es ist mir egal.

Ich bin jung! Ich möchte Orte sehen, Dinge erleben, verrückt sein! Durchdrehen!

Und ich möchte ich selbst sein können. Nicht schüchtern, höflich, mädchenhaft. Ich möchte ausbrechen können, ohne dass Opa wieder so gezwungen lächelt. Ich möchte lachen können, ohne dass Omas Augen trüb werden. Ich möchte morgens aufwachen können, ohne Gefahr zu laufen, einer der Neuen Papas über den Weg zu laufen. Ich möchte lieben können wen ich will, ohne Angst haben zu müssen, dass Jasper ihn um die Ecke bringt.

Ich möchte leben.

Einfach nur leben.
 

Aber ich kann nicht.

Ich habe Verpflichtungen, so, wie das immer ist mit den reinblütigen, namenhaften Familien. Dank Papas Arbeit haben wir einiges an Geld, ein großes Haus, viel Platz … Ich habe meinen Mustang, der mir in den Sommerferien zur Verfügung steht und mit dem ich über die Ebenen preschen kann. Ich habe Klavierunterricht genossen, Manieren gelernt, immer jemanden zum Spielen gehabt. Ich kann mich nicht beschweren, ein schlechtes Leben gehabt zu haben.

Aber …

Meinen ersten Kuss hatte ich mit 14. VIERZEHN! Manche haben da schon ihre Unschuld verloren … und Jasper hat bis zu dem Tag immer ziemlich gut verhindert, dass sich mir ein Mann überhaupt bis auf zwei Meter nähert, ob er nun zur Familie gehörte oder nicht.

Ich liebe ihn, meinen Bruder, so sehr. Ich würde mein Leben geben – und das ist weder eine Lüge, noch die angekündigte Dramatik eines Reinblüterlebens. Jasper hat mich praktisch aufgezogen und war immer für mich da. Es gibt niemanden, dem ich mein Leben anvertrauen würde, außer ihm, dem ich näher stehe und dem ich dankbarer für das bin, was er für mich getan hat.

Ich liebe ihn.

Aber es nervt einfach, dass er sein eigenes Leben nicht auf die Reihe bekommt, aber glaubt, in meines pfuschen zu können, wie er will.

Jasper! Jeder Idiot sieht, dass du was von Catherine willst, also schnapp sie dir endlich! Oder … mach halt … mit Keith rum … IGITT! … und unserer Familie Schande, was solls?! Hauptsache, du tust es endlich.

Ich selbst musste auf Menschen aus meinem unmittelbaren Umfeld zurückgreifen, um überhaupt die Möglichkeit zu bekommen, mich zu verlieben. In Hogwarts?! Unmöglich! Ich konnte doch keinem Jungen antun, mit Jasper zu konkurrieren! Oder gegen ihn anzutreten … Nein. Nein, nein, nein.
 

Es war in den Weihnachtsferien vor zwei Jahren.

Endlich war wieder die ganze Familie vereint. Naja. Außer Mum, aber das war ja nichts Neues. Dad hatte Jessica … die Dritte? … mit zur Feier genommen und niemanden schien es zu stören … außer mich … Immer, wenn er eine andere Frau als Mama liebte … Wie auch immer.

Damon – meine erste große Liebe, ich sage es dir! Ein so netter, charmanter, wohlerzogener Junge! – war gerade in seinem letzten Jahr in Durmstrang und wir redeten so viel und so lange, dass ich das Gefühl bekam, meine unendliche Liebe zu ihm würde endlich erwidert werden! Ich war so unheimlich verknallt in die braunen Schokoaugen, die breiten Schultern, das weiße Lächeln … Ach ja.

Aber Jasper war auch auf dieser Feier, natürlich. Er machte – wie immer – alles kaputt, nahm sich Damon zur Brust und seitdem ist das Verhältnis zwischen mir und meinem lieben Cousin mehr als unterkühlt. Damon ist ein so wohlerzogener junger Mann, dass er es nie wagen würde, jemanden zu beschämen – ob es nun ein dummer, dummer pubertierender Junge war, oder aber ein ehrbares Mädchen … oder aber seinen Onkel … obwohl der ja das beste Beispiel für Beschämung und unehrenhaftes Verhalten ist …

Damon ging an diesem Abend recht früh und ich versteckte mich lange bei seiner Schwester Heather – wir waren zu der Zeit unzertrennlich, wenn wir einander sahen, immerhin waren wir nur ein Jahr auseinander und sie teilte mein Leid mit einem überfürsorglichen Bruder aufgewachsen zu sein. Zum Glück fand Jasper irgendwann sehr viel Gefallen an einer der Kellnerinnen, die bestimmt drei Jahre älter war als er und mit einigem Verdruss musste ich dabei zusehen, wie er ihr die Zunge in den Hals steckte und ich mit leeren Händen dastand.

„Da“, flüsterte Heather mir abends irgendwann zu und deutete auf Chuck, Cousin väterlicherseits, „er beobachtet dich schon ganz lange. Ich glaube, er mag dich.“ Kichernd hatten wir damals mit unseren Haaren gespielt, vollkommen übersehend, dass eine so enge Verwandtschaft es unmöglich machte, glücklich zu werden. Chuck und ich waren praktisch miteinander aufgewachsen, kannten einander sehr gut und unsere Eltern waren Geschwister. Wir waren praktisch selbst Geschwister!

Aber das hielt ihn nicht davon ab, zu uns herüber zu kommen.

„Hei Lyn.“

So hatte mich noch niemand genannt. Obwohl mein Herz an jemanden vergeben war, spürte ich es schneller schlagen und mit einem Blick aus seinen seelenlosen dunklen Augen hatte er mich. Nur einen Atemzug später, lächelte ich heimlich und verschränkte meine Hand in seiner. „Hier ist es warm – wollen wir nicht rausgehen?“ Ich schaute zwar Heather bei dieser Frage an, doch diese entschuldigte sich fadenscheinig und ging herüber zu ihrer Mama, um auch unsere Eltern abzulenken. Ich beobachtete, wie sie alle aufgeregt Heathers Schilderungen zuhörten und schwor mir selbst, diesem Mädchen irgendwann dafür zu danken, dass sie so großartig war.

Sie wartet bis heute auf diesen Dank.

Ich drückte Chucks Hand und seine Augen drohten mich aufzufressen.

Lachend streiften wir durch die Weiten unseres Gartens, jagten einander, berührten einander immer wieder spielerisch und irgendwann streifte seine Hand verheißungsvoll meine Hüfte. Ich spürte, wie Aufregung jede Pore meines Körpers durchströmte – gleich passiert es, hörte ich mich selbst wie besinnungslos denken.

Ich hielt inne.

Blinzelte zu Chuck hoch. Er zu mir herab. Strich mir die braunen Haare aus dem Gesicht, die vollkommen wirr waren. Unser milchiger Atem vermischte sich der kühlen Abendluft und als sich unsere Lippen berührten, war es der perfekte Moment.

Er war sanft und liebevoll. Der Chuck Hathaway, den ich kannte, war ein ziemlicher Aufreißer und ich glaube, seine Unschuld hatte er schon mit elf verloren. Keine Ahnung, ob das, was seine beiden Brüder erzählten, immer der Wahrheit entsprach, aber angeblich flogen selbst die Professorinnen in Durmstrang auf den Badboy.

Tatsache war jedoch, dass ich spontan gewesen war. Dass er mich vollkommen überrannt hatte. Und dass es mir trotzdem rein gar nichts ausmachte, einmal nicht an Konsequenzen denken zu müssen, nicht alles zu planen und nicht perfekt zu sein.
 

Chuck machte diesen Abend für mich perfekt.
 

Wir küssten uns eine halbe Ewigkeit. Es war gut, sehr gut sogar und als er sich schließlich von mir löste, einen verklärten Ausdruck in seinen Augen, war ich zufrieden mit mir. Irgendetwas schien ich gut zu können, ohne, dass ich es geübt hätte. Ohne, dass ich darüber nachgedacht hätte.

Ich konnte gut küssen.

Wir lachten einander an und die seelenlosen Augen nahmen mich ein zweites Mal gefangen, lösten einen zweiten, noch viel längeren Kuss aus, während dem seine Hände haltlos über meinen Rücken wanderten und schließlich auf meinen Schulterblättern zum Halten kamen. Sachte Gänsehaut rieselte über meinen Rücken – und dann war ich diejenige, die den Kuss löste. „Das war … schön.“

Chuck schmunzelte. „Du sprichst schon jetzt in der Vergangenheit? So schnell hat mich bisher keine abserviert, Lyn. Das hat …“, seine Finger wanderten über meinen Nacken in mein Haar und ich biss mir auf die Unterlippe, „…Stil. Du wirst mal eine Herzensbrecherin.“
 

Schlussendlich endete der Abend für Chuck mit einer gebrochenen Nase und für mich mit einer Woche Hausarrest und einem Bruder, der eine Woche lang nicht mehr mit mir sprach.

Wie ich schon sagte: Chuck und ich waren zu eng miteinander verwandt. Cousin und Cousine ersten Grades, das schickte sich nicht. Wären wir nun dritten oder vierten Grades miteinander verwandt … niemand hätte auch nur einen Ton gesagt (außer Jasper). So jedoch … hatte Chuck einen weiteren Punkt auf seiner langen Liste, wenn er vor Gott treten würde und ich den ersten Fleck auf meiner makellosen weißen Weste.
 

Und Jasper und ich den ersten Streit in den 14 Jahren unserer tiefen und innigen Liebe für einander.
 

„Was hast du dir dabei gedacht, diesem Arschloch deine Zunge in den Hals zu stecken?!“

„Jas. Beruhige dich bitte…“

„Beruhigen?! Du hast gerade mit Chuck geknutscht!“

„Ja, das weiß ich. Was ist verkehrt daran?“

„Einfach alles! Seit wann knutscht du mit Jungs?!“

„Jasper, bitte schrei nicht so…“

„…Entschuldige, aber ich will eine Antwort.“

„Chuck ist der erste gewesen, der überhaupt … den du überhaupt … Das ist unfair von dir! Du knutscht andauernd mit irgendeinem Mädchen herum und wenn ich nur ein einziges Mal… Jasper, wieso regst du dich so auf? Es war nur ein Kuss!“

„Das war viel mehr als das, Gwen! Er ist unser Cousin. Dad ist jetzt schon dabei, vollkommen durchzudrehen!“

„…“

„Was?! Was soll der Blick?!“

„Dad hat kein Recht, mich oder Chuck zu verurteilen.“

„Mach das nicht, Gwen. Dad ist…“

„…eine männliche Hure…“

„GWEN!“

„…!...Du…bitte geh.“

„Es … tut mir leid. Das hätte ich nicht … ich hätte doch nie … Gwen, ich hätte dich nie…“

„…aber du wolltest es … Wenn dir die Worte versagen, küsst du Leute entweder, oder du schlägst zu. Das ist okay.“

„Gwen.“

„…bitte geh.“

„...Gwen, ich will dich nur beschützen.“

„Das machst du sehr gründlich.“

„Du solltest das nicht noch mal über Dad sagen. Es stimmt nicht.“

„…“

„Und du solltest dich bei ihm entschuldigen. Was hast du dir nur … Chuck?! Warum ausgerechnet der?!“

„…“

„Ich … gehe jetzt.“
 

Warum ausgerechnet Chuck?

Seit wann ich Jungs küsste?

Wir waren verwandt?

Oh, ich war so wütend in dem Moment! Ich hätte so vieles über Dad und Jasper sagen können, so viel böses Blut fließen lassen können … doch ich liebe Jasper und Dad. Und ich weiß, dass es falsch war, Dad eine Hure zu nennen, aber … es ist nicht leicht von einem Mann gut zu denken, der seine Ehefrau mit so vielen Frauen betrügt und diese Frauen auch noch seinen Kindern vorführt, sie teilweise mit ihnen zusammen aufzieht! Ich bin so … so … verletzt deswegen. Und ich hätte an diesem Abend wohl jeden geküsst, nur, um diesen Gedanken zu entfliehen.
 

Ich hatte mich nie den Konsequenzen dieses Abends gestellt. Weder Dad, noch Jasper verloren je wieder ein Wort über Weihnachten 2047 – das machte es für mich nicht leichter.

Vielleicht war jener Abend ein Schritt in die falsche Richtung gewesen.

Vielleicht hatte ich einen gigantischen Fehler gemacht.

… Vielleicht war es aber auch das Beste, was ich hätte tun können…?

It's all coming back to me now

There were nights when the wind was so cold

That my body froze in bed if I just listened to it right outside the Window.
 

„Wahnsinn“, entfuhr es Matthew, während er durch die langen und heute gut gefüllten Hallen des britischen Ministeriums schritt. An seiner Seite ging Lillian mit ebenso vor Staunen weit geöffneten Augen, die kränklichen Züge vor Bewunderung verzogen. „Ich hatte es mir immer groß vorgestellt“, fing die ehemalige Hufflepuff an und streckte die Arme aus, ein Lachen ausstoßend, „Aber so groß? Das ist wirklich Wahnsinn, Matt, wo sollen wir nur zuerst hin?“ Der Brünette fuhr sich die in aller Eile frisierten Haare aus der Stirn und war ebenso überfordert mit der Gesamtsitutaion. „Also … eigentlich wollte ich in die Quidditch-Abteilung. Und vielleicht noch in die Geheimniswahrersektion. Aber ... wo das ist? Keine Ahnung! Und sowas wie … naja … Wegweiser haben die hier wohl auch nicht aufgestellt, huh?“ Lillian schüttelte unglücklich den Kopf und näherte sich unbewusst etwas weiter ihrem Freund, um nicht von der Menschenmasse fortgetragen zu werden. „Das … haben die Muggel uns wohl voraus. In jeder großen Stadt steht so etwas, weißt du?“ Sie blinzelte zu dem ehemaligen Gryffindor auf und stockte, ehe sie leise in das Lachen Matthews einfiel. „Klar weißt du das!“

„Ja. Das haben sie uns voraus. Und noch eine ganze Menge anderer Dinge. Ich wette, für die Muggel-Ministerien gibt es Apps, damit man sich in ihnen nicht verläuft.“

„… Apps?“

„Oh. Ja, noch etwas, was sie uns voraushaben.“ Matt wackelte mit dem Smartphone, das er jedoch schnell wieder in der Hosentasche verschwinden ließ, als einer der vielen Passanten ihm einen schrägen Blick zuwarf. „Vielleicht … gibt es hier so etwas wie eine Turi-Info?“, fragte Matt hoffnungsvoll und Lillian schaute sich fachmännisch um. Innerhalb von wenigen Sekunden deutete sie auf einen der vielen Schalter und Matt folgte ihr dorthin. „Entschuldigen Sie?“, fragte Lillian scheu die mürrisch aussehende Hexe hinter dem Schalter, die über ihre Gläser hinweg giftige Blicke verschoss.

„Ja?“ Die Reibeisenstimme der Alten ließ beiden ehemaligen Hogwartsschülern Schauer über den Rücken rieseln. „Wir … wollten fragen, wo das Archiv liegt und …“ Matt ergänzte: „Und wo wir hinmüssen, wenn wir zu den Geheimniswahrern wollen.“ Die mürrische Frau stöhnte genervt, händigte den beiden Erwachsenen Passierscheine aus und deutete auf die Fahrstühle. „Siebter und Zehnter Stock.“

Matt und Lillian waren sich nicht sicher, ob sie sich nun bedanken sollten, wurden jedoch auch schon vom nächsten Hilfebedürftigen zur Seite gedrängt und standen ein wenig bedröppelt neben dem Schalter. „Wenn die hier alle so nett sind“, murmelte Matt, „wandere ich doch nach Bulgarien aus. Da ist der Wodka wenigstens besser.“ Lillian lächelte schwach und hustete kurz, schüttelte jedoch den Kopf auf Matts fragenden Blick. „Alles gut. Lass uns einfach schauen, ob wir die Richtung finden.“ Der Brünette nickte und folgte seiner Freundin in Richtung der Aufzüge.
 

There were days when the sun was so cruel

That all the tears turned to dust and I just knew my eyes were drying up forever
 

Es waren nun zwei Jahre seit dem Schulabschluss vergangen. Lillian und er hatten beide ein einjähriges Praktikum beim Tagespropheten gemacht und sich dort noch mehr schätzen gelernt, als während der Zeit auf Hogwarts. Er war ihr zum treuen Beschützer, sie ihm zur treuen Beraterin geworden und so war es kaum verwunderlich gewesen, dass Matt ihr auf eine Weltreise gefolgt war, um sicherzustellen, dass sie eine Pause machte, wenn ihre Gesundheit es verlangte. Sie hatten viele Orte bereist – und dank des schier unerschöpflichen Guthabens der Raynolds, war das Geld kein Problem gewesen – hatten viel gesehen und Matt hatte sich oft gefragt, wohin sein Weg ihn nun führen würde. Mit 19 musste er anfangen, darüber nachzudenken. Die Journalismusbranche war ein hartes Pflaster und er wusste nicht, ob er dieses Pflaster betreten wollte. Ähnlich ging es der schwächelnden Reinblüterin. Die täglichen Anstrengungen wären vermutlich zu viel für ihre Gesundheit – deshalb waren sie heute hier im Ministerium. Dieses veranstaltete alle zwei Monate einen Berufsinformationstag, an welchem das Ministerium allen Zauberern und Hexen offen stand. Matt hatte Lillian in ihrem Gedanken, das Archiv zu besuchen, bestärkt. Ihre außerordentlich guten kombinatorischen Fähigkeiten, ihre Geduld und Ausdauer und auch ihre Recherchefähigkeiten kämen ihr sicherlich bei einem Job dort zu Gute (wenn Matt die Jobanzeige richtig verstanden hatte), während Matt sich anschauen wollte, was einen Geheimniswahrer so ausmachte und ob er nicht beim internationalen Quidditchposten mal was reißen könnte.

So viel zur Theorie.

Die Praxis gestaltete sich wie immer abenteuerlicher.
 

I finished crying in the instant that yo left

And I can’t remember where or when or how,

And I banished every memory you and I had ever made
 

Kurz vor den Fahrstühlen hielt Matt inne. „Was ist?“, fragte Lillian, als sie sich zu ihm umwandte. Matt runzelte die Stirn. Er wurde das Gefühl nicht los, dass er beobachtet wurde. Unangenehm begann seine Haut zu kribbeln und er schaute sich um. „Ich … weiß nicht. Geh schon mal vor, ich komme nach.“

„Okay. Ich warte im Archiv auf … Oh.“

Oh.

Richtig.

Wie Signalfeuer brannten blaue Augen durch die Masse an Menschen. Alles und Jeder um ihn herum schien unwichtig, zu einer einzigen grauen Masse zu verschwimmen und nur er kristallisierte sich klar und deutlich aus ihr heraus. Oh traf es verdammt gut. Das war also der Grund für die Unsicherheit. Für das Kribbeln. Nein, nicht das, er. Unruhig befeuchtete Matt sich die Lippen und winkte Lillian zu, das sie gehen sollte. Er wusste nicht, was gleich geschehen würde. Das Dickicht an Emotionen hatte sich noch nicht gelichtet – war er nun froh, ihn wiederzusehen? Ja. Und nein. Wie sollte er reagieren? Was sagen? Er verfolgte die ihm so bekannte Gestalt, mit starrem Blick, verfolgte jede kleine Regung auf den arroganten Zügen, verfolgte das vorwitzige Funkeln in den Augen, während er sich mit einem der Angestellten flirtend unterhielt, verfolgte die lässige Geste, mit der er sich in den Nacken fasste, verfolgte die beiläufige Berührung, die ihn zusammenzucken ließ.

Matt erstarrte.

Er verfolgte, wie Hadrian Eskin Wynshire von einem auf den anderen Moment seine Selbstsicherheit verlor. Ein großgewachsener, hagerer Mann mit kritischen Zügen und angeekelt hochgezogenen Lippen hatte sich neben den Blonden gesellt, ihm die Hand auf den Rücken gelegt – viel zu weit unten, für Matts Geschmack – und übte nur durch seine Präsenz scheinbar einen so gewaltigen Druck auf Hadrian aus, dass dessen Lächeln schwankte, dessen Blick glasig wurde und eine einstudierte Gleichgültigkeit auf dessen Züge trat.

Matt kannte diese Gleichgültigkeit.

Und er kannte diesen Mann.

Langsam und von sich selbst unbemerkt steuerte er auf die Gruppe zu, die sich halblaut und lachend unterhielt und in der bis eben Hadrian noch die Unterhaltung geführt hatte. Nun führte Alphasius Burke sie mit eiserner Hand, die noch immer wie eine Warnung im Rücken des Blonden lag. Matt umrundete die Gruppe. Hatte nicht vor, direkt einzugreifen. Das konnte er sich nicht heraus nehmen. Doch er sorgte dafür, dass er in Hadrians Blickfeld gelangte. Er sorgte dafür, dass er durch ein absichtliches Stolpern einen der jungen Männern anrempelte, mit dem Hadrian sich gerade gezwungen unterhielt. Und er sorgte dafür, dass er durch ein „oh, ‚‘Tschuldigung“ sicherlich auffiel.

Besonders, dass er Hadrian auffiel.

Langsam hoben sich blaue Augen in ihre Spiegel, suchten das bekannte Gesicht ab und stellten Blickkontakt her. Hadrians Züge erhellten sich für den Bruchteil eines Herzschlags.

Er hatte ihm das Herz gebrochen.

Er hatte ihn verflucht.

Er hatte diesen Bastard gehasst.

… Und er hatte ihn geliebt. Wie keinen nach ihm.
 

When you touch me like this

And you hold me like that

I just have to admit that it’s all coming back to me
 

Matt war die letzten zwei Schuljahre mit Aidan O’Dwyer in einer mehr oder weniger standhaften Beziehung gewesen. Es war gut, sie waren verliebt, hatten ne bombastische Zeit, aber dann kam Maxim, oder Maximilian oder Maximo oder wie auch immer der verdammte Sechstklässler hieß und Aidan war auf und davon. Nicht weiter tragisch – es brachte dem Brünetten zwar einige Wochen vergraben in Dublin ein, bis Lillian ihn nach London zum Tagespropheten einlud, doch er war schnell darüber hinweg.

Mit Hadrian war das etwas ganz anderes gewesen.

Als er abging … hatte Matt tagelang nicht schlafen können. Er hatte überlegt, ob er alles über Bord warf und Hadrian einfach fragte, ob er ihn zum Abschluss begleiten dürfte. Er hatte überlegt, ob er die Schule hinschmeißen und dem Blonden folgen sollte, wo auch immer er hinging. Er hatte überlegt, ob er dem beschissenen McAlistair einfach eins auf die Fresse geben sollte, als er an Hadrians Seite – natürlich nur freundschaftlich, ja, ja – auf dem Abschluss auftauchte. Und er hatte überlegt, ob er sich einfach in den großen See stürzen und nie wieder auftauchen sollte, als Hadrian mit irgendeinem Kerl verschwand, und nicht mit ihm. Er hatte überlegt. Wie immer. Überlegt, aber nicht gehandelt. Und dann war Hadrian Wynshire aus seinem Leben verschwunden. Drei grausame Jahre lang – und so oft Matt sich auch neu verliebt hatte und so flatterhaft und wundervoll dieses Gefühl auch war, es war nichts im Vergleich zu der schmerzenden Woge an glücklichem Unglück, das sein Herz beinahe in Zwei zu reißen drohte, als er ihn jetzt wiedersah.

Gefangen.

Und gleichzeitig befreit.

… Er liebte ihn noch immer. Er hatte nie damit aufgehört.
 

When I touch you like this

And you hold me like that

It’s so hard to believe but it’s all coming back to me
 

„Matthew.“ Seine Stimme. Nicht mehr als ein Atemhauch, nicht mehr als ein Raunen – so fern von Real und doch berührte sie etwas in ihm, was nur sie berühren konnte. Automatisch richtete er sich wieder auf, stützte sich an der Schulter des Mannes, den er absichtlich angerempelt hatte ab und entließ ihn schließlich in die Freiheit. Sie alle waren vollkommen egal. Matt erkannte das Funkeln in den blauen Augen. Er erkannte den Schalk und den Sex und er erkannte die Angst und die Einsamkeit. Niemand kannte Hadrian Wynshire so wenig und doch so gut wie er selbst – die Augen huschten zu Burke und Matts Augenbrauen zogen sich zusammen. Einen Moment war er versucht, die Distanz zu überwinden. Nicht zum Wynshire, um ihm wahlweise die Fresse zu polieren, oder aber hemmungslos zu küssen, sondern zu diesem Stück Mensch, das dort stand und es sich immer noch herausnahm, über den Blonden bestimmen zu wollen. Doch er beherrschte sich. Er hatte in den letzten Jahren so viel an Geduld und an Größe gewonnen – Alphasius Burke würde das nicht zunichtemachen.

Nicht vor Hadrian.

Langsam schaute Matt wieder zu Hadrian. Er sah Hoffnung und Ablehnung, Neid und Anerkennung, Ablehnung und Liebe. Dieser gegensätzliche Mann hatte es geschafft, dass es für Matt niemals wieder einen anderen Menschen in seinem Leben gab, für den er alles aufgeben würde.

Hadrian brauchte nur jetzt zu sagen und Matt würde springen. Ob in den Tod oder nur in seine Arme, das war vollkommen bedeutungslos.

Auch all die Zeit, die sie getrennt gewesen waren, war bedeutungslos für ihn. All die Jahre ohne Hadrian, waren spurlos an dem Blonden vorbei gegangen – er war noch immer so makellos und gleichzeitig so gebrochen wie vor vier Jahren. Wie in der Zeit, in der sie sich geliebt hatten. Auf die eine und die andere Art und Weise.

Sie hatten Fehler gemacht. Beide. Matts größter? Aufzugeben. Nicht zu kämpfen.
 

There were Moments of gold and there were flashes of light,

There were things I’d never do again but then they’d always seemed right
 

„Hadrian! Große Überraschung, dich hier zu sehen.“ Oh, fast fehlerfrei über die Lippen bekommen. Alphasius musterte Matt und unter dem scharfen Blick des Alten wäre er beinahe zusammengezuckt, doch er ignorierte ihn und seine ganze Aufmerksamkeit galt Hadrian. „Lange her…“ Hadrian nickte steif und wich seinem Blick aus – die Hand im Rücken wog zu schwer. War zu unangenehm. Zu beherrschend. Matt atmete tief durch und wandte seinen Blick nun doch Alphasius zu. „Ich würde Ihnen Ihren Neffen gerne entführen, wenn ich darf?“ Etwas an Matts Stimme sagte, dass er es auch tun würde, wenn er es nicht durfte und ohne noch lange auf Einwände des Alten oder der drei Männer zu warten, die im Halbkreis um Hadrian herum standen, griff er nach dem Ellenbogen des Blonden und zog ihn von der Gesellschaft fort. „Nichts sagen. Einfach mitkommen“, murmelte er leise und Hadrians Verkrampfung löste sich – er ließ sich mitziehen. Mit jedem Meter, den sie zwischen sich und die anderen brachten, spürte Matt, wie die Anspannung fiel und wie sich der Mann hervorwagte, der nur wenige Stunden gebraucht hatte, damit Matt ihm Herz und Leben schenkte.

Sie erreichten eine kleine Sitzgruppe in der Nähe des Schalters, den Lillian und er zuvor noch besucht hatten und Matt deutete auf die Bank, wartete und setzte sich erst, nachdem Hadrian sich gesetzt hatte. Sein Blick wanderte über die Menge an Menschen und obwohl Hadrian neben ihm saß, kam er ihm unheimlich weit weg vor. „Was … machst du hier nur?“, hörte er sich selbst fragen und schaute schief zum Älteren auf, sich plötzlich wieder wie 15 fühlend. Hadrians Augenbraue wanderte nach oben, so typisch, und das überheblich-verführerische Lächeln fand auf diesen wahnsinnigen Lippen Platz. „Das müsste ich dich wohl fragen, hm? Meldest dich drei Jahre nicht und entführst mich gleich?“ Was auch immer Hadrian noch hatte sagen wollen … er brachte es nicht über sich. Matt nickte langsam. Schaute weg. Lehnte sich auf der Bank ein wenig vor und spielte mit seinen Händen, auf denen schließlich die blauen Augen zum Liegen kamen.

„Lillian und ich – also, Lillian Raynolds, falls sie dir noch etwas sagt“ – „Hmhm.“ – „wir sind wegen der Infotage hier. Sind uns beide noch nicht so sicher, wo es uns hinführt.“ – „Bist du etwa mit ihr zusammen?“ – „Nein. Bist du etwa mit ihm“, ein Nicken auf den Kerl, den Matt für seinen Unfall ausgenutzt hatte, „zusammen?“ – Ein Lächeln. „Nein.“ – „Gut.“ – „Ja. Gut.“
 

There were nights of endless pleasure

It was more than laws allow
 

„Nein, wirklich, Hadrian – was machst du hier?” Der Blonde nahm Matt ins Visier und diese herrliche Kälte in den blauen Augen brachte ihn zum schaudern. „Es gibt Zauberer, die sich ihr Leben nicht so aussuchen können wie du, Rumtreiber.“

„Woher … weißt du das?“

„Ach – reden wir nicht über mich. Was hast du so erlebt, in … Indien. Oder Ägypten. Oder Schottland. Oder Tunesien. Oder wo auch immer du so warst, huh, Matty?“

Schweigen. „Willst du das wirklich wissen, Hadrian?“

„Wieso sollte ich sonst fragen?“

Schweigen. „Um dir ein paar Minuten mehr Freiheit zu erkaufen? Weil es dir Spaß macht? Weil dir gerade danach ist? Ich könnte dir tausende Gründe aufzählen – und du würdest zu dem einzig ehrlichen keine Sekunde stehen, habe ich nicht recht?“

Schweigen. „Welcher ist denn deiner Meinung nach der einzig ehrliche, du kluger, kluger Löwe, hm? Erleuchte mich!“

„Du hast mich vermisst.“ Matts Lippen zeigten ein Grinsen und er stupste mit seiner Schulter sachte gegen Hadrians. Ein Blick – von unten herauf zum Älteren – folgte dieser vertrauten Geste und für einen kurzen Moment war er versucht, das unangenehme Ziehen in der Magengegend auszublenden und ihn einfach zu küssen. So, wie sich die sinnlichen Lippen nun zu einem Lächeln formten und die Zähne entblößten, jene Zähne, die so verführerisch beißen konnten. So, wie sich die Zungenspitze frech hervorwagte, jene Zungenspitze, die heiße Bahnen zeichnete und gleichzeitig löschte. So, wie blaue Augen zu funkeln begannen – und sie funkelten nur für ihn. Es hatte lange gebraucht, dass Matt das verstanden hatte, so wie es lange gebraucht hatte, bis er die Versuche Hadrians verstanden hatte. Da war es zu spät gewesen. Und jetzt?

„Was sind wir nur erwachsen geworden, hm? Und jetzt halten wir uns für Merlins Nachfahre?“, feixte Hadrian und lehnte sich auf der Bank zurück, ganz so, als gehöre ihm die Welt. Nun. Matts Welt gehörte ihm. Der musste schmunzeln. „Nein. Ich glaube nur, ich kenne dich ziemlich gut. Und … man muss kein zweiter Merlin sein um zu begreifen, dass du verdammt froh bist, dass ich dich da rausgeholt habe.“

Schweigen.

Das Grinsen war erloschen.

„Also, Hadrian – was tust du hier?“

„Arbeiten. Dad war nun mal sehr … fordernd.“ Die stechenden blauen Augen lagen auf Alphasius Burke, der sie nicht aus den Augen ließ. „Wohl nicht nur Dad, huh?“, mutmaßte Matt und bemerkte, wie Hadrian verärgert die Stirn kräuselte. Ein Seufzen entfloh dem Gallagher. „Okay, Wynshire. Komm.“ Er tätschelte das Knie des Älteren, was diesem eine gehobene Augenbraue entlockte und nickte auf die großen Türen. „Es wird Zeit, dass wir von hier verschwinden.“ Verwirrung und Erkenntnis wechselten sich in den stürmischen blauen Augen ab, während Matt nach Hadrians Hand griff und ihn von der Bank auf die Füße zog.

Er ließ die Hand nicht wieder los.
 

If I kiss you like this

And if you whisper like that

It was lost long ago but it’s all coming back to me
 

Ganz schnell war die Distanz überbrückt. Die weichen Lippen des Blonden in Beschlag genommen. Nur einen Herzschlag lang. Wenn er wollte, konnte er es als Einbildung abtun, so zart hatte Matt sich den Kuss gestohlen, den sein Herz verlangt hatte, doch die nächsten Worte würde er nicht abtun können. Matt stand noch immer nahe bei ihm, Schläfe an Schläfe, Lippen an Ohr.

„Ich lasse dich nicht wieder los. Du kannst laufen – aber ich werde dich fangen. Du kannst Wiederstand leisten – aber ich werde ihn brechen. Du kannst toben – aber ich werde dich beruhigen.“ Nur Millimeter entfernte sich Haut von Haut – blaue Augen fanden ihre Spiegel und Matt fing die Panik in den Augen Hadrians ein. „Du kannst Angst haben. Ich“, er drückte die Hand, „lasse dich nicht mehr los.“
 

If you want me like this

And if you need me like that

It was dead long ago but it’s all coming back to me
 

Hadrian sog die Luft scharf ein. Nur einen Augenblick wollte er glauben, was er da hörte. Wollte er alles um sich herum vergessen und damit alles, was ihn schon so lange ausmachte. „… Versprochen …?“, hörte er sich selbst raunen, erschrocken, von der Brüchigkeit der eigenen Stimme und von der Stärke, mit der die eigene Hand sich in die fremde krallte. Matt wich nicht zurück. Die Berührung von Lippen. Abermals bruchstückhaft. Wie eine Erinnerung so zart und ein wirsches Brummen entfuhr dem Blonden. „Versprochen“, hörte er Matthew wispern.

Als Antwort suchte eine Hand nach der anderen und harte Lippen lagen auf sehnsüchtigen.

Hadrians Art, Versprechen zu geben, war schon immer ein wenig direkter gewesen.

1956 - I

OKTOBER 1956
 

Ich zog die Haustür sanft hinter mir ins Schloss. „Darling? Ich bin daheim“, rief ich in den beinahe klinisch weißen Flur und als Antwort bekam ich eine Kakofonie an drei verschiedenen Frauenstimmen, die schnell näher kamen. Meine Töchter rannten auf mich zu und teils froh sie zu sehen, teils erschöpft von der Arbeit auf der Station, nahm ich sie in den Arm. „Geht zu eurer Mutter, ja?“, wisperte ich in das weiche blonde Haar meiner Älteren und brav tapsten sie den Flur herab zu Mama, die im Türrahmen das Spektakel beobachtete, sich die feuchten Hände an der Schürze abwischend. „Geht hoch Hände waschen“, befahl sie ruhig, „und kommt danach direkt wieder runter. Es gibt gleich Essen.“

Das streng zurückgenommene blonde Haar hatte sich im Eifer der Hausarbeit hier und da gelöst und verspielte Strähnen lugten hervor, die sie nun versuchte zu bändigen, als ich den Flur herunterkam. „Wie war die Arbeit?“, erkundigte sie sich liebevoll und ich setzte meine Lippen auch auf ihrer Stirn auf, berührte sachte ihren wachsenden Bauch, doch sie schob meine Hand bestimmt fort. „Es gibt Essen“, betonte sie ein weiteres Mal und ich schob mich, nachdem ich den Mantel ausgezogen hatte, in die Küche.

Im Waschbecken wusch ich mir die Hände und setzte mich danach an den Tisch, als ich das Poltern der Kinder auf der Treppe hörte. Ein strenger Blick ihrer Mutter ließ die beiden Mädchen reumütig an den Tisch gekrochen kommen. „Entschuldigung“, sagten sie im Chor und ihre Mutter nickte.

Schweigend nahmen wir unser Essen zu uns. Es war karg, aber wie immer auf den Punkt gekocht und meine Frau machte das Beste aus dem, was wir zur Verfügung hatten. Natürlich wäre es für die Haushaltskasse günstiger, wenn meine Frau noch immer als Lehrerin arbeiten würde, doch die Mittel hatten wir mit zwei Kindern und einem Dritten im Anschlag einfach nicht.

Nach dem Essen wusch meine Frau das Geschirr und ich ging noch eine Weile ins Wohnzimmer, rauchte eins, zwei Zigaretten und las die Tageszeitung. Meine Töchter saßen stumm bei mir und spielten Klatschspiele oder Karten. Als meine Frau mit dem Abwasch fertig war, setzte auch sie sich zu mir auf das Sofa. „Ich habe Hadrian heute gesehen.“ Ihr bemüht gleichmütiger Tonfall fiel mir sofort auf und angestrengt versuchte ich, mich auf den Wetterbericht für den nächsten Tag zu konzentrieren. „Er kam aus dem Museum.“ Noch immer schwieg ich auf die Worte meiner Frau, blätterte geräuschvoll in der Zeitung und hoffte, sie würde das Thema einfach fallen lassen. „Ich wusste nicht, dass er Kunst mag.“ Ungeduldig faltete ich die Zeitung zusammen und wich dem Blick meiner Frau aus. „Tut er auch nicht. Er ist nicht … so einer … Und wieso fängst du nun eigentlich von ihm an?“ Meine Frau war über den rauen Ton überrascht und schaute von ihrem Strickzeug auf. „Ich dachte, es interessiert dich, was dein Freund treibt“, merkte sie vorsichtig an, doch ihr lauernder Blick sagte etwas ganz anderes. Sie wusste, wohin ich die letzten zwei Jahre über beinahe jeden Dienstagabend hin verschwunden war und sie wusste, was in mir vorging. Dessen war ich mir vollkommen sicher, als ihre klugen Augen mich auf die Probe stellten. Gereizt stand ich auf und zog meine Töchter auf die Beine, um sie schlafen zu legen.
 

Eins, zwei Stunden später kroch ich reumütig zu meiner Frau ins Bett. „Es tut mir leid“, wisperte ich gegen ihren Nacken und legte meine Hand auf ihren leicht gewölbten Bauch. Ich konnte ihr Lächeln hören, als sie antwortete: „Du hattest einen stressigen Tag. Ich liebe dich.“ Ich musste nicht mehr zögern, um zu lügen: „Ich liebe dich auch.“
 

Tatsächlich.

Hadrian ging nun also tatsächlich ins Museum. Ich kam mir dumm vor, ihm nachzuspionieren und obwohl ich mir einzureden versuchte, dass ich nur meine üblichen Patrouillen machte, wusste ich, dass das eine lausige Ausrede war. Das Museum lag nicht einmal in meinem Zuständigkeitsbereich.

Mein Blick folgte der schlanken Gestalt Hadrians, der im dunklen Mantel voll britischem Schick die Straße herabschlenderte. Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt und dennoch beeilte er sich nicht. Auf der anderen Straßenseite hielt er inne und ich versank beinahe hinter meiner Tageszeitung, die ich beim Kiosk studierte, als er noch einmal über die Schulter schaute. Ich folgte seinem Blick.

Ein junger Mann, vielleicht sieben, acht Jahre jünger als wir, stand im Museumseingang und blickte zur anderen Straßenseite. Für einen Moment bildete ich mir ein, dass sein und Hadrians Blick sich trafen, dass sie sich Minutenlang anstarrten und ich Teil dieses intimen Moments war, den niemand anderes mitzubekommen schien. Zumindest konnte ich das nur für sie hoffen.
 

Hadrians Gang war beschwingt, als er nach Hause ging. Ich folgte ihm immer noch und bisher hatte er mich noch nicht bemerkt. Geschickt manövrierte ich mich so durch die Seitengassen, dass ich vor ihm an seiner Wohnung ankam, rückte meine Polizeiuniform zurecht und kam mir albern vor. Albern, dass ich ihn abpasste, albern und unvorsichtig. Nur ein Nachbar musste dieses Treffen falsch verstehen. Nur einer musste denken, dass Hadrian und ich … dass meine Treffen mit ihm …

Ich befeuchtete mir die Lippen als mir bewusst wurde, dass ich nervös war. Ich empfand diese elektrisierende Nervosität, die mich stets umfing, wenn Hadrian in mein Blickfeld trat. Automatisch zog er meinen Blick an und die markante Nase, die feinen Züge, die stechenden, intelligenten Augen, das schelmische Leuchten in ihnen, das kecke Grinsen auf den Lippen … all das war so anders als alles, was ich kennengelernt hatte und so fern von jenen Menschen, die ich kannte. Er hatte mich zu verzaubern gewusst, kaum dass wir uns vor vier Jahren kennengelernt hatten und seitdem waren wir sehr gute Freunde. Er war mein Trauzeuge gewesen, doch seit ich verheiratet war, hielt er sich sehr zurück.

Hielten wir uns sehr zurück.

Als Hadrian mich sah, hielt er kurz inne. Er schien zu verarbeiten zu müssen, dass ich in Uniform und mit Helm vor seiner Wohnung stand und schaffte es nicht auf Anhieb, das neue Bild einzuordnen. Zögerlich kam er zu mir, doch seine Augen sprühten vor Esprit, während sein Gesicht skeptisch verzogen war. „Officer“, grüßte er mich und ich nickte ihm zu. Wortlos deutete ich auf die Eingangstür und auch Hadrian nickte, warf nicht einmal einen Blick über die Schulter, sondern ließ mich einfach in seine Wohnung.
 

Der harte blaue Stoffmantel rutschte von seinen Schultern, als wir in der kalten Wohnung angekommen waren und ich nahm meinen Helm vom Kopf. Verloren blieb ich im Türrahmen stehen, während Hadrian die Gasheizung in Gang brachte und uns zwei Scotch einschenkte. Wortlos reichte er mir ein Glas. Ich nickte und als ich es nahm, berührten sich unsere Finger, ganz leicht. Scheu blickte ich zu ihm auf, doch sein Blick war unstet, nicht bei mir.

Ich spürte Ärger in mir aufkeimen. Wusste er, welches Risiko ich hier auf mich nahm? Wusste er, wie verboten es war, ihn in meiner Arbeitszeit zu sehen? Ihn überhaupt zu sehen?

„Ich habe jemanden kennengelernt“, fing er plötzlich an zu erzählen und setzte sich auf seine Couch, den Blick noch immer ins Nichts gerichtet, fein an seinem Scotch nippend. Und ich stand noch immer im Türrahmen, schweigend. „Er ist Sportler, weißt du? Nicht halb so feinsinnig, wie ich es gewohnt bin, aber er hört mir stundenlang zu mit der Neugier eines Kindes und seine Augen, Dorian. Sie leuchten wie die Sterne.“ Mit dem kecken Grinsen schaute er zu mir und meine Hand krampfte sich um das Glas. Noch immer schwieg ich.

„Willst du dich nicht endlich setzen?“, forderte er mich auf und ich schüttelte den Kopf. Setzte das Glas auf einem der kleinen Tischchen ab. „Ich sollte gar nicht hier sein“, antwortete ich fahrig und drehte mich auf dem Absatz um.

Er hielt mich nicht auf, als ich die Hand auf die Klinke legte. Er rief nicht meinen Namen, mich nicht zurück. Etwas in mir wünschte sich sehnsüchtig, dass er mich aufhielt. Und nur deshalb zögerte ich.

„Der Junge beim Museum?“, fragte ich hölzern und hörte das helle Lachen Hadrians, das so typisch für ihn war. „Hast du mich etwa beobachtet, Dorian? Komm schon, setz dich endlich. Ich konnte dich ja noch gar nicht richtig ansehen.“

‚Das lag nicht an mir‘, war ich versucht zu erwidern, doch ich fügte mich der samtigen Stimme Hadrians und glitt neben ihm auf die Couch, noch immer in der steifen Uniform. Ganz automatisch fingen seine gefährlich funkelnden Augen meine ein und ich drohte im weichen Leder der Couch zu versinken, spürte die Hitze der Heizung – oder war es meine eigene? – und empfand das Verlangen, ihn zu berühren. Unsere Hände fanden einander irgendwo in der Mitte und er lächelte heimlich, spiegelte damit mein eigenes Lächeln und auch er setzte sein Glas ab.

„Wo hast du so lange gesteckt?“, fragte er atemlos, als er sich zu mir herüber beugte. Sein heißer Atem perlte an meinen Lippen ab und ich erschauderte unter der Berührung seiner sanften Finger auf meiner Brust. Geschickt pellten sie mich aus der Jacke und ich antwortete nicht, versank lediglich in diesen Augen. Spürte, wie mein Atem schneller ging, wie ich dem Kommenden entgegen fieberte. Ich bildete mir ein, dass seine Hände zitterten, als sie mir die Hose öffneten und ich keuchte ungehalten. Sie waren warm auf meiner Haut – ich lebte. Zog sein Gesicht zu mir und küsste ihn, rieb meine Lippen verlangend an seinen und spürte, wie ich hart wurde, wie er mich umfing und begann, den Druck abzubauen. Ich stöhnte leise, konnte mich nicht lange zurückhalten und ergoss meine Leidenschaft in seine Hand.

„Was macht deine Frau eigentlich richtig?“, hörte ich ihn fragen, während er sich lasziv das Sperma von einem Finger leckte und ich griff nach seinen herrlich blonden Haaren, spürte die warme Haut seines Nackens und zog ihn zu mir, auf mich, befreite ihn von seiner störenden Hose und ließ es geschehen. Er schlüpfte zwischen meine Beine. Ich drehte mich um, wollte ihm nicht dabei zusehen und ließ ihn mich lieben. Jeder einzelne Stoß war zu viel.

Es war eine Sünde - es war genau richtig.

Es war nicht richtig, konnte gar nicht richtig sein - es war die süßeste Sünde, die man sich vorstellen konnte.

Die Hitze brachte mich beinahe um den Verstand und der ersehnte bittere Schmerz durchzuckte meinen gesamten Unterleib, wann immer er zustieß. Er ließ sich Zeit. Beherrschte sich. Genoss es, mich zu dominieren, mich da zu haben, wo er mich haben wollte. Entzog sich mir ganz und hinterließ das Gefühl, nicht komplett zu sein. Dass etwas fehlte. Keuchend drehte ich mich um, umfing seinen Schwanz mit meinen Händen und verhalf ihm zur Erlösung, schnell und effektiv und der heiße Lebenssaft auf meiner entblößten Brust war wie die Bestätigung, dass all das kein Traum war. Dass Hadrian real war und ich homosexuell.
 

Wir redeten bis spät in die Nacht und er nahm mir das Versprechen ab, dass ich öfter kommen würde. Ich war mittlerweile ein guter Lügner geworden und konnte dieses Versprechen geben, ohne rot zu werden.

Hadrian wusste es. Ich wusste es. Irgendwie hatte ich von Anfang an gewusst, dass es auf einen Abschied hinauslaufen würde, unterbewusst.

Ich würde nicht wiederkommen.

Das war unsere letzte Nacht. Also legten sich seine Lippen sehnsuchtsvoll auf meine und wir liebten uns den Rest der Nacht. „Wie heißt er?“, fragte ich Hadrian, als ich meine zerknitterte Uniform wieder anzog. Hadrian lag im Morgenmantel auf seinem Bett und rauchte, sein Blick war nun seltsam verklärt.

Ich hatte ihm immer gefallen. Hadrian war immer verrückt nach mir gewesen und andersherum war es genauso gewesen – doch diesen Ausdruck hatte ich noch nie bei ihm gesehen. Es lag etwas Ernsthaftes in seinem Gesicht, was so gar nicht zu dem kecken Hadrian passen wollte, den ich kannte und seine blauen Augen wanderten umher, suchten einen Fixpunkt, fanden keinen und in ihnen lag ein seltsamer Glanz. Er schien mir nervös, dabei war Hadrian Wynshire der ruhigste und gelassenste Mensch, den ich kannte.

„Matthew. So ein ordinärer Name, huh? Sagte ich schon, dass er Sportler ist?“ Ich nickte. „Ein ganz breites Kreuz hat er und Muskeln…“ Hadrian war immer leicht von ästhetischen Körpern zu beeindrucken gewesen, also dachte ich mir nichts dabei. „Aber ein Sportler…? Hadrian, ich weiß nicht. Die sind meistens nicht die Hellsten“, wandte ich ein und er lachte sein herrliches Lachen. „Oh, Matthew ist anders.“ Ich stockte und schaute ihn lange und unverhohlen an, wie er dalag, rauchend und lachend und mit glänzenden Augen und roten Wangen und der Sexgeruch lag in der Luft und er erzählte von Matthew, dem Sportler, der anders war und ich begriff: Hadrian war verliebt. Das erste Mal in seinem Leben und ein scharfer Stich durchzog meine Brust.

Ich war eifersüchtig.

Vorsichtig griff ich nach meinem Helm. „Ist er gut zu dir?“, fragte ich leise. Hadrian schaute mich offen an und nickte. „Sehr gut, Dorian. Besser, als ich es verdient habe. Er ist jung und idealistisch und offen. Er interessiert sich für Kunst!“ Daher also das Museum. Ich versuchte mich an einem Lächeln. „Und für Musik. Er hat eine leidliche Singstimme, auch wenn er nie so gut Klavierspielen können wird wie du.“ Mir wurde warm ums Herz, als er lachte. „Auch wenn er ein besseres Rhythmusgefühl hat.“ Es lag etwas Verbotenes darin, wie er das Wort betonte und ich errötete unter dem kecken Grinsen. „Und er hat einen netten Bruder, wirklich, er würde dir gefallen. Arbeitet in Irland als Polizist, seine Familie kommt nämlich aus Irland, musst du wissen, und er hat den charmantesten Akzent, den ich je gehört habe. Er raucht nicht, trinkt nicht, tanzt nicht. Kannst du dir das vorstellen?“ Ich schüttelte den Kopf. Mir war schlecht.

Wir schwiegen eine Weile. Ich stand im Türrahmen, er lag rauchend im Bett.

„Er bringt mich zum Lachen.“

Ich nickte.

„Und ich habe wieder Hoffnung“, fügte Hadrian ganz leise an, so leise, dass ich es beinahe nicht gehört hätte. „Hoffnung?“ Hadrian schaute mich seltsam an und winkte dann ab. „Ich bringe dich zur Tür…“
 

Erst viel später begriff ich, dass ich damals seine Hoffnungen zerstört hatte. Dass es nicht das erste Mal gewesen war, dass Hadrian Wynshire verliebt gewesen war. Und dass Matthew ihm die Hoffnung geben konnte, die ich ihm damals genommen hatte.
 

Meine Frau fragte nicht, wo ich gewesen war, als ich früh morgens zurückkehrte. Stattdessen saß sie mit Augenringen und Babybauch am Frühstückstisch und lächelte, als sie mich sah. „Ich dachte schon, dir ist etwas passiert“, wisperte sie leise und schob ihre Teetasse zur Seite. Ich war gerührt von ihrer ehrlichen Sorge. „Nein. Ich … musste nur etwas klären.“ Zögerlich nickte sie und stand auf. Sie trat zu mir heran und griff nach meinem Gesicht. Dem ersten Impuls, mich wegzudrehen, hielt ich stand und ließ sie mich berühren, das glatt rasierte Kinn anfassen und schließlich küsste sie mich zärtlich.

Sie musste den Scotch schmecken. Oder Hadrian. Oder die Sünde. Irgendetwas davon musste sie einfach schmecken. Doch sie lächelte noch immer, als sie sich ein wenig von mir entfernte und meine Hand in ihrer verschränkte. „Ich habe dich vermisst. Du bist endlich wieder hier, ja? Hier bei mir?“, fragte sie nach und ich spürte, wie Tränen in mir aufstiegen. Ich hatte sie auch vermisst. Sie, die Kinder, mein Leben vor Hadrian Wynshire. Die Normalität. Ich liebte sie. Ich liebte meine Kinder. Ich liebte meinen Job, meine Familie, mein Leben.

Und ich liebte Hadrian Wynshire.

Ich konnte nichts dagegen tun, dass ich leise anfing zu schluchzen und mich an ihrer Schulter wiederfand, wie sie mich in den Arm nahm, leise „Sch“ murmelnd auffing und mit weichen Berührungen dazu brachte, wieder ruhig zu werden. Geborgenheit. Ich fühlte mich bei ihr unheimlich geborgen. Sie entfachte vielleicht nicht das Feuer eines Hadrians, aber sie war bodenständig, liebevoll, umsichtig und gesund idealistisch. Sie unterstützte mich und ich sie in ihren etwas unkonventionellen Gedanken.

„Ja“, sagte ich schließlich, als ich meine Stimme wiedergefunden hatte und küsste sie inbrünstig. „Ich bin wieder bei dir, Rhea. Ich liebe dich.“

Und dieses Mal war es keine Lüge.

Bemerkenswert

Erfolge nehmen alle in Anspruch, Misserfolge werden einem einzigen zugeschrieben

Publius Cornelius Tacticus
 

Der lange Gang lag verlassen vor Dorian. Er hörte sein Blut in den Adern rauschen und sein Name hallte tausendfach verstärkt von den Steinmauern zu ihm herüber. Er klang wie eine Anklage – „Dorian McAlistair, bitte melden Sie sich in Raum 503.“

Er atmete tief durch.

Dann schritt er durch die großen Flügeltüren in die Vorhalle und weiter in den ausgeschilderten Raum.
 

„Sie wissen, warum Sie heute hier sind?“, fragte ihn die Vorsitzende des Zaubergamots und er nickte. „Ja, Ma’am.“ Dennoch wiederholte sie: „Sie werden beschuldigt, ihre Einheit in einen Hinterhalt geführt zu haben. Ihnen wird die nachlässige Strategie zur Last gelegt. Zusätzlich gehen die Verletzungen der Auroren Waterman und Sthinger zu Ihren Lasten. Ist das soweit korrekt?“

Etwas in Dorian schrie nein, doch er nickte, das Gesicht ernst verzogen. „Ja, Ma’am.“

„Sie übernehmen also die alleinige Verantwortung?“

Abermals ein Nicken und ein „Ja, Ma’am“ als Bestätigung.

Die Vorsitzende seufzte und nahm die Brille von der Nasenspitze. „Hören Sie, McAlistair. Ihre Kollegen haben sich sehr positiv für sie ausgesprochen und beteuert, es sei nicht Ihre Schuld gewesen. Also wenn Sie irgendetwas wissen, sollten Sie jetzt mit der Sprache rausrücken.“

Dorian zögerte nicht. „Ich übernehme die volle Verantwortung für mein nachlässiges Handeln, Ma’am, und den daraus resultierenden Verletzungen der Auroren Waterman und Sthinger. Sie sind gute Menschen, weshalb sie mich niemals verraten würden und ich schätze ihre Loyalität hoch, doch es war mein Fehler und ich werde dafür geradestehen.“

Die Vorsitzende schwieg. In den Reihen der fünfzig Zauberer und Hexen brach unbeteiligtes Gemurmel aus und Dorian zwang sich, den Blick weiterhin auf die Vorsitzende zu fixieren. Es half niemanden etwas, wenn er nun aus der Fassung geriet. Dass sein Fall es überhaupt bis vor das Zaubergamot geschafft hatte, war vermutlich nur der Brisanz des Auftrags, den er versaut hatte, zuzuschreiben.

„In Ordnung, Mister McAlistair. Wir haben Ihren Fall bereits im Vorfeld beraten“, begann die Vorsitzende und Dorians Augen weiteten sich erstaunt. Also keine faire Verhandlung? Die Anhörung nur eine Farce? Die Vorsitzende hob die Akten hoch, die eindeutig von Dorian bearbeitet worden waren. „Ich bin bereits mit dem Fall seit einigen Tagen betraut worden und werde von einer Suspendierung absehen, sofern Sie zustimmen, mit einem Beobachter zusammenzuarbeiten.“

Dorian traute seinen Ohren nicht und für einen Moment entgleisten ihm die so wohl gezügelten Gesichtszüge. „Einem Beobachter?“, wiederholte er tonlos und die Vorsitzende nickte. „Eine Angestellte des Archivs hat sich bereiterklärt, ihre Fälle zu überprüfen und auf Mängel hin zu untersuchen. Mister McAlistair, Sie verstehen, dass das das Beste ist, was ich für Sie tun konnte?“ Ein leises Raunen ging durch die anwesenden Mitglieder, als Dorian zum Protest ansetzte, dann jedoch geschlagen nickte. „Ich … verstehe, Ma’am. Verzeihen Sie mir die Nachfrage.“

Die Vorsitzende schaute ihn lange schweigend an, ehe sie seufzte und ihm die Akten zurückgab, als er nach vorne trat. Ihre Stimme war so leise, dass nur er sie verstehen konnte, als sie ihm zuflüsterte: „Ich bin ein großer Fan Ihrer Arbeit, McAlistair, also enttäuschen Sie mich nicht. Ich bin mir sicher, dass wir Sie bald zu erfreulicheren Besprechungen wiedersehen.“

Einen Moment blickte Dorian verdattert zu der älteren Dame auf, dann lächelte er schmal und nahm die Akten entgegen. „Vielen Dank, Ma’am.“ Mit einer angedeuteten Verbeugung verabschiedete er sich von der Vorsitzenden, warf einen langen weitläufigen Blick über die anwesenden Hexen und Zauberer und verließ dann mit wehendem Umhang den Saal.

Einen Moment herrschte noch Stille, dann wandte sich der Zauberer zur rechten Hand der Vorsitzenden an eben jene, die Stimme gedämpft: „Sie wissen doch, dass es der Leiter der Aurorenzentrale war, oder?“ Die Vorsitzende seufzte. „Wir haben keine Beweise und bevor ein so loyaler Mann redet, wird wohl Dumbledore von den Toten wieder auferstehen. Also lassen Sie uns hoffen, dass Miss Raynolds etwas erfährt, was uns weiterhilft.“
 

Er war wütend.

Mit Wucht klatschte er die Akten auf den Tisch und zerzauste sich die frisierten braunen Haare. So hatte es nicht laufen sollen. Suspendierung wäre das geringere Übel gewesen – jetzt musste er sich mit jemandem rumschlagen, der seine gesamte Arbeit der letzten vier Jahre über den Haufen werfen würde. Er hatte so hart mit diesem Team gearbeitet, hatte für den Respekt geschuftet, den seine Leute ihm nun entgegenbrachten und für die guten Resultate so gut wie keinen Urlaub gemacht. Und nun? Vier Jahre! Und alles für den Troll?!

Entnervt ließ Dorian sich auf den Stuhl hinter dem schweren Schreibtisch fallen und massierte sich die plötzlich pochenden Schläfen. Er hatte schon seit zehn Jahren keine Entzugserscheinungen mehr gehabt, nicht einmal mehr einen Gedanken während der Schwangerschaft seiner Ex-Frau daran verschwendet, einige Tabletten einzuwerfen, um länger wachbleiben zu können. Auch als Leila die ganze Nacht wegen der Grippe durchgeschrien hatte, hatte er nicht einmal daran gedacht, zu seinen alten Mitteln zu greifen.

Erst jetzt, wo sein gesamtes Schaffen zu verschwinden drohte, übermannten ihn die alten Gelüste. Wäre es wirklich so schlimm, wenn er einmal zugreifen würde? Es würde ja nicht für immer sein, nur dieses eine Mal … Langsam wanderten die hellen Augen zu der Schublade am Schreibtisch, in der sich einige Packungen Kopfschmerzmittel befanden – dabei streifte sein Blick das Bild seiner Tochter, das gerahmt auf dem Schreibtisch stand. Sein Herz hielt inne und er verfluchte sich selbst. Er war Vater. Er konnte nicht mehr so leichtsinnig mit sich selbst umgehen.

Ein tiefes Durchatmen und zwei Tassen Kaffee später ging es ihm besser. Er hatte mit den restlichen Mitgliedern seines Teams – Charlotte Trust und Raymond Weatherburm – gesprochen und ihnen mitgeteilt, dass sie in Zukunft einen Gast haben würden, dem sie bitte den vollen Zugriff auf alle Daten geben würden. Ein Blick zwischen Dorian und seinen beiden Kollegen machte jedoch sehr deutlich, dass das eine Dokument nun schnell vernichtet werden musste. Raymond nickte und machte sich auf den Weg, um eine sichere Methode dafür zu finden, noch ehe der Abend ins Büro brach.

Eigentlich konnte Dorian sich glücklich schätzen: nach der Affäre mit der Leiterin der Muggelabwehrzentrale und dem Wechsel der Abteilung in die Aurorenzentrale, hatte er sich schon mit 28 Jahren einen guten Namen gemacht. Er arbeitete mit guten Menschen zusammen, loyalen Menschen und mochte seinen Job. Auch wenn er sich vor drei Jahren hatte scheiden lassen, so war aus seiner Ehe mit der Leiterin der Muggelabwehrzentrale doch wenigstens Leila entstanden, die bei seiner Mutter Lucrezia lebte, wenn er nicht daheim war. Ein kurzer Blick auf die Uhr verriet, dass Leila einmal mehr auf ihren Vater verzichten musste und er trat zum Kamin in dem kleinen Gemeinschaftsbüro, um seine Mutter zu kontaktieren.
 

Es vergingen einige Tage in denen das Team unbehindert und unbeobachtet arbeiten konnte, wenn auch nur an Papierkram. Erst am Freitag nach dem gescheiterten Auftrag ließ sich Dorian dazu herab, das Archiv aufzusuchen. Es war nicht seine Aufgabe, denn die Beobachtung würde erst mit dem Beginn des nächsten Monats anfangen, doch er wollte guten Willen zeigen. Vielleicht wären sie überrascht und dann vielleicht sogar dazu geneigt, ihm eher zu vertrauen und zu glauben, wenn er einen Schritt auf sie zuging. Sobald er Sympathien aufgebaut hatte, würde er seine Abteilung besser schützen können – und darum ging es. Er musste immer im Blick haben, dass er sein Team beschützen musste. Vor was war aktuell unwichtig.

Mit einem unbestimmten Gefühl der Vorahnung in der Magengegend betrat Dorian die weitläufigen Archive des Ministeriums – natürlich nicht, ohne sich vorher auszuweisen – und trug sein Anliegen bei einer Dame im Eingangsbereich vor. Sie nickte eifrig und beschwor ihm, ihr zu folgen.

Mit schnellen, trippelnden Schritten führte ihn die kleine Dame zu einer roten Tür, auf der Wartezimmer stand und Dorian verzog das Gesicht. Die Bemerkung, er habe es eilig, wurde mit einem freundlichen Lächeln ignoriert und so blieb ihm nichts anderes übrig, als das Wartezimmer mit seinen kleinen Stühlen und Zeitschriften voller Nonsense zu betreten und dort zu warten.

Es schien ihm, als vergingen Stunden. Eigentlich hätte er heute frei gehabt. Uneigentlich machte er eh niemals frei und seitdem Waterman und Sthinger im Krankenhaus lagen, mussten drei Leute die Arbeit von Fünf übernehmen. Er konnte sich im Grunde nicht einmal die Pause erlauben. Dass er nun die gesamten Pausen der Woche hier verbrachte…!

Gerade als der Gedanke gedacht war, schallte ein freundliches Dorian McAlistair, Sie dürfen nun gerne in Raum 22 gehen durch das Wartezimmer und Dorian folgte der Aufforderung gerne.
 

Raum 22 lag am anderen Ende der Empfangshalle und hatte eine grüne Tür. Neben der Tür war kein Namensschild, also war es vermutlich ein Gemeinschaftsbüro oder einfach ein weiteres Wartezimmer. Dennoch klopfte Dorian und auf ein leises „Herein“ öffnete er die Tür.

Er stand in einem heimeligen Büro, dessen Größe von erdrückenden Bücherregalen, die sich bis zur Wand hochzogen, minimiert wurde. Das Gefühl, ohne Fenster in einem solchen Raum eingesperrt zu sein, behagte dem Briten nicht und er zog unruhig die Tür hinter sich ins Schloss. Als er einen zweiten Blick auf die Wände warf bemerkte er, dass es sich bei Raum 22 nicht nur um einen Raum handelte, sondern um ein Großraumbüro, nur getrennt durch die sich unter der schweren Last biegenden Bücherregale. Er zog die Augenbrauen zusammen.

„Dorian?“, riss ihn eine überraschte Frauenstimme aus seinen Gedanken und er wandte seinen Blick von den Wänden ab. Vor ihm stand eine junge Brünette mit irgendwie bekannten blassen Zügen, die ein wenig kränklich wirkten. Die dunklen Augen jedoch leuchteten und strahlten Lebenslust und Gesundheit aus, ebenso wie das freudige Lächeln, das sich auf den Zügen der Frau ausbreitete.

Oh.

„Lillian Raynolds“, wurde es Dorian schlagartig bewusst und auch er musste lächeln. „Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns doch noch einmal treffen.“ Sie lachte und strich sich verlegen eine Strähne hinters Ohr. Natürlich wusste Dorian, dass sie im Archiv des Ministeriums arbeitete, doch nie hatte die Zeit gereicht, die alte Hauskameradin einmal zu besuchen. Nun, er musste zugeben, dass er nicht einmal aktiv daran gedacht hatte.

„Ich arbeite viel“, wandte sie sich heraus und deutete auf eine der Biegungen um das Bücherregal zu ihrer Rechten und Dorian folgte dem Wink, „und ich habe gehört, dass du ebenfalls eine Menge zu tun hast.“ Dorian wandte sich während des Gehens mit fragendem Blick zu ihr um. „Woher…?“ Dann stockte er im Reden und Laufen und Lillian musste ihn umrunden, um nicht gegen ihn zu laufen. Sie ging zu einem kleinen Tisch, auf dem sich allerlei Dinge stapelten, die Dorian in diesem Moment aber reichlich gleichgültig waren. Die anfängliche entspannte Atmosphäre hatte sich in Luft aufgelöst und mit einer bösen Vorahnung verengte er die Augen. Lillian hatte begonnen, nervös Platz auf ihrem Tisch zu schaffen und schien sich sammeln zu müssen, um das Offensichtliche auszusprechen.

„Du wirst mich überwachen.“

Es war keine Frage. Es war eine Tatsache. Lillian biss sich auf die Unterlippe und schaute scheu zu Dorian auf, ehe sie noch etwas hektischer die Bücher zu stapeln begann und schließlich seufzend in ihrem hoffnungslosen Versuch, Ordnung in das Chaos zu bringen, innehielt. Ihre Mimik war ungewohnt entschlossen, als sie wieder Augenkontakt suchte. „Ja. Es scheint so, dass du irgendwo weiter oben wirklich jemanden beeindruckt hast.“ Dorian runzelte die Stirn. „Du meinst sie wissen, dass wir Freunde sind?“ Lillian schien über diese Formulierung zu stolpern und wandte den Blick ab, zog einige Akten aus dem Stapel und korrigierte: „Sie wissen, dass wir zusammen Hogwarts besucht haben. Und sie wissen, dass wir in einem Haus waren, ja. Ich wage zu bezweifeln, dass sie wissen, dass wir … nun … einmal mehr Kontakt hatten“, Dorian bemerkte durchaus, dass sie sich um das Wort Freunde drückte und spürte, wie es im Raum gefühlte zehn Grad kälter wurde, „aber es ist ihnen wohl lieber, dass dich jemand überwacht, der dich kennt und der dich mag.“ Sie warf ihm einen undefinierbaren Blick zu und Dorian ahnte, was sie sagen wollte.

Etwas wie, dass er in den letzten Jahren nicht unbedingt nur Freunde gesammelt hatte. Dass er sich mit der Affäre zu einer Ranghöheren nicht unbedingt beliebt gemacht hatte. Dass ihn viele beneideten um die Ehe mit ihr und ihn ausgelacht hatten, als sie nach drei Jahren schon wieder vorbei gewesen war. Dass sie wütend waren, weil er dennoch eine so hohe Position innerhalb einer anderen Abteilung bekleidete. Und dass viele ihm gerne eins auswischen würden.

Das machte es alles jedoch kein bisschen besser.

Lillian schien wild entschlossen, diesen Fakt eben nicht in ihre Beobachtungen mit einfließen zu lassen und nach zehn Jahren, in denen sie keinen Kontakt gehabt hatten, konnte Dorian auch nicht von ihr verlangen, dass sie milde mit ihm umging. Sie musste ihren Job machen. Seine Züge verhärteten sich. „Ich verstehe.“ Er betonte diese beiden Worte und Lillian schien einen Moment zu zögern, dann jedoch nickte sie. Er hatte Recht gehabt. Sie hatte versucht, ihm mehr damit zu sagen und sie schien erleichtert, dass eine Konfrontation ausblieb.

Noch.

Dorian war ein Kämpfer. Doch verglichen mit all den Jahren, die Lillian gekämpft hatte, erschien er sich selbst lächerlich schwach.

Lillian sammelte sich. „Also … was machst du hier eigentlich? Ich bin erst am ersten bei euch in der Abteilung eingesetzt“, erkundigte sie sich freundlich und deutete nun auf die beiden Stühle, die sehr nahe am Bücherregal standen. Mit einem nachlässigen Schwenk ihres Zauberstabs flogen zwei Teetassen herbei und obwohl die Geste höflicher Natur war, empfand Dorian das Klima noch immer als unerträglich.

Er hatte Schlimmeres durchgestanden.

Dennoch empfand er diese Kälte zwischen ihnen als seltsam, als neu. Sie waren einmal Freunde gewesen, in Hogwarts. Natürlich hatten sie bei weitem nicht so viel miteinander zu tun gehabt wie Dorian mit Hadrian oder Lillian mit den anderen Mädchen aus ihrem Jahrgang, doch sie hatten sich immer gut verstanden. Dass zwischen ihnen nun eine Mauer aus Schweigen stand, erschien ihm falsch.

„Ich wollte mich kooperativ zeigen“, antwortete Dorian und nickte zum Dank, die Tasse in die Hände nehmend. Lillian setzte sich neben ihn auf einen der Stühle. „Hm. Ich verstehe.“ Sie betonte diese Worte ähnlich wie er zuvor und Dorian ahnte, dass sie ahnte, dass er ahnte … Ach, das wurde kompliziert. Er würde auf seine Wortwahl achten müssen, jeden Tag, auf seine Handlungen auf seine Befehle. Er würde bei jedem Schritt beobachtet werden und auch, wenn das nichts Neues war, so war es etwas Neues, von einer ehemaligen Freundin beobachtet zu werden.

„Aber lass uns jetzt nicht darüber sprechen“, wandte Lillian geschickt ein, „sondern nach so langer Zeit mal über alles andere. Wie geht es deiner Mutter?“

Dorian war nicht überrascht über diesen Themenwechsel, sondern war darauf vorbereitet, dass Lillian versuchen würde, ihrerseits Sympathien aufzubauen, sodass er gewillt war, ihr mehr zu erzählen. „Gut, danke der Nachfrage. Sie hat sich zur Ruhe gesetzt, auch wenn ich nicht gedacht hätte, dass das noch einmal passieren würde“, ein kurzes Lächeln huschte über sein Gesicht und spiegelte sich auf Lillians Zügen, „Sie macht sich gut als Hausfrau. Überraschend gut.“ Er verschwieg, dass sie sich auch als Oma überraschend gut machte und fragte stattdessen Lillian nach ihrer Schwester. Ein Schulterzucken folgte seiner Frage, das wohl vertuschen sollte, wie weh ihr diese Frage tat. „Catherine spricht seit fünf Jahren nicht mehr mit mir, aber damit habe ich gerechnet. Seitdem ich diesen Job angenommen habe, haben sich meine Prioritäten ein wenig verschoben.“ Sie lächelte Dorian an und er nickte verständnisvoll.

Ihr Gespräch verlor sich in Belanglosigkeiten über Politik und Wetter, über die Unabhängigkeit Irlands vom British Empire und über die Flitterwochen Hadrians. Überrascht hoben sich Lillians Augenbrauen. „Flitterwochen?“, hakte sie ungläubig nach und Dorian musste zugeben, dass er ähnlich überrascht reagiert hatte, als Hadrian ihm erzählt hatte, dass er wohl mit Matt eine Weile verreisen würde. „Matt hat erzählt, es ist alles ganz harmlos. Dieser schamlose Lügner!“, lachte Lillian und setzte die leere Teetasse auf dem Boden auf mangels Tisch. Dorian schmunzelte. „Also hast du noch Kontakt zu Matthew?“

„Hmhm. Wir treffen uns hin und wieder mal. Aber Flitterwochen …“

„Sie sind bisher nur verlobt, also …“

„Aber da macht man doch keine Flitterwochen“, lachte Lillian und es war wirklich befreiend zu sehen, dass sie scheinbar etwas gefunden hatten, womit sie die Stimmung lockern konnten. „Das stimmt. Aber dass Matthew ihn überhaupt dazu gebracht hat mit ihm zu verreisen … Und ihn dazu gebracht hat, einen Ring am Finger zu tragen, der deutlich sagt ‚du gehörst mir‘ … Das will schon einiges heißen. Mich würde es nicht wundern, wenn sie verheiratet zurückkommen.“

„Verrückt“, lächelte Lillian und betrachtete ihre eigenen Finger. Erst jetzt schaute auch Dorian die schönen Hände der Brünetten an und bemerkte eher unterbewusst, dass sie selbst keinen Ring trug. Sie berührte kurz ihren Ringfinger, ehe sie wieder zu Dorian schaute. „Wohin sind sie denn gefahren?“

„Ich glaube, Italien. Aber sicher bin ich mir nicht. Hadrian war nicht wirklich präzise… Wahrscheinlich hatte er Angst, ich würde nachkommen um sicherzugehen, dass er auch wirklich ‚Ja‘ sagt.“

Lillian schmunzelte. „Matt kriegt ihn schon dazu.“ Ihr flüchtiger Blick auf die Uhr erklärte das Gespräch für beendet und Dorian stand ungefragt auf, half ihr beim Verstauen der Tassen und zögerte einen Moment, eher er ihr zur Verabschiedung die Hand reichte. Lillian zögerte ebenfalls, ehe sie die Hand ergriff und „auf gute Zusammenarbeit?“ als Verabschiedung vorschlug, auf die Dorian ernst einging.

Das wagte er zu bezweifeln.

Er wandte Lillian und ihrem Büro den Rücken zu.
 

Am 01. Des folgenden Monats betrat Lillian Raynolds also das kleine Großraumbüro – ein Paradoxon an sich – das Dorians Abteilung ihr Eigen nannte. Waterman war wieder aus dem Krankenhaus entlassen worden, war jedoch noch in der Einarbeitungsphase und nur zu wenig zu gebrauchen. Sthinger war zwar außer Lebensgefahr, hatte jedoch mit den Folgen des Fluchs zu kämpfen und Dorian besuchte sie so oft er nur konnte.

„Das hier ist Lillian Raynolds“, stellte Dorian seinen drei Kollegen also seine ehemalige Hauskollegin vor. „Sie wird für die nächsten vier Monate unsere stille Beobachterin sein und ich bitte euch, ihr Zugang zu allen Akten zu gewähren und ihr auch sonst zur Seite zu stehen.“ Nur kurz flog Dorians Blick zum erhöhten Büro des Leiters der Aurorenzentrale und bemerkte, wie dieser am Fenster stand. Seine Augenbrauen zuckten nachdenklich zusammen, dann wandte er sich wieder an seine Mitarbeiter. „Wenn Fragen bestehen, klärt diese bitte direkt mit mir.“ Damit entließ er sie mit einem Handwinken und zeigte Lillian noch kurz Sthingers Schreibtisch, an dem sie sich häuslich einrichten konnte. Es war nicht zu sehen, dass sie in den nächsten vier Monaten wieder würde arbeiten können.

Die ersten Tage zogen sich zäh dahin.

Noch immer im Innendienst eingestellt und dazu verdonnert, die Schreibarbeit der gesamten Aurorenzentrale – zumindest kam es ihnen so vor – zu erledigen, war es für alle ein nervenaufreibender Einstieg. Dorian war einige Male bei Smith um eine Erlaubnis zu beantragen, wieder in den Einsatz zu dürfen, doch dieser bestand darauf, dass noch einen weiteren Monat Gras über die Sache wachsen sollte. Sein Team wurde immer missmutiger und auch Dorian bemerkte, wie ihm die ständig wachsamen Augen der Raynolds und die ständige Arbeit mit den Akten begann an die Substanz zu gehen.

Deshalb lud er sein Team – und Lillian um guten Willen zu zeigen – am Freitagabend der zweiten Beobachtungswoche zum Essen ein.

Sie gingen in ein Zaubererrestaurant ganz in der Nähe des Ministeriums, in dem vorzugsweise italienische Küche serviert wurde.

Der Abend flog dahin und sein Team war endlich einmal wieder nach Wochen der Entbehrung einigermaßen locker. Mit einem Lächeln beobachtete er, wie sie auftauten und auch Lillian mit in die Gruppe integrierten. Er runzelte die Stirn.

Einerseits w o l l t e er sie integrieren. Er hatte Lillian schon immer gemocht und gerade nach dem Abschlussball des siebten Jahrgangs, auf dem sie lange miteinander getanzt hatten – aber auf dem Dorian schlussendlich seine ehemalige Kräuterkundelehrerin geküsst hatte, tja – hatte er das Gefühl gehabt, in ihr eine gute Freundin gefunden zu haben. Er freute sich für sie. Freute sich, dass sie mit Raymond scherzte und mit Carla anzubändeln begann und auch Jeremy schien sich langsam an die Anwesenheit der Archivarin zu gewöhnen.

Andrerseits war da der Argwohn. Er konnte sich nicht sicher sein, wie ihr Bericht ausfallen würde, was sie finden würde. Wie viel von dem, was sie fand, sie gegen ihn verwenden würde. Es mochte stimmen, sie waren einst Freunde gewesen und ganz sicher sah Dorian sie noch immer als Freundin an, doch sie musste ihren Job machen. Sie musste ihn gut machen. Wer sagte ihm also, dass sie nun nicht nur mitgekommen war, um Neues in Erfahrung zu bringen? Darin war sie schon immer gut gewesen.

Seine drei Kollegen verließen nach und nach das Restaurant. Die meisten von ihnen hatten ebenfalls Familie und auch wenn Dorian liebend gerne nun bei Leila gewesen wäre, so wusste seine Tochter, dass morgen ein Tag nur mit Daddy bevorstand und auch der Sonntag ganz alleine ihnen beiden gehören würde, also war sie nur ein klitzekleinesbisschen traurig, dass Daddy nicht schon heute Abend Zeit für sie hatte.

Sie war ein Engel.

Dorian verabschiedete Jeremy und klopfte ihm auf die Schulter, ehe er sich wieder zu Lillian an den Tisch setzte. Sie hatten beide noch ein wenig Wein übrig und tranken ihn nun eine Weile schweigend.

„Du hast tolle Kollegen“, fing Lillian leise an ohne aufzuschauen. Dorian nickte. „Ja.“ Da war nichts hinzuzufügen. Worauf wollte sie hinaus? „Ich arbeite jetzt schon fünf Jahre im Archiv und habe noch niemanden dort gefunden, den ich so sehr mag, wie du dein Team.“ Sie bewegte sich auf dünnem Eis. Ob es nun der Wein war, der sie redselig gemacht hatte, Dorian bekam das Gefühl, dass es hier nicht um ihn ging. Forschend lagen seine hellen Augen auf ihrem Gesicht und sie befeuchtete sich unbeholfen die Lippen, das Glas zwischen ihren Fingern drehend. „Ich war in den letzten fünf Jahren sehr oft krank“, gab Lillian zu, „und viele haben geglaubt, dass ich simuliere. Ich habe trotzdem immer meine Arbeit geschafft, aber das sehen die meisten nicht. Es macht mir Spaß im Archiv zu arbeiten, ich erfahre so viele neue Dinge!“ Kurz schaute sie auf und ein aufrichtiges Lächeln streifte ihr Gesicht, ehe sie wieder ernst wurde. „Hast du gemerkt, dass ich die letzten zwei Wochen nicht einmal gekränkelt habe?“ Ihre Frage war nur ganz leise gestellt und ein scheuer Blick aus braunen Augen folgte ihr, ganz so, als erwarte sie eine Rüge für diese Frage. Dorian wusste, dass sie nicht gerne darüber sprach und dass sie schon gar nicht gerne sich selbst in den Mittelpunkt stellte, also: was sollte das hier? Wollte sie Mitleid erregen? Verständnis? Wollte sie austesten, wie weit er gehen würde, um sein Team zu beschützen? Was wollte sie damit andeuten?

Um den Schein zu wahren deutete er ein schmales Lächeln an und antwortete: „Ja. Das Klima tut dir gut.“ Und damit meinte er natürlich nicht das wechselhafte englische Wetter mitten im Oktober und Lillian wusste das auch, denn sie begann leise zu lachen. „Scheinbar, ja. Es ist schade, dass wir uns unter diesen Umständen wiedergefunden haben.“ Die letzten Worte kamen so schnell hervor, dass Dorian glaubte, dass sie ihm das schon die ganze Zeit hatte sagen wollen und er ließ den Argwohn für einen Moment ruhen und lächelte sanft. Er fing ihren Blick auf und versuchte ihr deutlich zu machen, dass auch er froh war, dass sie hier war und dass sie sich wiedergetroffen hatten. Dass sie es war, die ihn beobachten sollte und dass er sie vermisst hatte. Irgendwo. Tief in seinem Inneren. Sie lächelte und schien zu verstehen. „Das ist es. Aber wir sollten das Beste daraus machen.“ Lillian nickte und kicherte, als sie ihren Wein getrunken hatte. „Du solltest mich jetzt lieber nach Hause bringen, Dorian“, murmelte sie langsam, sichtlich bemüht, die Worte auszusprechen, „ich möchte nicht unseriös wirken.“ Er nickte und hielt ihr die Hand hin, half ihr in die Jacke und spannte den Regenschirm vor der Tür auf, unter den sie beide passten. Ihre Hand suchte ganz automatisch nach seinem Arm und er ließ zu, dass sie sich an ihm festhielt, um nicht zu fallen.

Ihr Körper strahlte in diesem Moment eine unheimlich wohltuende Wärme aus und der Geruch nach trockenem Rotwein vermischte sich mit einem ihm unbekannten Duft nach Duschgel, vermutlich ihrem Shampoo. Nur kurz schaute er zu ihr herab und sie schaute nur kurz zu ihm herauf, lachend und er musste zugeben, dass sie an diesem Abend besonders hübsch aussah. „Du bist wirklich bemerkenswert, Lillian“, sprach Dorian schließlich seinen Gedankengang aus, vielleicht auch, weil er ein wenig zu tief ins Weinglas geschaut hatte. Fragend schaute sie zu ihm auf, doch er hatte den Blick schon wieder nach vorne gelenkt und so begnügte sie sich damit, den Kopf an seine Schulter zu lehnen und von ihm bis zum Ministerium begleitet zu werden, in der Wärme seiner Präsenz badend und mit dem Wissen, bemerkenswert zu sein.

1956 II

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Best Friends

Die Luft zwischen ihnen vibrierte. Wie lange sie nun schon hier saßen, auf dem Bett des Älteren, wusste wohl keiner von beiden so genau. Zwischen ihnen verräterisch wenig Abstand, die Rücken gegen die Wand gelehnt, die Knie berührten sich, die Schultern ebenfalls. Die Hand des Älteren hatte sich auf dem Knie des Anderen niedergelassen, bestimmt, während dieser krampfhaft versuchte, locker zu werden. Ein Widerspruch in sich, das wussten sie beide.

Nate versuchte, die Ruhe zu bewahren, doch seitdem er sein Anliegen laut ausgesprochen hatte, herrschte zwischen ihnen eine seltsame Stimmung. Matt und er waren schon immer Brüder gewesen, seit dem ersten Schultag. Liebe auf den ersten Blick. Rein platonisch natürlich.

„W..Warte kurz…“

Matt zog die Hand vorsichtig wieder zurück, den Kopf fragend schief gelegt. Vor ihm saß sein bester Freund, verwirrend nah, mit unsicher schimmernden Augen. Die tiefen Wellen, die sie schlugen, spiegelten sich in Matts eigenen wieder. Nur langsam legte er die Hand wieder in den Nacken seines besten Freundes, spürte, wie die Haut befremdlich zu kribbeln begann. „Schon okay“, wisperte er leise und näherte sich Nate wieder ein wenig an.

„Ich … ich bin mir nicht mehr so … also …“

Abermals hielt Matt in der Bewegung inne. Suchte das ihm so bekannte und heute so fremde Gesicht nach Hinweisen ab. Ja – nein – los mach schon – nein doch nicht. Er seufzte. Beinahe wirkte er genervt. Nate war anstrengend. Über das Gesicht des Gallaghers huschte ein kleines Lächeln, trotz der kontroversen Gedanken. „Vertrau mir. Ich kann das.“ Er beobachtete, wie der Adamsapfel seines Freundes hektisch zappelte, wie Nate hilflos die Lippen öffnete um nach Luft zu schnappen und das war der Moment, in dem Matt seine Chance nutzte.

Bestimmt überwand er die letzten wenigen Millimeter, die sie noch voneinander getrennt hatten und legte seine Lippen auf die seines besten Freundes. Die Hand im Nacken Nates verhinderte, dass er floh, im Gegenteil: sie zwang ihn näher zu Matt, intensiver in den Kuss. Es dauerte nur Herzschläge, da hatte sich der Gallagher in diesem fiebrigen Kuss verloren, der geboren war aus Neugierde und Unwissenheit, aus dem prickelnden Gefühl des Ungewissen und dem ewigen was wäre wenn. Was wäre wenn Nate doch auf Jungs stand? Wie sollte er es jemals herausfinden? Und wenn sein bester Freund schon schwul war, dann konnte man das doch gleich jetzt herausfinden, hm?

Heißer Atem wurde gegen feuchte Zungen gehaucht.

Unbestimmte Laute.

In Haaren vergrabene Hände.

Für einen kurzen Moment ließ Matt sich fallen, vergaß vollkommen, mit wem er hier knutschte und es war ihm absolut egal. Gelegenheiten mussten ergriffen werden!

Ein zufriedener Laut brach sich an den fremden und doch so bekannten Lippen, als Matt den Kuss löste und die Hand aus den Haaren Nates zog, die fiebrigen blauen Augen in die ihm so bekannten braunen gelegt, die ihn scheu und erschrocken anblitzten. „Und so“, fing er atemlos an, „ist es einen Jungen zu küssen, Nate.“

Ein bisschen Friedhofserde

„Die Warp Corp kommt um drei. Ich brauche dringend die verabredeten Listen und die Kostenaufstellung für den Slogan, Kenneth.“

Nur ein kurzer Stich der Erinnerung durchfuhr Scott, als er den Namen seines Bruders hörte. Langsam schaute er zu seinem Vater auf, der fordernd blickte und seinen eigenen Fauxpas nicht bemerkt zu haben schien. Ein mildes Lächeln breitete sich auf Scotts Zügen aus und er nickte, ein zustimmendes Brummen ausstoßend. „Hast du in einer halben Stunde. Slide hat sein Angebot für die Flyer zurückgezogen und Jemethon hat die Kosten für die Bannerwerbung erhöht, die Lizenzsumme steht allerdings fest und ist unterschrieben. Missy meinte, sie bräuchte bis um eins, um die Zahlen noch einmal durchzugehen.“

Hayden Weeks nickte und auf einmal wirkte er unheimlich alt. Die tiefen Falten um Augen und Mund wurden zu häufig durch Bart und Haare versteckt und das alltägliche Leben mit seinem Vater machte Scott blind für dessen tatsächliche Alter.

Nicht jedoch für den Schmerz, der sich nun in den grünen Augen manifestierte.
 

Es war okay.
 

Sacht schob Scott seinem Vater den Tee rüber, den er ihm zubereitet hatte und erkannte, dass er sich bei ihm entschuldigen wollte, jetzt, wo ihm sein Fauxpas doch aufgefallen war.

Im Nachhinein wirkte es umso verstörender auf den beinahe Sechzigjährigen, dass er seine beiden Söhne verwechselt hatte. Kenneth war immer größer und sportlicher als Prescott gewesen, hatte dieses wissende Funkeln in den hellen Augen gehabt und eine charismatische, beinahe autoritäre Ausstrahlung besessen. Scott hingegen hatte einen ruhigeren, wärmeren Kern, der Menschen automatisch dazu verleitete, ihn zu mögen. Ihm zu vertrauen.

Doch wenn Scott den Kopf nun schief legte, so, wie Kenneth es stets getan hatte … wenn er Hayden nun Tee brachte, wie Kenneth es stets getan hatte … wenn er die Fingerknöchel voller Tatendrang zum Knacken brachte, aus tiefer, brummender Kehle lachte und die alten Sonnenbrillen seines Bruders trug … Wenn Scott sich die Haare schnitt und frisierte, wie Kenneth sie sich einst frisiert hatte und mit einer Selbstsicherheit durch die Gänge der Firma stolzierte, als gehöre sie ihm, so, wie Kenneth stets stolziert war … Wie konnte man Hayden Weeks dann wirklich vorwerfen, seine beiden Söhne zu verwechseln?
 

Scott würde ihm das niemals vorwerfen. Heute durfte sein Vater alles.
 

Ein weicher Glanz trat in die dunklen Augen und Scott griff der Entschuldigung sanft voraus. „Dad. Heute ist sein Geburtstag. Das ist schon in Ordnung. Ich musste vorhin auch an ihn denken.“

Stille legte sich drückend über das Büro des Firmenchefs und Scott beobachtete, wie sein Vater sich von ihm ab- und dem Tee zuwandte. Nachdenklich, in sich versunken beinahe nippte er am lauwarmen Seelenschmeichler und seufzte fein, ein Ton, den Scott in den letzten Jahren so oft gehört hatte, dass er die verschiedenen Nuancen mittlerweile perfekt voneinander unterscheiden konnte.

Es war ein Ausruf der Verzweiflung, geboren aus Trauer und Schmerz, geboren aus dem Gefühl, das Hinterbliebene nun einmal den Rest ihres Lebens mit sich herumtrugen. Dem was wäre wenn – was wäre, wenn er nicht tot wäre? Was wäre, wenn sie etwas gegen die Krankheit unternommen hätten? Was wäre, wenn sie ihn dazu gezwungen hätten, sich zu schonen? Was wäre, wenn er – Scott – sich mehr um ihn – Kenneth – bemüht hätte? Was wäre, wenn er – Hayden – ihn – Kenneth – mehr wie einen Sohn, denn einen Nachfolger behandelt hätte? Was wäre, wenn sie – die Familie, diese sonderlichen vier Exemplare, Hayden Weeks, Morena Alma Mercado, Kenneth Mercado und Scott Mercado – die Zeichen früher verstanden, besser gedeutet und schlussendlich hartnäckiger bekämpft hätten?

Und vor allem: was wäre, wenn er nicht gestorben wäre?

Es war das Gefühl der Ohnmacht, das Hayden gefangen hielt und gegen das Scott nichts tun konnte. Er konnte nur versuchen, seinem Vater so gut es ging unter die Arme zu greifen. Ob nun im Job, im Haushalt und als Teilzeitseelenklempner.

„Ich denke immerzu an ihn“, gab Hayden schließlich mit belegter Stimme zu, „aber an Tagen wie diesen ist es besonders aussichtslos zu glauben, alles würde noch ein gutes Ende nehmen.“

Andere Söhne wären enttäuscht gewesen. Hätten das Recht eingefordert, selbst zu trauern und – nach einem Jahr intensivster Trauer und einem zweiten Jahr ohnmachtsgleicher Hilflosigkeit – wären enttäuscht gewesen, die Anforderungen ihres Vaters nicht zu erfüllen. Tat Scott denn nicht schon alles, was Kenneth damals getan hatte und sogar besser? Machte er den Job seines Bruders nicht hervorragend, nein, viel besser als das, herausragend? Ersetzte er Kenneth nicht dermaßen perfekt, dass es beinahe schien, als wäre Kenneth niemals gestorben? Hatte er seinen Wert denn nicht hinreichend bewiesen, sodass alles eben doch ein gutes Ende nehmen würde?

Doch Scott dachte nicht daran, seinem Vater Vorwürfe zu machen. Niemals war es ihm in den letzten zwei Jahren in den Sinn gekommen, Rechte einzufordern, Anforderungen zu stellen, Raum für sich selbst zu verlangen.

Stattdessen ging er auch nun emotional einen Schritt auf seinen Vater zu, während er seinen eigenen Kummer tief in sich verschloss.

„Es ist nie aussichtslos, Dad. Kay wusste das. Und du weißt das auch.“

Hayden zögerte einen Moment, eher er zu seinem Sohn schaute und all die Reue fand sich in den kleinen Falten um Mund- und Augenwinkel wieder. Was tat er seinem Sohn nur an? Doch als hätte Scott seine Gedanken erraten, fuhr er ungerührt fort, mit dem Zeigefinger auf das Ziffernblatt seiner Armbanduhr trommelnd: „Außerdem bleiben uns nur noch drei Stunden zur Vorbereitung des Gesprächs und du weißt, wie unangenehm Heimrich werden kann. Wir sollten uns an die Arbeit machen.“

Das stumme „für ihn“ schwebte zwischen ihnen in der Luft und Hayden war so unheimlich dankbar für Scotts Anwesenheit und Hilfe, dass er einfach nur nicken konnte.
 

Am späten Nachmittag fischte Scott die kleine Eule hervor, um Nate eine Nachricht zu schicken. Er war aufgewühlt und ungewohnt rastlos, weshalb ihm keine treffenden Worte einfallen wollten. Lange Zeit starrte er auf das leere Pergament und schließlich gab er es auf: heute würde es keine Kaffeepause geben. Er würde sich morgen bei Nate dafür entschuldigen und er war sich sicher, dass sein Freund dafür Verständnis haben würde. Für einen Moment war Scott sich unsicher, ob er sich erklären, entschuldigen sollte. Ob er Kenneths Geburtstag als Erklärung für seine Rastlosigkeit anbringen sollte.

Er entschied sich dagegen.

Nur ein Wort zu viel, und Dämme würden brechen.
 

Am Abend schrieb er Kenneth.
 

Kay,
 

der Deal mit Heimrich ist endlich durch. Du kannst stolz auf dich sein, schließlich war es deine Vorarbeit, die all das erst ermöglicht hat. Deine Gespräche mit ihm haben uns den Megadeal erst an Land gezogen und er war beeindruckt davon, wie wir nach deinem Tod deiner Krankheit all dem damit umgegangen sind und welche Erfolge wir trotzdem hatten. Er hat meinen Slogan und dein Logo genommen. Ich habe ihm nicht gesagt, dass es von der Band damals inspiriert wurde. Besser, er weiß es nicht. Weißt du es noch? Die Straßenband in Ushuaia, die unflätige Parolen in das brave Zaubererbürgertum geplärrt hat? Und die obszöne Sängerin, die dir schöne Augen gemacht hat? Ich glaube, ihr hätte gefallen, dass ihre Eigenkreation einer magischen Harfe, das uns damals verdächtig an ein weibliches Geschlechtsorgan erinnerte, nun das Aushängeschild für Heimrichs Kutschen ist.

Manchmal frage ich mich, ob alles anders gekommen wäre, wenn du einfach bei Mum geblieben wärst. Wenn du nicht mit nach England gegangen wärst. Wäre es besser oder schlechter geworden?

Und manchmal habe ich das ganze ‚was wäre wenn‘ einfach nur satt. Ich wünschte, es würde aufhören.

Dann wiederrum … Was hätte ich noch von dir, wenn nicht das ‚was wäre wenn‘, nicht wahr? All die schönen Ideen und Spinnereien und all die Fantasien, die wir uns gemeinsam für dein Leben ausgedacht haben. Es wäre Verschwendung, jetzt nicht das ‚was wäre wenn‘ weiter zu dichten.
 

Wenn du damals bei Mum geblieben wärst, hättest du die obszöne Sängerin geheiratet. Du hättest obszön schöne Kinder mit ihr bekommen, mindestens drei, und deine Erstgeborene wäre in die Fußstapfen ihrer Mutter getreten. Sie hätte ahnungslose Touristen um ihr Geld erleichtert, ihnen obszöne Parolen an den Kopf geschmissen und dafür gesorgt, dass sie ihren Aufenthalt in Ushuaia so schnell nicht wieder vergessen würden. Dein Jüngster wäre auf jeden Fall Quidditchkapitän geworden und dein Mittelkind hätte nie gewusst, ob es lieber Dramaqueen oder doch lieber Teppichknüpfer geworden wäre. Er – oder sie, ich bin mir da nie sicher – hätte dir bis zu deiner Scheidung Kopfweh bereitet. Deine Scheidung wäre natürlich im besten Sinne der Kinder gewesen und erst nach dem 17. Geburtstag und dem Abschluss deines Jüngsten gewesen. Du hättest die obszöne Sängerin niemals betrogen, egal, wie sehr sie dir schlussendlich auf die Nerven gegangen wäre.

Du wärst sicherlich Heiler geworden, so wie Mum, und hättest dich nie mit all den Heimrichs und Warp Corps rumschlagen müssen. Dad hätte das auch ohne dich alles wunderbar hinbekommen und wenn nicht, dann wäre ich eben ein bisschen früher vom Skateboard gestiegen und hätte ihn unterstützt. Oder ich wäre bei dir geblieben um dir mit deinem Mittelkind ein wenig zu helfen. Wahlweise den guten oder den bösen Onkel hätte ich spielen können.

Was meinst du hätte mir besser gestanden? Guter oder böser Cop?
 

Und wahrscheinlich hättest du dich niemals mit der Krankheit angesteckt. Vielleicht hättest du dich aber auch mit einer viel schlimmeren Krankheit angesteckt und hättest all die obszön schönen Kinder gar nicht zeugen können, weil du viel früher gestorben wärst.
 

Manches Mal glaube ich, dein Tod war unausweichlich. Es ist ein Fixpunkt unserer Geschichte und egal wie viele ‚was wäre wenns‘ ich mir ausmale und egal wie viele mögliche Zukunfts-Kays ich erstelle, es wäre doch immer wieder auf das Gleiche hinausgelaufen.
 

Du wärst am 17. Juli 2092 gestorben.
 

Ich vermisse dich. Heute viel schlimmer, als sonst. Heute wärst du 27 geworden und ich hätte dir gerne etwas Schöneres geschenkt, als die Erinnerung an obszöne Sängerinnen, dicke Heimrichs und tragischkomische Mittelkinder.

Deshalb habe ich dir einen Football gekauft. Den signierten, den du dir gewünscht hast, als du zehn warst. Ich erinnere mich daran, weil Dad damals angefangen hat wie ein Drachenwärter zu schwitzen, als er den Preis gesehen hat. Mum war der Überzeugung, dass ein einfacher Football mit gefälschter Unterschrift es auch tun würde.

Dann wurde es aber doch das Zeichenboard. Übrigens leistet mir das gute Dienste, danke, dass ich es behalten durfte.

Ich hoffe, du freust dich über den Football und hast, wo immer du jetzt steckst, jede Menge Platz zum Ausprobieren.

Vielleicht kann ich eines Tages eine Runde mit dir spielen.
 

Bis bald.

Scott
 

Noch in der gleichen Nacht brachte Scott den Brief und den Football zum Grab seines Bruders. Dieses Mal war es nur der eine Brief, der leidenschaftlich aufflackerte, als Scott ihn am Grabstein verbrannte. Lange Zeit schaute er den kleinen Papierfetzen dabei zu, wie sie sich gegen die Flammen wehrten und schließlich zu Asche wurden. Asche, die den vielen Blumen als Nährboden diente.

Um Fassung ringend legte er den Football ab und zögerte. Normalerweise ließ er auch die Geschenke in Flammen aufgehen, doch dieses Mal hielt ihn etwas davon ab. Scott konnte nicht genau bestimmen, was es war, doch die Erinnerung an seinen zehnjährigen Bruder, wie er flehend und bettelnd vor seinem – in seinen Erinnerungen auf sein jetziges Alter gealterten – Vater stand, drohte, ihm das Herz zu brechen.
 

„Oh. Du bist noch nicht soweit … Tut mir leid, ich dachte nur … Die Reservierung …“
 

Die vertraute Stimme Nates, die so einfühlsam wie nur irgendwie möglich auf ihn einredete, tat in der Seele weh. Er musste ein leidlich starkes Bild abgeben, wenn sein Freund es so stark vermied, das Offensichtliche auszusprechen. Mit zitterndem Atem wandte Scott sich zum Japaner um und befeuchtete sich die staubtrockenen Lippen, spürte, wie sein Herz zu zerspringen drohte und die Dämme zu brechen gedachten.

Es sollte das erste Mal sein, dass Nathan Lakewood Prescott Mercado festhalten musste, damit er nicht fortlief. Es war das erste Mal, dass Scott sein Gesicht an der fremden und doch vertrauten Schulter vergrub, nicht weinend, aber auch nicht mehr der Fels in der Brandung, bebend, und dennoch nicht ausbrechend.

Nate verharrte in der unbehaglichen halben Umarmung, versuchte Scott zu stützen, obwohl dieser es weder wollte, noch zu brauchen schien und gleichzeitig nichts notwendiger gewesen wäre.
 

„… Lass uns Football spielen, Nate“, erklang Scotts Stimme aus dem Nichts.
 

Und so kam es, dass Scott sich einbildete, Kay lachen zu hören, als Nate und er sich nachts auf dem Friedhof über das Grab Kenneths hinweg den Football zuwarfen. Für einen kleinen Augenblick fühlte Scott sich vollkommen befreit von allem und musste daran denken, dass so das Paradies schmecken musste.

Nach Freiheit, Leder und ein bisschen Friedhofserde.

Kapitel 15 - Wolf und Hase I

„Dyke? Sie gehen nach Neuseeland. Wir hatten Werwolf-Sichtungen und müssen dem nachgehen. Sie gehen alleine, Ihr Ansprechpartner wird auf Sie im Hotel…“
 

David hatte innerhalb von Minuten seine Sachen gepackt und war zum Aufbruch bereit.

Obwohl David sich einige Zeit dafür nahm, der Frage weshalb das britische Ministerium sich um eine Sichtung in Neuseeland kümmerte auf den Grund zu gehen, war er doch automatisch fixiert auf die Aufgabe, die vor ihm lag. Es half nichts, sich den Kopf zu zerbrechen. Er war Auror und führte Befehle aus. Mehr nicht.

Das Apparieren zum gebuchten neuseeländischen Hotel für Zauberer ging flott und verlief ohne Komplikationen. Da es bereits spät am Abend war, suchte er das Ministerium nicht sofort auf, sondern ging auf sein Hotelzimmer.

Das Zimmer war klein, doch mit einem dafür recht großzügigen Schreibtisch ausgestattet. Nachdem er sich die Hände gewaschen und seine Klamotten verstaut hatte, setzte er sich an den Tisch und schlug die Akten auf, die sein Vorgesetzter ihm mitgegeben hatte.

Bis spät in die Nacht überflog er Zeugenberichte, mögliche Sichtungen, Anklagen an Unschuldige und aufgedeckte Falschmeldungen. Die Berichte gingen bis zu dreißig Jahre in die Vergangenheit zurück – hier schien sich entweder ein sehr anpassungsfähiger Werwolf rumzutreiben, oder aber es war alles nur ein einziger großer Beschiss.

Als sich Kopfschmerzen einstellten, beschloss David, dass er genug gelesen hatte und legte sich schlafen. Am nächsten Morgen würde er früh beim neuseeländischen Ministerium vorstellig werden. Unausgeschlafen machte das niemals einen guten Eindruck.
 

„David Thorndyke, richtig?“, fragte der untersetzte Auror und der Brite nickte. „Sie wurden bereits angekündigt. Sie sind ... erstaunlich jung.“ David meinte herauszuhören, dass dem Auroren diese Tatsache nicht gefiel oder dass David ihm anders angekündigt worden war. Die Augenbrauen wurden kritisch zusammengezogen und David maß sein Gegenüber mit eben jener kritischen Beobachtung, die der Mann auch ihm zuteilwerden ließ.

„Sir. Das britische Ministerium hat mich zu Ihnen geschickt.“ Womit er indirekt implizierte, dass sein neuer Vorgesetzter die Kompetenz des britischen Ministeriums in Frage stellte.

Eine kurze Stille legte sich im Zuge dieser Unterstellung über das kleine Büro des Leiters der Aurorenzentrale des neuseeländischen Zaubereiministeriums. „Nun gut, Thorndyke. Ich werde Ihnen alles zukommen lassen, was wir über die kürzliche Sichtung wissen und Ihnen die Verantwortung für die Vernehmung des Hauptverdächtigen und seiner Familie übertragen. Halten Sie sich jedoch bedeckt. Es soll vorerst niemand wissen, weshalb Sie hier sind. Behandeln sie Familie und Hauptverdächtigen nicht als solche.“ Der Leiter der Zentrale lehnte sich auf seine fleischigen Unterarme, als er sich vorlehnte. „Verstanden?“

„Ja, Sir.“
 

Den ganzen Tag über verbrachte David mit den leitenden Auroren des Falls und ließ sich von ihnen ins Bild setzen. Es hatte bisher noch keinen Übergriff auf die Bevölkerung – ob magisch oder nichtmagisch – gegeben. Die Frage, wieso er also hier war, drängte sich immer mehr auf. Die neuseeländischen Kollegen begegneten ihm zwar mit Respekt, doch auch mit offenem Argwohn – nichts, womit er nicht zurechtkam. Auf einer professionellen Ebene funktionierte die Zusammenarbeit dennoch, solange David über jegliche Provokationen seine Erfahrung und sein Alter betreffend hinwegsah.

Erschöpfung stellte sich nur sehr selektiv beim Briten ein. Er war es gewohnt, wenig zu schlafen, noch weniger zu essen und keinerlei Ruhe zu haben. Ansonsten hätte er diesen zeitintensiven Job niemals annehmen können und wäre innerhalb der letzten drei Jahre niemals so schnell so gut geworden.

Nachdem der Fall Johansson abgeschlossen gewesen war, hatte David Altlaster ablegen können und war endlich so weit gewesen, sich vollends auf den Job einzulassen.

Dennoch ließ er sich von seinen neuen Kollegen dazu überreden, das neuseeländische Bier in einem der Pubs auszuprobieren. Selbstverständlich war er nicht hier, um Freunde zu gewinnen, doch tatsächlich hatte sich der in seiner Schulzeit als arroganter Eigenbrötler bekannte Brite zu einem sozialen Wesen während der Arbeitszeiten gemausert. Schweigend zumeist, um die lateinischen Spitzen und die angeborene Arroganz im Zaum zu halten, aber dennoch ein gerne gesehener Gast. … Vermutlich nur aufgrund des Schweigens, wenn man es so betrachtete.
 

Am Pub angekommen, folgte er seinen beiden neuen Kollegen zur Bar und wich einem kräftigen Mann aus, dessen stechender Blick aus hellen grünen Augen ihn aufzufressen schien – der Konter aus den eigenen blitzenden Augen ließ kaum auf sich warten und dennoch machte er dem Fremden Platz, dessen Ausstrahlung ihren Raum forderte. Doch abgesehen von eben jenem Vorfall verlief der Abend ruhig und ohne jede nennenswerte Erwähnung.
 

Der zweite Tag der Ermittlungen

Davids Schritte verhallten in den ausufernden Räumen des Maori-Museums. Für die Exponate hatte er kaum einen Blick übrig; das Leben der Muggel interessierte ihn herzlich wenig. Interessant waren jedoch die abgesperrten Bereiche, welche Verwüstung aufwiesen. Noch immer lagen einige Glasscherben über den Boden verteilt, die wohl einst zu den Vitrinen gehört hatten, welche die maorischen Kleidungsstücke vor gierigen Händen geschützt hatten. Einige dieser wertvollen Stücke waren nun zerschlissen und zeigten deutliche Spuren: sie waren so zerfetzt worden, als hätte man mit Klauen an ihnen gerissen. Aber was hatte ein Werwolf für derlei Dinge übrig?

„Oh. Sie müssen von den Behörden sein…?“, sprach ihn eine – auf den ersten Blick – bildschöne Frau mittleren Alters an. Ein wacher, weicher Blick, ein sympathisches Lächeln, die langen dunklen Haare zu einem lockeren Pferdeschwanz gebündelt.

„Ma’am? Die Aurorenzentrale schickt mich.“ Das Lächeln der Frau flackerte, doch sie nickte gefasst und deutete auf eine Tür mit dem Schild Zutritt verboten. David folgte ihr in das geräumige Büro, in dem sie sich gemeinsam zu einer kleinen Sitzgruppe begaben.

„Mein Name ist David Thorndyke. Das britische Ministerium hat mich hierhergeschickt, um den ansässigen Auroren zur Hand zu gehen.“

„Ich verstehe.“

Da war sie die Einzige.

„Bettina Coenorth“, stellte sie sich nun wieder mit erstarkendem Lächeln und einem sicheren Handschlag vor. „Aber Sie können gerne Betty sagen. Ich habe einen Sohn in Ihrem Alter, wissen Sie? Dank ihm weiß ich überhaupt von all den faszinierenden Dingen, die fernab der Wunder unserer Welt noch existieren.“ Sie lachte ein warmes Lachen. „Anfangs hat es mich zugegeben ein wenig überfordert. Aber wenn man sich mit der Geschichte befasst, fällt es einem schwer zu glauben, dass all jene Wunder gänzlich ohne Magie möglich gewesen sein sollen.“

Während sie ihren Monolog gehalten hatte, hatte sie David und sich Tee zubereitet und servierte ihn nun. Er musste sich zwingen, nicht gelangweilt dreinzuschauen und animierte sie mit einem Nicken und einem leisen „Vielen Dank für den Tee“ auch noch dazu, weiterzusprechen. Obwohl es sicherlich das Letzte war, was er hören wollte – nun, vielleicht hatte sie schlussendlich etwas Interessantes zu sagen? … Unwahrscheinlich. Was sie mit den nächsten Worten bewies: „Alexander hat vor zwei Jahren die höhere Schule abgeschlossen. Er ist so ein gescheiter Junge, wir sind unheimlich stolz auf ihn. Er möchte in die Politik, wissen Sie?“ Das sanfte Lächeln kannte David nur zu gut von seiner eigenen Mutter und gelangweilt nippte er am Tee. Er hasste Tee.

„Daniel, mein Jüngerer, hat auch im letzten Jahr die Schule abgeschlossen.“ Was hatte er nur an sich, dass Frauen ihm immer ihre Herzen ausschütteten? Reichte der missbilligende Blick nicht? Reichte nicht das kurze Nasenrümpfen, um seine absolute Abneigung gegen das vorherrschende Gesprächsthema auszudrücken? Hätte er herzige Brudergeschichten hören wollen, so hätte er seine eigene Mutter befragen können.

Außerdem schmeckte der Tee furchtbar. „Ist … Daniel? … Ist er auch Zauberer?“

„Aber ja! Er ging hier in Neuseeland zur Schule und wird jetzt im Ministerium eine Ausbildung zum Fluchbrecher beginnen. Nicht ganz Ihr Metier, aber wir sind einfache Leute.“ Als ob David das nicht schon mitbekommen hätte. „Mein Mann ist Fremdenführer und ...“ Bettina stockte. Sie schien sich daran zu erinnern, mit wem sie hier gerade sprach und nun wurde es endlich interessant für den Briten. Sie nestelte an der kleinen Tasse herum, wich dem stechenden Blick des Auroren aus und bestätigte damit seine Vermutung: hier lag mehr begraben, als sie zugab. Sie wusste etwas und war nicht bereit, ihr Wissen mit ihm zu teilen. Waren die Ermittlungen also richtig? Führten sie alle zur richtigen Adresse? War er nur noch hier, um die Verdächtigungen zu bestätigen?

David konnte sich auf all das hier noch keinen wirklichen Reim machen, beschloss jedoch, das Gespräch endlich in die eigene Hand zu nehmen. Mit einem leisen Seufzen lehnte er sich vor und tätschelte Bettinas Hand. „Ich weiß, es muss schwer für Sie sein. Die Söhne sind aus dem Haus und Sie wissen nun nicht, womit Sie den Alltag füllen sollen“, mimte David den verständnisvollen Beamten und zu seiner Überraschung schien er ins Schwarze zu treffen: Bettina atmete fein aus und lächelte ihn warm an.

„Es ist nun sehr ruhig zu Hause. Alexander und Daniel waren immer viel unterwegs und da sie in den Zaubererinternaten zur Schule gingen … viel hatte ich nie von ihnen.“ David meinte mehr als Bedauern aus diesen Worten herauszuhören und zog die Augenbrauen skeptisch zusammen. „Es ist einfach schön, wenn einem jemand wieder zuhört. Danke, Mister Thorndyke. Ich halte Sie sicherlich vom Arbeiten ab.“ Ein zauberhaftes Lachen folgte und David schüttelte den Kopf.

„Nicht doch.“ Sie hatte ihm, ohne dass sie es wollte, wichtige Informationen gegeben. „Ich habe trotzdem noch ein paar Fragen an Sie.“

„Natürlich.“

„Meine Kollegen haben mich bereits darüber informiert, dass Sie attackiert wurden“, nahm David den eigentlichen Grund seines Besuchs auf und Bettina zögerte kurz. „Das ist so nicht ganz richtig.“ Die hellen Augenbrauen des Briten zuckten zusammen und er überschlug die Beine, den Tee in den Händen haltend, die wachen Augen auf die schöne Archivarin gelegt. „Meine Stücke wurden attackiert, ja. Ich selbst jedoch nicht. Es ist …“ Wieder zögerte sie und in David wuchs das Misstrauen. Hier ging etwas vor sich, von dem er die Tragweite noch nicht verstehen konnte. Es war noch nicht greifbar. „Ich habe gehört, wie das Glas splitterte und habe ein Brüllen gehört. Aber das Brüllen hätte alles sein können. Ein Bär. Ein Wolf. Vielleicht auch das, was Ihre Kollegen sagen. Ich weiß es nicht.“

Sie nannte es nicht beim Namen.

Ihr Mann war ein registrierter Werwolf und sie nannte den Angreifer dennoch nicht beim Namen.

David roch den Braten. Sie wusste nicht, ob es ihr Mann war, der eingebrochen war. Sie wollte nicht wahrhaben, dass Seth Coenorth ein wildes Biest wurde, wann immer der Mond ihn rief.

Es war lächerlich, wie sich ein Mann einem Himmelskörper derart unterwerfen konnte. David fingerte in seiner Innentasche und zog die Visitenkarte hervor, die er stets mit sich herumtrug. „Falls Ihnen noch Details einfallen, die meine Kollegen nicht erwähnt haben, melden Sie sich bitte bei mir“, bat er Bettina förmlich und die schöne Frau nahm die Karte an, sagte jedoch nichts mehr.

Es folgten ein paar lapidare Bekundungen, eine Verabschiedung, ehe David noch etwas einfiel.

„Ihr Sohn, Alexander, wo kann ich ihn finden?“

„Wie?“

„Sie sagten nur, er sei bereits mit der Schule fertig und wolle Politiker werden. Wo kann ich ihn finden?“ Bettina deutete ein Schulterzucken an und ein schwaches Lächeln erschien auf den zart geschminkten Lippen. „Vermutlich irgendwo in der Stadt, Schatten hinterherjagen.“ Bitterkeit klang aus ihrer Stimme hervor und die Rolle der stolzen Mutter löste sich in Wohlgefallen auf, bevor sie David die Tür vor der Nase zumachte.

Irgendetwas ging hier vor. Und es hatte mit dem Sohn zu tun, auf den sie angeblich so stolz waren, der Politiker werden wollte und den Schatten nachjagte.

Es wurde Zeit herauszufinden, wessen Schatten Alexander Coenorth jagte.

Kapitel 16 - 𝓖𝓮𝓭𝓪𝓷𝓴𝓮𝓷𝓼𝓹𝓲𝓮𝓵𝓮

𝓖𝓮𝓭𝓪𝓷𝓴𝓮𝓷𝓼𝓹𝓲𝓮𝓵𝓮
 

Und so hatte ich gedacht, dass all das nur eine einmalige Sache gewesen sein sollte. Dass wir uns niemals wiedersehen würden – und ich hatte mich damit abgefunden. So war es schon immer gewesen; wer sich verliebte, der verlor. Nicht nur sein Herz … in meinem Gewerbe bedeutete Liebe zumeist den Tod. Das hatte ich in jungen Jahren gelernt – keine Ausbildung der Welt hatte nicht verhindern können, dass es damals geschehen war. Und keine Ausbildung der Welt hätte verhindern können, dass Konsequenzen gezogen worden waren.
 

Alles hat seinen Preis. Die Frage war, ob man bereit war, ihn zu zahlen.
 

Männer wie ich straucheln durch das Dunkel, behaupten, sie bräuchten niemanden. Manche gingen soweit zu sagen, sie bräuchten nichts.

Jeder Mensch braucht etwas, woran er sich festhalten kann, wenn alles um ihn herum zusammenbricht.

Und so klammerte ich mich an dich – und es blieb keine einmalige Sache.
 

Bevor ich für die französische Ministerin gearbeitet hatte, war ich Augen und Ohren für einen Mann im britischen Ministerium, dessen Gier nach Macht und Kontrolle schier grenzenlos schien. Er imponierte meinem jugendlichen Ich – aber selbst, wenn ich nicht von ihm angezogen geworden wäre wie eine Motte vom Licht, so hätte ich dennoch für ihn gearbeitet. Sein Charisma war weithin bekannt und seine Skrupellosigkeit berüchtigt. Männer wie er zogen mich schon immer an – für Personen wie ihn hatte ich schon zuvor Unaussprechliches getan.

Vor ihm sprang ich von einem Arbeitgeber zum nächsten, machte mir einen unbeugsamen Namen. Berühmt. Berüchtigt. Martin war kein Name, den man leichtfertig sprach. Er wurde weithin mit Endgültigkeit in Verbindung gebracht – neben dem Henkersbruder, der Aurorenschwester, dem Vampirjägerbruder, der Hippogreifzüchterinschwester, gab es nun also auch noch den Bruder, der sein Leben, für das seines Schutzbefohlenen geben würde. Nun. Oder wahlweise jene Leben nehmen würde, die seinem Schutzbefohlenen im Wege standen.

In meiner Familie ist es selbstverständlich, dass wir uns mit Leib und Seele unserer Arbeit verpflichten. Nur dem Erstgeborenen oder der Erstgeborenen ist es erlaubt, die Linie fortzuführen; allen anderen wird die Fähigkeit des Kinderzeugens oder -gebärens genommen. Niemals gebunden an das eigene Blut zu sein, außer an das der Eltern und Geschwister und dadurch kaum Angriffsfläche offenbaren. Ein eigenes Kind ist schon immer eine Schwachstelle im System gewesen – und Schwachstellen auszumerzen, das ist der Job meiner Familie.

Auf die eine oder andere Art.
 

Der britische Mann, machthungrig wie er nun einmal war, wollte seine Position in Irland stärken. Jene grüne Insel, die zu damaligen Zeiten von Unruhen innerhalb der Bürgerschaft geprägt gewesen war – er wollte die Unruhen ausnutzen und schickte mich, um einen seiner Gönner zu beschützen.

Dass ich dabei ausgerechnet dir in die Hände fallen sollte … auf so viele unterschiedliche Arten und Weisen …

Wäre ich ein religiöser Mann, würde ich behaupten, Gott hätte mich auf den rechten Weg geschickt. Mir all die Sünden vergeben.

Würde ich an das Schicksal glauben, würde ich behaupten, es hätte unsere Wege zusammengelenkt.

Würde ich an Karma und Wiedergeburt glauben, würde ich behaupten, irgendetwas in meinem vorherigen Leben richtig gemacht zu haben.

So jedoch behaupte ich einfach, unverschämtes Glück gehabt zu haben.

Selbst jetzt noch, wo unser Weg gepflastert mit Unglück und Tod ist, wo du so viele liebe Menschen verloren hast und so sehr an vielen deiner Idealen zweifelst und an der dir selbst auferlegten Schuld zu zerbrechen drohst. Selbst jetzt noch, wo ich einmal mehr in den Fängen mächtiger Männer verwoben bin und mein Leben plötzlich nicht mehr so wirkt, als könne ich es einfach wegwerfen. Selbst jetzt noch, wo das kleine Bündel Freude durch unser gemeinsames Haus derwischt und unser fünfter Hochzeitstag ins Land steht.

Selbst nach all den schrecklichen Taten, die mich hierhergeführt haben, liebst du mich.

Und da dem so ist … würde ich jede einzige Tat genauso wieder vollführen, solange sie mich an deine Seite zurückbringt.
 

Ich wünsche uns, dass unser Glück ewig hält, selbst wenn alle Zeichen der Vergangenheit gegen uns stehen. Wir haben Leichen noch und nöcher im Keller – der eine mehr, der andere weniger. Mächtige Männer werden versuchen uns voneinander zu trennen. Sie werden scheitern.

Jene Schwachstelle, die meine Familie zu händeln versucht, tanzt heute mit den Gartnengnomen um die Wette.

Es scheint, dass wir unserem großen Finale zustreben.

Gemeinsam.

Kapitel 17 - Ein Leben für ein Leben

„Bei Merlin … so viel Blut …“

„Sei ruhig.“

„Max, das ist zu viel … zu viel …“

„Du sollst den Mund halten.“

„Das … das schaffe ich nicht …“

„Du konntest noch nie deinen Mund halten. Heute wäre es aber wirklich mal von Vorteil.“

Red drückte fester zu. Ein verzweifeltes Lachen, das in einem schmerzerfüllten Keuchen unterging, war die Antwort – er würde es nicht schaffen. Kurz schloss Red die Augen, kalkulierte, schob Optionen hin und her.

Und kam zu dem Schluss, dass es nur eine Möglichkeit gab.

„Danke für alles.“

„Max … Du musst ihn hier rausschaffen.“

Langsam wanderten die harten Augen zum zusammengebrochenen Körper neben seinem Bruder; die Blutlache, die sich ins orangene Hemd sog, gehörte nicht zu ihm. Die markanten Kiefer zuckten; er kämpfte. Doch schlussendlich nickte er.

Plötzlich spürte er stechenden Schmerz an seiner Schulter – die große Hand seines Bruders krallte sich in sie, riss ihn zu sich herunter und nun klebte sein Blut auch an ihm. Starr blickte er in die Leere, spürte, wie das Leben Rhys verließ, wie es auch ihn selbst verließ, und lediglich zwei Worte hallten in seinem Ohr wider, prägnant, treibend: „Rette ihn.“

Nur noch ein letzter Schlag. Zäh und süß strebte Rhys Herz ihm entgegen, trommelte ein letztes Mal schwach gegen den Rippenbogen, klopfte sacht bei ihm an und brachte das eigene Mittelstück des Lebens zum Rasen. Rasende Wut wollte ihn blind machen, blinde Verzweiflung ihn gedankenlos, gedankenloser Schmerz ihn dazu bewegen, Frey einfach liegen zu lassen. Den Zauberstab zu ziehen und sich den Bastarden zu stellen, die es gewagt hatten, seinen Bruder zu töten.

Doch sie waren bereits tot.

Und zurück blieb nicht die Chance auf Rache … nicht hier, nicht dafür … sondern das Große Ganze, jener Plan, für den Red bereit gewesen war, seinen Bruder zu opfern.

Mit starrem Blick erhob Red sich, schüttelte die leere Hülle seines Bruders ab und schulterte die schwere Bürde, die er ihm auferlegt hatte. Nein, die er sich selbst auferlegt hatte.

Frey war leichter, als erwartet – doch kälter, als befürchtet. Er musste sich beeilen.

Nur kurz blickten die harten Augen über die Schulter zurück auf den sich in die Tiefe schraubenden Komplex an Zellen, horchten seine Ohren auf den fernen Klang der Stimmen, die nach ihnen riefen und auf das scharfe Bellen der Hunde, die ihre Fährte aufgenommen hatten.

Doch kein Wesen würde ihnen folgen können.

Kurzentschlossen trat Red den letzten Schritt – sein Fuß schien für einen Moment in der Luft zu schweben, Meter über dem Schwarzen Meer, das sich an den Klippen brach.

Dann fiel er. Und mit ihm sein Ballast, seine Bürde, derjenige, für den Rhys sein Leben gegeben hatte.

Red würde dafür sorgen, dass Frey seine Schuld niemals vergessen würde.

Und gleichzeitig mit keinem Wort erwähnen, dass all das seine eigene Idee gewesen war.
 

Vor Kälte zitternd zog er den schweren Körper an Land und gönnte seinen brennenden Muskeln eine kurze Pause. Der Zauberspruch, der ihn teilweise in einen Hai verwandelt hatte, hatte schon vor einigen Stunden aufgehört zu wirken – ein zweites Mal hatte er ihn nicht anwenden können. Zu sehr hatte seine Konzentration mittlerweile gelitten, zu sehr hatten die Zweifel an seinem Innersten genagt; hatte er einen Fehler begangen? Er hatte Rhys gegen Frey eingetauscht – seinen eigenen Bruder wissentlich in den Tod laufen lassen . . . Jenen Bruder, den er stets und immer gegen alle Eventualitäten verteidigt, vor allem beschützt hatte. Den er verdammte dreißig Jahre davor bewahrt hatte, frühzeitig ins Gras zu beißen – und jetzt? Jetzt hatte er selbst ihn ins Grab gestoßen . . .

Es schüttelte ihn. Mit letzter Kraft rappelte er sich auf, zog Frey mit sich und schleppte ihn in die kleine Höhle, die ein menschliches Auge niemals wahrgenommen hätte, hätte es nicht gewusst, wo es zu suchen hatte. Der Eingang war schmal und das Innere tiefschwarz. Es ging nicht weit hinein und nach wenigen Schritten verließen Red die Kräfte. Die letzten Stunden war er geschwommen, hatte Frey die ganze Zeit über Wasser gehalten und seine linke Seite war von Krämpfen geplagt worden – doch sein Ziel hatte er nie aus den Augen gelassen. Der Junge aus Enfield hatte nie etwas losgelassen, in das er erst seine Zähne geschlagen hatte. Niemals.

Doch jetzt war er am Ende angekommen. Der Brudermord lastet derart schwer auf dem gebrochenen Herzen, dass er die Scherben beinahe spürte, die durch seinen Brustkorb klimperten. Tief schnitten sie in sein Wesen; aber noch war Frey nicht sicher. Rette ihn, flüsterte Rhys‘ Stimme und kurzentschlossen schüttelte Red seine Erschöpfung ab. Rappelte sich auf. Schleppte sich und Frey zur Feuerstelle, die er vor Wochen bereits präpariert hatte. Mit zitternden Fingern zog er den Zauberstab aus der sicheren Verwahrung am linken Oberschenkel. Er ließ sich Zeit. Sammelte seine Gedanken, verdrängte die Scherben aus seinen Gedanken und murmelte jene Schutzformeln, die ihn und Frey vor der Außenwelt abschirmen würden, gleichzeitig jedoch derart schwache Spuren hinterließen, dass nur ein wirklich guter Zauberer sie erkennen würde – und vermutlich würden die Illusionen, die Red kurz darauf über die Schutzzauber legte, ihn trotzdem täuschen können.

Er hatte Rhys nie im Ringen besiegen können, nie im Faustkampf und auch beim Qudditch hatte er ihn kein einziges Mal schlagen können. Nicht einmal ein einfaches Kochduell hatte er für sich entscheiden können – sobald es um handfeste Dinge gegangen war, war ihm sein großer Bruder immer mehr als einen Schritt voraus gewesen.

Doch niemand aus seinem Jahrgang, aus seiner Heimat und auch jetzt, viel später, seinem beruflichen Umfeld, konnte ihm das Wasser reichen, wenn es um Schläue ging. Um Tricks. Darum, etwas vorzutäuschen und den anderen immer mindestens drei Schritte voraus zu sein. Red dachte um die Ecke und dann noch um die nächsten vier, nur, um im richtigen Moment bereits meilenweit entfernt zu sein, wenn es drauf ankam.

Hier und jetzt war es wichtig, dass sie genau hierblieben. Nicht meilenweit weg waren.

Rhys hätte einfach ein Feuer mit Steinen und Holz entfacht – Red brauchte noch eins, zwei Anläufe, ehe er den Feuerzauber sicher ausführen konnte. Zu sehr zitterte die Hand, zu sehr rebellierte der Kirschholzstab, doch schließlich erhellte sanfter Feuerschein die kleine Höhle und dennoch würde niemand außerhalb dieses kleinen Unterschlupfs das Feuer überhaupt wahrnehmen.

Red riss sich eine kleine Tasche, die er in seine Hose genäht hatte, ab und der Inhalt verstreute sich chaotisch auf dem Felsboden. Nachdem er die Utensilien mit dem Zauberstab angetippt hatte, wuchsen Decken und Töpfe, Kleidung und Proviant, zwei Bücher und ein Erste-Hilfe-Kasten auf ihre normale Größe an und schienen die kleine Höhle noch enger wirken zu lassen, als sowieso schon.

Kurzentschlossen entledigte Red sich seiner Kleidung, breitete sie sorgfältig neben dem Feuer aus und blickte zu Frey – noch immer hatte er sich nicht gerührt. Sein Atem ging gleichmäßig und trotz der langen Reise durch das bitterkalte Wasser, fand sich noch immer etwas Farbe in seinem Gesicht wieder.

Wilder Hass zuckte durch die harten Augen. Frey war der Grund, weshalb Rhys nicht mehr lebte. Weshalb der einzige Mensch, den Red je geliebt hatte, je zugelassen hatte zu lieben, jetzt tot war. Mit vor Wut bebenden Fäusten sackte Red neben ihm zusammen, den Blick fest auf die rosigen Wangen gerichtet. Wenn er jetzt einfach zudrücken würde … Er müsste nicht mal viel Kraft aufwenden … Er könnte sogar dabei zusehen, wie sich seine Augen überrascht öffneten, er schwach um sich schlagen und schließlich alles Leben aus den dunklen Augen weichen würde. Er wollte es so sehr . . .

Red atmete ein.

Und beim Ausatmen zog er Frey das Oberteil von den Schultern, zerrte die nasse Kleidung umständlich vom lädierten Körper des Jüngeren und schlang eine Decke um sie beide, ehe er Frey zu sich auf eine weitere Decke zog.

Dermaßen gewärmt vom Feuer, gebettet auf den flauschigen Untergrund, umgeben von einlullendem Stoff, angeschmiegt an den Jüngeren … es fiel Red schwer, die Augen offen zu halten. Fest schlagen sich seine Arme um die Brust Freys und er bettete seinen Körper an den Rücken des Jüngeren, zog ihn unbarmherzig an sich und lehnte sich gegen die Felswand hinter sich. Körperwärme würde sie beide davor bewahren, einen erbärmlichen Kältetod zu sterben und auch wenn Magie sicherlich geholfen hätte, so war Red nicht mehr in der Lage dazu, auch nur noch einen letzten Spruch zu bewerkstelligen.

Stattdessen fielen seine Augen zu und erbarmungslose Schwärze umfing ihn.
 

Heftiger Schmerz explodierte in seinem Kiefer und reflexartig verstärkte er seinen Griff um das, was er gerade im Arm hatte.

„LASS MICH LOS!“

Freys Stimme riss ihn aus der Finsternis, während sein Kiefer pochte und ein gefährliches Knurren entwich Reds Kehle. „Beruhig dich.“
 

„Verdammt, was soll das? Lass mich los!“

Frey wollte nicht aufhören zu toben, doch so stur er auch war, sein Starrsinn war nichts gegen den des Briten. Mit endgültiger Bestimmtheit presste er den Körper des Jüngeren an sich, presste ihm die Luft aus den Lungen und nahm ihm jegliche Grundlage zum Kampf. Wie besessen schlug Frey um sich, versuchte, sich aus seinem Griff zu befreien, während die Luft immer knapper wurde.

Wollte er ihn umbringen?!
 

Der Gedanke war Red gekommen, doch sein Klammergriff zeigte die gewünschte Wirkung – Freys Gegenwehr wurde schwächer und vorsichtig entließ Red ihn in die Freiheit.

„Ich habe dir gesagt, dass ich nicht zulasse, dass du meinen Plänen in die Quere kommst“, zischte Red verhalten und der gefürchtete Kirschholzstab blitzte in der Dunkelheit zwischen ihnen auf. Er sah die Furcht kurz in Frey aufzucken, dann Erkenntnis und schließlich Frustration. Doch ehe sein Partner etwas hätte sagen können, schüttelte Red den Kopf, noch immer keine Miene verziehend. „Du bekommst deine Chance. Das habe ich dir versprochen.“ Und sie beide wussten, dass Red ein Versprechen immer hielt – und jede Anmaßung, er würde Versprechungen brechen, strafte er für gewöhnlich brutal und gnadenlos. Selbst sein mittlerweile langjähriger Partner war davor nicht sicher und Red beobachtete, wie Frey in sich zusammensackte. Mit sanfter Gewalt zog er ihn tiefer in die Schatten, blieb in seinem Rücken und flüsterte ihm ins Ohr: „Merk dir diesen Moment. Schau ihn dir genau an, wie er sich feiert und seinen Erfolg. Nimm das alles in dich auf. Genieß es.“

Er hörte ein leises Grollen, ehe Frey raunte: „Wie soll ich das genießen? Er hat das alles nicht verdient.“

Ein kurzes, minimales Lächeln huschte über Reds Züge, verborgen vor Frey, verborgen vor der Welt. „Weil du weißt, dass du derjenige bist, der all das beenden wird.“ Er spürte, wie Frey erschauderte, legte eine Hand auf dessen Schulter und zwang ihn, sich zu ihm umzudrehen. Forsch blickte er in die tiefen Augen, die so verloren und bitter blitzten. „Du bist derjenige, der ihm all das nehmen wird. Seine Familie. Seine Erfolge. Seinen ach so geliebten Ruf. Und schlussendlich sein Leben.“ Der Druck auf die breite Schulter seines Partners wurde unnachgiebig und Frey blickte ihm entgegen, aufrechter stehend, als zuvor. „Ich werde dich bis zum Schluss begleiten, mein Freund“, versprach Red und spürte, wie das Ziel Freys zu seinem eigenen wurde und ihrer beider Wege miteinander verschmolzen.
 

Gelassen befahl Red seinen Läufer zwei Felder vor. „Schachmatt.“ Frey seufzte fein und lehnte sich auf dem Sessel zurück, die Hände kapitulierend erhoben. „Fein. Ich gebe auf.“

„Du gibst nicht auf. Du bist geschlagen.“

Wiederwille zuckte durch Freys Mimik, doch schließlich zeigte er ein wölfisches Schmunzeln, schien sich an etwas zu erinnern, das sich Red entzog – doch er vermutete zurecht, dass es etwas mit Colin zu tun haben musste. Aufmerksam legte er den Kopf schief, musterte seinen Freund und bemerkte kleine Veränderungen an ihm, die ihm bis eben nicht aufgefallen waren. Frey strotzte heute vor Selbstbewusstsein und obwohl Vollmond nicht weit war, schien er gefasst. Reds Augen verengten sich und Frey zuckte mit den Schultern, ganz so, als errate er die Gedanken seines Freunds.

Nicht unwahrscheinlich, dass genau das der Fall war.

Mittlerweile waren sie dermaßen aufeinander abgestimmt, dass ihre Kommunikation viel öfter auf nonverbaler Ebene ablief, als durch Worte und Red wusste Frey schon seit längerem aufrichtig und ehrlich zu schätzen. All die Hoffnung und all die Erwartungen, die er in ihn gesetzt hatte, übertraf der Werwolf mit einer Leichtigkeit, dass er ihm aufrichtig imponierte. Doch nicht nur beruflich war er eine absolute Bereicherung für sein unterirdisches Imperium geworden – nein. Er verließ sich auf niemanden so sehr wie auf Frey. Der Werwolf enttäuschte ihn nicht. Nie. Schien besessen davon, ihm alles recht zu machen und gleichzeitig als ebenbürtig von ihm angesehen zu werden. Unnötig zu erwähnen, dass das niemals möglich sein würde und gleichzeitig war Frey ihm näher, als es je ein Mensch gewesen war. Nicht einmal Rhys hatte derart in sein Herz blicken und ihn einschätzen können.

Schlussendlich hatte er die richtige Entscheidung getroffen.

Ein Leben für ein Leben.

Rhys für Frey.

Red lehnte sich vor, erkannte das Aufblitzen in den dunklen Augen und nickte.

Und vielleicht würde sich abermals ein Bruder für einen Bruder opfern müssen, irgendwann, in naher Zukunft.

Ein sachtes Lächeln umspielte die Lippen Reds und er deutete auf das Spielfeld. „Noch eine Partie?“

Er hatte Frey ein Versprechen gegeben – und er würde sein Leben geben, um es zu erfüllen.

Kapitel 18 - Soulmate Things

Mit einem weichen Lächeln nahm Ezra Yuris Hand und zog seinen Freund zu sich auf den großen Stein mitten im Wasser.

„Ich wusste, dass es dir hier gefallen würde“, wisperte er ihm entgegen, seine Hand noch immer haltend, damit er nicht fiel. Nicht, dass Yuri mit der perfekten Körperbeherrschung, die ihm nun einmal zu eigen war, wirklich gefallen wäre, aber schlussendlich blieb das Gefühl, ihn beschützen zu wollen. Ezra beobachtete, wie sich auf den kühnen Zügen ein wundersames Lächeln anbahnte – in den dunklen Augen brach sich das Sternenlicht und die erste Sternschnuppe sauste über sie beide hinweg. Gleichzeitig reckten sie ihre freie Hand gen Himmel, ein „woah“ ausstoßend und verschwörerisch grinste Ezra dem Russen zu. „Ich wollte dir die Stelle gestern schon zeigen. Die Sterne sind hier so viel näher, oder? Schau!“ Eine weitere Sternschnuppe zauberte einen langen Schweif am Firmament und wieder war ein Raunen von den beiden Jungs zu hören. Langsam ließ Yuri Ezras Hand los und machte Anstalten, sich auf den kalten Stein zu setzen.

„Warte, warte.“

„Nein, nicht nötig, Ez. Die Hose ist eh alt.“

„Du erkältest dich.“

„Also, bitte. Als wenn ich mich von ein paar Minuten an der frischen Luft gleich erkälte.“

„Bitte, Yuri…“

Mit einem Seufzen ließ Yuri zu, dass Ezra seine Jacke auszog und sie für sie beide auf den nebelfeuchten Stein zu betten. In einträchtigem Schweigen setzten sie sich, den Blick gen Himmel gerichtet.

Der Sternenregen wollte nicht aufhören. Hundertfach schienen die Sternschnuppen zu fallen, die Möglichkeit, einen Wunsch auszusprechen, völlig unmöglich machend. Vorsichtig, um nicht in den Fluss zu fallen, rutschte Ezra noch ein wenig näher, stützte seine Hand hinter dem Rücken des Russen ab und legte seinen Kopf auf dessen Schulter ab, ihm ein flüchtiges Lächeln zuwerfend.

„Gefällt es dir?“ Die eigene Stimme nicht mehr als ein brüchiges Raunen und Yuri nickte, den Blick stur gen Himmel gerichtet, doch Ezra sah das verräterische Schmunzeln im Mundwinkel und sein Herz machte einen freudigen Hüpfer. „Ja. Danke, Ezra. Es ist wirklich schön hier. Und es macht auch nichts, dass wir erst heute hier sind. Heute sollen eh viel mehr Sternschnuppen unterwegs sein.“

„Hm. Gut.“ Langsam richtete Ezra sich wieder auf, dem Fall der Sterne zuschauend. „Ich wollte das mit dir und nur mit dir teilen.“

„Wieso nicht mit den anderen?“

„Weil es dir in letzter Zeit nicht gut ging.“ Das abfällige Schnauben überging Ezra und schlug die Füße übereinander, den Kopf in den Nacken gelegt. Yuri holte Luft, um etwas zu sagen, überlegte es sich dann aber scheinbar anders und tastete nach Ezras Hand, die noch immer in seinem Rücken lag. Lange schlanke Finger umfassten Ezras und er warf einen kurzen Blick auf die blasse Haut seines Freundes, ein wissendes Lächeln auf den Lippen. Kurz schaute er zu Yuri auf – der schien um Worte verlegen, schien mehr dazu sagen zu wollen, aber Ezra schüttelte nur den Kopf. „Außerdem würde keiner von ihnen mit mir hier ruhig sitzen. Khair hätte es gar nicht erst bis hierhergeschafft, Wes und Mac wären eher von den Möglichkeiten eine Sternschnuppe zu fangen begeistert und Xav … ah, als wenn der auch nur ansatzweise die Schönheit des Moments verstehen würde. Du hast ein Künstlerherz.“ Das Grinsen auf den Lippen des Musikers wurde breiter und Yuri erwiderte es mit Schalk. „Ich wusste, dass es dir guttun würde … und nach den letzten Wochen wollte ich dir einfach etwas Gutes tun.“ Ezra wurde immer leiser zum Ende des Satzes und wandte den Blick wieder ab, ernster als zuvor, mit einer gewissen Melancholie in der Stimme. Nun war es an Yuri zu seinem Freund zu blicken, die Stimmung abzuwägen und schließlich – mit einem ergebenen Seufzer – verwob er ihre Finger miteinander.

„Manches Mal bist du einfach ein absoluter Idiot, Ez.“

Und damit war einfach alles gesagt.
 

„Oye! Yuri!“

Freudestrahlend preschte Ezra auf den Russen zu, Binde und Federballschläger in der Hand und zog ihn unbarmherzig auf das Spielfeld. „Ezra! Die Schuhe sind neu und du könntest sie nicht einmal dann bezahlen, wenn du das Vermögen deiner Eltern-“

„- und das Erbe meines Erstgeborenen ausgebe, ja, ja, wie auch immer: du MUSST mit mir spielen!“ Und damit deutete er auf Mac und Xav, die an dem rechten und linken Handgelenk zusammengebunden waren und in ihrer bewegungsuneingeschränkten Hand einen Federballschläger hielten. Yuri runzelte kritisch die Stirn und begutachtete den Sand unter seinen Füßen mit gerümpfter Nase. „Federball. Am Strand. Wie .. einfallsreich.“

„Komm!“

Ohne weiter zu fragen schnappte Ezra nach Yuris rechter Hand und verschränkte ihre Finger – „hei! Was wird das?“ – ineinander, den Zauberstab in der anderen, um mit der Binde ihrer beiden Hände – „Ezra, ernsthaft, lass das!“ – absolut und für immer miteinander zu verschmelzen. Nun, oder zumindest bis zum Ende des Spiels. „Komm schon, Yuri, das wird ein Spaß, glaub mir.“ Die Einwände von der anderen Seite – „seid ihr endlich soweit?!“ – wurden gekonnt ignoriert. Hoffnungsvoll blickten große Augen zu Yuri auf und ein genervtes Stöhnen war vom Russen zu hören. Wie konnte irgendwer irgendwann auch nur daran denken, ‚nein‘ zu Ezra zu sagen, wenn er s o schaute?

„Fein. Aber wehe ich ruiniere mir dabei auch noch die Frisur.“

Ezra grinste und half Yuri ungefragt dabei – immerhin waren sie jetzt aneinandergebunden und wenn Yuri sich bückte, musste auch Ezra sich bücken – die Schuhe auszuziehen.

„Keine Sorge. Ich passe auf“, zwinkerte Ezra ihm zu und Yuri seufzte abermals. Energisch wurden sich die Haare aus der Stirn gewischt und mit einem Siegeswillen, der einen echten Russen nun einmal auszeichnete, schnappte er sich den dämlichen Federballschläger.

„Dann wischen wir den Boden mit den beiden auf!“

„Sie haben keine Chance gegen Ezri!“

Irritiert blickte Yuri zu seinem Freund, der ihm zuzwinkerte und die Zunge rausstreckte, wie immer ein Bündel an Energie und Freude. Was ging manches Mal nur in diesem Jungen vor . . .

. . . während Yuri erfolglos eine Antwort auf die Frage suchte, klatschten Wes und Khair mehr oder minder begeistert Beifall, als Mac und Xav das xte Mal zu Boden gingen, weil sie ihre Bewegungen einfach nicht koordiniert bekamen. Team Ezri hingegen schien blind zu verstehen, wie der jeweils andere sich bewegte und obwohl auch sie hier und da mal ihre Meinungsverschiedenheiten hatten – „das andere Rechts, du Troll!“ – gewannen sie das Match gegen Xav und Mac haushoch.

Wie auch immer das passiert war, aber Yuri fand sich in einer innigen Umarmung mit seinem Federballpartner wieder und hörte sein eigenes Lachen über das Meer wehen. Ezra ließ sich neben ihn in den Sand fallen und wischte ihm kurz ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht – „deine Frisur, Yuri“ – und während ein Teil von ihm dem Jungen gerne die Hände dafür abgehakt hätte, dass er die Frechheit besaß, seine Frisur zu beurteilen, war der viel größere Teil von ihm einfach nur dankbar, Ezra seinen Freund zu nennen.

Wortlos drehte er den Kopf zum Musiker und sah sich bereits mit den aufrichtigen Augen konfrontiert.

„Das habe ich gebraucht“, wisperte Ezra ihm da gerade entgegen und lachte leise, die Stirn gegen die Schulter des Russen drückend. Ehe der sich versah, streckte er den Arm aus und ließ zu, dass Ezra sich auf seine Schulter legte, den Blick gen untergehende Sonne.

„Ich wünschte, wir könnten für immer hierbleiben“, murmelte Ezra und Yuri brummte zustimmend. „Vielleicht können wir das…später einmal. Alle sechs.“ Überraschung zeichnete sich auf den Zügen des Musikers ab, doch er war dankbar für die seltene Offenheit seines Freundes und verkniff sich jedwede Antwort.

Stattdessen genoss er den Frieden, solange er eben anhalten würde. Mit Yuri musste man immer jeden Moment auskosten, als sei es der letzte – doch Ezra würde stets und immer dafür sorgen, dass nach jedem vermeintlich letzten Moment, noch immer ein weiterer folgen würde.

Das hatte er sich selbst, den anderen vieren und nicht zuletzt Yuris Sternschnuppen an jenem Abend versprochen. Und auch wenn Ezra nicht immer der ehrlichste, nicht immer der aufrichtigste Mensch war, so würde er ein Versprechen, das er seinen Freunden gegeben hatte, niemals brechen. Und er wusste, dass es Yuri genauso ging.

Straßenkinder

AKT I

„Du wertloser Bastard! Wieso musstest du genauso werden wie ER?! Deine Augen..! Dein Gesicht..! Du bist widerlich! Niemand wird dich je lieben, NIEMAND! Du bist genauso verkommen wie dein verschissener Bruder!“

Mit bebenden Lippen und Schultern ließ Abel den Ausbruch seiner Mutter über sich ergehen. Ihre kraftlose Statur machte ihm Sorge, doch die Worte trafen so tief, waren so schmerzhaft, dass sie die Sorge um die eigene Mutter zerfraßen.

wertlos – genauso wie er – Augen – Gesicht – widerlich – Niemand wird dich je lieben – verkommener Bruder

Abel ballte die Hände zu Fäusten, biss sich auf die Unterlippe, bis der metallische Geschmack von Blut ihn beruhigte – Schmerz durchzuckte seine Lippe und hektisch blickte er auf, die Tränen in den Augenwinkeln wegblinzelnd. Niemals wieder würde er weinen, das hatte er Cain versprochen.

Er sah die Hand zu spät.

Brennende Qual breitete sich in seinem Brustkorb aus und zerriss das Band zwischen Sohn und Mutter. Erschrocken befühlte er sich die pochende Wange, wich einen Schritt zurück, als der nächste Schlag kommen sollte. Seine Mutter schrie, stolperte, fiel und blieb regungslos liegen.

Sie hatte ihn geschlagen. Sie hatte ihn wirklich geschlagen! Verzweiflung wollte ihm die Kehle zuschnüren, doch er ließ es nicht zu. Stattdessen griff er nach den Schultern seiner Mutter, zog sie auf die Beine, leise „alles wird gut“ auf ihr Wimmern murmelnd und half ihr zum Sofa, bettete sie darauf, zog ihr die Decke bis ans Kinn und küsste sie auf die Stirn.

Sie konnte nichts dafür. War ein Opfer der Gesellschaft geworden, hatte sich der Erlösung hingegeben, die Drogen und Alkohol versprachen und war zu schwach, um sich all den Widerständen entgegen zu stellen. Sie war nicht wie Cain.

Dennoch schmeckten all diese vertrauten Gesten bitter, fühlten sie sich an wie Verrat. Doch Verrat an wem? An was? An sich selbst? Oder an der Frau, die bleich unter der mottenzerfressenen Decke lag?

„Abel?“

Abel wirbelte herum und sah sich seinem großen Bruder gegenüber, der – blaues Auge und aufgeplatzte Lippe – ihn prüfend musterte. „Was ist passiert?“ Eine Frage, die er genauso gut hätte stellen können, nicht wahr? Verrat an wem? – Niemand wird dich je lieben.

Abel atmete tief durch und zauberte von irgendwoher ein schiefes Lächeln auf die pochende Unterlippe. „Etwas, worum du dir keine Gedanken machen musst. Komm. Lass uns eine Runde trainieren.“

Die Skepsis in Cain war erwacht, doch Abel ignorierte den weiteren Blick, schlug ihm im Vorbeigehen auf die Schulter und ging nach draußen in den Vorgarten, wo die Brüder bis spät in die Nacht Schläge übten. Jeder Schlag mehr war eine Befreiung, war eine Antwort auf die Frage nach dem Verrat an wem und eine Erwiderung auf Gift und Zweifel.

Sollte ihn die gesamte Welt auch hassen – seine Augen, sein Gesicht, ihn selbst – so wusste er doch, dass ein Mensch ihm reichte und dass dieser eine Mensch ihn bedingungslos liebte.
 

Akt II

„Schau ihn dir an, Susan, ist er nicht wundervoll?“

Abel bekam eine Gänsehaut und schaute vorsichtig zu seiner Mutter, sein Mund plötzlich ungemein trocken. Nervös drehte er das Wasserglas in seinen Händen und Besorgnis schlich sich Magenschmerzen gleich durch seinen Bauch. Die Whiskeyflasche auf dem Kaffeetisch war mittlerweile leer und der Geruch von Alkohol lag in der Luft zwischen den beiden Frauen.

„Dieses süße Gesicht wird irgendwann einmal irgendwen sehr glücklich machen.“ Seine Mutter griff nach seinem Kinn und seinen ersten Instinkt, den Kopf wegzuziehen, unterdrückte er geradeso. Sein Blick flatterte zu Susan – irgendeine der ständig wechselnden Bekanntschaften seiner Mutter, deren gierige Augen mehr als tausend Worte sagten. Die Besorgnis verwandelte sich in nagende Kälte; was lief hier?

Die spinnenartigen Finger seiner Mutter klammerten sich um seinen Kiefer und sie küsste ihn auf die Wange, mehrfach, ehe sie ihren Kopf vertraut auf seine Schulter legte. Reflexartig legte er einen Arm in ihren Rücken, gab ihr den Halt, die Geborgenheit, nach der sie suchte und hörte ihr wohliges Seufzen. Abermals spannte sich eine Gänsehaut über seinen Rücken und sein Blick wurde leer. Was verdammt lief hier?

„Weißt du, er hat sehr gute Noten, ist sehr klug und wird sicherlich nach der Schule studieren, oder, Abel?“

„Jah.“

„Und dann verdient er ganz viel Geld als Banker oder Geschäftsführer oder Politiker, oder, Abel?“

„Jah.“

„Und dann, weißt du, Susan, dann haben wir genug Geld für das Haus an der Küste und ich kann mir den Ring kaufen und das Auto und…“

Es ging ewig so weiter. Abel nickte nur apathisch und hörte den Gründen seiner Mutter gar nicht mehr richtig zu. Sie suchte immer wieder nach seiner Hand und er ließ zu, dass sie ihre Finger ineinander verschränkte, sich wieder freikämpfte und erneut nach ihm griff. Es kam ihm symbolisch für ihre Beziehung vor und eine unheimliche Müdigkeit ergriff urplötzlich von ihm Besitz.

„Mum, ich muss los …“

„Was? Jetzt schon? Aber Susan hat dich doch noch gar nicht tanzen sehen!“

Abel spannte sich an und blickte zu seiner Mutter, ein wenig Abstand zwischen sie beide bringend. „… Tanzen?“, echote er tonlos und langsam schaute er zu Susan, die eifrig nickte und deren Blick einem Angst machen konnte. Er öffnete den Mund, schloss ihn jedoch sofort wieder. War es das, was sie ihren Freundinnen erzählte? Dass er eine Tanzschule besuchte und tanzen konnte? Die dunklen Augen flatterten zurück zu seiner Mutter, eine stumme Bitte in ihnen zu sehen.

„Ja, ich habe Susan erzählt, wie wundervoll du tanzen kannst und sie würde dich so gerne mal tanzen sehen. Das geht doch, oder, Abel?“

Nein. Nein, das ging absolut nicht! Er tanzte sehr wohl, aber schon lange nicht mehr so, wie seine Mutter das vielleicht gewollt hätte . . . oder wusste sie davon und nutzte seine Fähigkeiten nun schamlos aus? Er spürte, wie sein Herz bis zum Anschlag klopfte.

„Nein, Mum, das … ich möchte wirklich nicht …“

„Oh, biiiiitteeeeee.“

„Mum, das … hör doch bitte auf …“

„Jetzt sei nicht so undankbar!“, schnappte seine Mutter plötzlich aggressiv und Abel biss die Zähne zusammen. „Ich habe dich fünfzehn Jahre durchgefüttert, da wäre jetzt mal ein bisschen Dankbarkeit angebracht! Und das einzige, was ich von dir will, ist, dass du für Susan tanzt, aber nein, das ist für Mister-ich-werde-bald-studieren-und-dich-in-diesemscheißdreckslochverkommenlassen wohl zu viel verlangt, HÄH?!“

Abel sah die Hände, bevor sie tatsächlich seinen Kragen greifen konnten und wich auf dem Sofa nach hinten aus, in einer einzigen geschmeidigen Bewegung aufstehend. Seine Mutter blickte ihn erschrocken an – für Susan schien das alles eher amüsant, denn bedenklich. Abel blickte zwischen den beiden Frauen hin und her, dann schüttelte er den Kopf.

„Sorry, aber ich komme sonst zu spät zur Schicht“, nuschelte er noch, bevor er Hals über Kopf aus dem Haus rannte.

Den Weg kannte er mittlerweile blind. Selbst die Panik, die ihm die Kehle zugeschnürt hatte – tanz, tanz, tanz, mein Sohn – konnte ihn nicht vom Weg abbringen.
 

Die große heruntergekommene Industriehalle ragte vor ihm auf – sein Atem ging stoßweise. Das Adrenalin pumpte schmerzhaft durch seinen Körper und energisch stieß er die Türen auf, wich den gefährlicheren Menschen instinktiv aus, duckte sich, machte sich klein, unscheinbar. Sein Ziel waren nicht die vielen Jungs und Männer, die tagaus tagein hier boxten, ihre Körper stählten, ihrem Leben versuchten einen Sinn zu geben. Oft waren sie straffällig geworden und der Fightclub war das einzige, was ihnen geblieben war, um nicht wieder in den Bau zu wandern.

Abel hielt auf die Hintertür zu, wartete geduldig ab, nur ein Schatten, von niemandem wirklich wahrgenommen und schlüpfte in einem günstigen Moment hindurch, hinein in die erdigen Tiefen, die sich mehrere Stockwerke in die Tiefe schraubten.

Abels Atem rasselte, als er die vielen Metallstufen herab sauste. Schweißgebadet brach er in Cains Trainingsstunde.

„Abel?“

Überraschung zeichnete die bereits dunkle Stimmfarbe seines Bruders und obwohl er keine Antwort bekam, alarmierte ihn das plötzliche Auftauchen seines kleinen Bruders zutiefst. So sehr, dass er ungefragt die Trainingshandschuhe hinwarf und zu ihm glitt, beide Hände nach ihm ausgestreckt.

Wortlos sank Abel in die Umarmung, lehnte den Kopf für diesen kurzen wertvollen Moment an die breite Brust seines Bruders, ergab sich dem Gefühl der absoluten Hilf- und Machtlosigkeit.

„Nie wieder“, hörte er sich selbst murmeln und eine Hand verkrampfte sich im durchgeschwitzten Oberteil Cains. „Ich will nie wieder so hilflos sein.“ Cains starke Hände, voller Wärme, legten sich unnachgiebig auf Hinterkopf und Rücken und abermals spürte Abel Gänsehaut am ganzen Körper.

Doch es war die beste aller Gänsehäute. Sie kitzelte nach Versprechen und Geborgenheit.

„Dann lass uns trainieren, Heulsuse.“

„… Ich heule nicht.“

„Dann zeig mir, dass du keine Heulsuse bist! Hier!“ Cain hatte Abstand zwischen sie gebracht und warf Abel die eigenen Trainingshandschuhe zu. Kurzentschlossen zog Abel sie an, ignorierte das Johlen der umstehenden Auserwählten und ganz besonders desjenigen, den er am allerwenigsten leiden konnte und stieg nach Cain in den improvisierten Ring.

„Die üblichen Regeln?“, fragte er tonlos und Cain nickte, ein wildes Grinsen auf den Lippen, das jeden Gegner das Fürchten lehren wusste. Selbst Abel war für einen kurzen Moment verunsichert – nie wieder, nie wieder, nie wieder – ehe er durchatmete und die Arme ausstreckte.

Dann komm doch!

Die Schläge Abels waren unkontrolliert, ungeübt und Cain wich jedem einzelnen problemlos aus oder fing jene ab, die durch die Hektik gefährlich für sie beide geworden wären. Der Gegenangriff des versierten Boxers war hart und unnachgiebig und Abel musste jede Faser seines Tänzerkörpers anspannen und wieder entspannen, um den kraftvollen Schlägen auszuweichen.

Sie trainierten schon Jahre miteinander. Nicht im Fightclub, pschte, dahin zogen Abel für gewöhnlich keine zehn Pferde. Aber im Vorgarten, auf den Straßen, hin und wieder in verlassenen Lagerhallen oder alten Tanzstudios, in den Gärten der Nachbarn, in den Gassen zwischen den Malls . . . Überall in London waren sie zu Hause und übten Springen, Schlagen, Laufen, Treten, Kämpen – jeder auf seine Art und Weise.

Und während dort wo Cain hinschlug kein Gras mehr wuchs und der ältere der beiden Brüder eine unglaubliche Gnadenlosigkeit ausstrahlte, lag Abels Stärke eher in seiner Wendigkeit und den heftigen Tritten, die aus dem Nichts zu kommen schienen.

Aber Cain kannte jeden Trick seines jüngeren Bruders und ging an diese Trainingskämpfe mit einer ganz anderen Mentalität hinein: kämpf, oder es könnte dein letzter Kampf gewesen sein.

Das Knacken von Knochen und Abels Schrei beendeten den Kampf.

„Shit, Sorry.“

Unfassbarer Schmerz zuckte beißend durch Abels linken Arm, doch ein schiefes Grinsen war auf seinem Gesicht festgetackert. „Schon okay …“ Cain zögerte – wäre er ein besserer Zauberer, hätte er nun einfach zaubern können – doch schließlich nickte er und half seinem Bruder wieder auf die Füße und raus aus dem Rampenlicht.

In den Umkleiden brach Abel auf der Bank zusammen und fluchte ungehalten, ohne Sinn und Zweck.

„Abel! Reiß dich zusammen! Komm schon, man, lass mich sehen…“

Doch Abel hielt Cain mit einer einfachen Handbewegung davon ab, näherzukommen. Die ausgestreckte rechte Hand hatte eine seltsame Drehung vollführt und jetzt fühlte es sich für Cain so an, als liefe er gegen eine unsichtbare Mauer an. Langsam hob Abel den Blick und schüttelte den Kopf, Cain fest ins Gesicht blickend.

„Nie wieder, erinnerst du dich? Ich werde nie wieder so fucking hilflos sein.“ Cain runzelte die Stirn, begriff nicht ganz, was sein Auftritt von vor einer Stunde mit der jetzigen Situation zu tun hatte. „Dein Arm ist gebrochen, Alter, jetzt lass mich helfen.“

„Nein.“ Und statt näher zu kommen, wurde Cain von der unsichtbaren Mauer noch ein Stück weiter fortgeschoben. „Ich kann das. Also.lass.mich.das.alleine.machen.“

Cains Herz blieb für einen Moment stehen. Ein seltsames Gefühl breitete sich in seiner Brust aus und obwohl er bereits zur Wiederrede ansetzte – Blödsinn, alleine, er musste hier gar nichts alleine schaffen – ließ er locker und beugte sich, zum ersten Mal seit Merlin scheißen konnte, dem Willen seines kleinen Bruders. Dessen fiebriger Blick hing nicht mehr an ihm und Cain gab es nicht zu, doch er war erleichtert, dass die stechenden Augen sich endlich einem anderen Ziel widmeten.

Mit zitternden Fingern fuhr Abel den Bruch nach und sog scharf die Luft ein – alleine zuschauen tat weh und Cain runzelte die Stirn, bereit, einzugreifen.

Sanftes grünes Licht folgte auf leise gewisperte Worte, die Cain nicht verstand und überrascht hob er die Augenbrauen. Zauberte Abel gerade ohne Zauberstab? Also, vermutlich hatte er das auch schon zuvor getan, wenn er recht über diese komische Mauer nachdachte, die verhindert hatte, dass er sich ihm näherte . . . aber das hier war noch mal ein ganz anderes Level.

Er konnte hören, wie Knochen knirschten und sich bewegten und verzog angeekelt das Gesicht. Ein weiteres scharfes Knacken ertönte und Abel atmete tief aus . . . ehe er zusammenbrach.

Sofort war Cain an seiner Seite, fing ihn auf, bevor er zu Boden ging und hob beide Augenbrauen, spöttisch grinsend. „Ach, und das war jetzt so viel besser, als mich einfach machen zu lassen, huh?“

„… Du hättest mir nur noch den anderen Arm gebrochen“, war die schwache Antwort und beide grinsten einander an. Plötzlich wurde Abel jedoch ernst und griff nach Cains Nacken, sein Gesicht nahe an seins ziehend. „Ich will nicht mehr zurück. Nie wieder. Lass uns weglaufen und nicht mehr zurückgehen.“

Verwirrung zeichnete sich auf Cains Gesicht ab – was war heute nur passiert? – doch wer war er, seinem Bruder einen Wunsch auszuschlagen? Sanft legte er auch seine Hand in den Nacken seines Bruders und lächelte leise. „Klar. Aber jetzt schlaf erstmal.“

Und wie auf Befehl sackte der Kopf des Jüngeren zur Seite und er gab sich der Erschöpfung hin.

Alles, was von diesem Tag blieb, war ein gebrochener Arm und das Versprechen seines Bruders, das ihn anzuspornen und in Vertrautheit zu hüllen wusste.
 

Akt III

Cain knurrte genervt und warf sich die schwarze Haarpracht zurück – wenn Blicke töten könnten, wäre der arme Angestellte des Bücherladens gerade tot umgefallen. „Warum musste ich noch gleich mitkommen?“ Abel drehte sich unbekümmert zu seinem Bruder um und hob beide Augenbrauen, sich schließlich aber sofort wieder den Biografien zuwendend.

„Musstest du nicht. Aber ich wollte dich gerne dabeihaben“, erwiderte er ruhig, ignorierte das neuerliche Stöhnen Cains und zog ein weiteres Buch aus dem Regal, interessiert den Einband studierend. „Dann kann ich ja abhauen. Tschöh.“

Ohne hinzusehen schnappte Abel nach dem Kragen seines Bruders und hielt ihn damit davon ab, zu türmen. „Nein. Wir suchen immerhin ein Geschenk für deinen Kumpel, nicht für meinen.“

„Als ob der lesen würde …“

„Schließ nicht immer von dir auf andere.“

„Du kleiner..!“

Abel hielt sich selbst den Zeigefinger vor die verschmitzt grinsenden Lippen. „Pscht, Cain. Du willst doch nicht wieder Ärger machen, oder?“

„Ich geb dir gleich Ärger, du Zecke!“

„Heb dir das wenigstens bis zu Hause auf, okay?“

„Du bist so ein Idiot! Als ob ich das mal eben – klick – und ausstellen könnte!“

„Solltest du aber echt lernen … Hier.“ Und damit drückte Abel seinem Bruder eine Biografie von Mohammed Ali in die Hand. „Wer…?“

„Einer der berühmtesten Boxer der Weltgeschichte. Bei Merlin, Cain.“

„Das meinte ich doch gar nicht!“

„Ach nein?“

„Nein!“

„Ich wette, du meintest es genau so, wie du es gesagt hast: wer? Und damit hast du mal wieder bewiesen, warum du genau hier versackt bist.“

„Alter, manches Mal würde ich echt gerne vergessen, dass du mein Bruder bist und dir einfach den Arsch aufreißen.“

„Versuchs doch.“

Ah, das hätte er nicht sagen sollen – während sie den gesamten Weg zur Kasse, beim Bezahlen und auf dem Weg aus dem Laden gestritten hatten, vernahm Abel nun ein Grollen hinter sich, sobald er die fraglichen Worte ausgesprochen hatte.

„Du willst also wirklich, dass ich dir den Arsch versohle, eh, Abel?“ Die Stimmlage seines Bruders ließ nichts Gutes erahnen und mit der Einkaufstüte in der Hand hob Abel abwehrend die Hände, ein vorsichtiges Lächeln auf den Lippen. „Cain, so war das doch gar nicht ..“

„Lauf.“

Und das ließ der jüngere der beiden Brüder sich sicherlich kein zweites Mal sagen. Schnell wie ein Gepard schoss er los und um die nächste Ecke, schlängelte sich geschickt durch die Menschen hindurch, immer wieder einen panischen Blick über die Schulter werfend.

Cain war ihm dicht auf den Fersen. Obwohl er immer schneller gewesen war als sein großer Bruder, war es der tiefe Ärger, die rauschende Wut, die Cain vorantrieb und zu neuen Höhen auflaufen ließ.

Abels Atem rasselte bereits, als er durch die Schiebetüren der Mall brach.

Geschickt wich er auch hier den Menschen aus, ignorierte die geschockten Blicke und die fragenden Ausrufe und wusste genau wohin er laufen würde. Seine Brust zog bereits unangenehm und als er in den Klamottenladen stolperte, verschmolz er mit den Ständern und Aufstellern, heftig atmend, ehe er – einige Kleidungsstücke über dem Arm – in einer der Kabinen abtauchte.

Heftig atmend kolabierte er auf der Bank. „Scheiße …“

„Jah, scheiße!“

Cain quetschte sich zu ihm in die Kabine, eine Hand bereits an seinem Kragen, doch bevor er sein Versprechen in die Tat umsetzen konnte, donnerte ihm Abel bereits einen Hut auf den Kopf.

„Halt mal kurz. Hier“, schnappte Abel ihm entgegen und weil die Verwirrung, das Interesse größer war als das Verlangen, seinen kleinen Bruder zu vermöbeln, ließ Cain sich willig eines der übergroßen Shirts über den Kopf ziehen. Die langen Finger Abels, die ganz genau wussten, was sie taten, entfernten das Etikett und die Sicherung ohne große Probleme und er warf seinem Bruder ein schiefes Grinsen zu. „Hab mir schon gedacht, dass dich das beruhigen würde“, neckte er ihn und Cain verengte die Augen, ehe er ihm eine Kopfnuss verpasste. „Autsch.“ Hatte er verdient, wie Abel feststellte, und sich über den schmerzenden Kopf rieb. „Hier. Probier die mal an.“ Und damit reichte er Cain noch eine der Jeanshosen, die er im Vorbeigehen entdeckt hatte – so wahllos war seine Auswahl nicht gewesen und zufrieden begutachtete er sein Werk. Er nickte. „Steht dir.“

„Tche, glaubst du, das macht es wieder besser?“, keifte Cain und Abel schüttelte den Kopf. „Der Juwelier. Was immer du willst.“

„… Deal.“

Die alten Klamotten ließen sie einfach zurück, nachdem Abel seine Magie gewirkt hatte und verließen den Klamottenladen leger durch die Vordertür. Sie schlenderten durch die große Mall, kauften von ihrem Lieblingssmoothiestand zwei Getränke und Abel sorgte dafür, dass das Geld direkt wieder in ihre Tasche schwebte, als die Kasse aufploppte. Ihre Wege führten sie plaudernd zum besagten Juwelier und Cain blieb stehen, die dunklen Augen huschten über die vielen Diamantringe, Goldketten und Ohrringe, ehe sie an einem Anhänger kleben blieben. Bestimmt patschte der Zeigefinger an die Scheibe – „der da“ – und Abel begann sich zu konzentrieren. Sanft spielte er mit den Fingern, drehte sie in die eine, dann in die andere Richtung, wisperte leise Zaubersprüche und die Glasscheibe verschwand. Sie wussten von früheren Raubzügen, dass der Juwelier auf sein Panzerglas vertraute und im Schaufenster nur an bestimmten Orten Alarmanlagen hatte – hier nicht. So war es Abel ein Leichtes, die Feder zum Schweben zu bringen und in seine Hand gleiten zu lassen. Sekundenbruchteile später, war alles wie gehabt.

„Hier. Und jetzt hör auf zu schmollen, Baby“, grinste Abel Cain entgegen und fing sich gleich die nächste Kopfnuss, die jedoch eher guttat, als dass sie wehtat. Sie lachten gemeinsam und gönnte sich auf dem Weg nach Hause noch eine der furchtbar fettigen Pizzen – dieses Mal ließen sie das Geld in der Kasse.
 

AKT IV

„Mmmmmmh. Gut machst du das, Japonica…“

Abel lächelte devot, dankbar vielleicht und lehnte sich weiter vor. „Wenn du dich gut anstellst, können wir das im Privaten weiterführen“, raunte er seinem Gast lasziv entgegen und lockte ihn mit dem Zeigefinger zum Aufstehen. Willig folgte der Mann seiner Geste, stand auf und war Wachs in seinen Bewegungen. Abel vollführte eine verführerische Drehung mit der Hüfte, bemerkte, wie die Augen des Mannes an ihm klebten, wand sich im Kreis, spielte mit den Erwartungen, die Jacke glitt über die Schultern, entblößte die muskulösen Schultern und den entzückenden Rücken. Er hörte das ergebene Raunen, wich den lechzenden Fingern jedoch aus und zwinkerte dem Mann stattdessen zu, ließ die Hüften kreisen und leckte sich über die Lippen.

„Ich sagte doch: wenn du dich gut anstellst…“

Fahrig fingerte der Mann seinen Geldbeutel hervor und Abel nahm den Obolus entgegen, die Fingerspitzen einen Moment länger als nötig auf der großen Hand des Mannes. Entschlossen umfassten die Finger das breite Handgelenk und ohne weiter zu zögern, führte Abel seinen Gast in den privaten Bereich, wo er ihn auf einen der ausladenden Stühle verfrachtete.

„Du hast zwei Möglichkeiten“, offenbarte Abel ihm mit rauer Stimme, die Tür hinter ihnen schließend. „Erstens“, der schlanke Zeigefinger reckte sich zu den Lippen des Mannes empor, doch Abel erlaubte nicht, dass er sie auch berührte, „ich tanze und du guckst zu. Gleicher Preis.“ Der Mittelfinger gesellte sich zum Zeigefinger und mit sanftem Druck legte er sie auf die Lippen des Mannes, sich sanft vorlehnend. „Zweitens: wir tanzen gemeinsam. Doppelter Preis. Deine Entscheidung.“

Der Rest der gebuchten Zeit war nur eine verschwommene Erinnerung an Grunzen und Stöhnen, gespielte Orgasmen und geheuchelte Liebesversprechungen – was immer seinen Gast auch anturnte und den Preis damit in die Höhe trieb. Und nicht nur den Preis…
 

Zufrieden mit sich räkelte Abel sich in den eigenen Laken, nachdem die Nacht wieder ein bisschen länger gewesen war. Er hörte, wie die Tür ins Schloss fiel und schaute um die Ecke.

„Cain?“

„Uh? Noch wach?“

„Mmhm.“

Sein Bruder füllte den Türrahmen beinahe komplett aus und Abel grinste ihm entgegen. „Miete ist gesichert. Du brauchst nicht zu kämpfen nächste Woche.“

Kurz zuckte Ärger über die Züge seines Bruders und der Triumph, den Abel eben noch verspürt hatte, versiegte sofort. Warum freute er sich nicht darüber? Hatte er wirklich so sehr das Gefühl, sie alleine ernähren zu müssen? Oder hatte er einfach Spaß dabei, sich vermöbeln zu lassen? Abel verzog das Gesicht und verschränkte die Arme, im Schneidersitz auf dem Bett sitzend.

„Die Wetten sind schon gesetzt. Es gibt kein Zurück.“

„Es gibt immer ein Zurück…“

„Pft, ich bin kein Feigling und ich werde kämpfen, ob es dir passt oder nicht, Memme.“

Abel runzelte die Stirn. Memme? Wirklich? Aber er hatte keine Energie mehr übrig um mit Cain zu streiten, also wischte er durch die Luft und brummte nur: „Mach dir Tür hinter dir zu.“
 

AKT V

Angespannt blickte Abel die Stockwerke herab. Das Gebrüll der Meute wehte zu ihm herauf und der Geschmack von Schweiß und Blut schmeckten auf seiner Zunge. Er war seit Jahren nicht mehr hier gewesen und er wollte sich auch nicht mehr an das letzte Mal erinnern. Cain hatte den Boden mit ihm aufgewischt und gleichzeitig war es der Beginn ihrer zweisamen Einsamkeit gewesen. Sanft fuhr er das Tattoo hinter dem rechten Ohr nach, das er sich vor einigen Jahren nach einem ihrer Raubzüge hatte stechen lassen – als Erinnerung daran, dass nichts je unmöglich war und dass er immer einen Weg finden würde, seinen Bruder zufriedenzustellen. Jah, das war sein Gedankengang damals gewesen und auch heute war es eines seiner stärksten Motive; aber Cain würde davon nie etwas erfahren, nicht einmal auf seinem Totenbett! Er wusste es doch eh schon längst.

Eben jene Stelle hinter seinem rechten Ohr hatte nicht aufgehört zu kribbeln – Cain kämpfte wieder. Schon wieder – obwohl er das gar nicht mehr nötig hätte. Es gefiel Abel nicht, hatte es noch nie. Er brachte sich unnötig in Gefahr, brannte einem Teilnehmer doch durchaus hin und wieder eine Sicherung durch. So war es nicht verwunderlich, dass Abel öfter anwesend war, als Cain wusste. Um ihn zusammenzuflicken, sollte es nötig sein. Bislang war nie etwas passiert, was Cain nicht selbst hätte heilen können oder was nicht von allein geheilt wäre…

„Willst du nur hier rumstehen und glotzen, Motherfucker, oder geht’s für dich runter?“, ertönte eine Stimme hinter ihm und Abel schaute zu dem Mann, der sich mit schlechtem Atem und meine-Eier-sind-dicker-als-deine-Manier an ihm vorbeidrängelte. Ein feines Seufzen entfuhr ihm, dann hielt er den Fremden am Ellenbogen auf, einen unschuldigen Blick aufsetzend. „I-Ich habe einfach nur Angst . . . würdest du mich begleiten…?“ Und natürlich sagte der Fremde nicht nein, grunzte nur sowas wie „bin der beste Schutz überhaupt, Babyboy“ und begleitete ihn die Treppen hinab. Abel spielte seine Rolle, doch innerlich machte er sich aufs Schlimmste gefasst – wie immer. Er erwartete jedes Mal, seinen Bruder halbtot aufzufinden … scheiße, verstand Cain denn nicht, wie viel Angst er ihm mit diesen Kämpfen machte?! Natürlich vertraute er ihm blind … und auch seinen Fähigkeiten, das stand vollkommen außer Frage. Viele Gegner waren Cain nicht gewachsen und er machte sie dem Erdboden gleich. Aber nicht jeder spielte fair… Und jemand wie Abel wusste genau das nur allzu gut, spielte er doch selbst nicht immer fair. Mit seinen Fähigkeiten auch einfach nicht möglich.

Unten angekommen bedankte er sich artig mit einer Verbeugung – das erwartete man doch von einem Japaner, oder? – und beeilte sich, seinen Bruder ausfindig zu machen.

Er fand Cain in einer abgelegenen Ecke, umzingelt von Typen, in deren Händen Metall blitzte. Jackson lag bereits auf dem Boden, atmend, aber blutend und nur Cain schien es zu verdanken, dass sie überhaupt noch lebten. Zwei Typen lagen bewusstlos auf dem Boden und Cain fletschte die Zähne, spuckte Blut zwischen ihn und die Angreifer, einen derben Fluch auf den Lippen, der es nicht bis zu Abel schaffte.

Sein Herz blieb stehen. Genau vor einer solchen Situation hatte er ihn immer gewarnt, immer zu beschützen versucht.

Die Typen gingen zum Angriff über und Abel riss die Augen auf. Sein rechter Arm schnellte zur Seite und eine Eisenstange kam schwer und kalt in seiner Hand zum Liegen. „EY! ARSCHLÖCHER!“ Die Typen hielten in der Bewegung inne und drehten sich langsam zu Abel um – nur kurz flackerten die dunklen Augen zu Cain, dann fixierte er die vier Angreifer. Zwei hatten Messer, einer eine seltsame Nagelkeule und der letzte schien einfach nur seine riesigen Hände als Mordwaffe zu benutzen. In einer Hand hielt er das Buch, das Abel vor so vielen Jahren für Jackson zum Geburtstag ausgesucht hatte und milde Wut durchzuckte ihn. Er konnte Jackson nicht leiden und wann immer er ihn mit der Biografie gesehen hatte, hatte ihn Genugtuung durchströmt – immerhin hatte Jackson nicht ahnen können, dass er das Buch ausgesucht hatte, richtig?

Doch jetzt zuckte diese milde Wut durch ihn hindurch, zupfte an seiner Abneigung für Monroe Jackson, rüttelte an seiner Sorge um Cain und manifestierte sich in einem wilden Blick, den er für die vier Typen übrighatte. „Die beiden gehören zu mir. Also wehe, ihr fasst sie noch einmal an“, grollte er und legte absichtlich eine tiefere Tonlage an den Tag. Doch die Typen waren entweder high, oder dämlich – oder beides – denn sie schienen die vielen Metallstücke, die um Abel herum zu schweben begonnen hatten, nicht mitzubekommen. Stattdessen brachen einige von ihnen in Gelächter aus – der mit den großen Händen wandte sich wieder Cain zu, der die Situation nicht hatte ausnutzen können, da er sich die blutende Seite hielt.

Abel grollte.

Und als der erste Typ sich bewegte, ruckte seine Schulter nach vorne. Ihr folgten Metallstücke verschiedener Größen, die sich in den Typen mit der Keule hineinbohrten. Brust, Hals, Oberarm – die Arterien hatte Abel verschont. Er war nicht hier um zu töten, sondern um ein Exempel zu statuieren.

Die beiden Messertypen hielten verdutzt inne, als ihr Kumpel kreischend wie ein kleines Mädchen zu Boden ging.

Abel wischte sich das fremde Blut aus dem Gesicht, das bis zu ihm gespritzt war. Langsam blickte er zu den beiden Messertypen, die Eisenstange fest in der Hand. „Ich sagte: wehe, ihr fasst sie noch einmal an!“ Magisch verstärkt klang seine Stimme wie die eines Drachen, doch im Fightclub gab es keine Feiglinge, nur Männer ohne Perspektiven oder Idioten wie Cain und Jackson. Also brüllten die beiden Messertypen laute Beschimpfungen und stürzten auf ihn zu.

Dem ersten wich Abel mühelos aus, versetzte ihm einen Tritt und tänzelte zur Seite, um auch dem zweiten auszuweichen. Die Eisenstange sauste mit einer Geschwindigkeit auf den Größeren der beiden herab, die man dem schmächtigen Abel nicht zugetraut hätte – auch hier half die Magie, die Abels rechte Hand bläulich schimmern ließ.

„Ihr – fasst – meinen – Bruder – nicht – noch – einmal – an!“

Jedes Wort unterstrich er mit einem Schlag mit der Eisenstange und erst, als seine Message klar und deutlich angekommen war, warf er das Metall von sich. Sein Atem rasselte. Er erkannte sich selbst kaum wieder – er wollte diese Typen dafür töten, dass sie Cain verletzt hatten…!

„ABEL!“

Abel wirbelte auf seinen Namen herum und sah Cain, der sich um den Typen mit den großen Händen gekümmert hatte, neben Jackson auf dem Boden hocken – Panik auf den blassen Zügen und alleine der Anblick reichte, um die Angreifer absolut zu vergessen.

Schnell war er an seiner Seite, folgte dem Deuten und hielt den Zeigefinger unter Jacksons Nase. „Er atmet noch…“

„Aber er hat … er ist …“

Abel blickte zu seinem Bruder und legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Ich mach das. Sieh du nur zu, dass sie mich nicht überraschen, okay?“ Er grinste und nickte auf die Typen, die sich langsam wieder aufrappelten. Er hatte gesehen, dass Cain verletzt war, dass auch er viel Blut verloren hatte, doch er kannte seinen Bruder, wusste, wozu er fähig war. Und auch, wenn er nicht eingegriffen hätte, hätte er diesen Typen einen ordentlichen Kampf geliefert . . . vielleicht wäre er dran verreckt, sehr wahrscheinlich sogar, aber er hätte noch einen oder zwei von ihnen mitgenommen, so viel stand fest.

Und während Abels Auftritt wenig Eindruck auf die Angreifer gemacht hatte, so hatte Cain scheinbar einen größeren hinterlassen, denn ein Blick und ein tiefer Schrei seinerseits reichten, dass die bei Bewusstsein befindlichen Kerle einander auf die Füße halfen und die Beine in die Hand nahmen.

Abel wandte sich von dem Spektakel ab, wissend, dass Cain ihm den Rücken freihalten würde.

Er drehte Jackson auf den Rücken, begutachtete leidenschaftslos die Schnittwunden, die mal oberflächlich, mal tiefer am Oberkörper zu sehen waren und entfernte das Oberteil schließlich kurzerhand ganz. „Hm“, staunte er leise und heimlich – das würde er Jackson natürlich niemals unter die Nase reiben! Aber dennoch: beachtlicher Körperbau.

Geschickt fuhren die langen Finger über den geschändeten Körper. Abel flüsterte die leisen Heilworte, sorgte dafür, dass Sehnen und Muskeln sich zusammenfügten, Blutbahnen wieder zusammenfanden und Schnitte sich langsam, aber sicher schlossen. Je länger er fortfuhr, desto schwummeriger wurde ihm – er spürte, wie die Kräfte ihn verließen. Zu viel Zauberei, zu wenig Schlaf, zu viele Sorgen . . . aber Cain verließ sich auf ihn! Also machte er weiter, schloss auch den letzten Schnitt und atmete erleichtert aus, als langsam wieder Farbe in die blassen Wangen Jacksons trat.

„Cain…“

Sein Bruder kam zu ihm und Abel nickte neben sich auf den Boden, zu erschöpft, um seinen Gedanken anders Ausdruck zu verleihen. Ungefragt fanden seine zitternden Finger den Kragen des Oberteils.

„Vergiss es. Du bist zu fertig.“

„Niemals“, erwiderte Abel ruhig, fixierte die nächste Aufgabe und half Cain umständlich aus dem blutverschmierten Oberteil. Sie mussten langsam und vorsichtig arbeiten – jede Bewegung zu viel führte zu neuerlichem Blutverlust und erschöpfte Abel nur noch mehr. „…Niemals wieder hilflos, weißt du noch?“

„Hm.“ Das zustimmende Brummen Cains war wie eine laue Sommerbriese nach einem viel zu heißen Tag und Abel grinste ihn schief an, während das vertraute grüne Glimmen bereits die ersten Blutungen stoppte. „Scheiße noch eins, Cain, ruf mich das nächste Mal gefälligst früher.“ Die dunklen Augen flatterten zu dem Federanhänger, der vertraut über der Brust seines Bruders lag und wieder kribbelte das Tattoo hinter dem Ohr sanft, wie eine Erinnerung an bessere, leichtere Tage.

„… Mein Fehler. Habs falsch eingeschätzt.“

Überrascht schaute Abel zu Cain und spürte, wie ihm diese Worte die Kehle zuschnürten. Er öffnete den plötzlich trockenen Mund und seine Sicht verschwamm. Nie wieder heulen, nie wieder heulen – ach, scheiß doch der Hund drauf!

Ohne auf seine Erschöpfung oder Cains Wunden zu achten, zog er Cain in eine unbarmherzige Umarmung und versteckte die feuchten Augen an der breiten Schulter, den vertrauten Geruch einatmend. „Du hast es versprochen, Abel, keine Tränen mehr.“

„Dann hör auf, so ein verdammter Idiot zu sein und lass mich dir endlich helfen.“

„… Okay.“

„Versprochen?“

„… … Versprochen.“

Und das war mehr wert als jedes ich liebe dich auf dem gesamten Planeten.

El Camino

Wie hatte es nur dazu kommen können?

Laurin fuhr sich durch die zerwühlten Haare und schaute neben sich. Die schlafende Gestalt in den Laken bildete sich deutlich ab; die Decke war etwas verrutscht und eine nackte Schulter führte den Blick herab über die entblößte Wirbelsäule hin bis zum halb bedeckten Hintern.

Sein Mund wurde trocken und er wusste nicht, ob es aufgrund von prickelndem Verlangen, das sofort in südliche Gefilde rutschte, oder aufgrund von Abscheu sich selbst gegenüber war.

Ohne, dass er aktiv etwas dagegen hätte tun können, beugte er sich zur Schulter herab und flügelzart benetzten Lippen die noch immer erhitzte Haut. Ein Schauer ging durch den fremden Körper; Genugtuung kitzelte in seinem Inneren, als er die Gänsehaut auf der von der Sonne geküssten Haut bemerkte und weiche Fingerkuppen fuhren sie nach, erkundeten die Wirbelsäule, ehe verlangende Zähne sich in das weiche Fleisch der Schulter gruben.

Was tat er hier nur?

Ein tiefes Brummen war Lohn für seine Bemühung. Der Schlaf zerfiel und noch musste er einfach im Land der Träume sein, denn seine Arme verschränkten sich in Laurins Nacken, zogen ihn nahe an sich und automatisch fanden ihre Lippen einander. Sie machten sich nichts aus dem schalen Morgengeschmack – nichts aus dem Nachgeschmack von Alkohol und viel zu wenig Schlaf – nichts aus den Schmerzen, die jede einzige Berührung auslöste.

Laurin verzehrte sich nach ihm.

Und er gab sich diesem Gefühl hin, wissend, dass es sein Ende sein würde. Doch was machte das noch für einen Unterschied? Ein Teil von ihm war vor Monaten gestorben und würde nicht mehr zurückkehren; sein Leben als ‚Mensch‘ war beendet. Er war jetzt ein Monster.

Und dieses Monster wollte ihn mit Haut und Haaren fressen, ihn nie wieder aus den Fängen freilassen, ihn nie wieder hergeben.
 

Wie hatte es nur dazu kommen können?
 

Das verdammte Dachkonzert war schuld gewesen, keine Frage. Aber auch nach dem beinahe unschuldigen Flirt, den paar Drinks und einem Abend, der in einem Wirbelsturm aus Gefühlen geendet hatte, hätte Laurin einen Haken hinter all das machen können, machen sollen.

Es war ein netter Abend gewesen und Albie eine nette Ablenkung. Ablenkung von dem, zu was er geworden war – nicht freiwillig – und von dem Verlangen im Inneren nach Eskalation, nach Wahnsinn … …

Doch obwohl er zuvor selten das Gefühl gehabt hatte auf seine One Night Stand zurückgreifen zu müssen … … hatte er Albies Nummer am Ende der ersten Woche, nachdem sie die Nacht miteinander verbracht hatten, doch gewählt. Nervöser als gut für ihn war, unsicherer als er es selbst von sich gewohnt war.
 


 

❧ ♪ ❧ ♪ ❧ ♪ ❧ ♪ ❧ ♪ ❧ ♪ ❧ ♪ ❧ ♪
 

„Hei.“

„Ah… hei.“

Albies Stimme war leise, verschwörerisch beinahe, und Laurin bekam sofort das Gefühl zu stören. Ein geheimes Drängen lag in der Stimme des Sängers, etwas, das Laurin nur zu gut kannte und Übelkeit breitete sich in ihm aus, gepaart mit sachter Wut, die pochend und drängend hochkochen wollte.

Doch noch konnte er sie im Zaum halten.

„Morgen steigt eine Party im alten Ratskeller…“

„Achso?“

Laurin spürte abermals die Ablehnung des anderen, der ihn mit jeder Faser seines Seins abzustoßen versuchte. Er ballte die freie Hand zur Faust und starrte an die Zimmerdecke, bemüht um eine möglichst gleichgültige Stimme. Warum gab er sich eigentlich Mühe? Es war nur eine Nacht gewesen …

„Vielleicht sieht man sich da ja?“

Kurze Stille voller Anspannung, voller ‚neins‘ und ‚wiesos‘ und Laurin wusste nicht, was davon ihm weniger gefallen wollte. Der endgültige ‚Korb‘, wenn man es denn so nennen wollte? Oder die Nachfrage, weshalb man sich überhaupt wiedersehen sollte? Er presste die Lippen aufeinander und spürte, wie das Spielzeug des verdammten Köters seines besten Freundes in der geballten Faust unter einem erbärmlichen ‚zwwwwwiiiiiiii‘ seinen Geist aufgab.

„Hm. Vielleicht.“

Die Stimme Albies war kaum zu hören und Laurin runzelte die Stirn. Hatte er keinen Bock? Wollte er nichts von ihm wissen? Was hatte er für ein Problem? Und am liebsten hätte er genau das auch gefragt, doch etwas hielt ihn davon ab und stattdessen hörte er sich selbst tonlos „cool“ sagen, ehe er ohne Abschiedsworte auflegte.

Langsam legte er den Unterarm über die erhitzte Stirn. Sein Blut kochte, brodelte – es war kurz vor Vollmond, wie ihm mit Abscheu und Übelkeit bewusstwurde. Ein Keuchen entfloh ihm und vielleicht war das alles nur die Schuld dieses verfluchten Himmelskörpers, der seit wenigen Monaten viel zu viel Macht über ihn hatte … … dass er sich wie eine Pussy verhielt … … und gleichzeitig zu diesem Gedankengang entfloh ihm ein tiefes Grollen, geboren aus Frustration und dem Hass auf sich selbst und auf das wozu er geworden war.
 


 

❧ ♪ ❧ ♪ ❧ ♪ ❧ ♪ ❧ ♪ ❧ ♪ ❧ ♪ ❧ ♪

𝐼 𝑠𝑡𝑖𝑙𝑙 𝑝𝑟𝑒𝑠𝑠 𝑦𝑜𝑢𝑟 𝑙𝑒𝑡𝑡𝑒𝑟𝑠 𝑡𝑜 𝑚𝑦 𝑙𝑖𝑝𝑠

𝐴𝑛𝑑 𝑐ℎ𝑒𝑟𝑖𝑠ℎ 𝑡ℎ𝑒𝑚 𝑖𝑛 𝑝𝑎𝑟𝑡𝑠 𝑜𝑓 𝑚𝑒 𝑡ℎ𝑎𝑡 𝑠𝑎𝑣𝑜𝑟 𝑒𝑣𝑒𝑟𝑦 𝑘𝑖𝑠𝑠
 

„Verpiss dich endlich. Ich will nichts von dir!“

Und Stunden später flatterte ein Brief durchs offene Fenster:

‚Es tut mir leid. Sei nicht mehr sauer. Du weißt, ich habe es nicht so gemeint.‘
 

Der Brief roch nach seinem Aftershave und nach Bitterkeit. Wütend knüllte er das Stück Papier zusammen, brüllte, warf es an die Wand und brach aus der Wohnung aus, rannte und rannte und rannte und irgendwann sah er sich auf dem Dach wieder, auf dem sie sich zum ersten Mal begegnet waren.

Wie bescheuert konnte man eigentlich sein?!

Er hatte nichts für dieses Arschloch übrig, NICHTS. Er konnte ihn mal sowas von kreuzweise und nur, weil er mit seiner Zunge ganz annehmbar umgehen konnte hieß das noch lange nicht, dass er … dass er …

Lo sank schwer atmend auf die Knie und lehnte den viel zu schweren Kopf gegen die Wand. Es war niemand hier, natürlich nicht. Die Location war noch geschlossen. Kein Hindernis für ihn, offensichtlich.

Der Wind tat gut, kalt und schneidend wie er war, und der vom Alkohol noch schwere Kopf wurde leichter, immer leichter und schließlich gewann die Übelkeit, die Karussell in seinem Magen gefahren war.

Minuten später rollten Fluch und Knurren gleichermaßen über seine Lippen.

„Verfluchter Bastard.“

Er spielte hier mit ihm – heiß und dann wieder kalt. Einerseits wollte er ihn nicht – stieß ihn weit von sich mit aller Gewalt, zu der er fähig war. Andrerseits hielt er ihn mit flehenden Händen fest und fraß ihn mit Blicken auf.

Was sollte er daraus machen? Wie sollte er darauf reagieren?

Und warum – bei allen verfluchten Houdinis – löschten sie DAS nicht aus seinem Gedächtnis?!
 


 

❧ ♪ ❧ ♪ ❧ ♪ ❧ ♪ ❧ ♪ ❧ ♪ ❧ ♪ ❧ ♪

𝑆𝑜 𝑏𝑟𝑒𝑎𝑘 𝑦𝑜𝑢𝑟𝑠𝑒𝑙𝑓 𝑎𝑔𝑎𝑖𝑛𝑠𝑡 𝑚𝑦 𝑠𝑡𝑜𝑛𝑒𝑠

𝐴𝑛𝑑 𝑠𝑝𝑖𝑡 𝑦𝑜𝑢𝑟 𝑝𝑖𝑡𝑦 𝑖𝑛 𝑚𝑦 𝑠𝑜𝑢𝑙
 

„Ich brauche dein verdammtes Mitleid nicht!“

„Darum geht es hier doch gar nicht.“

„Weißt du was, Al? Fick dich selbst!“

„Lo. LO! Bleib stehen!“ Eine feste Hand umfasste sein Handgelenk und trotz all seiner monströsen Stärke fehlte ihm diese, um sich loszureißen. Der wilde Blick, den er über die Schulter zum Musiker warf, ließ diesen zusammenzucken, doch nicht loslassen. Schon wieder … flehende Hände, die ihn festzuhalten gedachten. Er grollte.

„Ich sagte doch, dass es darum nicht geht. Komm schon. Lass uns bitte …“

Wütend fuhr Laurin ihm über den Mund: „Halt die Klappe.“ Und endlich hatte er die Kraft sich loszureißen. Albie zuckte zusammen, definitiv vor Schmerz und Laurin knurrte mit tiefer Stimme: „Was? Reden? Weil das irgendwann mal irgendetwas gebracht hätte? Ich will nichts von dir hören. Gar nichts.“
 


 

𝑌𝑜𝑢 𝑛𝑒𝑣𝑒𝑟 𝑛𝑒𝑒𝑑𝑒𝑑 𝑎𝑛𝑦 ℎ𝑒𝑙𝑝

𝑌𝑜𝑢 𝑠𝑜𝑙𝑑 𝑚𝑒 𝑜𝑢𝑡 𝑡𝑜 𝑠𝑎𝑣𝑒 𝑦𝑜𝑢𝑟𝑠𝑒𝑙𝑓
 

Vor den Augen des Sängers zerriss Laurin das Bild, das sie vor einigen Tagen mit der Polaroidkamera gemacht hatten – irgendwo an den Klippen im Norden hatten sie für das Foto angehalten. Wo genau war vollkommen egal gewesen … … und allein dieses Eingeständnis war schon genug, um abermals die bekannte Übelkeit in Laurin zu wecken.

All das … es war eine Farce.

Albie wollte ihn nicht, hatte ihn nie gewollt, spielte mit ihm.

Stechende Augen bohrten sich in Albies funkelnde und Laurin fluchte leise. Dann schleuderte er die Fetzen weg. „Du hast selbst gesagt, dass da nichts ist.“

„Laurin…“

„Und jetzt fang nicht damit an, mir wieder Honig ums Maul zu schmieren!“

„Das tue ich doch gar nicht. Wenn du mir auch nur eine Minute zuhören würdest-“
 


 

𝐴𝑛𝑔𝑒𝑙𝑠 𝑙𝑖𝑒 𝑡𝑜 𝑘𝑒𝑒𝑝 𝑐𝑜𝑛𝑡𝑟𝑜𝑙

𝑂𝑜ℎ, 𝑚𝑦 𝑙𝑜𝑣𝑒 𝑤𝑎𝑠 𝑝𝑢𝑛𝑖𝑠ℎ𝑒𝑑 𝑙𝑜𝑛𝑔 𝑎𝑔𝑜
 

„Jede Minute mit dir ist zu viel. Du machst mich krank!“

Die Faust, die daraufhin seinen Wangenknochen traf, erschreckte sie beide. Albies Augen wurden größer und schuld spiegelte sich so klar in ihnen, dass die Wut in ihnen nebensächlich wurde. Er war erschrocken über die eigene Tat, doch … er hätte das Monster nicht angreifen sollen. Ein tiefes Knurren entwich Laurins Kehle und langsam wanderte der Blick zum Musiker, der einen Schritt zurückwich. Er hatte Angst vor ihm … gut so. Sollte er auch haben! Laurin hatte Angst vor sich selbst, davor, zu was er fähig war … … und obwohl er sich selbst versuchte davon abzuhalten, alles in und an ihm nicht wollte, dass das geschah, was unausweichlich war, stürzte sein Körper sich geleitet von tierischen Instinkten auf Albie.

In einem Wirbel aus Gliedmaßen – „Lo, nicht!“ – wilden Verwünschungen – „Ich hasse dich, du verfluchter verfickter Houdini“ – kratzenden Nägeln, geballten Fäusten und nagenden Zähnen – „Scheiße, Lo, du verdam- lass das!“ – gingen die beiden Männer zu Boden.

Getrieben von Wut und tiefer Verzweiflung – und dem verfluchten Monster in sich – presste Laurin den wesentlich muskulöseren Albie zu Boden, die Hanfgelenke mit den eigenen Händen auf den Boden gepinnt, das Knie einer Messerspitze gleich auf Albies Brust aufgestützt.
 


 

𝐼𝑓 𝑦𝑜𝑢 𝑠𝑡𝑖𝑙𝑙 𝑐𝑎𝑟𝑒 𝑑𝑜𝑛'𝑡 𝑒𝑣𝑒𝑟 𝑙𝑒𝑡 𝑚𝑒 𝑘𝑛𝑜𝑤
 

Lange Zeit verharrten sie so und stechende Augen bohrten sich erbarmungslos voller Mordgedanken in die dunklen beinahe panischen Augen. Der Atem des Musikers brandete flott von den vollen Lippen, ungehindert vom Knie auf den Lungen – automatisch glitt der Blick auf die Lippen und über Laurins Gesicht zog sich ein gequälter Ausdruck.

Verfluchter … verdammter … Houdini.
 


 

𝐼 𝑛𝑒𝑣𝑒𝑟 𝑐𝑙𝑎𝑖𝑚𝑒𝑑 𝑡𝑜 𝑏𝑒 𝑎 𝑠𝑎𝑖𝑛𝑡

𝑂𝑜ℎ, 𝑚𝑦 𝑜𝑤𝑛 𝑤𝑎𝑠 𝑏𝑎𝑛𝑖𝑠ℎ𝑒𝑑 𝑙𝑜𝑛𝑔 𝑎𝑔𝑜

𝐼𝑡 𝑡𝑜𝑜𝑘 𝑡ℎ𝑒 𝑑𝑒𝑎𝑡ℎ 𝑜𝑓 ℎ𝑜𝑝𝑒 𝑡𝑜 𝑙𝑒𝑡 𝑦𝑜𝑢 𝑔𝑜
 

Er hatte sich keine Hoffnungen gemacht … nun, nein: er hatte es nicht gewollt. Worauf auch? Er war ein Monster, es nicht mehr wert geliebt zu werden. Von niemandem. Und trotzdem … trotz des brodelnden Selbsthasses … trotz des Wissens um genau diesen Umstand … Und trotz dessen, dass Albie ihn immer wieder von sich stieß, ihn verbal und physisch wissen ließ, dass er nichts von ihm wollte … …

Warum rief er ihn mitten in der Nacht an?
 


 

❧ ♪ ❧ ♪ ❧ ♪ ❧ ♪ ❧ ♪ ❧ ♪ ❧ ♪ ❧ ♪
 

„Ich stehe vor deiner Tür.“

„Ich bin nicht zu Hause.“

„… Oh.“

„… Gib mir zehn Minuten.“

Atemlos brach Laurin um die nächste Häuserecke und wunderte sich darüber, wie schnell er plötzlich laufen konnte – und warum überhaupt? Nur, weil das Arschloch sich jetzt gemeldet hatte?

Doch tatsächlich: da stand er.

Laurin hielt mühelos mitten im Laufen inne und gewann sein Gleichgewicht augenblicklich wieder. Mit selbstsicheren Schritten ging er auf den Musiker zu, der so leger gegen die Wand neben seiner Wohnungstür lehnte. Die dunklen Augen Laurins fingen seinen Blick sofort ein – ein heimliches Funkeln lag in ihnen. Unbewusst beschleunigte er seinen Gang und mit jedem federnden Schritt pochte sein Herz schneller, lauter. Ein Nebeneffekt des Sprints, eindeutig.

Er machte sich nicht die Mühe nachzufragen warum Albie hier war. Und es war ihm im Endeffekt auch egal. Er hielt nicht inne, fing das kantige Gesicht des Älteren ungefragt mit langen Fingern ein und zog es zu sich. Das überraschte „Lo?“ des Musikers wurde sofort im Keim erstickt und hungrige Lippen fanden einander. Albie versteifte sich blitzartig und Laurin wurde bewusst, dass es einmal mehr die Öffentlichkeit war, die ihn verunsicherte.

„Schon okay“, nuschelte er gegen die vollen Lippen, doch Albie entspannte sich nicht. Bestimmende Finger vergruben sich in dessen Haaren, zogen ihn tiefer in den Kuss, ließen ihm keine Wahl, als das Knie sich zwischen seine Beine schob und ein überraschtes Keuchen an Laurins Lippen brandete. Musikerhände versuchten, sich zwischen ihre verschlungenen Körper zu kämpfen und als das nicht funktionierte, weil Laurin keinen Zentimeter Platz machte, versuchte er mit einem beherzten Griff in dessen Haare seinen Kopf zurückzuziehen. Der sanfte Schmerz hatte nur zur Folge, dass Laurin angeregt auf die fremden Lippen biss und sich noch näher drängte. „Lass…lass das“, hörte er schwache Worte und Laurin brummte unzufrieden.

„Deswegen bist du doch hier.“

„N-Nein…“

Laurin ließ die Lippen frei, nur um die spitzen Zähne im entblößten Hals des Älteren zu vergraben. Albie versuchte verzweifelt, ihn von sich zu stoßen, doch keine Naturgewalt hätte ihn nun von ihm gerissen.

„Du bist ein schlechter Lügner. Es sieht dich niemand.“

Laurin fing das Gesicht Albies ein und drängende Augen legten sich in ihre unsicheren Spiegel. „Außer mir.“ Ein weicher Kuss folgte, nicht mehr so hart wie zuvor. Er spürte, wie Albies Verteidigung wankte. Seine Lippen bebten, als er liebevolle Küsse über seine Haut verteilte, bis hin zum Ohr. „Ich sehe dich, Al. Ich schaue nicht weg“, flüsterte ins Ohr des Musikers, drückte sein Knie gegen dessen merkliche Erregung und schließlich wurde der Griff im eigenen Haar sanfter. Die Hand, die Gitarrensaiten zu liebkosen wusste wie keine zweite, liebkoste nun seinen Nacken, strich über seinen Rücken herab und ein Schaudern durchfuhr ihn.

„…Und ich sehe dich“, war die leise Erwiderung in die eigene Ohrmuschel, die einen Sturm an Gefühlen in ihm auslöste.

Albie sah ihn nicht als das Monster, das er war … sondern als Laurin.

Und um mehr hätte er nie bitten können.
 


 

𝑇ℎ𝑒 𝑎𝑖𝑟 𝑎𝑟𝑜𝑢𝑛𝑑 𝑚𝑒 𝑠𝑡𝑖𝑙𝑙 𝑓𝑒𝑒𝑙𝑠 𝑙𝑖𝑘𝑒 𝑎 𝑐𝑎𝑔𝑒

𝐼 𝑑𝑜𝑛'𝑡 𝑑𝑒𝑠𝑒𝑟𝑣𝑒 𝑡𝑜 ℎ𝑎𝑣𝑒 𝑦𝑜𝑢

𝑂𝑜ℎ, 𝑚𝑦 𝑠𝑚𝑖𝑙𝑒 𝑤𝑎𝑠 𝑡𝑎𝑘𝑒𝑛 𝑙𝑜𝑛𝑔 𝑎𝑔𝑜

𝐼𝑓 𝐼 𝑐𝑎𝑛 𝑐ℎ𝑎𝑛𝑔𝑒 𝐼 ℎ𝑜𝑝𝑒 𝐼 𝑛𝑒𝑣𝑒𝑟 𝑘𝑛𝑜𝑤

❧ ♪ ❧ ♪ ❧ ♪ ❧ ♪ ❧ ♪ ❧ ♪ ❧ ♪ ❧ ♪
 

Und hier lag Albie nun, unter ihm – die volle Unterlippe blutete, eine leise Schwellung zeichnete sich an der linken Augenbraue ab. Die eigenen Rippen schmerzten beim Atmen und auf der rechten Wange breitete sich Schmerz punktuell in Richtung Hals aus.

Sein Atem rasselte.

„Was … was willst du eigentlich von mir?“, hörte Laurin sich selbst brüllen, „was, verdammte Scheiße, willst du?!“

Schweigen war die Antwort und wachsende Verzweiflung breitete sich in Laurin aus.
 


 

𝐼 𝑐𝑜𝑢𝑙𝑑𝑛'𝑡 𝑓𝑎𝑐𝑒 𝑎 𝑙𝑖𝑓𝑒 𝑤𝑖𝑡𝘩𝑜𝑢𝑡 𝑦𝑜𝑢𝑟 𝑙𝑖𝑔𝘩𝑡𝑠

𝐵𝑢𝑡 𝑎𝑙𝑙 𝑜𝑓 𝑡𝘩𝑎𝑡 𝑤𝑎𝑠 𝑟𝑖𝑝𝑝𝑒𝑑 𝑎𝑝𝑎𝑟𝑡 𝑤𝘩𝑒𝑛 𝑦𝑜𝑢 𝑟𝑒𝑓𝑢𝑠𝑒𝑑 𝑡𝑜 𝑓𝑖𝑔𝘩𝑡
 

„… Nichts.“

Laurin ließ schlagartig vom Musiker ab und saß kerzengerade auf seiner Brust. Eine Kälte breitete sich in ihm aus – dieses eine Wort … es reichte aus. Laurin öffnete den Mund, doch es kam kein einziger Ton heraus. Albies Blick war stur an ihm vorbei gerichtet und etwas in Laurin wollte ihm sagen, dass er log … dass es nicht stimmte … dass er ihn doch sonst anschauen würde.

Langsam wanderten die sonst so warmen, jetzt so abweisenden Augen zu ihm und sein Herz stolperte in der schmerzenden Brust.

„Ich kann dich nicht mehr sehen, Laurin.“

Blendender Schmerz zuckte durch sein Inneres. Reflexartig war er aufgesprungen, hatte Abstand zwischen sie gebracht. Albie erhob sich unter leisem Keuchen vom Boden und wischte sich das Blut aus dem Mundwinkel. Laurin blinzelte. Er .. er ..

Mit einem Ächzen auf den Lippen stand Albie auf und trat auf ihn zu.
 


 

𝐷𝑒𝑙𝑖𝑣𝑒𝑟 𝑚𝑒 𝑖𝑛𝑡𝑜 𝑚𝑦 𝑓𝑎𝑡𝑒

𝐼𝑓 𝐼'𝑚 𝑎𝑙𝑜𝑛𝑒 𝐼 𝑐𝑎𝑛𝑛𝑜𝑡 ℎ𝑎𝑡𝑒
 

Es dauerte nur einen Herzschlag und alles stand wieder Kopf. Jedes zuvor so hasserfüllt gesprochene Wort, das dazu gedacht gewesen war, das Band zwischen ihnen zu zerschneiden, war vergessen. Der Abstand zwischen ihnen war von Albie vernichtet worden – die Musikerhand lag auf seiner Wange und Tränen hatten sich in den dunklen Augen, die voller Sehnsucht leuchteten, gesammelt. „Ich … ich kann dich nicht mehr sehen…“ Und endlich verstand Laurin was genau das Problem war – es war nicht ‚ihr Ding‘, das plötzlich nicht mehr da war, wie die ersten ausgesprochenen Worte ihm hatten vermitteln wollen. Albie konnte nicht mehr … Es lag nicht daran, dass er ihn plötzlich als Monster sah. Dass er ihn nicht sehen wollte. Er konnte einfach nicht mehr. Doch was bedeutete das?

Vorsichtig hob Laurin die Hand, suchte die Finger auf seiner Haut – sie brannten. Er zog sich weg.

„Dann geh.“

Harte Worte seinerseits. Er musste den Blick abwenden.

„Verschwinde.“

Seine Stimme brach.

„Und komm nicht wieder.“

Nur noch ein Flüstern.

Er spürte, wie etwas in ihm zerbrach. Er wollte nicht wissen, warum genau es nicht mehr ging. Er wollte nicht wissen welche Dämonen Albie zu bekämpfen hatte – er hatte selbst genügend.

Nein … nein, die eigenen Dämonen waren nicht der Grund, weshalb Albie endlich verschwinden sollte.

Jedes weitere Wort … jede weitere Sekunde in seiner Nähe … Der sonst so willensstarke Laurin wankte. Und Albie wusste das und nutzte es eiskalt aus. Doch warum? Wenn er doch nicht mehr konnte, warum war er dann hier? Warum zerschnitt er ihr Band nicht endgültig, sondern flickte es immer wieder? Laurin seufzte leise, verschränkte ihre Finger ineinander und bittersüßer Schmerz floss zähflüssig durch sein Inneres.

Gequält schaute er auf und traf auf den entwaffnenden Blick.

Er hasste dieses Arschloch für die Macht, die er über ihn hatte.

… Und gleichzeitig liebte er ihn genau dafür …

Laurins Stirn sackte gegen die Brust des Musikers. Automatisch glitt dessen Hand zwischen seine Schulterblätter.

„Was … wie … was muss ich tun, damit du bleibst?“, hörte er sich selbst flüstern und Albie versteifte sich. Seine Finger krallten sich um die eigenen, lösten ein Taubheitsgefühl aus.

Albie hatte keine Antwort darauf. Sie beide hatten keine Antwort auf das Problem, das unausgesprochen zwischen ihnen stand. Laurin wollte zu viel – Albie zu wenig. Oder war es andersherum? Hatten sie je darüber gesprochen was sie eigentlich wollten? Was sie fühlten? Hatten sie je anders kommuniziert als in Schimpfwörtern, Beschuldigungen und dem Austausch von Körperflüssigkeiten? Laurin konnte sich nicht daran erinnern, dass es jemals anders zwischen ihnen gewesen war.

Scheue Finger entspannten sich und suchten nach seinem Gesicht, hoben es und Albie küsste ihn, wie er ihn noch nie geküsst hatte – sehnsuchtsvoll, tief, innig. Mitten auf dem Flur vor seiner Wohnung. Dort, wo sie gesehen werden konnten, das, was ihn erregte wie abschreckte. Auch hier: hatten sie je darüber gesprochen, wovor Albie so große Angst hatte? Wovor Laurin so große Angst hatte?

Laurin gab sich dem Kuss hin, obwohl er es besser wissen sollte. Doch zu verführerisch war das Angebot des Musikers … alles so zu belassen, wie es war … und mit der Qual zu leben.

Vielleicht gehörte die auch einfach zu ihnen?

Als Albie sich von ihm löste trafen sich ihre Blicke.

„Ich weiß es nicht“, hörte er die Stimme des Musikers und nickte, weil er sich das gedacht hatte. Nun war es an ihm, ihre Hände fester miteinander zu verschränken und ihn sanft zur Wohnungstür zu ziehen.

Kurz flatterte das Herz. Kurz war da die tote Hoffnung, strebte einer Reanimation entgegen.

„Finden wir es zusammen raus…?“

Eine leise Frage voller Selbstzweifel, voller Angst und Unsicherheit und überrascht darüber, dass die Worte überhaupt seine Lippen verlassen hatten, lag die freie Hand auf der Türklinke.

Hier würde es sich entscheiden, ob er allein die Wohnung betreten würde … oder ob Albie mitkommen würde.

Ein schwaches Lächeln, gezeichnet von unausgesprochenen Ängsten, huschte über die weichen Züge des Musikers. „Ja.“
 


 

❧ ♪ ❧ ♪ ❧ ♪ ❧ ♪ ❧ ♪ ❧ ♪ ❧ ♪ ❧ ♪
 

Und nun wühlten sie durch die Laken, schon seit Stunden. Sie hatten kein Wort gesprochen, sich nur angeschaut, Zärtlichkeiten ausgetauscht – sie ausgelassen für harten wilden Sex – und wieder innegehalten, um sich endlos zu küssen.

Jede Berührung war zu viel – und jede Minute, die er getrennt von Albie verbringen musste, zerfraß ihn.

Die Zeit zerfloss, wurde unwichtig. Nur sie beide zählten. Und so wurde die Nacht zum Tag und der Tag zur Nacht und nichts und niemand außer sie spielte noch eine Rolle.

Hier in diesen vier Wänden verloren sie sich ineinander; hier war Albie kein aufstrebender Star und kein Opfer der eigenen Vergangenheit. Er war einfach nur Al. Und Laurin war kein neugeborenes Monster, kein verfluchtes Wesen. Er war einfach nur Lo.

Und ihretwegen durfte dieser Zustand für die Ewigkeit anhalten.
 


 

𝑂𝑜ℎ, 𝑚𝑦 𝑙𝑜𝑣𝑒 𝑤𝑎𝑠 𝑝𝑢𝑛𝑖𝑠ℎ𝑒𝑑 𝑙𝑜𝑛𝑔 𝑎𝑔𝑜

𝐼𝑓 𝑦𝑜𝑢 𝑠𝑡𝑖𝑙𝑙 𝑐𝑎𝑟𝑒 𝑑𝑜𝑛'𝑡 𝑒𝑣𝑒𝑟 𝑙𝑒𝑡 𝑚𝑒 𝑘𝑛𝑜𝑤

𝐼 𝑛𝑒𝑣𝑒𝑟 𝑐𝑙𝑎𝑖𝑚𝑒𝑑 𝑡𝑜 𝑏𝑒 𝑎 𝑠𝑎𝑖𝑛𝑡

𝐼 𝑡ℎ𝑖𝑛𝑘 𝐼 𝑚𝑎𝑑𝑒 𝑖𝑡 𝑣𝑒𝑟𝑦 𝑐𝑙𝑒𝑎𝑟

𝐼 𝑐𝑜𝑢𝑙𝑑𝑛'𝑡 𝑓𝑎𝑐𝑒 𝑎 𝑙𝑖𝑓𝑒 𝑤𝑖𝑡ℎ𝑜𝑢𝑡 𝑦𝑜𝑢𝑟 𝑙𝑖𝑔ℎ𝑡𝑠
 

The Bright Side of Life


 

𝐿𝑖𝑓𝑒'𝑠 𝑎 𝑙𝑎𝑢𝑔𝘩 𝑎𝑛𝑑 𝑑𝑒𝑎𝑡𝘩'𝑠 𝑎 𝑗𝑜𝑘𝑒, 𝑖𝑡'𝑠 𝑡𝑟𝑢𝑒

𝑌𝑜𝑢'𝑙𝑙 𝑠𝑒𝑒 𝑖𝑡'𝑠 𝑎𝑙𝑙 𝑎 𝑠𝘩𝑜𝑤

𝐾𝑒𝑒𝑝 '𝑒𝑚 𝑙𝑎𝑢𝑔𝘩𝑖𝑛' 𝑎𝑠 𝑦𝑜𝑢 𝑔𝑜

𝐽𝑢𝑠𝑡 𝑟𝑒𝑚𝑒𝑚𝑏𝑒𝑟 𝑡𝘩𝑎𝑡 𝑡𝘩𝑒 𝑙𝑎𝑠𝑡 𝑙𝑎𝑢𝑔𝘩 𝑖𝑠 𝑜𝑛 𝑦𝑜𝑢

𝐴𝑙𝑤𝑎𝑦𝑠 𝑙𝑜𝑜𝑘 𝑜𝑛 𝑡𝘩𝑒 𝑏𝑟𝑖𝑔𝘩𝑡 𝑠𝑖𝑑𝑒 𝑜𝑓 𝑙𝑖𝑓𝑒

𝐴𝑙𝑤𝑎𝑦𝑠 𝑙𝑜𝑜𝑘 𝑜𝑛 𝑡𝘩𝑒 𝑟𝑖𝑔𝘩𝑡 𝑠𝑖𝑑𝑒 𝑜𝑓 𝑙𝑖𝑓𝑒
 

Ein Pfeifen hallte durch die verlassenen Hallen des altehrwürdigen Schlosses. Die klackenden Absätze vermischte sich mit dem Pfeifen zu einer harmonischen Melodie, die von den hohen Wänden widerhallte. Sanft fuhr der Wind durch die geöffneten Fenster und durch das Haar des Mannes, der durch die Gänge schritt, als gehörten sie ihm.

Nun, am heutigen Tage war dem so. Lange hatte er auf einen ereignisreichen Tag wie diesen gewartet, ohne, dass ihm das Warten überhaupt bewusst gewesen war. Eine innere Ruhe hatte sich in ihm ausgebreitet, sobald die Sonne untergegangen und der Schatten der Nacht sich über Hogwarts gelegt hatte. Jene innere Ruhe, die ihn nun pfeifend durch die Gänge tänzeln ließ. Dabei wich er nahezu instinktiv den Überresten der Ereignisse der letzten Stunden aus, wenn auch der Blick aus lebendig funkelnden Augen immer wieder an dem einen oder anderen Highlight hängen blieb. Sein Herz machte einen freudigen Hüpfer – das alles hier war indirekt auch sein Werk und erfüllte ihn damit mit einem unbändigen Stolz. Nicht nur auf sich selbst sondern vornehmlich auf den wundervollen jungen Mann, den er erst vor wenigen Monaten kennengelernt hatte.

Ashley Gregory Woods, Sohn einer einflussreichen Zaubererfamilie, die in ganz London bekannt und geachtet war. Sein Stammbaum ging weit in die amerikanischen Zaubererfamilien zurück und besonders im Süden der USA galten die Woods noch heute als eine Institution.

Vielleicht war es der Reiz gewesen eine derart heile Familie zu zerstören … vielleicht die cholerische Art des Jüngeren … vielleicht die markante Augenbraue, die immer ein paar Millimeter zu weit empor gestreckt war, um etwas anderes als Missfallen auszudrücken … vielleicht die Grübchen und das verschmitzte Lächeln, wann immer er sich unbeobachtet wähnte … vielleicht die Aussicht darauf, nicht mehr allein zu sein und die Ewigkeit mit Ashley verbringen zu können … so viele Vielleichts und schlussendlich war es doch eindeutig, dass es eine Mischung aus allen Faktoren gewesen war, die Alexander dazu gebracht hatte, die berühmt berüchtigten drei Worte auszusprechen.
 

„Ich verwandele dich.“
 

Der Gesichtsausdruck des Jüngeren war einfach zu köstlich gewesen und lebte selbst jetzt vor seinem inneren Auge weiter. Und so sehr er sich auch gewehrt und rebelliert und geschrien und getobt hatte . . . schlussendlich war Ashley natürlich nicht gegen ihn angekommen.

Und nun würden sie die Ewigkeit miteinander verbringen.

Glück durchströmte Alexander und lange Finger fuhren an den Schlossmauern entlang. Vielleicht hätte er hier eine andere Art des zu Hause finden können … und doch hatte er alles für ihn aufgegeben. Für die Chance mit ihm zusammen zu sein. Alexander war sich bewusst, dass es Jahre harter Arbeit werden würden, das Vertrauen des jungen Mannes zu gewinnen und dass Ashley ihn aktuell sicherlich gerne umbringen würde … doch er wusste auch, dass Ashley jede Mühe wert war und dass er sich schlussendlich in ihn verlieben und an ihn binden würde.

Dieses Ergebnis war unausweichlich.
 

Das Pfeifen verstummte nicht. Es schien so, als wisse Alexander ganz genau, wohin die magischen Treppen ihn führten und schließlich legte sich ein seliges Lächeln auf die ebenen Gesichtszüge.

Ashley saß schwer atmend auf dem Boden; eine Kaskade an Schweiß rann ihm vom kantigen Kinn herab und warmes Rot durchzog die dunklen Haare, klebte am edlen Anzug und an den langen Fingern. Eine verirrte Spur tropfte zähflüssig von den vollen Lippen, die zu einem verwirrten und gleichzeitig anklagenden Strich verzogen waren. Alexander konnte den beschleunigten Herzschlag fühlen, wie er einem Einhorn auf der Flucht gleich durch den Brustkorb des jungen Mannes flog und er biss sich auf die Unterlippe, unheimlich angefixt von dem Gedanken daran, dass er zukünftig der Grund für Ashleys Herzrasen sein würde. Auf die eine oder andere Art.

Ashleys Kopf zuckte herum und Wahnsinn blitzt in seinen Zügen auf; jener Wahnsinn, der schon zuvor so sanft unter der Oberfläche geschlummert und nur noch den richtigen Zündstoff gebraucht hatte. Hasserfüllte grüne Augen blitzten zu Alexander herüber und das Lächeln auf den eigenen Zügen intensivierte sich nur noch. Er wusste noch vor Ashley, was kommen würde und es war ihm ein leichtes, dem stürmischen Angriff aus dem Weg zu tänzeln.

„Du fühlst dich, als würde dein Blut kochen“, wisperte er ihm entgegen, als er den ausgestreckten Arm des Jüngeren festhielt, geschickt drehte und auf dessen Rücken festpinnte. Das wilde Keuchen, voller Manie, voller Schmerz, belohnte Alexander für die grobe Behandlung. Der metallische Geruch von Blut perlte auf seiner Zungenspitze und genüsslich strich die freie Hand die dunklen Haare aus dem Nacken Ashleys. Flüche jeglicher Art prallten an ihm ab – angefangen vom einfachen „fass mich nicht an“, hin zum „ich bring dich um“ bis zum „ich reiß dir das Herz raus“ – und federleicht berührten seine Lippen die heiße Haut, die sich ihm so schutzlos darbot.

Ashley erstarrte, nur um sich heftiger gegen Kuss und Worte und Berührungen zu wehren. Alexander wusste, dass es ihm wehtat und ließ so weit nach, dass er sich nichts brach, doch nicht so weit, dass er wirklich hätte freikommen können. Er wollte ihm nicht weh tun . . . und gleichzeitig war genau das so unheimlich verführerisch. Er lehnte sich vor, spürte die Hitze Ashleys durch sich wogen und er schmeckte die Verzweiflung des Jüngeren auf der Zungenspitze, so süß und neu und herrlich, dass es wirklich schwer war, die eigenen Gelüste unter Kontrolle zu halten. Zittrige Augenlider schlossen sich auf Halbmast.

„Es wird besser werden. Versprochen“, brach sich sein Atem am Ohr des Jüngeren und ein Lachen rollte durch sein Inneres, als der Lohn für seine Arbeit und unwilliges Grollen und weitere Verwünschungen waren.

„Du hast jetzt alle Zeit der Welt, um dich in Selbstbeherrschung zu üben. Oder die Zügel noch lockerer zu lassen, deine Entscheidung. Sei dir nur sicher, dass ich nicht mehr von deiner Seite weichen werde.“ Weiche Worte, leise und lasziv gesprochen, unterstützt von tanzenden Fingerkuppen, welche die pulsierende Halsschlagader nachfuhren und sich schließlich gebieterisch von vorne um den Hals legten. Ein Becken, das sich nahe an den Jüngeren heranschob und Alexander genoss die Nähe des Anderen, genoss den wilden Herzschlag, genoss den Hass und den Ärger und die Wut und die Scham Ashleys – und er genoss, wie sehr er ihn trotz der Eskalation unter Kontrolle hatte und wie leicht es wäre, sich nun zu nehmen, was er wirklich wollte.

Doch wie schwer wäre es dann jemals um Vertrauen zu bitten? Jemals von Liebe zu sprechen? Lustvoll fanden die Lippen noch einmal ihr Ziel, fuhr die bittende Zunge den flatternden Puls am Hals nach und ein feines Seufzen entwich ihm, während Ashley tobte und fluchte und zeterte und doch nicht von ihm loskam.

„Du wirst deine Energie anderweitig brauchen, Ashley. Wenn du hier lebendig wieder rauskommen willst, müssen wir zusammenarbeiten. Meinst du, das bekommst du hin?“

Ashley war nicht einsichtig und für den Moment trennten sich ihre Wege. Alexander trat die geplante Flucht an und entkam dem mordlüsternen Wood gerade so.

Doch das Kunstwerk, das dieser zurückgelassen hatte, war mindestens genauso zufriedenstellend wie die Aussicht auf Körperkontakt.
 

Blut prickelte auf seinen Lippen, die wieder das Liedchen angestimmt hatten. Beinahe liebevoll fuhren seine Finger durch den roten Lebenssaft und der herbe Geschmack weckte neue Lebensgeister. Heute hatte er niemanden auf dem Gewissen und er hatte dabei zugesehen, wie die Fänge des Jüngeren sich tief in seine Opfer gebohrt hatten, wie Ashley einer unaufhaltsamen Naturgewalt gleich über die Schüler Hogwarts gekommen war. Alexanders Blick glitt über die Leichen derer, die so leichtsinnig gewesen waren, ihre Tore einem Vampir zu öffnen … und ein wenig Mitleid hatte er schon, als er die jungen Leben ausgelöscht vor sich sah. Nur kurz flackerte das Lächeln auf seinen Zügen und nur kurz dachte er zurück an düstere Tage, Tage, an denen weder sein jetziger Meister, noch Ashley in seinem Leben gewesen waren. Tage, an denen er selbst derart viele Opfer gefordert hatte.

Ein Schauder überkam ihn und wenige Sekunden später war alles wieder in bester Ordnung. Das Blut war mittlerweile kalt geworden und es würde nicht mehr lange dauern, bis sie in Gefahr wären. Höchst wahrscheinlich würde er nun eine ganze Weile untertauchen müssen … doch mit Ashley an seiner Seite wäre selbst die größte Entbehrung erträglich.
 

Alexander schritt durch die verlassenen Gänge, das Liedchen auf den blutgetränkten Lippen.

Er war bereit für die größte Ungewissheit seines Lebens: die Liebe.
 

𝐹𝑜𝑟 𝑙𝑖𝑓𝑒 𝑖𝑠 𝑞𝑢𝑖𝑡𝑒 𝑎𝑏𝑠𝑢𝑟𝑑

𝐴𝑛𝑑 𝑑𝑒𝑎𝑡𝘩'𝑠 𝑡𝘩𝑒 𝑓𝑖𝑛𝑎𝑙 𝑤𝑜𝑟𝑑

𝑌𝑜𝑢 𝑚𝑢𝑠𝑡 𝑎𝑙𝑤𝑎𝑦𝑠 𝑓𝑎𝑐𝑒 𝑡𝘩𝑒 𝑐𝑢𝑟𝑡𝑎𝑖𝑛 𝑤𝑖𝑡𝘩 𝑎 𝑏𝑜𝑤

𝐹𝑜𝑟𝑔𝑒𝑡 𝑎𝑏𝑜𝑢𝑡 𝑦𝑜𝑢𝑟 𝑠𝑖𝑛

𝐺𝑖𝑣𝑒 𝑡𝘩𝑒 𝑎𝑢𝑑𝑖𝑒𝑛𝑐𝑒 𝑎 𝑔𝑟𝑖𝑛

𝐸𝑛𝑗𝑜𝑦 𝑖𝑡, 𝑖𝑡'𝑠 𝑦𝑜𝑢𝑟 𝑙𝑎𝑠𝑡 𝑐𝘩𝑎𝑛𝑐𝑒 𝑎𝑛𝑦𝘩𝑜𝑤

𝑆𝑜 𝑎𝑙𝑤𝑎𝑦𝑠 𝑙𝑜𝑜𝑘 𝑜𝑛 𝑡𝘩𝑒 𝑏𝑟𝑖𝑔𝘩𝑡 𝑠𝑖𝑑𝑒 𝑜𝑓 𝑑𝑒𝑎𝑡𝘩

𝐴 𝑗𝑢𝑠𝑡 𝑏𝑒𝑓𝑜𝑟𝑒 𝑦𝑜𝑢 𝑑𝑟𝑎𝑤 𝑦𝑜𝑢𝑟 𝑡𝑒𝑟𝑚𝑖𝑛𝑎𝑙 𝑏𝑟𝑒𝑎𝑡𝘩
 

A Hillwalker Tale

Er war so unendlich verwirrt. Es war dunkel und er war allein – das wusste er. Aber mehr? Wo genau er war … wie er hierhergekommen war … okay, okay, ruhig. Vorsichtig schlug er die Augen auf, doch seine Umgebung blieb in absolute Finsternis getaucht. Es war warm und ruhig, also war er nicht mehr draußen, sondern irgendwo drinnen. Haus? Wohnung? Schiff? War es nur ein kleines Zimmer oder … Er versuchte, die Hände zu heben doch bemerkte, dass sie vor seinem Körper zusammengebunden waren. Panik flatterte durch seinen Brustkorb und machte klares Denken faktisch unmöglich. War er entführt worden? Hatte irgendwer herausgefunden wer er wirklich war? Wollte man Lösegeld erpressen? Verzweiflung griff nach ihm, war ihm doch bewusst, dass niemand auch nur eine Galleone für ihn bezahlen würde und er spürte, wie das Brennen hinter den Augen schlimmer und schlimmer wurde, wie die Angst seinen Brustkorb zuschnürte und das Atmen immer schwerer wurde. Er wollte schreien – doch die Stimme versagte ihm. Er riss Lippen und Augen auf, bog den Rücken auf dem weichen Polster durch, spürte, dass auch seine Füße aneinandergebunden waren und die Fesseln schnitten ihm ins Fleisch, je mehr er sich wehrte. Er weinte bitterlich – was war hier nur los?! Kein Laut drang über seine Lippen, obwohl er sich sicher war, laut und deutlich um H I L F E geschrien zu haben und panisch dachte er daran, dass er verflucht worden sein musste und dass es nun wohl zu Ende war.

Niemand würde ihn vermissen.

Niemand würde ihn suchen.

Er würde in dieser stickigen dicken Finsternis verrecken und-
 

Urplötzlich ging das Licht an. Er kniff die Augen zusammen, wollte die Hände schützend vor die Augen schieben, doch die schmerzenden Fesseln versagten es ihm. Er hätte gewimmert, gebettelt, um sein Leben gefleht, hätte es etwas genutzt – denn noch immer fehlte seiner Stimme jegliche Kraft.

Er wagte es nicht, die Augen zu öffnen, als schwere Schritte immer näherkamen. Sie hallten nicht, wurden von Teppichboden verschluckt und er machte sich immer kleiner, immer schmaler, kroch von den Schritten fort, rutschte von dem niedrigen Möbelstück, auf dem er gesessen hatte und versuchte, zu flüchten.

„Emrys, es ist okay.“

Er riss die Augen auf und starrte seinen Entführer an. Es … war okay?! War er eigentlich vollkommen bescheuert, NICHTS war okay! Er wusste nicht, wo er war – wusste nicht, wer der Mann war, der sich da vor ihm aufbaute – wusste nicht, wieso er nicht reden konnte – wusste nicht, was das hier alles sollte und was der Typ mit ihm vorhatte und der behauptete, es war okay? Okay, dass er ihn gefangen hielt? Gekidnappt hatte? Oh – wenn er nur reden könnte, hätte er ihm Worte an den Kopf gespuckt, die vermutlich sein Todesurteil bedeutet hätten.

Der Mann war nicht besonders groß und auch nicht besonders beeindruckend von der Statur her. Doch seine Augen waren eisblau, stechend und bohrend und sofort hielt er in jeder Bewegung inne. Der Mann machte ihm Angst und instinktiv versuchte er, so wenig Angriffsfläche wie nur irgendwie möglich zu bieten.

„Ich bin Hunter, Emrys, und ich bringe dich zu deiner Familie.“

Bullshit – das hätte er zumindest gerne gesagt, doch wieder kam nichts über seine Lippen. Er bewegte sich nicht einmal, weil jede Bewegung unweigerlich dazu geführt hätte, dass die Fesseln sich enger schraubten.

„Entschuldige bitte meine Vorsichtsmaßnahmen, aber du hast dich ganz schön gewehrt.“ Hunter deutete auf eine Schramme am Kinn und irritiert schüttelte er nun doch den Kopf, weil er sich an nichts erinnern konnte. Erst recht nicht daran, dem Kerl schon jemals begegnet zu sein geschweige denn sich gegen ihn zur Wehr gesetzt zu haben. Das nüchterne Seufzen des Mannes jagte ihm kalte Angstschauer über den Rücken.

„Keine Sorge. Bald schon wirst du verstehen.“ Was vielleicht wie eine beruhigende Zauberformel hätte wirken sollen, klang wie eine Drohung – eine Drohung, die sich schon bald bewahrheiten sollte.
 

Nur einige Stunden später war er f r e i.

Hunter hatte ihn einfach ausgesetzt, irgendwo im Nirgendwo, und Emrys versuchte, sich zurechtzufinden. Es war kühl, winterlich beinahe, und deshalb vermutete er, dass er weit von zu Hause weg sein musste, war es dort doch Sommer und sehr heiß gewesen. Die Flora war auch vollkommen anders … … und je länger er die lange Straße entlangging, desto sicherer wurde er sich: er befand sich nicht mehr in Großbritannien.

Diese ganze Geschichte war so unendlich verstörend. Emrys funktionierte auf Autopilot, wanderte einfach die Straße entlang, auf nackten Füßen in der Hoffnung, schnellstmöglich Zivilisation zu entdecken. Dem nichtmagischen Auge blieb die Zufahrt verborgen, die zum ausladenden Haus der Hillwalkers führte – doch das Schicksal meinte es gut mit ihm. So glaubte er zumindest.

An diesem seltsamen Tag fand er tatsächlich seine neue Familie. Patrick Hillwalker war auf dem Heimweg von der Arbeit und gabelte den verängstigten Zwölfjährigen auf, der vollkommen hilflos in behelfsmäßiger Kleidung vor der Auffahrt zu seinem Haus entlang schlingerte. Die Wärme des Familienvaters stand im krassen Kontrast zu dem, was Emrys in seinem jungen Leben bereits hatte erdulden müssen und schnell ließ er sich von der Hillwalker-Familie einlullen.

Er wurde nicht wirklich zu einem Teil der Familie – und gleichzeitig irgendwie schon.

Er war nicht wirklich ein Diener – und trotzdem nicht viel mehr als ein Butler, der Junge für alles eben.

Und er war auch nicht wirklich willkommen – und dennoch fühlte er sich geliebt.
 

Diese Gegensätze begleiteten ihn von Beginn an; was sich nie veränderte, war der unbedingte Wunsch, Patrick und seinen Kindern von Nutzen zu sein.

Emrys entdeckte, dass er gerne nützlich war und dass er nichts dagegen hatte, ausgenutzt zu werden. Es war weit entfernt von dem Missbrauch, dem er seit jüngster Kindheit ausgesetzt war, aber für einen neutralen Beobachter auch nicht viel besser. Emrys selbst verstand nicht, dass sein Wunsch, der Familie von Nutzen zu sein, schlussendlich sein Todesurteil sein würde.

Oder aber der Beginn eines neuen Kapitels in seinem Leben. Das kam ganz auf ihn an.

Und auf die Rolle, die dem Tüftler vom Schicksal zugeschrieben werden würde. Denn die Schicksale der beiden jungen Männer liefen unweigerlich zusammen – auf die eine oder andere Art.

Das Versprechen

Der Blick aus reumütigen Augen lag auf dem Jüngeren und heftig biss Sun-myung sich auf die Unterlippe.

„Du … wir wollten doch aber …“

Chae schien nicht die richtigen Worte zu finden und Schuld fraß sich gnadenlos durch Suns Inneres. Er hätte von Anfang an ehrlich zu seinem Freund sein müssen und mit ihm über seine Pläne sprechen müssen, doch er hatte es nicht übers Herz gebracht. Stattdessen hatte er geschwiegen und so getan als sei alles in bester Ordnung, wissend, dass der Moment kommen würde an dem er ihn durch sein Verschweigen der Wahrheit noch mehr verletzen würde.

Sun biss sich auf die Unterlippe, streckte die Hände nach Chae aus drückte sanft seine Oberarme.

„Chae… Das ist eine einmalige Chance für mich. Das verstehst du doch, oder?“, wisperte er leise und versuchte Blickkontakt herzustellen. Versuchte, keinen Vorwurf in den tiefen Augen zu lesen. Versuchte, Zustimmung oder Verständnis zu finden. Chae verzog das Gesicht, nickte jedoch langsam, schüttelte sofort den Kopf und die Tränen, die sich in seinen Augenwinkeln zu sammeln begannen, zerrissen Sun beinahe das Herz.

„Du … du hast es versprochen. Wir gehen zusammen nach Seoul. Was soll ich denn ohne dich auf der Uni?“ Die Stimme des Jüngeren war brüchig und vermutlich schämte er sich für seinen Egoismus, doch gleichzeitig hatte er recht: Sun hatte es ihm versprochen. Schon vor Jahren hatten sie die ersten Pläne geschmiedet und obwohl sie zwei Jahre trennten hatte sie das nicht davon abgehalten, sich die großartige Zukunft an der Universität auszumalen. Die Luftschlösser waren immer größer geworden und Sun hätte lügen müssen wenn er behauptet hätte, dass ihn diese Schlösser nicht davor bewahrt hätten, den Verstand während der harten Schulzeit zu verlieren.
 

Sun war gut in der Schule gewesen – verdammt gut.

Vertrauensschüler. Tutor für die jüngeren Jahrgänge, unter anderem auch für Chae. Er hatte zwar kein Quidditch gespielt, war dafür jedoch im Tanzclub und im Schülerkomitee gewesen und hatte den Vorsitz beim Schachclub gehabt, während er nebenbei im Duellierclub brilliert hatte. Man hatte gemunkelt, dass er perfekt sei, denn wie bitteschön konnte man einen derartigen Workload überhaupt wuppen?

Es war aber so einfach … der Grund stand gerade vor ihm: Chae-yeon, sein Cousin und bester Freund, dessen Lächeln allein schon reichte um ihm die notwendige Energie für den Rest des Tages zu schenken. Das mochte sehr abgeschmackt klingen, aber Sun l i e b t e Menschen und den Kontakt zu ihnen. Socializing gab ihm Kraft – es war die Einsamkeit, die ihn auszehrte. Und wann immer er an seine Grenzen, ob nun physisch oder psychisch gekommen war, hatte Chae ihn über diese Grenze geschubst und dazu gebracht, sich selbst zu übertreffen.

Ob es bei den Tanzaufführungen in der Schule war … bei den Prüfungen … bei der Organisation der Lehrpläne für die jüngeren Schüler … oder beim Gewinnen des internen Turniers des Duellierclubs.

Chae gab ihm die Kraft um weiterzumachen.

Deshalb hatte er ihm ohne auch nur mit der Wimper zu zucken versprochen nach seinem Abschluss auf die Universität nach Seoul zu gehen – dort warteten sie bereits ungeduldig auf Sun-myung, der während der letzten zwei Jahre an einer kleineren Universität in der Heimat Zauberstabherstellung studiert und sich selbst als unzureichend für diese Kunst empfunden hatte. Dass er die gesammelten Punkte dort mit an die Universität in Seoul würde nehmen können, erleichterte ihn, jedoch …

… jedoch hatte er von der kleinen Universität ein Angebot bekommen, ein Jahr in den USA zu studieren, obwohl seine Leistungen nicht die besten seines Jahrgangs waren.

Aber das bedeutete, dass er nicht mit Chae zusammen in Seoul würde beginnen können.
 

„Wäre es denn so schlimm, wenn ich nachkomme?“, fragte Sun so sanft wie möglich nach und die Hoffnung darauf, dass Chae verstehen würde, warum er gehen wollte, wuchs in ihm. Chae war immer so unheimlich supportive gewesen und auch wenn ihm hin und wieder ein gewisser Egoismus nicht abhanden ging, hatte Sun absolutes Vertrauen in seinen besten Freund. Doch dieser biss sich auf die Unterlippe und befreite sich von den warmen Händen, die versuchten ihn zu halten.

„… Dann geh halt.“

Die Enttäuschung in seiner Stimme ließ Suns Herz schwerer schlagen und ein leises „Chae“ wispern, doch sein Cousin schnaufte kurz, ehe er sich aus der Situation zu ziehen gedachte.

Die Stille zwischen ihnen war erdrückend und viel lieber wäre es Sun, würden sie einander anschreien, doch Chae schwieg, wütend brodelnd, die Enttäuschung in den dunklen Augen funkelnd und Sun seufzte geschlagen – wenn er nicht mit ihm darüber reden wollte, dann war dem so. Ein wenig kindlicher Trotz regte sich im Zwanzigjährigen und obwohl er nichts lieber tun wollte, als Chae in den Arm zu nehmen und ihm zu versprechen, dass sie sich nicht aus den Augen verlieren würden, so ließ er ihn stehen und verließ das Elternhaus des besten Freundes.
 

Ihre Heimatstadt war wunderschön, besonders bei Nacht.

Sun fand sich zwischen den Karaokebars und kleinen Marktständen wider und genoss das bebende Leben um sich herum. Hier in Korea, wo die Grenzen der Muggel- und Zaubererwelt verschwammen, und Magie an jeder Straßenecke zu lauern schien, fühlte er sich zu Hause. Er spürte bereits, wie er all das vermissen würden und sein Herz zog sich zusammen, wann immer sein Blick auf die vertraute Umgebung fiel.

Ein Straßenkünstler stieß Feuer in die Luft und tanzte eine wilde Mischung aus Hiphop und Contemporary, was Sun sofort wie gebannt zuschauen ließ. Es schien wie Magie, wie das Feuer des Reifens, in dem er tanzte, ihn nicht zu berühren schien und jeder Schritt war elegant, gezielt und kein Muskel schien unnötig angespannt. Die eleganten und mühelosen Bewegungen zogen ihn vollkommen in Bann und Minuten später jubelte er mit vielen anderen Passanten dem Tänzer zu, ein breites Lächeln auf den Lippen.

Die USA war eine gigantische Chance für ihn. Es ging gar nicht so sehr um das Studienthema, hatte Sun damit doch im Endeffekt im Inneren bereits abgeschlossen und ein Teil von ihm fühlte sich sogar schuldig, dass er das Auslandssemester für etwas anderes nutzen würde.

Es ging um die Möglichkeit, in LA zu tanzen.

… Und darum, dem Mann in den er verliebt war, nachzureisen.

So-hwa wusste nichts von seiner Schwärmerei. Sie kannten einander nicht einmal besonders gut, waren sich in der Schulzeit ein paar Mal über den Weg gelaufen und es wäre nicht übertrieben, wenn man behauptete, dass Sun nur seinetwegen im Schülerkomitee jedes Mal sein Bestes gegeben hatte, wenn es um die Organisation des Sportfests gegangen war. Sun war zu jedem Quidditchspiel gegangen – natürlich später auch für Chae, verstand sich von selbst – und mit jedem Tag, an dem er So-hwa aus der Ferne bestaunt hatte, waren die Gefühle für ihn nur noch gewachsen. Er fühlte sich wie ein dämlicher Fanboy, der seinen Star aus der Ferne anhimmelte, doch er konnte sich nicht helfen … Er fühlte sich dämlich, weil er ihn nicht einmal wirklich kannte, aber er konnte sich nicht helfen.

Und – bei allen Drachenzähnen – fühlte er sich schuldig, weil Chae nichts davon wusste, was sein wahrer Grund war, weshalb er in die USA wollte.
 

Natürlich hatte er Chae gegenüber erwähnt, verliebt zu sein. Und natürlich wusste sein bester Freund, dass So-hwa das Objekt der Begierde war. Aber vom Auslandssemester … und der Tatsache, dass er So-hwa nachreisen wollte … nein, Sun wusste es jetzt seit drei Monaten … und seit drei Monaten kämpfte er damit, es Chae sagen zu wollen.

Und jetzt?

Jetzt ging sein Flieger in zwei Wochen und er hatte sich dazu genötigt gesehen zuzugeben, warum er nicht mit bei der Wohnungssuche in Seoul half. Warum er Chae riet eine Einzimmerwohnung oder WG ohne ihn zu suchen. Warum … Warum …

Ah.

Sun hatte sich ablenken wollen und nun? Nun war die Schuld nur noch schwerer zu ertragen und der Blick war leer und abwesend auf den Tänzer gerichtet, der seine Utensilien zusammenräumte.
 

War es das wert?

Ein langjähriges Versprechen zu brechen für die Aussicht auf etwas, das vermutlich niemals wahrwerden würde?
 

Sun versenkte die Hände in den Hosentaschen und zog die Schultern hoch, das Kinn tief im Rollkragen versteckt und hoffend, dass er einfach in der Menschenmenge untergehen würde.

Plötzlich kam ihm die belebte Straße eher bedrohlich, denn wohlig vor.

Und plötzlich wankte sein Entschluss in die USA zu reisen. Nie hatte er sich von etwas abbringen lassen, wenn er sich einmal dazu entschlossen hatte – doch Chae-yeon hatte die unangenehme Eigenschaft, ihn alles überdenken zu lassen. Wo er doch sonst schon immer alles zerdachte, überdachte.
 

Ein paar Tage später trudelte bei ihm zu Hause ein Brief ein, auf den er lange gewartet hatte. Die Posteule schüttelte ihr Federkleid aus und wurde von Sun mit einem liebevollen Kraulen belohnt, ehe er den Brief mit klopfendem Herzen entgegennahm.

Er versteckte sich in seinem Zimmer, damit weder Mutter, noch Geschwister ihn dabei stören würden, wie er das Stück Papier mit zitternden Fingern aufmachte und …
 

Sehr geehrter Mr Choi,
 

es tut uns leid Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihre Fähigkeiten nicht zu unserer Schule passen.

[. . . ]
 

Die Realität traf ihn so hart und unvorbereitet, dass er auf seinem Bett zusammensackte. Er spürte, wie die Tränen an seinen Augenwinkeln kitzelten und Frustration klammerte sich ums schwer schlagende Herz. Mit zittrigem Atem fuhr er sich durchs silbrige Haar – plötzlich musste er lachen und konnte kaum noch aufhören, bis die Tränen der Frustration schließlich gewannen. Seine große Schwester schaute nach ihm, doch als sie Sun auf dem Bett zusammengerollt vorfand, entschloss sie sich dazu, ihn allein zu lassen – ihr kleiner Bruder hatte noch nie großartig mit ihr über seine Probleme gesprochen und sie würde einen besseren Zeitpunkt abpassen, an dem er sich seiner Tränen nicht schämte.

Aber sie hatte den falschen Eindruck von Sun. Er schämte sich nicht seiner Tränen, er schämte sich seiner Unzulänglichkeit und dem Luftschloss, dass er sich gebaut hatte.

Er wollte nicht in die USA um zu studieren … Es war eine Ausrede … eine Möglichkeit, die Reise und den Aufenthalt dort zu finanzieren, würde doch die Universität einige der Kosten tragen … Und wie bereits erwähnt fühlte er sich minimal schuldig, weil er nicht mit der gleichen Leidenschaft an dieses Studium heranging, wie es angebracht gewesen wäre …

… Er wollte in die USA, um zu tanzen.

Doch das letzte Tanzstudio … die letzte Hoffnung … war nun ebenfalls zum Schluss gekommen, dass der Koreaner nichts bei ihnen verloren hatte.
 

Er war so unfassbar wütend! … Und gleichzeitig war es doch gar keine so große Überraschung, oder? Er war nicht brillant im Tanzen … nicht einmal wirklich gut. Was bedeutete es schon, dass er in seiner Schulzeit erfolgreich gewesen war oder dass er seitdem er acht war übte? Es bedeutete gar nichts – er war zu alt. Zu alt, dass jemand Hoffnungen in ihn setzen würde, zu alt, um noch zu einem Star auf der Bühne zu werden, vollkommen abgesehen davon, dass es ihm darum nie gegangen war. Er wollte einfach nur tanzen.

Aber je länger er sich dem Gedanken hingab, dass nun auch die letzte Schule ihn abgelehnt hatte, desto deutlicher wurde es für ihn: er war nicht gut genug. Er würde nie gut genug sein.

Die Erkenntnis hielt ihn die ganze Nacht über wach und während er in den frühen Morgenstunden in einen unruhigen Erschöpfungsschlaf glitt konnte er nur daran denken, dass er auch für So-hwa niemals gut genug sein würde.
 

Es dauerte zwei weitere Tage, bis Sun sich darüber klar wurde, dass es vollkommen egal gewesen wäre, ob die Schule zugesagt hätte – er wäre nicht geflogen. Bis jetzt hatte er kein Ticket gekauft und er sprach lange mit seinen Eltern darüber, dass er lieber in Seoul studieren wollte, als in die USA zu gehen. Seine Eltern waren zwiegespalten, da Sun sich so gefreut zu haben schien, ins Ausland zu gehen, waren aber nichtsdestotrotz froh darüber, ihren Sohn näher bei sich haben zu können.

Die Hände seiner Mutter griffen sanft nach seinem Gesicht und ein warmes Lächeln breitete sich auf ihren Zügen aus.

„Myunii. Ist es das, was du willst? Bist du glücklich mit deiner Entscheidung?“

Die durch Kontaktlinsen hellen Augen suchten das Gesicht der Mutter ab und zur eigenen Überraschung resonierte ein klares Ja mit der Frage der Mutter und er nickte stumm, was eine herzliche Umarmung zur Folge hatte. Sein Vater nickte mit einem schiefen Lächeln und noch während der rührseligen Szene, beschloss seine große Schwester sie zu ruinieren, indem sie sich darüber beschwerte, dass ihr Freund ihr immer noch keinen Antrag gemacht hatte.

Suns Herz zog sich zusammen und er blinzelte, irritiert darüber, dass er eifersüchtig auf die große Schwester war, wo doch Eifersucht niemals zu seinen prägendsten Eigenschaften gehört hatte. Besonders nicht bezogen auf seine engsten Vertrauten. Er spürte wie seine Wangen heiß wurden und wie kleine Nadelstiche sein Herz zu durchbohren versuchten.

Ah.

Natürlich.

Er war nicht eifersüchtig – er war einfach nur traurig. Traurig darüber, So-hwa ziehen zulassen, ohne ihm jemals das Liebesgeständnis gegeben zu haben. Aber … schlussendlich … was hätte daraus auch Gutes erwachsen sollen, nicht wahr? Mit flatternden Lidern überlebte er den Rest der Konversation, wenn auch ungewöhnlich ruhig.
 

„Sun-myung?“, klopfte seine Schwester an seine Tür und ein leises „nhm“ ließ sie eintreten. Er schaute zu ihr und ohne weitere Worte zu benötigen, glitt sie neben ihn aufs Bett, die Beine sofort in einen bequemen Schneidersitz ziehend und die klugen Augen auf ihn und nur auf ihn gerichtet.

Eun-Ji war schon immer so gewesen. Sie hatte keine Probleme damit Menschen auf ihr Seelenheil anzusprechen und kehrte allein mit einem Blick alle Zweifel, alle bösen Gedanken aus einem heraus – und konnte sie mit einem Lächeln eliminieren. Aber Sun wollte die bösen Gedanken nicht gehenlassen. Stattdessen wich er ihrem Blick aus und fuhr sich durch silbrige Haar, ein Seufzen auf den Lippen.

„Warum gehst du nicht?“, fragte seine Schwester und er zuckte mit den Schultern. „Ich will lieber hierbleiben, wie gesagt. Es wäre nicht fair der Universität etwas vorzuspielen.“

Es raschelte und sanft legte Eun-Ji ihrem Bruder einen sehr bekannten Brief in den Schoß, den er sofort mit den kleinen Fingern berührte.

„Und es hat nichts hiermit zu tun?“

Er schwieg lange, weil die Antwort darauf komplizierter war, als er selbst es dachte. Schließlich aber schüttelte er den Kopf und setzte sich schlussendlich doch den durchleuchtenden Augen der klugen Schwester aus.

„Nein. Ich habe ein Versprechen gegeben und ich fühle mich mies, es zu brechen.“

Eun-Jis dunkle Augen kamen auf ihrem Bruder zum Liegen und sie wog den Kopf hin und her. Ihre Zehen kitzelten Suns Fußsohlen und sie summte ein unbestimmtes Lied, ehe sie „Chae?“ fragte und Sun nickte nur knapp. „Myunii…“ Prüfend fiel ihr Blick auf sein Gesicht und sie schien nach etwas zu suchen, doch schließlich lächelte sie.

„Hmn. Nun gut. Wenn du mit der Entscheidung glücklich bist …“

Der Ton ihrer Stimme ließ ein Nein zu und Sun legte den Kopf schief, ein weiches Lächeln auf den vollen Lippen.

„Ja. Ich hätte niemals auch nur daran denken sollen, es zu brechen.“
 

Erleichtert schloss er den Jüngeren in die Arme und presste ihn fest an sich, kaum Raum zwischen ihnen lassend. Chae keuchte aufgrund der Intensität der Umarmung, konnte aber nicht anders als seine Finger tänzelnd auf die Schultern seines Cousins zu legen, ein verwirrtes „eh?“ ausstoßend.

„Solltest du nicht im Flieger sitzen?“

Das Schmollen in der Frage brach ein Lachen aus Sun heraus und er versteckte das Gesicht an der Halsbeuge des besten Freundes, presste ihn nur noch näher an sich und nuschelte ein „niemals“, eine Hand im seidigen Haar vergraben, um das Gesicht des anderen an seine Schulter zu drücken. Er konnte die Verwirrung praktisch greifen, aber in diesem Moment wollte er ihn einfach nur bei sich haben – die Wärme des Jüngeren täuschte über die Leere hinweg, die Sun im Inneren verspürte.

So-hwas Flieger hatte vor einer halben Stunde abgehoben. Und beinahe kam Sun sich wie ein Stalker vor, dass er das alles so genau wusste . . . aber er konnte sich einfach nicht helfen . . . so wie er das Gefühl nicht bekämpfen konnte, das alles in ihm zu verschlucken drohte.

Nur die Wärme seines Cousins konnte dem etwas entgegensetzen und als dieser langsam aber sicher die Schnauze voll von zu vielen Fragen und zu wenigen Antworten hatte, kämpfte er sich aus dem Klammergriff frei und Sun sah sich seinen großen Augen ausgeliefert.

„Ich .. erkläre dir alles, versprochen.“ Sun griff nach den Wangen des Jüngeren, umfasste sie mit den kleinen, mit Ringen besetzten Fingern und lächelte scheu, da er wusste, dass Chae das Gefühl haben musste, dass ein Versprechen von ihm nicht mehr wirklich viel wert war. „Lässt du mich rein?“

Chae schien mit sich zu ringen, aber schlussendlich hatte er noch nie zu Sun nein sagen können – also ließ er ihn ins Haus und sie redeten bis spät in die Nacht. Endlich konnte Sun ihm alles erzählen und er fand sich selbst heulend in den Armen des Jüngeren wieder – heulend, weil er einfach nicht darüber hinwegkam, dass er So-hwa hatte ziehen lassen und heulend darüber, weil er so, so dumm gewesen war, überhaupt darüber nachzudenken, Chae allein zu lassen.

Der Jüngere verzieh ihm. Natürlich – welche Wahl blieb ihm auch?

Und er tat noch mehr als das: als Sun emotional vollkommen ausgelaugt mit dem Kopf auf seinem Schoß lag, schwebte ein kleines Fotobuch zu ihnen herüber und Sun griff es aus der Luft, nachdem Chae ihm mit einem Blick signalisiert hatte, genau das zu tun.

„Was ist das?“

Chae lächelte warm. „Unsere neue Wohnung.“

Suns Herz setzte für einen kurzen Moment auf, ehe er ruckartig hoch schnellte und mit fassungslos großen Augen in das makellose Gesicht seines Cousins starrte.

„…Was?“

Das breite Grinsen auf den Zügen Chaes war Lohn genug für jede einzelne verfluchte Träne, als er zuckersüß betonte: „Glaubst du echt ich hätte geglaubt, dass du dein Versprechen brichst? Ich war nur so sauer, weil du nicht mit mir über alles geredet hast, was dich beschäftigt. Wie findest du sie?“ Aufregung brachte die hellen Augen zum Leuchten und sprachlos landete Suns Blick auf den Bildern, die magisch jeden noch so kleinen Winkel der Drei-Zimmer-Wohnung zeigten. Ganz langsam schüttelte er den Kopf. „Wie …?“ Immerhin war Chae sonst nicht gerade der Planer von ihnen beiden, aber vielleicht veränderte auch er sich Stück für Stück? Voller Elan deutete Chae auf einige Stellen auf den Fotos, plauderte vom Besichtigungstermin und von den Bruchbuden, die er sich sonst so angeschaut hatte und Sun konnte nicht anders, als ihn einfach nur anzustarren.

Und in diesem Moment wusste er, dass er alles für seinen besten Freund tun würde – eine unendliche Wärme erfüllte seine Brust und lachend lehnte er seinen Kopf auf Chaes Schulter, was diesen nicht eine Sekunde im aufgeregten Erzählen innehalten ließ.
 

Sie würden zusammen nach Seoul gehen.

Und allein diese Tatsache ließ das Herz Suns ein wenig heilen.

Yejun I - Das Outing

Er war es nicht gewohnt Nervosität zu verspüren. Normalerweise hatte er immer alles im Griff: sein Leben, seine Ziele, die Arbeit, das Studium … und durchaus auch sein Umfeld. Yejun war es gewohnt, dass alles nach seinen Plänen verlief, da er nichts dem Zufall überließ und gleichzeitig spontan genug war, um auf Überraschungen mit der notwendigen Kreativität und Flexibilität zu reagieren. Stress war ein absolutes Fremdwort für ihn. Dass er sich jetzt also fühlte, als wäre er bei einem Verhör, musste an der Aura seiner Mutter liegen, obwohl sie sonst stets und immer eine unglaubliche Wärme für ihn übrighatte. Hmn. Es lag nicht an ihr, wie er sich vor Augen führte, sondern an dem Thema, das er anschneiden wollte.

Vorsichtig setzte er das Wasserglas ab und faltete die Hände im Schoß, ein „Mama?“ wispernd, was den ruhigen Blick der Caféinhaberin auf ihren Sohn fallen ließ.

„Ja, Schatz?“

„Ich wollte mit dir noch über etwas anderes reden. Nicht über die Uni oder die Arbeit…“

„Natürlich.“

Cheon-sa legte das Handtuch weg und setzte sich neben ihren Sohn auf die Couch im Innenbereich des mittlerweile geschlossenen Cafés. Die Lichter waren gedimmt, die Tür bereits abgeschlossen und die Straßenlaternen auf dem Gehweg der belebten Straße schickten lange Schatten über den Fliesenboden. Yejun hatte sich immer wohl bei seiner Mutter und auch in ihrem Café gefühlt, aber heute fühlte er sich seltsam deplatziert. Mit einem langen Seufzer fuhr er sich durch die dunklen Haare und ließ den Blick schweifen, ehe er mit einem schmalen Lächeln und einem leisen „danke“ den Kaffee entgegennahm, den er doch eh nicht trinken würde. Seiner Mutter zuliebe nippte er einmal am Heißgetränk, verzog jedoch angewidert die Nase und schämte sich nicht des Lachens, das von seiner Mutter zu hören war. „Du musst es nicht trinken, wenn du es nicht magst. Ich hoffe, das weißt du?“, zog sie ihn auf und nahm ihm die Tasse wieder ab, um das Getränk selbst zu trinken. Yejun hob die Schultern und schüttelte den Kopf, ließ ihr den Spaß ihn aufzuziehen. Seine Gedanken waren eh viel zu fokussiert auf das, was er sagen wollte, als das er sich jetzt auf einen verbalen Schlagabtausch mit der Mutter hätte einlassen können.

„Yunnie, was ist los?“

Die Besorgnis in der Stimme der Mutter ließ ihn seufzen, ehe er den Kopf schüttelte und ihr ein schmales Lächeln schenkte.

„Ich … hmn. Ich weiß nicht so wirklich, wie ich das Gespräch starten soll und das stresst mich“, gab er schließlich vorsichtig zu und auch wenn es für andere vielleicht kein großes Ding gewesen wäre, so war es das für Yejun. Er wusste immer wie er Gespräche anfangen sollte und es hatte in seinem jungen Leben noch keine einzige Situation gegeben, in der er um Worte verlegen gewesen war.

Selbst im Angesicht seines Longtime-Crushs fühlte er sich nicht derart … hilflos.

Er vermerkte, dass er das Gefühl verabscheute und runzelte die Stirn, den Blick auf die bemalten Fingernägel gerichtet. Die schwielige Hand seiner Mutter schob sich über seine verkrampften Hände und ihre warme Stimme kitzelte an seinen Zweifeln.

„Ich helfe dir. Was fühlst du jetzt?“

„… Hilflosigkeit? Es kommt nicht oft vor, dass ich um Worte verlegen bin.“

„Wie willst du damit umgehen?“

Yejun runzelte die Stirn über diese Frage und wollte schon mit den Schultern zucken, ehe er den Kopf zur Seite zucken ließ und aus den Augenwinkeln die leichten Falten an den Augenwinkeln seiner Mutter erkannte. Die tiefen Furchen auf der Stirn, die vom Nachdenken zeugten, standen im harten Kontrast zu den Lachfalten und Yejun bemerkte einmal mehr, wie schön seine Mutter trotz ihres Alters noch immer war. Ob er das nur so empfand weil sie seine Mutter war?

Wie auch immer, sie brachte ihn zum Nachdenken mit ihrer Frage. Wie wollte er mit der Hilflosigkeit umgehen? Wie konnte er mit ihr umgehen? Es war keines seiner Events auf denen er zu einer halb bekannten Menge sprach … und auch keine Präsentation an der Uni, kein Referat bei der Arbeit, kein Meeting, kein Beratschlagen eines Freundes.
 

Es war sein Coming Out.
 

Und obwohl er lange Zeit bereits geplant hatte, dass es hier und heute, am Abend vor seinem Geburtstag stattfinden sollte, war er trotzdem unvorbereitet. Hah. Wahrscheinlich war das sein Fluch: ein Genie bei der Arbeit, ein Trottel im Privatleben.

Ein selbstbemitleidendes Lächeln zuckte über seine Züge, ehe er die Hand seiner Mutter drückte.

„Hmn. Warst du in Papa verliebt?“

Seine Mutter zögerte bei der Antwort kurz, dann schüttelte sie den Kopf.

„Nicht so, wie man es von mir erwartet hätte. Du weißt bereits, dass unsere Ehe eher dem Zweck als der Liebe diente. Daraus habe ich kein Geheimnis bei der Trennung gemacht.“

„Ich weiß, aber … ich habe mich darüber gewundert, wie du solange bei ihm bleiben konntest, wenn du ihn doch nicht geliebt hast.“

Cheon-sa nahm ihre Hand fort und streichelte ihrem Sohn über die seidigen dunklen Haare, ein leises Kichern auf den Lippen. „Ich habe nicht gesagt, dass ich ihn nicht liebe, Spatz.“ Sie tippte ihm gegen die Nasenspitze, so, wie sie es bereits hunderte, tausende Male in seinem Leben getan hatte und auch wenn es ihn hin und wieder nervte, so war es heute eher beruhigend, wenn ihre Worte auch verwirrend waren.

„Ist es in Ordnung, wenn ich dich nach einer Erklärung frage?“, horchte Yejun vorsichtig nach und seine Mutter nickte, ein „natürlich“ lächelnd, ehe sie die Hände wieder zum Tassehalten nutzte. Yejun beobachtete seine Mutter, während sie zu sprechen begann.

„Ich denke, du bist mittlerweile alt genug um zu wissen, dass Liebe nicht immer gleich Liebe ist, oder?“

Aufmerksam forschte Cheon-sa im Gesicht ihres Sohnes nach einer Bestätigung, fand jedoch vorerst nur Verwirrung und sah sich zu einer weiteren Erklärung gezwungen.

„Liebst du deine Schwester?“

„Hm, manches Mal.“

Cheon-sa musste lachen und brachte ein „okay, das verstehe ich“ hervor, was Yejun auch zum Schmunzeln brachte. „Wie sieht es mit deinen Freunden aus? Min-nari?“ Die Antwort auf diese Frage dauerte etwas länger und Yejun dachte gut über die Frage nach, ehe er vorsichtig nickte.

„Ja, schon. Manches Mal“, wiederholte er die wage Antwort vom letzten Mal, dieses Mal jedoch weich lächelnd. „Es gibt Momente, in denen könnte ich ihm den Kopf abreißen, aber alles in allem … denke ich, weiß ich, worauf du hinauswillst. Aber meinst du damit, du hättest Papa platonisch geliebt?“

„Hmmm, nein.“ Cheon-sa schüttelte den Kopf. „Ich respektiere deinen Vater sehr und weiß, wie viel er für mich geopfert hat.“

Das helle Interesse in den Augen ihres Sohnes amüsierte sie, aber sie schüttelte den Kopf. „Es ist nicht an mir, seine Geheimnisse zu verraten, Yunnie.“ Die Enttäuschung auf den jungen Zügen verleitete sie dazu, ihm in die Wange zu kneifen und schnell ihre Hand wegzunehmen, als ein wildes Schlagen folgte. Sie lachte und Yejun musste unfreiwillig giggeln.

„Über all die Jahre hat er nie Unmögliches von mir verlangt und mich immer unterstützt. Natürlich haben wir uns gestritten, Gott, du weißt wie heftig.“ Yejun nickte. „Und natürlich konnte ich nicht immer alles nachvollziehen, was er mir an den Kopf warf. Dein Vater ist ein kompliziert einfacher Mann, aber er hat mich nie verurteilt und selbst nachdem … nun …“

Cheon-sa verstummte und eine sachte Röte trat auf ihre Wangen, die Yejun noch nie an ihr gesehen hatte. Verlegenheit? Vermutlich. Überraschung zog die gezupften Augenbrauen empor und er musterte seine Mutter, die verschiedensten Gedanken im Kopf, ehe sich einer herauskristallisierte. Seine Miene verfinsterte sich.

„Du hast ihn betrogen?“, mutmaßte er trocken und Cheon-sa wog den Kopf hin und her, ehe sie ihn schüttelte. „Nein, keiner von uns beiden würde es so nennen. Aber ja, ich bin sicher, du würdest es so nennen, Yejun.“ Dass sie seinen richtigen Vornamen nutzte verdeutlichte ihre Distanz zum Thema und nachdenklich musterte der Sohn die Mutter und wurde nicht schlau aus ihren Worten.

Nein? Aber ja? Seine Eltern sahen es nicht so aber er schon?

Er seufzte ein „du nervst“, ehe er den Kopf schüttelte. Seine Mutter war drauf und dran ihm zu erzählen, dass sie seinen Vater betrogen hatte, richtig? Wollte er das wirklich wissen? War er bereit dafür, dass die heile Familienwelt zusammenbrechen würde? Trotz der Scheidung vor vier, bald fünf Jahren war Yejun immer davon ausgegangen, dass die Gefühle seiner Eltern einfach nicht mehr gereicht hatten und so – oder so ähnlich – hatten sie es ihm damals auch erklärt. Nicht, dass es für ihn als Volljähriger eine große Rolle gespielt hätte, aber so oder so hätte er nie im Leben gedacht, dass eines seiner Elternteile das andere betrogen hatte. Dass etwas derart G r o ß e s vorgefallen war, das sie schlussendlich zu diesem Schritt bewogen hatte.

„Erklärs mir“, forderte er kühl, die Arme verschränkt, merklich emotionale Distanz zu seiner Mutter aufbauend und Cheon-sa nickte langsam.

„In Ordnung.“

Sie hinterfragte es nicht – sie wusste, dass Yejun das Für und Wider abgewogen hatte und zum Schluss gekommen war, dass die Wahrheit aktuell wichtiger als seine Gefühlswelt war. Sie zwang sich, nicht zu lächeln, als sie fortfuhr: „Es wird ein Schock für dich werden, Yunnie. Ich habe Soju da, wenn dir danach ist…?“

Er schüttelte den Kopf.

„Ich werde morgen noch genug trinken und hierfür brauche ich einen klaren Kopf“, behauptete er stur und blickte seiner Mutter fordernd in die Augen, ein „also?“ beisteuernd, denn was auch immer sie ihm erzählte, konnte kaum schockierender werden als das, was er sich ausmalte.

„Nun gut, dir ist es ernst damit. Ich führe seit bald 15 Jahren eine geheime Beziehung.“ Yejun starrte seine Mutter an.

Seit … 15 Jahren … betrog sie seinen Vater?!

SEIT 15 JAHREN?!

Also, streng genommen zehn Jahre ihrer Ehe … … Seitdem er aufs Internat gegangen war … … Yejuns Kopf begann schwer zu werden und es kündigte sich eine jener seltenen Kopfschmerzen an, als er fassungslos seine Mutter anstarrte.

Moment … was hieß hier ‚geheime Beziehung‘? Natürlich war eine Affäre geheim … als verheiratete Frau … Urgh. Ihm wurde schlecht. Sein Vater war bei weitem kein einfacher Mann und auch Yejun hatte wirklich Probleme mit ihm, aber er liebte ihn aufrichtig und aus vollem Herzen und niemand, er betonte es, NIEMAND hatte es verdient, derart hintergangen zu werden.

Das wünschte Yejun nicht einmal Nam-kyu.

Wut zuckte lebhaft über seine Gesichtszüge und Cheon-sa lächelte verständnisvoll, während sie ihren Sohn das Gehörte bis zu einem gewissen Punkt verdauen ließ, ehe sie gnadenlos fortfuhr und nicht auf sein Urteil wartete.

„Die Beziehung geht immer noch weiter und ich hielt sie nicht geheim, weil ich verheiratet war. Wäre es ein Mann gewesen, hätte ich mich von deinem Vater getrennt sobald wir uns verliebt hatten.“

Wut wurde durch Erkenntnis abgelöst und die weichen Lippen Yejuns öffneten sich leicht, ein „ah“ ausstoßend. Wäre es ein Mann gewesen wiederholte er die Worte seiner Mutter immer und immer wieder im Hinterkopf und das Kopfweh war wie weggeblasen. Eine bleierne Schwere legte sich über sein Herz, das zäh klopfte und nur langsam schien wieder Leben in ihn einzukehren.

„Eine … Frau?“, hörte er sich selbst wertfrei fragen und sah seine Mutter nicken, was ihn vollkommen aus der Bahn warf. „Du bist lesbisch“, stellte er abermals wertfrei fest und wieder nickte seine Mutter. Es vergingen Sekunden, die sich wie Minuten anfühlten, in denen Yejun seine Mutter einfach nur anstarrte. Wortlos. Gedankenlos sogar. Lediglich die Tatsache, dass seine Mutter ein derart gigantisches Geheimnis mit sich herumgetragen hatte, all die Jahre, wurde ihm schlagartig bewusst.
 

Sie hatte seinen Vater nie lieben können, obwohl er es verdient gehabt hatte.

Yejun konnte sich die Schuldgefühle vorstellen – die Einsamkeit, die Hilflosigkeit – und all die düsteren Stunden des Selbsthasses, des Verurteilens, des Verteufelns.

Sie hatte jemanden gefunden, den sie liebte und hatte doch nicht ihrem Herzen folgen können.
 

Yejun wurde mulmig zumute und er spürte, dass sich Tränen in seinen Augen gesammelt hatten, die er nicht mehr wegblinzeln konnte. Cheon-sas Augen wurden groß und ein „Liebling“ brach sich an ihren Lippen, doch ehe die Mutter hätte reagieren können, zog Yejun sie in eine unbarmherzige Umarmung. Es war unbequem auf der Bank des Cafés, doch das störte ihn nicht. Er konnte sich nicht vorstellen ein Leben als Schatten seiner selbst zu führen, so, wie seine Mutter es ihr Leben lang getan hatte.

Eine Lüge – alles war eine Lüge. Eine bequeme Art, weil die Gesellschaft es Frauen noch schwerer als Männern machte und weil ihre Familie ihr wichtiger als ihr eigenes Glück gewesen war. Oder weil sie Angst gehabt hatte. All die Angst…

Yejuns Hand wanderte zum Hinterkopf seiner Mutter und er drückte ihre Stirn gegen seine Schulter, spürte, wie ihre Hände sich vorsichtig an seinen Rücken lehnten, dort sanft klopften als wolle sie ihm sagen, dass ‚alles okay‘ war, doch er schüttelte sachte den Kopf, nicht bereit, diesen Kompromiss für sie einzugehen.

Nichts war okay.

Nicht, dass sie dazu gezwungen gewesen war – oder sich dazu gezwungen gesehen hatte – ein falsches Leben zu führen und nicht, dass sie ihren Mann betrogen hatte.

All das war absolut nicht okay.

Yejun verstand es. Oh, bei Gott, er verstand es so sehr, dass es ihn schmerzte. Aber niemand sollte eine Lüge leben müssen … und zum Lügen verteufelt sein.

Er glaubte fest daran, dass jeder Mensch auf diesem Planeten eine Daseinsberechtigung hatte, genau so wie er eben war – vollkommen ungeachtet der Persönlichkeit, der sexuellen oder politischen Orientierung, der Religion, des Blutstatus oder der Gesinnung. Es war eine romantische, absolut utopische Vorstellung, das wusste er – aber nichtsdestotrotz wollte er ihre Welt besser machen und in eine Richtung entwickeln, in der Vorurteile nicht mehr wie ein Damoklesschwert über jenen hingen, die abseits der Norm wirkten.

Denn schlussendlich bestimmten sie alle doch, wie die Norm überhaupt erst aussah.
 

Aber all das war nur ein philosophisches Gebilde, das dazu führte, dass er nun seine Mutter nicht losließ, während er leise in ihr Ohr flüsterte: „Es tut mir leid, dass du das Gefühl hattest, all die Zeit lügen zu müssen.“

Cheon-sa hielt die Luft an.

Wann war ihr Junge so erwachsen geworden?

Sie lachte in den Stoff seines extravaganten Oberteils und klopfte ihm abermals auf den Rücken – „ah, ah, alles okay, Yunnie“ – ehe sie sich aus seiner Bärenumarmung freikämpfte. Mit einem liebevollen Lächeln strich sie ihm die Tränen fort. „Ist das alles was du dazu sagen willst, Spatz?“ Sie war darauf vorbereitet, dass er wüten und toben und vielleicht sogar mit ihr brechen würde, zumindest für eine gewisse Zeit, doch diese Ruhe hatte sie nicht erwartet.

„Ah. Nein. Sicherlich nicht. Aber …“ Yejun schüttelte sich kurz, weil er sich von ihrem Lächeln anstecken ließ und fuhr sich selbst noch einmal über die feuchten Augen. „Aber warum bist du so entspannt?“

„Ich habe mein Leben lang Zeit gehabt um mich der Wahrheit zu stellen und meine einzige Angst jetzt ist, dass ich dich oder Aera verliere.“ Ihre Augen wanderten zu seinen und abermals strich sie ihm die Tränenspuren von den Wangen. „Verstehst du nicht? Ich habe mich damit abgefunden, dass ich May auf der Straße nicht werde küssen können-“

„TANTE MAY?!“

Perplex hielt Cheon-sa inne und blinzelte, ein überraschtes „ja“ als Antwort gebend und dabei zusehend, wie ihr Sohn sich mit der flachen Hand vor die Stirn schlug. Alles geschah so schnell, als er ein wenig Distanz zu ihr aufbaute und in wildes Lachen ausbrach. Das … war gruselig, selbst für die gefasste Caféinhaberin.

„Oh, es ergibt plötzlich alles so viel Sinn! Mama!“

Yejun bekam sich kaum ein und irgendwann war sein Lachen so ansteckend, dass Cheon-sa mitlachen musste, auch wenn sie gar nicht lachen wollte und immer wieder ansetzte zu fragen, was so lustig war.

Yejun kannte Mei-ho nur als Tante May.

Sie war eine taffe Frau und man konnte sie nur als cool bezeichnen. Seit Yejun denken konnte, war Tante May immer dagewesen – eine Freundin der Familie – und jetzt ergaben so viele Erinnerungen so viel mehr Sinn! Seine Mutter und Tante May lachend auf dem Sofa, einander in den Armen liegend, als er im Sommer seines fünften Jahres aus dem Internat nach Hause gekommen war. Die Stille, die zwischen ihnen plötzlich geherrscht hatte und der abrupte Aufbruch Tante Mays, der ihm damals als Zwölfjährigem zwar seltsam vorgekommen war, aber er hatte das alles nicht weiter hinterfragt. Und jetzt wo er darüber nachdachte hatte es dutzende solcher Situationen gegeben – bedrückende Stille, wundersame Wortfetzen, seltsame Blickwechsel – und wäre Yejun aufmerksamer gewesen … ah, er hätte seinen Eltern so viel Leid ersparen können.

Plötzlich wurde er wieder ernst.

„Weiß Papa es?“

Cheon-sa kicherte noch ein paar Atemzüge. „Von Anfang an.“

„Wa..?“

„Dein Vater hat mich geheiratet, obwohl er von meiner sexuellen Neigung wusste“, lächelte Cheon-sa und nun wusste Yejun, was sie meinte mit ihren ersten Worten: Sie liebte ihn aber war nicht verliebt. Das sanfte Lächeln war voller Zuneigung zu dem Mann, den sie geheiratet hatte und dem sie zwei Kinder verdankte und den sie dennoch nie aus vollem Herzen romantisch hatte lieben können.

„Dein Vater ist ein sehr warmherziger Mensch … Er gab mir die Möglichkeit, mich vor aller Augen zu verstecken und dich wundervollen Menschen“, sie wuschelte ihm durchs Haar, was Yejun regungslos vor Schock über sich ergehen ließ, „zur Welt zu bringen. Es war immer klar, dass wir eine Ehe auf Zeit führen, bis ich genug Mut habe, um ihn zu verlassen und die Schuld auf mich zu nehmen. Mein Dankeschön für all die Jahre, die er es mit mir ausgehalten hat und mir ein Alibi gegeben hat.“ Das Lächeln wurde beinahe schmerzhaft strahlend und Yejun fand sich abermals weinend auf der Cafébank wieder, vollkommen aufgelöst von der Eröffnung der Mutter.

Es war ihm unbegreiflich, wie man das eigene Glück so wegwerfen konnte.

„Ihr … seid doch absolut … verrückt“, hörte er sich selbst schluchzen und Cheon-sa war sichtlich überfordert mit den plötzlichen Gefühlsausbrüchen ihres Sohnes, den sie noch nie derart aufgelöst erlebt hatte. Dass er so mit ihr und ihrem Ex-Mann mitfühlte … dass er so verständnisvoll und so wenig anklagend war … trieb ihr auch die Tränen in die Augen.

„Du bist so ein wundervoller junger Mann geworden, Yejun…“, wisperte sie, als sie ihn auf die Wange küsste und sein Gesicht in ihre Hände nahm, um ihm schließlich noch einen Kuss aufzudrücken, so, wie sie es schon seit seiner jüngsten Kindheit nicht mehr getan hatte. Und sicherlich war es ihnen beiden auch peinlich – sie hatten ein Alter erreicht, wo man das nicht mehr tat, der Gesellschaft geschuldet, aber wie Yejun schon zuvor mehr als deutlich gemacht hatte: Die Gesellschaftlichen Normen konnten ihn mal gern habe.

Also verschob er die Scham über den Kuss irgendwo dahin, wo Leute ihn mal gernhaben konnte, und schloss seine Mutter stattdessen noch einmal in seine Arme.

„Dank dir. Und Papa. Alles nur euer Verdienst. Danke, dass ihr mich geboren habt.“

„Ach… Spatz. Jetzt fang nicht so an… Du machst deine Mama gerade sehr, sehr emotional.“

„Tut mir leid, tut mir leid, das .. das war gar nicht .. das war nicht meine Absicht, aber .. aber .. ihr seid so .. so ..“

„… wundervolle Menschen?“

„DUMM!“

Yejun und Cheon-sa brachen beide gleichzeitig in Lachen aus und obwohl Yejun den Soju verneint hatte, holte seine Mutter ihn nun doch – zusammen mit Taschentüchern und ein paar übriggebliebenen Gebäckstücken – und schenkte ihnen beiden jeweils ein kleines Glas ein.

„Auf deine dummen Eltern?“, setzte sie scherzhaft an und Yejun ergänzte „auf meine wundervollen Eltern, ja“ ehe sie beide das kleine Glas exten und Cheon-sa ihnen direkt nachschenkte.
 

Die Flasche neigte sich dem Ende und Yejun fühlte sich gut benebelt, aber nicht betrunken. Die Gebäckstücke hatten sie vernichtet, der Kaffee war mittlerweile kalt und es war schon sehr spät geworden, aber der eigentliche Grund für seinen Gesprächswunsch mit seiner Mutter fiel Yejun nun endlich wieder ein.

Das Outing seiner Mutter und das Geständnis über die Beziehung der Eltern hatte ihn vollkommen aus der Bahn geworfen und nachdem er nun die Seite seiner Mutter kannte, brannte er darauf, auch die Seite seines Vaters zu erfahren, aber … ah, Gespräche mit ihm waren immer schwierig und Yejun konnte sich schon beinahe bildlich vorstellen, wie sein Vater abwinkte und seine Frage mit einem trockenen „du weißt doch offensichtlich schon Bescheid“ beantwortete.

Nachdenklich kaute er auf einem seiner Fingernägel herum, ehe seine Mutter seine Hand beinahe gewaltsam runterzog und ein altes Streitthema losbrach.

„Kein Kauen.“

„Jah.“

„Wie oft habe ich dir das nun schon gesagt?“

„Mach den Abend nicht kaputt, Mama.“

„Dann hör du endlich auf, dir deine schönen Nägel kaputt zu machen. Guck. Der Lack ist auch ab.“

„Jaaaaah.“

Stille fiel wieder über sie, als sie das letzte Glas leerten und Yejun spielte mit dem leeren Glas als Ablenkung.

„Spatz … nach dem langen Gespräch über meine verlorene Jugend“, Cheon-sa lachte, aber sie lachte allein, „du wolltest mir eigentlich etwas ganz anderes sagen, habe ich nicht Recht? Wir waren nicht hier, um über mich zu sprechen, oder?“

„Hmn. Du hast Recht“, bestätigte Yejun leise und vielleicht hätte es nach dem Outing der Mutter einfacher sein sollen, aber irgendwie machte es das für ihn nur noch schwerer. Was, wenn er alte Wunden bei ihr aufriss? Was, wenn sie nur vorgab mit ihrer Vergangenheit abgeschlossen zu haben und sich mit dem Stand ihrer Beziehung in der Öffentlichkeit abzufinden? Was, wenn er sie nun mehr verletzte als dass er sie stolz machte?

Ah. Es half nichts. Er würde sie nicht anlügen wollen. Und irgendwann würden unweigerlich Fragen kommen – Fragen, die bisher nie zur Debatte gestanden hatten, da Yejun immer viel zu tun gehabt hatte und klar gemacht hatte, dass er bis zum Abschluss nicht daten wollte. Aber … aber …

Der Abschluss war nicht mehr weit.

Und während seine Mutter so mutig gewesen war und ihm nach fast 22 Jahren endlich die Wahrheit gesagt hatte, wollte Yejun es ihr gleichtun.

„Mir fehlen immer noch die Worte, daher … mache ich es kurz.“ Er atmete durch und schaute in die Augen seiner Mutter, die Augenbrauen angestrengt zusammengezogen, das kleine Schnapsglas fest umklammert. Der Alkohol war warm und wohltuend in seiner Brust, doch sein Magen wurde unendlich kalt. „Ich bin schwul.“

Es war nur kurz still, ehe Cheon-sa ausatmete und ein „gott sei dank“ murmelte, was Yejun irritiert blinzeln ließ.

„Ich dachte schon du willst mir eröffnen, dass du Drogen nimmst oder dich ohne mein Wissen einer OP unterzogen hast oder jemanden geschwängert hast … Ah, Yunnie.“ Sie kniff ihm grinsend in die Wange und Yejun war versucht, die Hand wieder wegzuschlagen, ließ es aber. Allein die Geste ließ ihn rot werden und auch wenn Schamgefühl und Nervosität nun wirklich nicht seine bekanntesten Gefährten waren, ließen beide sein Herz gerade rasen.

„Hast du jemanden?“

Yejun schlug den Blick nieder, die Lippen zu einem nachdenklichen Lächeln verzogen, ehe er langsam den Kopf neigte.

„Nicht wirklich … Also …“

Unsicher sog er die Unterlippe ein und musste lachen, als seine Mutter näher rutschte, plötzlich Feuer und Flamme.

„Es gibt da also jemanden! Oh, Yunni! Hast du ein Foto von ihm? Kenne ich ihn? Kennst du ihn?“

Seine Mutter stellte die normalsten Fragen der Welt und machte es ihm somit absolut leicht zu verstehen, dass es kein großes Ding war und er verstand, dass es das für sie auch nicht war. Dass es das für niemanden sein sollte. Seit wann mussten sich Heteromänner bei ihren Eltern als hetero outen? Richtig – warum musste das für Schwule gelten?

Aber der Inhalt der Fragen sickerte langsam zu ihm durch und unbekannte Verlegenheit zupfte an seinem Inneren, ließ seine Wangen brennen und er hörte sich selbst „n-nun, a-also“ stottern, etwas, das er absolut nicht gewohnt war. Frustriert über die eigene Unzulänglichkeit fuhr er sich durch die Haare und schaute seine Mutter lange schweigend an. Die erwartungsvollen Augen und die beinahe greifbare Aufregung ließen ihn glauben, dass es okay war. Dass alles okay war.

Also holte er langsam sein Handy hervor und entsperrte es, ehe er gezielt und ohne lange zu suchen Ki-hos Kontakt öffnete und das neuste Profilbild seiner Mutter zeigte.

„Ah!“

Ihre Augen wurden groß und sie biss sich auf die Unterlippe, ehe sie ihm wieder durch die Haare wuschelte. Auch dieses Mal ließ er es regungslos zu, vollkommen überrumpelt von den Worten, die ihre Geste unterstrichen.

„Er weiß es noch nicht, oder? Hach, Yunnie. Ihr wärt ein bildschönes Paar. Weißt du noch, dass du ihm den Gänseblümchenring gegeben hast?“ Sie kicherte und Yejun spürte, wie sein Herz zu poltern begann und Wärme durch ihn hindurchströmte. „Da warst du erst sechs … oder fünf? Er war jedenfalls noch nicht lange in der Gegend, das weiß ich noch, aber du warst dir so sicher, dass du ihn heiraten würdest.“ Sie lachte und Yejun war vollkommen überrumpelt von der Intensität der Erinnerung, die er vergessen geglaubt hatte. „Eigentlich hätte ich es seitdem wissen müssen, hm? Aber ehrlich gesagt war es für mich immer egal, wen du einmal lieben würdest … Für mich war immer nur wichtig, dass du irgendwann einmal aus vollem Herzen sagen kannst „ich liebe dich“ und dass derjenige das dann auch zu dir sagt. Dass du glücklich dabei bist und-“ Weiter kam Cheon-sa nicht, als die Arme ihres Sohnes sich um ihren Hals schlangen und ein gewispertes „danke“ auf seinen Lippen lag, das sie von Innen heraus strahlen ließ, ehe sie die innige Umarmung erwiderte und ihm einen Kuss auf die Wange drückte, dort, wo sie eben hinkam, ehe sie ihn von sich schob.

„Alles Gute zum Geburtstag, Spatz.“

Überrumpelt schaute Yejun auf die Uhr und musste lachen.

„Hah. Ich glaube, du hast mir eben das beste Geschenk überhaupt gemacht.“

Das Handydisplay leuchtete auf und neben gefühlten fünfzig Nachrichten war auch eine kleine farbige 1 neben Ki-hos Namen zu sehen und Glück strömte durch jede Pore Yejuns, als er die Glückwünsche seines Schwarms in sich aufsog, die Unterlippe schmerzhaft doll zwischen die Zähne gesogen.

Cheon-sa beobachtete ihren Sohn mit liebevollem Schalk.

„Willst du ihm nicht danken?“

„Mama!“

„Was denn? Willst du die Chance verstreichen lassen?“

Yejun fuhr sich mit der Hand in den Nacken und versperrte das Telefon, packte es zurück in die Hosentasche und griff nach seiner Tasche.

„Ich gehe jetzt.“

„Aw, Yunnie…“

„Nein, Mama, ich gehe. Das war zu viel.“

„Mein Spatz wird erwachsen… Er entfliegt dem Nest…“

„TSCHÜSS, Mama, ich melde mich mindestens drei Wochen nicht bei dir!“

„ER FLIEGT DAVON!“, brüllte Cheon-sa noch der geöffneten Personaleingangstür hinterher und Yejun ließ sie grinsend ins Schloss fallen, ehe er halb amüsiert, halb verärgert den Nachhauseweg antrat.

Das Outing war … seltsam gewesen. Und hatte so viele Fragen aufgeworfen … Aber die Wärme in seinem Herzen ließ auch dann nicht nach, als er im kleinen Apartment angekommen war und ins Bett gefallen war.

Das Bewusstsein, dass seine Mutter da sein würde … und dass sie ihn absolut bedingungslos unterstützte … war beinahe besser als der Geburtstagswunsch von Ki-ho.

… Aber nur beinahe.

Noori I - Der Einzug

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Kwan I - Das Licht

Gelassen knöpfte Kwan sich das Hemd zu, die Augen auf Halbmast geschlossen, während ihr heftiger Atem noch im Raum verhallte.

„Verschwinde.“

Seine Stimme war bar jeglicher Emotionen und er stützte die Unterarme auf seinen Oberschenkeln auf. Er warf einen halbherzigen Blick zur nackten Frau auf dem ausladenden Hotelbett und Entsetzen löste langsam die Nachwirkungen der Sensation auf den Zügen der jungen Frau ab. Wie immer, mochte Kwan ihr am liebsten an den Kopf werfen, doch seine Lippen blieben stumm.

„… Also stimmt es, was man sich über dich erzählt“, hörte er sie wispern und dafür, dass sie Minuten zuvor noch voller Lust seinen Namen gestöhnt hatte, hörte er jetzt nur Verachtung in ihrer Stimme. Es war so widerwärtig wie schnell Menschen ihre Meinung ändern konnten. Gelangweilt legte er den Kopf schief, die Augen auf Halbmast geschlossen.

„Was erzählt man sich denn, Ijun-ah?“

„Der kalte CEO, der Frauen wegwirft? Dessen Herz seiner Arbeit allein gehört? Ich dachte …“

„Du dachtest … was genau, Ijun-ah?“

Die dunkeln Augen Kwans kamen ausdruckslos auf der nackten Gestalt knapp hinter sich zum Liegen und mit einem Zungenschnalzen deutete er ohne viele Muskeln zu bewegen auf ihr Kleid, das auf dem Boden lag.

„Zieh dich an. Und dann verschwinde.“

„Ich dachte, es wäre anders“, hörte er sie wispern und die Verachtung war durch Verzweiflung abgelöst worden. Auch hier: wie immer. Noch immer zuckte kein einziger Gesichtsmuskel des mächtigen Mannes in seinen Mittzwanzigern. Stattdessen deutete er ein weiteres Mal auf das Kleid.

„Was hätte anders sein sollen? Du wolltest deinen Spaß und du hast ihn bekommen.“ Die dunkle doch monotone Stimme Kwans hallte in den Weiten des Luxuszimmers und Ijun schluchzte.

„Wir sind seit drei Wochen…-“

„-gemeinsam auf Anlässen gewesen, richtig.“ Mit einem langen Seufzer stand Kwan auf, sich das Hemd in die Hose steckend und machte sich die Armbanduhr um. Kurz darauf kamen seine Augen ohne jegliche Spur von Mitleid auf Ijun zum Liegen „Weißt du, was das Wundervolle ist?“ Die Kälte in seiner Stimme ließ sie schaudern und hilflos griff sie nach der Decke, um sich darin einzuhüllen und irgendwie die Wärme zu spüren, die sie noch vor einer Stunde in seinen starken Armen verspürt hatte.

„Die Welt wird voller Mitgefühl auf dich schauen, sobald du dieses Hotel verlässt. Sie wird dich mit Anteilnahme und Verständnis überschütten und dein Name wird in aller Munde sein. Keiner wird dich für das öffentlich verurteilen, was du heute getan hast … Nur mein Name wird einmal mehr in der Boulevardpresse auftauchen und einmal mehr werde ich als ‚der Teufel von Seoul‘ bezeichnet.“ Die Uhr gab ein metallisches Klacken von sich, als er sie schloss und ein freudloses Lächeln zuckte über die maskulinen Züge. „Ist das nicht absolut wunderbar für dich?“

Ijun schüttelte langsam den Kopf – es war absolut unmöglich etwas darauf zu antworten. Kwan nahm ihr die Antwort ab: „Aber weißt du, was wunderbar für mich sein wird?“

Achtlos wandte er ihr den Rücken zu, griff nach seinem Jackett und zog es über, richtete es sorgfältig, während seine Worte einer Drohung gleich im Raum standen.

„Du bekommst all das Mitgefühl der Welt …“ Kalte Augen kamen auf ihr zum Liegen. „Und ich all ihr Geld. Und weißt du, was man mit dem Geld der Welt kaufen kann? Richtig. Anwälte. Anwälte, die dich zum Schweigen bringen werden und Anwälte, die dafür sorgen werden, dass du niemals wieder in meiner Nähe auftauchen wirst. Anwälte, die dich zu einer Randnotiz in der Geschichte der koreanischen Zeit machen werden und Anwälte, die dich vernichten werden, solltest du es wagen, gegen mich aufzubegehren.“

Ijun zitterte, als sie flüsternd fragte: „Drohst du mir?“

Kwan lächelte, doch das Lächeln erreichte seine Augen nicht, als er zu seiner Krawatte griff und sie geschickt und ohne viel Federlesen band.
 

„Das ist nicht nötig.“
 

„… Du hast … du hast mir gerade … du sagtest, du willst mich fertigmachen.“

Kwans Augen kamen abermals auf ihr zum Liegen und eine unangenehme Stille breitete sich zwischen ihnen aus. Langsam ließ er den perfekt gebundenen Krawattenknoten los und ging auf die junge Frau zu, die starr vor Angst auf dem großen Bett saß.

„Hast du das Gefühl bekommen, dass ich dich fertigmachen will?“, wisperte er und Ijun spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen.

„D-du ha-hast es selbst gesagt!“

„Hattest du das Gefühl auch, als ich dich besinnungslos gevögelt habe?“

Abscheu zuckte über Ijuns Gesicht und sie wagte es nicht, ihren Blick von dem CEO zu lösen, der noch viel schlimmer war als das, was man sich hinter vorgehaltener Hand erzählte. Wie hatte sie ihm nur verfallen können?

„Du … du bist …“

„Was? Wahrlich der Teufel von Seoul?“, schnaubte Kwan, vor dem Bettende anhaltend und die Hände in die Hosentaschen schiebend. Ausdruckslos musterte er das zusammengefallene Häufchen Elend. „Sagt die Frau, die sich drei Wochen lang von mir hat behandeln lassen wie die zukünftige Kaiserin von Japan.“

„Aber doch nur-“

„-weil du unbedingt den Bugatti statt dem BMW wolltest … weil du unbedingt Versage zu Gucci auftragen wolltest … weil eine Kutsche gezogen von Einhörnern nicht genug war, sondern du den Hornschwanz wolltest … weil an deinem zarten Finger nur ein 12 Karäter gut genug ausgesehen hat … Denkst du wirklich, dass du das Opfer in dieser Beziehung bist?“

Fordernd hielt Kwan Ijun die Hand hin und voller Panik starrte sie auf die langen Finger, die wenige Minuten zuvor derartige Wunder in und an ihr bewirkt hatten. Wie konnte sie die Brutalität, mit der er gerade emotional gegen sie vorging, nur mit dem sensationellen Sex in Verbindung bringen? Sie wusste nicht, was er von ihr wollte und ihre Fantasie spielte verrückt – und das nicht mehr im Positiven.

„Was … was willst …“

„Ich dachte, du willst mir meinen Ring vielleicht zurückgeben.“

„Ich..ich..“

Kwan schnaubte und setzte sich in einen der Sessel, weit vom Bett entfernt, die Beine überschlagen, den Blick lustlos auf die junge Frau gerichtet.

„Ja. Ich weiß. Du hast ihn bereits verpfändet.“

„NEIN! Ich .. ich hab ihn..“

„Was? Verloren? Du wurdest überfallen? Du hast ihn gespendet? Oh bitte, Ijun-ah, mach dich nicht lächerlich. Ich kenne all die Ausreden bereits und keine davon hat mich bisher beeindruckt.“ Ijun begann hemmungslos zu weinen und Kwan ließ ihr einen Moment, ehe er rücksichtslos fortfuhr: „Weißt du: hättest du mich gefragt, ob du Geld für die Behandlung deiner kranken Großmutter bekommst, hätte ich zugestimmt.“

Ijun sog scharf die Luft ein, versuchte ihre zitternden Schultern unter Kontrolle zu bekommen und starrte Kwan an.

„Und hättest du mich gefragt, ob ich die Kosten für die Universität in Busan übernehme, hätte ich zugestimmt.“

Jetzt war sie nur noch ein wimmerndes Häufchen. Ijun versteckte ihr vom Weinen hässlich geschwollenes Gesicht nun doch hinter ihren Händen und schien nicht mehr zu befürchten, dass Kwan ihr etwas antun würde. Er hörte ein gejammertes „warum“ zwischen ihren Schluchzern und mitleidslos stützte er sein Kinn auf der aufgestützten Hand auf.
 

„… Weil ich auch dachte, es könnte anders sein.“
 

Schlagartig hörte Ijun auf zu Weinen und starrte ihn aus großen geröteten Augen an.

„Ich dachte, dass du anders sein könntest, Ijun-ah. Wenn ich dir nur genug Aufmerksamkeit, genug Liebe schenke, dass du anfangen würdest, mich auch zu lieben. Nicht mein Geld … nicht meinen Status … und nicht das, zu was ich dich machen könnte, wenn ich mich nur ein bisschen anstrengen würde.“ Kwan lächelte schief – doch abermals erreichte das Lächeln nicht seine Augen, ein Fakt, den Ijun nicht sah, war sie doch so geblendet von den Worten, die der mächtige Mann ihr und nur ihr schenkte. IHR! Einer einfachen Jurastudentin! „Dass du dich in den Mann hinter dem Geld verlieben könntest.“

Ijun schluckte schwer, ein „meinst du das ernst?“ wispernd, die Decke nun um ihren Körper geschlungen und mit zitternden Beinen aufstehend. Kwan beobachtete, wie sie Stück für Stück näher kam … und mit milder Enttäuschung schlug er den Blick auf ihre nackten Zehen nieder, die unter der Decke hervorlugten.
 

Es war immer das Gleiche.
 

Sobald er erwähnte, dass es anders hätte sein können, warfen sie ihre Selbstachtung über Bord und versuchten mit aller Intensität an das anzuknüpfen, was sie bereits vor Stunden verloren hatten. Er war das Verhalten dieser Frauen derart leid. Und daher wanderte der Blick des hartherzigen Mannes wieder an der schlanken Gestalt herauf und er fragte: „Was wird das?“

„Ich meine … i-ich … wenn du das wirklich so siehst … ich kann mich ändern!“

Unbeeindruckt beobachtete Kwan, wie Ijun näher auf ihn zukam, eine Hand unsicher lächelnd nach ihm ausgestreckt.

„I-ich werde dich nie wieder anlügen! Und…und…dir nichts mehr verheimlichen! Kwan-ssi, i-ich tue alles-“

„-und als erstes wirst du dir dein Kleid anziehen und verschwinden“, beendete er ihre erbärmliche Rede kalt und sah gleichgültig dabei zu, wie er sie zum dritten Mal an diesem Abend zerbrach.

„A..b..er… du sagtest doch…“

Ein Seufzen war von ihm zu hören.
 

„Walther!“
 

Die Tür zum Hotelzimmer ging auf und Ijun sog die Luft ein, sprang einen halben Meter zur Seite und stolperte über die eigenen vom Sex noch schwachen Beine, kam leise schreiend auf dem Boden auf und starrte den fremdländisch aussehenden Mann im Türrahmen entsetzt an, der das ganze Theater ähnlich unbeeindruckt wie sein Chef beobachtet hatte.

„Bitte zeigen Sie Ijun-ah den Weg nach draußen.“

„Natürlich. Sonst noch etwas, Sir?“

„Überreichen Sie ihr die Verschwiegenheitsklausel und die siebzigtausend Galleonen von denen wir sprachen. Bringen Sie sie dazu, zu unterschreiben.“

Mit tellergroßen Augen starrte sie zum CEO, der diese gigantische Summe in den Mund nahm, als handelte es sich um die Bestellung eines Eiskaffees.

„Wieso … tust du das?“

Langsam schaute Kwan zur Gestalt auf dem Hotelzimmerboden und kurz zuckte Abscheu über die maskulinen Züge, ehe er sie bewusst glättete und unbeeindruckt mit der Hand durch die Luft fuhr.

„Das ist dafür, dass du dein Gesicht niemals wieder in der Nähe meiner Firma, meines Bruders oder mir sehenlässt. Dafür, dass du dein vorlautes Mundwerk hältst, wenn die Presse dich fragt, was zwischen uns vorgefallen ist. Und dafür, dass ich annehmbar interessante drei Wochen mit dir hatte. Das sollte genügen, um dein Studium zu finanzieren und die Krankenhauskosten deiner Großmutter zu bezahlen, richtig?“

„Ich…“ Ijun sammelte sich und sprang auf, sich in dem Moment sicher nicht bewusst, dass sie splitterfasernackt vor Walther stehen würde. „Ich nehme keine Almosen von dir an!“

Mit zwei langen Schritten war Kwan schnell wie der Blitz vor ihr und griff nach ihrem Kinn. Die Panik in ihren Augen kümmerte ihn nicht, als er an ihr vorbei zur zweiten Decke auf dem Bett griff und sie in diese einhüllte – Ijun wimmerte, teils vor Angst, teils vor Erleichterung, und Kwan schnalzte mit der Zunge.

„Sieh es als Investition. Walther? Bringen Sie sie endlich raus, bevor ich mich vergesse.“

Walther kam in den Raum hinein und schloss die Tür hinter sich, nahm Kleid, Unterwäsche und Schuhe vom Boden auf und drückte sie Ijun mit einem entschuldigenden Lächeln in die Hände.

„Kommen Sie, Miss …“

„Ich will dein Geld nicht!“, schrie sie nun und warf sich gegen Kwans breite Brust, dessen Blick genervt an ihr vorbeiging. „Ich will dein verfluchtes Geld nicht! Du kannst mich nicht kaufen!“

„Das hat dich nicht gekümmert, als es dir nicht deine Bildung, sondern deine Schuhe bezahlt hat. Und jetzt hör auf, dich wie ein Kleinkind aufzuführen.“ Gewaltsam schnappte er nach ihrem Handgelenk und weder Tränen noch Schreie erweichten ihn, als er Ijun in Walthers Arme drängte. „Arrangieren Sie ein Treffen mit ihrer Mutter. Ich habe nun eine Antwort: ich kaufe den verfluchten Laden.“

Ijuns Weinen wurde heftiger.

„DAS KANNST DU NICHT MACHEN!“

Kwan ignorierte die junge Frau und ging zum Nachtschrank, wo Smartphone und Zigarettenschachtel auf ihn warteten. Das Gebrüll seiner dreiwöchigen Affäre war nicht mehr sein Problem – Anwälte und Presse würden sich auf sie stürzen und auf kurz oder lang würde sie im Äther verschwinden.

Wie sie alle.

„Und sagen Sie ihr, dass sich ihre Angestellten allesamt feuere. Ich brauche qualifiziertes Personal.“

„HÖR AUF!“

„Und – verflucht noch mal – bringen Sie dieses Mädchen endlich zum Schweigen, Walther! Wer ist das überhaupt?“

Die letzten Worte brachten Ijun zum Schweigen, als kalte dunkle Augen beinahe mörderisch auf ihr zum Liegen kamen und endlich – endlich – sackte sie in den Armen seines Assistenten zusammen, ehe Kwan ausatmete und auf den Balkon trat, die Zigarette bereits glimmend zwischen den Lippen.
 

Eine bleierne Schwere ergriff von ihm Besitz, während er über das nächtliche Seoul schaute. Wie die Lichter der Großstadt den Nachthimmel erhellten und kein einziger Stern zu sehen war. Melancholisch zog er an der Zigarette, stieß den Rauch geübt aus und beobachtete, wie er sich im bunten Flackern der Nacht verlor.

Ein weiteres Leben zerstört.

Bist du stolz auf dich, Kwan-sik?

Ein zitterndes Seufzen war von ihm zu hören und als er die Tür des Hotelzimmers hörte und damit endlich allein war, sackte er auf dem Sessel auf dem Balkon zusammen, nur noch ein Schatten des ‚Teufels von Seoul‘ und nur die nächtlichen Lichter waren Zeuge vom Zusammenbruch.
 

„…Sir, hier einmal bitte unterschreib-…“

„…das Meeting ist um halb acht-…“

„…die Kündigung liegt bereit-…“

„…Abendessen um halb sieben-…“

„…und ihr Bruder hat angerufen.“

Kwan hielt im Laufen inne, setzte seine Unterschrift unter das letzte Dokument einer der Assistenten der Geschäftsleitung und schaute Walther an, der vielsagend über den Rand seiner Brille zum CEO schaute. Kwan ließ sich nichts anmerken, doch vermutlich war das Innehalten schon verdächtig genug gewesen und mit einem Schnalzen der Zunge machte er deutlich, dass die kurze Besprechung auf den Gängen beendet war.

„Schicken Sie Haneul-ssi meine aufrichtigen Beileidsbekundungen zum Ausscheiden aus dem Unternehmen und setzen Sie das Abendessen mit Conora Ink. auf sieben Uhr. Das atlantische Meeting wird ohne mich stattfinden müssen – ich muss den Flug nach Tokio bekommen. Ga-ram?“

„Ja, Sir?“

„Sie haben das Zepter für das Meeting in der Hand. Geben Sie keine Zusagen, so, wie wir es eingeübt haben.“

„Ja, Sir.“

„Und geben Sie Park Iseul noch einmal die Unterlagen zur Übernahme. Die Rechtsabteilung hat sie überarbeitet und ich konnte keine Schnitzer darin finden … aber sicher ist sicher.“

„Ja, Sir. Noch etwas?“

„… Grüßen Sie Ihre Frau und nehmen Sie sich nach dem Meeting Zeit für sie, in Ordnung?“

„… Ja … Sir.“

Kwan klopfte den frisch gebackenen Familienvater mit einem kurzen Lächeln auf die Schulter, ehe er Walther in sein Büro folgte.

„Was will er?“

„Das Übliche, Sir.“

„Dann wimmele ihn ab. Ich habe keine Zeit für sein Drama.“

„Wahrscheinlich wollen Sie es sich dieses Mal überlegen … Sir.“

Kwan seufzte schwer und hielt die Hand ausgestreckt, um das Tablet entgegenzunehmen, auf dem ein kurzer Clip seines kleinen Bruders drohte, viral zu laufen. Ausdruckslos beobachtete er ihn, wie er seinem Gegenüber ins Gesicht schlug und danach lief alles aus dem Ruder.

„Wie lange ist es schon online?“

„Ungefähr zwei Stunden. Es hat die zwei Millionen Viewer Grenze überschritten und wurde bereits über zweitausend Mal geteilt. Ich befürchte, dieses Mal können wir es nicht einfach löschen.“

„Verstehe. Wo ist er jetzt?“

„…“

Kwan schaute auf und fand Walther wortlos vor, was ihn abermals tief seufzen ließ.

„Verstehe schon. Wir wissen es nicht.“

„Ja, Sir. Tut mir leid, dass ich Sie enttäuscht habe.“

Kwan schüttelte den Kopf und erwiderte ruhig: „Nein, Walther. Sie geben Ihr Möglichstes. Dass unsere Eltern einen undankbaren Bastard großgezogen haben, ist nicht Ihr Versagen.“

„Sir … es sind Ihre Eltern …“

Kwan schnaubte und schaute aus den bodenlangen Fenstern, nachdem er seinen Stuhl zu ihnen gedreht hatte, den Blick ausdruckslos in den Himmel gerichtet.

„Ja. Genau. Es sind unsere Eltern. Das Einzige, was uns je miteinander verbunden hat…“

Er sprach seine Gedanken aus und Walther schwieg. Schwieg, weil er wusste, wie viel Kwan sein kleiner Bruder bedeutete und er schwieg, weil er Kwan seit Jahren auf seinem harten und einsamen Weg begleitete. Er wusste, dass der junge CEO bei weitem nicht so kalt- und hartherzig war, wie man es ihm zuschrieb und dass er sich beide Eigenschaften angeeignet hatte, um in der Businesswelt bestehen zu können. Um das Erbe der Eltern fortführen und den kleinen Bruder entlasten zu können.

Walther hatte keine Familie und konnte sich nicht vorstellen, wie es sein musste, so viel für andere zu opfern. Mit einem heimlichen Lächeln gab er jedoch zu, dass er es vielleicht doch ein wenig nachempfinden konnte – immerhin opferte er alles für Kwan, nicht wahr?

„Was soll ich jetzt tun, Walther?“, hörte er den CEO leise fragen und wunderte sich über die Zerbrechlichkeit in der tiefen Stimme, die selbst für ihn nur höchst selten zu hören war.

„Das fragen Sie mich, Sir?“

„Wen soll ich sonst fragen? Vater?“

„… Reden Sie mit Ihrem Bruder. Es wird ein hartes Stück Arbeit, aber ich bin mir sicher, er wird auf Sie hören.“

Kwan schwieg und Walther wagte es das harte Profil zu mustern, wie der einsame Wolf müde in die Ferne schaute und schließlich langsam nickte.

„Natürlich, das ist die einzig richtige Sache. Lassen Sie die Termine am Nachmittag bitte verlegen. Ich habe eine Ahnung, wo er sein könnte. Und richten Sie unseren Partnern in Tokio aus, dass Sie übernehmen. Lassen Sie sich etwas einfallen, weshalb ich nicht persönlich vorbeikommen kann.“

Walther wagte es nicht, seinem Chef zu widersprechen und tat, wie ihm geheißen, während Kwan die vormittägliche Arbeit erledigte.
 

Erschöpft brach Kwan weit nach Mitternacht auf dem Hotelbett zusammen. Er hatte es einmal mehr nicht bis nach Hause geschafft und es für sinnvoller empfunden, einfach in dem nächstgelegenen Hotel zu nächtigen.

Das Treffen mit seinem kleinen Bruder war eine Katastrophe biblischen Ausmaßes gewesen, aber wenigstens hatte er ihm das Versprechen abringen können, sich in den nächsten Wochen ruhig zu verhalten. Nun … ruhiger als sonst zumindest.

Nach ein paar Minuten des Kampfes mit sich selbst, zwang Kwan sich dazu, sich auszuziehen und die letzten Akten noch einmal durchzugehen. Aus seiner Tasche fiel ein Brief, der ihm bisher noch nicht aufgefallen war.

Kälte presste sein Herz schmerzhaft zusammen.

„Ist das ein schlechter Scherz?“

Choi Joon-su stand als Absender in der oberen linken Ecke und alle möglichen Erinnerungen stoben ungefragt und unwillkommen auf Kwan ein.

Das konnte nur ein wirklich, wirklich schlechter Scherz von jemandem sein, der ihn gut genug kannte, um zu wissen, wie sehr er ihn damit verletzte. Wie tiefgehend die Verbindung zu Joon-su gewesen war und wie sehr Kwan ihn heute verabscheute, regelrecht hasste. Wie sehr er Joon-su die Schuld daran gab, zu wem er über die letzten Jahre geworden war.

Wäre er bei ihm geblieben … wäre er wiedergekommen …

Wütend ballte Kwan die Hände zu Fäusten, zerknitterte den Brief und warf ihn weit von sich, nur, um ihn wenige Momente später magisch zu ihm zurückkehren zu sehen.

Mit zitternden Fingern pflückte er ihn aus der Luft und einmal mit beiden Händen umgriffen, entfaltete er sich ungefragt und die lange vergessen geglaubte Stimme seines Ex-Liebhabers erfüllte tief und wohlklingend das Hotelzimmer.
 

Kwan-ah,

dieser Brief kommt zu dir, solltest du nach sieben Jahren noch immer verloren sein. Das bedeutet, etwas oder jemand hat mich daran gehindert, zu dir zurückzukommen und es bedeutet, dass du mich nun hasst und zu jemandem geworden bist, der du nie hast sein wollen. Wahrscheinlich hast du bis heute niemanden mehr in dein Herz gelassen und selbst in dem Moment, in dem ich das hier schreibe, tut der Gedanke daran, dass du ganz allein bist, mir sehr weh. Bist du allein, Kwan-ah? Hast du die Einsamkeit gewählt? Ich hoffe, dass ich mich irre. Ich hoffe, dass du jemanden gefunden hast, der dein neues Licht sein kann, so sehr auch der Gedanke mir weh tut. Denn …

Ich scheine es leider nicht zu sein, denn sonst hätte der Brief dich niemals erreicht.

Ich will nur dass du eines weißt: was auch immer mich davon abgehalten hat zu dir zurückzukommen, muss mein Tod gewesen sein.

Niemals hätte ich zugelassen, dass du allein bist.

Trägst du jetzt gelb? Ich hoffe es so sehr, auch wenn ich traurig bin, dass ich nicht mit dir zusammen gelb tagen kann.

Kwan-ah.

Kwan-ah.

Ich vermisse dich. Manches Mal so sehr, dass ich nicht einmal mehr weiß, wie ich das alles überleben soll. Ich sage mir immer wieder, dass es nur ein Jahr ist, maximal zwei. Ich wäre am Silver Day wieder zurück und würde dir endlich den Ring geben, den ich schon ewig mit mir herumschleppe. Aber … aber … weil du jetzt diesen Brief bekommst, wirst du wohl mit jemand anderem an Silver Day Ringe getauscht haben? Und hoffentlich auch nicht nur in einem, sondern in all den sieben Jahren immer und immer wieder.

Kwan-ah.

Ein wenig traurig macht es mich, dass ich mir wünsche, dass du mich vergessen hast, aber andrerseits wünsche ich mir so sehr, dass du glücklich bist. So, so sehr. Und wenn schon nicht glücklich, dann wenigstens nicht allein.

Kwan-ah.

KWAN-AH!

Versprich mir, dass du nicht noch einen Brief von mir bekommen musst! Versprich mir, dass mein Brief, den ich für die zehn Jahre Einsamkeit geschrieben habe, nicht ankommen muss!

Versprich mir, Kwan-ah, dass du nicht mehr einsam sein wirst.

Oder willst du einen Heuler zum Zehnjährigen bekommen, Kwan-ah? Willst du das? Du weißt, wie furchtbar brüchig meine Stimme klingt, wenn ich schreie und wie ungern ich schreie.

Und ich weiß, wie sehr du Schreien hasst.

Ich hoffe, du hast jemanden, der dich in den Arm nimmt, Kwan-ah, wenn alle um dich herum zu laut sind und der dir die Ohren zuhält, wenn du die Welt um dich herum nicht mehr erträgst.

Bitte, Kwan-ah, bleib nicht länger allein.

Und um deiner selbst willen … hass mich bitte nicht. Bitte wisse, dass nur der Tod mich davon hätte abhalten können, zu dir zurückzukommen.

Sieben Jahre sind eine lange Zeit, um vergeben zu lernen, oder nicht?

Kwan-ah … verzeih mir, dass ich nicht zurückgekommen bin.

Kwan-ah … es tut mir leid. So, so leid.

Bitte.

Verzeih mir.

In Liebe,

Joon-su
 

Die Stimme seiner lang verlorenen Liebe war gebrochen, als immer und immer wieder das „verzeih mir“ im Raum hängen blieb und Kwan weinte bitterliche Tränen um das, was er in sieben Jahren verloren hatte und das, was er nie wieder zurückbekommen würde.

War es das?

War Joon-su gestorben und er hatte es nie erfahren? Sieben lange Jahre nicht?
 

Ohne es zu wissen hatte Kwan seit dem gebrochenen Versprechen vor sechs Jahren niemals wieder einen Mann nahe an sich herangelassen – Joon-su und er hatten sich versprochen, dass sie am Silver Day vor sechs Jahren zusammenfinden und sich nie wieder gehenlassen würden. Dass sie ab dort jeden Schritt ihrer Leben gemeinsam tun würden und Kwan war bereit gewesen, für Joon-su sein Leben auf den Kopf zu stellen.

Als ein halbes Jahr später zu Weihnachten noch immer keine Nachricht von Joon-su eingetroffen war, hatte Kwan sich langsam, aber sicher damit abgefunden, dass seine erste große Liebe weitergezogen war. Nie wäre er auf die Idee gekommen, sich auf die Suche nach ihm zu machen … nie hatte er jemanden auf die Suche nach ihm geschickt … Viel zu viel Angst hatte er vor dem Ergebnis dieser Suche gehabt und viel zu viel Panik davor, dass Joon-su tatsächlich über ihn hinweg war.

Doch jetzt kam er sich unendlich dumm vor.

Jetzt, wo er die wohlklingende Stimme seiner verlorenen Liebe so nahe bei sich hörte, als wäre er tatsächlich im Raum und jetzt, wo er die Gewissheit hatte, dass er vor sieben Jahren genauso verliebt in ihn gewesen war, wie Kwan in ihn. Jetzt, wo die Sehnsucht in der gebrochenen Stimme von der Panik abgelöst worden war und jetzt, wo Kwan sich darüber wundern musste, dass Joon-su einen Brief geschrieben hatte, der derart spezifisch gewesen war.

Warum?

Warum nach sieben Jahren?

Warum überhaupt?
 

Erst später in dieser Nacht, nach endlos langen Gesprächen mit Joon-sus Familie und den Ärzten, die ihn damals behandelt hatten, erfuhr Kwan die dramatische Geschichte hinter dem Auslandsaufenthalt.

In den USA angekommen, hatte Joon-su sich in einem Gebiet zur texanischen Grenze mit der seltenen Quanda-Krankheit angesteckt; ein Überbleibsel der indianischen Hexenkunst, die in jedem Fall tödlich endete. Da es sich um eine bisher wenig erforschte magische Krankheit handelte, war der Verlauf nicht immer zu einhundert Prozent abzusehen und es war nur bekannt, dass der Patient innerhalb des ersten, des siebten oder des zehnten Jahres der Krankheit verstarb – nicht früher, aber auch nicht später. Nach zehn Jahren war Ende.

Kwan musste erfahren, dass Joon-su bereits im ersten Jahr verstorben war und da niemand wusste, dass sie derart eng befreundet gewesen waren, hatte ihm auch niemand Bescheid gegeben.

Die Eltern seiner verlorenen Liebe entschuldigten sich Tränenreich bei ihm und Kwan weinte eine gute Stunde mit ihnen, da er so schmerzhafte Erinnerungen geweckt hatte und versprach ihnen, persönlich vorbeizukommen. Die Worte, dass „Joon-su immer nur nach Soeul zurückwollte, um dort seinen Engel zu besuchen“ zerstörten etwas in Kwan, was er lange Zeit für tot gehalten hatte: sein Herz.

Er wünschte sich, er hätte diesen Brief nie erhalten.

Er wünschte sich, er könnte Joon-su weiter für das hassen, was er glaubte, dass er ihm angetan hatte.

Er wünschte sich aus vollem, zerbrochenem Herzen, dass er noch ‚der Teufel von Seoul‘ sein konnte – doch wie, wenn Joon-su ihm die schwere Bürde des Engels aufgetragen hatte?

Kwan wusste nicht, wo er anfangen sollte, die Scherben seines Lebens und seines Herzens wieder zusammenzusetzen. Wo sollte er das Licht finden, das die Dunkelheit der Einsamkeit verscheuchen würde?
 

Ein Klopfen riss ihn aus dem Dämmerschlaf, in den er wohl vor einiger Zeit geglitten war und hektisch wischte er sich über das von Tränen gezeichnete Gesicht, als die Tür aufging und sein kleiner Bruder im Türrahmen stand, irritiert von dem Bild, das sich ihm bot und erstaunlicherweise für lange Minuten, in denen Kwan sich zu sammeln versuchte, stumm.

„Hyung…?“

„Können wir später reden?“, hörte Kwan sich selbst mit kratziger Stimme fragen und atmete überrascht aus, als er die Arme seines Bruders um seinen Oberkörper spürte. Das Fliegengewicht schmiegte sich an seinen Rücken und er spürte das scharfe Kinn an seinem Schulterblatt – ah. Das Licht. Natürlich.

Zögerlich legte er eine große grobe Hand über eine Hand seines Bruders, die auf seiner Herzhöhe zum Liegen gekommen war und atmete tief durch.

„Wir müssen gar nicht reden“, hörte er seinen Bruder leise wispern. „Ich bleibe einfach bis du losmusst genau so hier sitzen.“ Kwan zwang sich aus dem Fenster zu schauen und umfasste die Hand fester, die auf seiner Brust lag. Er spürte das Grinsen seines kleinen Bruders, der schelmisch hinzufügte: „Aber nur, wenn du die Gorillas wieder zurückpfeifst, die mir auf Schritt und Tritt folgen. Wie soll ich so denn-.. AUTSCH!“

Kwan hatte das Handgelenk des Jüngeren umgriffen und ihn rücklings aufs Bett geschmissen, ein lautes Lachen ausstoßend und ihn mit der anderen Hand an der Schulter in die weiche Matratze drückend, das Zetern vollkommen ignorierend.

„Lass das! Hör auf damit! Ich meine es ernst, ich kann keinen Schritt-…Hyung! Komm schon!“

Hilflos schlug sein kleiner Bruder um sich, während Kwan mit einem breiten Lächeln durch dessen Haare fuhr und die einstmals vorhandene Frisur endgültig ruinierte.

„Hmn. Einverstanden.“

Kwan ließ von ihm ab und sein Bruder wurde ruhiger, zog seine Beine in einen Schneidersitz und beobachtete den großen, so fremd wirkenden CEO, dessen Lippen sich das erste Mal seit Jahren zu einem aufrichtigen Lächeln verzogen hatten. Ein Schauer rieselte über den Rücken des Jungen herab und er schlug Kwan gegen den Oberarm.

„Du lächelst.“

„Ja.“

„Das ist gruselig. Hör auf damit.“

Kwan lachte und wuschelte ihm abermals durch die Haare und sein Bruder bemerkte, wie das Licht der Großstadt, die langsam hinter dem Glas zum Leben erwachte, sich in den dunklen Augen brach.

„Nicht mehr. Versprochen.“

Und ein erleichtertes Raunen war im Zimmer zu hören, das keiner der Brüder verursacht hatte und Kwan wusste, dass er sein Licht nun gefunden hatte.

Nun war es an der Zeit, die Scherben zu einem Ganzen zusammenzufügen und wieder voller Stolz dem eigenen Spiegelbild begegnen zu können.

A-ri I - Baekmon

A-ri erinnerte sich noch ganz genau an den Vorfall mit Baekmon, da es einer der wenigen Momente seiner Schulzeit war, in denen er sich aktiv für jemanden eingesetzt und sich selbst in den Mittelpunkt gesetzt hatte.

Baekmon war einer der strebsamsten Schüler, soweit A-ri sich erinnerte. Er glaubte, dass er ein Jahr über ihm zur Schule ging, aber es hätten auch zwei über oder zwei unter ihm sein können – leider wusste A-ri nie viel über den anderen, dessen erschrockener Blick ihm bis heute hin und wieder in besonders harten Zeiten unter die Haut kroch.
 

A-ri wusste, dass Baekmon es schwer hatte … ein Mobbingopfer erkannte ein anderes … und beinahe instinktiv tat er alles nötige, um es ihm nicht noch schwerer zu machen. Natürlich bemerkte er die Blicke in seine Richtung und natürlich war er sich bewusst, dass Baekmon nur auf eine Chance wartete, einmal mit ihm zu sprechen – oder den Mut sammelte, es irgendwann zu tun. Aus welcher Intention das geschah war A-ri hingegen nicht wirklich bewusst. Fakt war jedoch, dass er sich bewusst dafür entschied, ständig mit seinen Teamkameraden unterwegs zu sein und dass er sich bewusst dafür entschied, mit den wenigen Freunden von Klasse zu Klasse zu schlendern, um so wenig wie möglich tatsächlich allein zu sein und niemandem eine Chance zu geben, sich ihm zu nähern.

Warum er das tat war einfach: nur weil er ein verdammt guter Hüter und bei zwei oder drei seiner Mitschüler nicht unten durch war, hieß das noch lange nicht, dass er beliebt war.

Die anderen Sportler duldeten ihn – An Chae-yeon war die Ausnahme; er schien wirklich an einer Freundschaft interessiert – und solange er nicht aus ihrer Sicht etwas Dummes oder Falsches tat, war er sicher.

Doch sobald der Quaffel die Ringe passierte …

Sobald er es wagte, seine Meinung zu äußern …

Oder die Strategie des Kapitäns zu kommentieren …

Die anderen Spieler fingen ihn oft genug nach dem Training ab und zeigten ihm sehr deutlich, wo das Müllkind seinen Platz hatte. Das Wegwerfen passierte vielleicht nicht mehr so häufig, wie vor den Zeiten im Team, aber die anderen Jungs zeigten ihm sehr deutlich, dass er kein Teil ihrer Welt, ihres Kreises war.

Und jeder, der sein Freund war, der auch nur mit ihm sprach, war ebenfalls davon betroffen.
 

Die Mädchen von der Nachbarschule, gegen die sie auch öfter Trainingsspiele flogen, waren ernstzunehmende Konkurrenten und dennoch wurden einige von ihnen nicht müde, Kontakt zu A-ri zu suchen. Er versuchte bestmöglich den Avancen auszuweichen, da er wusste, was ihnen blühte, aber als der Kapitän herausfand, dass die Treiberin aus dem anderen Team nicht ihm, sondern A-ri zu Valentinstag Schokolade mitgebracht hatte, fanden die Trainingsspiele für eine Weile ein jähes Ende. A-ri ist sich sicher, dass die Treiberin keine physische Gewalt zu fürchten gehabt hatte, aber sein Arithmantik-Freund zeigte ihm einige wirklich fiese Kommentare auf Social Media Plattformen, die ganz eindeutig von seinem Kapitän oder den anderen Spielern gekommen waren.

Die Treiberin mied ihn seitdem.

Dass sein Kapitän ihn danach kopfüber in die nächstbeste Mülltonne warf in Ermangelung einer anderen Möglichkeit, ihn zu beschämen, stand natürlich außer Frage. Gewalt konnte er nicht mehr einsetzen, seitdem A-ri dem Team als wirklich exzellenter Hüter mit 13 Jahren beigetreten war, aber … … nun ja, wie die Treiberin war auch A-ri vor der psychischen Gewalt nicht sicher.

Und Vorfälle dieser Art blieben leider kein Einzelfall, obwohl A-ri sich alle Mühe gab, unscheinbar zu bleiben. Das blöde hübsche Gesicht machte ihm Tag für Tag einen Strich durch die Rechnung und während seine Familie sich freute, was für ein hübscher junger Mann er wurde, verfluchte er sich selbst dafür. Er brachte andere damit nur unnötig in Verlegenheit und in Gefahr, da es eindeutig war, dass weder sein Kapitän noch die anderen Teammitglieder mit ihrem Mobbing aufhören würden. Er selbst hielt das aus – doch die Unschuldigen, die damit in Mitleidenschaft gezogen wurden, denen galt seine wahre Sorge. Und das nicht zwingend, weil A-ri ein sehr selbstloser Mensch wäre … sondern einfach, weil er es verabscheute, wenn Menschen etwas grundlos geschah und sie nichts dafür konnten oder dagegen tun konnten.
 

A-ri hielt also Abstand zu jenen Menschen, die Nähe zu ihm suchten und selbst die Freundschaften zum Arithmantik-Ass und dem Verwandlungs-Genie blieben oberflächlich.

Aber trotzdem musste er lächeln, als er Baekmon eines Tages in der Schulbibliothek sah.

Sie beide waren allein und A-ri hatte ausnahmsweise mal keine Mauer an Begleitern oder Schulbüchern um sich herum aufgebaut – nur Fremde, die ihrer beider Wege kreuzten, während A-ri sich im Aufsatz für Pflege magischer Geschöpfe mit den unterschiedlichen Drachenkreuzungen plagte und warum auch immer Baekmon da war … er schien es zu vergessen, als er A-ris Lächeln gesehen hatte. Eine gewisse Unsicherheit stieg daraufhin im damals 16-Jährigen auf, an die er sich noch bis heute sehr lebhaft erinnert; hatte er sich geirrt? Wurde er gar nicht beobachtet? Aber dahingehend irrte A-ri sich eigentlich sehr selten – leider – und so hob er kaum vernehmlich die Hand und wackelte mit den einzelnen Fingern. Nicht als Aufforderung, dass Baekmon rüberkommen sollte, sondern einfach nur als stumme Geste des Verstehens.

Er verstand, dass er ihn beobachtete.

Und er verstand, dass er Kontakt wollte.

Dann verschwand das zarte Lächeln von seinen Zügen und das zu einer kühlen Arroganz fähige Profil wandte sich den Aufgaben zu – A-ri war sich seines Gesichts schmerzlich bewusst und wusste, dass wenn er nicht lächelte, viele Menschen glaubten er sei sich zu schade. Auch wenn er Baekmon eigentlich hatte Mut machen wollen … … so wollte er ihn gleichermaßen von sich stoßen, weit von sich.
 

Besonders nachdem sein Vater … … nachdem er den Unfall gehabt hatte, wusste A-ri nicht mehr wirklich vor oder zurück. Er nahm sein Umfeld nur noch peripher wahr, konnte kaum noch reagieren, wenn er selbst Ziel von Schikane wurde, und es war ihm schlicht und ergreifend auch egal. Es war ihm eine Weile einfach a l l e s egal. Er war so, s o kurz davor, aufzugeben. Einfach zu gehen. Irgendwo hin – und wenn es ins Wasser ohne Wiederkehr gewesen wäre, dann wäre es eben so. Alles schien nichtig, irrelevant – es endete sowieso. A-ri verlor sich für drei qualvolle Wochen in den schwärzesten Gedanken und konnte weder am Training teilnehmen noch seine Leistungen in der Schule erbringen.

Und dann, von einem Tag auf den anderen, beschloss er, dass er wieder fliegen würde. Und dass er seinen Platz auf der Bestenliste verteidigen würde. Dass er der beste Hüter der Schule, nein, der letzten zehn Jahrgänge und der nächsten zehn Jahrgänge werden würde und dass ihm jetzt erst recht niemand mehr jemals wieder sagen würde, wo seine eigenen Grenzen lagen.

Er und nur er allein legte seine Grenzen fest.

Auch wenn das Mobbing durch seinen Kapitän zu der Zeit beinahe unerträglich zu werden schien, lächelte A-ri ihm ins Gesicht und akzeptierte dessen Behandlung, ohne zu murren, besser noch: er zahlte es ihm durch fehlerlose Spiele und gnadenlose Perfektion heim.

Aber wann immer sein Kapitän keinen tatsächlichen Grund fand, um ihn in den Müll zu werfen, erfand er Gründe: A-ri sei zu spät zum Training gekommen – A-ri habe seinen Besen beinahe ruiniert als er die Besen des Teams nach dem Spiel poliert hatte – A-ri sei der Grund dafür, dass die Klatscher nach dem Training wild geworden waren – A-ri habe seine Freundin angeschaut, wesentlich zu lange – und so weiter und so fort. Die Anschuldigungen wurden immer lächerlicher und schließlich war auch das Team langsam, aber sicher eher genervt vom Kapitän, als dass sie A-ri weiterhin mit mobbten.
 

Das änderte aber leider gar nichts daran, dass Baekmon die volle Packung abbekam, als er sich eines Tages kurz vor dem Ende von A-ris vorletzten Jahr in das Sichtfeld der Spieler schob.

A-ri – mitten unter ihnen, gerade ins Gespräch mit An Chae-yeon vertieft – schaute überrascht auf, als Baekmon tatsächlich die magische Grenze zwischen ihnen überschritt. Er schien seinen warnenden Blick nicht zu bemerken – schien das leichte Kopfschütteln nicht zu sehen – und wollte irgendetwas ganz dringend loswerden das nur für ihn, A-ri, bestimmt gewesen war.

Und A-ri verfluchte sich innerlich für den Moment in der Bibliothek – er verfluchte sich dafür, dass ein Teil von ihm sich gewünscht hatte, dass sie Kontakt hatten und dass er ihn scheinbar ermutigt hatte, die magische Grenze zu übertreten.

Seine Gesichtszüge entgleisten ihm und schließlich wählte er bewusst jenes Gesicht, das schon ganz andere abgeschreckt hatte: die kühne Arroganz, die abweisende Hochnäsigkeit. Bist du dir zu schade für uns, Byunii?, höhnte die Stimme des Kapitäns in seinem Hinterkopf, als seine Augenbrauen zusammen zuckten – und schließlich zuckte A-ri zusammen, als einer seiner Treiberkollegen Baekmon grob zur Seite stieß.

Es war ein Moment in welchem A-ri sich entscheiden musste: öffentlich Partei für den Jungen ergreifen und es damit wohlmöglich noch schlimmer für ihn machen, oder dafür sorgen, dass er sicher aus dem Ganzen herauskam.

Und die Entscheidung war so leicht.

A-ri lächelte abwesend, lachte über einen Scherz seines Sucherkollegen und entschied sich, kein zweites Mal zu Baekmon zu schauen, als er schweren Herzens ging.

Aber unkommentiert konnte er das Ganze auch nicht lassen – er stellte seinen Treiberkollegen zur Rede und es war das erste Mal seit Monaten, dass einer aus dem Team gegen ihn die Hand erhob.

„Glaubst du, nur weil dein Vater unter der Erde liegt, hast du jetzt Sonderrechte? Ey, Kapitän! Ich glaube, er braucht mal eine kleine Erinnerung daran, wo er hingehört!“

Und dieses Mal blieb es nicht bei einem Tauchgang – der Kapitän entließ seine Frustration über A-ris Existenz in einem harten unnachgiebigen Treiber-Schlag, der A-ri die Luft aus den Lungen und die Tränen in die Augen presste. Als die Faust kurz darauf schmerzhaft seinen Unterkiefer ausrenkte, wunderte A-ri sich noch darüber, wie es dazu hatte kommen können. Doch die langen Minuten nach Atem ringend zwischen dem Müll der letzten Wochen, würgend und hustend, belehrten ihn eines Besseren: er hatte keinen von seinem Teamkollegen wirklich davon überzeugt, dass er dazugehörte.

Sie hatten ihn einfach nur weiter geduldet und waren von ihrem Kapitän genervter als von ihm gewesen. Er hatte niemanden geläutert, niemanden überzeugt. Solange die Spielzeit gewesen war, hatten sie ihn gebraucht - jetzt, nachdem die Spiele vorbei waren und kein Training mehr anstand, war er wieder nur das Müllkind.

Der einzige Trost war, dass seine Kollegen dadurch vermutlich keine Lust mehr hatten, Baekmon aufzulauern und ihn die wenigen Wochen bis Schulende in Ruhe lassen würden. Und dann endlich – im nächsten Jahr – würde der Kapitän abgehen und vielleicht … vielleicht … würde sich die eigene Situation dann auch endlich bessern.

Oder wenigstens die der anderen Jungs, die unter dem Mobbing zu leiden hatten.
 

Und A-ri behielt Recht; zwar wurde er nie wirklich ein Teil des Teams, aber als für die beiden abgehenden Treiber zwei Jungs aus den untersten Jahrgängen nachrückten, sahen An Chae-yeon und er sich in der Situation, dass sie die Ältesten im Team waren und schafften es, die Situation für alle anderen Beteiligten zu verbessern.

Für A-ri war es mittlerweile zu spät, um für sich selbst etwas zu verbessern – zumal die Situation zu Hause immer schwieriger wurde und er sich um die Bewerbungen für die Universität kümmern musste und noch immer dabei war, den Tod seines Vaters zu leugnen.

Auch Baekmon hatte er seitdem nicht wiedergesehen – was entweder bedeutete, dass er abgegangen war, oder dass ihm etwas passiert war. A-ri hatte nicht die mentale Stärke, um sich nähergehend damit zu befassen – und ehrlich gesagt auch mit dem Hüterposten und dem Lehrstoff des Abschlussjahrs, den ständigen Dateanfragen und deren Absagen, den zwei Jobs in den Ferien und dem Chaos zu Hause genug um die Ohren, um zwei oder drei Teenagerleben damit zu füllen, als dass er sich mit den Leben anderer groß hätte beschäftigen können. Er hoffte einfach das Beste, so, wie er es immer getan hatte.

Jae-song I - Das erste Versprechen

Es war ein ruhiger Abend im Choi-ce, was aber hauptsächlich daran lag, dass es erst neun Uhr war. Die ersten Ausschreitungen waren meistens erst ab elf, wenn man Pech hatte vielleicht auch halb elf vorprogrammiert. Besonders an Tagen wie diesen. Der 14. August war für ungebundene Menschen ein trauriger Tag in Seoul: der grüne Tag, an welchem die Pärchen durch die Parks flanierten und ihre Zuneigung allerorts zur Schau stellten – zumindest im angebrachten Rahmen der koreanischen Gesellschaft, in welcher selbst Händchenhalten gegebenenfalls mit hochgezogener Augenbraue quittiert wurde – brachte die Singles dazu, ihre Bestürzung über ihr eben solches Dasein im Soju zu ertränken.

Jae-song gehörte nicht zu den bemitleidenswerten Kreaturen, die sich im Choi-ce stapelten. Nicht, weil er einen Partner gehabt hätte, sondern weil er arbeitete; hinter dem Tresen, zwischen dem Soju und Gin, dem Bier und dem Wodka und zwischen den unzulänglichen Sprüchen der Gäste. Er war ein ruhiger, schüchterner Barkeeper, der bei vielen Stammkunden genau deshalb beliebt war: er hielt die Klappe, lächelte hin und wieder besonnen und machte den verflucht nochmal besten Cosmopolitan, den man in Seoul bekommen konnte. Und das entgegen zweierlei Vorurteilen.

Erstens: er war – laut Muggelgesetzen – noch nicht volljährig und durfte selbst gar nicht probieren, was er da zusammenmischte.

Zweitens: Koreaner mochten Soju, Wein, Bier und nur sehr selten Cocktails.

Doch im Choi-ce kam man um einen Cocktail von Jae-song kaum herum; der bei Komplimenten verlegen den Blick senkende Angestellte war berühmt für seine Fähigkeiten und brachte eine Menge zahlende Kundschaft dadurch in die Lounge.

Die anderen Angestellten dankten es ihm damit, dass er n i e hinter dem Tresen hervorkommen musste. Er durfte immer den Tresen zwischen sich und den Menschen um sich herum wissen und war nicht zu mehr als einem kurzen Gespräch oder schweigendem Zuhören gezwungen.

Dass ein derart introvertierter Einzelgänger wie Jae-song sich überhaupt als Barkeeper wiederfand, hatte ihn selbst überrascht, aber sein Chef zahlte gut, war fair und er brauchte das Geld dringend. Die zweite Überraschung für ihn selbst war gewesen, dass er intuitiv gut in dem Zusammenbringen von Zutaten und dem Anrichten von Drinks war. Er hatte Spaß an seiner Arbeit, was zusätzlich zur Bezahlung und den annehmbaren Arbeitszeiten ein großer Bonus war.
 

Am heutigen Abend sammelten sich also die einsamen Herzen vor ‚seinem‘ Tresen und Jae-song hatte sich sicherlich schon die vierte herzzerreißende Geschichte eines Büroangestellten angehört, dessen Frau mit einem Kollegen durchgebrannt war. Die dunklen Augen waren abwesend auf die Lampions gerichtet, welche die Lounge mit warmem Licht versorgten, während seine Hände routiniert die nächste Soju-Flasche vor seinen aktuellen Gesprächspartner brachten, als die jetzige sich dem Ende zuneigte. Der Mann im mittleren Alter sah so aus, als wolle er ihm vor Dankbarkeit um den Hals fallen und tatsächlich lallte er Worte voller Zuneigung, die Jae-song in Verlegenheit brachten. „Nicht doch. Das ist mein Job“, bekam er schließlich mit viel Mühe hervor, doch seine Widerworte gingen im allgemeinen Tumult und der sanften Jazzmusik gänzlich unter. Der Mittdreißiger verlagerte seine Aufmerksamkeit schließlich auf seinen besten Freund für diese Nacht – den Soju – und Jae-song konnte sich seinem Kollegen zuwenden, der ihm eine schnelle Abfolge an Bestellungen zuwarf.

Zu Beginn war er stets überfordert mit der Geschwindigkeit im Choi-ce gewesen, doch mittlerweile kam er damit gut zurecht. Er arbeitete bald ein Jahr hier und es stimmte, was man sagte: Übung machte den Meister.

Obwohl das Umfeld ihn nervös machte, blieben die Hände ruhig, als er die Bestellungen zusammenstellte, die Drinks mit Dekorationen toppte und tatsächlich zwei seiner berühmten Cosmopolitans auf den Weg schickte. Jae-song empfand immer eine gewisse Genugtuung dabei zuzusehen, wie die Cocktails den Gästen zusagten und wie sie statt der traditionellen Getränke den gesamten Abend bei diesem einen Getränk blieben. Es war ein viel schöneres Kompliment als leere Worte oder viel zu hohle Versprechungen – es war die Anerkennung, nach der er sich sehnte.
 

Der Abend schritt voran und es wurde lauter, wärmer in der Lounge.

Ab halb elf war die Musik auf eine Mischung aus R&B und Upbeat gewechselt und die zwei Tanzflächen im vorderen Bereich waren gut besucht. Jae-song versuchte seine Konzentration weiterhin aufrecht zu halten, doch sein besorgter Blick galt einer Gruppe Studenten, die er nur allzu gut kannte.

Einige von ihnen waren seine Kommilitonen und wenn Jae-song berühmt berüchtigt für seinen Cosmopolitan war, dann war ihr lauter charismatischer Anführer berühmt berüchtigt für seinen rechten Haken. Nicht, dass Jae-song in die Verlegenheit gekommen wäre, das Gerücht am eigenen Leib bestätigt zu wissen und er gab nicht wirklich etwas auf Gerüchte, aber leider hatte er bereits einige Male die Polizei und den Notarzt rufen müssen, als Gespräche eskaliert waren.

Das Choi-ce war für gewöhnlich ein ruhiger Platz und selten Schauplatz von Handgemengen.

Wenn diese spezielle Studentengruppe allerdings das Stadtviertel Yeonnam-dong unsicher machte, galt diese Regel nicht. Alle Regeln schienen dann ausgehebelt. Die fünf jungen Männer waren laut, einnehmend, charismatisch und rebellisch – nicht zwingend auf Krawall aus, aber schreckten auch nicht davor zurück, sich mitten ins Treiben zu werfen.

Sie alle fünf waren das genaue Gegenteil von Jae-song, der sie mit wachsamen Augen zu beobachten wusste. Wie er waren sie Zauberer. Wie er studierten sie Medizin. Aber dort hörten die Gemeinsamkeiten auch schon auf.

Ihr Anführer bestellte gerade eine weitere Runde Shots und Jae-song sah sich in der unangenehmen Situation, ihre Bestellung auszuführen. Nicht nur eine Runde Shots – zwei Flaschen Soju und drei seiner Cocktails folgten den Ambitionen der Gruppe. Der Gast ist König – und so bereitete Jae-song ihnen die Getränke zu und beobachtete seinen Kollegen, der alle Hände voll damit zu tun hatte, seine Kommilitonen zu bedienen und die anderen Gäste dabei nicht zu vernachlässigen.
 

Jae-song zwang sich, seine Aufmerksamkeit anderen zuzuwenden.

So auch dem jungen Mann, der soeben durch die Tür gekommen war. Er wirkte ein wenig fehl am Platz mit dem schicken Anzug und der farblich abgestimmten Krawatte und den schicken Lederschuhen. Das weiße Hemd leuchtete wie ein Warnsignal in dem warmen Dämmerlicht der Lounge; eine kleine goldene Anstecknadel lenkte Jae-songs Blick auf das Revers des preussischblauen Anzugs.

Ob er sich in der Tür geirrt hatte?

Es verirrten sich nur wenige wirklich wohlhabende Menschen in dieses Stadtviertel, aber hin und wieder passierte es – immerhin schienen sie instinktiv dem Ruf des Rudimentären folgen zu wollen und das Choi-ce hatte sich in allen Schichten der Gesellschaft einen Namen gemacht. Jae-song wollte es weder hören noch zugeben, aber der Ruf hatte auch maßgeblich mit seinen Fähigkeiten zu tun … und den hübschen Kollegen und Kolleginnen, die selten älter als 25 waren.

Der Anzugträger würdigte die Studenten keines Blickes und das war der erste Fehler.

Ihr Anführer führte gerade einen komplizierten Dance-Move auf und Jae-song sah atemlos dabei zu, wie sein Cosmopolitan zum Komplizen in einem fiesen Manöver wurde.

Die rötliche Flüssigkeit ergoss sich über das teure Jackett und das vermutlich genauso teure weiße Seidenhemd und Jae-song hielt die Luft an, die Augen weit aufgerissen.

Sein Kollege war sofort mit einem smoothen Lächeln und einem Entschuldigungs-Shot zur Stelle, doch der Anzugträger beäugt den Anführer und der Anführer starrte zurück. Die Situation drohte zu eskalieren und Jae-song hörte seinen eigenen Herzschlag viel zu schnell und viel zu deutlich in seinen Ohren rauschen.

Ehe er sich daran hätte hindern können, hatten sich seine Finger verselbstständigt und obwohl er wusste, dass es ungewöhnlich für ihn war und das absolut nicht seine Wohlfühlzone war, sah er sich selbst dabei zu, wie er mit einem Tablet und zwei seiner selbst gemixten Drinks auf den Anzugträger und den bekannten Kommilitonen zuschritt.
 

„Als Entschuldigung des Hauses für die unglückliche Anordnung des Dancefloors“, flüsterte Jae-song scheu, als er das Tablet zwischen die beiden vermeintlichen Streithähne schob und wollte auf der Stelle unter den Blicken der beiden beeindruckenden Männer zusammenschrumpfen. Der Boden sollte sich auftun und ihn verschlucken … aber sein Kollege lachte fröhlich und schob einen Cocktail zuerst dem Anführer, dann dem Anzugträger in die Hand und was immer darauf an Worten folgte, Jae-song war bereits wieder auf dem Rückzug in sein bekanntes Gebiet.

Sein Herz hämmerte.

W a s hatte er da gerade bitte getan?

Das hätte so, s o schief gehen können! Er verließ n i e seine Bar und kam n i e hinter der Sicherheit des Tresens hervor – und das hatte gute Gründe. Er war eine Niete im Umgang mit Menschen und wusste es. Es war nicht so, dass er Menschen nicht mochte, aber er konnte einfach nicht mit ihnen umgehen – ihm fehlten die Worte, er stotterte, war zu leise, fühlte sich schnell aus dem Gleichgewicht und brachte es einfach nicht über sich, die vielen Gedanken im Kopf für alle hörbar zu verbalisieren. Er konnte es einfach nicht, obwohl es anderen so leicht zu fallen schien.

Auch dass sein Körper jetzt mit ungewöhnlich zitternden Händen und Schweißausbrüchen reagierte war lächerlich. Es war nichts passiert.

Nun – zumindest offensichtlich nicht. Für Jae-song war seine eigene intuitive Handlung ein derartiger Ausbruch aus jeder nur erdenklichen Routine gewesen, dass er von innen heraus zu zittern begonnen hatte.

Sein Kollege tänzelte zu ihm und hatte ein warmes dankbares Lächeln für ihn übrig und betitelte ihn als „mutig“, was ihn in absolutes Chaos stürzte und irgendwo zwischen Verlegenheit und Verzweiflung zurückließ.

Und als wäre das nicht schon schlimm genug für den Introvert, bemerkte er aus dem Augenwinkel, wie der Anzugträger sich an die Bar gesetzt hatte – er schien sein Hemd gereinigt zu haben – und die funkelnden Augen kamen auf ihm zum Liegen.

Jae-song stockte der Atem, aber er kämpfte sich sein scheues Lächeln auf die Lippen, fragend vielleicht, ob er noch etwas reichen könne – aber er sprach die Frage nicht aus.

Stattdessen reagierte er sofort auf das Klopfen direkt vor sich auf dunklem Holz – sein Oberkörper drehte sich, er griff hinter sich, die Soju-Flaschen wechselten gegen Geld ihren Besitzer und Jae-song atmete durch. Alles würde gut werden. Er konnte das hier. Es war gut ausgegangen. Kein Grund, um verrückt zu spielen.

Er spürte Blicke auf sich und bediente die beiden Mittdreißiger vor sich mit zwei Bieren, ehe er sich dem Anzugträger widmete.

„Das war bei weitem der beste Cocktail, den ich je getrunken habe“, verließen Worte sanft geschwungene Lippen und für einen Moment war Jae-song sich nicht sicher, ob sie an ihn gerichtet waren. Sie klangen wie angereicherter Honig und verloren sich zwischen Bar und Jae-song; sie wurden leiser zum Ende hin und einige Silben verloren sich ganz im ruhigen Bass-Bariton. Dennoch fühlte Jae-song sich angesprochen und zeigte ein scheues Lächeln – immerhin wusste er von welchem Cocktail der Anzugträger sprach, doch er gab keine Antwort. Stattdessen räumte er die leeren Gläser vom Tresen, wischte einmal darüber und reichte zwei weitere Biere an Gäste aus.

„Der Ausflug hat sich also doch gelohnt.“ Da war sie wieder – die angereicherte Honigstimme des Anzugträgers und Jae-song musste allen Mut aufwenden, um noch einmal zu ihm zu schauen.

Sein Herz blieb ihm beinahe stehen als er plötzlich Blickkontakt zum Anzugträger hatte. Nervosität drückte seinen Magen zusammen und unsicher fingerte er am Lappen herum, den er noch immer zwischen den Händen hatte.

„Gibt es eine Chance, dass du mir noch so einen besorgst?“

Jae-songs Lider flatterten und er stotterte ein „natürlich!“ das auch in den eigenen Ohren viel zu laut klang und der Anzugträger schien den Auftritt von zuvor mit der Attitüde nun in Einklang bringen zu müssen – oder bestaunte die Tatsache, dass der schüchterne Junge das Mastermind hinter dem Cosmopolitan gewesen war.

Was auch immer Jae-song die zweifelhafte Ehre seiner Aufmerksamkeit einbrachte: er war sich bewusst, dass der Anzugträger jeden seiner Handschläge beobachtete und obwohl das öfter vorkam, als ihm selbst lieb war, war die Aufmerksamkeit des seltenen Gasts besonders intensiv für ihn. Er spürte ein Brennen direkt unter der Haut, das seine Wangen in Feuer tauchte und einen Spiegel im Rot des Drinks fanden. Seine Fähigkeiten beeinflusste seine Nervosität nicht – die Flüssigkeiten mischten sich, der Zuckerrand fügte sich, die Dekoration war dieses Mal besonders ausgefallen und Jae-song erwischte sich bei dem Wunsch, den selten gesehenen Gast beeindrucken zu wollen.

Schwerelos glitt Jae-song zum Anzugträger herüber und stellte den Cocktail vor ihm auf den Tresen – er merkte erst, dass er die Luft angehalten hatte, als die geschwungenen Lippen einen genießerischen Schluck genommen und er endlich wieder durchgeatmet hatte.

„Perfekt. Auch wenn ich kein Experte bin. An den Geschmack könnte ich mich gewöhnen.“ Komplimente waren an ihn verschwendet, hatte Jae-song immer gedacht. Er wand sich unter ihnen, empfand sie als lästig, als unangemessen, als unerwünscht.

Und hier säuselte angereicherter Honig, verschluckte Bass-Bariton Silben, versüßten geschwungene Lippen einen verkorkst geglaubten Abend.

Jae-song erwischte sich dabei, wie er selbstvergessen lächelte und konnte nichts dagegen tun, dass er sich nach den Worten des ungewöhnlichen Gasts federleicht fühlte.
 

Doch leider sah er ihn danach wochenlang nicht mehr im Viertel – und auch nicht im Choi-ce.

Es war eines der tausenden leeren Versprechen, eine der abertausenden Worthülsen, die keinerlei Bedeutung für seinen Gegenüber gehabt hatten. Jae-song hatte sich damit abgefunden, dass Worte anderen bei weitem nicht so viel bedeuteten, wie ihm selbst und dennoch machte es ihn traurig, den angereicherten Honig zu vermissen.

Aber auch damit fand er sich ab.
 

Sein Antrag auf den Kredit war stattgegeben worden und er musste nur noch für die letzten Unterschriften zur Bank. Die Dame am Schalter war geduldig mit dem schüchternen Mann, der viel zu jung schien um einen derart hohen Schuldenberg stemmen zu wollen. Doch sie machte die Regeln nicht – und es schien ihm ernst, trotz der Nervosität bei jeder Unterschrift.

Jae-song bemerkte die funkelnden Augen nicht, die auf seinem Profil zum Liegen gekommen waren. Er bemerkte nicht die Intensität, mit der sich sein Schalternachbar plötzlich seiner Anwesenheit bewusst geworden war – er spürte nur ein entfernt vertrautes Brennen unter der Haut und fuhr sich über den Oberarm, geistesabwesend. Es war wie das zwanghafte Versuchen sich an etwas zu erinnern aufgrund eines Geruchs oder eines Lieds … … und er zuckte mit den Schultern, sah sich verlegen einer verwirrten Bankangestellten gegenüber und wickelte den Kredit fertig ab.

Als Jae-song die Bankfiliale verließ, war er sich nicht bewusst, dass ein Augenpaar ihm folgte. Den ganzen langen Weg vom Schalter bis zur Tür und als die Glastüren aufschwangen und wieder zu, verweilte der Blick aus funkelnden Augen noch so lange auf ihm, wie es nur irgend möglich war.

Auf dem zurückhaltenden Barkeeper, dessen Fähigkeiten in derart herrlich hartem Kontrast zu seinem Wesen gestanden hatten, dass funkelnde Augen niemand anderen mehr so hatten sehen können, wie ihn.

Es war, als hätte Sam-jung das erste Mal überhaupt jemanden angesehen – als hätte er in dem Moment, als er den Barkeeper zum ersten Mal in Augenschein genommen hatte erst begriffen, wozu seine Augen überhaupt nützten.

Kurzentschlossen neigte er sich zur jungen Dame am anderen Schalter, flirtete mit ihr und lange Finger griffen unbemerkt nach Unterlagen, die zum Barkeeper gehörten – sie wechselten ihren Besitzer, wenn auch nur für kurze Zeit und Sam-jung sorgte schon dafür, dass die Angestellte keinen Ärger bekam und auch der junge Barkeeper nicht.

Aber jetzt hatte er einen Namen: Kim Jae-song.

Kim Jae-song hatte soeben einen Kredit über eine wahnwitzige Summe für einen Barkeeper unterzeichnet …

… und war gerade erst zarte 19 Jahre, wenn das Geburtsdatum stimmte. Und Männer wie Sam-jung fragten sich stets und immer, ob Daten stimmten, Fakten der Wahrheit entsprachen und ob das, was sie sahen, tatsächlich die Realität war – ob ihr Gegenüber echt oder fake war.

Kim Jae-song war echt. Verflucht echt.

Und Sam-jung hatte einen Entschluss gefasst: er würde nicht ruhen, bis er seine flüchtende Stimme noch einmal gehört hatte.
 

„Wir sollten uns auf einen Kaffee treffen.“

Jae-songs Herz flatterte bereits seitdem der seltene Gast das Choi-ce betreten hatte, doch diese Aussage brachte es zum Stillstand. Als angehender Mediziner wusste er, dass derart viele Rhythmuswechsel nicht zwingend bedenklich sondern eher ein Anzeichen eines gesunden Organs waren, doch das änderte gar nichts daran, dass er sich nicht gesund fühlte. Die Hitze stieg ihm in den Kopf und verlegen aufgrund der direkten Einladung, senkte er den Blick.

Eine Antwort blieb er dem seltenen Gast vorerst schuldig – seine Lieblingskollegin tänzelte heran, warf ihm Bestellungen an den Kopf und für die nächste halbe Stunde war er derart beschäftigt, dass er beinahe vergaß, dass der Anzugträger tatsächlich noch da war.

Dabei hätte es unmöglich sein sollen das Brennen unter der Haut ignorieren zu können.

„Du hast noch nicht nein gesagt. Bedeutet das, dass du über meine Einladung nachdenkst?“, lockte angereicherter Honig und Jae-song war vollkommen überfordert mit der Suggestion. Nur, weil er schwieg und arbeitete, bedeutete das doch noch lange nicht, dass er zustimmte! Obwohl er empört über derlei Vermutungen sein wollte, fühlte er sich geschmeichelt und obwohl er schon öfter Einladungen ausgeschlagen hatte, fiel es ihm bei dem Anzugträger besonders schwer.

Er atmete durch. Begegnete funkelnden Augen, die im warmen Licht der Bastlampen herzlich wirkten. Sie waren heller als bei vielen anderen Koreanern und ein heimliches Gold zwinkerte ihm vertrauenerweckend zu, was Jae-songs Wangen zum Glühen brachte.

Der seltene Gast schaute ihn – und nur ihn – an.

Seit Stunden bereits, dessen war er sich bewusst. Durfte er sich darauf etwas einbilden? Hatte der Anzugträger Interesse? Aber wieso? Ein wohlhabender Mann – definitiv mit beiden Beinen im Leben, sehr wahrscheinlich einige Jahre älter als er selbst, ah, und eben ein Mann – erbat derart ungeniert eine Verabredung, dass Jae-song nur den Schluss ziehen konnte, dass er Erfahrung im Daten hatte. Aber wieso sollte er einen Barkeeper aus dem Studentenviertel daten wollen? Nun, oder weniger romantische Vorstellungen als ein Date haben … …

Was auch immer Jae-song an Mut gesammelt hatte, wurde von diesen Gedanken verschluckt und wieder schwieg er auf die Suggestivfrage seines ganz besonderen Gasts.

Stattdessen wandte er sich wieder der Arbeit zu und stellte mit einer explosiven Mischung aus Erleichterung, Scham und Entsetzen fest, dass der Anzugträger nach einiger Zeit aufstand und sich zum Gehen wandte.

Jae-songs Lider flatterten und am liebsten hätte er ihn aufgehalten, aber er war nicht gut mit Worten und stolperte über die eigenen Gedanken.

Aber der seltene Gast drehte sich noch einmal um und Jae-song stockte der Atem, als sich die geschwungenen Lippen zu einem ungezwungenen Lächeln auseinanderschoben und angereicherter Honig versprach ihm: „Ich bringe dir das nächste Mal einfach einen Kaffee mit.“
 

Das nächste Mal ließ auf sich warten, da Jae-song eine ganze Weile von der Bildfläche im Choi-ce verschwinden musste. Das Semester neigte sich dem Ende zu und eine Klausur jagte die nächste. Er hatte kaum Zeit zum Essen oder Schlafen und die Schichten im Café Hanami ließen sich nicht mehr mit denen in der Lounge, seinem Stundenplan und dem Lernen vereinbaren – also musste Jae-song für eine Weile seinen Teilzeitjob in der Lounge ad acta legen. Sein Chef wusste von seinem schwierigen Stundenplan und war zwar traurig um die fehlende Arbeitskraft, versicherte ihm jedoch, dass er jederzeit zurückkommen könne, was Jae-song zumindest einen Teil der Anspannung nahm.

Die Nächte waren kurz – die Tage lang – und er ernährte sich von Erdnüssen und Kaffee. Er fror bestialisch, obwohl es in Seoul gar nicht so kalt war und packte sich in dicke Mäntel ein. Wahrscheinlich kämpfte sein Körper insgeheim gegen jede Form von Krankheit, ohne dass Jae-song davon viel bemerkte. Er hatte keine Zeit, um krank zu sein. Er hatte an manchen Tagen nicht einmal mehr Zeit dazu, zu atmen.

Und dann – eines besonders schlimmen morgens – stand der seltene Gast plötzlich vor ihm.

Eigentlich hätte Jae-song das Brennen unter der Haut bemerken müssen, mit dem sich seine Anwesenheit ankündigte. Aber er war derart müde und gestresst, dass er schlicht und ergreifend nichts mehr in seinem Umfeld mitbekam. Er arbeitete die Bestellungen ab, lächelte artig und funktionierte, sich immer mit dem Gedanken über Wasser haltend, dass es nur noch zwei Wochen waren.

Und dann stand er plötzlich vor ihm.

Jae-song war urplötzlich hellwach.

„Einen Vanille-Latte, bitte.“

Jae-song blinzelte und hätte der seltene Gast einen Grashüpfer auf Minzschokolade gewollt … er hätte ihn besorgt. Doch stattdessen nickte er ferngesteuert und fragte sich insgeheim, ob er ihn erkannte … wenn er nicht hinter dem Tresen stand. Jae-song wurde sich seines Zustands auf einen Schlag bewusst: seine Augenringe mussten mittlerweile die Form von gigantischen Halbmonden angenommen haben und unter der Schürze des Cafés trug er seit Tagen ein und denselben Sweater, da er es einfach nicht schaffte, seine Wäsche zu waschen. Mit genügend Deodorant und den richtigen Zaubersprüchen kam man gegen Gerüche an, aber dennoch fühlte er sich unzulänglich. Kein zwingend neues Gefühl, aber ein sehr unwillkommenes vor dem seltenen Gast.

Dass genau der jedoch blendend wie immer aussah, half nicht gerade dem eigenen Selbstvertrauen. Der anthrazitfarbene Anzug schmiegte sich herrlich um die schmale Taille und dem weinroten Hemd fehlte es nicht an Sogkraft – automatisch zog er mit seinem extravaganten Stil die Blicke aller im Café auf sich und Jae-song schluckte.

Er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, als er sich zum Siebträger stellte und den Espresso für die Latte vorbereitete.

„Ich dachte schon, du gehst mir aus dem Weg und hier finde ich dich: im Café. Dabei dachte ich, du seist Cocktail- und kein Kaffeekünstler.“ Da war es wieder: dieses entwaffnende Lächeln, das Jae-songs Herz flattern ließ. Die leeren Worthülsen. Die bedeutungslosen Komplimente. Jene honigsüßen Worte, die ihn bei hunderten anderen kaltgelassen hatten – und die bei dem seltenen Gast wie die innigsten Versprechen klangen. Seine Lider flatterten, als er die Milch aufschäumte. „Da ergibt es leider keinen Sinn, wenn ich dich wieder auf einen Kaffee einlade, oder? Immerhin wirst du es schon satthaben, wenn du doch ständig vom Geruch umgeben bist. Wie wäre es also stattdessen mit einem Eistee?“

Wie konnte ein Mann nur derart charmant sein?, fragte sich Jae-song nicht zum ersten Mal und ertappte sich selbst dabei, wie er auf die Einladung des Anzugträgers lächelte. Kein verbindliches Lächeln … aber ein Lächeln.

Das Vanille-Aroma fand seinen Weg in den Kaffee und er kassierte das Geld, ignorierte das Trinkgeld geflissentlich und reichte den Becher über den Tresen. Auf der Pappe waren ein kleiner Smiley und ein Keine Dates mit Kunden in krakeliger Schrift gemalt und Jae-song beobachtete mit bis zum Hals schlagenden Herzen wie die goldgesprenkelten Augen aufzuleuchten schienen und reflexartig hielt er die Luft an, als er plötzlich Blickkontakt hatte.

Die Zeit hielt an.

Die Welt drehte sich nicht mehr.

Und Honig und Lächeln und Leuchten vermischten sich zu einem einzigen unwiderstehlichen Konstrukt an Versprechung.

„Dann muss ich mich wohl mehr anstrengen, dass du mich nicht mehr als Kunden siehst. Einverstanden“, leuchtende Augen fanden auf seinem Namensschild Platz und die Mundwinkel zuckten, „Kim Jae-song. Ich lasse mir etwas einfallen.“

Jae-song atmete aus, als die Klingel der Tür erklang und damit ankündigte, dass der seltene Gast gegangen war.

Er kannte nun also seinen Namen … und Jae-song selbst wusste noch immer erschreckend wenig über den hartnäckigen Mann, der so viel reicher, so viel hübscher, so viel besser als er selbst war und der dennoch Interesse an ihm zu haben schien.

Ein Absurdum.

Jae-song erwischte sich selbst dabei, wie er den Rest des Tages seltsam energiegeladen war – und auch Tage nach ihrem unverhofften Treffen hielt das Versprechen, dass er sich etwas einfallen lassen würde ihn auf einem konstanten Hoch, das weder durch Kaffee, noch Energy zu erreichen gewesen war.
 

Die Prüfungen waren beendet – das Semester war vorbei. Jae-song hatte zwei Tage durchgeschlafen und war nur zum Essen und zum Pinkeln aufgestanden.

Aber nur, weil die offiziellen Klausuren beendet waren, hieß das nicht, dass er sich ausruhen konnte.

Durch sein Bestreben das Medizinstudium schnellstmöglich abzuschließen und in möglichst vielen Bereichen ausgebildet zu werden, um später eine umfangreichere Behandlung aller gewährleisten zu können, hatte er immer etwas zu tun – auch in den Semesterferien.

Und auch wenn er im Hanami und im Choi-ce arbeitete, blieb dazwischen genügend Zeit, um zu lernen und an den Projekten für das nächste Jahr zu arbeiten.

Jae-song hatte sich auch an diesem Sommertag in der Stadtbibliothek eingefunden und sich in den Aufzeichnungen der letzten Jahrzehnte vergraben. Die Zeit rannte davon und es war später Nachmittag, als sein Magen zu knurren begann. Er streckte sich und erst da fiel ihm auf, dass er nicht mehr allein war.

Ein Plastikbecher schob sich in sein Blickwinkel – gefüllt mit einer durchsichtigen Flüssigkeit, Eiswürfeln und kleinen Blasen am Boden. Vermutlich das, was andere als Bubble-Tea kannten und was Jae-song bisher noch nicht für sich entdeckt hatte. Am Rand des Plastikbechers befanden sich formschöne Fingernägel, die zu einer feingliedrigen Hand gehörten und …

Jae-song verschluckte sich beinahe an der eigenen Spucke und schoss in die Senkrechte.

„Der Eistee. Wie versprochen.“

Mit großen Augen starrte er den seltenen Gast an und erst jetzt erinnerte er sich an die süßen Versprechen, die er ihm gemacht hatte – er würde ihn nicht mehr als Gast sehen und sich etwas einfallen lassen. Jae-songs Herzschlag rauschte in den eigenen Ohren wieder und er wunderte sich darüber, wie der Anzugträger es immer wieder schaffte, ihm aufzulauern.

Nur, dass er heute keinen Anzug trug.

Ob es dafür nun zu warm draußen war oder er sein Versprechen wahrmachen wollte: er sah herrlich normal in dem weiten Shirt mit einer 11 als Aufdruck aus, auch wenn Jae-song erahnte, dass die weiße Stoffhose teurer war, als sein gesamter Kleiderschrank.

Instinktiv hatte die eigene Hand nach dem Getränk gegriffen und ein zartes „Dankeschön“ entglitt seinen Lippen – als hätte der seltene Gast sein Magenknurren gehört … Es war perfektes Timing.

Mit einem „darf ich?“ deutete er auf den Platz Jae-song gegenüber und der nickte vorsichtig, aber außer ihnen war in dieser Sektion der Bibliothek niemand. Jae-song lernte immer sehr zurückgezogen und achtete darauf, dass er allein war. Das kam ihnen beiden nun wohl zugute, denn so würden sie sich unterhalten können.

… Unterhalten? Er wollte sich unterhalten? Das war ein ungewohnter Gedankengang für den Introvert und er schlug den Blick nieder, mitten auf die offenen Aufzeichnungen, die er plötzlich hektisch geworden zusammenschob. Es war ihm peinlich, dass der seltene Gast so viel über ihn wusste aber er gar nichts über ihn … … aber das war wohl die Natur der Dinge, immerhin fragte Jae-song auch nichts.

„Ist es dir peinlich?“

Jae-song schreckte auf und verschüttete beinahe den Eistee, was den seltenen Gast dazu brachte, einige der Aufzeichnungen in Sicherheit zu bringen. Unbeholfenheit und Unsicherheit mäanderten zu Schamgefühl und schierer Panik über Jae-songs Gesichtszüge und der seltene Gast reichte ihm die Papiere ohne draufzuschauen. Jae-song war ihm dafür unheimlich dankbar und konnte wieder durchatmen, ehe er nickte. „Ja.“ Die eigene Stimme war so fein und brüchig – immerhin nutzte er sie selten – und er schlug den Blick nieder, fingerte am Strohhalm des Getränks herum. Einen Schluck hatte er trotz des interessiert rumorenden Magens noch immer nicht genommen. Auch das war ihm vor einem faktischen Fremden peinlich. Aber er sah sich im Zugzwang – der seltene Gast war stumm, die Sekunden zogen sich zäh dahin und obwohl Stille normalerweise nicht schlimm für ihn war, war sie es für ihn mit ihm.

Seine Lider flatterten und er schaute zum seltenen Gast rüber.

„… dass du meinen Namen weißt …“ …aber ich gar nichts über dich, fügte er in Gedanken an, hatte aber nicht den Mut, die Worte zu formen. Der seltene Gast lächelte dieses furchtbar entwaffnende Lächeln und tippte sich gegen die Stirn, ganz so, als wolle er sich selbst schelten.

„Ah. Habe ich meinen Namen wirklich nie erwähnt? Das war unhöflich, das tut mir leid. Ich muss dich wirklich in arge Schwierigkeiten gebracht haben, wo ich doch auch noch sehr wahrscheinlich älter bin und du gar nicht wusstest, wie du mich ansprechen sollst, hm?“

Jae-song hatte sich darüber noch gar keine Gedanken gemacht, stolperte jetzt jedoch darüber und spürte, wie seine Wangen zu brennen begannen und er den Blick niederschlug, ein „tut mir leid“ wispernd. Er war sich nun sicher, dass er den ÄLTEREN verärgert hatte, auch wenn der honigweiche Ton etwas anderes suggerieren wollte.

„Nicht doch!“

Ein Lachen.

Er lachte.

Jae-songs ganze Welt schrumpfte auf diesen Klang zusammen. Es war nur ein kurzer Ton, rau und unbeholfen und etwas, von dem der seltene Gast offensichtlich nicht oft Gebrauch machte und deswegen war es umso schöner, umso wertvoller. Er lachte – und ob er nun mit oder über Jae-song lachte war vollkommen gleichgültig, so unendlich reinigend war der Klang des sanften Basses, der in seiner Brust vibrierte und des schmeichelnden Baritons, der über sein Innerstes strich.

Wie dickflüssiger Honig.

„Sam-jung“, stellte sich der Anzugträger nur mit Vornamen vor und Jae-song nahm das als weitere Seltsamkeit neben den vielen anderen Absonderlichkeiten dieses herrlich verrückten Mannes hin. „Und ich schätze, ich bin gute drei Jahre älter als du. Ich würde es aber vorziehen, wenn du mich weiterhin genau so behandelst.“

Eine Erklärung zum So blieb aus und Jae-song wusste nichts damit anzufangen; auch nicht mit der Eröffnung, dass sie n u r drei Jahre trennten. Er hatte damit gerechnet, dass Sam-jung … wie seltsam es war, ihm nun einen Namen zu geben … wesentlich älter war und gleichzeitig …

„… … Woher weißt du das?“, fragte er einem Flüstern gleich nach und Sam-jung deutete auf den Eistee.

„Gleich sind alle Eiswürfel geschmolzen. Habe ich deinen Geschmack nicht getroffen? Ich wusste nicht, ob du schwarzen oder grünen Tee lieber trinkst.“

Jae-song tat ihm den Gefallen und ließ sich auf die Ablenkung ein, denn es war wirklich herzerwärmend, dass sich Sam-jung so viel Mühe und Gedanken gemacht zu haben schien. Er spürte, wie sich ein sachtes Lächeln auf sein Gesicht stahl und er deutete ein Kopfschütteln an. „… Das ist egal.“ Die Lippen fanden das Ende des Strohhalms und sein leerer Magen begrüßte das Getränk mit einem wohlwollenden wenn auch fremdelnden Murren.

„Ich wüsste aber gerne, ob du schwarzen oder grünen Tee lieber trinkst.“

Jae-song kämpfte mit Gedanken und Gefühlen, die in Worte verpackt werden wollten. Unsicherheit ließ sein Herz flattern und er spürte, wie die Tatsache, dass die gesamte Aufmerksamkeit des Mannes auf ihm zum Liegen kam, ihm unangenehm wurde. Nicht unwillkommen … aber unangenehm. Also fingerte er wieder am Strohhalm herum und schüttelte abermals den Kopf. Er suchte nach den richtigen Worten und fand schließlich in etwa das, was er hatte ausdrücken wollen mit seiner zuvor vagen Aussage.

„… Du hast ihn gekauft, Sam-jung hyung, also ist es egal.“
 

Für einen kurzen Moment stand Sam-jung vollkommen neben sich. Ob es nun die Art und Weise war, wie die sanfte Stimme des Barkeepers seinem akustischen Empfinden schmeichelte – oder die Tatsache, dass er das hyung so charmant zögerlich in den Mund nahm, dass man schmelzen mochte – oder der faszinierende Sinn seiner Worte, war ihm nicht sofort klar. Er wusste nur, dass er sich gerne einbilden mochte, dass Jae-songs egal ein Kompliment war. Dass sein egal bedeutete, dass er sich insgeheim wünschte, noch mehr Eistees gekauft zu bekommen und dass sein egal eine Bestätigung seiner langen Jagd war.

Aber was auch immer es war: Sam-jung wurde in dem Moment klar, dass die Jagd vorbei war. Jae-song war keine einfache Beute und wahrscheinlich war ihm das in der Sekunde schon bewusst gewesen, als er den Cocktail von ihm angenommen hatte.

Jae-song war ein besonderer Mensch und mit einer Mischung aus ungewohnter Nervosität und unerwünschter Unsicherheit war Sam-jung sich für den Bruchteil einer Sekunde nicht sicher, ob er der richtige war, um sich um diesen besonderen Menschen zu kümmern.

Kurze Wimpern verbargen für einen Augenblick die Aussicht auf die großen Augen und ehe die Selbstzweifel überhand nehmen konnten, hörte Sam-jung weitere Worte.

Worte, die so unheimlich wertvoll waren, denn obwohl sie einander noch nicht gut kannten, konnte Sam-jung schon erahnen, dass Jae-song nicht viel sprach. Dass jedes Wort ein Kampf war.

„… War … war das in Ordnung? Oder war ich unhöflich?“

Sam-jung wurde sich bewusst, dass er lange schon geschwiegen hatte und als er das bemerkte, lachte er unbeholfen.

Jenes Lachen, das in Jae-songs Ohren klingelte und das seine Welt abermals auf diesen kleinen Tisch zusammenschrumpfen ließ. Nein, streng genommen nicht einmal auf den Tisch oder auf die Aufzeichnungen oder den kalten Tee in seiner Hand.

Nur auf das Klingeln im eigenen Herzen, das als Resonanz auf das Lachen zu werten war.

„Ganz und gar nicht.“ Sam-jung lehnte sein Kinn auf einer Hand auf und Jae-song setzte sich aufrechter hin – all seine Sinne waren auf ihn ausgerichtet und was immer nun kam war gewichtig. „Ich mag es, wie du das sagst. Sam-jung hyung. Darf ich dich also doch zum Kaffee einladen?“

Die Welt stand Kopf – oder wurde sie aus den Angeln gehoben?

All die lächerlichen Metaphern wurden diesem Augenblick nicht gerecht, in welchem Sam-jung ihn doch tatsächlich abermals ganz direkt, ganz unverblümt um ein Date bat.

Jae-song starrte – und es war ihm bewusst, dass er das tat – wortlos und um eine Antwort verlegen den Älteren an, der ruhig und unbekümmert auch Stunden auf seine Antwort warten würde. In diesem Moment konnten sie es nicht wissen, aber es war einer der vielen Grundsteine für ihre Beziehung – die Geduld eines Mannes, der sonst für andere nicht viel Geduld übrighatte und die Worte eines Mannes, der für niemanden sonst so viel sprach.

„H-heute ist es schlecht…“ Unbeholfen deutete Jae-song auf die Unterlagen zwischen ihnen und Sam-jung nickte verständnisvoll. „Dann schreibst du mir, wenn es passt?“

Verwirrung zeichnete sich auf den Zügen Jae-songs ab und Sam-jung deutete auf den Eistee.

Die kleinen Kugeln am Boden des Plastikbechers setzten sich auf ein Schnipsen des Älteren zu Zahlen zusammen und Jae-songs Herz flatterte und flatterte und hörte nicht auf damit, je länger er die Zahlen anstarrte und je bewusster ihm wurde, dass all das hier gerade zu seiner Realität wurde.

Sam-jung bat ihn um eine Verabredung. Einen Kaffee. Das musste noch nicht viel heißen – sie würden danach recht sicher sogar wieder getrennte Wege gehen.

Aber dieser gutaussehende, erfolgreiche Hyung, dessen honigweiche Stimme Sirenen Konkurrenz machte und der vermutlich nicht nur jede Frau in ganz Seoul um den Finger wickeln konnte, sondern auch jeden hartgesottenen Geschäftsmann mit seinem Charme, seiner Hartnäckigkeit und seinem Lachen bezirzen konnte, wollte mit ihm – i h m – ausgehen.

Jae-song wusste noch nicht, ob er diese neue Realität mochte, aber er wollte es auf einen Versuch ankommen lassen.

Also nickte er langsam, während er die Zahlenfolge unter den funkelnden Augen in sein Handy einspeicherte.

„Dann ist es abgemacht.“ Sam-jungs Lippen zeigten das entwaffnende Lächeln und Jae-song spürte, wie seine Wangen brannten, als die nächsten Worte in seinem Innersten klingelten. „Lass mich nicht zu lange warten.“
 

Aber wie sollte man das anstellen?

Wie sollte man die Nummer eines völlig Fremden wählen, zu dem man gerade einmal den Namen und die Kleidungsvorliebe wusste? Selbst wenn Jae-song nicht derart zurückgezogen gelebt hätte und keine Probleme damit gehabt hätte, auf Menschen zuzugehen, wäre ihm das wahnwitzig vorgekommen. Er war ein vorsichtiger junger Mann und nur diese Vorsicht hatte ihn durch den Spießroutenlauf der Schulzeit gebracht – nur nicht zu viel auffallen, in der Masse untergehen, niemals den falschen ans Bein pinkeln, den Kopf gesenkt halten und nur dann sein Bestes geben, wenn es unmittelbar mit seiner gewählten Zukunft zu tun hatte.

Vielleicht hatte es geholfen, dass er ein Jahr hatte aussetzen müssen.

Vielleicht hatte es geholfen, dass er seit Beginn der Studienzeit räumlichen Abstand zu seinen Eltern hatte. Besonders geholfen hatte der Abstand beim Finden der eigenen Sexualität, beim Abfinden mit der eigenen Identität. Auch wenn sein Vater ihm versichert hatte, er sei noch jung und müsse sich jetzt noch nicht festlegen und seine Mutter ein paar Tränen nach seiner Eröffnung verdrückt hatte, so waren seine Eltern doch generell auf seiner Seite – immer schon gewesen, würden sie immer sein – und hatten das eh wankende Selbstvertrauen des jungen Medizinstudenten nicht noch mehr erschüttert.

Aber nur, weil er geoutet war – mehr oder weniger zumindest – hieß das noch lange nicht, dass er sich in aller Öffentlichkeit auf einem Date mit einem Mann sehenlassen wollte.

Und dann schlich sich der ungefragte Selbstzweifel heimtückisch an: wollte Sam-jung überhaupt ein Date? Interpretierte er nicht ein bisschen zu viel in die Nettigkeit des Älteren hinein? Und wenn er ein Date wollte, wie ernst konnte es ihm dann schon mit einem vollkommenen Fremden sein? Ob er nur einer von vielen war, die Sam-jung mit seinem Lächeln, seiner Stimme und seinen Augen bezirzt hatte?

Und als die Zweifel erst einmal da waren, erstickten sie ihn beinahe.
 

Jae-song hatte noch nie das Bedürfnis verspürt, einen Menschen näher kennen zu lernen. Natürlich hatte er bereits die Augen aufgehalten und es waren ihm Männer ins Auge gesprungen, die es wert gewesen wären – aber auf den zweiten Blick waren sie meistens kaum noch der Rede wert gewesen. Und davon abgesehen hatten sie eh alle weit außerhalb der eigenen Liga gespielt und das war okay gewesen.

Aber Sam-jung war anders. Er war auf ihn zugekommen und zeigte Interesse. Das bildete er sich nicht ein, oder? Wollte er es selbst so dringend, dass er die Zeichen fehlinterpretierte? Dass er Aufmerksamkeit mit Interesse verwechselte? Jae-song war vollkommen unbescholten und sich dessen beinahe schmerzhaft bewusst; was sollte ein mitten im Leben stehender Mann schon von ihm wollen?

Obwohl ihn wohl niemand von seinen Bekannten so betitelt hätte, war Jae-song im Herzen dennoch immer ein vorsichtiger Optimist gewesen. Vorsichtig und Optimist, in der Reihenfolge, in dem Zusammenhang – und auch jetzt, nachdem der erste Erstickungstod nach einigen Tagen verhindert war, siegte der vorsichtige Optimist.

Nein war er gewohnt zu hören. Nein, danke war nichts, was neu für ihn war. Da irrst du dich war okay. Selbst ein beschämendes Lachen, ein abfälliges Winken, ein nachsichtiges Schmunzeln waren absolut okay.

Niemand würde ihn brechen können, wenn er selbst es nicht wollte, also … was sollte schon großartig schief gehen?
 

Und dennoch lagen die großen Augen des jungen Studenten Tag um Tag auf dem Handydisplay, die Finger erstarrt in ihrer Bewegung über dem grünen Hörer, nicht in der Lage dazu, den entscheidenden Schritt zu wagen. Den Schritt auf Sam-jung zu.

Er war furchtbar darin auf Menschen zuzugehen. Nicht, weil er Angst vor einer Zurückweisung hatte, sondern weil er sich generell wenig aus Menschen machte. Das stand im harten Kontrast zu seiner Berufswahl – Mediziner und Heiler – und zu seiner pazifistischen Grundeinstellung, aber Fakt war nun einmal, dass er niemanden in seinem Leben brauchte, um glücklich mit sich selbst zu sein.

Und trotzdem wollte er den Älteren unbedingt kennenlernen.

Er wollte wissen, ob er die Socken zuerst auf links drehte, bevor er sie wusch. Er wollte wissen, ob er lieber kalten oder heißen Kaffee trank. Er wollte wissen, ob er auf dem Rücken oder auf der Seite schlief – ob er nachts etwas anhatte oder nicht. Als dieser Gedanke sich manifestiert hatte, ertappte sich Jae-song bei weiteren Gedanken in diese Richtung. Wie war er unter den sündhaft teuren Hemden gebaut? Er hatte noch nie auf die Heckansicht des Älteren geschaut – wie breit waren seine Schultern wirklich, wie ausgeprägt der Hintern? Jae-songs Wangen brannten, während er sich die unwichtigsten wichtigen Fragen stellte und er sinnierte stundenlang darüber, ob er Rechts- oder Linkshänder war, ob er noch schrieb oder schreiben ließ, ob er gut in praktischer Magie war oder sein Zaubererdasein ad acta gelegt hatte, ob er ein Stubenhocker oder ein Naturbursche war, ob er Katzen oder Hunde lieber mochte … und ob er den Cosmopolitan dem Soju vorzog.

Jae-song sah sich in der einmaligen Situation, dass er a l l e s über Sam-jung wissen wollte. Aber bestenfalls, ohne zu fragen – er wollte es erfahren, wollte es entdecken und als dieser Gedanke auftauchte, war er verblüfft von sich selbst.

Er mochte Überraschungen nicht. Mochte keine Abenteuer.

Und dennoch hatte er nichts gegen den Eistee gesagt, hatte sich über jedes überraschende Treffen gefreut und seine Fingerspitzen kribbelten aufgeregt, wenn er an das Abenteuer dachte, das Sam-jung ihm versprach.
 

Er war verrückt geworden – musste er sein. Eine andere Erklärung gab es für dieses widernatürliche Verhalten einfach nicht.
 

Plötzlich rutschte sein Finger ab und das Tuten der Leitung belegte, dass er tatsächlich den Hörer betätigt hatte. Panik ließ Augen groß und Herz schnell werden und hastig setzte er das Telefon ans Ohr, als das Knacken des Annehmens erklang.

„Hallo?“

Eine Stimme wie angereicherter Honig – er war es. Es war tatsächlich seine Nummer. Jae-song war atem- und fassungslos und die Aufregung darüber, nach Tagen, beinahe Wochen seine Stimme wiederzuhören, schnürte ihm die Kehle zu.

„Ich hoffe wirklich, dass du es bist und nicht irgendeine Telemarketingagentur, die mich fragen wird, ob ich an einer Umfrage zur Zufriedenheit mit Waschtabs teilnehmen will.“

Das Amüsement schlug ihm so deutlich durch das Handy entgegen, das ihm ein leiser Ton der Überraschung entwich und Jae-song nahm all seinen Mut zusammen, um ein paar wenige Worte herauszubekommen.

„Ich … ich würde dich gerne einladen.“

„Meine Hoffnungen wurden erhört, auch wenn ich lieber dich einladen würde.“

Überfordert krampfte sich seine freie Hand um das Pergament, das die neusten Aufzeichnungen über die Wechselwirkung von Schockzaubern auf Blutbahnen im menschlichen Körper hatten und Jae-song wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Sollte er traurig darüber sein, dass Sam-jung seine Bemühungen, ihn auszuführen nicht bemerkte? Sollte er erleichtert sein, dass Sam-jung ihn überhaupt wiedersehen wollte, wo er ihn doch lange hatte warten lassen? Sollte er glücklich sein, dass er sich nicht getäuscht hatte und eine Einladung nicht zu verfänglich oder gerade verfänglich genug geklungen hatte? Oder sollte er hier und jetzt auf der Stelle vor überschwänglicher Freude darüber, dass Sam-jung ihn einladen wollte, Luftsprünge vollführen?

Die explosive Mischung seiner überraschend intensiven Gefühle ließ ihn schweigen.

„Aber wenn du darauf bestehst, lasse ich mich auch einladen. Wohin gehen wir?“

Jae-songs Herz rastete komplett aus und wollte dem medizinaffinen Studenten vermitteln, dass ein Stillstand kurz bevorstand, wenn er jetzt nichts sagte. Sam-jung hatte eingelenkt … … und damit instinktiv und ohne es zu wissen das einzig richtige getan, um Jae-song zu bestätigen, um das Selbstvertrauen des Jüngeren zu beflügeln und ihm ein Lächeln aufs Gesicht zu zaubern.

„Die … die Wissenschaftsmesse meiner Uni. Ich, hmn, studiere Medizin. Sie ist an diesem Wochenende…“

Jetzt wo er es aussprach, fühlte er sich dämlich. Eine Unimesse war sicherlich nicht das, was der fein gekleidete Sam-jung im Kopf hatte, wenn er an eine Einladung dachte. Er dachte sicherlich an pikfeines Essen im Schwerelosen Restaurant oder an Tauchen mit Meerjungfrauen oder einen Ritt auf einem Hornschwanz in Rumänien. Jedenfalls sicherlich nicht an etwas dermaßen Banales und Unspektakuläres … und vielleicht hatte er ja sogar gehofft, dass sie sich allein trafen? Jae-songs Unsicherheit traf ihn vollkommen unvorbereitet und ehe Sam-jung auch nur die Chance für ein „nein“ oder ein „ja“ gehabt hatte, murmelte er leise „en-entschuldigung“ und legte auf.
 

Seitdem hatte sich Jae-song kaum konzentrieren können. Sam-jung hatte nicht zurückgerufen und die Nächte waren lang gewesen, hatte er doch kaum schlafen können. War er zu weit gegangen? Nicht weit genug? Hatte er Erwartungen erfüllt oder eher enttäuscht? Woher sollte Sam-jung überhaupt wissen, welche Universität er gemeint hatte und wenn der unwahrscheinliche Fall eintrat, dass er sich dazu entschied zu kommen, wie sollte er ihn überhaupt finden?

Jae-song hatte sich damit abgefunden, dass er es versaut hatte und bereitete sich am Samstagmorgen auf den langen Tag am Getränkestand vor. Es war nicht ganz sein Metier – Softdrinks an die Besucher des Campus ausschenken – aber nah genug an dem, was er sonst tat, um zumindest ein wenig Selbstbewusstsein zu verspüren. Und sich nicht zu engagieren war nicht in Frage gekommen, wie seine Dozenten ihm auf Rückfragen versichert hatten. Alle hatten zu helfen, um die Messe zu einem Erfolg werden zu lassen.

In weißen Jeans und weißem Shirt, ausgelatschten Sneakers und lockerer grüner Sommerjacke verließ er schließlich das Zimmer im Studentenwohnheim und auf dem Campus angekommen, fühlte er die alte Nervosität – es waren viel zu viele Menschen anwesend. Heute würde ein ständiger Kampf mit sich selbst und den eigenen Grenzen werden … und wahrscheinlich würde mehr als ein Kommilitone sie unterbewusst überschreiten und sich über die Zurückhaltung Jae-songs beschweren, wenn auch nicht ernst gemeint. Oder eben doch ernst gemeint …
 

Der Stand der Medizinfakultät war unheimlich groß und umfasste ein improvisiertes Café, in dem auch Jae-song heute arbeiten würde, einige Ausstellungen der älteren Studenten, einem Hufeisenwurfstand und einigen anderen Attraktionen, die Jae-song auf den ersten Blick nicht einmal wahrnehmen konnte.

Er trat zu einem der älteren Studenten, der ihm auf die Schulter schlug und ja, wie erwartet: sie überschritten Grenzen, ohne es zu merken. Jae-song zuckte zusammen, zwang sich jedoch zu lächeln und nahm die schwarze Schürze mit dem Logo der Medizinfakultät darauf an, band sie um und machte sich an die Arbeit.

Im Verlaufe des Vormittags und mittags blieb es relativ ruhig.

Erst nachmittags brachten einige Kommilitonen den Alkohol heimlich hinter die improvisierte Bar und Jae-songs verwirrter Blick wurde gekonnt ignoriert, als die Karte magisch erweitert wurde.

D a s hatte man ihm verschwiegen.

Aber es machte im Endeffekt für ihn keinen Unterschied. Um sich gegen die älteren Studenten durchzusetzen und sie darauf aufmerksam zu machen, dass während der Messe Alkoholkonsum verboten war, fehlte ihm der Wille und die Kraft und schlussendlich fügte er sich kommentarlos. Den gesamten Tag über hatte er nur wenige Worte mit einigen Dozenten gewechselt, die höflich und oberflächlich nach seinem Befinden gefragt hatten und er hatte ebenso höflich und oberflächlich geantwortet.
 

„Uh, wer ist das denn? Einer der Sponsoren der Uni“ – „ah, ich wette, es ist einer aus dem Marketingzweig! Die sehen doch alle so hochgestochen aus“ – „er ist bestimmt reich“ – „oder seinem Vater gehört die Uni, das wäre doch mal was“ – „er ist bestimmt nicht single“ – „na, den würde ich jedenfalls nicht von der Bettkante stoßen.“

Kichern folgte der Aneinanderreihung von Worten und Jae-song schaute langsam von seiner Arbeit beim Gläserwaschen auf – sein Atem stockte.

Sam-jung war tatsächlich da.

Wie eine göttliche Erscheinung strahlte er zwischen all den gewöhnlichen Studenten. Der karmesinrote gemusterte Anzug und das nachtschwarze Hemd schmeichelten der hellen Haut und standen im herrlichen Kontrast zum Grün um ihn herum – Sam-jung stach hervor wie ein Pfau zwischen Enten und obwohl dutzende Augenpaare auf ihm lagen und das Tuscheln sich intensivierte, waren funkelnde Augen nur auf ihn, Jae-song, gerichtet.

Noch immer hatte er nicht eingeatmet. Er stand einfach nur da – Wischtuch in der einen, Glas in der anderen Hand – und starrte fassungslos dem entwaffnenden Lächeln entgegen, das immer näher kam. Das erste Mal konnte Jae-song beobachten wie er ging – selbstsicher, eine Hand lässig in der Hosentasche, die andere zum Gruß erhoben, die Hüfte wiegte sich nur leicht, kaum sichtbar und der Kopf war kaum merklich schräg gelegt.

„Es war gar nicht so einfach, den richtigen Campus zu finden, Jae-song“, begrüßte ihn angereicherter Honig und seine Wangen standen in Flammen. Der Drang, sich für das eigene Verhalten zu entschuldigen, wurde unmenschlich groß und Jae-songs Lippen öffneten sich, doch kein Ton verließ sie. Die Aufmerksamkeit so vieler lag auf ihnen, als Sam-jung sich auf den Klappstuhl vor der improvisierten Bar niederließ und den Blick auf die Karte lenkte, ganz so, als sei er im Choi-ce. Jae-songs Herz erinnerte ihn daran, dass Sauerstoff eine Notwendigkeit war und wie ein Fisch an Land schnappte er nach Luft, brachte damit einige seiner Kommilitonen in unmittelbarer Nähe zum Kichern und spürte, wie die Gesellschaft anderer ihm einfach zu viel war.

Sam-jungs jedoch nicht.

Als er aufschaute und seinen Blick einfing schrumpfte seine Welt auf sie beide zusammen und alle Geräusche, alle Erwartungen, alle Verpflichtungen zerfielen zu Staub.

„Hast du alles hier um mir deinen Drink zu mixen? Ich weiß noch immer nicht, was das war, aber ich gebe gerne zu, dass ich süchtig danach geworden bin.“

Versprechungen – angereicherter Honig – und Jae-song schüttelte den Kopf.

„Kein Alkohol auf der Messe“, erklärte er ruhiger als er sich fühlte, doch ein heimliches Lächeln fand ungefragt seinen Weg auf seine Lippen. „Aber ich mache dir später einen, hyung.“

Ein Aufleuchten in funkelnden Augen und Sam-jung legte den Kopf schief, als er ihn auf der Hand aufstützte, um sich verschwörerisch vorzulehnen.

„Später? Ich dachte, du hättest mich hierher eingeladen?“

Jae-song wand sich innerlich unter dem Blick des Älteren, der ihn gleichermaßen verlegen wie aufgeregt werden ließ, aber er schaffte es einfach nicht, wegzuschauen. Er setzte sich wissentlich der Qual aus, die goldgesprenkelte Augen auslöste und spürte, wie der eigene Mund trocken wurde. Aber dennoch nickte er langsam, keine weitere verbale Erklärung gebend, ehe sich die Mädchen neben ihnen in ihre Welt wagten.

Lachend und ohne sich etwas dabei zu denken, zerstörten sie den Zauber zwischen ihnen, drangen in die wohltuende Blase ein und ließen sie zerplatzen.

Jae-song wandte den Blick eilig ab und erinnerte sich daran, dass er noch arbeiten musste – nur kurz flackerte sein Blick zu Sam-jung, der trotz der beiden attraktiven jungen Studentinnen, immer wieder zu ihm schaute und nur halbherzig auf das Gespräch einging. Jae-song fiel auf, dass er auf Fragen mit Gegenfragen antwortete und dass er sie das Gespräch führen ließ, sie für ihre Klamottenwahl oder ihr Make-up lobte, aber seine Worte klangen hohl und leer und obwohl Jae-song das Gefühl nicht los wurde, dass er nur Zeit totschlug, spürte er Unwille in sich wachsen.

Sam-jung war seinetwegen hier. Das durfte er sich doch so weit einreden, richtig? Immerhin hatte er ihn eingeladen, Sam-jung hatte sich die Mühe gemacht herauszufinden, zu welcher Uni er kommen musste und schlussendlich auch den Weg zu seiner Fakultät gefunden. Er war nicht hier um belanglose Gespräche mit unwichtigen Statisten zu führen – er war seinetwegen hier.

Und diese Erkenntnis brannte ein Feuerwerk unter seine Haut, genau in die Brustgegend, wo sein Herz zu implodieren gedachte, um im nächsten Moment zu explodieren.

Von einem Schub an Selbstbewusstsein gepackt, drückte Jae-song einem Kommilitonen das Handtuch in die Hand – „ich mache Feierabend“ – und schnappte sich ungefragt das Handgelenk des Älteren gerade in dem Moment, als sich viel zu filigrane Mädchenfinger auf seinen Oberarm hatten legen wollen. Ruckartig zog er Sam-jung auf die Füße, dessen überraschter Blick auf ihm und nur auf ihm lag und Jae-song erklärte sich nicht, schaute ihn nur ernst an, die Hand beinahe einem Flehen gleich um das fremde Gelenk geschlossen.

Sam-jung lächelte und löste umsichtig Jae-songs Hand von seinem Handgelenk; Finger für Finger mit einer Zärtlichkeit, die gegen die eigene Natur ging. Doch der verschreckte Ausdruck und die sachte Panik in dunklen Medizinstudentenaugen ließen ihn sanft werden.

„Keine Sorge, wenn mich hier heute jemand entführt, dann nur du“, versprach angereicherter Honig und Jae-song spürte das Feuer auf den Wangen brennen, spürte das Prickeln unter der Haut und wie Bass-Bariton ihn samtweich umhüllte. Vorsichtig ließ er die letzten beiden Finger von sich aus unter rotem Stoff hervorgleiten und verlegen fuhr er sich in den Nacken, unsicher, was er mit der Eröffnung und dem eigenen Impuls anstellen sollte. Sam-jung deutete auf den Weg zwischen den vielen Ständen.

„Ich habe gehört, es findet eine Messe statt. Würdest du mich rumführen? Mein letzter Besuch auf einem Campus ist länger her.“

Auch hier schaffte es Sam-jung instinktiv, die Unsicherheit Jae-songs zu überspielen und zu umgehen. Mit einem langsamen Nicken bestätigte er die Frage und band die Schürze ab, nahm seine Sommerjacke und wurde sich bewusst, was für ein seltsames Bild sie abgeben mussten.

Sam-jung in seinem schicken Anzug, den polierten Schuhen und dem gemachten Haar. Und er in seinen ausgelatschten Sneakern, den wirren Haaren und der lächerlich ausgewaschenen Jacke.

Er zog sie nicht über sondern hing sie nur über seinen Unterarm und als Sam-jung das sah, zog er sich während es Gehens das rote Jackett aus und tat es ihm gleich. Jae-songs Herz flatterte und heimlich und nur für sich lächelte er über die Geste des Älteren, während sie nebeneinanderher schlenderten.

Sie schwiegen und das Treiben um sie herum wurde zu ihrer Musik.

Eine Weile führte Jae-song sie über die Messe und Sam-jung blieb an einigen Ständen stehen, spielte laut mit dem Gedanken dieses oder jenes käuflich zu erwerben, doch als keine Resonanz des Jüngeren erfolgte, beließ er es jedes Mal wieder beim Gedanken. Jae-song genoss die Zeit in der er zwar ihren Weg vorgab, doch sich um sonst nichts Gedanken machen musste – er führte Sam-jung zwar durch die Menge, doch nahm sie nicht wahr und sah nur ihn. Wie er die Ärmel des schwarzen Hemds hochkrempelte und sich irgendwann darüber beschwerte, dass er sich andere Schuhe hätte mitnehmen sollen. Wie er bei einem Getränkestand anhielt und darüber sinnierte, dass man frische Minze nehmen solle, statt auf die Synthetik zurückzugreifen. Wie er mit einem der Professoren über ein Thema diskutierte, das Jae-song nicht einmal verstand. Wie er die Blicke anderer auf sich zog ohne es aktiv zu bemerken und wie er trotz der vielen Möglichkeiten, der vielen Bewunderer, mit funkelnden Augen nur zu ihm schaute und nur ihm sein entwaffnendes Lächeln schenkte.

Jae-song fühlte sich wie etwas Besonderes und es war zum ersten Mal in seinem Leben ein willkommenes Gefühl – kein Angstzustand, keine atemlose Panik, keine endlose Verlegenheit. Stattdessen fügte sich warmer Honig zäh um sein flatterndes Herz, wollte es beruhigen und warmweicher Bariton hüllte ihn ein, um ihn in Sicherheit und Geborgenheit zu kleiden.

Sam-jung war hierhergekommen, so, wie Jae-song es gewollt hatte, und hatte damit indirekt eine Prüfung bestanden, von der Jae-song nicht einmal aktiv gewusst hatte, dass er sie ihm auferlegt hatte.

Wenn er nur auf ein Abenteuer aus gewesen wäre, hätte er sich niemals die Mühe gemacht. Interesse, kein Abenteuer. Und damit konnte Jae-song umgehen.
 

Intuitiv schlug er den Weg zum Fluss ein.

Die Steinmauer – kaum hoch genug um als solche bezeichnet zu werden – fasste die Uferseite ein, auf der sie sich befanden und im Wasser spiegelte sich die untergehende Sonne. Es war ein malerischer Anblick und dennoch lag Jae-songs Augenmerk auf dem Älteren und dessen auf ihm.

„Tut mir leid, dass ich dich hierher bestellt habe…“, wisperte Jae-song schließlich und deutete auf die Mauer, auf der Sam-jung sein teures Jackett ausbreitete. Mit großen Augen beobachtete er den Älteren dabei und als dieser ihm bedeutete, sich darauf zu setzen, konnte er es kaum fassen. Vermutlich kostete allein das Jackett mehr, als er in einem halben Jahr verdiente und dennoch sollte er sich draufsetzen? Sam-jung lachte herzlich über seine Verwunderung und trat mit einstmals lackierten und nun staubbedeckten Anzugschuhen achtlos auf das Kleidungsstück, setzte sich im Schneidersitz hin und klopfte neben sich.

„Kein Grund, um sich zu entschuldigen, Jae-song. Ich hatte eine gute Zeit und habe die Hoffnung, dass der Tag noch nicht ganz zu Ende ist.“

Brennende Wangen – kribbelnde Fingerspitzen – verlegener Blickkontakt – dann setzte Jae-song sich mit über die Mauer hängenden Beinen neben ihn und faltete die Hände im Schoß.

„Hmn. Der Drink?“

,

Sam-jung lächelte und tausende Gedanken stoben ihm durch den Kopf, die rein gar nichts mit dem versprochenen Drink zu tun hatten, sondern alle nur mit dem jungen Mann neben sich. Er wollte noch nicht gehen müssen, wo er doch so lange darauf gewartet hatte, dass sie wieder Zeit miteinander verbrachten. Es war ihr erstes Date, wie er sich bestimmt das zwanzigste Mal in Erinnerung rief und er wollte Jae-song, der schreckhaft wie ein junges Rehkitz auf ihn wirkte, nicht einschüchtern. Nicht verschrecken. Aber obwohl der schüchterne Student diesen Eindruck auf ihn machte, hatte er ihn schon mehrfach mit einer Direktheit überrascht, die er ihm nicht zugetraut hatte – die ihn unvorbereitet getroffen hatte. So hatte sein Interesse überhaupt erst begonnen: mit einem plötzlich auftauchenden roten Drink, während er selbst rotgesehen hatte und einem scheuen Blick aus großen Augen, die eine stumme Bitte transferiert hatten. Bitte nicht – und alles in Sam-jung hatte geschrien, dass er diesen Blick wiedersehen musste. Aus anderen Winkeln, in anderen Situationen, aus anderen Gründen – nicht, weil er selbst rot sah. Nicht, weil Jae-song ihn vor einer Dummheit bewahren musste … nun, zumindest nicht nur. Er wusste noch nicht, aus welchen Gründen oder in welchen Situationen – aber zumindest dieser Winkel hier und heute war perfekt.

Sam-jung ließ sich Zeit, während er das Profil des Jüngeren abtastete.

Der gerade Nasenrücken – die nach unten geschwungenen Mundwinkel – die vollen Lippen – der herzförmige Bogen zwischen Nase und Oberlippe – die etwas zu langen Haare, die seine Ohrspitzen bedeckten – die sanfte Wölbung unter den großen Augen.

Jae-song schien nicht zu wissen, wie unheimlich hübsch er war. Nicht schön, nicht umwerfend – er war eine Naturschönheit und sich dessen nicht einmal bewusst, was ihn nur noch umso hübscher machte. Die sanfte Röte, die sich zu jeder Zeit in seiner Gegenwart auf seinen Wangen abspielte und das Leuchten in den großen Augen, das zwischenzeitliche Panik mit gedankenverlorener Zurückhaltung ablöste, hatten dazu geführt, dass Sam-jung nun hier war.

Es waren Äußerlichkeiten, die das erste Interesse am jungen Studenten weiter gefestigt hatten.

Am Studenten mit den hohen Schulden, von denen Sam-jung den Ursprung noch nicht kannte.

Am Studenten mit den geschickten Fingern, der als Minderjähriger Drinks mixte, die verboten gehörten.

Am Studenten mit der schüchternen Zurückhaltung eines Rehkitz und der explosiven Eifersucht einer Raubkatze.

Sam-jung schmunzelte über den eigenen Gedanken, denn ob Jae-song tatsächlich vorhin eifersüchtig gewesen war, konnte er nicht wissen, aber der Gedanke gefiel ihm. Sehr sogar.

„Ja. Unter anderem der Drink. Aber ich würde auch einfach gerne so mit dir Zeit verbringen, ohne Ausrede.“ Da war sie wieder, die Panik. Sam-jung begegnete dem Blick unerschrocken, sog die Panik auf, ertränkte sie und hüllte sie ein in ein weiches Lächeln, in stumme Bestätigung, in aufrichtige Anteilnahme. Er wollte ihn kennenlernen und er wollte es in dem Tempo tun, das Jae-song ihm vorgab. Auch wenn ihn das langsam aber sicher umbrachte.

„Oder ist das zu viel?“ Das Schmunzeln gewann an Schieflage und obwohl Sam-jung ihm nun gerne die Haare hinters Ohr gestrichen und einen Kuss auf die Ohrmuschel gegeben hätte, einfach nur um zu ergründen, wie er darauf reagierte, rührte er sich nicht. Stattdessen wandte er sogar den Blick ab und beobachtete, wie die Sonne hinter den ausladenden Gebäuden der Universität unterging. „Ich will mich nicht aufdrängen, aber gleichzeitig gerne Zeit mit dir verbringen. Hm. Ich wiederhole mich, entschuldige bitte. Du scheinst diese Wirkung auf mich zu haben.“
 

Für Jae-song war diese Eröffnung nichts vollkommen Unerwartetes; Sam-jungs Gesten und Blicke hatten für sich und ihn gesprochen und dennoch trafen ihn die aufrichtigen Worte direkt ins Herz, sodass er nur starren, nur schweigen konnte.

Er hatte eine Wirkung auf Sam-jung? DIESE Eröffnung war Neuland für den Medizinstudenten und er war überfordert, doch wollte auch nicht, dass Sam-jung glaubte, dass es nur ihm so ging. Er wollte ihn wiedersehen und er wollte Zeit mit ihm verbringen, aber wie diese Gefühle in Worte fassen? Er konnte es nicht … daher nahm er sich ein Herz und griff nach der Hand des Älteren, die zwischen ihnen auf dem Jackett geruht hatte. Die Finger des Studenten schlichen sich flügelzart über die weiche Haut und atemlos beobachtete er sich selbst dabei, wie er innehielt.

Seine Hand lag über Sam-jungs.

Nur einen flüchtigen Herzschlag lang befürchtete er das Schlimmste – ein Wegziehen, ein Schlag, ein so war das nicht gemeint.

Doch dann drehte sich die Hand unter seiner und Handfläche schmiegte sich gegen Handfläche. Wärme brandete durch sein Innerstes und Jae-song schaute auf in die goldgesprenkelten Augen, die sofort seinen Blick auffingen und erwiderten. Kaum merklich schmiegten sich Fingerkuppen an seinen Handrücken, übten keinen Druck aus, hielten ihn nicht fest und bestätigten ihn doch in den unausgesprochenen Worten. Flatternden Herzens bewegte Jae-song den Oberkörper, drehte ihn ein wenig und ging dem Impuls nach – er lehnte seinen Kopf vorsichtig, als sei Sam-jung zerbrechlich, gegen dessen Schulter, berührte dabei kaum den harten Knochen und verweilte minutenlang in dieser unbequemen Position, nur, um den Duft des Älteren einzuatmen, um ihn zu bestätigen, um sich selbst zu bestätigen und mit Gesten auszudrücken, was er mit Worten nicht zu tun vermochte.
 

Sam-jung gluckste und zerbrach damit die Stille zwischen ihnen; Jae-song schoss empor und sofort zog er auch seine Hand zurück, ganz so als bemerke er jetzt erst, was er getan hatte. Ah. Das scheue Rehkitz war zurück, wie es ihn aus hilflosen Augen anblitzte und er versuchte, alle Zustimmung in sein Lächeln zu legen, als er ihm die Hand hinhielt, um ihm beim Aufstehen aufzuhelfen. Jae-song schaute ihn nur ratlos an.

„Der Drink? Erinnerst du dich?“

„Ah!“, entfuhr es Jae-song halblaut und Sam-jung musste ein weiteres Mal glucksen; Jae-song nahm seine Hand und ließ sich hochziehen, achtete jedoch darauf, nicht auf das Jackett zu treten und innerlich schüttelte Sam-jung darüber den Kopf. Er klopfte das Kleidungsstück aus, als er es aufhob und deutete in irgendeine Richtung.

„Wirst du mich im Choi-ce einladen?“, fragte Sam-jung gut gelaunt nach und bemerkte aus dem Augenwinkel die liebgewonnene Röte auf den Wangen seines Studenten. Es dauerte zähe Sekunden, doch seinetwegen konnte Jae-song sich alle Zeit der Welt nehmen; er würde ihn einfach weiter betrachten und seine unbeholfene Schönheit weiter bewundern.

„… Ich muss heute nicht dort arbeiten.“

War das eine Erklärung, die Sam-jung noch nicht verstehen konnte? Nachdenklich wog er den Kopf hin und her und schob unterbewusst eine Hand in die Hosentasche; mit der anderen fuhr er sich durch das kurze Haar. „Also verschieben wir den Drink?“, schlussfolgerte er vorsichtig, weil er nicht verstand, worauf Jae-song hinauswollte und war erleichtert, dass er scheinbar richtig geraten hatte, als dieser nickte. Nun, zumindest im ersten Moment – im zweiten war er enttäuscht, da er nun tatsächlich keine Ausrede mehr hatte, den Abschied in die Länge zu ziehen. Zwar hatte Jae-song mit seinen Berührungen deutlich gemacht, dass er ebenso Kontakt wollte, doch wie lange musste er dieses Mal warten? Wenn es wieder Wochen waren, würde Sam-jung noch umkommen …

… und Jae-song schien das zu wittern.

Er schluckte schwer und zupfte an der blassgrünen Jacke, die er sich um die Hüfte gebunden hatte.

„… Aber ich arbeite morgen dort. Und … hmn …“ Er zögerte, fasste sich ein Herz und begegnete den goldgesprenkelten Augen entschlossen. „Ich würde dich danach gerne sehen, Sam-jung hyung.“ Zusammenhängende Worte, selbstbewusst vorgetragen – denn warum auch nicht? Sie beide waren sich doch einig, dass sie Zeit miteinander verbringen wollten, also wozu noch warten? Jae-songs innerer vorsichtiger Optimist klopfte ihm anerkennend auf die Schulter und in diesem Moment hätte er sich gegen eine Horde Schwarzmagier auch ganz ohne Zauberstab blind verteidigen können; er fühlte sich großartig und dieses Gefühl wurde noch drängender, strahlender, als Sam-jungs Lippen sich zu einem breiten Lächeln auseinanderschoben, das im Dämmerlicht der untergehenden Sonne funkelte. „Darf ich dann den Ort des zweiten Dates aussuchen?“ Eine kindliche Freude lag in der Frage und Jae-song nickte, stolperte jedoch im Nachgang über die Worte – zweites Date? Zweites Date?!

Seine Sprachlosigkeit und sein fassungsloses Starren verrieten seine Gedanken offensichtlich sofort und Sam-jung lachte hell und fröhlich und es klang wundervoll in Jae-songs Ohren, vibrierte vertraut in seinem Brustkorb und kitzelte in seinem Bauch.

„Wann genau hast du Feierabend? Das schränkt meine Möglichkeiten ein wenig ein und ich will dich genauso überraschen, wie du mich.“

Jae-song spürte Nervosität in sich aufsteigen und instinktiv murmelte er: „Ich mag keine Überraschungen“, was Sam-jung ein wenig aus dem Gleichgewicht brachte. Wer mochte denn bitte keine Überraschungen? Ganz vorsichtig, weil alles zwischen ihnen noch neu und unerforscht war, trat er näher an Jae-song heran und streckte eine Hand nach ihm aus – sanft fand sie Platz auf dessen Kopf, unbewegt, schwer, doch animierend genug, dass der Jüngere zu ihm aufsah.

„Keine Sorge, diese wirst du mögen. Versprochen.“

Jae-song spürte, wie alle Nervosität sich in Wohlgefallen auflöste und ein warmes Lächeln zuckte über seine Lippen, das Zustimmung ausdrücken sollte. Ja. Diese Überraschung würde er mögen, dessen war er sich sicher – wie alle anderen, die Sam-jung für ihn übrighaben würde. Daher nickte er nur schwach, um die Hand auf seinem Kopf nicht zu verscheuchen, war sie doch ebenso eine angenehme Überraschung gewesen und Sam-jung verstand, ohne dass es etwas zu verstehen gab, verweilte ein wenig länger in dieser Position, ehe er seufzte und auch die zweite Hand in seine Hosentasche schob.

„Hah. Der Abend ist noch lang … hättest du etwas dagegen, mich zum Taxi zu begleiten? Ich könnte dich nach Hause bringen.“

Jae-song schüttelte den Kopf, war sich jedoch bewusst, dass eine Verneinung auf beide Fragen angewandt werden konnte und schloss zum Älteren auf, als dieser zwei Schritte in Richtung des Hauptkomplexes tat. „… Nein, ich habe nichts dagegen dich zu begleiten, aber ich wohne direkt um die Ecke, also …“

„Also brauchst du selbst kein Taxi, schon klar. Und was ist, wenn du mich stattdessen nach Hause bringst?“

Fragend schaut Jae-song zum Älteren herüber, dessen Lächeln einen Ton angenommen hatte, den er noch nicht deuten konnte und seine Verwirrung schien Sam-jung dazu zu bringen, sich näher zu erklären.

„Es ist lange bis morgen Abend und damit auch lange, bis ich dich wiedersehe. Wir können im Taxi noch ein bisschen reden .. oder auch schweigen, das ist mir egal. Und es bringt dich wieder hierher zurück, wenn es mich abgesetzt hat. Ist das ein guter Deal?“

Jae-song spürte die Überforderung in sich aufsteigen – so dringend wollte Sam-jung Zeit mit ihm verbringen? Und er hatte ihn W o c h e n warten lassen?

Brennende Wangen – klopfendes Herz – geschmeicheltes Ego.

Er nickte, sich hoffnungslos in den überraschenden Mann neben sich verliebend und sich dessen plötzlich schrecklich bewusst. Vielleicht animierte ihn das dazu, Worte für Gedanken zu finden.

„Tut mir leid, dass du warten musstest.“

Sam-jung schenkte ihm ein Lächeln und legte einen Arm um seine Schultern, zog ihn für einen viel zu schnellen, viel zu flüchtigen Moment an sich und hüllte ihn in Geborgenheit.

„Ich habe das Gefühl, dass ich auf dich immer warten würde, Jae-song. Also: Deal?“

Brennende Wangen – klopfendes Herz – hoffnungslos verliebt.

„… Deal.“

Kwan II - Niedlich

Es war ruhig in dem großen Büro mit den kahlen Wänden. Die Stille nagte unangenehm an den Nerven des jungen Schülers, der die Hände vor dem Körper gefaltet und den Blick gesenkt hielt. Er spürte viel mehr als dass er wusste, dass sein kleiner Bruder mit angehaltenem Atem irgendwo in seinem Rücken stand und hoffte, dass er einmal die Weitsicht besaß, den großen Mund zu halten.

„Was hast du zu deiner Entschuldigung vorzubringen, Kwan-sik?“

Die Stimme des Vaters war kälter als Eis und Schauer rieselten über seinen Rücken herab. Er hatte sie schon länger nicht mehr gehört, hatte er ihm die letzten Monate doch erstaunlich freie Hand in der Schule gelassen und ihn kaum mit den Geschäften belästigt.

Das hatte sich nach dem Heuler heute Morgen natürlich schlagartig geändert.

Kwan-sik hatte sofort die Schule verlassen und nach Hause reisen müssen. Ein Umstand, den die Lehrer mit großem Missfallen beobachtet hatten, aber gegen den Befehl des immer mächtiger werdenden Mannes konnten sie nicht ausrichten. Mit Sorge hatten sie beobachtet, wie der sonst so einnehmende Musterschüler blass geworden war, als er den Heimweg angetreten hatte.

Und hier stand er nun. Sein Vater hielt sein Verhalten für einen Fehler – Kwan-sik wusste es besser.
 

Sein jüngerer Bruder war gerade einmal acht Jahre alt. Er verstand schon viel zu viel von dem, was vorging und dennoch viel zu wenig, um mit dem Ballast beladen zu werden, den ihr Name mit sich trug. Ihr Vater beabsichtigte, auch Ji-u seiner harten Hand zu unterwerfen und ihn nach seinem Willen zu formen – und Kwan-sik hatte sich geschworen, dass er Ji-u eine faire Chance auf ein eigenes Leben ermöglichen wollte. Er wusste noch nicht wie genau … außer, dass er den Wünschen des Vaters zu entsprechen gedachte, allumfänglich, um keinen Raum für Ji-u zu lassen. Um gar nicht erst die Notwendigkeit aufzuzeigen, dass der Jüngere ebenfalls in Geschäfte eingeführt wurde.

Und daher hatte er die Anteilseigner der neuen Firmengründung selbst aufgesucht. Hatte heimlich Gespräche geführt und Präsentationen geleitet, hatte Vorschläge eingereicht und Verträge aufsetzen lassen. Er hatte mit Immobilienmaklern gesprochen und die besten Gebäude in Augenschein genommen, hatte mit der Rechtsberatung ihrer Familie alles notwendige besprochen und war nun drauf und dran, die Verträge zu unterzeichnen.

Jene Verträge, die sein Vater hatte unterzeichnen wollen.

Jene Verträge, die nicht den mächtigen Mann zum CEO der JKS Group machen würden, sondern seinen ältesten Sohn.

Jener älteste Sohn, der mit 16 Jahren weder nach dem Zaubereigesetz, noch nach dem koreanischen alt genug für eine solche Position war und der dennoch alle notwendigen Vorbereitungen getroffen hatte.

Daher reckte er das Kinn und begegnete dem Blick, der ihn das Fürchten zu lehren wusste, stolz.
 

„Ich muss mich nicht entschuldigen, Vater. Ich habe alles Notwendige in die Wege geleitet, sodass Mutter und du in Dubai sorgenlos weiterarbeiten könnt und die Zweigstellte hier in Korea mir überlassen könnt.“

Er sprach selbstbewusst und langsam, die Worte wohl gewählt – und obwohl er so direkt mit seinem Vater sprach, neigte er schnell den Kopf um seinen Respekt zu bekunden, als der mächtige Mann ein verstimmtes „er muss sich nicht entschuldigen“ knurrte.

„Frau! Nimm ihn“, er wischte in Ji-us Richtung und Kwan-sik spannte sich an, „und raus mit euch!“

„Ich will aber nicht!“, plärrte der Achtjährige und riss sich aus dem Griff der Mutter frei, schlang die kurzen Arme um Kwan-siks Oberschenkel und blinzelte stur zu ihm herauf. Kwan-siks Herz sank ihm in die Hose; er löste die krampfenden Hände von einander und ging trotz des brennenden Blicks seines Vaters, der jeden Moment zu explodieren drohte, in die Hocke.

„Ji-u. Papa und ich müssen etwas Wichtiges besprechen. Wartest du draußen auf mich?“

„Ich will dabei sein!“

Kwan-sik schmunzelte und bevor ihr Vater etwas hätte sagen können, tätschelte er den blonden Schopf. „Ich weiß. Das nächste Mal bist du dabei, ganz oben am runden Tisch, okay?“

„Das reicht jetzt! FRAU! RAUS MIT IHM!“

Ihre Mutter zerrte Ji-u raus und Kwan-sik schaute ihnen nach, das Gesicht verzogen.
 

Das war einer der vielen Gründe, warum er ihn beschützen musste. Diese naive Sturheit. Diese Blindheit für Details. Diese Ignoranz der Umstände.

Er war ein Kind. Ji-u sollte noch eine Weile länger ein Kind bleiben können.

Mit stolz gerecktem Kinn wandte er sich dem Vater wieder zu – und sah den Schlag nicht kommen. Erschrocken taumelte er einen Schritt zur Seite, sich die brennende Wange haltend. Sein Herz zuckte zusammen, doch eigentlich hätte es ihn nicht überraschen sollen. Eigentlich hätte er es kommen sehen müssen. Er presste die Lippen zusammen und verbat sich, Angst oder Scham oder Empörung oder gar Schmerz zu empfinden. Dieser Mann war eine Schande. Und genau so würde er ihn weiterhin ausspielen müssen.

Kwan-sik schaute auf und begegnete abermals den wütenden Augen; er hatte kaum mitbekommen, dass sein Vater wild zu sprechen begonnen und die Akten, die Kwan-sik ihm vorgelegt hatte, in den Schredder steckte. Eine nach der anderen.

War das seine Art ihm zu sagen, dass er ablehnte? Dass er nicht gut genug verhandelt hatte? Dass er ihn hintergangen hatte?

Kwan-sik ballte die Hände zu Fäusten, als seine Arbeit der letzten vier Monate von seinem Vater ausradiert wurde. Er hatte Abschriften und die Originale waren bei seinem Personal Assistant, Walther. Und dennoch störte es ihn, wie achtlos der mächtige Mann mit seinen Plänen umging.

„Habe ich etwas übersehen, Vater?“, fragte er betont emotionslos nach und sein Vater schnellte empor. „Etwas übersehen? ETWAS ÜBERSEHEN?!“

Kwan-sik biss sich auf die Zungenspitze um kein trotziges Ja verlauten zu lassen sondern blickte ihm blank entgegen.

„DU wirst NICHT CEO dieser Niederlassung! Was denkst du denn?! Dass ein Kind wie du es in dem Haifischbecken länger als einen Tag überlebt? Selbst wenn du Fünfundzwanzig wärst, würde ich dich niemals, hörst du, NIEMALS diese Niederlassung leiten lassen! Du bist nichts weiter als ein Schandfleck und wirst es nie zu etwas bringen, Junge, merk dir meine Worte. Du kannst mir später dafür danken, dass ich so großzügig bin und dich nach deiner lächerlichen Houdini-Schule in einer gehobenen Position hier anfangen lasse. Was glaubst du denn, dass du nur, weil du zufällig unser Sohn bist, ganz oben anfängst? Kwan-sik, ich habe dich wirklich für klüger gehalten, du missratener Bastard.“

Kwan-siks Augenlider flatterten. Bastard hatte er ihn eine Weile schon nicht mehr genannt und etwas in ihm brach auf. Ein kühnes Lächeln bildete sich auf seinen Zügen.

„Was grinst du jetzt so bescheuert, eh? Du solltest die Älteren respektieren und dich nicht so undankbar zeigen! Du hast meinen Namen benutzt und in den Dreck gezogen, als du dich mit all den Investoren und Anteilseignern getroffen hast. Bei Gott, ich will gar nicht wissen, was du alles ruiniert hast mit deinem unangemessenen Auftreten!“

Der Wutausbruch des mächtigen Mannes ging fort und fort doch an Kwan-sik waren die vielen Worte verschwendet, denn alles an das er denken konnte, war das eine Wort: Bastard.
 

Er war nicht besonders sentimental. Nicht einmal besonders gefühlsbetont. Die Wände, die er um sich hochgezogen hatte, waren stark und stabil und nur dann zu überwinden oder zu durchbrechen, wenn er es für angemessen erachtete.

Seitdem Kwan-sik dreizehn war verhandelte er bereits mit Geschäftspartnern der Eltern. Sie hatten ihn früh integriert, da er früh Interesse gezeigt hatte und bereits in frühen Teenagerjahren als jemand durchging, der wesentlich älter war. Das half, um keine Fragen nach dem Kind zu stellen – nicht, dass ihre Geschäftspartner jemals so indiskret gewesen wären.

Jenes Interesse war jedoch erzwungener Natur – seine Eltern hatten jede freie Minute abseits der Mahotokoro durchgetaktet und mit Privatlehrern in allen nur erdenklichen Bereichen ausgestattet. Er ging mit ihnen zu Galen, Veranstaltungen, Messen und Geschäftsessen und in den wenigen Minuten zwischen Geschäftlichem und Schlaf, hatte Kwan-sik stets versucht, seinen kleinen Bruder zu sehen. Trotz dem Altersunterschied und trotz des Fokus der Eltern, liebte er ihn und Jahr für Jahr war der Wunsch, dass er nicht das gleiche Schicksal erleiden musste wie er selbst, stärker geworden.

Wahrscheinlich hatte es geholfen, dass sein richtiger Vater bis er elf war an seiner Seite gewesen war. Heimlich und unentdeckt hatte er Kwan-sik immer zur Seite gestanden und ihm die schönen Seiten des Lebens gezeigt. Eine Geschichte für ein andermal. Aber Kwan-sik war sich sicher, dass er seinem Vater das Herz zu verdanken hatte, das noch nicht vollends tot war.

Dass sein Vater ihn nun also Bastard nannte, brachte jenes Herz, das noch nicht vollends tot war, zum rebellischen Pochen. Es wollte dem verfluchten Mistkerl zeigen, wie sehr er zu einem Bastard werden konnte.
 

„Und was, wenn ich dir das Gegenteil beweise?“, unterbrach Kwan-sik die Worte des Vaters und dieser starrte ihn einfach nur an. „Wenn ich dir beweise, dass ich niemanden beleidigt und gut verhandelt habe? Dass meine Verträge lückenfrei sind und ich mir den Platz als CEO verdient habe?“

Eine lange Stille folgte, ehe der Vater in schallendes Gelächter ausbrach, als sei das, was Kwan-sik soeben gesagt hatte, die beste Nummer eines Hofnarren, die er je gesehen hatte. Kwan-sik blieb hart, aber es brachte den mächtigen Mann nicht zum Stolpern.

„Niedlich“ war das Einzige, was er dazu zu sagen hatte und Kwan-sik spürte, wie sanfter Ärger in ihm zuckte.

Niedlich war es, wie Ki-ho morgens nach dem Aufstehen desorientiert in der Luft herumfischte, nur um Minuten später zu dementieren, dass er den Rasierschaum für Orangensaft gehalten hatte.

Niedlich war es, wenn Yeon-bae verzweifelt versuchte, beim kitschigen Ende nicht zu heulen wie ein Schlosshund.

Niedlich war es, wenn Joon-su mit verlegenem Blick um einen weiteren Happen bat und sich widerstandslos von ihm füttern ließ.

D a s war niedlich.

Kwan-siks Zukunft hatte rein gar nichts mit niedlich zu tun.
 

Ohne ein weiteres Wort verließ Kwan-sik das Büro des Vaters und wusste, dass sein Verhalten Folgen haben würde. Doch nichtsdestotrotz würde er dafür sorgen, dass seine Pläne aufgingen.

Er fingerte das Smartphone hervor und wählte die Kurzwahl. „Walther? Er hat nein gesagt, wie zu erwarten. Leiten Sie Phase zwei ein.“ Ein Teil von ihm fühlte sich wichtig und mächtig und ein wenig beschwingt, da er so einen Satz schon immer mal hatte sagen wollen.

Der viel größere Teil war abgestoßen und wütend und verzweifelt.
 

„Hyung!“

Das blonde Bündel flog ihm in die Beine und er strauchelte, ein überraschts „Ji-u?“ ausstoßend. Seine Augen suchten nach ihrer Mutter oder wenigstens der Amme, aber scheinbar hatte sich sein rebellischer kleiner Bruder einmal mehr losgerissen. Mit einem Grinsen bemerkte er, wie die Wut verflogen war und er bei sich dachte, dass auch das niedlich war … wenn auch besorgniserregend.

„Was machst du ganz allein hier?“

„Ich hab auf dich gewartet! Soon-ah hat gar nicht bemerkt, wie ich fortgelaufen bin.“ Das stolze Grinsen erhellte den Gang und Kwan-sik schnaubte amüsiert, ehe er den kleinen Bruder an die Hand nahm und den Kopf schüttelte.

„Bist du dafür nicht zu alt? Dass ich dich an der Hand zu Soon-ssi zurückbringen muss“, neckte er Ji-u, dessen Hand sich versuchte zu befreien und als Konsequenz griff Kwan-sik nur noch fester zu.

„Auaaaaaaa!“ - „Selbst schuld.“ - „Lass lohos!“ - „Nein.“

Kwan-sik gluckste in sich hinein und winkte die Amme fort, als diese um die Ecke gerannt kam.

„Schon gut, Soon-ssi, ich übernehme. Könntest du Mutter Bescheid geben, dass wir zum Essen wieder da sind?“

„Jin Kwan-sik-ssi… ich weiß nicht… deine Mutter hat gesagt…“

Kwan-siks Gesicht wurde weicher, als er mit Nachdruck ein „bitte“ anhängte und die Frau Mitte Fünfzig sah sich seufzend erweicht von den beiden Jungen, die sie wie ihre eigenen aufgezogen hatte. Sie nickte zur Bestätigung und Ji-u, der das Gespräch stirnrunzelnd mitverfolgt hatte, wandte sich an den großen Bruder.

„Aber wir essen erst in drei Stunden.“ Seine Augen wurden groß und Schalk funkelte in ihnen. „Laufen wir weg?!“

Kwan-sik lachte und schulterte den quietschenden Achtjährigen, der Amme zuwinkend, ein „ja, genau das tun wir jetzt“ zwischen das erfreute Kreischen seines Bruders steuernd.
 

„Woah! Das ist aber groß!“

„Hmn“, summte Kwan-sik zustimmend und ging mit seinem Bruder an der Hand zum Aufzug. „Hier werde ich ab nächstem Jahr arbeiten. Wir müssen die Details noch besprechen, aber ich bin mir sicher, dass Soon-ssi dich sicher öfter herbringen kann. Dann bist du nicht so viel allein.“ Er lächelte Ji-u an, der fasziniert von all den Lichtern und dem Marmor war; die Eingangshalle war edel und groß und weitläufig – aber bei weitem auch noch nicht fertig. Überall wurde noch gebaut und an allen Ecken und Enden fehlte noch der Feinschliff. Aber Kwan-sik wusste, dass sie bis zum Frühjahr nächsten Jahres fertig waren.

„Soll ich dir den großen Tisch zeigen?“

Ji-us Augen leuchteten auf und sie fuhren bis nach ganz oben mit dem Fahrstuhl. Der Kleine plapperte in einer Tour von Dingen, die Kwan-sik nicht einmal im Ansatz verstand und musste sich das Lachen verkneifen, als er vor Magie zu schweben begann, davon erschrocken war und sich an Kwan-siks Schulter klammerte, um nicht davon zu fliegen.

„Besser nicht in der Öffentlichkeit, okay? Ich fände es zwar amüsant, wenn jemand sich deinetwegen in die Hose macht, weil er Angst bekommt, aber Mutter fände das sicherlich nicht so toll.“

Ji-u schürzte die Lippen und atmete aus – und tatsächlich verlor er seinen Zustand und sank auf Kwan-siks schon jetzt breite Schultern herab.

„Warum ist sie immer so langweilig?“

„Das haben Mütter an sich. Oder Eltern insgesamt. Sie sind furchtbar langweilig“, behauptete Kwan-sik, als er aus dem Fahrstuhl ausstieg und die Arme unter dem Hintern seines Bruders verschränkte. „Deswegen bin ich ja auch bei dir, damit es nicht so langweilig ist. Gelingt mir das?“

„Hm.“ Ji-u ließ sich mit der Antwort Zeit, aber schließlich senkte er das Kinn auf die Schulter des Bruders und pustete ihm ins Ohr. „Hei, lass das!“ Ji-u kicherte. „Ne, ich glaube, ich bin hier damit dir nicht langweilig ist, nicht andersherum!“, klärte Ji-u ihn auf und Kwan-sik seufzte innerlich. Vermutlich hatte er damit sogar nicht mal so Unrecht …

… sie betraten den großen Konferenzraum, der bereits mit allem Notwendigen und noch ein bisschen mehr ausgestattet war. Ji-u rutschte vom Rücken des Bruders und eilte zum Kopfende des Tisches; Kwan-sik beobachtete ihn mit liebevollem Blick und schwor sich einmal mehr, ihn vor allem Schlechten in der Welt zu beschützen.

„Yay, wie du gesagt hast! Ganz oben am Tisch!“, grinste Ji-u und Kwan-sik nickte, setzte sich zum Bruder an den Glastisch und deutete ernst auf ihn.

„Ji-u-ssi. Wenn du bitte fortfahren würdest.“

Ji-us Augen wurden groß bei der Art und Weise, wie Kwan-sik ihn formell ansprach und öffnete bereits den Mund, als sein Bruder alarmierend einen Finger erhob. „Bitte denk daran, dass es unhöflich ist, mich nicht trotzdem mit Respekt zu behandeln. Ich bin auch in diesem Szenario der Ältere, verstanden?“ Die Backen des Jüngeren füllten sich mit Luft, als er schmollte, aber schließlich stimmte er zu und sie hatten eine Weile Spaß daran, einen Erdbeershakestand zu planen, der im Foyer zur Rechten etabliert werden sollte und darüber zu diskutieren, ob Elefanten eine gute Ergänzung im Personal wären, oder sie lieber doch auf Delfine umsteigen sollten.

Es waren diese kleinen und schmerzhaft kurzen Momente mit seinem kleinen Bruder, die Kwan-sik die eigene Menschlichkeit nicht verlieren ließen.
 

Sie würden seltener werden.
 

Bis sie schließlich ganz verblassten.
 

Kwan-sik wurde zum Teufel von Seoul; der jüngste CEO in der Geschichte Südkoreas, als er mit frischen 17 Jahren die große Unternehmensgruppe JKS Group übernahm und mit harter Hand und kühlem Kopf das Unternehmen innerhalb kürzester Zeit zu unübertroffenem Erfolg führte.

Seine Eltern wanderten tatsächlich nach Dubai aus und der jüngere Bruder blieb im bekannten Umfeld; doch was als Stabilisierung gedacht gewesen war, entwickelte sich gänzlich anders,

Ji-u gab sich seiner rebellischen Ader hin und geriet auf die schiefe Bahn.

Und Kwan-sik? Kwan-sik verlor sein Herz – verlor seine Güte – und alles, was er jemals niedlich gefunden hatte, verlor an Bedeutung.

Noori II - Nae sarang

Mühsam atmete Noori durch. Heute fiel ihm das Atmen schwer und die Leichtigkeit seines Lebens, die ihn sonst auszumachen schien, war nirgendwo zu finden. Die Pflicht, der Sohn des Vaters zu sein, war heute erdrückend und unwillkommen und er fühlte sich schuldig dafür so zu empfinden. War er undankbar? Unangemessen? Früher hatte er sich diese Fragen nie gestellt. Niemals wäre ihm eingefallen, seine Position in Frage zu stellen oder die eigenen Handlungen zu hinterfragen. Wenn sein Vater wünschte, dass er zum Empfang im Chalet mitkam, dann dachte er nicht über das Warum nach – nicht darüber, ob es Auswege gäbe. Nicht einmal über die Kleidung, den Haarschnitt oder die Accessoires, die für ihn bereitgelegt worden waren und erst recht nicht darüber, ob er irgendetwas davon wirklich wollte. Er hatte sich stets in die Rolle gefügt und sie weder hinterfragt, noch als etwas anderes als selbstverständlich hingenommen.

Er war Jeon Noori, Sohn von Jeon Byeong-ho und damit kamen neben den vielen Vorzügen eben auch Pflichten einher. Pflichten, die er nie in Frage gestellt, nie als Bürde empfunden hatte.

Warum fiel ihm das Atmen heute dann so schwer?

Warum sah das Gesicht im Spiegel so blass, so unglücklich aus?

Noori schloss die Augen und zum wiederholten Male versuchte er, sich zu beruhigen, obwohl er nicht einmal aufgeregt oder angespannt war. Er bekam nur einfach kaum Luft. War das eine Panikattacke? Vorsichtig platzierte er seine große Hand auf Herzhöhe, beobachtete sein Spiegelbild dabei, doch sein Herz schlug normal schnell und nachdem er seinen Puls am Hals ertastet hatte war er sich sicher, dass rein körperlich gar nichts verkehrt lief.

Er war Sportler. Schon seit er elf Jahre alt war spielte er Quidditch und war früh in den Schulmannschaften geflogen – selbst in seinen beiden Auslandsjahren auf Durmstrang und Hogwarts war er in den Mannschaften gewesen und hatte altgediente Spieler ersetzt. Nicht zwingend, weil er ein Naturtalent im Fliegen war, sondern weil sein klarer Kopf, seine Übersicht und seine rationale Herangehensweise ihm einen klaren Vorteil gegenüber jedem intuitiven Hitzkopf gaben. Seitdem er studierte flog er nicht nur für die Unimannschaft als Jäger, sondern dadurch auch in der koreanischen Liga – die Unimannschaft der Seouler Zaubereruniversität hatte eine lange Historie und war vor Jahrzehnten in die koreanische Quidditchliga aufgenommen worden. Sie waren eine Institution, wenn auch mit wenig Tradition. Aber nicht nur das: er war Kapitän. Bereits als er die Universität betreten hatte war klar gewesen, dass er die Position des Kapitäns übernehmen würde und auch wenn hinter vorgehaltener Hand getuschelt wurde – immerhin war er der Sohn des Dekans, Vitamin B hatte noch niemandem geschadet, eh? – hatte er sich diese Position schnell verdient.

Noori wusste also was sein Körper aushalten konnte und verstand Anzeichen von übermäßiger Erschöpfung, Nervosität, Schlafmangel, falscher Ernährung und, und, und – jahrelange Erfahrung, jahrelanger Drill, jahrelanger Balanceakt zwischen den Pflichten eines Sohnes und dem Herausbilden der eigenen Person. Dass sein Körper ihm also einen fetten Daumen nach oben entgegenstreckte ließ nur noch einen Schluss zu.
 

Nur ganz langsam schlossen sich seine Augenlider. Gänsehaut rieselte unwillkommen und unerwünscht seine Arme herab und seine Nackenhaare stellten sich auf, als sich ein so vertrauter Geruch in viel zu heftiger Erinnerung in seine Nase schlich. Sein Atem stockte abermals, verließ als mitleidserregender Rest seine Lippen zischend und Kälte breitete sich in ihm aus. Sie schlang sich wie eine Schlange um seine Eingeweide, ließ ihn von innen heraus zittern – fast wie einer der vielen Kältesprüche, die gegen die Überhitzung beim Sport eingesetzt wurden. Aber er wusste es besser. Es war eine ganz andere Magie, die ihn befiel. Reue – Mitleid – A b s c h e u. Und schließlich: Resolution. Er kämpfte abermals gegen sich selbst. Seit Wochen schon und es wurde von Tag zu Tag schlimmer statt besser. Noori wollte sich auf die eigene Atmung konzentrieren, seinen Geist dazu bringen, sich zu beruhigen und den Geruch zu verdrängen – die Erinnerungen zu töten – und gleichzeitig klammerte sich dieses verfluchte Herz mit allem was es hatte an Geruch und Erinnerungen.

Und schließlich begann es zu rasen.

Noori keuchte erschrocken und atmete heftig ein, während er die Augen aufriss und seinem überraschten Selbst entgegenstarrte. So kannte er sich nicht. So außer sich. Er war ein ruhiger, beinahe gelassener junger Mann, mit sich selbst schon immer völlig im Einklang und sich seinem Platz in der Welt erschreckend bewusst – vollkommen konform in dem Bewusstsein, dass sein Weg für ihn bereitet war und er ihn einfach nur beschreiten musste und keinerlei Bestreben darin aufweisend, sich Schneisen zu schlagen oder gar Abwege zu nehmen. Niemals hatte er darüber nachgedacht, eigene Träume zu entwickeln, da die Träume seines Vaters zu den eigenen geworden waren und niemals hatte er auch nur daran gezweifelt, dass er glücklich werden würde auf dem ihm vorbestimmten Weg.

Er sah sich selbst im Spiegel – große rotgeräderte Augen, müde Schatten unter ihnen, aufgedunsene Wangen, stumpfes Haar – und schob die Hand vor die bebenden Lippen. Sein Oberkörper begann zu vibrieren – der Kampf hatte begonnen und Hoffnungslosigkeit und Vorwurf schlichen sich in die dunklen Tiefen der großen Augen.

„Warum hast du das getan?“, hörte er Yejuns Stimme sanft fragen und die eigene Antwort darauf wie einen Stupor sein Inneres lähmen: „Weil es sein musste.“ Sein Magen krampfte – die Kälte brachte ihn zum Zittern. „Das ist bescheuert, Noori. DU bist bescheuert. Was soll das?“, keifte Nam-kyu wütender, als er selbst es war und hinterließ harte tiefe Wunden im Inneren. Die Erinnerung an die Wut des besten Freundes brach das Eis schonungslos auf und Noori biss die Zähne zusammen, zog die Schultern hoch und sackte schließlich doch in sich zusammen, vornübergebeugt, beide Hände verzweifelt gegen die zitternden Lippen gepresst, irgendwie um das letzte Bisschen an Entschlossenheit im Kampf gegen sich selbst kämpfend. „Es muss sein…“, wisperte er Nam-kyus Erinnerung entgegen, die Augen fest zusammengepresst, sich weigernd auch nur eine Träne zu vergießen. „Es muss. Es muss, verflucht noch mal.“
 

Explosionsartig fegte sein Unterarm über die Kommode und das helle Klirren von zerberstenden Parfumflaschen gesellte sich zum anklagenden Klappern von allerlei Tand. Alarmiert streckte sein Assistent den Kopf durch die Tür, doch Noori schnippte mit dem störrischen Roteichestab und gewaltsam knallte die Tür wieder zu – er ignorierte den Schmerzenslaut auf der anderen Seite, ignorierte das Blut am Unterarm, das von Scherben der Parfumflaschen stammte und er ignorierte, wie es im Herrenhaus lauter wurde. Kurz gesagt: er ignorierte alles um sich herum.

Voller Zorn funkelte er dem eigenen Spiegelbild entgegen – die Fingerknochen traten weiß hervor, als er sich in den Rand der Kommode krallte und das erste Mal in seinem Leben hasste er, was er im Spiegel sah. Er hasste sich selbst.

„Scheiße…“

Ein leiser Fluch perlte von den eigenen Lippen und Sekundenlang starrte er sich selbst voller Abscheu entgegen, kämpfte um seine Selbstbeherrschung, kämpfte um die Kraft, seine eigenen Entscheidungen vor sich selbst zu rechtfertigen und kämpfte darum, weiter aufrecht zu stehen.

Er gewann. Wie immer … Vielleicht wäre es besser gewesen er hätte nicht gewonnen. Vielleicht wäre es besser gewesen er würde zusammenbrechen. Nur ein einziges Mal nicht der Sohn seines Vaters, nicht Jeon Noori, nicht der Kapitän, nicht der starke, sture Erbe sein. Nur ein einziges Mal stattdessen Jagiya – der Einzige für immer – sein.

Noori senkte den Kopf und atmete durch. Verschloss diesen lächerlichen Wunsch tief in sich und legte jene Eisschichten darüber, die zuvor seinen Magen in Aufruhr gebracht hatten. Er fand, das war ein passendes Bild und je länger er es sich so vorstellte – eine kleine Schachtel in seinem Herzen, mit all den Erinnerungen, all den Gerüchen und all den Wünschen, Versprechungen, Vorstellungen, umhüllt von einer massiven Schicht aus glänzendem Eis – desto einfacher wurde es, das Atmen wieder zu lernen.

Die Schultern entkrampften sich – das Herz wurde leichter – der Magen rebellierte nicht mehr.

Und schließlich lächelte er sich selbst entgegen, halberherzig, aber es war ein Lächeln.
 

„Weil es nicht anders geht, Noori“, sprach er sich selbst zu, „das weißt du. Du willst, dass er glücklich ist. Wenn du ihn dafür zuerst unglücklich machen musst, dann ist das so, aber schlussendlich wird er ohne dich besser dran sein und auch das weißt du. Das alles hier würde ihn zerquetschen und du kannst nicht fort. Du willst es auch nicht, nicht einmal für ihn.“ Während er mit sich selbst sprach, richtete er sich auf, begutachtete die Wunde am Unterarm und befand, dass sie nicht weiter dramatisch war, hatte sie doch auch schon aufgehört zu bluten. Er würde sich bei seinem Assistenten entschuldigen müssen und auch bei den Leuten, die auf ihn warteten.

Ein Klopfen an der Tür ließ ihn automatisch mit „herein“ antworten und sein Vater – müde vom langen Flug nach Hause – betrat das ausufernde Schlafzimmer. „Noori. Jinwon hat mir ausgerichtet, dass es dir nicht gut geht.“ Der Blick des Vaters fiel auf das Chaos, das ungewöhnlich für den sonst so gelassenen und geordneten Sohn war.

Obwohl Byeong-ho ein erfolgreicher Geschäftsmann war und viel Zeit auf Reisen und in den verschiedenen Bereichen des großen Imperiums verbrachte, hatte er nie die Liebe für seinen Sohn verloren. Er wollte sein Bestes – und die Liebe zu seinem Sohn war größer, als die zu seinen Geschäften.

Daher schaute er nun sorgenvoll auf das Profil des ihn überragenden jungen Mannes und trat langsam auf ihn zu, ein weiches Lächeln auf den Lippen.

„Tut mir leid, Papa. Ich räume das sofort auf. Ich bin … ausgerutscht.“

Sanft legte Byeong-ho seine Hände auf die starken Oberarme und drückte sie, bemerkend, wie die dunklen Augen seines Sohnes unruhig zu schimmern schienen. Es war selten ihn derart aufgeregt zu erleben und damit meinte er nicht siegestrunken oder voller Enthusiasmus für etwas, das ihm am Herzen lag. Sondern aufgelöst – sein Sohn war kein Mensch, der seinen Emotionen freien Lauf ließ und gerade ihm gegenüber versuchte er, sie zurückzuhalten, das wusste Byeong-ho. Wie auch nicht, schließlich war er in seinem Alter genauso gewesen. Daher lachte er leise und strich die hellen blauen Haare aus der Stirn seines so groß gewordenen Jungen.

„Nicht nötig. Jinwon kann das sofort erledigen“, sprach er so sanft wie es ihm möglich war und spürte, wie Noori sich anspannte. „Du rutscht nicht oft aus. Besonders nicht mit deinen Armen, a-dul. Ich glaube, das letzte Mal war im Spiel gegen die Busans, oder?“ Das Lächeln verlor sich während seiner Worte und er nahm seinen Sohn ernst in Augenschein, der sich unter dem aufbrechenden Blick des Vaters zu winden begann – nicht durch Bewegungen, aber die Augenlider flatterten nervös, ohne sich komplett zu schließen. Noori befeuchtete sich die Lippen mit der Zungenspitze, fand jedoch keine Worte und Byeong-ho bugsierte ihn sanft auf das Ende das Kingsize Betts, um sich neben ihn zu setzen.

„Noori“, fing er an und nahm seine Hände zwischen die eigenen. Sie waren so viel größer und wieder sah er sich fassungslos der Tatsache gegenüber, dass sein Sohn mittlerweile erwachsen war. „Du bist unglücklich“, stellte Byeong-ho schließlich leise in den Raum und war überrascht von dem heftigen „nein!“, das sofort von Noori zu hören war. Die Hände unter seinen krampften sich um die eigenen Finger und er schaute seinen Sohn an, der ihm fest in die Augen schaute.

„Ich bin vielleicht nicht ganz ich selbst gerade, Papa, aber ich bin nicht unglücklich“, wollte er ihm versichern und Byeong-ho wusste, dass er glaubte, die Wahrheit zu sprechen – sein Sohn log nicht. Selbst dann nicht, wenn es vielleicht besser für ihn oder die Firmen, die eigene Reputation oder das Imperium gewesen wäre. Eine der vielen bemerkenswerten Eigenschaften an diesem jungen Mann war, dass er mit den Konsequenzen seiner Wahrheiten zu leben wusste und dass sie ihn nicht zu zerreißen wussten.

Aber hier und heute wusste der erfahrene Geschäftsmann, dass Noori nicht ehrlich zu sich selbst war.

Daher löste er die krampfenden Finger und strich behutsam über den Handrücken. Noori schauderte und Byeong-ho lächelte abermals, den Blickkontakt suchend.

„Ist es wegen Hirose Koya?“, fragte er schließlich und bemerkte, wie Nooris Schultern sich reflexartig mehr durchdrückten. Sein Sohn schien mit dem Gedanken zu spielen zu lügen oder eine kluge Antwort darauf finden zu wollen, doch schließlich zuckte er nur mit den Schultern.

„Indirekt, ja. Aber ich habe eine Entscheidung getroffen und muss nun mit den Konsequenzen zurechtkommen.“

„Noori… Du bist noch so jung. Er wird nicht der einzige Mann sein, den du lieben wirst.“

Byeong-ho war überrascht über den sichtbaren Ärger, der durch dunkle Augen zog und der für den Bruchteil einer Sekunde die sonst so gelassenen Züge seines Sohnes in Aufruhr brachte. Er entzog ihm seine Hand und die Nasenflügel blähten sich auf, als er tief durchatmete.
 

Quod licet Iovi, non licet bovi?
 

Perplex starrte der Vater den Sohn an und Noori begegnete dem Blick offen.
 

„Du hast nach Mama niemanden mehr an deiner Seite geduldet und sagst nun, dass ich jemand anderen lieben soll? Das klingt mir ganz nach Doppelmoral, appa.“
 

Es war einen Moment still zwischen den beiden; immerhin musste Byeong-ho sich von dem Schock erholen, dass sein Sohn ihn als einen Hypokriten beschuldigte und gleichzeitig um Selbstbeherrschung kämpfen. Er war müde und erschöpft vom langen Flug und den Terminen zuvor, hatte bereits das Meeting mit den Anwälten im Hinterkopf und die Erwähnung der toten Ehefrau trug nicht gerade zum eigenen Wohlbefinden bei.

Aber das für ihn Schmerzhafteste war, dass Noori sie verglich – die Liebe seines Lebens mit Hirose Koya. Byeong-ho hatte nicht gewusst, nicht einmal im Ansatz geahnt, wie tiefgehend die Gefühle des Sohnes für den Japaner waren. Natürlich hatte er gewusst, dass es ihm ernst war … vier, beinahe fünf Jahre Beziehung war in dem jungen Alter eine lange Zeit, aber etwas anderes hatte er von seinem treuen Sohn auch nicht erwartet. Eine Beziehung, die er nicht ernst nahm? Die nach einigen Wochen wieder beendet war? Noori war viel zu realistisch, um sich auf jemanden einzulassen, den er nicht als angemessen für sich selbst oder den Platz im Rampenlicht erachtete. Dass Byeong-ho Hirose Koya als unangemessen angesehen hatte, verstand sich leider von selbst. Der Muggelstämmige aus Kōchi mit geschiedenen Eltern und ohne nennenswerte Erfolge oder aber Auszeichnungen – absoluter Durchschnitt, ruhig und unscheinbar, wenn auch hübsch an der Seite seines Sohnes, durchaus. Und Hirose Koya war ein guter und loyaler Begleiter für seinen Sohn gewesen, aus das musste Byeong-ho ihm zugestehen.

Aber er war – schlussendlich – eben nur durchschnittlich.

Und Byeong-ho wusste, wie leicht durchschnittliche Menschen an Nooris und seinem Nachnamen zerbrechen konnten. Seine Frau war zerbrochen. Es hatte sie so sehr vernichtet, dass sie krank geworden und langsam dahingesiecht war. Byeong-ho wusste nicht, ob Noori bewusst war, dass es jenes Rampenlicht, jene Aufmerksamkeit, jene fehlende Privatsphäre gewesen war, die seine Mutter krank gemacht hatte … aber um jeden Preis musste Byeong-ho verhindern, dass es seinem Sohn genauso erging wie ihm selbst.

Zumindest war das seine Intention gewesen, als er ihm geraten hatte, Hirose Koya zu verlassen.
 

Und nun?

Nun verglich sein Sohn Hirose Koya mit Jeon Bin-na … mit der Liebe seines Lebens … und implizierte damit, dass auch er selbst niemals abseits von Hirose Koya glücklich werden würde.

Der so erfahrene, so gefasste Geschäftsmann sah sich den eigenen Gefühlen gegenüber vollkommen schutzlos ausgeliefert und musste sich eine Träne aus dem Augenwinkel wischen.

Appa … weinst du?“, fragte Noori leise nach und Byeong-ho nickte. „Ich wusste nicht, dass es dir derart ernst mit ihm ist. Warum hast du nichts gesagt?“ Noori schwieg, doch Byeong-ho konnte das Zögern um die Mundwinkel genau lesen. Er seufzte. „Weil ich nicht zugehört habe?“, vermutete er und sein Sohn verzog das Gesicht, sich im Zwiespalt darüber gefangen, dass er zustimmen wollte, aber nicht konnte.

Byeong-ho atmete tief durch und legte seinem Sohn die Hand auf die Schulter.

„Ist er das?“

Noori war verwirrt und runzelte die Stirn. „Ist er … was?“

Nae sarang.
 

Alles in Noori gefror und wo er zuvor dieses verfluchte Kästchen mit Eis überzogen hatte, war genau jenes das Einzige in seinem Inneren, was zu brennen begonnen hatte. „Wie …“ hast du das gewusst wollte er seinen Vater fragen – er hatte nie gehört, wie er Koya mit diesem kitschigen Kosewort bedacht hatte und es war nicht typisch für ihn, mit derlei herzigen Worten um sich zu werfen. Wie also hatte sein Vater genau das erraten? Und wieso fragte er ihn jetzt danach?

Er beobachtete, wie sich ein trauriges Lächeln auf den Zügen seines Vaters ausbreitete und sein Herz krampfte sich zusammen. Vorahnung schlich durch sein Inneres und Schauer rieselten seinen Rücken herab. „… hast du Mama so genannt?“, mutmaßte Noori atemlos und Byeong-ho nickte langsam, ein leises „jah“ hervorbringend.
 

Hätte er gewusst, wie ernst es seinem Sohn war … Hätte er nur zugehört …
 

Die Hand auf der Schulter Nooris krallte sich beinahe schmerzhaft ins Fleisch und er zuckte zusammen, doch sein Vater schaute weder weg, noch lockerte er den Griff.

„Es tut mir leid“, entschuldigte sich Byeong-ho und Noori schüttelte den Kopf. „Es war meine Entscheidung.“

„Nein. Streng genommen war es das nicht, oder?“

Unwillig runzelte Noori die Stirn und bestärkte noch einmal: „Es war meine Entscheidung, appa. Du hast mir nur einen Schubs in die richtige Richtung gegeben.“

Byeong-ho ließ langsam von ihm ab. „War es denn die richtige?“, hörte Noori ihn leise fragen und sein Herz setzte für einen Moment aus.

„Was meinst du damit? Du hast selbst gesagt, dass…“ – „Ich weiß, was ich gesagt habe, a-dul, aber auch ich mache Fehler und auch ich wähle meine Worte nicht immer mit Bedacht. Ich hätte dir zuhören müssen, als du ihn mir vorgestellt hast und ich hätte mir die Zeit nehmen müssen, euch als Paar kennenzulernen. Oder auch nur Koya als Person und ihn nicht als Hindernis für dich zu sehen.“

Noori war überfordert und schüttelte den Kopf.

„Das kannst du nicht ernst meinen. Nicht, nachdem …“

Byeong-ho schloss die Augen, als sein Sohn sich selbst unterbrach und nicht wusste, wie er den Satz beenden sollte. Er spürte, wie sehr er bereute – er spürte, wie sehr er mit sich kämpfte – und einmal mehr wurde ihm schwer ums Herz, weil er das Glück seines Sohnes so sehr geringschätzt hatte. Weil die wirklich wichtigen Dinge im Geschäftsalltag manches Mal untergingen.
 

Es klopfte an der Tür und Jinwon streckte vorsichtig, als befürchte er einen weiteren Anschlag mit der Tür, den Kopf herein. „Jeon Byeong-ho-ssi … die Herren für die Vertragsschließung sind hier. Ich habe sie ins Teezimmer gebracht, aber sie warten schon ein paar Minuten.“

„Ich habe verstanden, Jinwon. Sag ihnen, dass ich gleich da bin.“ Er schaute zu Noori. „Dass wir gleich da sind. Hast du Jinwon nicht noch etwas zu sagen, Noori?“

Noori lächelte den Assistenten schief an und konnte so etwas wie Amüsement in den älteren Zügen ausmachen, als er ein „Entschuldigung für die Beule“ zum Besten gab, das Jinwon abwinkte. „Ich sage den Herren Bescheid. Zehn Minuten?“

„Mach sieben draus“, grinste Noori und stand bereits auf, um sich endlich die dunklen Augenringe abzudecken und die Haare zu machen. Byeong-ho beobachtete ihn und wartete, bis die Tür wieder ins Schloss gefallen war. Dann stand er auf, tätschelte den Rücken seines Sohnes, der ihn um einen Kopf überragte und flüsterte sanft: „Bring das in Ordnung, Noori. Nicht für mich oder für das Imperium, sondern für dich. Dieses Mal höre ich zu. Versprochen.“ Nur kurz begegneten seine Augen denen seines Sohnes im Spiegelbild, dann gluckste er über dessen verdutzten Gesichtsausdruck und wischte mit dem eigenen Zauberstab durch die Luft. „Jinwon hatte heute schon genug Kopfweh, meinst du nicht auch?“ Noori musste lachen und nickte, sich der Anspielung bewusst. „Ah. Vergiss nicht, dass es unter anderen um den Vertragsabschluss mit Antimatter als Sponsor für Jeon-gong Inc. geht. Ah – und der CEO von IntAG hat dir ein Geschenk dagelassen … eine Uhr, schätze eine Rolex mit dem Firmenlogo. Wärst du so gut …?“ Sein Vater brauchte nicht weiter auszuführen, sondern Noori fing die Schachtel auf, die Byeong-ho magisch herbeigeholt hatte und machte die Uhr um. Selbstverständlich passte sie perfekt und er drehte das Handgelenk nur ein paar Mal, ehe er seinen Vater anschaute. „Will er sie zurück?“

„Nein. Er hat das Wort Geschenk betont … vermutlich will er etwas von uns dafür, aber das werde ich in Erfahrung bringen.“

Noori nickte und zog ein Jackett über das erschreckend auffallende und ein wenig obszöne Shirt von Antimatter – nicht sein persönlicher Favorit, aber er fand sich schnell damit ab. Wenigstens passte es farblich zu den hellblauen Haaren.
 

„Ich warte dann unten. Nimm dir noch einen Moment, um dich zu sammeln. Und … denk über mein Versprechen nach, wenn wir heute durch sind.“

Im Spiegel schaute ein dunkles Augenpaar nachdenklich zum Vater und obwohl Noori niemals eine Entscheidung überdachte, sondern mit den Konsequenzen seines Handelns lebte, lenkte er bei seinem Vater hin und wieder ein. Auch hier? Er blinzelte und ein weiches Lächeln zuckte über die zuvor so angespannten Züge – das Eis im Inneren war zu weichem Schnee geworden, der sich pudernd über das Kästchen mit Erinnerungen, Wünschen und Versprechungen warf. Nicht um es zu begraben, sondern um es zu schützen, es einzuhüllen und sanft anzuklopfen.

„Ich denke darüber nach“, stimmte Noori schließlich zu und sein Vater spürte eine Welle der Erleichterung über sich einschlagen, die ihn selbst überraschte.
 

Wenn Hirose Koya für Noori das war, was Bin-na für ihn gewesen war … dann würde Byeong-ho sich bemühen, zuzuhören und zu verstehen und dafür sorgen, dass der kleine Japaner nicht an dem zu ersticken drohte, was ihn als Jeon erwartete. Dann war Byeong-ho bereit all das für seinen Sohn und dessen nae sarang zu tun, was er nicht für seine Frau hatte tun können.

Hye-jin I - Aurora

Er rannte. Er rannte durch leere Straßen, die nur vom schummrigen Licht der Straßenlaternen erhellt wurden. Er rannte durch den trommelnden Regen, der seine Kleidung schon komplett durchnässt hatte. Er rannte und rannte, bis seine Lungen brannten und sein Körper ihm signalisieren wollte, dass er aufhören musste – dass er anhalten musste – dass hier das Ende erreicht war. Doch er rannte weiter, mit bebenden Schultern, schwindendem Atem und der verzweifelten Gewissheit: wenn ich jetzt stehenbleibe, breche ich zusammen und stehe nicht wieder auf. Also rannte er. Taumelnd. Strauchelnd. Mit schweren Knochen und Muskeln – plötzlich im nächsten Moment wie von der Tarantel gestochen in einem Affenzahn durch das nächste Viertel, hupenden Autos, fluoreszierender Nachtluft zum Trotz. Kein Atem mehr da – er griff tiefer danach. Ihm wurde kalt, immer kälter, obwohl er so sehr rannte. Sein Atem stach milchig weiß in der Nacht hervor und verzweifelt schleppte er sich weiter, plötzlich jeder Kraft beraubt – nur noch ein paar Straßen weiter … noch nicht aufgeben …
 

„Hye-jin?“
 

Erschrockene Augen schauten auf und er bemerkte, wie sein Sichtfeld wieder verschwamm. War es der Regen, der sich in seinen Wimpern gesammelt hatte, oder die Tränen, die er seit Stunden vergoss? Oder die verfluchte Erschöpfung, die einer Welle gleich über ihm einschlug?

Er sah nur, wie die Gestalt, die seinen Namen gesagt hatte, auf ihn zu schnellte, die Arme nach ihm ausstreckte und willenlos ließ er sich fallen. Er schluchzte erleichtert auf, ging mit dem jungen Mann zu Boden und spürte, wie die eh schon durchnässte Kleidung an den Knien noch kälter wurde.

„Y—yu—yu…“

Doch mehr als Gestammel kam nicht über die zitternden blauen Lippen und woher auch immer er die Kraft nahm; er klammerte sich an den besten Freund, als würde sein Leben davon abhängen und Verzweiflung übermannte ihn derart heftig, dass die Schluchzer ihn bis ins Mark erschütterten, als er die Stirn an der warmen Schulter vergrub, die Hände ins Oberteil des Freundes krallte und sich an ihn presste, versuchte die Wärme des anderen aufzusaugen und die Kleidung Yunos mit bitteren Tränen benetzte.

Er bemerkte die Überforderung des besten Freundes nicht, der nicht wusste, wo er ihn am ehesten anfassen sollte – über den Rücken streichen? Ihn einfach nur weiter festhalten? Den Regenschirm über sie halten, den er zuvor fallengelassen hatte? Durch die nassen Haare fahren? Ihn dazu zwingen, aufzustehen? Unter die Arme greifen und ihm beim Aufstehen helfen? Sollte er etwas sagen, ihn fragen, was los war?

Yuno entschied sich dazu, Hye-jin festzuhalten; sanft platzierte er eine Hand zwischen den bebenden Schulterblättern, wisperte leise „alles wird gut“ in das Ohr des Anderen und begann, durch das nasse wirre Haar zu streicheln. Er wusste nicht, was los war, doch die Intensität mit welcher Hye-jin sich an ihn klammerte, ließ ihn wissen, dass etwas passiert war und dass er ihn jetzt weder loslassen, noch allein lassen konnte.
 

„Komm. Du musst aus dem Regen raus.“
 

„Ich … ich … kann nicht … ich kann nicht mehr …“
 

„Hye-jin. Komm. Du erkältest dich.“
 

„Er ist .. er ist weg. U—und .. und ich b-b-bin … Ma..mama ist …“
 

„Erzähls mir drin. Es ist nicht weit. Jetzt komm schon, Hye-jin, du machst mir Angst.“
 

Ruckartig schaute Hye-jin auf und in die strengen dunklen Augen. Er wollte ihm keine Angst machen, wo er doch selbst kaum vor Angst atmen konnte.
 

„Kann..kann..kann ich bei dir bleiben?“
 

Yuno lächelte zart mit Lippen, die nicht oft Zuneigung zeigten, und fing das Gesicht des Freundes mit großen warmen Händen ein.
 

„Nur, wenn du den Abwasch machst. Und jetzt komm endlich, verfluchter Mistkerl.“
 

¬¬¬

Besorgt beobachtete Yuno seinen schlafenden Freund.

Er hatte ihm Kleidung von sich gegeben, in denen er beinahe versank. Hye-jin war wesentlich schmaler und kleiner als er selbst, musste er auf den letzten Wachstumsschub doch noch warten … oder er würde eben klein bleiben, Yuno war es egal.

Nachdem sie bei ihm zu Hause angekommen waren, hatte er Ramen gemacht und Hye-jin ein Bad eingelassen, damit er sich aufwärmen konnte. Eingepackt in einen flauschigen Bademantel und mit einem selbstvergessenen Lächeln auf den Lippen, hatte er beinahe wie immer gewirkt, als sie am Esstisch gesessen und er gescherzt hatte, als hätte Yuno ihn nicht gerade heulend auf der Straße aufgesammelt. Nun, fairerweise musste man sagen, dass es nicht das erste Mal war, dass er Hye-jin hatte heulen sehen wie ein Kleinkind. Sein Freund war eben recht sensibel und neigte dazu, schnell in Tränen auszubrechen, wenn er glaubte, er sei ungerecht behandelt worden.

Aber heute fühlte es sich anders an. Ich kann nicht mehr. Yuno runzelte die Stirn und ertappte sich selbst dabei, wie er Angst hatte. Er hatte nicht nur einfach so gesagt, dass Hye-jin ihm angst machte … es war tatsächlich so gewesen, wie er nun feststellte und mit hartem Schlucken versuchte er, die lästigen und unbekannten Emotionen so gut es ging in Schach zu halten. Vorsichtig streckte er die Hand nach der Stirn des Freundes aus, doch sie war normal temperiert und erleichtert atmete er durch, auch wenn er wusste, dass seine Angst nicht daher rührte, dass Hye-jin sich erkälten könnte.

Es war die Art und Weise, wie er ihn gefunden hatte … die wenigen Worte … Er ist weg. Und die Erwähnung der Mutter … all das machte ihm sorgen; so große Sorgen, dass er nicht verhindern konnte, dass sein Herz polterte.

„Was ist nur schon wieder bei dir los, hm?“, brummte er missmutig und strich die dunklen Haare aus der Stirn seines Freundes, der sich im Schlaf instinktiv der Geste entgegen lehnte. Yuno schnalzte mit der Zunge, doch noch ehe er hätte aufstehen und weggehen können, schlang Hye-jin die Arme um seine Taille und versteckte sein Gesicht an seinem Bauch.

„Hör auf, du verfluchter Klammeraffe. Lass los.“

Yuno war diese Körperlichkeit unangenehm – sie waren beide sechzehn und während Hye-jin scheinbar noch nicht so viel mit der Pubertät zu kämpfen hatte, war sie bei Yuno in voller Blühte und Körperkontakt war mehr als ungewünscht. Er fühlte sich meistens beschissen im eigenen Körper, unwohl bei Komplimenten und unangenehm, wenn man ihn berührte.

„Ich kann nicht. Umarm mich.“

„Du verfluchter…“

„Yuyu-ah, bitte … Nur heute. Versprochen.“

Yuno seufzte und begann, die Schulter seines Freundes zu tätscheln. Mühsam kämpfe Hye-jin sich vom Sofa hoch, zog am Oberteil Yunos – „hei!“ – sodass dieser sich zurücklehnen musste um nicht vornüberzukippen und irgendwie schaffte Hye-jin es, sich umständlich in Yunos Arme zu schleichen. Mit einer Mischung aus mürrischem Unbehagen und hilfloser Zuneigung verschränkte Yuno die Hände im Rücken seines Freundes und knurrte ein ungehaltenes „nur heute!“ in das Ohr Hye-jins, der mit einem erstickten Giggeln das Gesicht noch ein wenig tiefer in der fremden Halsbeuge versteckte. „Jah. Nur heute“, versprach ihm Hye-jin leise und griff unbeholfen in den Nacken des besten Freundes, um diesen noch näher an sich zu ziehen. Es war Yuno ein Rätsel warm er Hye-jin immer seinen Willen ließ … aber vielleicht war es das Wissen, dass er es nicht leicht hatte und diese Art der Zuneigung … diese Nähe … von seiner Familie nie bekommen hatte, sie aber doch so sehr zu brauchen schien. Was interessiert es mich?!, fluchte Yuno innerlich, aber entgegengesetzt dazu, fiel er zurück und zog die Decke über sie beide. Hye-jin bettete seinen Kopf auf der Brust des besten Freundes, schlang einen Arm um dessen Hüfte und legte ein Bein über Yunos – „Hye-jin, das reicht, das ist zu nah“ – „ne, noch lange nicht nahe genug!“ – schob das Bein weiter und Yuno spürte, wie ihm die Nähe des Freundes zusetzte. Spürte, dass die Wärme eines Körpers neben ihm gewisse Auswirkungen hatte. Spürte, dass seine Hormone verrücktspielten – aber das Wissen, dass es Hye-jin war, ersparte ihm zum Glück eine Peinlichkeit. Mit einem genervten Seufzer breitete er einen Arm aus und ließ zu, dass Hye-jin seinen Kopf darauf platzierte, statt auf seiner Brust, war aber nicht darauf vorbereitet, dass dieser verfluchte flirty Bastard seine Hand direkt auf sein Herz legen würde.

In anderen Momenten hätte Hye-jin sicherlich gescherzt – mit dieser ekligen Attitüde, die man ihm nicht mal wirklich übelnehmen konnte – doch heute war er ungewöhnlich still, als er den Herzschlag des besten Freundes unruhig gegen die eigene Handfläche pochen fühlte.

„…Danke…“, murmelte Hye-jin leise und frustriert brummte Yuno. Am liebsten hätte er ihn vom Sofa und aus der Wohnung getreten, aber stattdessen legte er eine Hand auf den Hinterkopf Hye-jins.

„Halt jetzt die Klappe und schlaf. Wir reden morgen.“

Hye-jin summte etwas, das Yuno nicht verstand, das aber verdächtig nach „ich liebe dich“ klang und D A S konnte er sich nun wirklich sparen.
 

Mitten in der Nacht wachte Yuno von leisem Wimmern auf.

Verschlafen tastete er neben sich – „Hye-jin?“ – und stellte fest, dass sein Freund nicht mehr neben ihm lag. Was Erleichterung im ersten Moment auslöste, Verwirrung im Folgenden und schließlich – nach einem weiteren Wimmern – schreckte Yuno auf.

„Hye-jin?!“

Er schaute sich um und erkannte die zusammengesunkene Gestalt des besten Freundes in der Nähe des Fensters. Die Vorhänge ließen nur wenig Mondlicht hinein und Yuno seufzte genervt – „was ist denn jetzt schon wieder mit dir?“ – ehe er sich unter der Decke hervorkämpfte und zu Hye-jin rüber schlurfte.

„Geh wieder schlafen, Idiot.“

„Ich kann nicht schlafen.“

Die Brüchigkeit von Hye-jins Stimme alarmierte Yuno und sofort ging er vor ihm in die Hocke. „Was ist los?“

„Ich … ich … ich habe Angst. A—angst im .. Dun..Dunkeln. Und .. und .. es ist einfach alles zu viel, Yuno. Tut..tut mir leid. Ich will gar nicht … ich will nicht ...“

Die von gestern bekannte Angst griff kalt nach Yuno und langsam streckte er die Hand nach dem so zerbrechlich wirkenden Freund aus. Vorsichtig berührte er Hye-jins Schulter und schrak zurück, als dieser sich ohne Rücksicht auf Verluste gegen seine Brust warf. Yuno war überfordert mit der Situation – überfordert mit den Emotionen des Freundes – und gnadenlos verwirrt davon, was genau eigentlich los war. „Jinnie… Was ist los? Red mit mir.“ Sanft schloss er die Arme um ihn und wog ihn in seiner Umarmung, versuchte im zu verstehen zu geben, dass er nicht allein war, wusste aber nicht, ob das reichte.

„Mama … Mama hat So-hwa gesagt, er soll verschwinden.“

Kälte griff nach Yuno und er hielt im über den Rücken streicheln inne, ein leises „was?“ ausrufend. Er wollte Hye-jin anschauen, doch der hielt stur die Stirn gegen seine Brust gedrückt und so starrte er auf das bisschen Nachthimmel, das zwischen den Vorhängen zu erkennen war.

„Er—er geht eh in die USA. Wird ne große Nummer dort, keine Frage. Aber .. aber Mama .. sie .. sie hat ihn vor die Tür gesetzt. Sie hat gesagt, er muss gar nicht glauben, dass er wiederkommen kann, wenn er versagt. Sie geht so, SO fest davon aus, dass er es nicht schafft.“ Hye-jins Stimme zitterte.

„Ich hasse sie.“

„Hye-jin…“

„Nein. Wirklich. Ich hasse sie. Hwa wird alles schaffen, was er sich in den Kopf setzt. Hast du ihn schon mal fliegen sehen?!“

Urplötzlich zuckte Hye-jins Kopf hoch und die großen Augen funkelten in der Dunkelheit. „Er ist großartig. Keine Chance, dass er versagt. Niemals. Es gibt niemanden, der besser ist als er. Niemanden. Und sie … statt dass sie ihn unterstützt … wo soll er das Geld zum Leben hernehmen? Sie ist seine Mutter, verdammt!“

Yuno wusste nicht, was er dazu sagen sollte, auch wenn er genauso gerechtfertigte Wut wie sein Freund verspürte. Es war nicht so, dass er ein enges Verhältnis zu dessen Zwillingsbruder hatte, doch wenn man sich mit Hye-jin abgab, gab man sich auch mit So-hwa ab; und andersherum. Und daher war es Ehrensache, dass er empört, nein, WÜTEND darüber war, wie die Mutter der Zwillinge mit dem Traum des Sportlers umging.

Aber darum ging es Yuno gar nicht wirklich.

„Er geht also tatsächlich?“, horchte er leise nach und Hye-jin drehte sich in seinen Armen, lehnte den Hinterkopf gegen seine Schulter und schmuggelte sich ohne auch nur darüber nachzudenken, was er da tat, zwischen Yunos Beine. Er zupfte an seinen Handgelenken und verschränkte Yunos Hände über seinem Bauch, den Blick nun auch aus dem Fenster gerichtet.

„Jah.“

Stille fing sie beide ein und blieb wie eine langjährige Freundin, wohltuend umhüllte sie sie und nur das langsame Hellwerden des Himmels bedeutete ihnen, dass die Zeit verstrich.

„Ich werde die Schule abbrechen, Yuno.“

„Häh?“

„Mhm. UI Entertainment hat mir einen Vertrag angeboten und … wenn Hwa seinem Traum nachjagt … ich kann so nicht weitermachen. Ich kann nicht mehr tun, was sie will. Ich bin das nicht.“

Yuno schwieg, doch als er spürte, wie Hye-jin sich unter ihm verkrampfte – wahrscheinlich glaubte er, er wäre nicht auf seiner Seite oder verurteilte ihn – zog er den Kleineren enger an sich und legte mit einem Schnaufen das Kinn auf seinem Kopf ab.

„Brauchst du n Platz zum Schlafen, bis du bei der Agentur einziehen kannst?“

Er hörte ein ersticktes Schluchzen und spürte, wie Hye-jin nickte – spürte das Vibrieren seines Brustkorbs, als er das Weinen unterdrückte – und schließlich hörte er das breite Lächeln aus seiner Antwort heraus.

„Kann ich bei dir bleiben?“

„Trottel, sonst hätte ich nicht gefragt.“

Wieder schwiegen sie, als der Himmel sich von graublau in milchiges Gelb verwandelte und die Sonne erste einzelne Strahlen durch die Wolkendecke schickte.

„Aber wehe, du kommst nachts kuscheln. Dann landest du auf der Straße.“

„Yuno-aaaaah.“

„Nope. Keine Diskussion. Heute ist eine Ausnahme, wie du es versprochen hast.“

„… Ok.“

„… Hast du denn keinen Schiss im Dunkeln? Hast du doch vorhin gesagt?“

„Na. Jetzt nicht mehr. Jetzt weiß ich, dass du im Dunkeln bist.“ Hye-jin drehte sich in den Armen seines Freundes um und grinste ihn breit an und Yuno ertappte sein verfluchtes Herz dabei, wie es kurz stolperte. „Ich hatte immer Angst vor dem Sonnenaufgang und vor der Dunkelheit, aber jetzt muss ich das nicht mehr haben. Ich nenne dich ab jetzt Aurora!“

„Shut up, was soll das?!”

„Wie die Prinzessin!”, lachte Hye-jin und quietschte erschrocken, als er den sachten Schlägen des Freundes ausweichen und aus dessen Umarmung flüchten musste.

„Meine Prinzessin!“, lachte er weiter und umständlich warf er sich auf Yuno, presste ihm die Lippen auf die Wange und grinste breit, als er die Verlegenheit des Freundes spürte. Sofort nutzte er die Gelegenheit und schlang die Arme um den am Boden Liegenden, schmiegte seine Wange gegen seinen Brustkorb und genoss das polternde Herz in dessen Brust.

„Danke, Yuyu. Wirklich. Das vergesse ich dir nie.“

Yuno grummelte etwas Unverständliches, gab aber auf und umarmte Hye-jin.

„Schon gut.“

„… Aurora, die Prinzessin.“

„… Wenn du nicht aufpasst, mache ich gleich ne Prinzessin aus dir.“

Sun-myung I - Der Brief

Meine große Liebe habe ich nicht zuerst in der Schule, bei der Arbeit oder auf dem Besen gesehen, wie man vielleicht anhand unserer Lebenswege vermuten würde. Er ist mir auch nicht in den Medien aufgefallen oder auf der Straße, bei einer Feier oder beim Ausgehen mit Freunden. Nein, die Verbindung, die ich zu diesem Mann verspüre, geht wesentlich tiefer – und ist schon wesentlich länger vorhanden, als mir bis vor kurzem bewusst war. Und das, obwohl er nicht einmal weiß, wer ich bin.

Wozu ich dir das alles schreibe? Ah – manches Mal werde ich ein wenig sentimental und muss mich dir dann einfach mitteilen. Das kennst du bereits von mir. Und bei einem der Quidditchtrainerscheinkurse sollten wir über das Schlüsselerlebnis schreiben, weshalb wir uns dazu entschieden haben, den Quidditchspielern auf jede nur erdenkliche Art zur Seite zu stehen. Und auch wenn ich dir nun liebend gerne zugestehen würde, dass du der Grund bist – und sicherlich bist du auch ein großer Teil meiner Leidenschaft für den Besensport – so wäre das eine glatte Lüge. Du bist mitverantwortlich dafür, dass ich mich für euch engagieren will und euch zum Erfolg verhelfen will, ja. Aber das Schlüsselerlebnis ist er. Schon immer gewesen. Und je länger ich versuche, mich von ihm freizusprechen und mich davon zu überzeugen, dass ich über ihn hinweg bin … dass er nur eine Schwärmerei war und ist … desto mehr belüge ich mich selbst.

Also ist dieser Bericht vielleicht auch eine Art Beichte, die du mir gerne vorhalten kannst, wann immer ich aufgeben will. Du weißt, dass ich deine Unterstützung brauchen werde, irgendwann einmal. So, wie ich sie immer brauche.
 

Als mein Schlüsselerlebnis sich langsam zu eben jenem formte, war ich acht Jahre alt. Wir waren mit unseren Müttern im Park und Hana wich dir nicht von der Seite – sie war schon mit vier vollkommen in dich verschossen und ich erinnere mich genau daran, wie genervt ich davon war, dass sie deine Aufmerksamkeit vollkommen für sich hatte. Eun-ji wollte bereits zu den Großen gehören und pellte lieber mit unseren Müttern die Orangen, als sich mit mir zu beschäftigen, also stromerte ich allein durch den Park. Immer in Sichtweite, natürlich, vor allem weil mir dein Rufen noch heute in den Ohren klingelt. Die Art und Weise wie du mich rufst, hat sich all die Jahre nicht geändert und wo ich heute träumerisch lächele, war ich damals einfach nur frustriert und genervt. Daher ignorierte ich in Rufen und erkundete den Park allein.

Ich traf einige Kinder in unserem Alter und spielte eine Weile mit ihnen; ich glaube, irgendeine kreative Art des Fußballs, und da hörte ich ekstatisches Rufen.

Wie gebannt schaute ich zwei Jungen zu, die ein wenig größer als ich waren und wie ein Ei dem anderen glichen. In meinem Jahrgang gab es keine Zwillinge und auch in unserem Umfeld nicht, sodass ich für einen kurzen Moment glaubte, doppelt zu sehen.

Doch die Art und Weise wie sie beide dem Ball hinterherrannten war vollkommen anders; sie fesselte mich sofort.

Einer von ihnen hatte einen Verband um den linken Arm und rannte dennoch selbstvergessen dem Ball hinterher, während der andere ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen versuchte. Aber das brauchte er gar nicht. Es war wie jene Art der Magie, die uns seit klein auf begleitet, als der Softball zielgerichtet in den Unterleib des Jungen mit dem Verband rollte und ein Schrei voller Agonie folgte, der lautes Gelächter bei seinem Doppelgänger auslöste. Ich wollte sofort helfen, doch irgendwie war zwischen ihnen und mir eine unsichtbare Barriere. Sie waren derart in ihrer eigenen Welt gefangen, dass sie niemanden um sich herum wahrzunehmen schienen – auch andere Kinder in dem Park beobachteten sie, doch ähnlich wie ich trauten sie sich nicht näher. Der Verbandsträger und sein Doppelgänger hatten etwas an sich, das alle um sie herum erstarren ließ – und obwohl es sicherlich eine schmerzhafte Situation gewesen war, erwischte ich mich dabei, wie ich breit lächelte und mir insgeheim wünschte, mit den beiden befreundet zu sein.
 

Lange Jahre hatte ich vergessen, dass ich ihn da das erste Mal gesehen habe und wirklich bewusst wurde mir das auch erst vor kurzem – dass Kangjeon So-hwa derjenige gewesen war, der durch den Park getollt war, ohne Rücksicht auf Verluste und ohne auf seinen schon verletzten Arm achtzugeben … und vermutlich ging mir das Licht auch nur auf, da sein Verhältnis zu Bällen sich nie änderte. Fernab von Klatschern schien er verflucht und die Bälle suchten sich stets ihren Weg in für uns Männer durchaus schmerzhafte Bereiche.

Natürlich wusste ich mit acht auch noch nicht, dass ich von ihm auf eine ganz andere Art verzaubert worden war. Ich hatte ihn einfach nur cool gefunden. Hatte mir gewünscht, mit ihm befreundet zu sein. Erst heute weiß ich, dass es die ersten Anzeichen gewesen waren – die ersten Anzeichen dafür, dass ich nicht zwingend auf das Geschlecht achte, sondern dass die Ausstrahlung eines Menschen mich einfängt. Dass ein Lächeln mein Herz schmelzen lässt. Und dass ein heimliches Funkeln, ein Geheimnis in dunklen Augen für mich der magischste Zauber von allen ist.

Und vielleicht auch, dass ich ein Fable dafür habe, wenn der erste Eindruck so gar nicht zu dem passen mag, wie der Mensch schlussendlich ist.
 

Du erinnerst dich vielleicht noch an In Maya, die in unseren gemeinsamen ersten Sommerferien zu Besuch gekommen war. Ich erinnere mich jedenfalls sehr gut daran, wie du sie mit Blicken zu erdolchen versucht hast und ich habe damals nicht wirklich verstanden, wieso. Maya war so ein nettes und liebes Mädchen und sie war wohl meine erste Freundin, wenn man das so nennen konnte. Wir haben Händchen gehalten und Kleeblätter gesucht und sicherlich warst du enttäuscht, weil ich die Kleeblätter nicht mit dir gesucht habe. Heute weiß ich das – damals war ich zehn, also bitte verzeih mir. Dass sie nach einer Woche auch wieder ging beendete unsere kurze Beziehung und heute frage ich mich hin und wieder, was In Maya wohl heute tut. Ob es ihr gut geht und ob sie ihren Traum gefunden hat.
 

Meinen ersten richtigen Kuss habe ich wohl mit dreizehn bekommen – wenn man Wangen- und Handküsse nicht mitzählen will, was ich nicht tue – und vielleicht schockiert es dich, wenn ich dir erzähle, dass es tatsächlich ein Mitschüler von So-hwa war.

Es war seine Geburtstagsfeier und er hatte viele aus den jüngeren Jahrgängen eingeladen. Ich weiß nicht mehr genau, wie es überhaupt dazu kam, dass ich schlussendlich mit bei dem Spiel gemacht habe, aber vermutlich wollte ich einfach dazugehören. Und eine seiner Cousinen … oder Freundinnen? … jedenfalls hat sie ihn dazu gedrängt, mich zu küssen. Was auch immer sie davon hatte und ob es nur als Scherz gemeint gewesen ist weiß ich bis heute nicht und es ist auch egal, wenn ich zurückblicke. Denn immerhin hat mir der Kuss bewusst gemacht, dass ich auch Männer küssen wollte und dass das Geschlecht für mich keine Rolle spielte. Es war ein harmloser Kuss, eine harmlose Nacht und dennoch habe ich von einem Park in der Kindheit und von deinen Rufen geträumt. Komisch, oder, was das Gedächtnis manches Mal aus Erinnerungen macht?
 

Ich sah So-hwa erst wieder, als er schon auf dem Sprung nach Amerika war. Er war in unserer Schule eine große Nummer – jeder kannte ihn. Sein Name perlte von allen Lippen, jeder in meinem Jahrgang fand ihn entweder zum Kotzen – aus Eifersucht – oder aber Umwerfend – aus all den offensichtlichen Gründen. Du weißt, zu welcher Kategorie ich gehörte, auch wenn ich zu peinlich berührt von meinem eigenen Verhalten war, um es wirklich öffentlich zu machen.

Aber ich weiß noch wie sehr mein Herz gezogen hat als klar war, dass er in Amerika weiter zur Schule gehen würde. Und ich weiß noch, wie sehr ich dir damit in den Ohren lag, dass wir in die USA müssen. Dass die Möglichkeiten da grenzenlos seien und wie ich extra einige Kurse in unserer Schule gewechselt hatte, um mehr über die große Nation auf der anderen Seite der Welt zu erfahren. Ich war rettungslos in diesen Jungen verliebt und würde ihn verlieren, dessen war ich mir absolut sicher. Es gab keine Möglichkeit, dass unsere Eltern genug Geld oder aber genügend Verständnis für ein Auslandssemester würden aufbringen können und niemals hätte ich ohne dich gehen können.

Also versuchte ich ihn zu vergessen. Und mit jedem Monat gelang es mir ein bisschen besser. Ich ließ mich auf andere Menschen ein, wenn die Zeit zwischen den Kursen es zuließ, und lernte dazu. Mein Herz wurde gebrochen – ich erfuhr, dass Menschen nicht immer das waren, was sie vorgaben zu sein und wurde nach Strich und Faden verarscht. Ah, als ich zu studieren begann, musste ich das auf die harte Tour lernen und du warst immer da – ob im Feuer, per Pergament oder am Telefon – um mich wieder aufzubauen. Was ich ohne dich getan hätte, weiß ich nicht.
 

Obwohl ich ihn vergessen wollte, saugte ich jede Information, jedes Interview, jedes Detail aus den USA über ihn auf. Erinnerst du dich an die Magazin-Sammlung, die meine Mutter entdeckte und glaubte, dass ich lieber Quidditch spielen statt tanzen wollte? Ah. Danke, dass du ihr nicht gesagt hast, dass ich all das Taschengeld für IHN ausgegeben habe, nicht für meinen Traum. Naja … obwohl er schon irgendwie zu meinem Traum geworden ist, nicht wahr?

Wann immer er kurz davor gewesen war zu einer Randnotiz in meinem Herzen oder meinen Gedanken zu werden, drängte er sich penetrant auf.

Entweder sein plötzlich berühmt werdender Zwillingsbruder hatte Premiere und er tauchte dort auf, schillernd und großgewachsen und verdammt-noch-einmal-viel-schöner-als-noch-zuvor …

… oder er machte Schlagzeilen, da er sich für die Belange von Schwächeren einsetzte und dafür sowohl von der Presse zerrissen wie auch gefeiert wurde. In Korea verfolgte man seinen Aufstieg und schließlich auch seinen Fall mit großem Interesse und ich hörte Leute um mich herum über ihn reden, als würden sie ihn kennen und wann immer sein Name fiel, konnte ich nicht anders, als ihn zu verteidigen. Er kämpfte da draußen in einem fremden Land ganz allein für unsere Nation – für das Bild der Koreaner – für eine bessere Repräsentation … aber viel wichtiger: er kämpfte für seinen Traum und dafür, sich selbst im Ruhm nicht zu verlieren.

Mein Herz war übervoll an Zuneigung zu ihm … und ich verzehrte mich so sehr nach ihm … du weißt, wie sehr ich bereit war, alles aufzugeben und ihm nachzureisen und dich zu verletzen. Ich bin froh, dass ich es nicht getan habe – du bist mir das Wichtigste auf der Welt, Chae, und selbst So-hwa kann sich damit nicht messen.

Nun.

An deinen guten Tagen zumindest nicht.
 

Und jetzt? Jetzt ist er zurück in der koreanischen Liga. An unserer Universität. Ich werde für ihn tanzen – jubeln – schreien. An der Seitenlinie mein Bestes geben, damit er zu neuen Höhen aufsteigen kann. Ob ich jemals meine Augen von ihm nehmen kann, wenn ihr gemeinsam fliegt? Ich hoffe, ich werde auch dir ordentlich Energie geben können und sie nicht komplett ihm schenken. Und vielleicht – nun, vielleicht werde ich irgendwann auch den Mut finden, um ihm zu gestehen, wie tiefgehend meine Schwärmerei für ihn ist. Dass sie schon lange viel mehr als das ist. Dass ich kein verliebter Teenager mehr bin – dass ich weiß, wie abwegig das alles für ihn klingen muss – und dass ich mich unendlich dumm dabei fühle, dermaßen verliebt zu sein, wo ich ihn doch überhaupt nicht kenne.

Aber ich kann mir in Bezug auf Kangjeon So-hwa einfach nicht helfen. Jeder rationale Gedanke versagt und selbst wenn ich nicht den Mut aufbringe ihm sofort zu sagen, was alles in meinem Herzen für ihn verborgen ist …

… so würde ich wirklich gerne einen Kaffee mit ihm trinken gehen und ihn kennenlernen. Ja. Meinst du, das kriegen wir beide hin, Chae? Dass ich ihn irgendwann einmal zum Kaffee einlade?

Noori III - Der Urlaub

Wie oft hatte er solche Momente schon auf der Leinwand oder im hauseigenen Cinéma gesehen? Und wie sehr hatte er sich immer fremdgeschämt, wenn der Junge, kaum älter als er selbst, sich zum Mädchen heruntergebeugt und ihm Plattitüden wie du bist so schön entgegen gesäuselt hatte. Und wie sehr hatte er sich innerlich vor die Stirn dafür geschlagen, dass das Mädchen errötete und sich über einen derart simplen Kommentar zu freuen schien.

Und doch … schien nichts anderes jetzt zu passieren.

Nicht auf einer Leinwand. Nicht in einem Drehbuch mit vielen Kameras. Auch nicht zwischen einem fremden Jungen und einem fremden Mädchen. Überhaupt nicht zwischen einem Jungen und einem Mädchen.

Frischer Tau in dunklen Augen blitzte ihm lebendig entgegen, als Koya sich zu ihm drehte; die dunkle Schürze wies Spuren von Mehl und Zucker auf und ein wenig davon hatte sich auch in den Haaren des Japaners verfangen. Im umbrabraunen Haar hatte sich sogar eine Flocke des Dekozuckers verfangen und zwinkerte ihm schelmisch hellblau zu. Noori war für einen kurzen Moment derart verzaubert, dass er kaum zu atmen wagte. Der spitz zulaufende Eckzahn zwischen ansonsten perfekten weißen Zähnen trennten die Lippen Koyas, als sie auf der Unterlippe zu knabbern anfingen. „Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“ Koyas Stimme verlor sich beinahe in der lauten Musik und dem geselligen Treiben der Familienküche. Nooris Herzschlag rauschte in den eigenen Ohren laut wieder und vielleicht begünstigte das den Irrsinn der Situation nur noch.

„Ich bin lächerlich.“

Koya lachte verhalten – „ein bisschen vielleicht“ – und bezog diese Worte offensichtlich auf Nooris Versuch, Kekse auszustechen. Liebevolle Finger griffen nach seinen – ihre Hände schmiegten sich ineinander, versteckt hinter der Theke und Nooris Herz setzte aus. Seine Lider flatterten. Mehl und Butter klebten noch vereinzelt an den geschäftigen Fingern des Japaners, bröselten sachte gegen die eigene Haut und als Koya das bemerkte, musste er abermals lachen und wollte seine Hand zurückziehen.

„Nicht.“

Beinahe erschrocken über die Intensität des kleinen Wortes blinzelte Koya zu Noori auf und wieder teilten sich die Lippen und wieder war Noori gefangen.

Sollte er es wirklich sagen? Er schämte sich. Es kostete ihn Überwindung, weil es ihm so viel vorkam – zu viel – weil es ihm unangenehm war, derart aus den Vollen zu schöpfen – und weil es gleichzeitig so offensichtlich war. Koya war schön. Er war niedlich. Und er war clever, einfühlsam, umsichtig und so, so anziehend. Das wusste er doch, oder? Musste Noori ihm das wirklich sagen? Sein Herzschlag wummerte. Der innerliche Drang endlich Worte für dieses wahnwitzige Hämmern zu finden wurde immer stärker. Er öffnete den Mund – schloss ihn wieder – lächelte befangen und strich mit dem Daumen über den Handrücken Koyas.

„Schon okay.“

Koya blinzelte irritiert, wollte sicherlich nachfragen ob wirklich alles okay war, doch ehe er das verbalisieren konnte – falls er das denn wirklich wollte – lächelte Noori ein weiteres Mal zuversichtlich, ehe er seine Hand losließ.

Das blauweiße Zuckersternchen im Haar des Japaners schien ihn auszulachen und er unterdrückte ein frustriertes Brummen. Er hätte etwas sagen sollen. Und wenn es nur dieses lächerliche „du bist so schön“ gewesen wäre…! Und wenn Koya das schon wusste und er nur Tatsachen bestärkte, na und?! Sollte sein eigenes Schamgefühl über dem Wertschätzen ihrer Beziehung stehen?!
 

Opa Kyun-hee kam geeilt, in seinen schlappenden Schlappen und mit dem gutmütigen Lächeln, und tätschelte zuerst Noori die Wange, um seine Keks-Versuche zu bemitleiden, ehe er fröhlich Koyas hervorragenden Knetkünste lobte.

Nooris Mund wurde trocken und er spürte, wie die Scham ihm auf den Wangen brannte. Koyas Hände konnten gut zupacken und bei allen Göttern, warum musste er jetzt ausgerechnet an letzte Nacht denken?

Unbeholfen und mit seinen schmutzigen Gedanken allein, schob Noori sich ein wenig abseits des familiären Treibens, als auch A-ri und dessen Mutter zu ihnen stießen und es plötzlich sehr voll in der Küche wurde. Irritiert über seine Gefühlsumschwünge beobachtete Noori, wie Koya verlegen unter dem Lob des Opas wurde und wie er kurz einen Blick mit A-ri tauschte …

… der Noori so gar nicht gefiel. Es überraschte ihn selbst wie stechend die Eifersucht durch ihn zuckte. Vielleicht, weil die beiden ein Geheimnis hatten. Vielleicht, weil sie sich trotz der wenigen Tage Kontakt bereits so gut verstanden. Vielleicht aber auch einfach nur, weil er gerade noch daran gedacht hatte, wie Koya ihn letzte Nacht … … Oh, nicht daran denken … … besonders nicht, weil A-ris Hand plötzlich auf der Schulter des Japaners landete und ein breites Lächeln auf dem, selbst Noori musste das zugeben, hübschen Gesicht sich ausbreitete.

„Finger.weg.“, skandierte sein Kopf, aber er sprach es nicht aus. Stattdessen rutschte er an Koyas Seite und es war unbedacht und kindisch und unreif, aber er musste das jetzt tun. Sein Arm schlang sich um Koyas schlanke Taille. Die langen Finger platzierten sich besitzergreifend nur wenig oberhalb des Hüftknochens und dunkle Augen kamen in A-ris zum Liegen. Er schaute wortwörtlich auf ihn herab – kein Lächeln, kein Funkeln, keine Höflichkeit.

A-ris Gesicht wurde kühl und er nickte knapp, schaute zur Hand, dann zu Noori herauf und Noori hätte schwören können, dass er begann die Augen zu verdrehen, aber er wandte sich um und rief nach seinem Opa, um die nächste Ladung Keksteig anzufordern.

„Noori…?“

Das Flüstern neben ihm riss ihn aus seinem inneren Kampf und Noori atmete durch. Ah. Er hatte die Luft angehalten?

„Du … hast mich umarmt. Hier. Vor der Familie.“

Verlegen lockerten sich lange Finger und beinahe scheu schaute Noori zum Japaner herab, ein zögerliches Lächeln auf den Lippen und ein „mhm“ zur Bestätigung ausstoßend. Belustigung funkelte ihm entgegen und Koya öffnete die Lippen, aber Noori beeilte sich mit eigenen Worten.

Er wollte nicht die Plattitüde hören, ob er eifersüchtig gewesen sei oder ob das bedeutete, er dürfe ihn jetzt öffentlich küssen – abermals empfand er das eigene Gedankengut und die eigene Gefühlswelt als seltsam peinlich, entrückt von der Realität, unpassend zum Ereignis um sie herum.

„Hat ja nur A-ri gesehen.“

Koyas Lippen schlossen sich nur langsam und Noori konnte die Zahnräder beinahe quietschen hören, wie sie auf Hochtouren alle möglichen Gesprächsrichtungen abzuwägen versuchten … aber schlussendlich tanzten geschickte Finger in die Hosentasche Nooris und zwickten dort empfindliches Fleisch. Ein keckes Lächeln auf lockenden Lippen – taufrische Augen funkelten herausfordernd – und dann musste Koya Lachen, lauter als zuvor, aber geboren aus der gleichen Scham, die Noori gefangen hielt.

„Koya…“

„Schon okay. Ich weiß ja auch, dass es komisch ist, dass wir hier Kekse backen“, murmelte Koya und zog seine Hand und sich selbst von ihm zurück und endlich fiel der blauweiße Zuckerstern aus seinen Haaren – aber der Zauber des Japaners endete nicht. Er … fand all das also genauso komisch? Verstand Noori das richtig? Unsicher fuhr er sich in den Nacken, verteilte Mehl- und Butterreste auch dort und brummte abermals nur eine halb verbale Zustimmung. Ah. Was halfen einem die ganzen Kommunikationskurse, wenn sie einen auf so etwas nicht vorbereiteten? Darauf, die wahren Gefühle zu präsentieren, einfach auf dem Gefühl zu reiten wie auf einem Besen und sich wie beim Quidditchspiel nichts daraus zu machen, wer genau zuschaute und wer vor einem diesen Move schon einmal präsentiert hatte.

Zählte nicht einfach nur, dass seine Worte – nein, seine Gefühle – bei Koya ankamen?

Noori fühlte sich dämlich – verlegen – peinlich berührt.

Doch die sanfte Rötung auf den Wangen Koyas verriet ihm, dass es ihm ähnlich gehen musste.

Noori schaute sich verstohlen um. Sie waren allein und aus dem Esszimmer nebenan hörte er dumpfe Stimmen. Keine offensichtliche Nähe – zu gefährlich – aber Noori lehnte sich zu Koya herab, seine Lippen nahe am empfindlichen Ohr und flüsterte mit flammenden Wangen und sacht schwankender Stimme: „Ich will dir seit Stunden sagen, dass du unheimlich hübsch aussiehst, aber ich traue mich einfach nicht.“ Kurze Stille. Wahnsinniges Herzrasen. Das Trommeln des eigenen Pulses im Ohr. Ein Gefühl, als stürze er Meter um Meter in die Tiefe; überschlagener Magen. „Und dass ich dich, mit Mehl und Zucker und Teig bekleckert, noch viel mehr liebe.“ Plattitüden. Scham. Verlegenheit. Filmmusik sollte jetzt einsetzen – and they lived happily ever after – von irgendwoher wurden Blumen gestreut – lächerliches Gelächter von Eltern, Geschwistern, Freunden – Applaus, Applaus. Und die Kameras gingen aus.

Aber natürlich blieb all das aus.

Stattdessen hörte er nur ein verlegenes Räuspern knapp neben sich – Stille, weiterhin – keiner wagte es sich zu rühren, in der Wärme des jeweils anderen gefangen. Der Blick auf die Esszimmertür bedeutete Anspannung wie Countdown: wenn jemand reinkam … sofortiger Rückzug. Doch diese Gnade wurde ihm nicht zuteil – stattdessen das Aushalten der Verlegenheit, der Stille, der Peinlichkeit der eigenen Gefühle.

Ein Schlucken. So laut, dass Noori es deutlich hörte und sich bildlich vorstellen konnte, wie Koyas Adamsapfel sich dabei bewegt hatte. Koya unterdrückte schnaubend ein Lachen aufgrund der eigenen lauten Geräusche und Noori tat es ihm gleich, biss sich auf die Unterlippe, fühlte sich aber noch immer fehl am Platze. Seltsam gefangen im Rausch der Peinlichkeit.

„Ah.“

Endlich beinahe so etwas wie ein Wort und Nooris Schultern lockerten sich – Atmen, das war lebensnotwendig – also entfernte sich etwas, blickte herab in glitzernden Tau und wurde mitgerissen vom Sog an Emotionen. Da funkelte noch etwas anderes in dunklen Augen und unbeholfen, vielleicht auch unsicher fingerte Koya an seinem Kragen herum – wie in Zeitlupe beobachtete Noori wie die Hand auf ihn zuflog, wie sich sanfte Fingerkuppen an seinen Ausschnitt legten und weich über die zaghaft entblößte Haut fuhren. Anspannung – Gänsehaut – von Peinlichkeit keine Spur mehr – Hände, die zupacken konnten – und schließlich ein warmes Lächeln. Verlegenheit?

„Und ich dachte, dass es nur mir so geht, dass ich nicht so recht die Worte finde…“, fing Koya an und wusste den Satz scheinbar nicht wirklich zu beenden, doch Noori verstand auch so sofort und mit großen Augen starrte er herab in den Morgentau, herab auf die Mehlspur auf der Wange, herab auf den Zucker im Haar und herab auf seinen umwerfenden Freund. Er wollte ihm die Peinlichkeit ersparen, wollte sein Gesicht in seine Hände nehmen, seine Lippen in Beschlag und ihn für Stunden nicht wieder loslassen – und seinetwegen sollte die gesamte Kim-Byun-Sippe an ihrem Schauspiel doch teilhaben! In diesem kurzfristigen Moment des Glücks war Noori bereit, einfach alles wegzuwerfen.

Beinahe schüchtern schaute Koya auf, um endlich den Satz zu beenden, den er angefangen hatte.

„…lass uns auf unser Zimmer.“

Noori grinste.

„Wenigstens einer von uns scheint mitzudenken“, wisperte er atemlos und unterdrückte ein Lachen, weil Koya nicht wissen konnte, dass er Herzschläge zuvor darüber nachgedacht hatte, ihn einfach hier in der Küche zu küssen und vielleicht auch andere Dinge mit ihm anzustellen … … oder konnte er das doch wissen? Denn Koyas Lippen formten ebenfalls ein Grinsen, als er mit belegter Stimme hauchte: „Allerdings eher mit südlichen Regionen. Und jetzt beeil dich, bevor ich im Boden versinke!“

Jae-song II - Der Anruf

Rauschendes Wasser erfüllte das kleine Badezimmer und der Wasserdunst, angereichert mit herbem Duschgel, vermischte sich mit dem Dämmerlicht der schimmernden Kerzen. Wärme ging von den Flammen aus, doch Hitze von den vorsichtigen Händen – einem lautlosen Tanz gleich schwebten sie über dem fremden Körper, berührten ihn kaum, während weiche Lippen nur die Nähe einzuatmen wagten, schaudernde Haut nicht berührten. Heißer Atem brandete gebrochen gegen bebende Schultern – sachte Töne, flüchtend und zärtlich verließen trockene Münder und schließlich verschmolzen Finger ineinander. Zaghafte Ungeduld nagte im Inneren, trat nur schüchtern auf ein rosiges Gesicht, das sich vorsichtig zu schwebenden Fingern und weichen Lippen umwandte. Dunkle Augen, die nach ihren verschleierten Gegenstücken suchten verwoben sich ineinander, während verschmolzene Finger gemeinsam auf Wanderschaft gingen. Ein fahriger Laut, geboren aus Unsicherheit, Scham und Aufregung, der sich im prasselnden Wasser verlor und dennoch Aufmerksamkeit auf sich zog. Schwindende Distanz – und steigende Nervosität – eine kaum noch auszuhaltende Anspannung, als lautlose Finger sich zärtlich auf brennende Wangen legten, die weiche Wölbung des Wangenknochens nachfuhren und ein Feuer im Inneren entfachten.

„Jae-song… Schau mich an.“

Und die Fingerspitzen wanderten weiter, um das schüchterne Kinn anzuheben – brennende Augen, lodernde Spiegel – und Jae-song lächelte unsicher, seine Hand noch immer mit der Sam-jungs verwoben.

„Ich … ich kann dich kaum ansehen, hyung“, wisperte er und das Wasser drohte seine flüchtende Stimme zu verschlucken. Aber tapfer hielt er dem Brennen stand, während es immer schwieriger wurde, überhaupt noch Luft zu bekommen. Bestimmende Hände leiteten an und Erleichterung durchströmte ihn, als er die Duschwand im Rücken spürte – endlich konnten seine wackligen Beine sich ausruhen, endlich wirkte der sengenden Hitze ein wenig Kälte entgegen. Sam-jungs Lippen bildeten dieses unendlich weiche Lächeln, das nur er zu sehen bekam und sein Herz machte einen unbeholfenen Hüpfer, animierte Jae-song dazu, ihn näher zu ziehen und er schmiegte sich in die flüchtenden Bewegungen der stummen Finger.

„Tut es sehr weh?“ Honigweicher Bassbariton schmeichelte seinem Inneren, wollte sich um den Schmerz legen und Jae-song lächelte zart. „Nein.“ Eine zitternde Hand griff nach dem Nacken des Älteren. Jae-song gab dem Brennen im Inneren nach und zog die so weichen Lippen auf die eigenen herab; nur eine flügelzarte Berührung, während lodernde Augen in ihre Spiegel blickten, und Jae-song verbrannte von innen heraus. „Du warst vorsichtig“, flüsterte er schamhaft gegen die weichen Lippen, mühsam jedes Wort formend und sich gewahr, dass seine Wangen zu brennen begonnen hatten. Dass ein Gespräch über Intimität nach eben jener für ihn schwerer war, als erwartet. Jae-song schluckte schwer, umarmte das prickelnde Wasser und lehnte sich Sam-jung noch etwas mehr entgegen, verschlang ihre Hände ineinander. Der Kuss endete und stattdessen drückte er ihre Stirnen sanft gegeneinander, genoss die Tropfen, die zwischen ihren Körpern herab rieselten. Sog den Geruch des Duschgels ein, der noch immer zwischen ihnen hing. Und ließ zu, dass das Feuer ihn innerlich immer weiter versengte, ihn gefangen hielt zwischen Sensation und endloser Scham.

„…Du…warst gut.“ Scheu schaute er auf und zeigte ein zutrauliches Lächeln, bewegte die Finger im kühlen Nacken seines Freundes, spürte das eigene Herz gegen seinen Rippenkäfig poltern – und als er das Funkeln in dunklen Augen sah, den Druck der stummen Finger auf seinem Handrücken spürte … als er die Wärme im Lächeln des Älteren bemerkte und wie sie ihn ansteckte … wusste Jae-song, dass es richtig gewesen war, die Scham zu überwinden und die Worte auszusprechen.

„Also wirst du wieder mit mir schlafen?“

Jae-song verschluckte sich beinahe an der Direktheit des Älteren und musste den Blick abwenden. Seine Hände flohen und Sam-jung gluckste, als er sie wieder einfing und an seine weichen Lippen führte, sie über und über mit kleinen Küssen benetzte, jeden Fingerknöchel einzeln liebkoste und dabei kein einziges Mal wegschaute – die Art und Weise, wie sein Freund ihn anschaute, hatte sich die letzten Stunden über nicht verändert. Jae-song fühlte sich geliebt … und wahrscheinlich war dieses Gefühl der Grund dafür, dass er ein unsicheres „mhm“ murmelte das viel mehr Zustimmung als Ablehnung war und keuchte erschrocken auf, als Sam-jung ihn umarmte und ihn fest an sich presste.

„Nicht jetzt, hyung!“

Sam-jung lachte leise, ließ ein wenig locker und küsste seine Schulter, hinauf bis zum Hals, ehe er seine Nase mit der eigenen anstupste. Jede Berührung ließ Jae-song schaudern und seinen Körper schreien vor Aufregung und Erschöpfung gleichermaßen. „Das weiß ich doch“, wisperte er auf die erhitzte Haut, „ich bin auch erschöpft. Ich will die Zeit mit dir nur genießen. Ist das in Ordnung für dich, Jae-song?“ Weiche Lippen – lodernde Augen – Zuneigung, die über jede bisherige Empfindung hinausging. „Dass ich dir so verfallen bin?“ Jae-song sog die Luft ein und sah sich hilflos der Unverblümtheit seines Freundes ausgeliefert und dennoch im Zugzwang zu antworten, aber ihm fehlten schlicht und ergreifend die Worte. Es war alles so neu für ihn, dass jeder Schritt in die eine Richtung zwei zurück in eine andere bedeutete – aber Sam-jung ging jeden Schritt mit ihm gemeinsam. Er ließ ihn sich sicher und geborgen fühlen – niemals hatte er ihm Vorwürfe gemacht, ihn nie unter Druck gesetzt – ihm alle Zeit gelassen und ihn gleichzeitig niemals zweifeln lassen, dass er ihn begehrte – wie sollte Jae-song da noch etwas anderes glauben, als dass er Hals über Kopf in ihn verliebt war? Dass jedes süße Wort, jedes atemlose Versprechen und jede gemeinsam verbrachte Minute ein Liebesbeweis war – ein Beweis, den er ganz heimlich und nur für sich bereit war, dem Älteren doppelt und dreifach zurückzuzahlen.

Dieser Gedanke ließ sein Herz springen und er lächelte, lehnte sich gegen die Fliesen und nahm die Hand Sam-jungs in seine, um sie sich auf die Brust zu legen. Verlegen ließ er den Älteren am donnernden Herzschlag teilhaben, setzte sich den lauernden dunklen Augen aus und konnte schließlich nicht anders, als schüchtern den Blick zu senken. „Wenn du … wenn du so etwas sagst, werde ich verlegen“, murmelte er und spürte die Nase Sam-jungs, wie sie sich in sein nasses Haar schlich und konnte den Atem an seinem Hals fühlen. Sanfte Finger tanzten über seinen Oberarm und Jae-song seufzte leise, ehe er hinzufügte: „Es ist in Ordnung. Ich mag es.“ Die letzten drei Worte verloren sich beinahe und Sam-jung hielt in seiner Liebkosung inne, den Blick neugierig in die lodernden dunklen Augen gelegt.

„Du magst es? Dass ich dir verfallen bin?“, wisperte er ihm schmunzelnd entgegen und Jae-song sah atemlos dabei zu, wie er ihm die Haare aus der Stirn strich, nur, um seinen Daumen gegen seine Unterlippe zu pressen. Erschrocken keuchte er – diese besitzergreifende Geste überforderte ihn und sofort wurden die Züge des Älteren weicher, ehe er den Daumen mit flatternden Lippen ersetzte. Der Kuss war weich und liebevoll, zärtlich wie verschwindend.

„Tut mir leid. Das hat mich aus dem Konzept gebracht. Wir brauchen beide ein wenig Ruhe.“
 

Vor einem Jahr…
 

Das Choi-ce hatte für zwei Wochen aufgrund von Renovierungsarbeiten schließen müssen und Jae-song hatte sich nicht in der Lage gesehen, den ungewöhnlichen Gast, den er so sehr ins Herz geschlossen hatte, irgendwo anders hin einzuladen, um dem Cocktail-Date zu entsprechen. Er hatte ihm lediglich eine Nachricht geschrieben, über welcher er drei Stunden gebrütet hatte, ehe er sie versendet hatte. Er wollte nicht, dass Sam-jung den weiten Weg ins Studentenviertel umsonst auf sich nahm. Obwohl der Medizinstudent nicht einmal wusste, ob es tatsächlich ein weiter Weg war … er vermutete es lediglich. So oder so wollte er dem Mann mit dem honigweichen Bassbariton keine Umstände bereiten und ihre Verabredung hatte warten müssen. Jae-song wusste nicht, ob er ihm seinen Arbeitsplan schicken sollte … oder ob das unangemessen wäre … und so war er eine ganze Weile gefangen in den eigenen Gedanken und Vorstellungen und je länger er darüber nachdachte, desto wahnwitziger kam es ihm vor.

Wieso sollte Sam-jung seinen eigenen Ablauf an den eigenen anpassen wollen?

Doch die Erinnerung an süße Versprechungen und zum Schmelzen schmerzhafte Abschiedsworte im Taxi waren ihm derart ins Gedächtnis gebrannt, dass der vorsichtige Optimist in ihm ihn dazu verleitete, schlussendlich doch auf senden zu drücken.
 

-𝐷𝑜𝑘𝑢𝑚𝑒𝑛𝑡 𝑔𝑒𝑠𝑒𝑛𝑑𝑒𝑡-

𝐻𝑦𝑢𝑛𝑔? 𝐼𝑐𝘩 𝘩𝑎𝑏𝑒 𝑑𝑖𝑒 𝑛𝑎̈𝑐𝘩𝑠𝑡𝑒𝑛 𝑧𝑤𝑒𝑖 𝑊𝑜𝑐𝘩𝑒𝑛 𝑑𝑖𝑒 𝑓𝑟𝑢̈𝘩𝑒 𝑆𝑐𝘩𝑖𝑐𝘩𝑡 𝑣𝑜𝑟 𝑑𝑒𝑟 𝑊𝑒𝑖𝘩𝑛𝑎𝑐𝘩𝑡𝑠𝑝𝑎𝑢𝑠𝑒 𝑢𝑛𝑑 𝑤𝑢̈𝑟𝑑𝑒 𝑑𝑖𝑐𝘩 𝑔𝑒𝑟𝑛𝑒 𝑛𝑜𝑐𝘩 𝑒𝑖𝑛𝑚𝑎𝑙 𝑠𝑒𝘩𝑒𝑛.
 

𝗗𝗮𝘀 𝗸𝗹𝗶𝗻𝗴𝘁 𝗴𝘂𝘁. 𝗜𝗰𝗵 𝘀𝗰𝗵𝗮𝗳𝗳𝗲 𝗲𝘀 𝘀𝗶𝗰𝗵𝗲𝗿𝗹𝗶𝗰𝗵 𝗱𝗶𝗿𝗲𝗸𝘁 𝗵𝗲𝘂𝘁𝗲 𝗔𝗯𝗲𝗻𝗱. 𝗗𝗮𝗿𝗳 𝗶𝗰𝗵 𝗱𝗶𝗰𝗵 𝗱𝗮𝗻𝗮𝗰𝗵 𝗻𝗮𝗰𝗵 𝗛𝗮𝘂𝘀𝗲 𝗯𝗿𝗶𝗻𝗴𝗲𝗻? 𝗙𝗮𝗹𝗹𝘀 𝗱𝗶𝗿 𝗱𝗮𝘀 𝘇𝘂 𝘀𝗰𝗵𝗻𝗲𝗹𝗹 𝗴𝗲𝗵𝘁, 𝗯𝗲𝗴𝗻𝘂̈𝗴𝗲 𝗶𝗰𝗵 𝗺𝗶𝗰𝗵 𝗮𝘂𝗰𝗵 𝗱𝗮𝗺𝗶𝘁, 𝗱𝗮𝘀𝘀 𝗱𝘂 𝗺𝗶𝗰𝗵 𝗻𝗮𝗰𝗵 𝗛𝗮𝘂𝘀𝗲 𝗯𝗿𝗶𝗻𝗴𝘀𝘁. 𝗜𝗰𝗵 𝗵𝗮𝗯𝗲 𝗱𝗶𝗲 𝗧𝗮𝘅𝗶𝗳𝗮𝗵𝗿𝘁 𝗺𝗶𝘁 𝗱𝗶𝗿 𝘀𝗲𝗵𝗿 𝗴𝗲𝗻𝗼𝘀𝘀𝗲𝗻.
 

Es war Jae-song unbegreiflich wie ein derart charmanter Mann überhaupt existieren konnte. Alles um ihn herum – Bücher, Kommilitonen, Stimmgewirr, Durchsagen – wurde zu einer einzigen Nebensächlichkeit, während seine Welt auf sein Handydisplay zusammenschrumpfte.

Er wollte ihn direkt heute sehen. Es war Sam-jung so wichtig, die letzten zwei Wochen aufzuholen, dass er nicht einmal fünf Minuten für die Antwort gebraucht hatte – und für das Versprechen, heute Abend vorbeizukommen. Der Gedanke daran, von ihm nach Hause gebracht zu werden, ließ Jae-songs Wangen in Flammen stehen und mit einem abwesenden Lächeln dachte er daran, wie seltsam sie einmal mehr wirken mussten; er in seinem ausgefransten Mantel und mit dem viel zu voluminösen Schal … und Sam-jung in den edlen Schuhen und dem stylischen gefütterten Trenchcoat … oder was auch immer derart modebewusste Männer eben im kälter werdenden Seoul trugen. Ob Jae-song einen Blick auf den Anzug würde erhaschen können? Nie zuvor hatte er sich etwas aus Mode gemacht … aus teuren Schuhen, passenden Einstecktüchern oder Krawatten. Doch seitdem er Sam-jung das erste Mal gesehen hatte, wollte er mehr über Stoffe und Schnitte und Designs erfahren – nur, um sich dem Älteren näher zu fühlen.
 

𝐼𝑐𝘩 𝑤𝑢̈𝑟𝑑𝑒 𝑚𝑖𝑐𝘩 𝑓𝑟𝑒𝑢𝑒𝑛, 𝑤𝑒𝑛𝑛 𝑑𝑢 𝑚𝑖𝑐𝘩 𝑛𝑎𝑐𝘩 𝐻𝑎𝑢𝑠𝑒 𝑏𝑟𝑖𝑛𝑔𝑠𝑡. 𝐴𝑏𝑒𝑟 𝑒𝑟𝑠𝑡 𝑛𝑎𝑐𝘩 𝑑𝑒𝑚 𝐶𝑜𝑐𝑘𝑡𝑎𝑖𝑙.

𝐒𝐞𝐥𝐛𝐬𝐭𝐯𝐞𝐫𝐬𝐭𝐚̈𝐧𝐝𝐥𝐢𝐜𝐡 𝐞𝐫𝐬𝐭 𝐝𝐚𝐧𝐚𝐜𝐡! 𝐃𝐚𝐧𝐧 𝐞𝐫𝐟𝐚𝐡𝐫𝐞 𝐢𝐜𝐡 𝐯𝐢𝐞𝐥𝐥𝐞𝐢𝐜𝐡𝐭 𝐚𝐮𝐜𝐡 𝐞𝐧𝐝𝐥𝐢𝐜𝐡, 𝐦𝐢𝐭 𝐰𝐚𝐬 𝐠𝐞𝐧𝐚𝐮 𝐝𝐮 𝐦𝐢𝐜𝐡 𝐯𝐞𝐫𝐳𝐚𝐮𝐛𝐞𝐫𝐭 𝐡𝐚𝐬𝐭.

𝐷𝑎𝑠 𝑏𝑙𝑒𝑖𝑏𝑡 𝑛𝑜𝑐𝘩 𝑒𝑖𝑛𝑒 𝑊𝑒𝑖𝑙𝑒 𝑚𝑒𝑖𝑛 𝐺𝑒𝘩𝑒𝑖𝑚𝑛𝑖𝑠.

𝐃𝐮 𝐰𝐞𝐢ß𝐭, 𝐝𝐚𝐬𝐬 𝐢𝐜𝐡 𝐞𝐢𝐧𝐟𝐚𝐜𝐡 𝐝𝐢𝐞 𝐊𝐚𝐫𝐭𝐞 𝐥𝐞𝐬𝐞𝐧 𝐤𝐨̈𝐧𝐧𝐭𝐞?

𝐸𝑡𝑤𝑎𝑠 𝑠𝑎𝑔𝑡 𝑚𝑖𝑟, 𝑑𝑎𝑠𝑠 𝑑𝑢 𝑑𝑎𝑠 𝑛𝑖𝑐𝘩𝑡 𝑡𝑢𝑛 𝑤𝑖𝑟𝑠𝑡.

𝐃𝐮 𝐡𝐚𝐬𝐭 𝐑𝐞𝐜𝐡𝐭. 𝐈𝐜𝐡 𝐥𝐢𝐞𝐛𝐞 𝐞𝐬, 𝐦𝐞𝐡𝐫 𝐮̈𝐛𝐞𝐫 𝐝𝐢𝐜𝐡 𝐳𝐮 𝐞𝐫𝐟𝐚𝐡𝐫𝐞𝐧, 𝐚𝐛𝐞𝐫 𝐢𝐧 𝐝𝐞𝐢𝐧𝐞𝐫 𝐆𝐞𝐬𝐜𝐡𝐰𝐢𝐧𝐝𝐢𝐠𝐤𝐞𝐢𝐭. 𝐃𝐚𝐬 𝐦𝐚𝐜𝐡𝐭 𝐞𝐬 𝐮𝐦𝐬𝐨 𝐬𝐮̈ß𝐞𝐫, 𝐰𝐞𝐧𝐧 𝐝𝐮 𝐞𝐭𝐰𝐚𝐬 𝐯𝐨𝐧 𝐝𝐢𝐫 𝐚𝐮𝐬 𝐞𝐫𝐳𝐚̈𝐡𝐥𝐬𝐭. 𝐇𝐨𝐟𝐟𝐞𝐧𝐭𝐥𝐢𝐜𝐡 𝐰𝐚𝐫 𝐝𝐚𝐬 𝐧𝐢𝐜𝐡𝐭 𝐳𝐮 𝐝𝐢𝐫𝐞𝐤𝐭? 𝐖𝐞𝐧𝐧 𝐝𝐨𝐜𝐡, 𝐦𝐚𝐜𝐡 𝐝𝐞𝐧 𝐂𝐨𝐜𝐤𝐭𝐚𝐢𝐥 𝐬𝐩𝐚̈𝐭𝐞𝐫 𝐛𝐞𝐬𝐨𝐧𝐝𝐞𝐫𝐬 𝐬𝐭𝐚𝐫𝐤. 𝐃𝐚𝐧𝐧 𝐤𝐚𝐧𝐧 𝐢𝐜𝐡 𝐣𝐞𝐝𝐞𝐬 𝐰𝐞𝐢𝐭𝐞𝐫𝐞 𝐅𝐞𝐡𝐥𝐯𝐞𝐫𝐡𝐚𝐥𝐭𝐞𝐧 𝐚𝐮𝐟 𝐦𝐞𝐢𝐧𝐞𝐧 𝐙𝐮𝐬𝐭𝐚𝐧𝐝 𝐬𝐜𝐡𝐢𝐞𝐛𝐞𝐧.

𝐸𝑠 𝑖𝑠𝑡 𝑎𝑙𝑙𝑒𝑠 𝑖𝑛 𝑂𝑟𝑑𝑛𝑢𝑛𝑔, 𝘩𝑦𝑢𝑛𝑔. 𝑈𝑛𝑑 𝑖𝑐𝘩 𝑏𝑖𝑛 𝑚𝑖𝑟 𝑠𝑖𝑐𝘩𝑒𝑟, 𝑑𝑎𝑠𝑠 𝑒𝑠 𝑘𝑒𝑖𝑛 𝐹𝑒𝘩𝑙𝑣𝑒𝑟𝘩𝑎𝑙𝑡𝑒𝑛 𝑔𝑒𝑏𝑒𝑛 𝑤𝑖𝑟𝑑.

𝐃𝐞𝐢𝐧 𝐕𝐞𝐫𝐭𝐫𝐚𝐮𝐞𝐧 𝐢𝐧 𝐦𝐢𝐜𝐡 𝐬𝐜𝐡𝐦𝐞𝐢𝐜𝐡𝐞𝐥𝐭 𝐦𝐢𝐫. 𝐈𝐜𝐡 𝐟𝐫𝐞𝐮𝐞 𝐦𝐢𝐜𝐡 𝐬𝐞𝐡𝐫 𝐚𝐮𝐟 𝐬𝐩𝐚̈𝐭𝐞𝐫, 𝐉𝐚𝐞-𝐬𝐨𝐧𝐠, 𝐮𝐧𝐝 𝐢𝐜𝐡 𝐰𝐮̈𝐫𝐝𝐞 𝐝𝐞𝐧 𝐬𝐞𝐥𝐭𝐞𝐧𝐞𝐧 𝐌𝐨𝐦𝐞𝐧𝐭 𝐝𝐞𝐬 𝐒𝐜𝐡𝐫𝐞𝐢𝐛𝐞𝐧𝐬 𝐠𝐞𝐫𝐧𝐞 𝐚𝐮𝐬𝐤𝐨𝐬𝐭𝐞𝐧, 𝐚𝐛𝐞𝐫 𝐢𝐜𝐡 𝐦𝐮𝐬𝐬 𝐰𝐞𝐢𝐭𝐞𝐫𝐚𝐫𝐛𝐞𝐢𝐭𝐞𝐧. 𝐖𝐢𝐞 𝐬𝐨𝐥𝐥 𝐢𝐜𝐡 𝐝𝐢𝐞 𝐙𝐞𝐢𝐭 𝐛𝐢𝐬 𝐡𝐞𝐮𝐭𝐞 𝐀𝐛𝐞𝐧𝐝 𝐧𝐮𝐫 𝐮̈𝐛𝐞𝐫𝐥𝐞𝐛𝐞𝐧?

𝐴𝑟𝑏𝑒𝑖𝑡𝑒 𝘩𝑎𝑟𝑡, 𝘩𝑦𝑢𝑛𝑔!

𝐃𝐮 𝐚𝐮𝐜𝐡. 𝐋𝐞𝐫𝐧 𝐟𝐥𝐞𝐢ß𝐢𝐠. 𝐁𝐢𝐬 𝐡𝐞𝐮𝐭𝐞 𝐀𝐛𝐞𝐧𝐝.

𝐵𝑖𝑠 𝘩𝑒𝑢𝑡𝑒 𝐴𝑏𝑒𝑛𝑑.
 

Das ich freue mich auch schwebte in flirtenden Silben auf dem Handydisplay, doch Jae-song traute sich nicht und löschte die wenigen Worte wieder, noch ehe sie hätten versendet werden können.

Der Abend konnte nicht schnell genug kommen.
 

Das Kobaltblau des Designeranzugs strahlte im Dämmerlicht des Choi-ce und sofort lagen die Augen des schüchternen Barkeepers auf dem seltenen Gast. Sie registrierten, dass sein seltener Gast ein wenig anders lief als noch vor beinahe drei Wochen auf der Wissenschaftsmesse und ein wenig Besorgnis schlich sich in die Gedanken Jae-songs – aber wie viel wusste er schon? Es mochte gut und gerne sein, dass Sam-jung heute so lief wie immer und bei ihrem letzten Treffen beeinträchtigt gewesen war … und noch waren Medizineraugen nicht geschult genug, um Fehlstellungen oder Verletzungen zu erkennen. Und Jae-song bei weitem nicht selbstbewusst genug, um einfach zu fragen.

Stattdessen schlich sich trotz der konträren Gedanken ein sachtes Lächeln auf seine Lippen und Sam-jung erwiderte es mit einer Freude, die sein Herz zum Flattern brachte. Hektisch schlug er den Blick nieder und bemerkte aus dem Augenwinkel, wie seine Lieblingskollegin sie lange beobachtete, ehe sie die nächsten Getränke unter die Gäste brachte.

„Ich bin auf persönliche Empfehlung eines Mannes hier, den ich sehr verehre“, begann Sam-jung ein Gespräch mit ihm und Jae-songs Gesicht brannte. Den er verehrte …

Jae-song hätte für den Rest seines Lebens nur dem Bassbariton lauschen können, wie er säuselte und schmeichelte, ihn mit Honig umgab und ihm die Welt versprach. Nie zuvor hatte er Versprechungen von Gästen oder Kunden angenommen – nie zuvor hatte er sich wirklich etwas aus Komplimenten gemacht – und nie zuvor hatte er derart intensiv für jemanden empfunden. Er hatte immer geglaubt, die große Liebe sei die Erfindung von romantischen Schwachköpfen oder der Medienlandschaft … und hier stand er, die Aufmerksamkeit eines Mannes in sich aufnehmend, der bereit zu sein schien ihm die Welt zu Füßen zu legen.

Routiniert zauberte Jae-song seinen Cosmopolitan und schwebte auf Wolken zum seltenen Gast herüber, das Getränk beinahe schwerelos vor ihm auf dem Tresen platzierend. Er wollte, dass Sam-jung verstand, dass er sich nur für ihn derart viel Mühe gab und dass er nur ihn bediente – ohne, dass er dafür Worte nutzen musste. Ihm flogen tausend Erwiderungen auf honigweiche Versprechungen durch den Kopf – Gesprächsfetzen – Zitate aus Filmen oder Büchern, die er irgendwann einmal gehört hatte – doch schlussendlich war das Flattern im Brustkorb derart präsent, dass er dem durchdringenden Blickkontakt ausweichen musste und stumm blieb. Er fühlte sich klein und unbedeutend und gleichzeitig begehrt – wie schaffte Sam-jung das nur?

Die letzte Stunde seiner Schicht zog ins Land und der elegante Mann genoss einen zweiten seiner Drinks, ehe Jae-song von seinem Kollegen abgelöst wurde. Die Distanz zum Medizinstudenten wahrend, nahm er ihm die Schürze ab und Jae-song dankte es ihm mit einem schmalen Lächeln, ehe er scheu in Sam-jungs Richtung schaute. Stand das Angebot noch? Würde er draußen auf ihn warten? Ah – wollte er selbst das? Die Blicke seiner Lieblingskollegin waren bereits erdrückend gewesen und jetzt wo es beinahe so weit war, dass Sam-jung ihn nach Hause bringen würde, verspürte er den Drang wegzulaufen.

War es doch zu viel gewesen? Zu glauben, dass er schon bereit war sich öffentlich mit einem Mann zu zeigen? Immer und immer wieder erinnerte Jae-song sich daran, dass sie in einer neuen Zeit lebten und auch seine Eltern mehr oder weniger einverstanden waren … doch schlussendlich kam er immer zum gleichen Schluss: mit jemandem in der Öffentlichkeit gesehen zu werden war ihm einfach unangenehm. Und da war es einerlei, ob es nun ein Mann oder eine Frau war – eigentlich. Uneigentlich stand für ihn nun einmal fest, dass er lediglich Männer attraktiv fand … … und je länger er sich an dem Gedanken des Unwohlseins festklammerte, desto länger brauchte er, um aus den Personalräumen zu kommen. Sam-jung musste nun bereits beinahe zwanzig Minuten auf ihn warten … und ein Teil von Jae-song war versucht ihm zu schreiben, dass er die lange Schicht übernehmen musste … oder eine andere Notlüge vorzuschieben, um nicht mit ihm nach Hause zu gehen.

Aber wieso? Weil es ihm unangenehm war?

Jae-song war überrascht vom Vorwurf der eigenen Gedanken und davon, dass es ihn keine zwei Minuten kostete, um schließlich neben Sam-jung zu stehen – für ihn schien er bereit zu sein sich dem Unwohlsein auszusetzen und diese Erkenntnis überforderte ihn beinahe noch mehr als die Tatsache, dass der gutaussehende Anzugträger rein gar nichts zu seiner Verspätung sagte. Im Gegenteil: vergnügt formten seine Augen Halbmonde und ein leises Lachen, schroff und rau, perlte von schmunzelnden Lippen.

„Der Drink war perfekt. Also war ich nicht zu direkt?“

Jae-song starrte und wurde sich dessen Sekunden zu spät bewusst. „E-Es tut mir leid! Du .. du musstest warten.“ Er sah sich der Aufrichtigkeit des Älteren vollkommen ausgeliefert, als dieser ihn mit honigweicher Stimme erinnerte: „Ich sagte doch: auf dich würde ich immer warten. Also? Darf ich dich nach Hause bringen?“ Jae-song konnte nicht anders als nicken. Schulter an Schulter, verborgen hinter Mänteln und Schals, eingefangen in den belebten Straßen der pulsierenden Großstadt, und dennoch vollkommen allein miteinander, brachte Sam-jung Jae-song den ganzen Weg vom Choi-ce bis zum Wohnheim. Sie schwiegen und doch war es keine unangenehme Stille – es war beiderseitiges Einvernehmen und je näher sie dem Wohnheim kamen, desto mehr drosselten sie ihre Schritte, kosteten das Schweigen des jeweils anderen aus und zögerten ihren Abschied hinaus.

„Sehe ich dich in deinen Ferien?“

„… auf jeden Fall …“

Und statt ihren Abschied mit unangenehmen Unklarheiten der Art und Weise wie sie sich verabschieden sollten zu ruinieren, platzierte Sam-jung vorsichtig eine Hand auf dem weichen Haar des Jüngeren; er zerschmolz innerlich, als er das Funkeln in dunklen Augen sah und ließ es sich nicht nehmen, ein paar der Strähnen sanft zu streicheln. Nicht zu lange, als dass es unangebracht aussehen konnte – doch nicht zu kurz, um einen falschen Eindruck zu erwecken.

„Ich warte auf deine Nachricht“, versprach Sam-jung dem Studenten, dessen weiche Züge von Kälte und Verlegenheit gezeichnet waren und dessen flüchtende Stimme kein weiteres Mal erklang. Stattdessen nickte er verhalten, den Blick auf scheue Rehaugen verbergend und das reichte Sam-jung als Versprechen.
 

„Musstest du lange warten?“

Gänsehaut rieselte über den Rücken Jae-songs, als der liebgewonnene Bariton in seiner Brust widerhallte und abrupt schaute er auf; seine Hände waren in Handschuhen in den Hosentaschen vergraben, sein Kiefer und seine Unterlippe verschwanden in dem großen Schal und die Ohrenspitzen wurden von der Wollmütze geschützt, die er bereits seit Jahren trug. Trotzdem hatte er bis eben gefroren in der kühlen Winterluft Seouls, doch als seine Augen die des Älteren streiften, verkrampfte sich sein Magen und eine wohltuende, aber ebenso beängstigende Hitze schoss durch sein Innerstes. Sofort wurde ihm warm und er schrumpfte einige Millimeter im Wintermantel, als er den Kopf einzog und sich im Schal versteckte. Sam-jung schien instinktiv zu wissen, dass er keine direkte Antwort bekommen würde und beinahe wirkte er schuldbewusst, wie er die Hände nach dem Studenten ausstreckte. Flehende Augen baten um Verzeihung, wie Jae-song unter Wimpern hervorschauend bemerkte und er lächelte heimlich in den Weiten des Schals. „Es tut mir leid, Jae-song. Die Arbeit hat mich länger aufgehalten als ich es wollte. Kannst du mir verzeihen, dass ich dich habe warten lassen?“ Honigweicher Bassbariton. Jae-song blinzelte.
 

Es war erst wenige Tage her, dass sie ihr zweites Date gehabt hatten und noch immer war er vollkommen überwältigt von der Intensität ihres Aufeinandertreffens. Sam-jung hatte ihn in ein Museum mitgenommen – die Schätze der Medizin – und immer wieder hatte er nach seiner Hand gegriffen, seinen Arm berührt, Kontakt gesucht, ohne dass Jae-song zu schüchtern geworden wäre unter den vielen fremden Augen. Er hatte sich überraschend wohl gefühlt, doch gleichzeitig überfordert mit all den Eindrücken. Die Ausstellung an sich war überraschend groß gewesen; vier Hallen voller wissenschaftlicher Errungenschaften der Neuzeit, eine ganz der Anatomie gewidmet und voller Modelle, deren Obszönität Jae-song in anderen Bereichen sicherlich die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätte. Doch in Anblick der Wissenschaft hatten sie eher seine Neugierde geweckt, denn an seinem Schamgefühl gerüttelt und er hatte mehr geredet als in den letzten Monaten zusammengenommen. Der Ältere hatte zugehört und stets heimlich gelächelt, wenn Jae-song über die eigene Aufregung gestolpert war und ihm versichert, dass er ihm gerne zuhörte. Mit dieser Eröffnung hatte er den schüchternen Studenten beinahe entblättert – im metaphorischen Sinne – und ihn zum Schweigen gebracht. In einvernehmlicher Stille hatten sie die Ausstellung weiter erforscht und jede mehr oder weniger zufällige Berührung des Älteren hatte Jae-song in ein gedankliches und emotionales Chaos gestürzt.

Er hörte ihm gerne zu … etwas, das noch niemals jemand zu ihm gesagt hatte. Und als sie sich am Abend voneinander verabschiedeten, versicherte Sam-jung ihm, dass er den Tag mit ihm genossen hatte und es nicht erwarten konnte, ihn wiederzusehen. All das in einer derart charmanten Weise, dass Jae-song sich nicht bedrängt, sondern über allen Maßen geschmeichelt fühlte.
 

Und auch jetzt schaffte Sam-jung es mit spielender Leichtigkeit seine Schüchternheit zu überwinden und genau die richtigen Worte zu finden, ohne dass es erzwungen wirkte.

„Ich … ich bin dir nicht böse“, nuschelte Jae-song in den Stoff des Schals und ließ den Älteren schließlich am heimlichen Lächeln teilhaben. Sam-jungs Augen schienen zu funkeln, als seine Hand sich umsichtig auf die Schulter des Jüngeren legte, kaum merklich Druck ausübte und Jae-song sah ihm an, dass er ihm gerne so viel näher als das wäre, was ihn abermals unsicher werden ließ – und gleichzeitig badete er sich in dem sonnigen Gefühl, das sich in seinem Inneren ausbreitete. Die Art und Weise, wie Sam-jung ihn anschaute, hatte sich seit ihrem letzten Treffen ein wenig geändert … … und die Intensität schickte brennende Wellen durch den Studenten, die sich in zarter Röte auf seinen Wangen manifestierte.

„Wirst du mich heute begleiten, auch wenn du nicht weißt, wohin wir gehen?“, sprach Sam-jung sanft mit ihm und seine ruhige Stimme legte sich liebreizend um das polternde Studentenherz. Scheu nickte Jae-song und schloss die Distanz zum Älteren ein wenig – ohne einander zu berühren gingen sie eine Weile schweigend nebeneinander her und genossen die Nähe des jeweils anderen. Jae-song fühlte sich unwohl dabei ihre Treffen auch in der Öffentlichkeit als Date zu betiteln und so respektierte Sam-jung die Distanz zwischen ihnen ohne sie auch nur zum Thema zu machen. Abermals schien er instinktiv zu wissen, wie er mit Jae-song umzugehen hatte und allein die Tatsache, dass er so verständnisvoll, so umsichtig war, ließ den Studenten daran glauben, dass sie eine gemeinsame Zukunft haben könnten. Vielleicht war er zu ungestüm – vielleicht zu voreilig – immerhin hatten sie sich bisher noch nicht oft gesehen und noch seltener tatsächlich gesprochen. Er wusste nicht genau wie alt Sam-jung war, wusste nicht was er beruflich tat, wusste nicht was er gerne aß, wie seine Familie war, ob er Geschwister hatte, ob er studiert hatte, ob er gerne trank, ob er ein Hunde- oder Katzenmensch war . . .

. . . aber Jae-song würde nicht fragen. Er wollte es herausfinden, Stück für Stück, und sich Zeit dabei nehmen, den Älteren kennenzulernen. Noch nie hatte er so viel über jemanden wissen wollen und war gleichzeitig so entschlossen gewesen, keine Fragen zu stellen. Er würde selbst mit Dates aufwarten und Sam-jung überraschen … dadurch herausfinden, ob er das Meer lieber mochte als die Berge … oder ob er Höhenangst hatte … ob er gerne schnelle Autos fuhr oder lieber Besen flog … ob er die Magie ihrer Welt eher schätzte als die der Muggel oder ob er lieber in ein 4D-Kino ging als zum Hippogreifreiten. Und sein Wille zu erkunden hatte gar nichts mit seiner Unfähigkeit, seine Gedanken und Gefühle zu verbalisieren, zu tun. Sam-jung löste etwas in ihm aus, das ihn dazu bringen wollte, die eigenen Grenzen zu sprengen und über die eigenen Möglichkeiten hinaus zu denken und zu handeln. Jae-song wollte für ihn mutig sein und aus seiner Komfortzone ausbrechen.

Nur deswegen stimmte er auch heute zu ihm blindlings zu folgen, obwohl ihn Überraschungen und Veränderungen normalerweise absolut betäubten.

„Wie sind die Winterferien? Hast du viel über die Feiertage zu tun?“, erkundigte Sam-jung sich und Jae-song schaute scheu zu ihm, ehe er seine Fußspitzen während des Laufens fokussierte. Es hatte in der Nacht zwar geschneit, doch bereits wenige Stunden später war von der Pulverdecke nichts mehr zu sehen; die klamme Kälte schlich sich stattdessen unter den Mantel des Studenten und er schauderte, ehe er leise antwortete: „Die Professoren haben uns keine Semesterarbeiten gegeben, aber ich bin einer Lerngruppe beigetreten…“ Unsicherheit ließ ihn verstummen, denn obwohl der Ältere gefragt hatte und obwohl Jae-song im Grunde auch wusste, dass er interessiert war … war das Studentenleben wirklich etwas worüber er sprechen wollte? Wirklich etwas das Sam-jung interessierte?

Die ruhigen Augen des Älteren brannten auf seinem Profil und Jae-song blitzte unsicher zu ihm auf, erkannte ein zutrauliches Nicken und fühlte sich in seinen Worten bestärkt. Sam-jung wollte zuhören … und daher bemühte er sich um eine ausführlichere Antwort.

Das Ausbrechen aus komfortablen Zonen begann.

„… Es ist eine kleine Gruppe. Wir gehen den Stoff vom letzten Semester Stück für Stück durch und einer meiner Kommilitonen ist aus der Psychologiefakultät, was uns einen anderen Blickwinkel auf einige der neurologischen Aspekte gibt.“

Abermals stolperte Jae-song über die eigenen Worte und verstummte. Seine Wangen brannten und eine Nervosität nahm von ihm Besitz, die unwillkommen und in Sam-jungs Gegenwart noch nie dagewesen war. Er schämte sich beinahe für all die Worte und die Ausführlichkeit, wollte er doch nicht dass Sam-jung glaubte, er sei wiederum nicht an dessen Leben interessiert und würde nur über sich reden. Abermals brannte der ruhige Blick auf ihm und eine Berührung an seinem Ellenbogen brachte sie beide zum Halten. Sam-jungs Lippen zeigten ein weiches, beinahe liebevolles Lächeln und Jae-songs Atem stockte. Sein Herz begann wild zu klopfen und er wurde sich einmal mehr bewusst, dass er sich bereits hoffnungslos in diesen Mann verliebt hatte, dessen Aufmerksamkeit wie Felix Felicis wirkte.

Die flüchtige Berührung am Ellenbogen verschwand und Jae-song blitzte zum eigenen Körperteil, ironischerweise an den lateinischen Begriff dafür denkend, ehe die honigweiche Stimme sein Herz umarmte: „Du brauchst nicht aufhören zu reden, Jae-song. Ich habe gefragt, weil ich wissen will wie du deine Zeit verbringst. Mit wem du deine Zeit verbringst. Und ob dir dein Studium Spaß machst … und ob du genügend Zeit fürs Schlafen und Essen hast. Medizin ist ein so verantwortungsvolles Studium, dass ich mir Sorgen mache, dass du nicht genügend Zeit für dich hast.“ Jae-song brannte lichterloh unter den warmen Worten und starrte in geschwungene dunkle Augen, in denen sich das Licht der belebten Innenstadt spiegelte. „Ah, ich überschreite hier keine Grenze, oder? Ich klinge nicht zu besitzergreifend? Ich will dich nicht einengen; ich frage wirklich nur, weil ich es wissen will und mir Sorgen mache, in Ordnung?“

Polterndes Herz – brennende Wangen – breites Lächeln.

Hoffnungslos verliebt.

Jae-song nickte, ein weiches „hmhm“ summend und spürte, wie alles in ihm federleicht wurde. „Das ist in Ordnung, hyung.“

„… Kannst du das noch einmal anders sagen? So, wie du es letztes Mal gesagt hast?“

Jae-song stutzte über diese Bitte, doch noch immer im Rausch der liebevollen Worte und der Sorge des Älteren gefangen, nickte er und wiederholte leise: „Du darfst dir Sorgen machen, Sam-jung hyung.“
 

Atemlos starrte Sam-jung zum Jüngeren herab, dessen Lächeln am heutigen Abend so viel strahlender war als sonst. Er wirkte losgelöst und offener und während die Welt um sie herum sich weiterdrehte und Menschen an ihnen vorbeizogen, schrumpfte Sam-jungs Welt auf den Studenten vor ihm zusammen. Auf den scheuen Blickkontakt und die weichen Gesichtszüge, auf die von Kälte und Schamgefühl roten Wangen, auf den großen Schal, der viel zu viel von seinem Gesicht verbarg, auf den riesigen Wintermantel, der seinen Körper komplett versteckte, auf die wachsende Zuneigung auf hübschen Gesichtszügen und auf die im Reklamelicht funkelnden Augen.

Augen, die nur ihn anschauten.

Augen, die vor Herzenswärme schimmerten.

Und allein die Tatsache, dass Jae-song sich vorgewagt hatte jene Worte auszusprechen, die er hatte hören wollen, erfüllte den Älteren mit Stolz. Was mit Neugierde und Interesse begonnen hatte, war für ihn schnell zu einer tiefgreifenden Herzensangelegenheit geworden. So tiefgreifend, dass er am liebsten jede freie Sekunde mit dem Studenten verbracht hätte und so tiefgreifend, dass er dessen Grenzen ohne Wenn und Aber respektierte.

Grenzen, die er bei niemand anderem jemals respektiert hatte und Grenzen, die er bei niemand anderem jemals wieder respektieren würde.

Vielleicht war er zu ungestüm – vielleicht war er zu voreilig – aber der scheue Blick Jae-songs und das strahlende Lächeln berührten sein schnell schlagendes Herz.

Er war bereit, es Jae-song zu schenken.
 

„Es ist … so hoch.“

Sam-jung musste über den Kommentar des Studenten lachen und empfand die Rötung der Wangen als unheimlich niedlich; dabei wussten sie doch beide, dass er ihn nicht auslachte, oder? Doch um diesen Zweifel aus dem Weg zu räumen, brummte er sanft: „Ich freue mich genauso hier zu sein, wie du. Es ist auch mein erstes Mal hier. Ich habe immer davon geträumt mit jemandem so … bezaubernden … wie dir hier her zu kommen.“

Seine Schmeichelei verfehlte ihre Wirkung nicht: Jae-songs Wangen färbten sich noch röter und Sam-jung beobachtete, wie seine Lippen mitten beim Luftholen geöffnet blieben, ganz so, als würde ihm die Fähigkeit des Atmens versagen. Er beobachtete, wie die großen Augen ruhelos umherwanderten und die Unsicherheit und Verlegenheit dem Studenten zusetzten. Er gab ihm die Zeit, die er brauchte, um die Worte zu verarbeiten und ein Teil von ihm wünschte sich so sehr, dass Jae-song verstand, wie viel sich noch hinter ihnen verbarg . . . aber dafür kannten sie einander noch nicht gut genug, nicht wahr? Es war vermessen zu hoffen, dass sie die Worte des jeweils anderen bereits interpretieren konnten, die Worte hinter den Worten ergründen konnten, oder nicht?

Aber Jae-song überraschte ihn und fragte beinahe atemlos: „Bin ich so besonders für dich?“ Und wahrscheinlich war der Jüngere selbst überfordert mit dem Mut hinter der eigenen Frage, denn wenn nicht … war er wesentlich schamloser, als Sam-jung es ihm zugetraut hätte. Immerhin fühlte er sich von dessen Worten herausgefordert, auf die beste Art und Weise. Trotz der vielen Augenpaare um sie herum trat er näher an den Jüngeren heran, berührte dessen behandschuhte Hand mit den Fingern deutlich genug, damit er es bemerkte und schenkte ihm ein Lächeln, das hoffentlich seine Aufrichtigkeit untermauerte. Niemals zuvor, in keiner lebensbedrohlichen Situation, bei keinem großen Coup, bei keinem wichtigen Kunden hatte er so sehr gewollt, dass ihm jemand glaubte – aber Jae-song sollte wissen, dass er jedes Wort so meinte.

„Wir kennen uns noch nicht lange, Jae-song, aber seitdem du in mein Leben getreten bist, will ich am liebsten jede Minute bei dir sein. Ich kann mir nicht mehr vorstellen, Zeit mit jemand anderem als mit dir zu verbringen. Ist das … seltsam?“
 

Sein Herz zersprang und obwohl Wellen der Scham durch in brandeten, schaute er weiterhin in die funkelnden Augen. Obwohl so viele Menschen um sie herum sehen konnten, mit wie viel Zuneigung Sam-jung ihn bedachte und obwohl so viele Menschen um sie herum hören konnten, welch romantische Worte er wählte, zählten für Jae-song in diesem Moment weder die eigenen Unzulänglichkeiten noch irgendjemand sonst außer dem Mann vor ihm.

„Das ist … das ist gar nicht seltsam.“ Und wie gerne hätte er ihm mehr Zuspruch gegeben – dass die Zeit, die sie einander kannten nicht relevant für ihn war und dass er sich in seiner Gegenwart wohl fühlte und niemand sonst bisher solche Gefühle in ihm ausgelöst hatte . . . aber er konnte die vielen Gefühle nicht in Worte fassen und so befreite er seine Hand umständlich aus dem Handschuh und griff schnell nach der warmen Hand des Älteren; scheu blitzte der eigene Blick für eine Weile auf die helle Haut herab, die sich kontrastreich gegen die eigene schmiegte.

„Das heißt, dass dieses Date gut läuft, oder? Ich darf dich wiedersehen?“

Jae-song schaute überrascht auf und sein Blick sprach mehr als tausend Worte: hatte das zur Debatte gestanden? Sam-jung lachte verhalten, drückte seine Hand und löste dadurch einen Wirbelsturm der Gefühle in seinem Inneren aus – sei es dank dem vibrierenden Bass des Lachens oder der einfachen Geste, Jae-song wusste es nicht. Doch dieser wundervolle Mann vor ihm hatte eine berauschende Wirkung auf ihn und selbst das Necken konnte er daher ohne Schrecken ertragen. „Entschuldige, es kam über mich. Wollen wir die Aussicht genießen ehe wir Essengehen?“ Jae-song war davon überrumpelt, dass sie in den meistens ausgebuchten Restaurants des Namsan Towers Essengehen würden und nicht zum ersten Mal wurde er das Gefühl nicht los, dass Sam-jung jemand ganz Besonderes war. Nicht nur für ihn, sondern auch für andere. Unsicher, ob er die Hand loslassen sollte, schaute er auf sie herab und nickte als Antwort auf die Frage – der Ältere spürte instinktiv seine Unsicherheit und entließ seine Hand widerwillig in die Freiheit.

„Gibst du mir deinen Handschuh?“

Willenlos überreichte Jae-song ihm das Kleidungsstück und spürte sein Herz flattern, als Sam-jung ihm den Handschuh Stück für Stück sorgfältig und umsichtig über die Hand stülpte. Es war eine so einfache Geste . . . und dennoch war es das Schönste, das jemals jemand für ihn getan hatte. Jae-songs Augen funkelten wild und zuerst scheu, dann mutig schaute er in seine Spiegel und verriet damit, wie unheimlich dankbar er für die Zuneigung des Mannes vor sich war. Gemeinsam traten sie hinaus in die kalte Abendluft und bedachten den sternenlosen Himmel mit sehnsüchtigen Blicken, Schulter an Schulter, und Jae-song vermerkte still und heimlich für sich, dass Sam-jung keine Höhenangst hatte.
 

Von da an schrieben sie einander beinahe täglich. Es waren häufig Belanglosigkeiten wie bist du schon zu Hause? oder hast du gegessen? oder denk an den Mantel, bevor du rausgehst – doch so belanglos die wenigen Worte auf dem flackernden Display auch zu sein schienen, sie bedeuteten Jae-song unheimlich viel. Es war fast berauschend zu wissen, dass es jemanden in der Großstadt gab, der an ihn dachte und sich Sorgen machte, der sich kümmerte und dem er am Herzen lag. Denn wie sollte er genau das nicht denken? Sam-jung schrieb ihm jeden Abend gute Nacht und jeden Morgen guten Morgen – er war ein konstanter Begleiter in seinem Alltag, ohne dass er wirklich physisch anwesend gewesen wäre. Jae-song begann, ihn selbst beim Antworten zu vermissen und obwohl er wusste, dass er viel zu tun hatte und auch der Student keine Zeit für ihn aufbringen konnte, erwischte er sich so oft bei dem Gedanken ihn trotzdem sehen zu wollen, dass er sich über sich selbst wunderte.

Bis zu dieser Zeit war das Studium für ihn das Wichtigste gewesen. Er arbeitete hart in den zwei Teilzeitjobs, um die Studiengebühren und Lebenshaltungskosten tragen zu können und hatte sogar einen Kredit aufgenommen, um nicht plötzlich vor dem Nichts zu stehen. Er wollte so schnell wie möglich mit dem Studium fertig werden und so gut wie möglich abschließen, um schnell arbeiten und seine Eltern besser unterstützen zu können. Er wollte helfen, am ehesten noch seinen Eltern, aber sicherlich auch jenen, die seine Hilfe benötigen würden. Sein Traum, Arzt zu werden, war nie verblasst und immer sein Leitstern gewesen.

Doch jetzt dachte er nicht an Anatomie oder Nervensysteme, wenn er morgens aufwachte, sondern an Sam-jung und jedes Mal begann sein Herz zu flattern oder zu ziehen – je nachdem, ob die Freude oder die Sehnsucht überwog.

Einmal mehr musste er sich eingestehen, dass er verliebt war.
 

Ganz automatisch griff er auch an diesem Morgen zum Handy und sah Sam-jungs 𝐆𝐮𝐭𝐞𝐧 𝐌𝐨𝐫𝐠𝐞𝐧 als erste Nachricht des Tages. Jae-song fragte sich, ob der Ältere immer so früh aufstand oder ob er sich extra für ihn einen Wecker stellte und auch wenn der letzte Gedanke ihm ein wenig übertrieben vorkam, so fixierte er sich dennoch genau auf diesen, weil er schmeichelhaft, romantisch war. Selbst wenn das nicht stimmen sollte, so wollte Jae-song doch daran glauben und ganz heimlich konnte er den Rest des Tages nicht mehr zu lächeln aufhören. Ob auf dem Weg zur Vorlesung, der Nachbereitung in der Bibliothek, der Abendvorlesung oder kurz vorm Zubettgehen – wo natürlich schon ein gute Nacht auf ihn wartete – es war ihm nicht möglich, das sachte Lächeln einzustellen. Und gemessen daran, wie gut es ihn sich fühlen ließ, wollte er das auch gar nicht.

Aber die Zeit verstrich und je länger er ihn nicht gesehen hatte, desto trauriger wurde er im Inneren. Er wollte Sam-jung unbedingt sehen … und dieser Gedanke überraschte den Introvert. Für Jae-song waren soziale Kontakte nicht überlebensnotwendig. Ihm reichte ein Gespräch oder ein Essengehen mit seiner engen Freundin oder ein Besuch bei seinen Eltern meistens für einige Wochen. Seine soziale Batterie war eine kleine Knopfzelle, wenn man das Volumen messen, aber ein Stern, wenn man die Zeit bemessen wollte. Er brauchte andere Menschen schlicht und ergreifend nicht, um glücklich zu sein.

Nun – so hatte er immer gedacht. Aber je mehr Tage ins Land ohne den Älteren zogen, desto mehr musste Jae-song sich eingestehen, dass er ihn wirklich vermisste. Dass es ihm nicht reichte ihm zu schreiben und dem Glücksgefühl der kurzen Nachrichten nachzujagen, sondern dass er ihn sehen wollte und dass er die honigweiche Stimme vermisste.

Er vermisste den angereicherten Honig und er vermisste es sogar, Komplimente zu bekommen, wie er sich mit brennenden Wangen fassungslos eingestand. Er vermisste es, wie das Ende von Silben nachlässig vom Bassbariton verschluckt wurde und wie herrlich er mit seinem Inneren vibrierte. Wie einfach Sam-jung ihn aus dem Konzept bringen konnte, mit nur einem Wort, und wie leicht es ihm im selben Atemzug fiel, ihn wieder in die Spur zu bringen. Er wollte wieder das Prickeln im ganzen Körper fühlen, wenn der angereicherte Honig sich weich und warm über seine Unsicherheiten legte und sie zu ersticken gedachte. Jae-song wusste bereits, dass er verliebt in den Älteren war … und dennoch war die Intensität der Sehnsucht, des Vermissens, eine gigantische und überfordernde Überraschung für ihn.

Er musste ihn wiedersehen. So bald wie möglich.
 

Das Seollal kam und ging und während viele seiner Kommilitonen nach Hause fuhren um bei ihren Eltern zu sein, blieb Jae-song in Seoul, telefonierte nur kurz mit seinen Eltern und schrieb über die Feiertage die Facharbeiten zu Ende, die seit Anfang des Monats in Arbeit waren. Als er die Arbeiten in der Universität im unbesetzten Büro abgab, stolperte er über Gutscheine für einen Bubbletea-Laden und lächelte heimlich, als er sich zwei von ihnen einsteckte.
 

𝐻𝑦𝑢𝑛𝑔?

𝐖𝐢𝐞 𝐬𝐜𝐡𝐨̈𝐧 𝐯𝐨𝐧 𝐝𝐢𝐫 𝐳𝐮 𝐥𝐞𝐬𝐞𝐧.

𝑇𝑢𝑡 𝑚𝑖𝑟 𝑙𝑒𝑖𝑑, 𝑚𝑖𝑐𝘩 𝑠𝑜 𝑙𝑎𝑛𝑔𝑒 𝑛𝑖𝑐𝘩𝑡 𝑔𝑒𝑚𝑒𝑙𝑑𝑒𝑡 𝑧𝑢 𝘩𝑎𝑏𝑒𝑛.

𝐈𝐜𝐡 𝐯𝐞𝐫𝐬𝐭𝐞𝐡𝐞 𝐝𝐚𝐬, 𝐉𝐚𝐞-𝐬𝐨𝐧𝐠. 𝐇𝐚𝐬𝐭 𝐝𝐮 𝐝𝐢𝐞 𝐀𝐫𝐛𝐞𝐢𝐭𝐞𝐧 𝐚𝐛𝐠𝐞𝐠𝐞𝐛𝐞𝐧?

𝐽𝑎. 𝑈𝑛𝑑 𝑖𝑐𝘩 𝘩𝑎𝑏𝑒 𝑑𝑎𝑠 𝘩𝑖𝑒𝑟 𝑔𝑒𝑓𝑢𝑛𝑑𝑒𝑛.

-𝑝𝑖𝑐𝑡𝑢𝑟𝑒 𝑠𝑒𝑛𝑑-

𝐼𝑐𝘩 𝑙𝑎𝑑𝑒 𝑑𝑖𝑐𝘩 𝑒𝑖𝑛, 𝑠𝑜𝑏𝑎𝑙𝑑 𝑑𝑎𝑠 𝑙𝑒𝑡𝑧𝑡𝑒 𝑃𝑟𝑜𝑗𝑒𝑘𝑡 𝑎𝑏𝑔𝑒𝑠𝑐𝘩𝑙𝑜𝑠𝑠𝑒𝑛 𝑖𝑠𝑡. 𝑇𝑢𝑡 𝑚𝑖𝑟 𝑙𝑒𝑖𝑑, 𝑑𝑎𝑠𝑠 𝑒𝑠 𝑠𝑜 𝑙𝑎𝑛𝑔𝑒 𝑑𝑎𝑢𝑒𝑟𝑡.

𝐈𝐜𝐡 𝐟𝐫𝐞𝐮𝐞 𝐦𝐢𝐜𝐡 𝐝𝐚𝐫𝐚𝐮𝐟, 𝐝𝐢𝐜𝐡 𝐰𝐢𝐞𝐝𝐞𝐫𝐳𝐮𝐬𝐞𝐡𝐞𝐧. 𝐇𝐚𝐬𝐭 𝐝𝐮 𝐬𝐜𝐡𝐨𝐧 𝐠𝐞𝐠𝐞𝐬𝐬𝐞𝐧?

𝑁𝑒𝑖𝑛.

𝐁𝐢𝐭𝐭𝐞 𝐯𝐞𝐫𝐠𝐢𝐬𝐬 𝐧𝐢𝐜𝐡𝐭, 𝐚𝐮𝐟 𝐝𝐢𝐜𝐡 𝐳𝐮 𝐚𝐜𝐡𝐭𝐞𝐧. 𝐃𝐮 𝐰𝐢𝐫𝐬𝐭 𝐀𝐫𝐳𝐭 𝐰𝐞𝐫𝐝𝐞𝐧 𝐮𝐦 𝐚𝐮𝐟 𝐚𝐧𝐝𝐞𝐫𝐞 𝐋𝐞𝐮𝐭𝐞 𝐳𝐮 𝐚𝐜𝐡𝐭𝐞𝐧, 𝐚𝐛𝐞𝐫 𝐰𝐞𝐫 𝐚𝐜𝐡𝐭𝐞𝐭 𝐚𝐮𝐟 𝐝𝐢𝐜𝐡, 𝐰𝐞𝐧𝐧 𝐧𝐢𝐜𝐡𝐭 𝐝𝐮 𝐬𝐞𝐥𝐛𝐬𝐭?

Jae-songs Herz begann zu flattern und in einem kurzen Anflug von Mut wollte er antworten, dass Sam-jung auf ihn achten sollte, aber hektisch schüttelte er den Kopf und verbot sich, diese Worte zu schreiben. Nicht, weil er sich tatsächlich wegen des Gedankens schämte oder sie nicht genau so meinte, sondern weil er irgendwann den Mut haben wollte, Sam-jung genau darum zu bitten. Von Angesicht zu Angesicht, nicht über das Display eines Handys.

𝑉𝑒𝑟𝑠𝑝𝑟𝑜𝑐𝘩𝑒𝑛, 𝘩𝑦𝑢𝑛𝑔, 𝑖𝑐𝘩 𝑒𝑠𝑠𝑒 𝑗𝑒𝑡𝑧𝑡. 𝐺𝑢𝑡𝑒 𝑁𝑎𝑐𝘩𝑡. 𝑈𝑛𝑑 𝑎𝑟𝑏𝑒𝑖𝑡𝑒 𝑛𝑖𝑐𝘩𝑡 𝑧𝑢 𝘩𝑎𝑟𝑡.

𝐆𝐮𝐭𝐞 𝐍𝐚𝐜𝐡𝐭, 𝐉𝐚𝐞-𝐬𝐨𝐧𝐠.

𝑃𝑎𝑠𝑠 𝑎𝑢𝑓 𝑑𝑖𝑐𝘩 𝑎𝑢𝑓.

𝐒𝐮̈ß𝐞 𝐓𝐫𝐚̈𝐮𝐦𝐞.
 

Das letzte Projekt war eine Woche später abgeschlossen und Erschöpfung zehrte mächtig am Geist des Studenten. Er hatte die gesamte Woche über nur wenig geschlafen, die Schichten im Hanami und im Choi-ce irgendwie überlebt und merkte erst, wie erschöpft er wirklich war, als der Samstag anklopfte und damit sein erster freier Tag seit Wochen anfing. Trotzdem wachte er um sieben Uhr auf um das 𝐆𝐮𝐭𝐞𝐧 𝐌𝐨𝐫𝐠𝐞𝐧 zu lesen und mit einem breiten Lächeln darauf zu antworten: 𝐺𝑢𝑡𝑒𝑛 𝑀𝑜𝑟𝑔𝑒𝑛, 𝘩𝑦𝑢𝑛𝑔. 𝐼𝑐𝘩 𝑙𝑒𝑔𝑒 𝑚𝑖𝑐𝘩 𝘩𝑒𝑢𝑡𝑒 𝑤𝑖𝑒𝑑𝑒𝑟 𝘩𝑖𝑛 𝑢𝑛𝑑 𝘩𝑜𝑓𝑓𝑒, 𝑑𝑎𝑠𝑠 𝑑𝑢 𝑎𝑢𝑓 𝑑𝑖𝑐𝘩 𝑎𝑐𝘩𝑡𝑒𝑠𝑡. Beinahe augenblicklich folgte die Antwort 𝐡𝐚𝐬𝐭 𝐝𝐮 𝐡𝐞𝐮𝐭𝐞 𝐟𝐫𝐞𝐢? und Jae-songs Herz antwortete mit einem aufgeregten Flattern auf die Möglichkeiten, die hinter dieser Frage lauerten. Wollte Sam-jung ihn genauso dringend sehen wie er ihn? Würde er vorbeikommen? Nur kurz glitten erschrockene Augen über die Unordnung in seinem Studentenzimmer, ehe er sich der Absurdität seiner Gedanken bewusst wurde und dennoch war die Vorstellung, dass der Ältere hier her kommen würde, seltsam prickelnd. Was er wohl zu dem kleinen Zimmer sagen würde? Zu den Fotos, den Büchern, der Farbwahl? Sam-jung war ein stilsicherer und beeindruckender Mann, dessen Kleidungsstil eine Menge über seinen Status verriet – nun, wenn man glauben mochte, dass er sich die teuren Anzüge nicht nur auslieh … ob er in einem Haus lebte? Oder einer luxuriösen Wohnung? Nur einen Herzschlag lang quälte den Studenten die Frage, was zur Hölle Sam-jung ausgerechnet von ihm wollte – doch er hatte schon vor Wochen beschlossen nicht an der Aufrichtigkeit des Älteren zu zweifeln.
 

𝐽𝑎. 𝐷𝑎𝑠 𝑙𝑒𝑡𝑧𝑡𝑒 𝑃𝑟𝑜𝑗𝑒𝑘𝑡 𝑖𝑠𝑡 𝑎𝑏𝑔𝑒𝑠𝑐𝘩𝑙𝑜𝑠𝑠𝑒𝑛.

𝐃𝐚𝐬 𝐢𝐬𝐭 𝐚̈𝐫𝐠𝐞𝐫𝐥𝐢𝐜𝐡. 𝐇𝐚̈𝐭𝐭𝐞 𝐢𝐜𝐡 𝐝𝐚𝐬 𝐯𝐨𝐫𝐡𝐞𝐫 𝐠𝐞𝐰𝐮𝐬𝐬𝐭, 𝐡𝐚̈𝐭𝐭𝐞 𝐢𝐜𝐡 𝐦𝐢𝐫 𝐚𝐮𝐜𝐡 𝐟𝐫𝐞𝐢 𝐠𝐞𝐧𝐨𝐦𝐦𝐞𝐧.
 

Ah. Er war enttäuscht? Jae-song blinzelte aufs Display und bemerkte die eigene Enttäuschung darüber, dass Sam-jung keine Zeit für ihn hatte und sofort mischte sich eine prägnante Sorge darunter: er arbeitete selbst am Wochenende? Bisher war er immer davon ausgegangen, dass er die Wochenenden genoss … mit Freunden ausging … vielleicht das Choi-ce besuchte in der Hoffnung, ihn zu sehen … vielleicht auch verreiste, um dem Alltagsstress zu entkommen. Die Vorstellung des Anzugträgers am Strand, wie er die teuren Schuhe von den Füßen streifte und im weinroten Anzug den Wellen entgegenging, wie sie bis knapp vor dem prägnanten Stoff schäumten und nur ganz vorsichtig die freigelegte Haut berührten und wie sich Entspannung in die kantigen Züge des Älteren mischte, hatte Jae-song die letzten Tage kaum ruhig schlafen lassen. Aber zu wissen, dass er selbst am Samstag beschäftigt war, ließ ihn traurig auf die Tatstatur schauen.

Achtete Sam-jung wirklich auf sich?

𝑇𝑢𝑡 𝑚𝑖𝑟 𝑙𝑒𝑖𝑑.

Und noch während er sah, dass Sam-jung eine Antwort tippte, schickte Jae-song eine weitere Nachricht hinterher, die das Tippen auf der anderen Seite verstummen ließ.

𝐾𝑎𝑛𝑛𝑠𝑡 𝑑𝑢 𝑑𝑖𝑟 𝑛𝑎̈𝑐𝘩𝑠𝑡𝑒𝑛 𝑆𝑎𝑚𝑠𝑡𝑎𝑔 𝑓𝑟𝑒𝑖𝑛𝑒𝘩𝑚𝑒𝑛?

𝐁𝐢𝐭𝐭𝐞𝐬𝐭 𝐝𝐮 𝐦𝐢𝐜𝐡 𝐮𝐦 𝐞𝐢𝐧 𝐃𝐚𝐭𝐞?

𝐼𝑐𝘩 𝑚𝑜̈𝑐𝘩𝑡𝑒 𝑑𝑖𝑒 𝐺𝑢𝑡𝑠𝑐𝘩𝑒𝑖𝑛𝑒 𝑚𝑖𝑡 𝑑𝑖𝑟 𝑒𝑖𝑛𝑙𝑜̈𝑠𝑒𝑛.

Es dauerte eine Weile bis Sam-jung ihm antwortete und Jae-song spürte abermals eine Welle der Enttäuschung.

𝐃𝐚𝐬 𝐦𝐮𝐬𝐬 𝐧𝐨𝐜𝐡 𝐞𝐢𝐧𝐞 𝐖𝐨𝐜𝐡𝐞 𝐰𝐚𝐫𝐭𝐞𝐧, 𝐭𝐮𝐭 𝐦𝐢𝐫 𝐥𝐞𝐢𝐝. 𝐈𝐜𝐡 𝐛𝐢𝐧 𝐳𝐮 𝐝𝐞𝐫 𝐙𝐞𝐢𝐭 𝐧𝐢𝐜𝐡𝐭 𝐢𝐧 𝐊𝐨𝐫𝐞𝐚.

𝐼𝑐𝘩 𝑣𝑒𝑟𝑠𝑡𝑒𝘩𝑒. 𝑃𝑎𝑠𝑠 𝑎𝑢𝑓 𝑑𝑖𝑐𝘩 𝑎𝑢𝑓, 𝑤𝑒𝑛𝑛 𝑑𝑢 𝐾𝑜𝑟𝑒𝑎 𝑣𝑒𝑟𝑙𝑎̈𝑠𝑠𝑡.

𝐈𝐜𝐡 𝐯𝐞𝐫𝐬𝐩𝐫𝐞𝐜𝐡𝐞, 𝐝𝐚𝐬𝐬 𝐢𝐜𝐡 𝐦𝐢𝐜𝐡 𝐦𝐞𝐥𝐝𝐞, 𝐬𝐨𝐛𝐚𝐥𝐝 𝐢𝐜𝐡 𝐰𝐢𝐞𝐝𝐞𝐫 𝐡𝐢𝐞𝐫 𝐛𝐢𝐧. 𝐃𝐚𝐧𝐧 𝐠𝐞𝐡𝐞𝐧 𝐰𝐢𝐫 𝐚𝐮𝐟 𝐞𝐢𝐧 𝐃𝐚𝐭𝐞. 𝐖𝐚𝐫𝐭𝐞𝐬𝐭 𝐝𝐮 𝐚𝐮𝐟 𝐦𝐢𝐜𝐡?

Jae-song blinzelte aufgrund der Intensität der Gefühle, die plötzlich über ihn einbrach und atemlos tippte er ein einfaches 𝐽𝑎 als Antwort, obwohl er dem Älteren gerne gesagt hätte, dass er warten würde, egal wie lange, solange es nur Sam-jung war, auf den er wartete.
 

„Jae-song-ah! Hier drüben! Kim Jae-song!“

Verlegen versteckte er sich im ausufernden Schal, als einige Blicke auf ihn gerichtet wurden und mit einem Zungenschnalzen trat er an den kleinen Tisch im Café, das A-Yun sich ausgesucht hatte. „Du brauchst nicht zu rufen, ich habe dich auch so gesehen“, bemerkte er vorwurfsvoll und seine Freundin lächelte breit, ehe sie ihm die Wange tätschelte. „Aber bei keinem macht es mir so viel Spaß, ihn in Verlegenheit zu bringen wie bei dir, mein Freund. Setz dich, setz dich. Was willst du trinken? Vanille Latte?“

„Lieber Tee…“

„In Ordnung. Ich darf eh keinen Kaffee trinken“, seufzte A-Yun und bestellte für sie beide grünen Tee mit Churros, ehe sie sich strahlend wie tausend Sonnen an ihren Freund wandte.

Es war schön zu sehen, wie glücklich sie war und dass die Schwangerschaft ihr gut tat. Anfangs hatte er sich große Sorgen um sie gemacht … aber scheinbar absolut unbegründet.

„Wie geht es Oma und Opa?“, erkundigte Jae-song sich, als die Kellnerin wieder ging und A-Yun geriet ins Plaudern über Dieses und Jenes. Sie erzählte ihm, dass Opa Sung-soo hin und wieder schwächelte, sie das aber vor ihrem Bruder geheim hielt und auch ihr Freund nichts davon wusste – dass Oma Mi-sook ihr ständig Seetangsuppe kochte und sie diese nicht mehr sehen konnte und dass ihr Bruder Ki-ho nächstes Jahr seinen Abschluss machen würde. „Ich hoffe, er kann zur Geburt da sein…“

Jae-songs Blick wurde weich und er griff nach A-Yuns Hand, um sie sanft zu drücken. Er wusste um das schwere Familienschicksal. Wie viele Gedanken sie sich als große Schwester machte und wie sehr sie damit zu kämpfen hatte, dass Ki-ho nun alleine im Internat war und sie ihn kaum noch sah. Ihre Fantasie ging immer wieder mit ihr durch und für einen kurzen Moment fühlte Jae-song sich schuldig, sie nicht öfter zu treffen und als hätte sie seine Gedanken erahnt, grinste sie ihn an. „Du wirst natürlich auch kommen! Immerhin brauche ich einen Doktor an meiner Seite!“ Zu gerne hätte er sie ernsthaft korrigiert – ich bin noch kein Doktor, du hast Doktoren an deiner Seite, was soll ich denn zwischen deiner Familie tun und bei einer Geburt bin ich nun wirklich keine Hilfe – aber stattdessen nickte er nur und strich ihr noch einmal über den Handrücken. Die Dankbarkeit der Freundin war greifbar und wärmte sein Herz.

„Eigentlich wollte ich Park Chaewon darum bitten, mich während der Schwangerschaft zu begleiten, aber er ist wohl eher in der Forschung tätig. Das wusste ich bis dahin nicht, ich dachte immer, Heiler ist Heiler. Was wirst du tun, wenn du mit dem Studium fertig bist? Gehst du auch in die Forschung? Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie ein schüchterner Junge wie du mit Patienten umgeht…Was treibst du sonst so?“

A-Yun war eine überwältigende Persönlichkeit für den zurückgezogenen Jae-song und obwohl sie wusste, dass ihre vielen Fragen ihn überfordern würden, fragte sie trotzdem – nicht aus Böswillen oder um ihn zu ärgern, sondern damit er sich aussuchen konnte, wie viel er teilen wollte und auf welche Frage er eingehen wollte. Das wusste Jae-song und schmunzelte trotz der Verlegenheit, die in ihm hochkam. „Ich werde Arzt, kein Forscher, Yunna.“

„Hm, in Ordnung, ich habe davon eh keine Ahnung. Aber bist du dir sicher?“

„Ja.“

A-Yun lächelte und tätschelte seine Hand, ehe sie ihm einen weiteren Churro in den Mund schob, breit lächelnd. „Wenn Oma Mi herausfindet, dass ich frittierten Süßkram esse, darf ich mir wieder eine Predigt darüber anhören, ob ich will, dass mein Kind fett wird. Oder wie ein frittiertes Gebäck aussehen wird. Jaejae-ah…“ Nur sie nannte ihn so, weshalb er sofort lächeln musste. „…du strahlst.“

Irritiert blinzelte Jae-song und legte den Kopf fragend schief.

„Hm. Ich bin mir sicher: du strahlst. Bist du verliebt?“
 

Sofort spürte Jae-song die bekannte Wärme auf seinen Wangen und A-Yun schrie begeistert auf, sich nicht um die Blicke auf ihnen scherend und ihnen beide Sahnetorte bestellend – zur Feier des Tages, aber dabei war sich Jae-song sicher, dass sie einfach nur ihren Schwangerschaftscravings nachging. Und da sie nicht lockerließ, begann Jae-song zögerlich die Geschichte über ihn und den seltenen Gast zu erzählen und während er sprach, brannte alles in und an ihm. Es war ihm dermaßen peinlich darüber zu berichten, wie verliebt er in einen noch immer seltsam fremden und dennoch vertrauten Mann war und noch dazu, wie A-Yun ihn voller Begeisterung immer wieder dazu animierte, weiter zu sprechen. Ihre aufrichtige Anteilnahme an der Begegnung ließ sein Herz weich werden und abermals rief er sich in Erinnerung, wie froh er sein konnte, so eine gute Freundin zu haben – aber auch, wie unwahrscheinlich seine Geschichte sich anhörte. Wie fantastisch und romantisch ihre Begegnungen waren – und wie ungewöhnlich Sam-jung war.

„Wie alt ist er?“

Schweigen.

„Ooookay … und als was arbeitet er?“

Schweigen.

„Jaejae-ah… Du weißt weder sein Alter noch als was er arbeitet?“

„Ich weiß, dass er vermutlich ungefähr drei Jahre älter als ich ist und dass er viel arbeitet, sogar heute. Manches Mal mache ich mir Sorgen um ihn…“

„Ja, ja, ja, ich habe es verstanden: du bist verliebt. Aber du kannst dich doch nicht mit einem Mann treffen, von dem du gar nichts weißt! Er könnte sonst wer sein!“

„Ich weiß das, was ich wissen muss.“

„Huch. Waren das Wiederworte?“

„Hmn.“ Jae-song zögerte einen Moment, doch was an Verlegenheit daggewesen war, wurde seltsam nicht bei dem Gedanken, seine Beziehung zu Sam-jung und den wundersamen Mann an sich zu verteidigen.

„Yunna, ich habe mich nie in dein Liebesleben eingemischt, obwohl du weißt, dass ich kein Fan von deinem Freund bin und mir Sorgen um dich mache. Also bitte … tu das auch für mich, in Ordnung? Ich möchte, dass du ihn irgendwann kennenlernst.“

„Huh! Mein bester Freund ist verliebt … und gibt mit Wiederworte … und will mich seinem Liebsten vorstellen! Wie ernst ist es? Wann seht ihr euch wieder?“

„Ah. Hm. Er ist gerade im Ausland…“

„Woah. Jaejae-ah… Im Ausland? Dann ist er wohl sehr erfolgreich, huh?“

„Ich denke, ja.“

„Also? Wann kommt er zurück? Wann seht ihr euch?“

Schweigen.

„Kim Jae-song … Ich akzeptiere, dass du nicht wissen willst, wie alt er ist und als was er arbeitet, auch wenn ich das noch immer nicht gutheiße. Aber du bist verliebt und das, was du mir bisher erzählt hast, könnte aus einem Drama stammen. Aber damit es ein Happy Ending wird, musst du ihn jetzt anrufen.“

„Was? Wieso?“

„Na … du liebe Güte. Du weißt wirklich nicht, wann er zurückkommt?“

„Nein. Er wird sich melden.“

„Du rufst ihn jetzt an.“

„Aber ich weiß doch gar nicht, in welcher Zeitzone er gerade…-“

„Genau das ist das Problem! Wo ist er? Mit wem? Wieso? Kim Jae-song, ich sage es dir nur ein einziges Mal, weil du mich darum gebeten hast, mich rauszuhalten: du musst ihn anrufen, um ihm zu zeigen, dass er dir wichtig ist. Woher soll er wissen, was du denkst und fühlst, wenn du es ihm nicht deutlich machst? Nicht jeder ist so gut darin dich zu lesen wie ich, weißt du das? Und was ist wenn er beschließt, dass es das Warten nicht wert ist, weil du zu passiv warst? Ich weiß, dass du der beste Mensch von allen bist, Jaejae-ah, aber das muss er auch verstehen. Er darf nicht eine Sekunde daran denken, dass es jemand anderen für ihn geben könnte, verstehst du? Und er darf auch nicht daran denken, dass es für dich jemand anderen geben könnte, wenn du willst, dass es etwas Ernstes wird und immerhin willst du ihn mir vorstellen!“

Jae-song war vollkommen überfordert mit der Intensität, mit welcher A-Yun auf ihn einredete und sah wie paralysiert dabei zu, wie sie sein Handy vom Tisch nahm, es entsperrte – natürlich kannte sie seinen Code – und auf den Namen von Sam-jung drückte.

„Nur noch den Hörer drücken. Wenn du es nicht tust, tue ich es.“

Hektisch griff er nach seinem Handy und riss es seiner Freundin beinahe aus der Hand, im gleichen Atemzug aufstehend und auf die Tür deutend. „Nicht .. hier.“ A-Yun schmunzelte über seine Zurschaustellung von Verlegenheit und hob die Hand zum Abschied, ehe sie sich wie eine ausgehungerte Wildkatze auf die Sahnetorte stürzte.
 

Das Tuten der Leitung war ohrenbetäubend und Jae-song war mehr als einmal kurz davor, aufzulegen. Jedes weitere Tuten war ein Beleg dafür, dass seine Freundin unrecht hatte; und dass Sam-jung vermutlich schlief oder arbeitete. Das nagende Gefühl zu stören … und gleichzeitig die Sorge darüber, dass es Sam-jung nicht gut gehen könnte … Ungeduld und Unruhe wechselten sich im flotten Herzschlagtakt mit Unsicherheit und Verlegenheit ab und als es knackte und ein leises „hmn? Jah?“ erklang, setzte sein Herzschlag aus.

Er hatte ihn geweckt.

„Hyung… tut mir so leid!“, sprudelte es energischer aus dem Studenten hervor, als er selbst gedacht hatte und er hörte es rascheln und knacken und schließlich die Überraschung in der Stimmfarbe des Älteren als er antwortete. „Es … tut dir leid? Hmn? Oh. Jae-song?!“ Urplötzlich schien der Mann am anderen Ende der Welt hellwach und wo zuvor Schlaf und leise Verärgerung seine Stimme kratzig hatten werden lassen, überschlug sie sich nun beinahe. „Jae-song! Du rufst an!“

„J-ja … scheint so …“ Auch wenn er noch immer nicht wusste warum eigentlich und was er überhaupt mit Sam-jung reden sollte und wieso er sich von seiner Freundin dazu hatte überreden lassen und wie er nur darauf kam Sam-jung jetzt zu stören, dabei musste er so unendlich müde sein von der ganzen Arbeit und-

„Ich freue mich so, deine Stimme zu hören.“

-das alles war egal. Jae-song starrte auf die vorbeigehenden Leute, nahm das erste Mal wahr, dass er sich vor dem Café auf einem belebten Bürgersteig befand und schnappte hörbar nach Luft. Er … freute sich, seine Stimme zu hören? Erging es ihm genauso? Vermisste er ihn genauso? Sein Herz wollte überquellen vor … ja, was genau? Jae-song starrte auf den Asphalt und tausende Gedanken stoben durcheinander in einem einzigen Chaos durch seinen Kopf, zersprangen an imaginären Wänden, lösten Wirbelstürme in seinem Brustkorb aus und pressten schließlich seinen Magen zusammen. Satzanfänge lagen ihm auf der Zungenspitze, doch verließen nie seine Lippen – und beenden konnte er schon gar nichts. Stattdessen signalisierte ihm sein Körper in einem einzigen heftigen Ansturm, dass er Sam-jung vermisste.

„Ich vermisse dich.“

Und da war es gesagt. Schamhaft folgte ein leises Geräusch, das er selbst nicht zuordnen konnte, seinen Worten und die Atem- und Wortlosigkeit am anderen Ende ließ ihn das schlimmste befürchten. War er zu forsch gewesen? Was dachte Sam-jung jetzt? Jae-song klammerte sich an sein Handy als hinge sein Leben davon ab und es wäre so viel einfacher, wenn er ihn jetzt sehen könnte … wenn die goldgesprenkelten Augen ihm Signale senden könnten … wenn ein warmes Lächeln, eine verirrte Hand oder auch nur die Aura des Älteren süße Versprechungen wahrwerden lassen würden.

„Ich vermisse dich auch, Jae-song. Ich komme morgen wieder. Bist du frei? Ich will dich sehen. Am liebsten sofort.“

Das Drängen in der Honigstimme trieb Jae-song die Schamesröte ins Gesicht und er konnte nichts gegen das breite Lächeln tun, als er ohne zu zögern und ohne auch nur nachzudenken sofort zustimmte.

„Wo kommst du an?“

„Ich komme ins Choi-ce, in Ordnung? Du arbeitest doch morgen Abend, oder?“

„J-ja! Bitte … bitte komm. Ich will dich unbedingt sehen…“

„Am liebsten würde ich meine Termine absagen und sofort zu dir kommen. Aber wir müssen uns bis morgen Abend gedulden. Danke, Jae-song. Danke, dass du angerufen hast. Ich kann nur erahnen, wie viel Überwindung dich das gekostet haben muss. Lass uns jetzt öfter telefonieren, in Ordnung? Viel öfter. Ich will deine Stimme hören, wenn ich einschlafe.“

Er konnte nicht antworten. Es war zu viel – zu viel Wärme, zu viel Aufmerksamkeit, zu viel Liebe. Und während Jae-song noch vollkommen gefangen im Wirbelsturm der Gefühle war und keinen Ausweg aus dem immergleichen Rund fand, wisperte Sam-jung: „Kannst du noch ein wenig reden, damit ich wieder einschlafen kann? Es ist vollkommen egal über was, aber mein Herz schlägt jetzt so schnell … ich kann unmöglich ohne deine Hilfe einschlafen.“

Das Ausbrechen aus Komfortzonen ging in die nächste Runde.

Jae-song sprach von A-Yun, mit der er gerade Sahnetorte aß und er erzählte Sam-jung von ihrer Schwangerschaft. Davon, dass seine Freundin glücklich in ihrer Beziehung war und dass sie einen kleinen Bruder hatte. Davon, dass in dem kleinen Café der Tee besser schmeckte als der Kaffee und dass er ihn irgendwann einmal hierher ausführen wollte. Jae-song sprach so viel wie schon lange nicht mehr, in langsamen wohlmeinenden Sätzen, die dazu gedacht waren, Sam-jung sanft in den Schlaf übergleiten zu lassen. Und als ein leises Schnarchen ertönte, legte Jae-song auf – er fühlte sich mindestens fünf Kilo leichter, lief auf Wolken und konnte kaum fassen, was genau er da gerade getan hatte und wie unheimlich gut er sich fühlte.

Er liebte ihn. Daran bestand überhaupt kein Zweifel mehr.

Der morgige Abend konnte gar nicht schnell genug kommen!

Joonie I - Die Straßenkatze


 

𝗦𝗲𝗲𝗸 𝗣𝗲𝗮𝗰𝗲 𝗯𝘂𝘁 𝗯𝗲 𝗿𝗲𝗮𝗱𝘆 𝘁𝗼 𝗴𝗼 𝘁𝗼 𝘄𝗮𝗿.
 

Cheon-joon schlug die Augen auf und schaute blicklos gegen die Decke. Unter ihm war noch alles ruhig und das Zimmer, das er sich mit vier anderen Jungs teilte, lag noch in kompletter Dunkelheit. Er öffnete seine Hand, die seit Stunden bereits ein heimliches Leuchten in ihrem Inneren verbarg und schützte auch jetzt das Licht durch die dünne Bettdecke.

Plötzlich tauchte ein Kopf an seinem Bettende auf und hektisch zog er sich die Decke bis ans Kinn. Hatte er etwas gesehen? Cheon-joon bemerkte, wie sein Herz hektisch zu schlagen begann und unmöglich konnte Dal die Panik in seinem Blick verborgen bleiben. Doch die großen dunklen Augen funkelten nur schelmisch und Zahnlücken wurden vom breiten Grinsen präsentiert.

„Komm, lahme Schnecke!“, zischte Dal ihm zu und Cheon-joon ballte die Hand eng um das Licht in ihr, pellte sich aus der Decke und sprang dem Älteren hinterher, der ihnen beiden bereits einen Fluchtweg durch das Chaos der angeblichen Familie gebahnt hatte. Wie lange war er wohl wach gewesen, um ihnen die Flucht zu ermöglichen? Cheon-joon spürte wie sich Aufregung und Erleichterung zu einem gefährlichen Mix in seiner Brust verwandelten und er wollte lauthals lachen – etwas, das er noch nie getan hatte. Und ein Gefühl, von dem er nicht einmal gewusst hatte, dass er es verspüren konnte.
 

Im Waisenhaus hatte er nie gelächelt. Nicht gelacht. Und erst recht mit niemandem gesprochen. Weder mit den Nonnen, die sich halbherzig um sie gekümmert hatten, noch mit den jüngeren oder älteren Jungen, die mal mehr, mal weniger verwahrlost gewesen waren als er selbst. Er hatte es dort gehasst und gewusst, dass er zu anderem berufen war. Die Notwendigkeit, sich mitzuteilen und in einem Drecksloch Kontakte zu knüpfen, hatte schlicht und ergreifend nicht bestanden – auch wenn weder der damals dreijährige noch der jetzt siebenjährige Cheon-joon das so benennen könnten. Aber ihm war schon immer bewusst gewesen, dass er nicht dorthin gehörte.

Als er dann an einem der vielen Tage, an denen er unbemerkt aus dem Waisenhaus geflohen war, Dal über den Weg gelaufen war, hatte er seine Chance gewittert und sich an den Älteren gehängt, der eine gewisse Faszination für ihn übrig gehabt zu haben schien. Dal fand in Joonie einen Seelenverwandten – einen wahren Bruder – jemanden, der ihm über den Tod hinaus loyal sein würde und das seltene Bedürfnis, ihm das gleichzutun, erstarkte in dem sonst so egomanischen Jungen.
 

Sie waren von Beginn an ein seltsames Duo gewesen – Dal war laut und schelmisch und immer das Zentrum aller Schwierigkeiten. Auch wenn er nur drei Jahre älter als Cheon-joon war, so wirkte er doch wesentlich älter – immer mit neuen Blessuren und blauen Flecken, einem gebrochenen Arm oder einer Schramme über dem Auge war er als Rabauke in der Nachbarschaft bekannt. Dal war schon in den jungen Jahren jemand, mit dem man sich nicht anlegte, wenn man wusste, was gut für einen war. Und dennoch war er bei vielen ziemlich beliebt – bei jenen, die ihre Lektion gelernt hatten oder sich von Anfang an nicht mit ihm angelegt hatten. Dal polarisierte und er baute sich schon zu der Zeit eine treue Anhängerschar auf.

Cheon-joon hingegen war ruhig und beobachtend, lauernd beinahe. Dank der dürren Statur war er unheimlich zäh und agil und bei Schlägereien, in welche die beiden von Anfang an regelmäßig verwickelt waren, konnte er sich trotz des Fliegengewichts immer behaupten. Er hatte den Biss einer Straßenkatze und verteidigte Dal und sich selbst mit allem, was er hatte – wortlos, zumeist. Nur sein Bruder bekam das seltene Lächeln zu Gesicht – nur Dal bemerkte das Funkeln in den tiefen Augen – nur Dal sollte für lange Jahre die Zuneigung und Zärtlichkeit des Waisenjungen zuteilwerden.
 

Die neuen Eltern … nun ja … Cheon-joon machte sich schon lange keine Illusionen mehr, was seine sogenannten Eltern betraf. Die Mutter war übergriffig – auf mehr als eine Art – und der Vater ein ruchloser Säufer. Sie strichen die Gelder für die vielen Kinder ein, ließen sie auf dem Bauernhof schuften und sorgten mit gezieltem Misstrauen und Strafen dafür, dass die Kinder in Konkurrenz zueinander um die wenige Zuneigung der Eltern standen und sich nicht gegen ihre Eltern verbündeten. Cheon-joon lag auch nichts an seinen vielen Geschwistern und er war clever genug, um seinen Eltern vorzuspielen, dass ihm auch nichts an Dal lag.

Als sie Dal den linken Arm brachen und er zuschaute, zuckte er nicht einmal mit der Wimper. Er hatte bemerkt, wie einer der Jüngeren sich neben ihm eingepisst hatte und eines der Mädchen hinter ihm hatte angefangen laut zu flennen, aber seine Augen hatten einzig und allein in denen Dals gelegen. Er hatte dem tränenreichen Blick standgehalten und ihn festgehalten, hatte keinen Muskel verzogen und blutige Rache geschworen. Sie würden ihm nicht noch einmal weh tun. Dass es ein bisher noch unerfülltes leeres Versprechen war, war ihnen beiden klar – Dal grinste ihm trotz der unerträglichen Schmerzen zu, als ihr Vater den Bruch wieder richtete, nur, um den Arm ein zweites Mal zu brechen. Sie würden ihm – verdammt noch mal – nicht noch einmal weh tun!
 

Und heute taten sie den ersten Schritt in dieses Versprechen.

Cheon-joon öffnete die gleißende Hand und Dal sog die Luft scharf ein, ehe sie der Lichtkugel dabei zusahen, wie sie das gesamte Wohnzimmer in gleißendes Licht hüllte und Stimmen im gesamten Haus wurden lauter und lauter und Dal schnappte Cheon-joons Arm und während im gesamten Haus der Tumult losbrach, schlüpften sie unbemerkt hinaus, die kleinen Rücken beladen mit zwei Rucksäcken und bereit, dem Drecksloch den Rücken zu kehren.

Sie waren so jung und unbedarft, trotz der harten Zeit auf dem Hof. Sie hatten tatsächlich geglaubt, mit ein paar Klamotten und ein bisschen eingepacktem Kimchi und Schokobrötchen würden sie bis ans Ende der Welt reisen können.

Schlussendlich sammelte ihr Vater sie auf, steckte sie beide in den Keller und dort blieben sie für zwei lange Wochen, ernährten sich nur von den Essensresten, die andere ihnen in ihr feuchtes Domizil warfen und der Exkremente Geruch wurde nach vier Tagen schon so schlimm, dass sie sich daran gewöhnten. Ein Vorgeschmack auf das, was folgen würde…? Wahrscheinlich.

Aber durch was auch immer ihr Vater versuchte sie zu brechen – solange sie einander hatten, war die Tortour erträglich.
 

𝑻𝒉𝒆𝒚 𝒑𝒐𝒊𝒏𝒕 𝒇𝒊𝒏𝒈𝒆𝒓𝒔 𝒂𝒕 𝒎𝒆, 𝒃𝒖𝒕 𝑰 𝒅𝒐𝒏'𝒕 𝒄𝒂𝒓𝒆 𝒂𝒕 𝒂𝒍𝒍

𝑰 𝒏𝒆𝒗𝒆𝒓 𝒈𝒐𝒏' 𝒄𝒉𝒂𝒏𝒈𝒆 (𝑰 𝒏𝒆𝒗𝒆𝒓 𝒈𝒐𝒏' 𝒄𝒉𝒂𝒏𝒈𝒆)
 

Cheon-joon versuchte es. Er versuchte es wirklich.

Die Zaubererautoritäten sammelten ihn ein und steckten ihn in dieses Internat voller Wichtigtuer und reicher Arschlöcher und pikfeiner Idioten. Keiner konnte verstehen, warum der ruhige Achtjährige stumm blieb und warum er mit explosiver Wut auf Konfrontationskurs ging. Die Lehrer gaben ihr Möglichstes und vielleicht war es einigen von ihnen zu verdanken, dass Cheon-joon so etwas wie eine Zukunft hatte.

Er durfte – trotz täglicher Ausschreitungen, trotz Einzelzimmer, da er ein asoziales Arschloch war und ein Jahr zu spät gefunden worden war, trotz fehlender Lesefähigkeiten und trotz beschissener Noten – bleiben.

Und Stück für Stück gewöhnte Cheon-joon sich an das Leben auf dem Internat, lernte lesen und schreiben und dass lernen nicht immer etwas Schlechtes war. Freunde fand er anfangs keine, was aber auch nicht seine Priorität war. Viele seiner Mitschüler machten über den stummen Jungen einen gigantischen Bogen und sprachen hinter seinem Rücken über ihn. Doch er fand so etwas wie Anhänger – Mitläufer, die zu schwach waren, für sich einzustehen und beim stummen Außenseiter Schutz suchten, wenn Ältere sie drangsalierten. Und Cheon-joon entwickelte einen Gerechtigkeitssinn, der seine Zeit in der verfluchten Schule um gute sieben Jahre verkürzte.

Denn während die Lehrer glaubten, die Straßenkatze langsam aber sicher an das normale Leben gewöhnen zu können und die Jüngeren in seinem Dunstkreis beinahe wie Freunde wirken mochten, fand Cheon-joon bei jenen, die seine Freunde drangsalierten, keinen Anhang.

Stattdessen verlor er die Kontrolle – zumindest wirkte es so – als ein Vierzehnjähriger einen seiner Freunde in den noch kalten Fluss warf, obwohl er wusste, dass er nicht schwimmen konnte.

Cheon-joon selbst auch nicht.

Die Panik, die ihn hatte blind werden lassen, hatte zur Schädelfraktur des Älteren und einem Schulverweis geführt.

Sein Freund hatte knapp überlebt, doch danach hörte er nie wieder etwas von ihm. Cheon-joon hatte auch nicht eingegriffen, weil er jemanden wollte, der ihm etwas schuldig war – derart hinterlistig handelte er nicht und obwohl er in einem derart übergriffigen Elternhaus aufgewachsen war, entwickelte er starke moralische Werte. Helfen um des Helfen willen; weil es verdammt noch mal das Richtige war, Schwäche zu schützen und sie nicht zu attackieren, auszunutzen oder zu misshandeln. Nicht, dass Cheon-joon diese moralische Vorstellung generell auf alle Lebewesen auszuweiten wusste; mit zwölf konnte er noch nicht einmal genau benennen, wieso er derart ausgerastet war. Aber die Schulleitung schob dem Projekt Straßenkatze einen Riegel vor – und Cheon-joon fand sich dort wieder, wohin er niemals zurückkehren wollte: dem missratenen Elternhaus.

Zwei Stunden dauerte es, bis er einen Weg gefunden hatte durch die Sicherheitsmaßnahmen des Hofs zu fliehen und als er über die weiten Felder und über den Zaun sprang, schreckte er zusammen, als er ein Hupen hörte. Hatte ihn Vater bereits gefunden?

„Lahme Schnecke!“

Ein Grinsen formte sich auf Cheon-joons Zügen und sofort rannte er zum alten Auto, das von Dal gefahren wurde. Der große Bruder klopfte auf den Beifahrersitz und Cheon-joon stellte keine Fragen – woher kam das Auto, wieso wusste er damit zu fahren, wie war er hierhergekommen, wieso wusste er überhaupt dass er wieder da war und wie hatte er gewusst wo genau er ihn abholen musste – sondern akzeptierte die Rettung durch Dal als das, was es nun einmal war: Schicksal.

„Hast du noch deinen Zauberstab?“

„Nein. Sie haben ihn zerbrochen.“

„Bastarde. Hätten ihn sicher eintauschen können“, grinste Dal und Cheon-joon schaute zu ihm, gemischte Gefühle aufgrund der Aussage in sich aufsteigend. In den Ferien war er immer bei Dal untergekommen, irgendwo zwischen Hochhäusern, Dreck und fremden Männern – aber alles war besser als der Hof gewesen und Cheon-joon war stolz auf den großen Bruder gewesen, der sich allein durchschlug. Während er selbst wenigstens ein Dach über dem Kopf und unendliche Verpflegung gehabt hatte, hatte Dal sich mit Nichts durschlagen müssen … und obwohl erst zwölf wusste Joonie ganz genau was mit Kindern geschah, die Nichts hatten.

Schuld kratzte in ihm – Wut wechselte sich mit ihr ab – und schließlich beschloss er, nichts davon zu sagen. Weder, dass er sich schuldig fühlte ihn alleingelassen zu haben und ein einfaches Leben genossen zu haben, noch dass er wütend auf den Hof, die Schule, die ganzen miesen Ficker war, die ihnen das Leben zur Hölle machten.

Stattdessen beschloss er ab jetzt auf Dal aufzupassen.
 

𝑪𝒂𝒏'𝒕 𝒂𝒇𝒇𝒐𝒓𝒅 𝒕𝒐 𝒃𝒆 𝒄𝒐𝒏𝒇𝒖𝒔𝒆𝒅

𝑰 𝒅𝒐 𝒎𝒚 𝒕𝒉𝒂𝒏𝒈 (𝑰 𝒅𝒐 𝒎𝒚 𝒕𝒉𝒂𝒏𝒈), 𝑰 𝒍𝒐𝒗𝒆 𝒎𝒚𝒔𝒆𝒍𝒇 (𝑰 𝒍𝒐𝒗𝒆 𝒎𝒚𝒔𝒆𝒍𝒇)
 

„Eomma!“

„Hosook-ah? Bist du es?“

„Eomma, ich bringe meinen Bruder mit. Ist das in Ordnung für dich?“

Cheon-joon hielt in der Bewegung inne. So viele Dinge gleichzeitig irritierten ihn, dass er langsam zum Älteren herüberschaute. Die weiche Stimme – Eomma – und der Name, mit Dal angesprochen wurde, die Art und Weise wie Dal sich in der kleinen Wohnung wie zu Hause benahm – das Gefühl zu stören – ist das in Ordnung für dich? – und die schleichende Angst vor einem ‚Nein‘ als Antwort.

„Dummer Junge. Wo warst du nur wieder den ganzen Tag? Eomma macht sich Sorgen um ihren Jungen. Komm rein, komm rein. Ist das Hoyoung? Aigo, so jung…“

Mit großen Augen sah Cheon-joon eine alte Frau auf sich zukommen; älter als seine Mutter auf dem Hof, aber nicht so alt wie die Nonnen im Waisenhaus, aber mit einem Lächeln, das ihm schlecht wurde. Er wich vor den ausgestreckten Händen zurück und zur Tür, die Hand bereits auf der Klinke.

„Oh“, entwich es der Oma und Dal schnalzte genervt mit der Zunge.

„Sei nicht so ein Feigling und komm rein. Sie ist eine alte Frau, was soll sie dir schon groß tun, eh? Weichei.“

„Sprich nicht so über deinen Bruder, Hosook!“, tadelte die Oma Dal und mit wachsender Verwirrung beobachtete Cheon-joon, wie Dal den Tadel zuließ und sogar … hm … traurig aussah? Cheon-joon konnte die Regung, die über die Züge des Älteren huschte, nicht deuten und unsicher blitzte er zur alten Frau, die aufgegeben hatte ihn anzufassen und stattdessen hektisch mit den Händen winkte, um ihn endlich aus dem Hausflur in die heruntergekommene Wohnung zu locken. Als er sich noch immer nicht bewegte, schnappte Dal ihn im Nacken und zerrte ihn in die Wohnküche, die erfüllt vom Geruch von scharfem Essen war.

„Eomma kümmert sich um uns“, zischte Dal ihm hinter vorgehaltener Hand zu, „solange ich ihr nur die Zutaten bringe. Sie fragt nicht nach, woher ich die Kröten habe und freut sich, n Enkel zu haben, also verhalt dich nicht wie n beschissenes Weichei und zeig n bisschen Respekt.“

Cheon-joon starrte Dal an, als sei er ein vollkommen anderer Mensch und irgendwie stimmte das auch.

Nie hatte sein großer Bruder ihm gesagt er solle Respekt vor jemandem haben und nie hatte er auch nur einen Deut auf die Gefühle anderer gegeben. Wahrscheinlich war es nur der Tatsache geschuldet, dass Eomma ihm Essen und Unterschlupf gab, aber selbst mit dieser Ausrede kam ihm Dal noch immer seltsam fremd vor.

Trotzdem nickte er und konnte sich kaum erklären, warum er glücklich war.
 

Die Tür war aufgebrochen.

Cheon-joon hielt Dal an der Schulter zurück und ging vor – nicht, weil das die klügere Wahl gewesen wäre, sondern weil Dal weinte und nicht in der Verfassung war, sie zu verteidigen.

Vorsichtig schlich Cheon-joon durch die zersplitterte Inneneinrichtung und fand die Angst bestätigt: Eomma lag in ihrem eigenen Blut zwischen dem zerschlagenen Esstisch und den letzten Resten des Essens, das sie für sie vorbereitet hatte. Sie atmete nicht. Sie rührte sich nicht. Dal hinter ihm heulte auf und rannte durch das Zimmer auf die Tote zu, schüttelte sie und kümmerte sich nicht um die Beweise, die er überall zurückließ. Ihn so zu sehen ließ Cheon-joon wissen, dass er die alte Frau wirklich gemocht hatte und dass er sich schuldig fühlte, sie in ihren Kampf hineingezogen zu haben.
 

In den letzten Wochen hatten sie sich immer öfter mit einer Gruppe an Jungs angelegt. Dal hatte schon länger einige andere um sich gescharrt und sie klauten Autos, brachen in verlassene Häuser ein oder überfielen wehrlose Passanten für ein bisschen Kleingeld in einer Welt aus Kreditkarten. Aber vor einigen Tagen hatten sie sich den Falschen ausgesucht; er war Mitglied einer der bekannteren Straßengangs der Umgebung und hatte blutige Rache geschworen.

Cheon-joon konnte nicht verstehen, warum er nicht einfach Dal oder ihn umgelegt hatte … warum eine alte Frau hatte sterben müssen, die nichts mit ihrer Fehde zu tun gehabt hatte.

„Dal. Wir müssen gehen.“

Dal sprang auf und Hände voller Blut krallten sich in Cheon-joons Kragen. Die drei Jahre Altersunterschied wurden sichtbar – Dal war groß und schaute auf ihn herab mit einer Mordlust in den Augen, die Cheon-joon schaudern ließ. Aber er hielt dem Blick stand – vertraute seinem älteren Bruder blind – und verstand ja auch, warum er so wütend war. Und wenn es ihm helfen würde, ihm eine reinzuwürgen, wieso dann auch nicht? Er hielt das aus.

Aber stattdessen verharrten sie eine Weile in dieser Position, ehe Dal ihn von sich stieß. Joonie stolperte über die kaputten Möbelstücke, riss sich die Handballen auf und sog die Luft schmerzerfüllt ein; aber er sagte nichts, als Dal damit fortfuhr, die Wohnung abzusuchen. Er hinterließ überall Fingerabdrücke und seine Fußspuren im Blut, aber darum würde Cheon-joon sich gleich kümmern. Dal sammelte die wenigen Wertsachen ein, die ihr Feind übriggelassen hatte und nahm noch ein Foto vom im Krieg verstorbenen Sohn Eommas mit, ehe er wortlos an seinem Bruder vorbeiging und blutig wie er war die Wohnung verließ.

Cheon-joon atmete tief durch; das innere Zittern musste er jetzt ignorieren.

Er war Dreizehn und es war Zeit, erwachsen zu werden.

Mit erschreckender Ruhe eliminierte er die Hinweise auf seine und Dals Existenz, die er finden konnte und versuchte, ihr Eindringen in das Leben der Oma auszulöschen. Es war auch für ihn ein schmerzhafter Prozess; er hatte sich in dem Jahr, das sie bei ihr gewohnt hatten, an die Alte gewöhnt und tatsächlich warme Gefühle für sie entwickelt. Er fühlte sich schuldig, dass er ihr nie Dankbarkeit oder gar Zuneigung gezeigt hatte und jetzt war es zu spät.

Stirnrunzelnd schaute er auf die Tote. So viel Blut … so viel unnötige Gewalt … Es hätte seine Leiche sein sollen, nicht die der Oma. Oder die von Dal oder einem Mitglied ihrer Gang.

Stattdessen hatten sie eine Unschuldige Oma auf dem Gewissen und der Gedanke schnürte ihm die Brust zu.

„… Tut mir leid, Eomma.“

Entschlossen, dass nie wieder ein Unschuldiger für ihn würde sterben müssen, verließ er die Wohnung.
 

tbc

Noori IV - Das erste Treffen

Ein Schmerzensschrei durchschnitt die lebhafte Atmosphäre des Trainingscamps und Nooris Kopf ruckte herum zur Quelle der Agonie. Unterbewusst hatte er sich sofort in die Richtung gewandt und war ein paar Schritte gegangen, seinen Teamkameraden vergessend, mit dem er gerade noch gesprochen hatte.

Ihr Trainer scheuchte soeben einige der Schüler fort und Noori folgte ihm auf dem Fuß. Auf dem Boden hockte einer der Jägeranwärter – sein Gesicht kam ihm bekannt vor, aber in dem Moment war Nooris Aufmerksamkeit viel eher auf den verdrehten Fuß gelegt. Schmerzerfüllt verzog er das Gesicht; als jemand, der flog seitdem er laufen konnte, hatte er schon einige kleinere Unfälle hinter sich, aber war nie schlimm verletzt gewesen. Er konnte sich also kaum vorstellen, wie verdammt weh das tun musste.

Einige seiner Freunde hatten sich um sie gescharrt und der Trainer winkte Noori heran. „Kapitän!“ – „Ja!“ – „Geh mir zur Hand.“ – „Ja.“ Mechanisch ging Noori in die Hocke und versuchte das flaue Gefühl im Magen zu ignorieren. Nervosität breitete sich unbekannt in ihm aus. Vor einigen Reportern über die letzten Entwicklungen im Familiengeschäft zu sprechen, bereitete ihm bei weitem nicht so viel Sorge, wie die Tränen auf den hohen Wangen des Jungen vor sich. Okay, er musste ruhig bleiben. Umsichtig legte er eine Hand auf die schmale Schulter und zuckte sichtbar zusammen, als der Junge sie wegschlug. Scheinbar war der Verletzte genauso erschrocken über die eigene Reaktion, da flüchtiger Wortsalat seine Lippen verließ und er den Blickkontakt mied. Hörte Noori Japanisch heraus? „Schon in Ordnung. Ich bin hier, um zu helfen“, flüsterte Noori dem Gleichaltrigen zu und suchte nach Blickkontakt und nach einer gefühlten Ewigkeit blitzten schimmernde große Augen zu ihm auf. Frustration spiegelte sich so deutlich in ihnen, dass Noori darüber schmunzeln musste; das waren keine Schmerzenstränen gewesen … und der Junge wollte sich auch nicht per se nicht helfen lassen … Er musste sich nur so dumm vorkommen, sich ausgerechnet jetzt zu verletzten. Sich bei einem der letzten Auswahlcamps bevor sie offiziell in das nächste Schuljahr starten würden zu verletzen, bedeutete das Aus – der junge Japaner würde es wahrscheinlich nicht in die Mannschaft schaffen. Und an der Art und Weise wie er Noori anschaute erkannte er sofort, wie hart er für genau diesen Moment gearbeitet hatte.

Ihr Trainer zog den Jungen auf die Füße, legte sich den Arm um die Schultern, und bedeutete Noori es auf der anderen Seite genauso zu tun. Er mischte sich nicht ein, tat wie geheißen und hörte stumm zu, wie der Trainer auf den Japaner einredete. Verstand er überhaupt, was der strenge Mann von ihm wollte? Hatte er dafür jetzt einen Kopf? Noori an seiner Stelle würde nicht hören wollen, welchen Fehler er gemacht hatte – das wusste er selbst gut genug – sondern wie er schnellstmöglich wieder auf den Besen zurückkam.

„Coach-nim?“, wagte Noori einen leisen Vorstoß zwischen zwei Atempausen des Trainers und spürte den Blick des Erwachsenen auf sich brennen. Mit einem zuversichtlichen Lächeln begegnete er dem Blick ganz so, als seien sie schon seit ewigen Zeiten per Du und nickte auf den Jungen neben sich, der den Kopf hängengelassen hatte und wie ein nasser Sack Kartoffeln zwischen ihnen hing. „Ich übernehme. Die anderen warten sicherlich schon auf dich, aber auf mich können sie ein paar Minuten verzichten. Ist das in Ordnung?“ Der Trainer schnaubte und ließ den Verletzten ruckartig los – Noori keuchte erschrocken und versuchte, den Japaner zu halten, der mit einem schmerzhaften Zischen das Gewicht falsch zu verlagern schien. „Sorry“, nuschelte Noori und bekam nur ein leises Brummen zurück, das verdächtig nach weiteren japanischen Schimpfworten klang. „Setz dich. Ich gucke mir deinen Fuß einmal in, okay?“ Sanft setzte er den anderen auf einer der Bänke ab und klemmte sich den Zauberstab zuerst zwischen die Zähne, um vorsichtig die Schnürsenkel zu öffnen.

„I-ich mach das schon!“

Verwirrt schaute Noori auf und begegnete einem entwaffnend entschlossenem Blick. Irritiert über so viel Resolution nahm er die Hände beiseite und beobachtete den Jungen dabei, wie er umständlich und unter leisem Keuchen den Fuß aus Schuh und Socken befreite.

„Du .. du kannst wieder fliegen gehen. … Kapitän.“

Für Noori war es absolut natürlich, dass jeder wusste, wer er war – ob nun Jeon Noori oder Kapitän oder Klassensprecher – und dennoch überraschte ihn der Unterton. Der Junge sprach mit hartem Akzent und schien Mühe zu haben, die richtigen Worte zu finden, was angesichts seiner Situation absolut verständlich war. Aber es war nicht seine anfängliche Unbeholfenheit gepaart mit einer unangebrachten Sturheit, die Noori überraschte.

Es war die Art und Weise, wie er Kapitän aussprach. Ganz so, als habe er zuerst etwas anderes sagen wollen. Noori wusste nicht, ob der Junge etwas gegen ihn hatte – oder ob er ihn schon länger von der Seitenlinie aus beobachtete – aber der Ton verriet zumindest, dass er ihn gerne informeller angesprochen hätte.

Mit einem leisen „mh-mh“ verneinte er die Aussage und nahm sich den Zauberstab zwischen den Zähnen weg, um mit der Spitze sanft über den verrenkten Fuß zu fahren. Dabei murmelte er einige der passenden Sprüche, die Schwellungen zurückgehen ließen und gegen Schmerzen wirkten; für eine Diagnose war er sicherlich nicht der Richtige. „Du solltest den Arzt drüber schauen lassen. Das hier ist nur Erste Hilfe und du solltest zumindest gleich keine Schmerzen mehr haben.“ Noori schaute auf in die großen schimmernden Augen, die ihm etwas zu sagen versuchten, für das er blind war. „Richtig? Oder tut es noch weh?“, wechselte Noori in unbeholfenes Japanisch und bemerkte amüsiert, wie Schock die großen Augen noch ein bisschen weiter werden ließ. Hektisch schüttelte der Junge den Kopf und Noori lächelte bemüht aufmunternd. „Gut. Hier.“ Er griff zu den bereitstehenden Wasserflaschen und reichte eine davon dem Jungen, während er sich neben ihn auf die Holzbank setzte.

„Danke …“

„Wie ist das überhaupt passiert? War es dein Fehler oder hat dich einer der anderen erwischt?“

Der Junge runzelte die Stirn und Noori bemerkte die markante Kieferpartie, als er die Zähne zusammenpresste. Scheinbar wollte er nicht darüber reden was passiert war und Noori hätte es dabei belassen können, aber etwas in ihm wollte weiter mit ihm reden.

„Wenn es einer der anderen war, muss ich davon wissen. Ich bin der Kapitän, wie du weißt.“ Schmunzelnd lehnte er sich die Ellenbogen auf den Oberschenkeln abstützend vor und lenkte den Blick auf die trainierenden Jungen. Einige von ihnen warfen ihm und dem Verletzten Blicke zu, aber Noori war es gewohnt im Fokus der Aufmerksamkeit zu stehen und ignorierte sie alle. „Sollte sich jemand in meiner Mannschaft nicht angemessen verhalten, muss ich darauf reagieren. Einige der Älteren halten mich nicht für den geeigneten Mann für die Position.“ Noori fischte hier im Trüben und vielleicht versuchte er auch einfach nur die Stimmung zwischen ihnen zu lockern und es dem Verletzten ein bisschen leichter zu machen, indem er die eigenen Probleme anmerkte. Immerhin waren sie zumindest gleichalt und es sollte kein Problem darstellen derart vertraut mit ihm umzugehen, richtig? Verschwörerisch formten seine Lippen ein Lächeln und er schaute zum Jungen neben sich. „Kannst du mir helfen?“ Er legte seine Hand auf die Schulter des Japaners und zog die Augenbrauen erwartungsfroh hoch, ein stummes komm schon! in der Art und Weise, wie er den Kopf schief legte. Er glaubte Zögern wahrzunehmen – und ein feines Seufzen war zu hören, ehe der Japaner nickte.

„Du bist der Kapitän, also muss ich dir eh antworten.“

Noori lachte – hörte er da Trotz heraus? Er schien den richtigen Riecher damit gehabt zu haben, dass ein vertrauter Umgang mit dem anderen in Ordnung war. Er drückte die fremde Schulter und summte vergnügter, als die Worte ihn sein ließen. Immerhin hatten sie schlussendlich doch einen bitteren Unterton.

„Dann zähle ich ab jetzt auf dich. Ah. Jeon Noori. Wie heißt du?“ Aufmerksam schaute Noori den anderen an und dachte gar nicht daran, seine Hand von der Schulter zu nehmen. Die Nähe zum Gleichaltrigen war ganz natürlich und wenn sie dabei half, ihn zu kontrollieren: umso besser. Mit wachsendem Interesse beobachtete er wie der Junge seinem Blick auswich und irgendetwas schien ihn zu beschäftigen, ehe er mit den schimmernden großen Augen zu ihm aufschaute.

„Hirose Koya, Fachbereich Gesellschaftskunde. Nächstes Jahr werde ich dir den Titel vor der Nase wegschnappen.“

Noori war sich nicht sicher, ob er alles richtig verstanden hatte, da Hirose Koya in einer Mischung aus Japanisch und Koreanisch geantwortet hatte – scheinbar ohne es zu bemerken – aber selbst wenn er nicht alles zu einhundert Prozent verstanden hatte: die Kampfansage war angekommen. „Fein.“ Energiegeladen stand er auf und streckte die Hand nach dem Japaner aus, der eine Weile irritiert auf sie schaute. Lachend wackelte er mit den Fingern. „Schlag drauf ein. Ich will, dass du dein absolut Bestes gibst. Wir aus dem Fachbereich Sprache sind viel zu stolz auf die Siegesserie, als dass wir uns jetzt von jemandem überflügeln lassen würden.“

Schimmernde Augen voller Feuer – eine raue Hand, die einschlug – und schließlich überraschte Hirose Koya Noori ein weiteres Mal damit, dass er sich aus eigener Kraft auf den heilen Fuß zog und zu ihm aufschaute.

„Ich werde dich überflügeln.“

Huch. Noori sah sich angemessen verlegen aufgrund der Kampfansage, der Nähe und der Tatsache, dass er noch immer die Hand des Japaners hielt. Aus einem Impuls heraus verschränkte er ihre Hände enger miteinander, zog sie zwischen ihre Körper und schlug damit noch einmal ein.

„Ich freue mich darauf“, grinste er zurück und das erste Mal seit seinen beiden Auslandsjahren hatte er das Gefühl, wieder zu Hause angekommen zu sein.

Dani I - Die erste Rolle

„Und? Gehst du über die Ferien nach Hause?“

Dani blinzelte einige Male, von der Frage überrumpelt, ehe er den Blick niederschlug. „Nach … Hause?“ Ein nachdenkliches Lächeln spielte um seine Mundwinkel.

„Äh, ja. Stimmt etwas nicht?“ - „Nein, nein, alles in Ordnung.“ - „Dani … du weißt, dass du mit mir reden kannst?“ - „Natürlich! Ich rede doch jetzt auch mit dir, oder?“, lachte Dani fröhlich, das wie Gift auf den eigenen Lippen schmeckte und wie Magie auf seinen Freund wirkte. Dani sah, wie sich Erleichterung in dunklen Augen zeigte – gleich neben der Zuneigung, die Dani in ihm auszulösen schien. Was ihn hätte beflügeln sollen, machte ihn nur noch trauriger. Er hatte so hart dafür gearbeitet, dass sein Freund ihn mochte, doch er wurde das Gefühl nicht los, dass sie an einem Scheideweg waren. Nichts, was sein Freund heute tat oder sagte, ließ darauf schließen, doch Dani hatte diese Situation schon so oft erlebt, dass er einen sechsten Sinn dafür entwickelt hatte. Viele Leute in seinem Leben verschwanden aus selbigem und selten konnte er etwas dagegen tun, so sehr er es auch versuchte.
 

„Hmhm, du hast mir noch nie von deiner Familie erzählt…“ - „Stimmt. Wir haben noch nicht darüber oder gesprochen, oder?“- „Wie ist es so? Hast du Geschwister?“

Danis Lächeln flackerte und abermals warf er den Blick nieder, spielte mit seinen Fingerspitzen. „Nein. Ich bin Einzelkind“, antwortet er schließlich ruhig und sein Freund lachte. „Ah. Sei froh. Ich bin der Jüngste von fünf Geschwistern. Das ist die Hölle sage ich dir.“ Aufregung brachte Danis Herz zum Flattern als er aufschaute. „Wirklich? Ich hätte gerne Geschwister gehabt.“ - „Hmn. Glaub mir, ohne sie bist du besser dran.“

Obwohl sein Freund ihm versuchte, das Einzelkindleben schmackhaft zu machen, konnte man die Liebe für seine Geschwister in den Worten raushören und Eifersucht durchzuckte Dani, ehe er etwas dagegen hätte tun können. Er verlor sein Lächeln und schluckte hart, fokussierte den Blick auf die heiße Schokolade vor sich. Es war nicht fair seinen Unmut an seinem Freund auszulassen und er wollte ihn nicht an dem Tumult teilhaben lassen, der in ihm losbrach.

„… Eine Schwester wäre schön gewesen …“, wisperte er dann doch, die großen Hände um die Tasse geschlungen. Dani klammerte sich an das Porzellan, als hinge sein Leben davon ab und fühlte, wie die altbekannte Watte sich um seine Gefühle legte – wie alles egal zu werden schien – und selbst die Anwesenheit seines Freundes wurde seltsam nichtig.

Langsam schaute er zu seinem Freund, als dieser Worte formte und nach dem Job seiner Eltern fragte und wie es ihnen ginge. Dani lächelte – mechanisch, entrückt – und dennoch schöpfte sein Freund kein bisschen Verdacht. Er befeuchtete sich die Lippen – gefangen in einem Zwist aus Wahrheit und Lüge, aus Fiktion und Realität, aus Wunschvorstellung und Trauma.

„Sie sind nicht so anders als deine, denke ich“, fing Dani schließlich leise an und beobachtete, wie der sanfte Schaum auf seiner Schokolade immer weniger wurde.
 

„Sie sind fürsorglich…“
 

„Papa – schau, schau, das habe ich nur für dich gemalt!“ – „… Wie war die Arbeit?“ – „…Papa?“ – „Gut, Liebling. Meine neue Kollegin…“
 

„..warmherzig…“
 

„Zieh das gefälligst an!“ – „..A-aber … Mama …“ – „Ich sage es nicht noch einmal!“
 

„… sie warten mit Essen auf mich wenn ich sie besuchen komme …“
 

„… und jetzt erwartest du auch noch, dass ich für dich koche?! Du undankbare Göre! Ich habe für deine Schönheit gearbeitet und habe siebzig Stunden in den Wehen für dich gelegen und du dankst es mir damit, dass du essen willst, wenn du abnehmen musst?!“
 

„… sie unterstützen mich darin herauszufinden, wer ich sein möchte …“
 

„… was soll das heißen ‚du willst das Kleid nicht tragen‘?“ – „Ich bin dreizehn, Mama. Und ein Junge. Ich … ich will einfach nicht …“ – „DU BIST MEINE TOCHTER! EUN-YOUNG! Respektiere deine Mutter gefälligst und gib mir keine Wiederworte!“
 

„… und helfen mir, wenn ich vom Weg abkomme …“
 

„… du trägst also Mädchenklamotten?“ – „…Pa…Papa…“ – „Und Schminke?!“ – „…Es…es…tut mir…“ – „Und du heulst wie ein verfluchtes Mädchen?! Ich wusste von Anfang an, dass du eine Transe bist!“
 

„…manches Mal habe ich auch Streit mit ihnen, natürlich …“
 

„Komm mir nicht wieder unter die Augen!“ – „Liebling, das war ein wenig viel.“ – „Glaubst du ich weiß nicht, dass es DEINE Schuld ist, dass unser Sohn ein Komplettversager ist?!“ – „Liebling!“ – „Du bist es doch, die ihn-“ – „Mama ist nicht schuld! Es war meine Idee! Alles meine Idee! Es tut mir leid, Papa, es tut mir leid! Ich bin schuld!“
 

„… aber das ist doch normal, oder?“, schloss Dani betont ruhig, die Übelkeit unterdrückend. Er schluckte schwer, traute sich kaum aufzuschauen und als er es tat, bemerkte er, dass Sorge in den dunklen Augen seines Freundes schimmerte. Hektisch schüttelte er den Kopf und lachte verhalten und noch ehe sein Freund etwas hätte sagen können, fügte er an: „Ich hatte vor kurzem Streit mit ihnen wegen der neuen Rolle im Drama. Sie machen sich nur Sorgen, dass mein Leben davon negativ beeinflusst werden könnte. Immerhin ist es mein erster wirklicher Auftritt und ich stelle mich der Öffentlichkeit das erste Mal richtig vor. Natürlich machen sie sich Gedanken, dass ich danach keine anderen Rollen mehr spielen kann, außer eben in dem Genre.“ Sein Freund nickte besorgt und schien damit die angeblichen Sorgen der Eltern unterstreichen zu wollen.

„Im Ernst … bist du dir sicher, dass du die Rolle wirklich annehmen willst?“, horchte sein Freund nach. Danis Lächeln verlor nicht an Kraft, als er nickte. Er w a r sich sicher und wollte die Rolle spielen. Das erste Mal, dass er etwas von sich aus getan und durchgezogen hatte, sollte zu einem guten Ende kommen.

„Ja. Es ist eine gute Chance und es ist nicht so, dass das Drehbuch Unmögliches verlangt. Die Szenen sind alle recht FSK 12 … außer die eine, aber es ist noch nicht klar, ob die es wirklich ins Drama schafft. Immerhin müssen mein Partner und ich eine gute Chemie hinbekommen dafür und das ist etwas, was wir noch austesten müssen.“

Sein Freund schien nicht zu wissen, wie er mit dieser Information umgehen sollte und war um Worte verlegen, deswegen wechselte Dani schnell das Thema und sie unterhielten sich stattdessen eine Weile über das Studium seines Freundes. Es wurde Sehnsucht im aufblühenden Schauspieler wach, als er seinem Freund zuhörte, aber das schale Gefühl im Magen überwog. Sein Freund schaute ihn nicht mehr direkt an und wich seinem Blickkontakt aus. Konnte es sein, dass seine Rollenauswahl ihm vor den Kopf gestoßen hatte? War es tatsächlich so, wie sein Bauchgefühl zu Beginn ihres Treffens ihn nicht getäuscht hatte? War das hier kein Wiedersehen, sondern ein Abschied?

Als sie sich voneinander verabschiedeten, umarmte ihn sein Freund nur halbherzig und es zog in Danis Brust. Er spürte, dass sich sein Freund bereits emotional von ihm distanzierte und konnte nicht den Finger darauflegen, warum – hatte er ihn überfordert? War er ihm auf den Schlips getreten? Aber er konnte nicht nachfragen. Seine psychische Stärke hatte er für heute aufgebraucht.

Stattdessen beschloss er, dass es an der Zeit war, sich einer anderen Ablenkung zuzuwenden. Früher oder später würde sein Freund sowieso verschwinden und entgegen seinen Versprechungen handeln. So, wie alle es bisher getan hatten. Bisher hatte er niemanden daran hindern können, zu gehen.
 

„Moonshine? Hast du Zeit?“, sprach Dani tonlos in den Hörer und sein Blick glitt über den ruhig daliegenden Hangang. Kurze Stille, doch schließlich brummte monotone Zustimmung in seinem Ohr und fegte die Watte hinfort. Wohlige Wärme durchflutete seinen Bauch, brandete durch seine Brust und gipfelte in einem breiten Lächeln, das nur vermuten ließ, wie viel die Zeit Dal-aes ihm bedeutete. „Ich bin am üblichen Ort und warte auf dich. Wir müssen ein bisschen was besprechen. Ich … habe die Rolle angenommen und ziehe in die Agentur.“ Abermals herrschte kurze Stille und tausende Zweifel nagten an Lächeln und Wärme. Unsicherheit wollte den Einundzwanzigjährigen lähmen und ihm jede Energie, jede Hoffnung rauben, doch Dal-aes Stimme, ruhig und tief, glättete die Wogen in seinem Inneren. Er freute sich für ihn – aufrichtig. Nicht aufgesetzt oder gelogen. Die Ehrlichkeit und Geradlinigkeit des Jüngeren war Balsam für die Seele des unsicheren Schauspielers. Die zuvor so unüberwindbar wirkenden Zweifel schienen nichtig und Dani setzte sich in Bewegung.

„Schaffst du es vor deinem Termin? Hm, verstehe. … Nein. … Nein, ich habe heute nichts mehr vor, keine Sorge, du musst dich nicht beeilen. … Hm. … Ach was, Moonshine, ich genieße die Zeit, in der mich noch niemand erkennt und ich mich noch nicht vor Paparazzi und Fans verstecken muss. … Hehe. Du bist doch schon beliebt. … Ach, ich könnte dir auf Anhieb fünf Nummern beschaffen, wenn du nu- in Ordnung, in Ordnung, ich höre auf. Wann kannst du hier sein? … Zwei Stunden? Hm, klar. Bis dahin halte ich es schon aus. Bringst du etwas zu essen mit? … Ah. Willst du deinem Hyung nicht etwas zum bestandenen Casting schenken? Dann schenk mir Bindaetteok von unserem Stand, okay? … Nein, ich will nichts anderes. Nur die Bindaetteok. Naja. Und deine Gesellschaft. … Hmhmhmhm. Ich meine es ernst. … In Ordnung. Bis in zwei Stunden. Ich werde warten.“

Dani II - . . . bis du mich gefunden hast.

„𝐈𝐜𝐡 𝐰𝐚𝐫 𝐯𝐞𝐫𝐥𝐨𝐫𝐞𝐧 … 𝐛𝐢𝐬 𝐝𝐮 𝐦𝐢𝐜𝐡 𝐠𝐞𝐟𝐮𝐧𝐝𝐞𝐧 𝐡𝐚𝐬𝐭.“
 

C U T. Gute Arbeit, Yuseong, genau mit diesem Feeling weitermachen. Sang-je, du musst noch ein bisschen mehr aus dir rauskommen für diese Szene. Wir drehen direkt morgen früh noch einmal, für eine andere Perspektive und Stimmung. Direkt zu Sonnenaufgang um vier Uhr dreiundzwanzig. Seid also beide um drei hier, verstanden? Und Sang-je, denk daran: Pathos. Es ist DIE Szene für die beiden Jungs. Yuseong? Sei bitte eine halbe Stunde früher da, damit wir das Makeup nochmal anpassen können. Das war heute nur halb so gut, wie es sein könnte. [. . .] Nein, damit meine ich nicht, dass du schlecht ausgesehen hast, wirklich nicht. [. . .]“
 

„Sang-je!“ – „𝐍𝐞𝐢𝐧.“ – „Ah, aber … ich habe doch noch gar nichts-“ – „𝐈𝐜𝐡 𝐛𝐢𝐧 𝐦𝐮̈𝐝𝐞.“ – „Schon okay, ich kann auch mit zu dir-“ – „𝐍𝐞𝐢𝐧, 𝐃𝐚𝐧𝐢, 𝐤𝐚𝐧𝐧𝐬𝐭 𝐝𝐮 𝐧𝐢𝐜𝐡𝐭.“ – „Hast du gar keinen Hunger? Wollen wir nicht-“ – „𝐑𝐢𝐜𝐡𝐭𝐢𝐠. 𝐖𝐨𝐥𝐥𝐞𝐧 𝐰𝐢𝐫 𝐧𝐢𝐜𝐡𝐭. 𝐄𝐬 𝐫𝐞𝐢𝐜𝐡𝐭, 𝐝𝐚𝐬𝐬 𝐰𝐢𝐫 𝐮𝐧𝐬 𝐢𝐧 𝐟𝐮̈𝐧𝐟 𝐒𝐭𝐮𝐧𝐝𝐞𝐧 𝐬𝐜𝐡𝐨𝐧 𝐰𝐢𝐞𝐝𝐞𝐫𝐬𝐞𝐡𝐞𝐧. 𝐈𝐜𝐡 … 𝐞𝐬 𝐫𝐞𝐢𝐜𝐡𝐭 𝐞𝐢𝐧𝐟𝐚𝐜𝐡.“ – „… Ich verstehe, dass du müde bist.“ – „𝐈𝐜𝐡 𝐡𝐚𝐛𝐞 𝐞𝐬 𝐬𝐨 𝐬𝐚𝐭𝐭.“ – „Ich störe dich auch bestimmt nicht beim Schlafen, verspr-“ – „𝐃𝐚𝐧𝐢. 𝐃𝐮 𝐛𝐢𝐬𝐭 𝐝𝐞𝐫 𝐆𝐫𝐮𝐧𝐝, 𝐰𝐚𝐫𝐮𝐦 𝐢𝐜𝐡 𝐬𝐨 𝐦𝐮̈𝐝𝐞 𝐛𝐢𝐧, 𝐚𝐥𝐬𝐨 𝐥𝐚𝐬𝐬.𝐦𝐢𝐜𝐡.𝐚𝐥𝐥𝐞𝐢𝐧.“
 

Ich ließ ihn ziehen. Wenn Sang-je so war half meine Erinnerung daran, dass wir einen Vertrag hatten, überhaupt nicht weiter. Außerdem hatte er nicht Unrecht: es war später Abend und in weniger als fünf Stunden mussten wir bereits wieder am Set sein. Die Fahrt zum Hotel war lang, die Erholung kaum vorhanden und vermutlich würde es das erste Essen erst wieder am Set geben, nachdem die ersten Szenen im Kasten waren. Und obwohl ich all das wusste . . .

. . . wollte ich seinem Taxi nachrennen. Gerade so konnte ich mich davon abhalten, schaute ihm hinterher und winkte, obwohl ich wusste, dass er allerhöchstens müde den Kopf über mich schütteln würde. Sofern er denn überhaupt eine Reaktion für mich übrig hätte.
 

Aber das war okay. Bevor ich Sang-je gekannt hatte, war ich verloren gewesen in einem Strudel aus Selbsthass und schlechten Entscheidungen. Gut, zugegeben waren meine Entscheidungen noch immer nicht die besten und von Selbstliebe war ich weit entfernt . . . aber alles ergab nun endlich einen Sinn.

Während wir an unserer Serie arbeiteten und das Drehbuch brillierten, fand ich mich selbst in einem Drama wieder: ich verliebte mich. Sang-je wurde mein Leitmotiv, denn während es meine Rolle auf der Leinwand war, ihn zu beschützen, beschütze er abseits davon im Grunde mich. Er zerrte mich aus der Dunkelheit ins Licht und während mein Charakter dem seinem die Welt zu Füßen legen wollte, wurde Sang-je zu meiner Welt.

Und ich wollte, dass unsere Welten eins wurden.
 

Wann immer wir getrennt voneinander waren, vermisste ich ihn. Wenn wir uns abends nach dem Shooting verabschiedeten und getrennte Wege gingen, weilte mein Blick auf ihm, bis er ins Auto stieg und ich sehnte mich schon in dem Moment nach ihm, als die Wagentür zufiel. Ich erwischte mich dabei, wie ich immer und immer wieder mein Handy hervorholte und versucht war, ihn direkt anzurufen; einen Notfall zu erfinden – ihn um mehr Dialogübung zu bitten – ihn zu fragen, ob wir Essengehen wollten – und dann steckte ich das Handy schlussendlich doch wieder weg. Ich konnte mir seinen Ausdruck vorstellen: in einer Mischung aus Wut und Hilflosigkeit würden sich seine Mundwinkel verziehen und das Funkeln in seinen Augen würde sterben. Er würde meinem Blick ausweichen, die Zähne zusammenbeißen und nach meiner dritten Bitte schließlich nachgeben. Er würde jede Sekunde mit mir hassen – so sehr, wie ich jede Sekunde mit ihm liebte. Ich liebte selbst seine Art mir zu sagen, wie sehr er unser Arrangement verabscheute. Wenn das bedeutete, dass ich irgendwelche Gefühle in ihm auslöste … und wenn das bedeutete, dass er mich vielleicht früher oder später mögen würde … würde ich a l l e s für ihn tun. Oder viel mehr für die Chance, ihm nahe zu sein.
 

Ohne zu zögern unterzeichnete ich deswegen den Vertrag, der mein Privatleben mit dem seinen zu 100 Prozent verschmolz. Wo wir zuvor lediglich die übliche Promotion getätigt hatten, würden wir nun Dates haben, um als richtiges Paar aufzutreten. Ich unterschrieb nicht, weil ich es gemusst hätte. Die Agentur zwang mich nicht dazu und ich hätte durchaus andere Möglichkeiten gehabt, um meine Karriere zu pushen und meinen Erfolg voranzutreiben. Ich wollte unterschreiben.

Ich weiß nicht, ob Sang-je das genauso sah oder er sich dazu gezwungen gefühlt hatte und keinen anderen Weg sah, als zu unterzeichnen.

Für mich aber war es wie ein Traum, der in Erfüllung ging. Ich konnte Zeit mit ihm verbringen und ihm als Legitimierung den Vertrag unter die Nase halten. Ihn zu Dates, zum Händchenhalten und hin und wieder zu einem Kuss überreden – natürlich nicht in der Öffentlichkeit, zumindest Letzteres nicht. Wir waren zwar als Paar geoutet, aber die Gerüchte, all das wäre nur Fanservice und Show hielten sich weiterhin hartnäckig. Und je lauter die Gerüchte wurden, desto verunsicherter wurde ich. Immerhin machte Sang-je nie einen Hehl daraus, dass er nur mit mir ausging, weil der Vertrag es so wollte. Er war genervt, sensibel und mehr als einmal handgreiflich – er fühlte sich gezwungen und konnte es scheinbar kaum erwarten, bis das eine Jahr endlich vorbei war.
 

Aber wieso hatte er dann eingewilligt, ein weiteres Drama mit mir als seinem Co-Star zu spielen?

Wieso duldete er mich in den wenigen privaten Momenten, die wir nicht als offizielles Paar verbrachten, an seiner Seite?

Wieso ließ er mich in seinen Freundeskreis hinein und wieso hatte er mich so verletzt angeschaut, als ich ihn nicht zu einem der Rennen hatte mitnehmen wollen? Ohne dass er gewusst hätte, wohin genau ich verschwand…
 

Dieser Blick … Wie konnte man jemandem der so schauen konnte etwas abschlagen? Er berührte ohne es zu wissen etwas in mir und schaffte es, dass ich mich noch tiefergehender auf ihn einlassen wollte, nein, sogar konnte. Dass mein Wunsch, bei ihm zu sein, unmenschlich stark wurde.

Schockiert dachte ich daran, was nach unserer Zeit als Schauspiel-BL-Paar passieren würde. Wie endgültig er mich aus seinem Leben verbannen würde.

Mir lief die Zeit davon.

… Ich würde ihn mit zu den Rennen nehmen. Ich würde ihm Moonshine vorstellen. Ich würde jede erdenkliche Karte spielen – die fragwürdig liebenden Eltern, den berühmten Großvater, die übergriffigen Ex-Freunde, die gescheiterten Beziehungen und Freundschaften, die einflussreichen Bekannten – um ihn aus Mitleid, Freundschaft, Pflichtgefühl oder Liebe an mich zu binden.

Ich hatte keine Wahl.

Was immer seine Liebe kosten würde, ich war bereit den Preis zu zahlen.

Joonie II - Das erste Rennen

Der röhrende Motor kam zum Erliegen, doch das Vibrieren der Strecke steckte ihm noch in den Knochen. Der Wahnsinn des Tempos ließ sein Blut kochen und sein Atem ging stoßweise, als die Flügeltüren des Supercars nach oben aufschwangen. Stimmen belagerten ihn – Jubel von irgendwoher, dumpf und fern – ein einziges Lichtermeer aus Scheinwerfern, Feuerwerk und Handykameras. Alles war verschwommen und fremd und zugleich berauschend lebendig. Die Rennen waren seine Droge – die Geschwindigkeit war seine Sucht.
 

„Myoh!“
 

Vertrautheit riss ihn aus seinem Hoch und er räusperte sich, zog sich den Helm vom Kopf und atmete die kalte Nachtluft in gierigen Stößen ein – brennend füllten sich seine Lungen. Hatte er den Atem angehalten? Oder raste sein Herz so sehr, dass sein Körper bereits schrie? Er liebte dieses Gefühl der physischen Erschöpfung, wenn er jeden Muskel überdeutlich spürte und ein Blick, ein Wort reichte, um Funken zu schlagen.

Auf wackligen Beinen wandte er sich der vertrauten Stimme zu und sah sich Auge in Auge mit einem der wenigen Menschen, denen er vertraute. Seine Hand landete auf der Schulter des Freundes. „Du hast Wunder gewirkt! Indy ist geflogen. Was hast du angestellt?!“

Ein Rapidfeuer an Antworten war die Folge der unbedachten Frage und Myoh hörte sich rau lachen, ehe er einem vorbeilaufenden Mech seinen Helm in die Hand drückte und endlich die sperrigen Handschuhe loswurde.

„… und wenn man das Gewicht der Außenhülle um signifikante Prozente reduziert und gleichzeitig den Luftwiederstand mit einberechnet, dann sind die Power Units unseres Schätzchens ein wahres Wunderwerk. Also … nein, natürlich nicht. Immerhin ist es alles Technik und kein Wunder, aber …“

„Boo!“

„Komme! Myoh, ich muss rüber. Indy muss in die Garage, bevor sie zu heiß läuft und nächste Woche nicht einsatzfähig ist.“ Der Mechaniker strahlte ihn über beide Ohren an, ehe er den Schulterdruck erwiderte und mit schimmernden Augen hinzufügte: „Super, dass du wieder da bist. Endlich macht das Rennen wieder Spaß. Und keine Sorge: meine Lippen sind versiegelt.“ Und so schnell wie Boo aufgetaucht war, war er auch wieder weg. In einem anderen Leben hätte er einen großartigen Taschendieb abgegeben … gut für Myoh, dass er in diesem Leben seine magischen Finger an Autos werkeln ließ. Kurz hafteten die katzenartigen Augen auf der schmalen Statur des Mechanikers, ehe er dankbar eine der Wasserflaschen annahm, die sich in sein Sichtfeld schoben. Blicke streiften einander – Finger berührten sich – Funken schlugen – und Myohs Lächeln verlor sich auf halbem Weg, während seine Augen sich in die seines Gegenübers fraßen. Die Funken schlugen über; sein Körper stand unter Strom. Er war hungrig.
 

HALTET IHN!“ – „Lasst ihn nicht durch!“ – „Scheiße-!
 

Myoh stolperte zur Seite, als er von seiner Beute wegriss wurde und reflexartig griff er das Erstbeste, was er von der Person zu fassen bekam. Ein leiser Aufschrei – vibrierende Stimme – manisch geöffnete Augen in einem porzellangleichen Gesicht, das gezeichnet von Panik war – und schließlich ein überraschender Kraftakt beim Versuch, sich loszureißen.

Der erste Impuls, den Störenfried zusammenzuscheißen löste sich beim Anblick dunkler großer Augen und rosiger Wangen in Wohlgefallen auf. Der zweite Impuls, ihn an sich zu ziehen, wurde von einer herrischen Stimme unterbrochen, die forderte: „Shithead, halt ihn fest! Er ist nicht angemeldet!“

Shithead?“, wiederholte Myoh die zweifelhaft charmante Anrede und wandte sich langsam zur Quelle der Anweisungen um. Dass sich dabei seine Finger unbeugsam im Nacken des Flüchtenden vergruben, ließ diesen wimmern und eine überraschend wohlklingende Stimme wisperte: „Lass bitte los.“ Doch Myoh ignorierte das Flehen und all die angespannte Aufregung, Erregung, legte sich unbarmherzig auf denjenigen, der ihn soeben beleidigt hatte. Kim, rollte dessen Nachname durch Myohs Gedächtnis und unschöne Erinnerungen folgten dem Erkennen. Katzenartige Augen zuckten zusammen; er würde ihm nicht geben, was er wollte. Unterbewusst war er bereits näher an den Flüchtenden getreten und zog ihn hinter sich; Finger wechselten ihre Position, vergruben sich stattdessen in einer schmalen, aber scheinbar trainierten Schulter. Myoh schaute nicht zu dem Eindringling, als er eine Warnung zischte: „Bleib bei mir. Ich regel das.“ – „Wie-?!“ – „Sei einfach ruhig.“ – „Wieso solltest du-?“ – „Und fang jetzt mit dem Klappehalten an. Sofort.“

Der Flüchtling wusste scheinbar was gut für ihn war und schwieg, als Kim auf sie beide zugerollt kam; in seinem Fahrtwasser befanden sich Lakaien, die zu dumm zum Scheißen waren, wie Myoh bereits wusste. Instinktiv spannte er seine Muskeln an und blickte dem Älteren stolz entgegen. Man konnte die Anspannung in der Luft knistern hören und als Kim sich vor ihm aufbaute, spürte der Rennfahrer wie der Flüchtling hinter ihm kleiner wurde, beinahe mit ihm zu verschmelzen versuchte.
 

„Geh mir aus dem Weg.“ – „Das kannst du vergessen.“ – „Gehört der Zwerg zu dir?“ – „Und wenn es so wäre?“ – „Willst du Ärger, Myoh?“ – „Nein.“ – „Rück ihn raus.“ – „Hmpf. Sicherlich nicht.“

Kim schnaubte und nahm ihn Maß. Myoh zuckte nicht einmal mit der Wimper, als der Kreis der Schaulustigen sich um sie schloss und die Lakaien Kims ihm eindeutige Blicke zuwarfen. In Millisekunden erfasste er die Situation und tätschelte die Schulter des Jungen, dessen Herzschlag panisch gegen seinen Rücken flatterte.

„Willst du zurück in den Knast, Myoh?“

„Wieso? Willst du mich zurückbegleiten?“

„Du bist auf Bewährung! Das weiß jeder hier! Ein falscher Schritt, und du bist wieder Futter für die wirklich harten Kerle.“

Erinnerungen zuckten gleißend hell durch ihn und heiße Genugtuung brandete durch seine Brust; der Geschmack von Blut auf der Zungenspitze, der Geruch von Erbrochenem in der Nase, das Prickeln von Hoffnungslosigkeit und Siegeswillen im Brustkorb – und schließlich war da nur noch der süße Rausch des Sieges, der ihn sich unsterblich fühlen ließ. Myoh machte einen Schritt auf den Größeren zu, den Ballast an seinem Arm ignorierend.

„Die harten Kerle haben mir aus der Hand gefressen, Kim, willst du dein Glück wirklich herausfordern?“

Der Ballast zog stärker, leise Worte fluchend, aber Myoh war darauf konzentriert das Blickduell zu gewinnen. Er log nicht wenn er behauptete, dass er schlussendlich seine Peiniger im Knast übertrumpft hatte – auch wenn vieles davon Dal zu verdanken war. Sie hatten für ihre Position im Knast gekämpft, geblutet und eingesteckt, doch schlussendlich waren sie siegreich gewesen. Wie immer. Es gab keinen Gegner, den er schlussendlich nicht doch übertrumpfen konnte und Möchtegernganoven wie Kim hatte er schon in die Tasche gesteckt, da waren Dal und er noch verlauste Straßenkids gewesen.
 

Kim Song-eun! Myoh!
 

Die herrische Stimme löste das Chaos um sie herum sofort auf. Teure Schuhe klackten bei jedem Schritt auf dem heißen Asphalt, als ein Mann in Anzug die Menge teilte. Ehrfurcht und Angst bereiteten ihm den Weg; ein Raunen lag in der elektrisierten Luft.

Sofort machte Myoh Platz. Seinen Ballast versteckte er dabei bestmöglich hinter sich, einen Arm sicher um dessen Taille geschlungen und wenn das verfluchte Balg so weitermachte, schnürte er ihm noch das Blut im Arm ab. Er neigte den Kopf respektvoll, aber nicht unterwürfig und blitzte aus funkelnden Augen zum Älteren auf, der ihn jedoch nicht einmal eines Blickes würdigte. Klug wie er war, hatte er den Aggressor direkt erkannt und hob eine Hand – die vier Männer in seinem Fahrtwasser hielten wie eine einzige Einheit an.

„Kim Song-eun. Muss ich dich an unsere Regeln erinnern?“

„… Nein, Jin-ssi.“

„Myoh?“

Sofort straffte der Rennfahrer die Haltung und blickte Jin offen entgegen. „Kim Jin-ssi. Es wird nicht wieder vorkommen.“ Myoh blickte zu Kim. „Versprochen.“

Hinter sich hörte er Zischen und Wimmern; eine verdächtige Mischung aus „meine Schuld“ und unterdrückten Flüchen und Myoh war so kurz davor, den Jungen zum Schweigen zu bringen – es gab keinen Grund sich nun einzumischen und den Helden spielen zu wollen.

Jin nickte knapp. „In Ordnung. Kim Song-eun? Das Strafregister Myohs ist ein offenes Geheimnis, aber das gibt dir kein Recht ihm damit zu drohen. Ich hoffe dir ist bewusst, wem du damit schlussendlich drohst?“

Die Augen des Aggressors wurden groß und Schadenfreude zuckte um Myohs Mundwinkel.

„Bist du dir der Konsequenzen bewusst, wenn Myoh deinetwegen wieder dort landet, woraus er sich herausgekämpft hat?“

Angst lähmten Zunge und Sprachrohr Kims und Myohs Grinsen wurde nun mehr als sichtbar. Lauernde Augen kamen auf seinem Gegner zum Liegen.

„Er ist sein Lieblingsfahrer. Und ich bin nicht gewillt, einen brüchigen Frieden für eine Kakerlake wie dich aufs Spiel zu setzen.“ Jin wandte sich zu seinen Leuten um und würdigte Kim keines Blickes mehr. „Bringt ihn hier raus. Und, Myoh.“ Die kühlen Augen kamen auf dem Fahrer zum Liegen und dieser begegnete dem Blick abermals offen und ohne jede Angst. „Kontrollier dein Temperament, wenn du nicht wieder hinter Gittern landen willst.“ Amüsement zuckte um die Augenwinkel des Älteren, doch sie erreichte die Lippen nicht und die versteckte Warnung saß. Myoh hatte verstanden, wie er mit einem knappen Nicken andeutete.
 

Jins Männer begleiteten Kim von der Fahrbahn und wenige Minuten später löste sich der Pulk auf. Einigen saß der Schock noch in den Knochen – aber niemandem so sehr wie dem Ballast, der sich noch immer schmerzhaft in Myohs Arm klammerte. Eine Sekunde verging … eine weitere … in denen Myoh sich an den gut gemeinten Rat Jins erinnerte und sein Temperament zu zügeln begann. Ansonsten würde sein Einsatz für den Kleinen gleich absolut nichtig erscheinen, weil er ihm den verfluchten Arm rausreißen würde!

„Wenn du mich nicht loslässt, darfst du den Robo-Arm bezahlen“, wandte Myoh sich nun an den Jungen und hob beide Brauen, als er auf den zweiten Blick erkannte, dass er gar nicht so jung war, wie er ihn zuerst eingeschätzt hatte. Die flatternden Lider und die gebeugte Haltung täuschten über die Körpergröße und das Alter hinweg.

Hektisch und unter leisen Entschuldigungen, die keinen Sinn ergaben, ließ er von seinem Arm ab und schien zurückweichen zu wollen, aber Myoh hielt ihn am Ellenbogen auf. Eine Berührung, die den vermeintlich Jüngeren zusammenzucken und mit geweiteten Augen zu ihm schauen ließ.
 

Er war hübsch. Nein, nicht nur hübsch. Er war schön.
 

Blass. Was aber auch von der Panik kommen konnte. Nur ein rosafarbener Schimmer auf den hohen Wangenknochen. Hochgewachsen. Beim Näherkommen bemerkte Myoh, dass er sogar einige Zentimeter größer war als er selbst. Breite Schultern, schmale Taille, wie er wusste. Seine Hand hatte perfekt in die sanfte Wölbung des Kreuzes gepasst. Ein Blick, der etwas in Myoh berührte. Er schrie nach Hilfe. Ob bewusst oder nicht. Und gleichzeitig schien er genau das verhindern zu wollen – den Hilfeschrei – und verzweifelt um seine Fassung zu kämpfen.

Er gehörte nicht hier her. Gleichzeitig war er ein Kämpfer. Und – verdammt – machte ihn diese Mischung attraktiv.

„Ich bringe dich raus.“

„Nicht…nicht nötig…“, lautete die leise, wenn auch kalte Antwort und langsam schien der Jüngere seine Haltung wieder zu finden. Myohs Augen zuckten zusammen, während er dem Größenunterschied zum Trotz auf ihn herabschaute und zufrieden bemerkte er, wie der Blickkontakt abbrach. „Schlag meine Hilfe nochmal aus und ich lasse dich wirklich allein“, erwiderte Myoh brüsk und verschränkte die Arme, den Kopf schief gelegt. Seine Augen wanderten über den Körper des Jüngeren. Er wirkte so, als könne er sich normalerweise zur Wehr setzen. Sportler, ganz eindeutig. Ein Kämpfer, tief im Inneren. Aber er gehörte einfach nicht hier her. Was der Schauer, der ihn ergriff und in sanfter Gänsehaut auf den freigelegten Armen mündete, nur allzu deutlich machte.

Myoh grinste.

„Komm schon. Du kannst von mir halten was du willst aber mit keinem bist du so sicher auf dem Gelände, wie mit mir.“

„Das … wirkte gerade anders.“

Widersprach er ihm? Myohs Grinsen wurde breiter und er lehnte sich etwas vor, um dem Blick aus dunklen Augen zu begegnen, der stur auf den Boden gerichtet war. Es zuckte in seinem Inneren, als der Jüngere abermals erschrocken einen Schritt zurückwich. Der Instinkt, ihm nachzusetzen, wurde geweckt.

„Eines der richtig wichtigen Tiere war bereit, Kim für mich einen Kopf kürzer zu machen.“ Myoh erwähnte lieber nicht, dass Jin den Aggressor sicherlich nicht nur metaphorisch einen Kopf kürzer gemacht hätte. „Und du gehörst jetzt zu mir, nachdem du mir den Ärger eingebrockt hast. Also: immer noch nicht überzeugt?“

Verwirrung zuckte so deutlich über die bemüht beherrschten Züge, dass Myoh nicht anders konnte, als abermals zu schmunzeln.
 

Moonshine! Da bist du ja!“
 

Unzufrieden lehnte Myoh sich wieder zurück als sich jemand in ihr Gespräch einzumischen wagte.

Schlagartig war der Trubel um sie herum zurück; der Lärm der Motoren und Mechaniker, das Gerede der Leute, der Nachhall des Rennens und des Feuerwerks. Myoh hatte nicht einmal bemerkt, wie sich eine Blase der Stille um ihn und seine Beute gelegt hatte.

Starlight“, wisperte der Junge da gerade und der Rennfahrer konnte nicht anders, als über diese dämlichen Alias zu lachen. Moonshine und Starlight? Ernsthaft?

Myoh drehte sich zum Eindringling – und war überrascht darüber, dass er das Gesicht kannte. Ein breites Lächeln formte sich auf den sonnigen Zügen und Dani hob zum Gruß die Hand.

„Danke, dass du auf ihn aufgepasst hast, Myoh-ssi. Ich habe ihn aus den Augen verloren und es ist sein erstes Mal hier. Ich hätte mir nie verziehen, wenn ihm was passiert. Ist alles in Ordnung?“, wandte Dani sich an den Jungen, der sofort einen Wandel durchmachte. Myoh, der er es gewohnt war Menschen zu beobachten und seine Schlüsse aus ihrem Verhalten zu ziehen, bemerkte sofort, dass er sich wohl in der Gegenwart des Älteren fühlte – dass Dani Sicherheit für ihn bedeutete und genervt schnalzte er mit der Zunge. Jetzt, wo er in den Händen seines Boyfriends zurück war, musste Myoh wohl den Wasserjungen wiederfinden.

„Schon okay, Starlight.” Der Sarkasmus floss triefend durch die Stimmfarbe des Rennfahrers und er tätschelte Danis Schulter, ganz so, als seien sie alte Freunde. Waren sie nicht. Was die Geste beinahe wie eine Drohung wirken ließ – auch wenn Danis Lächeln weiterhin in der Dunkelheit strahlte und ihn damit Glauben ließ, dass seine Drohungen an ihn verschwendet waren. „Er hat mir keine Probleme gemacht. Nicht wahr?“ Myoh wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem blassen Jungen zu, der in der Gegenwart seines Freundes mutiger war, als zuvor, und seinem Blickkontakt standhielt. Doch lügen schien er nicht zu wollen, weswegen er schwieg und Myoh grinste, als er schnell an Dani gewandt hinzufügte: „Wenn du ihn das nächste Mal mitbringst, kommt beim Rennstall vorbei. Ich würde euch gern Indy zeigen.“ Ahnungslos nickte Dani und stimmte zu, nicht wissend, dass Myohs Worte Drohung wie Einladung zugleich waren; Moonshine jedoch schien zu erahnen, dass er heute nur mit Ach und Krach davongekommen war und das nächste Mal, sofern Dani ihn aus den Augen lassen würde, eine Rechnung zu begleichen hatte.

Yejun II - Der Unfall

„Was ist, wenn er nicht mehr aufwacht?“

„Noona…“

Yejun hatte Ki-hos Schwester noch nie so außer sich erlebt. Er kannte A-yun nur lachend oder stirnrunzelnd, aber mit Tränen in den Augen und zerzaustem Haar, das nicht von den Strapazen der Geburt oder den alltäglichen Sorgen kam…? Er blinzelte und breitete die Arme aus. A-yun zögerte. Sie schien zu überlegen, ob es in Ordnung war, den Jüngeren mit ihren Sorgen zu belasten und als sie sich auch quälend schmerzhafte Herzschläge später nicht dazu hatte überreden können, sein Angebot anzunehmen, legte Yejun umsichtig einen Arm um ihre Schultern. Das Beben ihres Körpers erschreckte ihn zutiefst; sein Herz zog sich zusammen und der Griff um die schlanke Gestalt wurde fester. „Er wird es nicht wagen, dich allein zu lassen“, wisperte Yejun leise und wusste nicht, ob er zu ihr oder sich selbst sprach. Er spürte, wie die eigenen Augen brannten und biss die Zähne aufeinander. Zusammenreißen … er musste sich zusammenreißen! A-yun und Ki-ho brauchten ihn jetzt und er konnte es sich nicht leisten, zusammenzubrechen!

„A-a-aber … darauf ha-hat er vielleicht … kei-keinen Einfluss…“

Ihre Worte waren kaum zwischen den Schluchzern zu hören. Yejun streichelte über das Haar, das Ki-hos so ähnlich war und drückte sie noch ein wenig näher an sich heran, beruhigende Töne von sich gebend und um Worte verlegen. Er war um Worte verlegen! Was sollte er sagen, um die Schwester zu beruhigen? Um sich selbst zu beruhigen… Er konnte nur erahnen, wie groß die Angst A-yuns sein musste nun auch noch ihren Bruder zu verlieren – wenn die eigene Panik, die flatternd in Brust und Magen schwang, auch nur ansatzweise mit ihrer zu vergleichen war, war es ein Wunder, dass sie beide noch atmeten.
 

Die Türen zum OP-Saal schwangen auf. A-yun war sofort auf den Beinen und Yejun mit ihr. Er zuckte zusammen, als ihre Hand sich in seine krallte, erwiderte jedoch den Druck. Das Gefühl, dass sie ansonsten einem Dementorenopfer gleich auf den Boden sacken würde, breitete sich im Park aus und wenn nicht schon das eigene Herz schmerzhaft panisch pochen würde, so hätte er schwören können, A-yuns zu hören.

„Park Yejun-ssi?“

Yejun nickte wortlos. A-yun neben ihm verkrampfte sich und der Schmerz in seiner Hand wetteiferte mit der Angst in seinem Herzen.

Der Arzt lächelte zart – die rot geräderten Augen huschten beruhigend zur kurz vor Ohnmacht stehenden Schwester. A-yun wimmerte und vergrub das Gesicht an Yejuns Brust, nun den Rückhalt bedingungslos annehmen, welchen der Jüngere ihr bot; ihre Schultern wurden von Schluchzern der Erleichterung geschüttelt, aber Yejun starrte noch immer dem Arzt entgegen. Dass er ihn angesprochen hatte, war okay – vermutlich das Werk seines Vaters – aber das bedeutete auch, dass hier noch etwas anderes außer Zuspruch lauerte. Yejun wappnete sich für das, was unvermeidlich war.

Worte rauschten an ihm vorbei – „gut verlaufen – bald aufwachen – geringes Restrisiko – in ein paar Stunden Besuch gestattet“ – aber in seinem Herzen skandierte nur eine Frage. Jene Frage, deren Antwort der Grund war, weshalb der Arzt mit ihm sprach. Für einen kurzen Moment fühlte er sich nicht in der Lage dazu, die Frage zu stellen; ohnmächtige Angst vor der Antwort wollte ihn übermannen. Aber es ging hier nicht um ihn … er musste es fragen, um A-yun das Fragen ersparen zu können.
 

„Wird er wieder fliegen können?“
 

A-yun schreckte hoch und starrte Yejun an. Ihr Blick prickelte wie die kleinen Stecknadeln, die er normalerweise für das Abstecken von Stoff nutzte und mit denen er sich hin und wieder unabsichtlich verletzte. Der gleiche nebensächliche Schmerz zuckte durch seinen gesamten Körper, denn der viel größere Schmerz arbeitete viel zu heftig schlagend in seiner Brust. Ki-ho hatte sich den Traum des professionellen Qudditchspielers beinahe erfüllt . . . flog bereits seit fast drei Jahren für gute Mannschaften . . . wurde von der Fachpresse gelobt . . . und wenn Yejun nur daran dachte, dass der Traum jetzt zu Ende sein könnte … bevor er überhaupt richtig angefangen hatte … Wo zuvor das Herz viel zu schnell geschlagen hatte, zog es sich nun heftig zusammen, als der Gedanke erst gefasst war und verzweifelt ballte er die Hände zu Fäusten. Seine Kehle zog sich gleichermaßen zum Herzen zu, Tränen brannten hinter sturen Augen; wenn Ki-ho nicht mehr würde fliegen können…

Bilder rauschten an ihm vorbei – Bilder von Ki-ho als kleiner Junge auf dem Besen, mehrere Meter über dem Boden und ihm schwebend, mit der Sonne um die Wette strahlend und hoch und heilig schwörend, dass er den Erfolg von Jung Chan-yeol noch übertreffen würde, das erste Mal seit Wochen lachend und wie er dieses Versprechen jedes Mal aufs Neue in den letzten Monaten versucht hatte einzulösen, wie er sich selbst immer und immer wieder übertroffen hatte, wann immer er auf dem Spielfeld den nächsten Punkten hinterher gejagt war, siegestrunken wie verzweifelt ob Niederlagen, aber niemals die Hoffnung darauf verlierend, seinen Schwur Yejun gegenüber irgendwann in die Tat umsetzen zu können – und es brach Yejun das Herz, als der Arzt traurig, aber entschlossen den Kopf schüttelte.

Langsam schloss er die Augen – „shit“.

Alles in ihm zitterte und krampfte und wollte losbrüllen, aber er musste sich zusammenreißen. Er musste sich zusammenreißen! Er atmete durch und löste die verzweifelten Fäuste zu unterstützenden Säulen für Ki-hos Schwester, als er sich zu ihr wandte. Mit sanften Worten, an die er sich kaum erinnerte, brachte er A-yun dazu sich zu setzen. „Geh mit Oma und Opa nach Hause. Su-ho wartet sicher sehnsüchtig auf dich“, wies er sie sanft an und drückte ihre Hände. Von irgendwoher schaffte er es ein Lächeln hervorzukramen und nahm A-yuns Gesicht in seine Hände. Er zwang sie ihn anzuschauen und wischte ihre Tränen fort. A-yun nickte verstehend, mit bebenden Lippen. „Siehst du? Er würde dich niemals allein lassen“, erinnerte Yejun sie mit betont ruhiger Stimme und hoffte inständig, dass seine Worte bis zu ihr vordrangen. Sein Lächeln flackerte und ehe sie das sehen würde hängte er ein „noona, geh zu deinem Sohn“ an, und wandte sich zum Arzt um, der ihm zu seiner Überforderung die Papiere überreichte.

„Re-redest du mit Park Chaewon?“, erinnerte A-yun ihn an ihr Gespräch von zuvor und Yejun drehte sich nicht um, als er zustimmend nickte, ein „hm“ ausstoßend. Er konnte sie nicht anschauen. Sonst hätte er verraten, wie verzweifelt er war – wie sehr er damit zu kämpfen hatte, die Verantwortung zu übernehmen. Dafür, Ki-ho beibringen zu müssen, dass er seinen Schwur nicht würde einlösen können.
 

„Er wird also nicht mehr fliegen können?“

Yejun schüttelte den Kopf und starrte in den Pappbecher, der gefüllt war mit dem verhassten Koffeingetränk. Nari neben ihm stieß ein undefinierbares Brummen aus und keine Sekunde später spürte er die schwere Hand des Älteren auf seiner Schulter. Die Anteilnahme der Geste veranlasste Yejuns Inneres dazu, sich instinktiv anlehnen zu wollen – sich der Geborgenheit des besten Freundes hinzugeben – einfach zuzulassen, dass er schwach war. Aber es ging nicht. Noch nicht. Um nicht einzuknicken, schaute er Nari nicht an.

„Du solltest dich zurücknehmen, Yejun.“

„Das kann ich nicht.“

„Es ist nicht deine Aufgabe es ihm zu sagen. Er hat Großeltern und eine große Schwester, die sich übergangen fühlen könnten, wenn du es ihm sagst.“

„Nein.“ Mit aller Gewalt hielt er sich davon ab, den Pappbecher zu zerknüllen. Noch immer schaute er Nari nicht an. „Wir sind zusammen aufgewachsen.“

„Ich weiß, aber-“

„Er ist für mich wie ein Bruder.“

„Yejun, hör mir zu, du denkst nicht klar. Du musst auch an dich-“

Wut zuckte allzu lebhaft über die Züge des Achtzehnjährigen und er klatschte den Pappbecher auf den Boden. Genugtuung durchflutete ihn, als die klebrige Brühe sich dunkel über den hellen Fliesenboden verteilte und er schoss Nari einen Blick zu, der andere Menschen auf der Stelle tot hätte umfallen lassen. Der Ältere zuckte zusammen und auch hier war die Genugtuung darüber, dass er seinen Standpunkt klargemacht hatte größer, als die Sorge darum, Grenzen zu überschreiten. Grenzen, die für ihn schon immer absolut lächerlich gewesen waren. Gesellschaftliche Normen, welche der Künstler anzweifelte . . . und wie sollte er ausgerechnet jetzt an sich denken? War Nari von allen guten Geistern verlassen?

„Soll seinem Opa das Herz brechen? Soll ich es wirklich seiner Oma überlassen? Die beiden sind alt, Nari, und ich weiß nicht, ob sie das verkraften. A-yun hat einen Zweijährigen zu Hause und wirklich andere Sorgen, als dass sie jetzt die ‚Pflichten‘ der großen Schwester erfüllen sollte. Und meine Eltern sind nun wirklich keine Option. Soll Jin Kwan-sik etwa lieber Grenzen überschreiten?! Oder die angebliche Affäre Kan Yeon-bae, um die eh schon ruinierte Karriere noch mehr zu ruinieren? Sag es mir, Nari, wer wenn nicht ich?“

Nari schwieg und Yejun spürte die wissenden Augen auf seinem Profil brennen.

„Scher dich nach Hause, wenn du nicht helfen willst.“

„Ich dachte eigentlich, ich würde gerade helfen. Du bist nicht du selbst, Yejun.“

„Verdammt noch mal, natürlich nicht.“ Yejun unterdrückte den Impuls zu brüllen, weshalb seine Stimme vibrierte, und er ballte die Hände zu Fäusten. Er zitterte am ganzen Körper und spürte, wie seine heile Welt langsam aber sicher zu zerbröckeln begann. „Ich muss meinem Cousin sagen, dass er seinen Lebenstraum vergessen kann und dass er froh sein kann, wenn er wieder gescheit laufen kann. Scheiße, das ist einfach nicht fair. Es war nur ein Freundschaftsspiel…“

Hätte es einen Unterschied gemacht, wenn Ki-ho heroisch die letzten Punkte für die Mannschaft und damit den Sieg eingeholt hätte? Hätte es einen Unterschied gemacht, wenn er sich für einen Teamkameraden in die Tiefe gestürzt hätte? Hätte es einen Unterschied gemacht, wenn es um die Meisterschaft gegangen wäre?

Für die Medien – für die Fans – für alle drum herum vielleicht.

Für Yejun nicht. Das Endergebnis war dasselbe und es war einfach nicht fair.

Naris Arme schlossen sich von hinten um ihn und zuerst wollte Yejun sich wehren, aber er gab innerhalb von viel zu heftigen Herzschlägen nach; kraftlos ließ er die Schultern hängen und ergab sich der trügerischen Sicherheit der breiten Brust. Das Kinn des Älteren kam auf seinem Kopf zum Liegen; es tat ein wenig weh, wie es sich in seine Kopfhaut bohrte, aber die Umarmung entzog ihm jegliche Kraft zum Rebellieren. Das Brennen hinter den Augen wurde immer stärker und nur die Sturheit Yejuns verhinderte, dass er anfing wie ein Kleinkind zu heulen.

„Tut mir leid“, hörte er Nari leise murmeln und Yejun schauderte, sich den Tränen wieder ein Stück näher. „Das hier ist keine unserer üblichen Krisensitzungen. Ich habe unterschätzt, wie viel dir sein Traum bedeutet.“ Yejun konnte hören, dass ein und wieviel er dir bedeutet in der Art und Weise mitschwang, wie Nari mit ihm sprach und entschieden befreite er sich aus der Umarmung; wenn er sich jetzt nicht losriss, würde er brechen. Und er durfte nicht zusammenbrechen.

„Ich rufe dich an“, intonierte er hohl und Nari versuchte ein letztes Mal zu ihm durchzudringen, doch seine sonst so perfekten Park-Yejun-Skills versagten ihm heute den Dienst.
 

Am Tag darauf. . .
 

Yejun verschränkte die Arme und nahm den Größeren Maß, der fahrig wirkte, als er sich an ihm vorbeidrängen wollte. Entschieden hielt er ihn am Oberarm auf, fasste härter zu als notwendig gewesen wäre und zwang den Älteren dazu, ihm in die Augen zu schauen. Mit aller ihm noch verbliebenen Stärke brachte er Kan Yeon-bae dazu, stehenzubleiben und nagelte ihn mit einem kalten Blick an Ort und Stelle fest. Yejun kannte den besten Freund seines Cousins von einigen wenigen Treffen; sie hatten nie viel miteinander zu tun gehabt und nur wenige Worte gewechselt. Bis vor kurzem hatte Yejun sich darüber gefreut, dass Ki-ho ein vertrautes Gesicht beim Verein hatte und dass er gemeinsam mit seinem Freund seinem Traum nachjagte.

Bis die Gerüchte angefangen hatten.

Bis Kan Yeon-bae sich von seinem angeblichen besten Freund distanziert hatte und Ki-ho damit derart verwirrt und verletzt hatte, dass Yejun ihn eine Weile nicht erkannt hatte.

„Was willst du hier, Kan Yeon-bae?“, verzichtete Yejun auf jede nur erdenkliche Höflichkeitsfloskel und ging sogar soweit, den Spieler als Jüngeren anzusprechen. Mit jeder Faser seines Körpers und jedem kalten Wort machte er klar, dass er nichts hier zu suchen hatte.

„… Ist er in Ordnung?“, wagte der Verräter es nicht einmal Ki-hos Namen in den Mund zu nehmen und Yejun drückte ihn einige weitere Zentimeter von der Krankenzimmertür fort. „Er wird nicht sterben, wenn du das meinst, Kan Yeon-bae“, spuckte Yejun seinen Namen aus, „und wenn du willst, dass das auch für dich so bleibt, verziehst du dich besser.“

Irritation zuckte lebhaft über die sonst so gleichmütigen Züge des Quidditchspielers und Entsetzen löste die auch für Yejun deutlich erkennbare Sorge ab. Fassungslos starrte Yeon-bae ihn an und Yejun blickte mit gerecktem Kinn zu ihm auf, seinen Arm loslassend und seinem Oberkörper einen Stoß verpassend.

„Verschwinde. Ki-ho braucht jetzt seine wahren Freunde und seine Familie und niemanden, der einen öffentlichen Rufmord fürchtet.“

Yejuns Augen fraßen sich in die geweiteten Gegenstücke. Was hatte dieses Arschloch denn erwartet? Dass er nicht Bescheid wusste? Dass er ihn mit offenen Armen empfangen würde? Dass er Kan Yeon-bae in ihren Reihen begrüßen würde wie der alte Freund, der er eigentlich hätte sein sollen? Er hatte entschieden, Ki-ho zu meiden und zu schneiden und ihm nicht einmal eine richtige Erklärung dafür geliefert! Er hatte seinen Cousin dermaßen mit seinem Verhalten verletzt, dass er an seinem Traum gezweifelt hatte. Er hatte ihn allein gelassen und sich nicht darum geschert, wie es Ki-ho damit ging, von ihm zurückgelassen zu werden. Im Gegenteil: er hatte Öl ins Feuer gegossen wann immer sich die Möglichkeit gebeten hatte und je länger Yejun die Gegenwart des Heuchlers erdulden musste, desto weniger konnte er für ihrer beider Sicherheit bürgen. Er würde nicht zulassen, dass ausgerechnet diese Person an seiner Seite sein würde, wenn er aufwachte.

„Yeon-bae“, erklang eine tiefe Stimme hinter ihnen und während Yejun weiterhin den Quidditchspieler in Grund und Boden starrte und ignorierte, wer auch immer ihn gerufen hatte, schob sich Jin Kwan-sik unbarmherzig in ihrer beider Sichtfeld. Nur kurz verlagerte sich der Fokus des Parks auf den Geschäftsmann, der seinem Freund eine Hand auf die Schulter legte und sie schauten einander an; irgendetwas passierte auf non-verbaler Ebene und schließlich trat Kan Yeon-bae den Rückzug an. Nicht, ohne noch einmal einen zweifelnden Blick über die Schulter zu werfen. Jin Kwan-sik schaute zu ihm herab und Yejun verengte die Augen, Arme verschränkt und sich an das klammern, was in seinem Herzen skandierte.

Er musste Ki-ho beschützen.

„Schreib mir, wenn er aufwacht.“ Jin Kwan-sik fragte nicht um Erlaubnis – er befahl und Yejun biss die Zähne zusammen, nickte jedoch. Vermutlich würde er Yeon-bae darüber informieren, wie es um Ki-ho stand und ein Teil von Yejun wollte bereits damit drohen, dass er es nicht tun sollte … aber er hatte keine Kraft mehr dazu auch noch einen Kampf mit dem einflussreichen Magnaten anzufangen. Jin Kwan-sik überreichte ihm seine Visitenkarte und mechanisch gab Yejun ihm die eigene, ehe er dabei zusah, wie das breite Kreuz zu Yeon-bae aufschloss.
 

Ki-ho war blass.

Yejuns Herz sackte ihm in die Hose, als er ihn in dem Krankenbett liegen sah. Park Chaewon schaute von seiner Arbeit auf und winkte ihn heran und auch den renommierten Heiler während der Arbeit an Ki-hos Seite zu sehen, war derart unbekannt, dass es ihm die Luft zum Atmen raubte. Sein Vater war für gewöhnlich nicht besonders interessiert an Park Ki-ho; außer es ging um neue Möglichkeiten die eigenen Errungenschaften zu testen. Und für gewöhnlich schien er nicht einmal zu registrieren, dass sie verwandt waren – dass er eine gewisse Sorgfaltspflicht dem Waisenkind gegenüber hatte. Vielleicht sah er aber auch seine Pflicht darin getan, seinen Job zu erledigen und überließ die unnützen Dinge Sohn und Ehefrau … … Yejun spürte, wie wacher Ärger durch ihn zuckte über die Art und Weise, wie sein Vater Ki-ho betrachtete.

Wie einen Patienten – ein Wissenschaftsobjekt – nur einer von Tausenden, die auf seinem Tisch lagen.

Wahrscheinlich würde Nari ihm jetzt zu verstehen geben, dass es gut so war … aber er konnte sich nicht mit dem Gedanken anfreunden, dass Ki-ho nichts weiter für seinen Vater war als ein Patient. Dass er überhaupt ein Patient war. Es war so unendlich weit hergeholt … … eine Situation, in der Yejun seinen Cousin niemals gesehen hatte … … und nicht hatte sehen wollen … …

„Seine Werte sind stabil. Er sollte in den nächsten Minuten aufwachen“, intonierte sein Vater technisch und Yejun zog angewidert die Oberlippe hoch, schwieg jedoch vorerst. Den langen Blick seines Vaters ignorierte er und setzte sich neben das Krankenbett auf den Besucherstuhl.

„Dann kannst du ja gehen, oder?“

Yejun gab sich alle Mühe nicht schnippisch zu klingen – erfolglos. Er konnte die Enttäuschung über die fehlende Anteilnahme seines Vaters nicht verbergen und schoss einen giftigen Blick hinterher. Park Chaewon nickte und schien die Reaktion seines Sohnes entweder zu ignorieren oder aber gar nicht wahrzunehmen.

„Er muss beim Aufwachen den Trank nehmen. Sorg dafür.“

Die Art und Weise wie er mit ihm sprach, kitzelte alten Ärger in Yejun wach. Glaubte sein Vater etwa, er könne das nicht? Er sei dazu nicht in der Lage? Gerade wollte er ihn fragen, was der Unterton sollte, da entschied er sich anders und schoss nur einsilbig „ja“ zurück, ehe er nach Ki-hos Hand griff.
 

Sie war kalt.
 

Schauer rieselten über seinen Rücken und sofort waren Vater und die Anspannung zwischen ihnen vergessen.

Stattdessen schrumpften seine Empfindungen auf Ki-ho zusammen – und wuchsen gleichermaßen überproportional. Es tat so unendlich weh ihn so zu sehen … Der einzige Trost war, dass es ihm tatsächlich relativ gut ging … Und Yejun fühlte sich wie der größte Hypokrit, während er das dachte. Na, wenigstens hast du noch ein anderes Knie! – Du wirst vielleicht nicht mehr fliegen können, aber wenigstens kannst du noch laufen! Also, zumindest mit ziemlich hoher Wahrscheinlichkeit. Und wenn nicht: auch halb so wild, dann bist du eben der coole Onkel im Rollstuhl. – Du hättest ja auch tot sein können!

Ihm war übel.

Ki-ho hätte sterben können.

„… Scheiß Quidditch …“

Die Nasenspitze seines Cousins kräuselte sich und seine Finger zuckten um Yejuns Hand herum. Yejuns Herz setzte aus, ehe es losdonnerte und sofort rutschte er vom Stuhl, um näher beim Bett sein zu können.

„Ki-ho?“

Ein Ächzen war die Antwort – müde dunkle Augen blinzelten ihm entgegen und ließen all die Lebensfreude missen, die sie sonst zum Leuchten brachten – schwach formten Mundwinkel ein Lächeln, das nur eine billige Kopie der Vergangenheit war.

Umsichtig half Yejun seinem Cousin dabei sich aufzusetzen und flößte ihm den Trank ein. Minutenlang herrschte Schweigen zwischen ihnen – Ki-ho schien zu sich finden zu müssen und Yejun war gefangen zwischen innerlicher Panik und äußerlicher Anteilnahme. Er versuchte so sehr für den Älteren da zu sein … und wusste gleichzeitig einfach nicht wie.

Die freundlichen Augen kamen auf ihm zum Liegen und reflexartig zuckte Yejuns gesamter Körper ihnen entgegen; aufmerksam bettelte er nahezu um Worte und Fragen und gleichzeitig hatte er vor nichts mehr Angst als davor, sie beantworten zu müssen.

Dennoch schmunzelte er und zwang sich dazu, die freie Hand zum spröden Haar des Älteren zu bewegen. Ein Zögern – innerlich wie äußerlich – doch dann vollführte er die vertraute Geste, strich Ki-ho durch die Haare und neckte ihn mit Geste, Blick und Lächeln wortlos, und endlich – ENDLICH – erreichte das Lächeln die dunklen Augen und erhellte sie mit einem warmen Funken.

„Gut, dass du wach bist.“

Yejun konnte nicht verhindern, dass seine Stimme zitterte, doch ansonsten war er ruhig. In dem Moment als er das Lächeln gesehen hatte wusste er, dass er nun die Ruhe bewahren musste – und seltsamerweise war es jetzt ganz leicht.

„Ich kann ja nicht ewig träumen“, flüsterte der ehemalige Quidditchspieler da und am liebsten hätte Yejun laut aufgeheult und sich an seine Brust geworfen, bittere Tränen vergossen und ihm versichert, dass sie Wege finden würden und dass es so nicht enden musste und dass es Möglichkeiten gab und … und …

Stattdessen nahm er die Hand vom Kopf des Älteren und musterte ihn schamlos.

„Die richtige Welt ist auch viel schöner als die Traumwelt.“ Er drückte die Hand, die er nicht losgelassen hatte und konnte spüren wie sein Bauch sich zusammenzog, als Ki-ho den Druck erwiderte. „Außerdem … wer will schon träumen, wenn er erforschen kann? Erinnerst du dich noch, als …“

Ki-hos Augen leuchteten immer wieder auf, je länger Yejun von ihrer gemeinsamen Vergangenheit sprach und von seiner Schwester und davon, dass er eifersüchtig auf die gute Beziehung der Geschwister war – er wand sich innerlich, als Ki-ho ihm versicherte, dass er doch zu ihnen beiden gehöre und teilte gerne mit, dass es seinen Großeltern gut ging – er überreichte Ki-ho die ernsten Worte seines besten Freundes und verschwieg, dass er Kan Yeon-bae weggejagt weggeschickt hatte. Er zeigte ihm ein Foto seines kleinen Neffen, wie er in die Kamera lachte und freute sich an dem Lachen des Älteren und obwohl er mit keiner Silbe erwähnte, dass Ki-ho nun einen neuen Traum finden musste, spürte er, dass Ki-ho das bereits wusste.

Und dieser wundervolle Mann schien das bereits akzeptiert zu haben – oder vielleicht war es vielmehr so, dass ihm eine Last von den Schultern genommen worden war?
 

„Yejun?“ – „Hm?“ – „Bleibst du hier? Über Nacht?“ – „Klar.“
 

Yejun verschwieg, dass er am nächsten Morgen eigentlich hätte arbeiten müssen. Er verschwieg, dass er auch am die letzten drei Tage die Arbeit geschwänzt hatte, um bei ihm zu sein. Die eigenen Ziele und Träume waren plötzlich seltsam nichtig geworden – er spielte sogar mit dem Gedanken, die Auslandsreise abzublasen, um bei Ki-hos Genesung eine Rolle spielen zu können. Und als dieser Gedanke erst einmal aufgekommen war, stolperte er selbst über die Intensität der Gefühle.
 

Immerhin konnten Träume neu gefunden werden. Träume konnten umgeschrieben werden.
 

Leben nicht – Ki-ho war am Leben und wenn jemand die Stärke hatte, aus einem zerbrochenen Traum einen neuen zu formen, dann Park Ki-ho. Und er würde dabei nicht allein sein; Yejun würde jeden Schritt seines Weges mit ihm gemeinsam gehen.

Vielleicht würden sie gemeinsam einen neuen Traum finden.

Noori V - Die absolute Hingabe

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Yejun III - Die Clubnacht

Die Lichter tanzten und die Musik hallte in seinem Blut in einem wilden Rhythmus wider. Aber obwohl seine Umgebung ein einziger verschwommener Farbenwirbel war, hatte er die unerwünschten Aufmerksamkeiten mitbekommen: die vielen Drinks mit anbiedernden Schirmchen und ihn verspottenden funkelnden Goldelementen, welche seine eigene Alkoholtoleranz auszulachen schienen.

„Yejun?“

Naris Stimme drang wie aus weiter Ferne zu ihm durch. Mit einem unwilligen Brummen drängte er sich an den Körper seines besten Freundes und legte seine Unterarme auf dessen Schultern, die Distanz zwischen ihnen verringernd. Unter schweren Lidern suchte er nach Naris Blick, was sich zusehends als schwerer herausstellte im wummernden Dämmerlicht des Nachtclubs – und das hatte NICHTS mit seinem Pegel zu tun, überhaupt nicht. Er weigerte sich zu akzeptieren, dass er seine Grenze erreicht hatte. Dafür war die Nacht noch viel zu jung. „Mach einfach mit“, wies er Nari an, während er dessen Hand in seinem Nacken platzierte und kümmerte sich nicht darum, wie sich sein bester Freund unter ihm anspannte. „Was ist in dich gefahren?“ Hatte er das richtig verstanden? Was in ihn gefahren war? Yejuns Augen funkelten zu Nari empor und bestimmt drehte er sie beide, begrüßte mit einem neckischen Wirbeln der eigenen Hüfte den nächsten Song, dessen Bass in seinem Magen vibrierte. „Stell keine Fragen auf die du die Antwort schon kennst.“

„Ich würde nicht fragen, wenn ich die Antwort wüsste. Die Situation ist mir sehr unangenehm, Yejun.“ Mit einem Zungenschnalzen verwarf Yejun das angebliche Unbehagen des Älteren – wer wollte ihm diesen Unsinn denn bitte abkaufen? Es war nicht das erste Mal, dass sie gemeinsam feiern waren und sicherlich auch nicht das erste Mal, dass sie miteinander tanzten. In Ordnung – Yejun lenkte ein, dass er anhänglicher als sonst war. Und jah – er gab zu, dass seine Hände heute ein Eigenleben hatten. TROTZDEM gab es Nari keinerlei Recht jetzt Abstand zwischen sie bringen zu wollen. Daher zog er am Nacken des Älteren, unbarmherzig um dessen Aufmerksamkeit heischend, aber gleichzeitig seinen Blick in die gewünschte Richtung lenkend. „Siehst du die blonde Frau dort? Mit dem furchtbar aufgedonnerten Rock aus der letzten Saison … was ein schlechter Schnitt, das hätte ich besser hinbekommen…“ Für den Bruchteil einer Sekunde hatte Yejun sich vom Wesentlichen ablenken lassen und war irritiert von der Antwort Naris, als er fragte: „Was ist mit der Frau?“ Beinahe hätte Yejun gefragt welche Frau, immerhin ging es doch hier um Schnittmuster . . . aber gerade rechtzeitig siegte Hirn über Alkohol und seine Hände tänzelten auf Naris Schultern, übten sachten Druck aus und er drehte den Älteren im Tackt der Musik wieder so, dass die Verrückte ihn nicht mehr sehen konnte. Oder nur noch seine entzückenden Schultern – die übrigens auch IHM gehörten, nicht ihr. Seine Mundwinkel zuckten abfällig, als er ihren Blick suchte und seine Lippen nahe an Naris Ohr platzierte. Dass er dafür auf die Zehenspitzen steigen musste, machte es absolut notwendig, dass er sich an ihn presste, um in dem nebligwobeligweichen Zustand nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Mit Genugtuung bemerkte er die Hand in seinem Rücken, die warm und sicher verhinderte, dass er fiel. So, wie Nari ihn immer stützte.

„Sie gibt dir die ganze Zeit Drinks aus und zieht dich mit ihren Blicken aus.“

„Hm. Ich dachte, du hättest für mich bezahlt.“

„Woah. Du bist wirklich naiv…“ Yejun grinste, schob Naris Hand weiter in sein Kreuz und griff nach seinem anderen Arm, um ihn sich auf die Schulter zu legen. Jede Warnung aus scharfen Augen ignorierte er geflissentlich – wenn der Ältere tatsächlich Einwände gehabt hätte, hätte er ihn einfach stehenlassen. Ach – naja – vielleicht spielte Yejun hier auch ein bisschen mit dem unerschütterlichen Verantwortungsbewusstsein seines treuen Freundes … Er tippte ihm gegen die Brust, suchte abermals nach dem Blick der scheinbar extrem frustrierten Frau und, wie um ihr zu beweisen dass sie keine Chancen hatte, strich der angehende Designer seinem besten Freund besitzergreifend über die Heckansicht. „Yejun.“ Die Warnung verflog ungehört und die Hand kam am Hosenansatz zu liegen. „Ich muss ihr zeigen, mit wem du hier bist“, flötete ein heiterer Yejun, mit wesentlich besserer Laune dabei zusehend, wie die Frau sich abwandte und frustriert einen Drink kippte.

Entschlossen schaute er in die ihm so vertrauten Augen auf.

„Du bist mit mir hier“, stellte er ernst richtig und bemühte sich, das Schmunzeln zu kontrollieren, was aber nicht mehr so ganz funktionieren wollte. Der Alkohol schien zu siegen und genau das erahnte Nari. „Wir sollten gehen“, wagte er da vorzuschlagen und Yejun schüttelte sofort den Kopf, begrüßte das nächste Lied aus viel zu lauten Boxen mit einem Schlag auf den Rücken seines Freundes und dem Aneinanderpressen von Unterkörpern. „Auf gar keinen Fall.“

„Du bist betrunken.“

„Hm. Ja. Das stimmt.“

„Also sollten wir gehen.“

„Nein. Ich habe Spaß.“

„Das befürchte ich, aber wenn wir noch länger bleiben, wirst du bald keinen Spaß mehr haben. Yejun, sei vernünftig.“

Yejun tat so, als würde er ernsthaft darüber nachdenken nun vernünftig sein zu wollen – doch sein Blick verlor sich neben Nari an der Bar und mit funkelnden Augen stieß er ein vergnügtes Keckern aus.

„Sie ist weg.“ Verspielt tippte er an Naris Kinn und störte sich nicht an den bitterbösen Blicken. „Und jetzt habe ich dich ganz für mich.“ Die Irritation auf Naris Zügen hätte ihn in anderen Momenten sicherlich einen Spiegel vorgehalten – hier und jetzt war der Sieg einfach viel zu köstlich, um nicht genossen zu werden. Er fügte zum experimentellen Cocktail hinzu, der Yejuns Abend bereits versüßte.

Und als der Ältere mit einem Seufzen nichts mehr einwandte, war der Krieg gewonnen und Yejun nicht mehr zu halten. Seine Fingerspitzen kribbelten, als sie über Naris Schultern bis in seinen Nacken wanderten; mit steigender Faszination sog Yejun das Lichtermeer, das sich auf den Zügen seines Freundes spiegelte, auf. Grün und Pink wechselten sich in einem hypnotischen Rhythmus ab. Vergnügt verwob er seine Finger im Nacken des Älteren, drückte sich an ihn und spielte mit den Bässen, die seinen Körper automatisch in die eine oder andere Richtung lenkten. Naris Hände folgten seinen Bewegungen vorsichtig und vermutlich wollte er einfach nur verhindern, dass er stürzte und sich am nächsten Tag neben unerträglichen Kopfschmerzen über blaue Flecken beschweren würde, aber Yejun interessierte sich kaum für die Intentionen des besten Freundes. Fakt war, dass er mit ihm tanzte und deswegen erschien seine nächste Forderung auch derart heuchlerisch, dass Yejun nicht anders konnte, als zu lachen. „Wir sollten wirklich runter von der Tanzfläche“, raunte der Ältere da doch tatsächlich. Automatisch erfolgte die lachende Antwort – „nein“ – und Yejun gab einem Impuls nach, der wie eine Wunderkerze in seinem Inneren begonnen hatte Funken zu schlagen. „Du hast gesagt es ist meine Nacht. Also, mein pessimistischer Freund: meine Nacht, meine Regeln. Und die Regel Nummer zwei –Moment … was war Regel Nummer eins? Ach ja! Regel Nummer eins: du gehörst heute mir.“ Kurz verlor der junge Student sich in seinen eigenen Gedanken und im immer gleichen Takt der Musik, aber dann erinnerte er sich an sein Statement. „Regel Nummer zwei: wir tanzen.“

„Yejun…“

Das Drängen in der Stimme ließ Yejun unschuldig blinzelnd in die tiefen Augen aufschauen, die voller wankender Zweifel schimmerten und ihn und nur ihn anschauten. Zufriedenheit entzündete direkt die nächste Wunderkerze im Inneren und trieb die Mundwinkel weiter empor. Es war einfach schön seinen besten Freund derart fokussiert auf ihn zu sehen und er wollte dieses Brennen im Inneren noch eine Weile länger spüren.

„Nari?“, imitierte er den warnenden Ton, sichtlich Spaß an der Qual seines besten Freundes, die er nicht wirklich nachvollziehen konnte. „Verwende nicht meine eigenen Worte gegen mich“, wisperte Nari, seine Stimme kaum laut genug um im Bassmeer des Clubs zu Yejun durchzudringen. Unter schweren Lidern schaute er zum Älteren auf, fuhr das Muster des Shirts nach und hielt erst dann inne, als er beinahe bei delikaten Partien angekommen war. Er wollte es nicht komisch zwischen ihnen machen. Aber er wollte auch nicht aufhören.

„Hyuuuuuung.“ – „Oh nein.“ – „Yoomin Nari hyuuuuung.“ – „Urgh, Yejun, lass das. Nicht die Hyung-Karte.”

Yejun grinste noch eine Spur breiter, weil er wusste, dass er gewonnen hatte. Der Sieg kam nicht daher, weil Nari weiche Knie bekam, wenn er als der Ältere behandelt wurde, sondern weil er genau diese Anrede durch seinen besten Freund hasste. Sie waren sich trotz des Altersunterschieds auf einer Ebene nahe, die der Park sonst mit niemand anderem erreicht hatte – nicht einmal mit seinem Cousin … oder gerade nicht mit dem? Ah, definitiv der falsche Gedanke – und so dachte sie nicht einen Augenblick daran, die sonst so typischen Regeln zu befolgen. Abgesehen davon, dass Yejun so oder so ein Freund davon war, Konventionen wenn möglich zu brechen…

Und so spielte Yejun mit den Erwartungen seines Vertrauten … Immerhin war es Naris Idee gewesen, dass Yejun heute das Sagen hatte – selbst Schuld. Selbstverständlich wusste er, dass sein engster Freund das alles nur tat, weil er sich dazu verpflichtet fühlte – und gleichzeitig wusste Yejun, dass er ihm heute alles verzeihen würde.
 

„Wir können aufhören zu tanzen“, lenkte Yejun widerwillig ein, während seine Hüften sich spielerisch zur Musik bewegten. Mit einem schweren Seufzen ließ er von Nari ab, dessen Hände hilflos nach ihm griffen. Yejun schloss die dezent geschminkten Augen und versank im Rhythmus der harten Musik. Wie in Trance versenkte er die Finger im eigenen hell gefärbten Haar, krallte sich hinein, warf den Kopf zurück und genoss die absolute Schwärze um sich herum; wie sich fremde Körper kurz gegen ihn schmiegten, Ellenbogen ihn streiften, gemurmelte Worte ihn dumpf erreichten und die Wärme von Fremden sich in seine Empfindung schlich. Für endlose Takte verschmolz Yejun mit dem dröhnenden Bass – es war berauschend – und absolut manipulativ, wie Nari wusste. Yoonmin Nari war viel zu pflichtbewusst um seinen besten Freund jetzt unbeaufsichtigt zu lassen. Sicherlich auch, weil er wusste, dass Yejun dazu neigte im betrunkenen Zustand viel zu leichtfertig, viel zu flirty zu sein, wie er heute einmal mehr mitbekam . . . und sicherlich auch, weil er um das gebrochene Herz wusste, das sie beide erst zu diesem Kurztrip gebracht hatte.

Der blinde Rausch endete, als beschützende Hände an Yejuns Hüfte zogen und instinktiv wusste er, dass es Naris Hände waren, die ihn hielten. So, wie sie es immer taten. Ohne darüber nachzudenken lehnte er seine Hüfte neckisch in die Berührung und seine Hand flatterte zur Schulter des Älteren – abermals ein Recken auf Zehenspitzen – und mit einem Grinsen und noch immer geschlossenen Augen hauchte Yejun: „Wir können aufhören zu tanzen, wenn wir weitertrinken.“

Nari seufzte und legte eine Hand um die schmale Taille. „Tanzen wir.“ Genervt warf er sich Yejuns Arm über die Schulter und ergab sich dem Umwerben des besten Freundes – und fand sich nach einer Weile in einem Wirbelsturm aus berauschenden Bewegungen wieder. Yejuns Hände hielten nicht still und berührten Nari nur flatterhaft wann immer sie näher beieinander waren – hatten sie sonst oft beinahe einen Meter Abstand zwischen einander, konnte Yejun heute nicht die Finger von ihm lassen.

Es mochte an der gefährlichen Mischung aus Alkohol, Urlaub, Musik und gebrochenem Herzen liegen – aber die weichwabblige Watte verhinderte, dass Yejun sich darum weiter Gedanken machen wollte. Stattdessen genoss er es, als die beschützende Hand sich in sein Kreuz schlich, um ihn näher zu sich zu ziehen, weiter von anderen fern, tiefer in den Beat hinein. Gedankenlos griff Yejun nach den Händen des Älteren, grinsend, ehe er sie am eigenen Körper herabführte und er spürte, wie er Naris Widerstand brach. Ohne sich weiter zu wehren, strichen die großen Hände über seinen Oberkörper, während sie einander in die Augen schauten. Yejun erkannte das verräterische Grinsen auf den Zügen des Älteren – aha! Er hatte also auch Spaß! Doch von allein suchte Nari keine Berührung, also schnappte Yejun abermals nach seinen Händen, legte sie sich an die Taille und drehte sich in dessen Griff und ehe Nari sich versah, presste er sich gegen seine Brust; der vibrierende Herzschlag des Älteren gab einen neuen Takt an, in dem Yejun sich verlor. Die Arme des Designers griffen ohne große Probleme in den Nacken des Älteren und während der Beat heftiger, unbarmherziger wurde, verlor sich Yejun im Spiel mit seinem besten Freund und ließ sich gehen. Keine Sekunde ließ Nari ihn allein – kein Moment verging, in dem schützende Hände ihn vor anderen Tänzern abschirmten. Sie verloren einander nicht aus den Augen, doch sich selbst im Takt der Musik und die Zeit machte sich nur in den schmerzenden Gliedern und in der sich lichtenden Watte bemerkbar.
 

Sein Kopf brachte ihn um. Er bekam die Augen kaum auf. Sein linker Fuß tat weh. Und am schlimmsten: er erinnerte sich nur wie in einem der schlechten schwarz-weiß-Streifen, die Jun-seo ihm einmal gezeigt hatte. Irgendwo zwischen Nachtclub und Hotel musste Yejun das letzte Bisschen Würde verloren haben . . . anders konnte er sich nicht erklären, dass er ein komplettes Wrack war.

Der Rückweg war ein einziges Schemenspiel von Schatten und Farben, von Autohupen und Geschrei – wie genau er zurückgekommen war, konnte Yejun nicht sagen, aber er wusste, dass Nari ihn zu irgendeinem Zeitpunkt auf seinem Rücken getragen haben musste. Bruchstückhaft erinnerte er sich an einen Moment, in dem er bäuchlings auf dem Asphalt gelegen und wirre Verwünschungen gebrüllt hatte . . .

. . . Yejun schreckte auf und war überrascht, dass sein Oberkörper es in die Senkrechte geschafft hatte. „Urgh.“ Ein heftiges Pochen in der rechten Schläfe und das Gefühl, als würde seine Seele seinen Körper verlassen, waren der Dank für das hektische Aufsetzen. Seine Zunge fühlte sich an wie der billige Lederbezug eines Discountersofas und obwohl er die Augen weit aufgerissen hatte, sah er alles nur verschwommen. Ah. Hatte er seine Kontaktlinsen gestern nicht rausgenommen? Vorsichtig rollte er mit den Augen – gleißender Schmerz zuckte durch seinen Kopf – scheinbar hatte Nari das für ihn erledigt oder sein peinlicher Anfall auf der Straße hatte dafür gesorgt, dass er sie verloren hatte.

Zum bestialischsten Kater seines bisherigen jungen Lebens gesellte sich das omnipräsente Schamgefühl und er bereute, sich so gehengelassen zu haben.

„… Nari?“

Seine Stimme war ein einziges Krächzen und er wusste gar nicht, ob er seinen besten Freund jetzt tatsächlich sehen wollte. Dermaßen schlimm hatte selbst er ihn noch nicht gesehen … … und die letzte Nacht war eine derartige Ausschreitung gewesen … … wahrscheinlich glaubte Nari ihm jetzt endlich, dass er sich in ein paar der Nachtclubs in Paris nicht mehr getraut hatte, weil er Angst vor der Reaktion der Angestellten dort gehabt hatte. Nun, und davor, seine attraktiven Tanzpartner nicht wiederzuerkennen…
 

Es raschelte neben ihm und ein nackter Arm kam angeschossen. Wie aus dem Nichts presste er ihn zurück in die Kissen; was zum Teufel-? Irritiert wollte Yejun den Kopf drehen, ließ es aber lieber direkt bleiben, als seine Schläfen eine ganz eigene Interpretation von Beethovens Neunter aufzuführen gedachten.

Aber … okay … Jetzt konnte Yejun nur hoffen, dass es tatsächlich sein Vertrauter war, der neben ihm im Hotelbett schlief . . . denn dass er es in seinem Zustand ins eigene Hotelzimmer geschafft hatte ohne die Hilfe von Nari war eigentlich ausgeschlossen. Nicht ausgeschlossen war jedoch, dass neben Nari noch eine andere Person mitgekommen war und er seinen armen, ahnungslosen, beschützenden Vertrauten vor die Tür gesetzt hatte … Oh … bitte, bitte kein weiteres Abenteuer, das ihm peinlich sein musste.

„Ruhe.“

Naris verschlafene Stimme. „Zum Glück“, nuschelte Yejun leise und Erleichterung durchflutete sein Inneres. Also blieb nur die Peinlichkeit vom nach Hause Weg, an die er sich erinnern konnte … auch wenn die schon schlimm genug auf seinen Wangen brannte.

Er kam der Forderung des besten Freundes ohne groß zu zögern nach – Ruhe klang sehr verlockend – und ergab sich dem pochenden Schmerz im Kopf. Er fiel noch einmal in einen ruhelosen Schlaf…

… …

Der jäh unterbrochen wurde, als ein Wecker klingelte. Yejun riss die Augen auf, schlug wild nach dem Geräusch und fluchte lautstark. Sein Blick klärte sich und mit leiser Fassungslosigkeit schaute er zum komplett angezogenen und gestylten Nari, der in der Hocke neben dem Bett saß, die Ellenbogen auf der Matratze neben ihm aufgestützt und ihm sein Handy vor die Nase haltend.

„Hast du unser Date vergessen?“

„Was eine Begrüßung…“

„Von den Toten auferstanden? Ist das besser?“

„Ich will einfach gar nichts von dir hören.“

Nari legte den Kopf schief und ließ das Handy auf Yejuns Brust fallen, ehe er ihm mit einem süffisanten Lächeln die Wange tätschelte. „Ich gebe dir eine halbe Stunde um dich fertig zu machen. Hast du eine Ahnung wie lange ich schon warte, dass du wach wirst? Du weißt, wie unangenehm ich werden kann, wenn ich nichts zu essen bekomme.“ Obwohl er sanft mit ihm sprach, hörte Yejun die Drohung nur zu gut heraus und keine Kopfschmerzen der Welt hätten verhindern können, dass er nicht darauf ansprang.

„Können wir nicht Zimmerservice bestellen…?“

„Du hast gesagt, wir gehen auf den Markt.“

„Ich habe einen Kater.“

„Das ist deine Schuld.“

„Nari…hab Gnade.“

„Hm. Nein.“

Die Endgültigkeit des kleinen Wortes ließ Yejun geschlagen seufzen und mit wackligen Beinen kämpfte er sich aus den Laken. „Du bist ein Teufel, Yoomin Nari.“

„Und das, obwohl ich dich Stunden durch die Nacht getragen habe? Yejun-ah. Du wirst undankbar auf deine alten Tage.“

„Alte Tage, hmpf. Ich bin hier nicht der alte Sack…“

„Ach ja? Und trotzdem bist du derjenige, der nicht aus den Federn kommt. Los jetzt. Meine Geduld ist zu Ende.“

Und obwohl Yejun gerne weiter gestritten hätte, sah er ein, dass er hier auf verlorenem Posten kämpfte. Es war Naris Güte zu verdanken, dass er den Tobsuchtanfall nicht erwähnte … oder das enge Tanzen, oh Gott, das Tanzen! Yejun versteckte das Gesicht unter dem Tosen der Dusche und versuchte krampfhaft die Erinnerungen an die letzte Nacht zu verdrängen, die ungefragt auf ihn einprasselten. Was hatte er sich dabei gedacht…?! Er würde nie, nie wieder Alkohol anrühren! Wie sollte er Nari jetzt wieder in die Augen schauen, wenn er sich so verhalten hatte? Er hatte … oh Gott … er hatte sich ja faktisch an ihn herangeworfen!

Es dauerte mehrere Minuten an fassungslosem an-die-Fliesenwand-Starren, bis Yejun soweit bereit war, wieder aus dem Badezimmer zu kommen. Schweigend zog er sich an und verzichtete ausnahmsweise für ihr Markt-Date auf aufwendige Schminke oder darauf, seine Haare zu stylen. Kleinlaut griff er nach dem Arm Naris. Er konnte ihm nicht in die Augen schauen. „Nari… …es tut mir leid.“

Nari brummte zuerst nur stumm, dann schlossen sich die Haltbringenden Arme um den schmalen Körper des Studenten und als wäre die letzte Nacht nicht geschehen, zog er Yejun in die von ihm so geliebte, wie gehasste Umarmung.

„Ich verstehe schon, Yejun.“

Ah – es war lästig, jemanden wie ihn als engsten Vertrauten zu haben. Nari kannte ihn. Und er wusste, dass etwas nicht stimmte – dass die Tatsache, dass Ki-ho einen Schützling hatte, dem er solche Blicke zuwarf, ihm zu schaffen machte. Selbstverständlich hatte Yejun ihm gegenüber nicht verbalisiert, warum genau ihn das dermaßen traf … und dass er dem verfluchten Thailänder am liebsten die Augen herausgerissen hätte, als er Ki-ho angeschaut hatte … Nari wusste nicht um die Intensität der Gefühle, die Yejun für seinen Cousin empfand. Er wusste auch nicht, dass Yejun sich seit einigen Wochen – im Endeffekt seit Beginn des Semesters – gezielt von Ki-ho fernhielt, um sich selbst zu schützen. Und dass er gleichzeitig jeden Schritt, den Ki-ho mit seinem neuen Schützling tat, genaustens beobachtete … … und dabei überhaupt nicht mehr daran dachte, sich selbst zu schützen.

Nari wusste das alles nicht – und trotzdem war er sofort zur Stelle gewesen, als Yejun ihn um diese kleine Auszeit gebeten hatte. Es war nicht ungewöhnlich, dass sie gemeinsam in die Heimat des Älteren reisten. Und auch nicht, dass sie über Nacht blieben. Aber dass sie beinahe so etwas wie Urlaub machten … war für die beiden Arbeitstiere nicht besonders üblich.

Nari hatte nicht nach dem Warum gefragt. Er hatte auch nicht in Frage gestellt, dass Yejun überhaupt die Bedeutung des Worts „Urlaub“ kannte. Er hatte lediglich darauf bestanden, dass sie an einem Tag den Markt besuchen würden …

… und Yejuns Exzess hätte diese eine Bedingung beinahe zunichte gemacht.

Vorsichtig tätschelte er die Hand seines Vertrauten, die vor seiner Brust baumelte und brummte: „Du kannst loslassen. Ist angekommen. Passiert nicht noch einmal.“ Die Tatsache, dass der sonst so eloquente Student nur halbe Sätze sprach, zeigte wohl wie viel ihm die Geste des Vertrauten bedeutete und wie nahe ihm die ganze Situation ging.

Nari baute sofort Abstand zwischen ihnen auf und strich sich die Kleidung glatt, ehe er zur Hotelzimmertür ging. Erwartungsfroh winkte er Yejun heran und der begriff, dass was auch immer sich in seinem Leben verändern würde: Yoomin Nari wäre die eine Konstante, die bleiben würde.

Jae-song III - Das Wiedersehen

Die sonst so vertraute Bar wirkte fremd auf Jae-song, als er das Choi-ce betrat. Er fühlte sich … deplatziert. Die sanfte Musik kitzelte in seinen Ohren und das Rauschen der Gespräche um ihn herum hüllte ihn in eine willkommene Anonymität. Niemand nahm wirklich Notiz von ihm, als er sich durch den schmalen Eingang über die Tanzfläche hin zur Bar schob, vorbei an den Tischen aus Eichenholz und den tiefhängenden warm leuchtenden Lampen, vorbei an eilenden Kollegen und tratschenden Frauen, vorbei am Geruch von Soju und Bier, von Snacks und Pizza, hin zum Mann in Weinrot – hin zum einzigen Menschen in der vollen Bar, den Jae-song wirklich wahrnahm.

Vorsichtige Barkeeperfinger reckten sich, hielten inne, wollten berühren und waren gleichzeitig zu schüchtern – waren gefangen in der Frage danach, ob er ihn berühren durfte, ob sie Grenzen überschritten, und noch immer sah Jae-song einzig und allein jenen Mann, den er so sehr vermisst hatte. Mut zuckte lebhaft in seinem Inneren, beflügelte die letzten Schritte, der letzte Abstand war überwunden, ein zärtliches doch atemloses „Hyung“ brach von den Lippen und in einer einzigen Bewegung schmolzen Jae-songs Finger um das Handgelenk Sam-jungs und er ihm entgegen. Er spürte die Kälte des Uhrenmetalls im herrlichen Kontrast zur Wärme der Haut darunter, fühlte wie das Prickeln in den Fingerspitzen sich ungefragt und doch so willkommen im gesamten Körper ausbreitete und sein Herz zum Flattern brachte. Scheu suchte er die goldgesprenkelten Augen, die vor Staunen geweitet zu ihm aufschauten, kein Ton dunkler als in seiner Erinnerung, sondern so viel strahlender und wärmer als zuvor und noch während sein Name vom honigweichen Bassbariton sonor von den Lippen des Älteren fiel, zerflossen Jae-sonsgs Zweifel und Barrieren und seine Arme schlichen sich ungefragt unter denen Sam-jungs hindurch, verschlossen sich fest in dessen Rücken; er gab dem Drängen im Inneren nach – er hatte ihn so, so sehr vermisst – und er umarmte Sam-jung, als wären sie nicht in der Öffentlichkeit und als wäre die Welt um sie herum vollkommen gleichgültig und er spürte, wie die starken Arme sich auch um ihn schlossen, den Abstand zwischen ihnen verringerten, wie sich ein aufgeregt polterndes Herz gegen das eigene schmiegte, wie eine Hand auf seinem Hinterkopf zum Liegen kam und seine Stirn in den weichen Wollstoff des Mantels drückte – das herbe Parfum kitzelte in seiner Nase, ließ Schauer seinen Rücken herabrieseln und die Wärme des anderen Körpers umfing ihn genauso endgültig, wie die unnachgiebigen Arme, die versprachen, ihn nie – n i e – wieder loszulassen.

Jae-song wollte in Sam-jung versinken.

Der fremde Atem auf seiner Wange, stockend und ganz so, als habe Sam-jung seit Wochen nicht richtig atmen können, riss ihn in die Gegenwart zurück. Sofort wollte er Abstand zwischen sie bringen, doch Sam-jung ließ ihn nicht los, im Gegenteil: die Hand auf seinem Hinterkopf brachte ihn noch näher, sodass seine Nasenspitze am hohen Kragen des hochwertigen Pullovers vorbei den empfindlichen Hals streifte und Verlegenheit durchflutete Jae-song so jäh, wie der vorherige Zwang, seinen seltenen Gast zu umarmen. Was tat er hier nur? Er umarmte Sam-jung an seinem Arbeitsplatz vor allen Leuten derartig innig, dass keine Zweifel an ihrer Beziehung aufkommen mochten! Und da fragte er sich doch unweigerlich selbst: welche Beziehung? Sie hatten ihren Treffen noch nicht wirklich einen Namen gegeben, auch wenn der Medizinstudent keine Sekunde an der Aufrichtigkeit des schönen Mannes zweifelte und sich sicher war, dass die Zuneigung auf Gegenseitigkeit beruhte.

Wie sonst sollte er sich das Pochen in der fremden Brust erklären, das gegen den eigenen Herzschlag tanzte?

Und wie sonst konnte er die Hände interpretieren, die ihn nicht loslassen wollten?

„Tut mir leid, Jae-song. Gib mir noch eine Minute“, streichelte der weiche Bassbariton sein Herz und Jae-song konnte nur widerstandslos nicken, die Hände in den Mantel des Älteren verkrampft, das Gesicht an seinem Hals versteckt. Er spürte die Sehnsucht Sam-jungs … spürte, dass das Vermissen auf Gegenseitigkeit beruht hatte … und selbst wenn langsam aber sicher die Scham Überhand gewann und er sich am liebsten aus der Situation herausgewunden hätte, versank er stattdessen noch weiter in den Armen des Älteren. War es nicht verwunderlich, dass er sich dieser Umarmung so sehr hingeben konnte? Noch nie hatte er jemanden derartig umarmt, nicht einmal seine Eltern, erst recht nicht in der Öffentlichkeit.

Plötzlich wurde es kalt am Hinterkopf und dort, wo eben noch eine große beschützende Hand gelegen hatte, strich nun nicht mehr als von Soju schwere Barluft sein Haupt. Zögerlich, vorsichtig beinahe, entfernte Jae-song sich vom Älteren. Eigentlich wollte er gar keinen Abstand … er ertappte sich sogar bei dem Gedanken, dass sie gerne für immer genau so bleiben konnten, vollkommen ungeachtet der anderen, die sie beobachteten … aber als er einen Blick auf gerötete hohe Wangen werfen konnte . . . und auf funkelnde goldgesprenkelte Augen . . . und auf das Lächeln, bei allen magischen Göttern, das Lächeln…!

Jae-song starrte Sam-jung an. Starrte ungeniert auf die pure Zuneigung, die ihm entgegenschlug und die ungefilterte Zärtlichkeit, die sich um weiche Mundwinkel legte. Fasziniert sah er dabei zu, wie Verlegenheit über die Züge des Älteren zuckte und er spürte sein Herz bis zum Anschlag im eigenen Hals klopfen, glaubte, dass seine Welt Kopf stand und noch während sich die Stille zwischen ihnen ausbreitete, drängte sich der Rest der Welt langsam aber sicher wieder zwischen sie. Die Musik wurde präsenter, die Menge um sie herum greifbar und Jae-song räusperte sich, sich urplötzlich all der Menschen um sie herum bewusst. Unbeholfen ließ er vom Älteren ab, schaute gebannt auf die zögernde Hand, die sich am eigenen Arm herabbewegte und über den dicken Stoff der Winterjacke glitt, suchend vielleicht, widerwillig ganz sicher und für den Bruchteil eines viel zu schnellen, viel zu fanatischen Herzschlags war sich Jae-song sicher, dass Sam-jung seine Hand greifen würde.

Sein Blick zuckte empor, sein Atem stockte, aber Sam-jung lächelte zutraulich und akzeptierte mit einem lautlosen Seufzer den Abstand zwischen ihnen, genauso um Worte verlegen wie der Student selbst. Das … war neu für sie beide. Bisher hatte der Ältere selten nach Worten gesucht und Jae-song fingerte nervös mit dem Reißverschluss seiner Jacke herum.

Sie hatten einander so lange nicht gesehen und irgendwie … irgendwie versank Jae-song allein beim Gedanken daran, das Wort an ihn zu richten, im Erdboden vor Scham und das obwohl er ihn gerade umarmt hatte, als würde jeden Moment die Welt untergehen.

Was war das nur? Was machte dieser wundervolle Mann nur mit ihm?

Und seit wann war Sam-jung ähnlich verlegen? Wenn er nicht ebenfalls in ihm versunken wäre, hätte Jae-song nun die Reaktion überdacht, doch so begegnete er dem entwaffnenden Mustern scheu unter kurzen Wimpern.

Waren die Schatten unter den hübschen Augen ein wenig dunkler? Sam-jung sah müde aus … ob er überhaupt geschlafen hatte? Ob er einen Jetlag hatte? Jae-song wusste noch immer nicht genau, wo im Ausland sein seltener Gast sich aufgehalten hatte und wie weit es tatsächlich für ihn gewesen war. Wie groß der Zeitunterschied gewesen war, wie heftig die Umstellung. Ob er gegessen hatte? Hatte er überhaupt Zeit gehabt, sich umzuziehen? Plötzlich fühlte er sich so unendlich schuldig für den Egoismus, ihn so dringend sehen zu wollen und schuldbewusst schlug er den Blick nieder, suchte nach den richtigen Worten, um all die widersprüchlichen und doch so gleichen Gefühle auszudrücken, aber der Knoten im Magen wurde immer schlimmer und Jae-song wusste einfach nicht, wie genau er ausdrücken sollte, was in ihm vorging.

Er machte sich Sorgen, offensichtlich, und wusste einfach nicht, ob er sich Sorgen machen durfte. War er zu noisy? Mischte er sich in Dinge ein, die ihn nichts angingen? Oder durfte er sich Sorgen machen?

„Jae-song?“

Hektisch schaute er auf seinen sanft vorgebrachten Namen auf und blinzelte in sorgenvoll schimmernde Augen.

„Ich wollte dich nicht überrumpeln. Habe ich einen Fehler gemacht?“

Fassungslos öffnete Jae-song den Mund. Aber er hatte doch ihn umarmt, vollkommen aus dem Nichts! Wie konnte er jetzt glauben, dass er derjenige war, der ihn überrumpelt hatte? Einen Fehler? Einen Fehler? Sachte Angst stieg im Medizinstudenten auf, dass Sam-jung ihr Treffen als solches als Fehler ansehen könnte und schnell schüttelte er den Kopf, fand ganz von allein sein Lächeln wieder, ehe er es wagte, die kratzige Stimme zu nutzen. „Überhaupt nicht.“ Durfte er? Unsicher verlagerte er das Gewicht, biss sich auf die Unterlippe, schluckte und schließlich warf er den Blick wieder nieder, mit sich selbst kämpfend, gegen den rauschenden Puls in den Ohren und das flatternde Herz in der Brust, gegen den Knoten im Magen und dem dröhnenden Vorwurf im Kopf. Brich aus, wisperte er sich in Gedanken zu, brich aus deinen Komfortzonen aus. Für ihn. Er schluckte trocken und wisperte: „Ich mache mir Sorgen um dich.“
 

Es war unerträglich schwer ihn kein zweites Mal zu umarmen.

Er machte sich Sorgen um ihn? Wie lange war es her, dass es jemand gewagt hatte, sich Sorgen um ihn zu machen? Und war es je vorgekommen, dass diese Sorge sein Herz derart berührt hatte?

Sam-jungs Finger zuckten und er wollte den scheuen Studenten so gerne berühren, ihn mit Gesten bestätigen, wo ihre Worte versagten, doch über die letzten Wochen getrennt voneinander hatte Sam-jung verstanden, dass er vorsichtig mit ihm sein musste. Dass er, obwohl nicht der geduldigste Mensch, mit Kim Jae-song geduldig sein musste, wenn er ihn für sich gewinnen wollte.

Oh – und wie sehr er ihn wollte.

Trocken schluckte er – Geduld, Sam-jung, Geduld! – und obwohl das Mantra im Inneren abspulte, griff er nach dem Kinn des Studenten; die blasse Haut war weich und genau so warm, wie Sam-jung sie sich vorgestellt hatte. Sofort zuckten die eigenen Mundwinkel empor und so sanft wie nur irgendwie möglich hob er das Kinn Jae-songs an, stellte sich vor wie es wohl sein musste, ihn jetzt einfach zu küssen, aber tat es natürlich nicht. Ihm reichte ein Blick in die großen scheuen Augen, die im warmen Licht der Bar funkelten und es überraschte ihn, dass er sich das nicht nur einredete. Augenkontakt, flüchtende Berührungen, diese eine innige Umarmung – es war ihm, als wenn diese simplen Dinge sein gesamtes Wesen neu formten und dort vervollständigten, wo er nicht einmal geahnt hatte, Makel zu haben.

„Du machst dir Sorgen um mich? Wieso?“ Sein Daumen strich sacht über den kaum spürbaren Kieferknochen, ehe er das Zucken in dunklen Augen bemerkte und mit einem entschuldigenden Lächeln die Hand zurückzog. War es zu viel gewesen oder genau richtig? Auch wenn er immer so erschien, als habe er die Kontrolle und als wisse er ganz genau was er tat, hatte er mehr Zweifel und überdachte mehr, als man ihm zusprach. Besonders in Bezug auf den schüchternen Studenten.

Während er hätte wetten können, dass Jae-song den Blick wieder abwandte, überraschte er ihn, indem er den Blickkontakt hielt – scheinbar war es ihm wichtig, dass sie sich anschauten, während er über die nächsten Worte nachdachte und Sam-jung wappnete sich, verspürte ein hoffnungsvolles Kribbeln im Magen und schmunzelte über sich selbst, war es doch ausgeschlossen, dass Jae-song hier vor aller Augen etwas tun oder sagen würde, das ihn in Verlegenheit bringen würde.

„Weil du mir wichtig bist, hyung.“

Okay.

Okay, er hatte sich geirrt.

Sam-jungs Herzschlag hallte laut in den eigenen Ohren wider und er lehnte sich etwas vor, die trockenen Lippen befeuchtend, ein „eh?“ auf ihnen, ganz so als könne er nicht fassen, was er da gerade gehört hatte. Auf den Wangen des Studenten bildete sich eine herrliche Röte und die großen Augen weiteten sich, und während Sam-jung noch glaubte, er habe sich verhört obwohl er im Grunde wusste, dass das nicht der Fall war, stammelte Jae-song bereits: „Ah, war das .. war das jetzt zu .. habe ich jetzt einen Fehler gemacht?“ Sofort schüttelte Sam-jung den Kopf, der sich leer und leicht anfühlte, genau wie der Rest seines Körpers. War das die berühmt berüchtigte Wolke Sieben? „Absolut nicht. Es ist in Ordnung. Ich mag es sehr.“ Jae-songs Augen leuchteten auf und Sam-jung war ein bisschen stolz auf sich, dass er sich an die Worte des Studenten vor vielen Wochen erinnerte, und er war sich sicher, dass Jae-song verstand, dass er die gleichen Worte wie er damals bewusst wählte. Aber genau so war es ja auch: er mochte es sehr, dass der Jüngere sich Sorgen um ihn machte. Seine Sorge fühlte sich aufrichtig und rein an, ergab das Sinn? Ergab irgendetwas hier noch einen Sinn? Außerdem bedeutete es, dass Jae-song etwas an ihm lag und während die letzten Wochen kein eindeutigeres Signal dahingehend hätten sein können, so waren es doch die dunklen Stunden allein, welche Sam-jung an allem zweifeln ließen.

„Hättest du etwas dagegen, wenn wir woanders einen Cocktail trinken gehen? Ich werde das Gefühl nicht los, dass deine Kollegen dich sonst zu einer Sonderschicht überreden könnten.“

Sein Schmunzeln enttarnte den Scherz und er ertappte seinen Studenten dabei, wie er einen Blick über die Schulter zu seiner Kollegin warf, die bereits seit einiger Zeit fragende Blicke zu ihnen herüberwarf. Erst jetzt schien er zu bemerken, dass sie beobachtet wurden und Sam-jung konnte nicht anders, als über das Entsetzen auf den weichen Zügen zu lachen, so sehr er es auch gerne unterdrückt hätte. Er wollte nicht, dass Jae-song den falschen Eindruck bekam, und gleichzeitig konnte er nichts gegen die Welle an Zuneigung ausrichten, die über ihm hereinbrach.

Jae-songs Lippen zuckten herauf zu einem unbeholfenen Lächeln und er nickte verhalten. „Dann … wirst du auf einen von meinen Cocktails noch länger warten müssen …“, gelangte die raue Stimme an Sam-jungs Ohren und er biss sich auf die Innenseite der Wange, um sich davon abzuhalten, diesen furchtbar entzückenden jungen Mann doch noch einmal zu umarmen. „Eine gute Ausrede um dich wiederzusehen, meinst du nicht auch?“, wagte Sam-jung einen neuerlichen Scherz und wurde mit jenem Funkeln in dunklen Augen belohnt, das schon zuvor eine derartige Magie auf ihn gewirkt hatte, dass sein Herzschlag laut im eigenen Ohr widerhallte.
 

Das Studentenviertel gab eine Menge Bars und Bangs her und Sam-jung hielt gerade letzteres für eine bessere Alternative als eine volle Kneipe mit vielen Augenpaaren. Nicht, dass er unlautere Gedanken hatte – nun, nicht vornehmlich – aber der Ausblick darauf ungestört mit Jae-song sprechen zu können, war derartig verlockend, dass er ihm sofort nachgehen musste.

Es wäre das erste Mal, dass sie tatsächlich Zeit zu zweit verbrachten, waren ihre vorherigen Dates doch eher ein vorsichtiges Herantasten vor aller Augen gewesen; Ausstellung, Universitätsmesse, Bar. Doch nach so langer Zeit getrennt von ihm, wollte er ihn ungern teilen.

„Karaoke … hyung?“

Sam-jung wandte sich zu Jae-song um und wog den Kopf hin und her, ehe er sanft nach dem Ellenbogen des Jüngeren griff und ihn über die Türschwelle in den Noraebang begleitete. „Wir müssen nicht singen, Jae-song, aber das ist eine gute Gelegenheit, um ungestört zu reden. Ich möchte einfach Zeit mit dir allein verbringen.“ Jae-song wurde kurz langsamer und schien über etwas zu stolpern, was Sam-jung gesagt hatte – alarmiert musterte er den Jüngeren, wie er unentschlossen auf der Türschwelle stand und flehentlich suchte er nach Blickkontakt zu scheuen Augen. War das zu forsch gewesen? Hatte er sich zu weit aus dem Fenster gelehnt? Nahm Jae-song an seiner Wortwahl oder der Wahl des Etablissements Anstoß?

Gerade, als er einlenken und die Reservierung rückgängig machen wollte, kam wieder Bewegung in das zögerliche Wesen des jungen Mannes mit den vielen Nebenjobs und Entschlossenheit zuckte auf den weichen Zügen. „Dann müssen wir auch singen“, beschloss er einfach für sie beide mit einer Entschiedenheit, die Sam-jung überrumpelte und ihm abermals zeigte, dass mehr unter der schüchternen Oberfläche schlummerte. Nicht zum ersten Mal drängte sich Sam-jung der Eindruck auf, dass Jae-song, wenn er erst einmal einen Entschluss gefasst hatte, nur sehr schwer vom Gegenteil zu überzeugen war und auch diese Eigenschaft war äußerst anziehend für ihn. Wahrscheinlich wäre selbst die wahnwitzigste Eröffnung über Vorlieben oder Abneigungen des Studenten für Sam-jung attraktiv … … er gestand sich nicht zum ersten Mal ein, dass er Jae-song bereits hoffnungslos verfallen war.

Und während Sam-jung noch gefesselt von der eigenen Faszination für den Studenten war, war dieser bereits dabei, ihnen Getränke zu bestellen und den ersten Song auszusuchen. Der winzige Raum war vollkommen in helles Orangerot getaucht und mehr als die beiden Sitzbänke und dem schmalen Tisch zwischen ihnen – und natürlich dem TV inklusive Soundsystem – fand auch gar keinen Platz in der Karaokezelle. Lustige Lichter flirrten und spiegelten sich in großen Studentenaugen.

„Ist es dein erstes Mal?“, horchte Sam-jung sanft nach und Jae-song nickte beinahe augenblicklich, ihm einen scheuen Blick aus dem Augenwinkel zuwerfend. „Ja. Bisher habe ich mich bei Einladungen von der Arbeit oder Kommilitonen rausreden können…“ Er schien zu begreifen, was er da gesagt hatte, und beeilte sich hinzuzufügen: „Aber ich bin jetzt gerne hier!“ Und wieder schien seine plötzliche Offenheit ihn selbst zu überfordern, als er den Blick auf den Fernseher lenkte und fanatisch die Songs durchging, ganz offensichtlich seine gesamte Aufmerksamkeit erzwungen darauf lenkend. Sam-jung schmunzelte, summte jedoch zustimmend und nahm die bestellten Spirituosen entgegen, ehe er den Raum wieder verschloss. „Wird denn mit mir singen okay für dich sein?“, fragte er seinen schüchternen Studenten, der unsicher die Schultern hob. Ein verlegenes Lächeln spielte um seine Lippen, als er abermals nur kurz zu ihm schaute und jeder noch so flüchtende Blickkontakt zupfte an Sam-jungs Herz. „Nur ein Weg um das herauszufinden…“ Beinahe hätte Sam-jung die Worte nicht gehört, so leise war die kratzige Stimme, die offenbar nicht oft Verwendung fand. Voller Faszination schüttelte er den Kopf und fuhr sich durch die Haare – was sollte er mit all diesen überraschenden Wendungen nur anfangen? Jae-songs Verhalten ihm gegenüber war oft so durchschaubar, so vorhersehbar, nur um im nächsten Moment von wenigen Worten, einer minimalen Handlung, einem Zucken in Gestik und Mimik komplett aus den Angeln gehoben zu werden. Was davon war denn nun der wahre Jae-song? Oder wie genau konnte Sam-jung all die widersprüchlichen Handlungsweisen miteinander in Einklang bringen? Musste er das überhaupt? Konnte er nicht einfach den herrlichen Mut, die entwaffnende Zuneigung und die erfrischende Aufrichtigkeit genießen? Es waren Eigenschaften, die so selten in seinem täglichen Umfeld zu finden waren, dass er nicht wirklich wusste, wie er mit ihnen umgehen sollte und ob Kim Jae-song wirklich real war.
 

Was, wenn all das hier nur ein Fiebertraum war? Verdiente er jemanden wie Kim Jae-song überhaupt?
 

Sam-jung beobachtete ihn bei der Songauswahl und rief sich in Erinnerung, dass sie nicht zwingend zum Singen hier waren. Sanft berührte er ihn am Ellenbogen und reichte ihm einen der Cocktails.

„Hyung … du weißt, dass ich eigentlich noch nicht trinken sollte?“ Amüsiert hob Sam-jung eine Augenbraue und nickte, dieses Mal selbst schweigend, den Blick vielsagend in dunkle Augen gerichtet. Jae-song zögerte nicht, ihm das Glas abzunehmen und schälte sich aus der dicken Winterjacke, legte den flauschigen Schal ab. Sam-jung blinzelte während dieser vielen Bewegungen immer wieder, um nicht zu auffällig zu starren. Es waren unkoordinierte Bewegungen – er kämpfte sich aus dem linken Ärmel hervor, zupfte am flauschigen Schalende, traf nur mit der Hälfte der Jacke die Sitzbank – und dennoch wirkten sie auf Sam-jung wie ein Tanz.

Es war wirklich warm in diesem kleinen Raum.

Automatisch griff er zum Soju und leerte direkt zwei Gläser, um auf andere Gedanken zu kommen.

„Bist du … also, singst du gerne?“, fragte Jae-song ihn zwischen seinen beiden Gläsern und Sam-jung wog den Kopf hin und her; sang er gerne? Die Frage hatte er sich selbst noch nie gestellt und auch andere waren nie auf die Idee gekommen, ihn das zu fragen. Wenn er so darüber nachdachte, hatte ihn noch nie jemand wirklich gefragt, was er gerne mochte … Verwirrt darüber runzelte er die Stirn und sah er sich das erste Mal in seinem Leben der Frage ausgeliefert, was er mochte. Überrascht darüber, dass er auf diese Frage keine Antwort fand, öffnete er den Mund und nur wortloses Schweigen brach über trockene Lippen. Jae-song wirkte verwundert, aber das erste Mal an diesem Abend nicht schüchtern oder um Worte verlegen, sondern vielmehr interessiert, als er sich ihm gegenüber auf die Bank quetschte. In den dunklen Augen brach sich das Funkeln der orangefarbenen Lichter, die um sie herumtanzten wie Glühwürmchen.

„Magst du Musik?“, lautete die zweite vorsichtige Nachfrage und Sam-jung schüttelte ahnungslos den Kopf. „Ehrlich gesagt … habe ich mir darum noch nie Gedanken gemacht.“ Er lachte beschämt, weil ihm das selbst komisch vorkam und nachdenklich fuhr er Kreise um den Rand des Cocktailglas‘. Er spürte den wachen Blick des Studenten auf sich, ohne dass er drängend oder gar störend wurde – die Aufmerksamkeit des jungen Mannes war Balsam für sein Herz, da jene Geduld, mit der er bei Jae-song vorging, nun auch ihm zuteilwurde. Obwohl Sam-jung die eigenen Worte und Gedanken verurteilte, strahlte ihm nur Neugierde entgegen, als er in die weichen Züge des Studenten schaute.

„Hm. Das verstehe ich“, gab Jae-song zu und schaute kurz aufs eigene Glas, ehe er mit einem Lächeln, das einen Stein zum Weinen hätte bringen können, hinzufügte: „Musik ist allgegenwärtig. Vielleicht ist es eine genauso gute Frage wie magst du es zu atmen? Dann … hm.“ Jae-song schien über die eigenen Worte zu stolpern und deutete schließlich auf den Cocktail; leuchtende Wangen, funkelnde Glühwürmchenaugen, Sam-jung war entzückt. „Singen wir einen Song nach dem Cocktail und du hast vielleicht eine Antwort für mich.“ Scheues Lächeln, Aufregung um die Mundwinkel, Zögern in der Haltung – war es zu viel? War es okay? Sam-jung konnte die Fragen beinahe greifen und er blinzelte, weil es seine Idee gewesen war, einen Noraebang zu mieten und es schlussendlich aber Jae-song war, der daraus ein Erlebnis machte.

Er ertappte sich selbst bei dem Gedanken daran, dass er das gerne zur Gewohnheit machen würde.

Also nickte er, versonnen lächelnd, hob das Glas und brachte Jae-song dazu, mit ihm anzustoßen – „nicht wegdrehen!“ – und ihn anzuschauen, während sie den Cocktail Schluck für Schluck schweigend genossen und der Alkohol sanft mit ihrem Kopf zu spielen begann.

Oder ging es nur ihm selbst so? Griff da die Müdigkeit unbarmherzig nach ihm und ließ den Alkohol daher schneller wirken als sonst? Oder war es die berauschende Anwesenheit des jungen Studenten, der ihn ein weiteres Mal damit überraschte, dass ihm der Cocktail scheinbar gar nicht auszumachen schien.
 

Die Mikrofone lagen selbst zwei Stunden später vollkommen unbenutzt auf dem Tisch zwischen ihnen, trotz Jae-songs intrinsischem Wunsch aus Komfortzonen auszubrechen. Sam-jungs Wangen hatten einen ähnlichen Orangeton angenommen wie die Lichter um sie herum und immer wieder ertappte Jae-song sich selbst dabei, wie er ihn einfach nur wortlos anstarrte, während der wundervolle Mann mit ihm sprach.

Es waren Kleinigkeiten, die er heute in Erfahrung gebracht hatte. Er mochte den Soju von Chum Churum lieber als den von Jinro und am liebsten pur – Cocktails lieber süßlich, als bitter und wann immer Bitterstoffe verwendet wurden, zuckte seine Oberlippe ein wenig abwertend, aber beschweren tat er sich nie. Auch nicht über die sehr salzigen Tortillachips, die sie zum Soju aßen und auch nicht über die zu weichen Sternfrüchte, die am Cocktailglas steckten. Als Jae-song ihn auf die Konsistenz aufmerksam machte, zuckte Sam-jung nur mit den Schultern und beteuerte, dass er Essensverschwendung hasste und das Herz des Studenten machte einen unbeholfenen und viel zu eindeutigen Sprung in die Richtung des Älteren.

Sagte er absichtlich all die richtigen Dinge? Konnte er Gedankenlesen? Für jemanden der in einem eher ärmlichen Umfeld aufgewachsen war und der jeden Won und jeden Sickel doppelt und dreifach umdrehen musste, war Essensverschwendung ein heikles Thema. Es war unmöglich, dass Sam-jung das bereits wusste und so hatte Jae-song eine Gemeinsamkeit herausgefunden, ohne direkt gefragt zu haben. Es war ein unbeschreibliches Hochgefühl mehr über den Älteren zu erfahren und jeder Schritt in dessen Welt hinein war wie ein Rausch.

„Wollten wir nicht singen?“

Der Bassbariton war angeschlagen und die Worte rollten langsam über geschwungene Lippen. Jae-song biss sich auf die Unterlippe und musterte die schweren Augenlider, die hängenden Schultern, die durch die Luft tanzende Handfläche.

Sam-jung war betrunken.

„Hmn, hyung. Wir sollten lieber gehen“, wagte er einzuwenden und erschrak über das Entsetzen, das ihm entgegenstrahlte. „Wieso? Bist du müde? Oh, oder hast du Hunger? Ich habe Hunger, lass uns essen gehen. Ich kenne ein tolles Restaurant, direkt hier um die Ecke … Warst du schon einmal im Dancing Hong Kong? Die besten kalten Nudeln, die ich je gegessen habe.“ Und wieder hatten Informationen den Besitzer gewechselt, aber Jae-song war zu irritiert vom plötzlichen Essenswunsch des Älteren, als das er sich mit den kalten Nudeln aufhalten könnte.

„Sam-jung hyung?“

Die zuvor so milchigen Augen kamen glasklar und funkelnd wie tausend goldene Sterne auf ihm zum Liegen. Jae-songs Herz setzte einen kurzen Moment aus und Wärme pulsierte durch seinen gesamten Körper; die Aufmerksamkeit des Älteren war berauschend und atemlos erwiderte er den magnetischen Blickkontakt. Mochte er es so sehr, wenn er ihn so ansprach…?

Jae-song schluckte trocken und versuchte sich die Lippen zu befeuchten. Sein Magen zog sich vor Aufregung zusammen, als Sam-jungs Augen zu seinen Lippen herabzuckten und auf ihnen verweilten, Sekunde um zähe Sekunde, in welchen das Schweigen zwischen ihnen ihn in eine weiche Decke aus Zuneigung hüllte.

Er starrte ihn an – er starrte seine Lippen an! Er … wollte doch nicht etwa …? Jae-song war überfordert von dem Gefühl, das einer Naturgewalt gleich durch seinen Brustkorb pflügte. Er fühlte sich nackt und ausgeliefert – und er mochte es.

Mit brennenden Wangen und Hitze überall im Körper musste er sich atemlos eingestehen, dass er es sexy fand, wie Sam-jung ihn anschaute. Es war das erste Mal überhaupt, dass seine Gedanken in eine derartige Richtung stoben.

Er räusperte sich und Sam-jungs Augen flogen empor in ihre Gegenstücke.

„Hyung. Du bist betrunken und sicherlich müde. Ich bringe dich nach Hause.“ Jae-song lächelte weich und kämpfte sich hinter dem Tisch hervor, sich Jacke und Schal bereits anziehend, als er hörte, wie Sam-jung aufstand. „Ich will aber noch nicht nach Hause.“ Irritiert blinzelte er den Älteren an, dessen Stimmfarbe wie die eines Jüngeren klang. Sein Herz klopfte nicht nur, es wollte einen Marathon gewinnen, als Sam-jung die Hände nach ihm ausstreckte und sich an seinen Armen festhielt, ein „ich will bei dir sein“ zum Besten gebend und Jae-song konnte nur atemlos „hyung, du bist schwer“ erwidern, vollkommen überfordert von der Situation.

Er hatte noch nie jemand Betrunkenen nach Hause bringen müssen. Erst recht niemanden, den er eindeutig mochte, nein, in den er sich verliebt hatte, den er anziehend, nein, sexy fand. Und dem es scheinbar genauso ging. Unangemessene Gedankengänge mischten sich mit seinem rasanten Herzschlag zu einem nervösen Cocktail, von dem er nicht sicher war, wie er ihn genießen sollte. Ob er ihn überhaupt schon genießen sollte – war es dafür nicht viel zu früh? Für derart intensive Gefühle, derartige Gedanken, Wünsche? Jae-songs Wangen brannten, waren der Spiegel für all die Vorstellungen, die jede einzelne Berührung der fremden Hände auslösten, und er wollte Sam-jung von sich stoßen, nur, damit diese Gedanken endlich aufhörten und gleichzeitig wollte er ihn festhalten, damit er nie wieder etwas anderes vor seinem inneren Auge sehen musste.

Diese widersprüchlichen Gefühle wurden jedoch alle von einer Tatsache in Schach gehalten: Sam-jung war betrunken und brauchte Hilfe. Aber die mangelnde Erfahrung in derartigen Situationen stellte Jae-song vor so viele Herausforderungen, dass er gar nicht wusste, wo er anfangen sollte; die Entscheidung wurde ihm abgenommen.

Ihre Buchungszeit im Bang ging dem Ende entgegen und die Mitarbeiterin setzte sie entschieden vor die Tür, während ein anhänglicher Sam-jung sich an ihn klammerte und jeden Schritt schwer machte. Aus so vielen unterschiedlichen Gründen . . . Jae-song wollte ein Taxi rufen, sah sich jedoch in der unangenehmen Situation gar nicht zu wissen, wohin er mit dem Älteren fahren sollte und dessen Zustand verschlechterte sich durch die frische Luft. Er wirkte blass um die Nase und so, als könne er jeden Moment entweder in Ohnmacht fallen, oder aber sich auf die belebte Straße übergeben. Unbeholfen stützte Jae-song den Älteren, während sie mehr oder weniger gemeinsam und koordiniert Schritte gen Straße gingen. Immer wieder versuchte Jae-song zu erfahren, wo Sam-jung genau wohnte, denn obwohl er ihn bereits zwei Mal mit dem Taxi nach Hause begleitet hatte, waren sie doch nur zu einem Hotel gefahren und der Medizinstudent konnte sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, in welches der vielen Hotels sie gefahren waren. Und selbst wenn er sich hätte erinnern können, so war es doch recht unwahrscheinlich, dass Sam-jung abermals in diesem Hotel abgestiegen war, oder? Oder lebte er im Hotel? Ach, war das nicht zu Klischeebeladen? Und darüber hinaus … selbst wenn Jae-song gewusst hätte wohin er Sam-jung bringen sollte …

„Hyung? Hyung, ich … sollen wir lieber ins Krankenhaus?“

„Nein, nicht nötig. Ich kann … Ah, ich mache dir nur Probleme, hm? Es tut mir leid.“

… selbst wenn er es gewusst hätte …

In dem Zustand konnte er ihn unmöglich allein lassen. Und da das Krankenhaus schlussendlich als Option vom Betrunkenen negiert wurde – auch wenn Jae-song natürlich wusste, dass man Betrunkenen nicht die Entscheidungsgewalt überlassen sollte – nahm sich der Student ein Herz und schnappte nach den Schultern des Älteren, hielt ihn fest und versuchte, seinen Blick zu fesseln.

„Hyung?“

Sam-jung konnte ihn offensichtlich nicht anschauen und Jae-song biss sich auf die Unterlippe.

Sam-jung hyung?”, wisperte er nun, peinlich berührt aufgrund der vielen Menschen um sie herum, auch wenn kaum jemand Notiz von ihnen nahm. Aber die Vertrautheit, mit welcher er den Älteren nun ansprach, brachte das eigene Herz zum Flattern und mit rasant steigendem Puls bemerkte er, dass Sam-jung wie schon zuvor auf ihn reagierte. Augenblicklich begegnete er seinem Blick, spannte die Schultern an und versuchte aufrecht zu stehen; Ernst zuckte über die geröteten Züge und Jae-song musste lächeln, als er bemerkte mit welcher Anstrengung der Ältere versuchte, ihm die Aufmerksamkeit zu schenken, um die er gerade gebeten hatte.

Es berührte sein Herz.

„Ich … nehme dich mit.“

Jae-song verließ der Mut auf halbem Weg und alles in ihm schrie vor Nervosität. Wie klang das denn, wenn er ihm nun sagte, er würde ihn mit zu sich nach Hause nehmen? Er krallte sich in die Schultern des schönen Mannes, der feierlich nickte.

„Klingt vernünftig“, brummte sonorer Bassbariton und entflammte Jae-songs Wangen, legte sich um die Zweifel und Sam-jung fiel ihm entgegen, tauchte unter seinen Armen hindurch in eine Umarmung, die Schutz und Halt bot und Jae-song war so, als würde er seinen eigenen Körper verlassen und irgendwo zwischen den Sternen Seouls schweben, während er seinen seltenen Gast durch die nächtlichen Straßen zur nicht weit entfernten Studentenunterkunft brachte.
 

Welch Ironie, dass er sich vor wenigen Wochen noch gefragt hatte, wie Sam-jung seine Inneneinrichtung gefallen würde … was er zur Farbwahl sagen würde … und wie gut, dass er seitdem fanatisch auf Sauberkeit und Ordnung achtete, unterbewusst wohl auf eine Gelegenheit hoffend, Sam-jung zu sich nach Hause einzuladen und er ertappte sich dabei, wie er sich selbst ohrfeigen wollte, um endlich die turbulenten Gedanken und das verrücktspielende Herz zu beruhigen.

Er musste kalt tuschen.

Verdammt kalt duschen.

„Jae-song…“

Augenblicklich verlagerte der Student das Gewicht und hielt den Älteren sicherer, als er die 15 im Aufzug betätigte, ein sanftes „hmn?“ als Reaktion gebend und zu Sam-jung herabschauend, der an seinem Arm hing. Jae-songs Herz setzte einen Moment aus, als er den funkelnden Augen ausgeliefert war, doch er verlor nicht das sachte Lächeln. „Wir sind gleich da“, versprach er ihm leise und war dankbar dafür, dass aktuell niemand außer ihnen den Aufzug nutzte und sie unbeobachtet bis vor seine Wohnungstür kamen.
 

Jetzt oder nie.

Entschieden drückte er den stützenden Arm zur Seite, stolperte ein wenig, aber kontrollierte sein Gleichgewicht, ehe er den Jüngeren gegen die Wohnungstür presste. Die ganze Zeit schon hatte dieser Gedanke in ihm geschlummert und war größer, drängender geworden; er musste dem Begehren in seinem Inneren nun endlich nachgeben, sonst würde er noch verrückt werden. Wie lange hatte er schon darauf gewartet? Sie waren so lange getrennt voneinander gewesen, hatten sich so lange nicht gesehen … Geduld, Sam-jung!, verstrich die innere Stimme ungehört.

Ein erschrockenes „hyung?“ zupfte am polternden Herzen, geweitete Augen ließen ihn sich auf die Unterlippe beißen und nicht zum ersten Mal an diesem Abend stolperte er über die Intensität der eigenen Gefühle. Er wollte ihn so dringend küssen … Schon seit Stunden, nein, eigentlich schon seitdem er ihn wiedergesehen hatte. Jae-song rutschte ein wenig am Holz der Tür herab – die langen Finger kamen zögerlich auf Sam-jungs Brust zum Liegen, spürten nun dem rasenden Herzen nach und sie schauten beide auf die zarten Finger herab, und schienen beide überrascht von der Geschwindigkeit, mit welcher Sam-jungs Herz im Rippengefängnis polterte.

Sam-jung schaute langsam auf, sog die Nähe zum Jüngeren in sich auf, den Geruch nach Kaffee und Soju, suhlte sich in der Faszination in dunklen Augen, war verzaubert von der Rötung der hohen Wangen, von der Reinheit der Haut, vom markanten Kinn, das unter den eigenen Fingern ein wenig hochgehoben wurde. Die fein geschwungenen Lippen brachen auf, verloren abermals ein atemloses, vielleicht ängstliches „hyung“ und Sam-jung zerfloss, Geduld!, frustriert seufzend, lehnte die eigene Stirn gegen die des Studenten und jagte dessen Atem nach, der sich gegen die eigenen Lippen brach, zitternd und verängstigt, ah – wie hatte er ihn nur verängstigen können?

„Ich … würde dich so gerne küssen, Jae-song, aber nicht, wenn ich betrunken bin. Nicht, wenn es nicht einvernehmlich ist. Kannst du noch eine Weile länger auf mich warten?“
 

Sein Atem stockte. Sam-jung kam immer näher und paralysiert war Jae-song nicht Teilnehmer, sondern nur Beobachter. Jeder Millimeter kam ihm wie eine Ewigkeit vor und das Herz des Älteren polterte unter seiner Hand; keine Fluchtmöglichkeit mit der Tür im Rücken, mit der Präsenz des Älteren vor sich; er sank in sich zusammen, immer weiter, hoffte auf der einen Seite, dass Sam-jung die Grenze überschreiten würde, hatte auf der anderen Seite aber so große Angst genau davor.

Er hatte noch nie jemanden geküsst.

Und auch wenn er sich sicher war, dass er Sam-jung küssen wollte, so war er sich nicht sicher, ob er das ausgerechnet jetzt wollte. Der Knoten, der sich in seinem Magen gebildet hatte, sagte ihm ganz eindeutig NEIN – gerade in dem Moment, als er bereit war sich gegen den Älteren zu wehren, ihn zu bitten aufzuhören, ihn wenn nötig von sich zu stoßen, spürte er dessen Atem auf seinen Lippen. Schauer rieselten seinen Rücken herab, ausgelöst vom fahrigen Luftzug gegen die empfindliche Haut und dem Geruch von Alkohol; Jae-song traute sich die Augen zu öffnen und Sam-jung überwand die Distanz, um ihre Stirnen aneinanderzupressen.

Sein Herz blieb stehen.

Blinzelnd schaute er empor auf die geschlossenen Augen, hörte diesen wundervollen Menschen Worte sprechen und verstand die Welt kaum noch.

Er sollte auf IHN warten?

War es nicht viel mehr umgekehrt?

Jae-song blinzelte und schluckte trocken, kämpfte gegen die Verlegenheit an und nahm die zitternde Hand von der Brust des Älteren, ihn sanft an den Schultern von sich schiebend. „Hmn“, summte er zustimmend, als ihre Blicke sich trafen, „ich warte.“
 

Sonnenlicht brach unbarmherzig seine schmerzhaften Bahnen auf dem vom Alkohol schweren Kopf, als Sam-jung ächzend die Augen öffnete. Es kam ihm so vor, als habe er nicht mal zehn Minuten geschlafen – desorientiert fingerte er nach Handy oder Armbanduhr auf dem Nachtschrank … und griff ins Leere, fischte durch die Luft, brummte widerwillig, wollte die Augen noch nicht komplett öffnen, schmerzten sie doch viel zu sehr, um sie dem hellen Licht auszusetzen. Der schale Geschmack auf der Zunge verlangte danach mit Wasser fort gespült zu werden und für einen Moment war er gefangen in jener seltsamen Zwischenwelt zwischen Schlaf und Wachheit, jenem Zustand, der so gefährlich für einen Mann wie ihn war. Wie hatte er sich nur so gehenlassen können? Fahrig griff er sich an rhythmisch pochende Schläfen, versuchte sich zu konzentrieren und wurde mit einem Stechen hinter der Stirn bestraft – Stück für Stück rief er sich in Erinnerung, was am gestrigen Abend passiert war …

… und schnellte in die Senkrechte.

Ihm war schlecht, ihm drehte sich der Kopf, er fühlte sich wie mindestens Fünfzig und trotzdem setzten sofort die Instinkte ein.

Er war mit Jae-song im Noraebang gewesen, hatte viel getrunken und … Ein Anflug von fremdem Atem auf den eigenen Lippen … ängstlich geweitete Augen, die zu ihm aufschauten … ein verzweifeltes „hyung“, das ihn darum bat, dass er einhalten sollte …

„Scheiße.“

Hatte er ihm etwas angetan? War er zu weit gegangen? Hatte er ihn angefasst? Oh Gott … hatte er jetzt alles kaputt gemacht?!

Verzweifelt fuhr er sich über die Haare und gefühlt war er sofort nüchtern, als er begriff, dass er nicht zurück im Hotelzimmer war, sondern … sondern …

„Hyung?“

Schlagartig ruckte sein Kopf zur Seite zur sanften Studentenstimme – „ah!“ – stechender Schmerz jagte Übelkeit erregend durch seinen Kopf, aber alles war gleichgültig, weil Jae-song neben dem Bett stand, angezogen, und ihn besorgt musterte. Wasserglas in der einen, Stäbchen in der anderen Hand.

„Jae-song! Was…?“

Sam-jung blinzelte und ahnungslos nahm er dem Jüngeren das Wasserglas ab, in welches dieser eine Tablette schmiss. Die orangene Färbung und der Geruch von heilender Chemie wollten Sam-jung verraten, dass es sich um Katermedizin handelte, und er befeuchtete sich die Lippen, ein „danke“ auf ihnen, ehe er vorsichtig trank. „Austrinken, hyung“, wies Jae-song ihn sanft an und er blinzelte zu ihm herüber.

Sein Student schien weder wütend, noch verletzt … und anhand der wenigen Zeit, die sie bisher miteinander verbracht hatten und der schonungslosen Aufrichtigkeit, mit welcher Jae-song ihm begegnete, konnte das nur bedeuten, dass Sam-jung sich hatte stoppen können. Erleichterung brach von seufzenden Lippen und er nickte vorsichtig, ehe er die Medizin trank.

Über den Glasrand hinweg musterte er den Jüngeren; er war anders angezogen als gestern, lediglich gekleidet in eine weiße Stoffhose und ein weißes Shirt und beides erinnerte Sam-jung an den Tag, den sie an Jae-songs Universität verbracht hatten. Mit einem nachsichtigen Lächeln nahm er das Glas von den Lippen und spürte dem warmen Gefühl in der Brust nach, das die Erinnerung und die Tatsache, dass ein angehender Mediziner sich um ihn gekümmert hatte, ausgelöst hatte.

„Wegen gestern…“, fing Sam-jung langsam an, atmete jedoch kurz schmerzerfüllt durch, als abermals sein Kopf zuckte und Jae-songs Sorge war so demaskierend, dass er mit einem Lächeln die freie Hand hob um zu signalisieren, dass er wohl noch eine Weile schweigen würde. Statt sich also tatsächlich für sein Verhalten zu entschuldigen wie geplant, schaute Sam-jung sich um, dieses Mal wach genug, um die Details des Raums in sich aufzusaugen.

Er war in einem kleinen Apartment, das nicht viel mehr als Bett, Schreibtisch, Kochnische und einige Regale aufwies. Große Fensterfront, eine Tür – vermutlich zum Flur – helle Wände, kaum Dekoration wie typisch für kurzzeitig gemietete Wohnungen in Seoul. Die Bettwäsche war weich, blumig und dunkelblau – der Schreibtisch überladen mit Büchern, Notizbüchern und Aufzeichnungen und dennoch wirkte es wie organisiertes Chaos – der Geruch von Ramen lag in der Luft.

Langsam schaute er zum Studenten, der noch immer neben dem Bett stand und geduldig schweigend auf etwas wartete, von dem Sam-jung nicht greifen konnte, was genau es war.

„Bin ich … bei dir zu Hause?“, wagte Sam-jung einen kleinen Vorstoß und Jae-song warf kurz den Blick nieder. Schämte er sich? Woran dachte er jetzt wohl, als er stumm nickte und vorsichtig einen Schritt zurück machte, auf die Tür deutend. „Ich habe leider kein eigenes Bad, du musst also … also … über den Flur, dritte Tür rechts.“ Sam-jung blinzelte, nickte aber mechanisch auf diese Information und leerte das Glas komplett, ehe er sich vorsichtig aus der Decke schälte. Er trug noch immer die Anzughose, seine Socken und das Hemd von gestern Abend. Jae-song hatte sich offensichtlich nicht getraut, mehr als notwendig an Kleidung auszuziehen, aber das bedeutete auch …

Die Erinnerung vom fremden Atem auf den eigenen Lippen schwand, machte dem Versprechen des Jüngeren zu warten Platz und Erleichterung ließ Sam-jung laut durchatmen. Auch wenn er bereits zuvor anhand der Reaktion des Studenten erahnt hatte, dass nichts Gravierendes passiert war, so hatte er nun die Bestätigung durch eigene valide Erinnerungen. Und auch wann das der erste Gedanke war, so zuckte doch lebhaft eine Welle des Glücks durch ihn, denn wenn er tatsächlich so viel getrunken hätte, um diesen Abend zu vergessen, hätte er sich nie verziehen.

Er wollte sich an jede Sekunde mit dem schüchternen Studenten erinnern.

Sam-jung deutete auf die Wohnungstür. „Ich gehe mich kurz frisch machen.“ Jae-song schien zu zögern, aber dann drückte er ihm ein graues, weiches Handtuch und Kleidung in die Hand, den Blick auf den Boden gerichtet. „Tut .. tut mir leid, ich habe nichts anderes ..“

Sam-jung nahm vorsichtig die Kleidung entgegen: eine helle Jogginghose und ein weißes Shirt, das verdächtig nach dem aussah, das Jae-song selbst trug, natürlich keine Unterwäsche, Badelatschen. Der sachte Geruch des Waschmittels stieg ihm in die Nase und löste sanftes Kribbeln in seinem Magen aus. Sein Herz flatterte leise gegen seine Rippen, als ihm bewusstwurde, dass es Jae-songs Klamotten waren, die er tragen würde. Sacht berührten seine Finger die des Studenten, als er ihm die Klamotten abnahm, und er suchte nach dem Blick aus den scheuen dunklen Augen, hielt sie fest und nickte langsam. „Ich werde deine Kleidung tragen. Wieso sollte ich dann irgendetwas anderes als das wollen?“ Zufrieden sah er dabei zu, wie die Wangen des Studenten die liebgewonnene Rötung annahmen, aber tapfer hielt er seinem Blick stand, wand sich sichtbar unter seiner Aufmerksamkeit, nickte wortlos und auch Sam-jung fehlten die Worte, um seine Zuneigung weiter auszudrücken. Es fühlte sich wie eine Ewigkeiten an, in welcher seine Fingerspitzen den Handrücken des Studenten berührten, in welcher er es nicht wagte sich zu bewegen, um Jae-song nicht zum Rückzug zu bringen und dessen Nähe noch eine Weile länger auszukosten, in welcher er den Atem anhielt und dem Ziehen in Magen und Herz nachfühlte, das Prickeln auf den Lippen genoss, ausgelöst von der Erinnerung von Atem auf ihnen und abermals war es so schwer, der Versuchung nicht zu erliegen und die Distanz zu wahren. Geduld, Sam-jung. Er wartet auf dich.

Er atmete zittrig durch und Jae-song zuckte zurück.

Im Vorbeigehen berührte er die Schulter des Jüngeren so sanft wie nur irgendwie möglich, nickte ihm zu – „bis gleich“ – und verschwand zu den Gemeinschaftsduschen.
 

Er war hier.

Er war wirklich hier!

Sobald Sam-jung das Zimmer verlassen hatte, begann Jae-song fanatisch die Kleidung zusammen zu schieben, die er gestern hektisch ausgezogen hatte und beeilte sich dabei, die Bettdecke wieder zurecht zu zupfen. Er überprüfte sogar, dass dem weinroten Trenchcoat an der Garderobe nichts passiert war und dass die teuren Anzugschuhe noch genau dort standen, wo er sie Sam-jung ausgezogen hatte. Er hatte sie Sam-jung ausgezogen! Nervosität durchstob jede Pore und er konnte kaum einen klaren Gedanken fassen.

Er war wirklich hier!

Auf flinken Sohlen stob er zum Fenster und riss es auf, schob dennoch die Vorhänge davor, denn vielleicht tat ihm das Sonnenlicht wegen des Katers noch weh – und oh, sein Schreibtisch! All die Aufzeichnungen! Mit großen Augen schob er die Hausarbeit zusammen, an der er gerade arbeitete und musste über sich selbst lachen, als ihm bewusstwurde, dass er zum dritten Mal das gleiche Blatt in der Hand hielt.

Sam-jung war wirklich hier. Er hätte sich besser darauf vorbereiten müssen, hatte kaum etwas zu essen im Haus … Oh! Ah! Essen! Die Ramen!

Hektisch rauschte er zur Kochplatte, nahm den dampfenden Topf runter und goss die Nudeln in zwei Schalen ab, schlug das Ei auf, warf den Lauch rein und atmete durch, als die Arbeit getan war.
 

Die Tür ging auf und Sam-jung kam zurück, gekleidet in seine Klamotten und Jae-song stieg abermals die Röte ins Gesicht, da er selbst in diesen einfachen Klamotten unverschämt gut aussah. Er konnte ihn kaum anschauen … es war alles so verrückt! Fühlte sich so verrucht an! Dabei war gar nichts passiert, wie Jae-song sich immer wieder in Erinnerung rief. Er hatte nicht einmal den Mut gehabt, Sam-jungs Gürtel aufzumachen, dabei war es sicherlich unbequem gewesen mit diesem zu schlafen, aber … allein der Gedanke daran, Hand dort anzulegen … Jae-song blinzelte und sog scharf die Luft sein, konnte den Blick aber dennoch nicht vom Älteren abwenden. Sam-jung bearbeitete das feuchte Haar mit dem Handtuch, während er vorsichtig in das Studentenzimmer eintrat und Jae-song schluckte trocken. „… Ich … ich habe leider nur Ramen hier … Tut mir leid.“ Irgendwo auf halbem Weg verlor sich seine Stimme und er wusste nicht einmal mehr was genau ihm leid tat. Dass er ihn nicht doch ins Krankenhaus gebracht hatte oder sich nicht das Hotel vom letzten Mal gemerkt hatte oder dass das Zimmer so klein und hässlich war oder dass es eben nur Nudeln mit Ei waren oder dass seine Kleidung so unscheinbar war oder dass sie sich nicht geküsst hatten …

Augenblicklich schreckte Jae-song auf.

Hatte er das gerade wirklich …?

Sam-jung kam ihm die letzten paar Schritte entgegen, jenes entwaffnende wundervolle Lächeln auf angespannten Zügen, die gezeichnet vom Alkoholkonsum der letzten Nacht müde wirkten. Er war so schön, klopfte Jae-songs Herz einen einschlägigen Rhythmus.

„Ramen sind jetzt perfekt. Darf ich auf dem Bett essen?“ Jae-song nickte mechanisch und nahm beide Schalen mit zum Bett herüber. Sam-jung ließ sich vorsichtig auf der Matratze nieder und streckte die Hände nach der Schüssel aus, nahm sie ihm ab und begann schließlich schweigend zu essen. Jae-song setzte sich an seinen Schreibtisch, drehte sich aber zum Älteren, um ihn beim Essen zu beobachten. Es waren nur Ramen … es war nicht so, als habe er großartig gekocht … also durfte er auch keine Luftsprünge erwarten … warum hatte er trotzdem dieses irrsinnige Gefühl von Hoffnung in der Brust und wieso hielt er trotzdem den Atem an?!

Sam-jung schaute auf und seine Augen leuchteten – er wirkte wacher, entspannter als zuvor. „Ah. Wie erwartet: perfekt. Danke, Jae-song, das war genau das, was ich jetzt brauche. Und dein Bett ist so bequem, ich habe geschlafen wie ein Baby. Musstest du mich etwa den ganzen Weg hierher tragen?“

Jae-song blinzelte und fühlte dem Pochen in seiner Brust nach, das Wärme durch seinen gesamten Körper schickte. Wie schaffte Sam-jung es nur mit so wenigen Worten genau das richtige zu sagen? Die liebevolle Aufrichtigkeit, in welcher er ihn badete, war Balsam für die Unsicherheit des Studenten.

„Du bist nicht schwer…“, schmunzelte Jae-song deswegen und wandte den Blick auf die Nudeln, die langsam weniger in ihrer beider Schüsseln wurden. „Aber ich bin froh, dass du schlafen konntest. Es ist … Mein Zimmer ist nichts Besonderes …“ Er sah aus dem Augenwinkel, wie Sam-jung behutsam den Kopf schüttelte, ehe er etwas sagte, nachdem er noch einmal eine großen Portion Nudeln vertilgt hatte.

„Findest du? Ich mag dein Zimmer.“

Jae-song blinzelte. Fühlte sich seltsam beflügelt und gleichzeitig taub. Er befeuchtete sich die Lippen, suchte nach Worten, fand aber keine und aß daher lieber schweigend lächelnd die Ramen auf. Das Lächeln des Älteren zupfte an seinem Herzen und in einvernehmliches Schweigen beendeten sie den Imbiss – Sam-jung streckte sich erleichtert und schmunzelte.

„Wie wäre es wenn ich mich mit einem Essen revanchiere? Mir geht es schon viel besser dank deiner Fürsorge … Ich koche nicht häufig, aber ich habe mir sagen lassen, dass mein Japchae akzeptabel ist. Darf ich mich damit bei dir bedanken?“

Jae-song war für einen Moment überfahren von den vielen Informationen, sah sich jedoch automatisch nicken und war erschrocken von seiner direkten Zustimmung.

„Ah, hast du heute überhaupt noch Zeit? Du musst sicherlich viel für das Studium tun, oder?“

Jae-song kam nicht umhin zu vermuten, dass der Ältere ihm einen einfachen Ausweg geben wollte. Dass er ihm aufzeigen wollte, dass es in Ordnung war, abzulehnen wenn er sich unwohl fühlte oder tatsächlich zu viel zu tun hatte. Der Blick aus nachdenklichen Studentenaugen fiel auf die Aufzeichnungen auf dem Schreibtisch, aber er schüttelte den Kopf.

„Das ist in Ordnung. Heute ist mein freier Tag … und ich muss erst morgen Mittag wieder arbeiten. Vor Montag befasse ich mich nicht mit dem Stoff. Hin und wieder muss man sich Pausen gönnen …“ Jae-song wurde verlegen, als er bemerkte, wie viel er gesprochen hatte und lächelte schmal, den Blick absichtlich nicht zum Älteren lenkend. Er spielte ein wenig mit einer übriggebliebenen Nudel in der ansonsten leeren Schüssel und hörte Sam-jungs Bassbariton ein „hm“ brummen, ehe honigweiche Worte folgten. „Hast du dir das Wochenende extra für mich freigenommen, Jae-song?“

Sein Herz flatterte und obwohl die Verlegenheit ihn beinahe umbrachte, nickte er langsam, den Blick noch immer nicht zum Älteren gewandt. Er schaffte es einfach nicht, ihn anzuschauen oder auch nur ein Wort an ihn zu richten. Auch wenn Sam-jung richtig lag … oder gerade deswegen? … war es ihm unmöglich, die warmen Gefühle in Worte zu fassen.

Die Stäbchen in der Schüssel klapperten, als Sam-jung das Porzellan auf dem Boden abstellte. Automatisch fiel Jae-songs Blick auf die Schüssel und er blinzelte; der Ältere brauchte kaum einen flatternden Herzschlag um vor seinem Stuhl in die Hocke zu gehen, die Hände vorsichtig auf seinen Knien platziert. Jae-songs Herz reagierte augenblicklich auf die sanfte Berührung und lehnte sich dem Mann vor ihm entgegen, dessen Nähe seine Gedanken zum Rasen brachte. Atemlos begegnete er dem Blick aus goldgesprenkelten Augen, ehe er der ungefilterten Zuneigung ausweichen musste; seine Augen tasteten über die weichen Züge, die liebevoll geschwungenen Lippen und er schluckte trocken, weil abermals der Gedanke so präsent war, dass er nichts dagegen hätte, wenn Sam-jung die Grenze überschreiten würde und gleichzeitig alles in ihm schrie, dass er es nicht tun sollte.

„Jae-song?“

Mit flatternden Lidern schaute der Student wieder in das strahlende Augenpaar und noch immer hielt er die Luft an, als die langen Finger auf sein Gesicht zusteuerten, ihm die verirrten Strähnen aus der Stirn schoben und der Knoten in seinem Magen sich in wahnsinniges Brennen auflöste. Er schnappte nach Luft und Sam-jung schmunzelte und alles auf der Welt war gut und schön, nur weil er hier war und über seine Fehler lächelte und weil seine Fingerspitzen auf der erhitzten Stirn prickelten und weil er ihn und nur ihn anschaute und weil er seine Klamotten trug und über eine Kleinigkeit wie einen freien gemeinsamen Tag derart glücklich war, dass das Gold in seinen Augen wie tausend Sterne funkelte und weil jede noch so romantische und kitschige Redewendung nicht genug war, um die Gefühle im Inneren zu beschreiben und weil er sich vorlehnte und seine Nähe elektrisierend wie paralysierend war und weil er Jae-songs Welt auf den Kopf stellte, als seine Lippen nur Millimeter vor seiner Wange anhielten, seine Nasenspitze seinen Wangenknochen berührte und noch immer das Gold in seinen Augen funkelte, und weil alles Glück der Welt in diesem einen Moment lag, als sich seine Arme um ihn schlossen und ihn in eine Umarmung zogen, weil er ihn fest an die starke Brust, in dessen Mitte das Herz mit dem eigenen einen wahnsinnigen Tanz aufführte, drückte und weil er ihn liebte.

Weil er Sam-jung liebte.

Jae-songs Hände schlossen sich zögerlich im Rücken des Älteren; sein Herz jagte jenem an seiner Brust nach; und er musste leise lachen, als er Sam-jung leise sagen hörte: „Lass uns einkaufen gehen.“

Mew I - Das Lächeln

„Du siehst müde aus.“

Unsicherheit zitterte um die vollen Lippen und Mew seufzte fein, ehe er seinen Eiskaffee in ihm mittlerweile so vertraute Hände drückte. Das kondensierte Wasser hatte Feuchtigkeit an den eigenen Fingern hinterlassen und trotzdem bemerkte er, als er die helle Haut des Prinzen streifte, wie kalt dessen Hände waren. „Ach was“, war die sanfte Antwort und Nok hob den Plastikbecher, das entwaffnende Lächeln auf den Lippen, das so viele zu täuschen vermochte. „Aber danke für den Kaffee. Du hättest nicht den ganzen Weg herkommen müssen.“ Mew musterte die abgespannten Züge: die dunklen Ringe unter den Augen, die nur laienhaft mit Schminke übertüncht waren – die stumpfen Haare, welche durch viel zu viel Haarspray gezähmt worden waren – die steifen Klamotten, die einengten und erinnerten – und jene Müdigkeit, die in den großen Augen verborgen lag. Er verzog das Gesicht, aber drängte nicht weiter. Stattdessen zuckte er mit den Schultern und bemerkte mit steigender Zufriedenheit, wie Nok am Kaffee nippte.

„Ich hatte in der Gegend zu tun … Ich treffe mich mit einem Kommilitonen, um die Notizen durchzugehen“, bemühte Mew sich um einen beiläufigen Ton, die Hände in den Hosentaschen der weiten Kaki-Hose versenkt und den Blick in den wolkenlosen Himmel gerichtet. Die Wolkenkratzer der Hauptstadt versuchten verzweifelt, das Blau zu erreichen, doch konnten es nie schaffen. Waren sie nicht eine herrliche Metapher für die eigenen Versuche? Nur aus dem Augenwinkel bemerkte er, wie der Prinz das Gewicht verlagerte, als er sich im grellen Sonnenschein der unbarmherzigen Bangkoker Sonne ein wenig mehr in den Schattenspendenden Schirm brachte.

„Ein Kommilitone?“, hielt Nok das Gespräch am Laufen und Mew schmunzelte über das Schwanken in dessen Stimme. Durfte er sich darauf etwas einbilden? „Hmn“, brummte er unverbindlich, die blendende Sonne auf den nackten Unterarmen hinnehmend, „die Abschlussprüfung steht vor der Tür. Muss ich dich daran wirklich erinnern?“ Vorwitzig wandte Mew den Kopf zum Prinzen neben sich, dessen Mundwinkel verdächtig zuckte. Genugtuung durchflutete schmetterlingsgleich seinen Magen, als er bemerkte, dass Nok den Kaffee beinahe ausgetrunken hatte. Doch als er wieder aufschaute, verlor sich das eigene Grinsen; die Müdigkeit schrie ihm entgegen.

„Ich werde es wohl nicht zu der letzten Prüfung schaffen …“

Mew legte den Kopf schief und kam nicht umhin, den Prinzen abermals zu mustern. Nok schaute ihn nicht mehr an, sondern fokussierte etwas Unsichtbares in weiter Ferne – sein Sehnen – das Streben nach Freiheit – oder vielleicht war es auch nur die flirrende Stadthitze, die wirre Formen in den Himmel malte. Mew befeuchtete sich die Lippen mit der Zungenspitze und suchte nach den passenden Worten, das Trommeln in den eigenen Ohren ignorierend. Vorsichtig berührte er das Handgelenk Noks und der zerstreute Blick fiel auf ihn; sein Magen sprang vom Hochhausdach, freier Fall dutzende von Meter, und Mew lächelte fein.

„Wie lange musst du noch hierbleiben?“, hörte er sich selbst fragen und Nok summte zuerst nur, zögerlich, abweisend beinahe. Doch Mews Finger schmiegten sich um sein Handgelenk, erinnerten ihn daran, dass er nicht gehen würde, egal wie sehr er ihn von sich stieß. Nok schnaufte erschöpft, ehe er seufzte: „Zwei Stunden? Je nachdem, wann Sawan mit allem fertig ist. Ich … ich kann dir schreiben.“ Mew hielt Blickkontakt, spürte den gen Erdmittelpunkt fliegenden Magen prickeln und kribbeln und wie die Worte des Prinzen das eigene Schmunzeln breiter werden ließen; bildete er sich das nur ein oder schimmerte die Sonne in den großen dunklen Augen Noks? Wie sehr er hoffte, dass es seinem eigenen Einsatz zu verdanken war, dass die Müdigkeit der Lebhaftigkeit gewichen war … und wie sehr er gleichzeitig hoffte, dass dem nicht so war. „Meine … meine Hand, Mew.“ Fragende Augen wanderten herab zu den eigenen Fingern, die noch immer erinnernd das Handgelenk des Prinzen umfasst hielten und Mew lächelte – „ah“ – ehe er wieder aufschaute. „Hm. Deine Hand. Meine Finger. Wieso?“ Herausforderung kitzelte am Lächeln auf den eigenen Lippen, die mit einem Flehen in dunklen Augen begrüßt wurde. „Möchtest du lieber Händchenhalten, P’Nok?“ Zufrieden vernahm er das unterdrückte Lachen des Prinzen und spitzte die Lippen, als Nok seine Hand wegzog. „Genug jetzt. Ich schreibe dir“, verabschiedete er sich während des Aufstehens und Mew ächzte, als er selbst aufstand; sein Oberteil klebte jetzt schon an ihm, dabei war er gerade mal eine Stunde draußen unterwegs gewesen … und das auch nur, weil er gewusst hatte, dass Nok einen Moment allein sein würde. Aber er sprach den Gedanken nicht aus und klopfte dem Prinzen stattdessen auf die Schulter, ein Augenzwinkern zu ihm hochschickend. „Wehe, wenn nicht. Du schreibst mir, hm?“ – „Ja doch.“ – „Wenn du es vergisst, lasse ich dich leiden.“ – „Ich vergesse es nicht.“ – „Schreib mir!“ – „Jetzt verschwinde endlich!“ – „SCHREIB MIR!“, brüllte Mew mit über dem Kopf winkenden Händen, ehe er um die nächste Häuserecke verschwand.
 

Besorgt warf er einen Blick in den plötzlich so dunklen Himmel. „… Ob er einen Schirm mithat…?“, murmelte er sich selbst zu. „Was? Was für Schirme?“ Mew schüttelte den Kopf und wandte sich wieder seinem Kommilitonen zu – „nichts, du hörst schon wieder Dinge“ – um dem verfluchten Lerneifer endlich zu entkommen. Er konnte keine Bücher mehr sehen, die auch nur im Entferntesten mit seinen Studien zu tun hatten . . . und er hatte noch so ewig viele Kapitel vor sich, dass ein Wimmern von ihm zu hören war.

„Wenn du keinen Bock mehr hast, gehe ich.“ – „Das ist es nicht. Ich warte nur auf einen Anruf, könnte also sein, dass ich schnell los muss.“ – „Dein Boyfriend?“ – „Schwachsinn.“ Mew schnaubte abfällig, ignorierend, dass sein Herz zu rasen begonnen hatte aufgrund der Bezeichnung. Er trommelte ungeduldig auf die Aufzeichnungen. „Hopp, hopp, ein Kapitel noch. Dann gebe ich auf“, jammerte er und öffnete zum gefühlt tausendsten Mal an diesem Tag den Textmaker.

Die Minuten zogen ins Land und formten sich zu Stunden. Sein Kommilitone war gegangen, als der Regen nur sacht den heißen Asphalt benetzt hatte und jetzt goss es wie in Strömen und Mew saß in der Bibliothek fest, den Blick fest auf den Regenvorhang gerichtet, mit knurrendem Magen und schlechter Laune.

Zwei Stunden waren lange vorbei. Mew wusste es besser, als sich auf Noks Zeitangaben zu verlassen und der kleine Zusatz ‚wann immer Sawan fertig ist‘ hatte sowieso impliziert, dass es gut und gerne auch wesentlich später werden mochte. Trotzdem fühlte es sich beschissen an … ganz so, als sei er versetzt worden … und er wusste ganz genau, wie dumm dieser Gedanke war; dass er kein Recht hatte, dermaßen über Nok zu denken. Mit einem Seufzen stützte er sein Kinn auf der Hand auf und begutachtete den dunklen Himmel, der eine Regenwand nach der nächsten auf den Wust aus Hochhäusern herunterschickte. Konnte man nicht auch bei einem guten Freund enttäuscht darüber sein, dass Versprechen nicht gehalten wurden? Konnte man nicht auch bei einem guten Freund das Gefühl haben, versetzt worden zu sein? Mew lächelte leise und bejahte diese Frage stumm für sich selbst, komplett eingenommen von der Illusion, einen Freund im Prinzen gefunden zu haben.
 

Sein Handy schrillte laut und reflexartig griff er danach, ein „Entschuldigung“ auf den Lippen, als simultan mehrere Köpfe in seine Richtung schwenkten. Doch für Verlegenheit war keine Zeit – nur wenige Worte ließen ihn aufschrecken, seine Sachen zusammenpacken und Hals über Kopf die Bibliothek verlassen. Nur kurz zögerte er, als er die Stufen heruntergeilt war und die Sicherheit des Vordachs verlassen musste. Der Regen war undurchdringlich; es war unmöglich von Vordach zu Vordach zu eilen und zu hoffen, dass man nicht nass wurde. Kurzentschlossen rannte er zurück in die Vorhalle der Bibliothek, verschloss seine Sachen in einem der Spinte und spurtete in den Sommerregen hinaus, der ihn innerhalb von Zehntelsekunden durchweichte. Seine Füße flogen über den nassen Asphalt und er ignorierte all die Pfützen, in die er trat. Bald schon konnte er nicht mehr unterscheiden, ob Schuh oder Fuß den Boden berührten, so aufgeweicht war seine Kleidung. Er fühlte sich zehn Kilo schwerer und sein Atem ging stoßweise – Sport war nie sein Ding gewesen – als er durch die bekannten Straßen Bangkoks hechtete.
 

𝐷𝑢 ℎ𝑎𝑡𝑡𝑒𝑠𝑡 𝑅𝑒𝑐ℎ𝑡. 𝐼𝑐ℎ 𝑏𝑖𝑛 𝑚𝑢̈𝑑𝑒.
 

Mew spürte jeden einzelnen Muskel in seinem Körper, als er im Park ankam. Kaum jemand war hier – all die verirrten Seelen hasteten mit Schirmen bewaffnet durch die Regenwände in Richtung ihrer sicheren Behausungen. Selbst die sonst so lebhaften Vögel, die den Ort in Melodien tauchten, waren nirgendwo zu sehen oder zu hören. Das Rauschen des großen Steinbrunnens im Zentrum des Parks ging komplett im Schauer des Regens unter – und auf der Umrandung des Brunnens saß er, in sich zusammengesunken, den Kopf dem Himmel entgegen gereckt.

Mews Herz – polternd und nach Sauerstoff schreiend – sank ihm in die Hose.

Er hätte bei jedem guten Freund so empfunden, redete er sich ein, als er stolpernd und mit panisch fliehendem Atem die letzten Schritte auf Nok zuging. Er wäre zu jedem guten Freund gerannt, wenn er um Hilfe gerufen hätte, versuchte er sich wie ein Mantra einzureden.

Doch als die großen Augen auf ihm zum Liegen kamen und Spuren auf den hohen Wangen Fragen in ihm aufwarfen, ob es Regen oder Tränen waren, blieb Mews Welt stehen. Sein eigener Atem klang laut im Regenvorhang und trotzdem konnte er ganz deutlich den eigenen Namen von vollen Lippen hören – „Mew…“ – obwohl er noch viel zu weit weg war, als dass die Stimme des Prinzen ihn hätte erreichen können. Vorsichtig, als betrete er eine ihn unbekannte Welt voller Gefahren, trat er an Nok heran, beide Hände ausgestreckt und nahm sein Gesicht in seine Hände, mit den Daumen sanft über die Spuren wischend. „Du hast mich ganz schön warten lassen“, brummte er leise und sah, wie Noks Unterlippe zitterte, die Befürchtung, es waren Tränen, bestätigend. Mew lächelte trotzdem, weil noch mehr Elend ihre Situation nicht bessern würde und weil er nichts lieber gesehen hätte, als dass Nok sein Lächeln erwidern würde. Die großen Augen voller endloser Müdigkeit schauten zu ihm auf, doch es war das zitternde „es tut mir leid“, das sein Herz aufbrach. Sanft zog er den Kopf zu sich heran, drückte ihn gegen den eigenen Bauch und spürte das Beben des kalten Körpers, der wer-wusste-wie-lange schon hier allein im Regen verweilt hatte, bis Nok die Kraft und den Mut gefunden hatte, die Hand nach ihm auszustrecken. Er spürte, wie die eigenen Augen brannten und schnaubte über sich selbst, kämpfte um die Fassung, während er beruhigend über den klatschnassen Rücken des Prinzen strich; über den seidigen Stoff bis hin hinauf in die dunklen Haare, die er ihm schließlich aus dem Gesicht strich, als er ihn zwang, ihn wieder anzusehen. Mew lächelte abermals, vor Nok in die Hocke gehend.

„Erinnerst du dich an meine Bucket List?“, wisperte er, das Gesicht des Prinzen in den Händen haltend. Nok war zu verwirrt, um zu antworten. „Tanzen im Regen, erinnerst du dich?“ Die vollen Lippen wagten es sich zum Protestieren zu öffnen und Mew schmunzelte, als er einen Zeigefinger instinktiv gegen sie presste. Nok verstummte, die großen Augen fassungslos in Mews nach etwas suchend und Mew legte den Kopf etwas schief, ehe er ihre Stirnen aneinanderlegte. „Erfüllst du mir den Wunsch? Als Entschuldigung dafür, dass ich heute Stunden auf dich gewartet habe?“

Er spürte das Beben im anderen Körper und hörte die Entschuldigung, noch bevor Nok sie aussprach, weshalb er mit der Zunge schnalzte, die Augen fest verschlossen. Noks Stirn war kalt und trotzdem wurde ihm warm. Der Regen prasselte unbarmherzig auf sie nieder, und trotzdem spross Geborgenheit in seiner Brust.

„Keine Entschuldigungen mehr; ich erwartete nur ein ‚ja, Sir, natürlich, Sir‘.“ Mew schlug die Augen auf und wagte es in die großen dunklen Augen zu schauen, die ihm strahlend entgegenblickten und er grinste, als er ein sachtes Lächeln auf den Lippen Noks entdeckte. „Natürlich … Sir.“ Er biss sich auf die Unterlippe und griff blind nach der Hand des Prinzen, umfasste sie sicher und zog ihn mit einem Satz auf die Beine, als er ihre Finger ineinander verschlang. „Aber ohne Musik tanzen…?“, hörte er Nok noch einwenden und Mew war versucht ihm zu erzählen, dass er in seiner Gegenwart ständig Harmonien im Kopf hatte, doch er schwieg und streckte ihm nur die Zunge heraus, während er ihn durch den Park jagte, bis er ihn endlich wieder lachen sah.



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Kommentare zu dieser Fanfic (21)
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Von: MoonyLupin
2023-09-20T19:07:48+00:00 20.09.2023 21:07
WIE KANNST DU SOWAS NUR AUF ARBEIT SCHREIBEN!!!! SCHÄM DICH! WAS WENN DA KAMERAS SIND?!
Ja ähm *hust*
That's it, mehr hab ich nicht dazu zu sagen. XD

Nein, natürlich nicht!!!! >/////< Ich ähm *hust* ja.... xD *verlegen hoch 10*
Ich finde es so schön, wie sich einfach jeder Kuss, jede Sensation, jede Situation bei den zweien komplett neu anfühlt, u know? ;///; Oh it's just like magic! Sie kriegen einfach nicht genug voneinander und Noori adored ihn so, so much, es ist einfach in jedem Wort, jeder Zeile lesbar ;/////; Und dieses Vertrauen, dass er in ihn hat >/////< TT/////TT
aber aber ach ich weiß gar nicht wo ich anfangen soll >< schon von Anfang an - diese Lust der beiden und dieses craving für den jeweils anderen >< es ist so... so... ästhetisch will ich fast sagen, wie du sie vom Flur ins Bett gebracht hast >/////< Ohne, dass es gehetzt wirkt oder irgendwie eine Lücke in dem Flow entstehen würde >< Und dieser Tanz um die Dominanz >/////< iowejiogweotwewgjdjljgweoitw Ich meine, wir haben ja schon festgestellt, dass sie da beide sehr in der Dominanz des jeweils anderen aufgehen, aber dass sie sich halt auch einfach den Raum dafür geben und es sich komplett natürlich und GUT für sie anfühlt, weil sie sich einfach hingeben können und wollen und tun >//////////<
Ich verstehe aber Koyas Nervosität totaaaaaaal TT///////////////TT aber Noori, ach Noori... wie er ihn reassured und leitet und ihn aber auch machen lässt und ach TT///////////////TT Ich glaube, das wird schon eine Weile gedauert haben, bis sie an dem Punkt waren? Allein von Koyas Confidence her >< Mit 19 vielleicht? Und trotzdem ist er so "okay, I need to take care of my man now" danach und ach, mein Herz >///////< UND JA, JA NATÜRLICH WÜRDE ER SELBST DAS UNMÖGLICHE FÜR IHN TUN!!! NATÜRLICH!!! *denkt ernsthaft darüber nach, welcher Spruch die Zeit anhält*
Ach... Ach die beiden TT////////////////TT so hot und so sinnlich und so voller Liebe!!!! WIE KANNST DU SOWAS NUR AUF ARBEIT SCHREIBEN?! Naja, gut, als Leute kamen hast du ja aufgehört XDD
Danke Schneechen für dieses Hustenbonbonwürdige Stück Liebe TT////////////////TT <3<3<3<3
Von: MoonyLupin
2023-05-03T00:13:33+00:00 03.05.2023 02:13
Ich brauche einen JaeJae, der mich anruft und mir von Gott und der Welt erzählt bis ich einschlafe. ;__; Jeden Abend. Und jede Nacht und jeden Morgen. IMMER. Ich fühle Jaes Liebe zu Sam so sehr und auch in den kurzen Momenten, in denen du dich an Sams Blickpunkt gewagt hast (und so so so perfekt getroffen) weiß ich einfach, wie hin und weg Sam schon jetzt von Jae ist. ;////; Er ist einfach der erste - und ich liebe es, wie du das in Worte geformt hast - für den er so empfindet, den er so respektiert und bei dem er es auch willentlich tut und zulässt. Und es ist so wunderbar zu sehen wie Jae dabei auftaut - Stück für Stück für Stück und es wird jedes Mal ein bisschen wärmer um sein, ihr, mein Herz <333 ehehehe~
Ich mag es unheimlich, wie du A-yun eingebaut hast und wie close du ihre Friendship dargestellt hast und du ihren Charakter interpretiert hast. Sie ist eine kleine Naturgewalt und ich glaube weder A-yun noch Ki-ho ist eigentlich bewusst, wie ähnlich sie sich sind. Ich feier sie dafür, dass sie Jae zum Anrufen zwingt und ich hab keinen Zweifel daran, dass sie den Anruf selbst auch durchgezogen hätte. GLEICHZEITIG HAT SIE JA EIGENTLICH SO RECHT. TT__TT Er weiß im Grunde genommen nichts über Sam und es spielt ja eigentlich auch gar keine Rolle, WEIL SIE FÜREINANDER BESTIMMT SIND, aber ich komm nicht umhin zu denken, dass das einer der ersten Gedanken sein wird, wenn Jae dann mal von all dem erfährt... TT____TT my poor baby~~
Und dann bin ich auch immer wieder sehr fasziniert von Jaes Gedankengängen und wie die mit seinem Charakter korrelieren - er will mehr über ihn wissen, kann/will/traut sich aber nicht zu fragen, also will er es so herausfinden. Und dann denke ich mir, ich glaube Sam findet in der ganzen Zeit mit Jae selbst erst heraus was er eigentlich mag. Weil er hat ja nicht besonders viele Dinge, die seine private Zeit ausmachen - alles was er lieben lernt hat mit Jae zu tun und ich glaube Jae würde sich ganz schön hm... kalt fühlen? Wenn er in einer Wohnung ohne Persönlichkeit, ohne personal touch steht. Hotel gleich. >< Wird Zeit, dass Jae ihnen ein schönes Heim einrichtet ;////; Aber davor kommen ja noch mindestens fünf Kapitel nich? NICHT? WO IST DAS NÄCHSTE?! *hust*
Okay, Spaß bei Seite - es ist so ein schöner slow burn bei den beiden >////< und AH, dabei hast du es am Anfang ganz schön prickeln lassen ohne tatsächlich die genauen Worte in den Mund zu nehmen und AUCH DAS ist so Jae >/////< Es ist eine so schöne Szene, weil der so introvertierte Jae sich so wohlfühlt in Sams Händen, obwohl es DIE vulnerableste Situation ist überhaupt und ah mein Herz... TT////TT JETZT MUSST DU MIR ABER NOCH DIE ZEIT DAZWISCHEN ZEIGEN NICH. WIE SIND SIE ÜBERHAUPT DAHIN GEKOMMEN?! UND IN WESSEN WOHNUNG? WESSEN BETT? So viele Fragen >/////<
Nein, aber es ist ein wunderschönes Stück ihrer gemeinsamen Geschichte - wie auch schon der erste Teil <3 - und ich freue mich auf noch mehr Puzzlestücke >//////< Und noch mehr soft Jae und soft Sam und lullaby Anrufe ;/////; <3
Von: MoonyLupin
2023-01-15T16:02:57+00:00 15.01.2023 17:02
Es ist unheimlich unheimlich unheimlich TRAURIG TT____TT und gleichzeitig ist es so so so SÜSS (um nicht zu sagen niedlich, aber irgendwie hat der Begriff gerade eine negative Nuance, die ich hier nicht übertragen möchte XD)
Kwan tut mir so leid... Q___Q er macht nichts falsch, NICHTS, er existiert einfach nur und es geht diesem Sack gegen den Strich Q__Q mein armer kleiner Kwanii TT___TT UND DANN WAGT ER ES AUCH NOCH IHN ANZUFASSEN!!!! KOMM NUR HER DU ò________ó ICH HETZ DIR WALTHER AUF DEN HALS DANN WIRST DU ABER DUMM AUS DER WÄSCHE GUCKEN ICH SAGS DIR!!! (Hach, der gute alter Walther, gut, dass Kwan ihn hat ;__; <3)
Nein, aber wirklich jetzt, ich liebe diesen Drahtseilakt zwischen "he's just a kid and look what he's got on his shoulders already" und diesen Trotz "du kannst mir alles gegen den Kopf werfen, ich weiß, dass ich es ertragen kann UND ZEIGS DIR DABEI AUCH NOCH" ohne, dass er groß was dafür tun muss >///< also er tut ja schon viel, nur eben im Hintergrund und vor diesem SACK ist er einfach die Ruhe selbst. UND kümmert sich noch um little Bro TT____TT Ach Kwan, womit hab ich dich verdient?! Es ist so schön, wie... sensibel er mit Ji-u umgeht. Wie gut er ihn versteht, wie sehr er das kann! Gerade wenn man weiß, wie es aktuell zwischen den beiden aussieht >////< (und es ist toll zu sehen, wie sehr auch klein Ji-u an big bro hängt <3<3<3<3 TT////TT cause he does! Jawohl!!!!) und gott, du kannst Yeon-bae alles andichten was du willst, ich LIEBE es!!! TT////TT das wird jetzt Canon, ich sags dir xDD und Ki-ho auch so cute ;/////; und ah Ex-boyfi.... TT////TT ahhhhhh.... Es stecken so viele schöne Details in dieser Story, ich kann sie gar nicht alle aufzählen... Die Veränderung, die du zum Schluss nochmal hervorgehoben hast... dieser bittere Twist... Q____Q it's breaking my heart!!! (alles wird gut, alles wird gut, alles wird gut TT_____TT)
Ach Schneechen... Ich halte dich nicht auf~ lass deiner Inspiration freien lauf, wenn so viel schönes (trauriges Q_Q) dabei rauskommt! GIB MIR MEHR XD aber nur kein Druck xDDD
Vielen Dank für dieses tolle Stück Geschichte der beiden <333
Von: MoonyLupin
2022-12-11T20:08:49+00:00 11.12.2022 21:08
Es ist... es ist... es ist es ist es ist estsjilwetei PERFEKT TT____TT ES IST SO PERFEKT TT____________TT
VON VORNE BIS HINTEN
TT________________________TT
Ich schwöre, es ist... ich kanns gar nicht in Worte fassen, ich habe jede Zeile, jedes WORT so aufgenommen, so gefühlt, weil es so 100% on point war! Ich finde sie null NULL OOC! NULL! Ich LIEBE es wie sie miteinander umgehen, diese Verliebtheit, die in jedem Wort, jeder Geste, jedem Blick mitschwingt und wie sie es ausdrücken! Mit und ohne Worte! Es ist fluffy und manchmal cheesy ohne große Gesten, so NORMAL, aber die beiden machen es zu so einem PERFEKTEN MOMENT.

Es ist HEISS! So HOT!!!! LIKE SCHNEEEEEEEEEEE >////////////////////////////////<
HAST DU GEGOOGLET >/////> XDD Entschuldige, aber es ist... ich... so INTENSIV! JEDE EINZELNE BERÜHRUNG ist PERFEKT. I MEAN IT! Sie kennen ihre Körper so gut, ihre Vorlieben, wie der andere reagiert, was er braucht, was er in ihm auslöst und wie sie sich gegenseitig verwöhnen, vergöttern, LIEBEN. Es ist so viel Liebe da, Schnee!! ;/////; SO VIEL LIEBE! Die KÜSSE! ich glaube nicht, dass sich zwei unserer Charaktere schon einmal so intensiv geküsst haben. Also... es ist immer toll wenn sich unsere Schätzchen lieben, aber ich habe es SO GESPÜRT! Die Gefühle dabei, wie du es ausgedrückt hast. Dieses immer noch einen drauf, drauf, drauf - für die beiden ist jede Berührung ein so starker Ausdruck für das was sie empfinden! >/////<
Wie du sie beschrieben hast... wie Noori die Gerüche wahrnimmt, wie er auf Koyas Körper reagiert, wie Koya auf seine Berührungen reagiert, wie Noori unter ihm schmilzt und ihn zum Schmelzen bringen kann! >//////> Gott! Und ich liebe diese neckischen, sanften Kommentare! Dieser unterschwellige Humor dabei! Dieses... ich finde sie einfach so perfekt dargestellt. Ich kann Koyas Charakter total rauslesen! Er hat immer noch diese Ruhe, die er austrahlt und Noori ist derjenige, der diese Wärme in ihm auslöst und rauslockt. Und Noori ist genauso ihm gegenüber. >////< ich glaube ihm das so sehr, dass er ihn liebt TT////TT dieser Vergleich mit den vorherigen Beziehungen von Noori war sooooooo spannend! Die Erfahrungen, die er gemacht hat und mitbringt und wie er seinen Koya - nae sarang (Gosh, yes, give me cheesy kosenames, I feel Koya so much helloooooo >//////>) im Vergleich dazu wahrnimmt und wie sehr er seine Welt ist und und und... GOSH - ihre Dynamik. Sexuelle Dynamik hrhrhrhr~ Sie sind einfach nicht schüchtern, sie sind so d'accord mit sich - so im Einklang miteinander, dass sie glaube ich ganz viel gemeinsam entdeckt haben, ausprobiert haben, sich in und auswendig kennengelernt haben und sich dabei gegenseitig so viel Bestätigung gegeben haben, dass es so intensiv und so unabashed sein kann, you know? Im besten Sinne! Dass sie sich gegenseitig dominieren können - dass sie beide darauf stehen und nehmen und geben können und ahhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhh ES IST PERFEKT. PERFEKT SAG ICH. HÖRST DU MICH.

Und diese Szene zum Schluss GOTT
WILLST DU MICH UMBRINGEN
ER HAT IHN GEKÜSST
DRAUSSEN
UND I FEEL THAT SO MUCH KOYA
;/////////////////; Gosh, es ist so cute! Wie klein die Geste hätte sein können, aber wie viel da einfach drin gesteckt hat!
GAR NICHTS MUSS ER GUTMACHEN; GAR NICHTS, THAT'S RIGHT!
Er hat ihm so viel gegeben ;///////////////; Aber es ist trotzdem so cute wie sie sich dann trennen mit diesem "jetzt mach schon!" "VERSPROCHEN!" Gott ich kann mir das so gut vorstellen...
ALLES. JEDE ZEILE.
Schnee, ich meine es so ernst. so so so ernst. Es ist genau das, was ich mir bei den beiden vorgestellt habe.
ES TUT SO WEH ZU WISSEN, DASS ES NICHT SO BLEIBT TT______________________TT
Danke, dass du mir hilfst den Schmerz von Koya noch intensiver zu spüren. Danke xD
Oh gott, ich werd mich sicher mit Koya darauf berufen. Erinnerungen und so >/////< jedes blöde Teil in der Wohnung erinnert ihn bestimmt an Noori DDD: ahhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhhh aber sie lieben sich doch so seeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeeehr
wie schwer muss es Noori gefallen sein DDDDDDDDDDDDD: TT___________________TT HONEY LET ME HUG YOU. Jetzt verstehe ich, dass er keine andere Wahl hatte als Koya komplett zu blockieren.... so schwer es auch ist es zu sagen, aber... sein Herz hat so für ihn geschlagen - im wahrsten Sinne des Wortes - Gott, hab ich schon gesagt wie sehr ich diese kleinen moments genoßen habe? Den Herzschlag des anderen spüren, den eigenen Herzschlag spüren so voller LOVE und AAAAAAAAAARGH. SCHNEE.
ES IST PERFEKT!
DANKE DANKE DANKE DANKE DANKE DANKE DANKE DANKE <3<3<3<3<3<3<3<3 Oh Gosh, bitte trink noch was, ich brauche mehr davon XD

Von: MoonyLupin
2021-08-29T18:40:54+00:00 29.08.2021 20:40
DDDDD: Also ich bin sowas von auf Lo's Seite! Ich hätte Albie aber sowas von in den Wind geschossen und/oder wahlweise zerfleischt! Erst zum Frühstück vernaschen und dann eben die Werwolfbedürfnisse befriedigen, auch die eine oder andere Weise xDD
Nein, aber wirklich mal >///< dieses hin und her und ja und nein und ich will dich/du bist schlecht für mich. Dieses du machst mich kaputt/ich kann nicht ohne dich hast du wirklich perfekt dargestellt >///< es ist SO authentisch für die beiden und ich LIEBE liebe liebe den Einstieg <3 so friedvoll, so loving, so heartwarming <///3 und es ist ein so schönes Bild von den beiden <3 <3 <3
Ich finde es auch unheimlich schön wie du Lo's eher... "aggressiven" Zwiespalt mit sich selbst dargestellt hast, wie er aber auch den emotionalen Zwiespalt von Albie erkennt >////< und wie am Ende aber auch deutlich wird, es sind eigentlich nicht sie selbst, die im Zwiespalt mit sich und dem was sie haben stehen, sondern ganz allein das Drumherum. Und wenn sie nur sie selbst sein können, wäre die Welt doch in Ordnung ;//////;
ach, das war schön, Schneechen >////< Herzzerreißend aber mit so schönen Momenten <3
Vielen Dank für die wirklich sehr sehr große Überraschung xDD mit den beiden hab ich wirklich nicht gerechnet xD <3
Von: MoonyLupin
2020-08-31T20:56:55+00:00 31.08.2020 22:56
Mutti ist so ne Bitch ;/////; Abel tut mir so leid, beide tun mir so leid!!! Aber es ist auch so verständlich warum sie so geworden sind, wie sie sind >< Ich finde es toll, wie du so diese Entwicklung dargestellt hast (persönlich, aber auch in ihrer Beziehung zu einander) und wie sie so unterschiedlich ist >< Cain eher so der, der sich durchboxt aber gleichzeitig auch irgendwie nach draußen flüchtet und Abel, der sich so "durchwindet" und so lange an Mutti festhält wies geht >< Es ist schön zu sehen, dass sich ihre Beziehung dadurch - trotz ihrer Unterschiede - nur weiter festigt und wie sie auch aneinander festhalten, im wahrsten Sinne des Wortes >< Es fällt zwar kein einziges Mal sowas wie "Ich hab dich lieb, du Arsch", aber es wird so deutlich in ihren Gesten und dem was eben nicht gesagt wird >////<
Und wie gesagt, ich finde es eine unheimlich schöne Idee mit dem Tattoo und der Kette. Ich glaube nicht, dass Cain irgendwem sagen würde, dass er sie von Abel hat, aber dass er sie immer trägt ist ne selbstverständlichkeit <3 <3 <3 hihi~
Ich fands auch unheimlich rührend zu sehen wie sehr sich Abel doch um seinen großen Bruder sorgt >////< (und für Cain sogar seine Abneigung zu Jackson überwindet xD), ich glaube das ist Cain gar nicht so bewusst oder er verdrängt es ganz bewusst so nach dem Motto "Ich bin der große Bruder, es ist mein Job mir Sorgen zu machen, nicht dass der Kackzwerg mich genug interessiert um es wirklich zu tun >>" xD Dieser Konflikt zwischen den beiden, wer jetzt das Geld auf den Tisch bringt finde ich auch total nachvollziehbar >< Ich glaub das stinkt denen beiden was der jeweils andere macht, nicht dass Cain direkt nachgefragt hätte DD: das will er gar nicht wissen und verdrängt es gekonnt, auch wenn er es wohl schon längst weiß >> DD:
Oh Oh! Und diese gemeinsamen Raubzüge durch die Mall finde ich auch total episch xDD kann ich mi eins zu eins so vorstellen! "Okay, was willst du damit du nicht mehr stinkig bist aka damit du mir keine reinhaust? >>" "Iphone XYZ, platin gold" XDD
Und wie du Abel beschrieben hast mit der Magie, dass er eben der Magier von beiden ist und Cains Stärken anderswo liegen finde ich auch total klasse >///< selbst wenn Cain die Magie für sich entdeckt, er kommt eben nicht an das kleine Genie heran, was er auch gar nicht versucht und was ihm sicher früher mal bitter aufgestoßen ist, gerade wenn Mutti ihre creepy phasen hatte (total creepy übrigens mit der Freundin von ihr |D") und ihren Vorzeigesohn präsentiert hat und Cain sich stattdessen in der Gosse rumgetrieben hat, nur die Beleidigungen im Kopf... ;////; Ach, die zwei tun mir einfach leid... es ist gut, dass sie einander haben! >///< aber das zu lesen hat mir halt auch nochmal vor augen geführt warum sie so sind wie sie sind >///< ;////; arme Mäuschen.....
Vielen Dank, Schneechen für den Einblick in unserer Straßenkinder Leben <3 <3 <3 wirklich, das ist ein tolles Geschenk <3 <3 <3
Antwort von: MoonyLupin
31.08.2020 22:58
Edit: ich finds auch toll wie Cain ihn so versucht abzuhärten und ihn dabei auch nicht mit Samthandschuhen anfasst >///< er machts doch nur, damit Abel auch ohne ihn klarkommt, wenn er denn mal muss!
Von: MoonyLupin
2019-09-02T14:20:01+00:00 02.09.2019 16:20
Was Was Waaaaaaas DDD: WO KOMMT DAS BLUT HER?! WAS IST PASSIERT?! ES IST RHYS' BLUT ODER?! DD: WAR ES COLIN?! Aber nein, Colin würde sich die Hände nie derart schmutzig machen DDD: ABER ABER RHYSSSSS UND WAS IST MIT FREY PASSIERT?!
Ach REEEEED dieser Satz, dass er einen Bruder gegen einen anderen tauscht ;_______; oh... ohh mein Herz... ich kann seine gegensätzlichen Gefühle so gut verstehen >/////< an seiner Stelle, wenn mein einziger Bruder sterben würde - ich ihn zurücklassen müsste - und stattdessen diesen anderen Kerl zu retten, der zwar klar Partner ist, aber doch nicht BRUDER - noch nicht jedenfalls - und und und DDDD: ahhh... UND ES IST ALLES COLINS SCHULD! Bestimmt! xD
aber die Vorstellung von zwei (halb?)nackten Männerkörpern aneinandergepresst um sich gegenseitig aufzuwärmen hrhr nicht schlecht Herr Specht xD Ich glaube die beiden bescheren uns noch ganz interessante Momente *___* auf die eine oder andere Art XD
Vielen Dank für diese kleine Exkursion in noch unbekannte Gefilde, Schneechen *__* Ich hab damit nicht gerechnet und bin umso happier, dass ich es lesen durfte <3 <3 <3 Danke dir <3
Von: MoonyLupin
2018-12-26T13:45:33+00:00 26.12.2018 14:45
G E M E I N S A M.

TT/////////////////////////////////////////////////////////////////////////TT

WAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAAS SCHNEE WAAAAS WAAAAAS IPWEITEWIPKDJGPÖWIPTEW!!!!!11111!!!!t3pw iwau8iowafvweoi!
Schnee! Schneeeeee! Was tust du da mit mir!!! Die beiden... die BEIDEN! Ich habe eine Überraschung sagt sie... eine KLEINE Überraschung SCHNEE!!! Ich hab ja mit allem gerechnet aber nicht MIT DEN MR MARTINS!!!!!!! OHHHHOHHHOOHHHHHHHHH!!! oh Gott!! Es ist ein Teil ihrer Geschichte, was du niedergeschrieben hast und es mögen zwar nicht allzu viele Worte sein, aber es drückt doch so viel aus was, wenn nicht sogar alles was die beiden füreinander sind >///////> T//////T So viele Gemeinsamkeiten in ihrer Unterschiedlichkeit - Quinn mit seinen zerbrochenen Idealen vs Baptiste, der fast schon emotionslos seiner familiären legacy nachgeht. Und trotzdem finden sie sich und vielleicht haben sie sich gerade deshalb so vom anderen angezogen gefühlt - weil sie sich auf die eine oder andere Weise wiedererkannt und doch etwas gesehen haben, was sie selbst nicht aufbringen konnten. >//////< SCHNEE! Ich erfahre gerade so viel mehr von Baptiste!! TT////TT und obwohl du Quinn eigentlich nie direkt erwähnt hast, kann ich doch so viel auch von ihm darin erkennen! >///< Ach Schnee!
Ich liebe diesen kleinen Einblick in Baptistes Background, seine Gedankenwelt, mit dem ich mal so GAR NICHT gerechnet habe, aber der ihn mir gleich um so vieles näher bringt!!! >///< Es zeugt von der Stärke ihrer Verbindung, von der Basis dessen woraus ihre Liebe besteht, aber auch dass sie so sehr miteinander verflochten sind, dass komme was wolle - oder wer - nichts ihr Glück auseinander reißen kann!! Egal wie viele hard ships noch kommen mögen! Ohhhhhh~ Eine kleine Liebeserklärung <3 <3 <3 für mich anyway! hihi~
Danke Schneechen!! Das war WUNDERSCHÖN! >//////< Und auch wenn es irgendwie... voller Bitterkeit und Trauer gesteckt hat - also durch das was Baptiste eben erlebt hat - hatte ich doch am Ende nur ein Bild vor Augen - wie sie gemeinsam im Auto sitzen auf dem Weg nach Hause von ihrem Hochzeitstagdinner - Quinn hinterm Steuer, weil er nichts getrunken hat - und das kleine Töchterchen liegt schlafend in Baptistes Armen auf dem Beifahrersitz, als Quinn nach Baptistes Hand greift und einfach nur lächelt <3
AHHHHHHHHH so cheesy!! aber GEMEINSAM! JAWOHL JA! FUCK OFF, COLIN! GEMEINSAM!!! XD
Ahhh~ <3<3<3<3 Danke Schneechen! Wirklich! Vielen vielen vielen Dank! <3
Von: MoonyLupin
2017-08-28T15:48:04+00:00 28.08.2017 17:48
Hach, es ist so wunderschön traurig und traurig wunderschön ;///////; Ich hab überhaupt nicht damit gerechnet, als du davon von was zum Lesen geredet hast, ich dachte wirklich du meinst die Steckbriefe und hab immer mal wieder gestalked... >/////< aber das hier, das hier...!!! ;///////////; Oh, es ist so toll geworden, Schneechen! Es ist so ein perfekter Einblick in Scotts Leben, in seinen Alltag, in seine Gefühlswelt, auch wenn er gar keine großen Emotionen zeigt, zeigt es irgendwie doch alles von ihm und es ist so faszinierend und traurig zugleich, wie er mit all dem umgeht, wie er sich das zu eigen gemacht hat und auch wie sein Dad es sieht! >////<
und, ich habs dir schon gesagt, aber ich sags dir gerne nochmal, Nate muss mit ihm reden ;___; muss ihm sagen, dass es okay ist, er selbst zu sein und dass er nicht wie Kenneth werden muss, seinen Platz einnehmen muss, damit sein Dad glücklich ist oder um seine Erinnerungen in Ehren zu halten. Das ist keine Lösung und es führt auf Dauer nur dazu, dass Scott sich selbst verliert >/////< und das darf nicht passieren! Ach Schneechen ;//////;
ich liebe die Szene mit dem Football und wie Nate dann dazu gekommt. Weil er wusste, dass er Scott dort finden würde <3 Und es ist so simpel gehalten und hält doch so viele Emotionen inne und ich glaube ich habe noch nie eine schönere Szene auf einem Friedhof gehabt, so absurd es auch klingen mag >/////< Ich spüre den Ballast von Scotts Schultern fallen, auch wenn es nur in dem einen Moment ist... Aber das Bild ist wunderschön und ich bin mir sicher, sie haben noch eine ganze Zeit lang dagesessen bis es hell wurde und dann <3 dann gab es Kaffee <3 <3 <3
Vielen Dank, Schneechen! Das ist eine wunderbare Geschichte und ich werde sie mir mit Sicherheit noch einige Male anschauen! <3<3<3
Von: MoonyLupin
2016-09-07T20:06:35+00:00 07.09.2016 22:06
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UWAAAAAAAH~~~~~
UWAAAAAAAAAAAAAAA~~~~
Ich fühle mich gerade wie Nate! Hochgradig verwirrt mit bis zum Hals pochendem Herzen!!!! >////////////////////////////////////<
Uwaaaaaaaaaaaaaa~ tihihihihi~ SO WAR DAS ALSO! Tihihihihihihi~
Ich glaub das war das erste und letzte Mal, dass Nate nach sowas gefragt hat XDD Wenn der gleich so anschauliche Erklärungen bekommt XDD <3<3<3<3<3<3 ABER er wollte es ja unbedingt wissen XD Uwaaaaah~ Kannst du dir vorstellen wie awkward und nervös Nate gewesen sein muss?? Natürlich kannst du das, du hast es geschrieben XDD Sehr schön, Schneechen, wirklich <3 <3 <3 Du triffst unsere Herzchen einfach immer so perfekt >////< <3 <3 <3 <3 Viel besser als ich es je könnte!
Antwort von:  Schneefeuer1117
07.09.2016 22:12
♥ ♥ ♥
Ich freue mich, dass ich dir mit dem spontanen Einfall eine Freude machen konnte! ^__________________^
Ich glaube auch, dass Nate NIE WIEDER mit so einer Frage um die Ecke kommt - kein Wunder, dass der sexuell so verwirrt und leicht zu verstören ist, nach der Aktion von Matt x''D
Wie gesagt, ich glaube nicht, dass Matt ihn wirklich so intensiv geküsst hat :> Aber das ist ja alles noch ausspielungswürdig in Brothers Love <3 Immerhin war es für Matt auch awkward und so trottelig kann nicht mal er sein, dass er komplett vergisst, WEN er da gerade knutscht xD Aber .. es hat so toll gepasst und ich hatte genau so Spaß daran und fertig. So! <3
Awas! Ich treffe sie so gut, weil du mir immer wieder die Freude machst, mit mir über sie zu reden und ich von dir lerne, wie deine Charaktere zu ticken haben, wie sie zu handeln haben <3 Das ist dir geschuldet, nicht mir. ♥


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