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Tabu

One Shots für Harry Potter RPGs
von

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Ein bisschen Friedhofserde

„Die Warp Corp kommt um drei. Ich brauche dringend die verabredeten Listen und die Kostenaufstellung für den Slogan, Kenneth.“

Nur ein kurzer Stich der Erinnerung durchfuhr Scott, als er den Namen seines Bruders hörte. Langsam schaute er zu seinem Vater auf, der fordernd blickte und seinen eigenen Fauxpas nicht bemerkt zu haben schien. Ein mildes Lächeln breitete sich auf Scotts Zügen aus und er nickte, ein zustimmendes Brummen ausstoßend. „Hast du in einer halben Stunde. Slide hat sein Angebot für die Flyer zurückgezogen und Jemethon hat die Kosten für die Bannerwerbung erhöht, die Lizenzsumme steht allerdings fest und ist unterschrieben. Missy meinte, sie bräuchte bis um eins, um die Zahlen noch einmal durchzugehen.“

Hayden Weeks nickte und auf einmal wirkte er unheimlich alt. Die tiefen Falten um Augen und Mund wurden zu häufig durch Bart und Haare versteckt und das alltägliche Leben mit seinem Vater machte Scott blind für dessen tatsächliche Alter.

Nicht jedoch für den Schmerz, der sich nun in den grünen Augen manifestierte.
 

Es war okay.
 

Sacht schob Scott seinem Vater den Tee rüber, den er ihm zubereitet hatte und erkannte, dass er sich bei ihm entschuldigen wollte, jetzt, wo ihm sein Fauxpas doch aufgefallen war.

Im Nachhinein wirkte es umso verstörender auf den beinahe Sechzigjährigen, dass er seine beiden Söhne verwechselt hatte. Kenneth war immer größer und sportlicher als Prescott gewesen, hatte dieses wissende Funkeln in den hellen Augen gehabt und eine charismatische, beinahe autoritäre Ausstrahlung besessen. Scott hingegen hatte einen ruhigeren, wärmeren Kern, der Menschen automatisch dazu verleitete, ihn zu mögen. Ihm zu vertrauen.

Doch wenn Scott den Kopf nun schief legte, so, wie Kenneth es stets getan hatte … wenn er Hayden nun Tee brachte, wie Kenneth es stets getan hatte … wenn er die Fingerknöchel voller Tatendrang zum Knacken brachte, aus tiefer, brummender Kehle lachte und die alten Sonnenbrillen seines Bruders trug … Wenn Scott sich die Haare schnitt und frisierte, wie Kenneth sie sich einst frisiert hatte und mit einer Selbstsicherheit durch die Gänge der Firma stolzierte, als gehöre sie ihm, so, wie Kenneth stets stolziert war … Wie konnte man Hayden Weeks dann wirklich vorwerfen, seine beiden Söhne zu verwechseln?
 

Scott würde ihm das niemals vorwerfen. Heute durfte sein Vater alles.
 

Ein weicher Glanz trat in die dunklen Augen und Scott griff der Entschuldigung sanft voraus. „Dad. Heute ist sein Geburtstag. Das ist schon in Ordnung. Ich musste vorhin auch an ihn denken.“

Stille legte sich drückend über das Büro des Firmenchefs und Scott beobachtete, wie sein Vater sich von ihm ab- und dem Tee zuwandte. Nachdenklich, in sich versunken beinahe nippte er am lauwarmen Seelenschmeichler und seufzte fein, ein Ton, den Scott in den letzten Jahren so oft gehört hatte, dass er die verschiedenen Nuancen mittlerweile perfekt voneinander unterscheiden konnte.

Es war ein Ausruf der Verzweiflung, geboren aus Trauer und Schmerz, geboren aus dem Gefühl, das Hinterbliebene nun einmal den Rest ihres Lebens mit sich herumtrugen. Dem was wäre wenn – was wäre, wenn er nicht tot wäre? Was wäre, wenn sie etwas gegen die Krankheit unternommen hätten? Was wäre, wenn sie ihn dazu gezwungen hätten, sich zu schonen? Was wäre, wenn er – Scott – sich mehr um ihn – Kenneth – bemüht hätte? Was wäre, wenn er – Hayden – ihn – Kenneth – mehr wie einen Sohn, denn einen Nachfolger behandelt hätte? Was wäre, wenn sie – die Familie, diese sonderlichen vier Exemplare, Hayden Weeks, Morena Alma Mercado, Kenneth Mercado und Scott Mercado – die Zeichen früher verstanden, besser gedeutet und schlussendlich hartnäckiger bekämpft hätten?

Und vor allem: was wäre, wenn er nicht gestorben wäre?

Es war das Gefühl der Ohnmacht, das Hayden gefangen hielt und gegen das Scott nichts tun konnte. Er konnte nur versuchen, seinem Vater so gut es ging unter die Arme zu greifen. Ob nun im Job, im Haushalt und als Teilzeitseelenklempner.

„Ich denke immerzu an ihn“, gab Hayden schließlich mit belegter Stimme zu, „aber an Tagen wie diesen ist es besonders aussichtslos zu glauben, alles würde noch ein gutes Ende nehmen.“

Andere Söhne wären enttäuscht gewesen. Hätten das Recht eingefordert, selbst zu trauern und – nach einem Jahr intensivster Trauer und einem zweiten Jahr ohnmachtsgleicher Hilflosigkeit – wären enttäuscht gewesen, die Anforderungen ihres Vaters nicht zu erfüllen. Tat Scott denn nicht schon alles, was Kenneth damals getan hatte und sogar besser? Machte er den Job seines Bruders nicht hervorragend, nein, viel besser als das, herausragend? Ersetzte er Kenneth nicht dermaßen perfekt, dass es beinahe schien, als wäre Kenneth niemals gestorben? Hatte er seinen Wert denn nicht hinreichend bewiesen, sodass alles eben doch ein gutes Ende nehmen würde?

Doch Scott dachte nicht daran, seinem Vater Vorwürfe zu machen. Niemals war es ihm in den letzten zwei Jahren in den Sinn gekommen, Rechte einzufordern, Anforderungen zu stellen, Raum für sich selbst zu verlangen.

Stattdessen ging er auch nun emotional einen Schritt auf seinen Vater zu, während er seinen eigenen Kummer tief in sich verschloss.

„Es ist nie aussichtslos, Dad. Kay wusste das. Und du weißt das auch.“

Hayden zögerte einen Moment, eher er zu seinem Sohn schaute und all die Reue fand sich in den kleinen Falten um Mund- und Augenwinkel wieder. Was tat er seinem Sohn nur an? Doch als hätte Scott seine Gedanken erraten, fuhr er ungerührt fort, mit dem Zeigefinger auf das Ziffernblatt seiner Armbanduhr trommelnd: „Außerdem bleiben uns nur noch drei Stunden zur Vorbereitung des Gesprächs und du weißt, wie unangenehm Heimrich werden kann. Wir sollten uns an die Arbeit machen.“

Das stumme „für ihn“ schwebte zwischen ihnen in der Luft und Hayden war so unheimlich dankbar für Scotts Anwesenheit und Hilfe, dass er einfach nur nicken konnte.
 

Am späten Nachmittag fischte Scott die kleine Eule hervor, um Nate eine Nachricht zu schicken. Er war aufgewühlt und ungewohnt rastlos, weshalb ihm keine treffenden Worte einfallen wollten. Lange Zeit starrte er auf das leere Pergament und schließlich gab er es auf: heute würde es keine Kaffeepause geben. Er würde sich morgen bei Nate dafür entschuldigen und er war sich sicher, dass sein Freund dafür Verständnis haben würde. Für einen Moment war Scott sich unsicher, ob er sich erklären, entschuldigen sollte. Ob er Kenneths Geburtstag als Erklärung für seine Rastlosigkeit anbringen sollte.

Er entschied sich dagegen.

Nur ein Wort zu viel, und Dämme würden brechen.
 

Am Abend schrieb er Kenneth.
 

Kay,
 

der Deal mit Heimrich ist endlich durch. Du kannst stolz auf dich sein, schließlich war es deine Vorarbeit, die all das erst ermöglicht hat. Deine Gespräche mit ihm haben uns den Megadeal erst an Land gezogen und er war beeindruckt davon, wie wir nach deinem Tod deiner Krankheit all dem damit umgegangen sind und welche Erfolge wir trotzdem hatten. Er hat meinen Slogan und dein Logo genommen. Ich habe ihm nicht gesagt, dass es von der Band damals inspiriert wurde. Besser, er weiß es nicht. Weißt du es noch? Die Straßenband in Ushuaia, die unflätige Parolen in das brave Zaubererbürgertum geplärrt hat? Und die obszöne Sängerin, die dir schöne Augen gemacht hat? Ich glaube, ihr hätte gefallen, dass ihre Eigenkreation einer magischen Harfe, das uns damals verdächtig an ein weibliches Geschlechtsorgan erinnerte, nun das Aushängeschild für Heimrichs Kutschen ist.

Manchmal frage ich mich, ob alles anders gekommen wäre, wenn du einfach bei Mum geblieben wärst. Wenn du nicht mit nach England gegangen wärst. Wäre es besser oder schlechter geworden?

Und manchmal habe ich das ganze ‚was wäre wenn‘ einfach nur satt. Ich wünschte, es würde aufhören.

Dann wiederrum … Was hätte ich noch von dir, wenn nicht das ‚was wäre wenn‘, nicht wahr? All die schönen Ideen und Spinnereien und all die Fantasien, die wir uns gemeinsam für dein Leben ausgedacht haben. Es wäre Verschwendung, jetzt nicht das ‚was wäre wenn‘ weiter zu dichten.
 

Wenn du damals bei Mum geblieben wärst, hättest du die obszöne Sängerin geheiratet. Du hättest obszön schöne Kinder mit ihr bekommen, mindestens drei, und deine Erstgeborene wäre in die Fußstapfen ihrer Mutter getreten. Sie hätte ahnungslose Touristen um ihr Geld erleichtert, ihnen obszöne Parolen an den Kopf geschmissen und dafür gesorgt, dass sie ihren Aufenthalt in Ushuaia so schnell nicht wieder vergessen würden. Dein Jüngster wäre auf jeden Fall Quidditchkapitän geworden und dein Mittelkind hätte nie gewusst, ob es lieber Dramaqueen oder doch lieber Teppichknüpfer geworden wäre. Er – oder sie, ich bin mir da nie sicher – hätte dir bis zu deiner Scheidung Kopfweh bereitet. Deine Scheidung wäre natürlich im besten Sinne der Kinder gewesen und erst nach dem 17. Geburtstag und dem Abschluss deines Jüngsten gewesen. Du hättest die obszöne Sängerin niemals betrogen, egal, wie sehr sie dir schlussendlich auf die Nerven gegangen wäre.

Du wärst sicherlich Heiler geworden, so wie Mum, und hättest dich nie mit all den Heimrichs und Warp Corps rumschlagen müssen. Dad hätte das auch ohne dich alles wunderbar hinbekommen und wenn nicht, dann wäre ich eben ein bisschen früher vom Skateboard gestiegen und hätte ihn unterstützt. Oder ich wäre bei dir geblieben um dir mit deinem Mittelkind ein wenig zu helfen. Wahlweise den guten oder den bösen Onkel hätte ich spielen können.

Was meinst du hätte mir besser gestanden? Guter oder böser Cop?
 

Und wahrscheinlich hättest du dich niemals mit der Krankheit angesteckt. Vielleicht hättest du dich aber auch mit einer viel schlimmeren Krankheit angesteckt und hättest all die obszön schönen Kinder gar nicht zeugen können, weil du viel früher gestorben wärst.
 

Manches Mal glaube ich, dein Tod war unausweichlich. Es ist ein Fixpunkt unserer Geschichte und egal wie viele ‚was wäre wenns‘ ich mir ausmale und egal wie viele mögliche Zukunfts-Kays ich erstelle, es wäre doch immer wieder auf das Gleiche hinausgelaufen.
 

Du wärst am 17. Juli 2092 gestorben.
 

Ich vermisse dich. Heute viel schlimmer, als sonst. Heute wärst du 27 geworden und ich hätte dir gerne etwas Schöneres geschenkt, als die Erinnerung an obszöne Sängerinnen, dicke Heimrichs und tragischkomische Mittelkinder.

Deshalb habe ich dir einen Football gekauft. Den signierten, den du dir gewünscht hast, als du zehn warst. Ich erinnere mich daran, weil Dad damals angefangen hat wie ein Drachenwärter zu schwitzen, als er den Preis gesehen hat. Mum war der Überzeugung, dass ein einfacher Football mit gefälschter Unterschrift es auch tun würde.

Dann wurde es aber doch das Zeichenboard. Übrigens leistet mir das gute Dienste, danke, dass ich es behalten durfte.

Ich hoffe, du freust dich über den Football und hast, wo immer du jetzt steckst, jede Menge Platz zum Ausprobieren.

Vielleicht kann ich eines Tages eine Runde mit dir spielen.
 

Bis bald.

Scott
 

Noch in der gleichen Nacht brachte Scott den Brief und den Football zum Grab seines Bruders. Dieses Mal war es nur der eine Brief, der leidenschaftlich aufflackerte, als Scott ihn am Grabstein verbrannte. Lange Zeit schaute er den kleinen Papierfetzen dabei zu, wie sie sich gegen die Flammen wehrten und schließlich zu Asche wurden. Asche, die den vielen Blumen als Nährboden diente.

Um Fassung ringend legte er den Football ab und zögerte. Normalerweise ließ er auch die Geschenke in Flammen aufgehen, doch dieses Mal hielt ihn etwas davon ab. Scott konnte nicht genau bestimmen, was es war, doch die Erinnerung an seinen zehnjährigen Bruder, wie er flehend und bettelnd vor seinem – in seinen Erinnerungen auf sein jetziges Alter gealterten – Vater stand, drohte, ihm das Herz zu brechen.
 

„Oh. Du bist noch nicht soweit … Tut mir leid, ich dachte nur … Die Reservierung …“
 

Die vertraute Stimme Nates, die so einfühlsam wie nur irgendwie möglich auf ihn einredete, tat in der Seele weh. Er musste ein leidlich starkes Bild abgeben, wenn sein Freund es so stark vermied, das Offensichtliche auszusprechen. Mit zitterndem Atem wandte Scott sich zum Japaner um und befeuchtete sich die staubtrockenen Lippen, spürte, wie sein Herz zu zerspringen drohte und die Dämme zu brechen gedachten.

Es sollte das erste Mal sein, dass Nathan Lakewood Prescott Mercado festhalten musste, damit er nicht fortlief. Es war das erste Mal, dass Scott sein Gesicht an der fremden und doch vertrauten Schulter vergrub, nicht weinend, aber auch nicht mehr der Fels in der Brandung, bebend, und dennoch nicht ausbrechend.

Nate verharrte in der unbehaglichen halben Umarmung, versuchte Scott zu stützen, obwohl dieser es weder wollte, noch zu brauchen schien und gleichzeitig nichts notwendiger gewesen wäre.
 

„… Lass uns Football spielen, Nate“, erklang Scotts Stimme aus dem Nichts.
 

Und so kam es, dass Scott sich einbildete, Kay lachen zu hören, als Nate und er sich nachts auf dem Friedhof über das Grab Kenneths hinweg den Football zuwarfen. Für einen kleinen Augenblick fühlte Scott sich vollkommen befreit von allem und musste daran denken, dass so das Paradies schmecken musste.

Nach Freiheit, Leder und ein bisschen Friedhofserde.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: MoonyLupin
2017-08-28T15:48:04+00:00 28.08.2017 17:48
Hach, es ist so wunderschön traurig und traurig wunderschön ;///////; Ich hab überhaupt nicht damit gerechnet, als du davon von was zum Lesen geredet hast, ich dachte wirklich du meinst die Steckbriefe und hab immer mal wieder gestalked... >/////< aber das hier, das hier...!!! ;///////////; Oh, es ist so toll geworden, Schneechen! Es ist so ein perfekter Einblick in Scotts Leben, in seinen Alltag, in seine Gefühlswelt, auch wenn er gar keine großen Emotionen zeigt, zeigt es irgendwie doch alles von ihm und es ist so faszinierend und traurig zugleich, wie er mit all dem umgeht, wie er sich das zu eigen gemacht hat und auch wie sein Dad es sieht! >////<
und, ich habs dir schon gesagt, aber ich sags dir gerne nochmal, Nate muss mit ihm reden ;___; muss ihm sagen, dass es okay ist, er selbst zu sein und dass er nicht wie Kenneth werden muss, seinen Platz einnehmen muss, damit sein Dad glücklich ist oder um seine Erinnerungen in Ehren zu halten. Das ist keine Lösung und es führt auf Dauer nur dazu, dass Scott sich selbst verliert >/////< und das darf nicht passieren! Ach Schneechen ;//////;
ich liebe die Szene mit dem Football und wie Nate dann dazu gekommt. Weil er wusste, dass er Scott dort finden würde <3 Und es ist so simpel gehalten und hält doch so viele Emotionen inne und ich glaube ich habe noch nie eine schönere Szene auf einem Friedhof gehabt, so absurd es auch klingen mag >/////< Ich spüre den Ballast von Scotts Schultern fallen, auch wenn es nur in dem einen Moment ist... Aber das Bild ist wunderschön und ich bin mir sicher, sie haben noch eine ganze Zeit lang dagesessen bis es hell wurde und dann <3 dann gab es Kaffee <3 <3 <3
Vielen Dank, Schneechen! Das ist eine wunderbare Geschichte und ich werde sie mir mit Sicherheit noch einige Male anschauen! <3<3<3


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