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Andenken

von

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Der Schrein

Der kalte Morgenwind zerrte heftig an ihren Kleidern. Obwohl sie einen langen Mantel trug fror sie erbärmlich. Keira stellte missmutig fest, dass es nun wohl entgültig Herbst geworden war. Keine Abendspaziergänge mehr im warmen, roten Sonnenlicht; keine verträumten Nachmittage, an denen sie einfach nichts tun, ins Schwimmbad gehen oder ihre Freunde treffen konnte. Für dieses Jahr war das jetzt wohl vorbei.

Das Mädchen fragte sich zum hundertsten Mal, was sie hier eigentlich tat. In aller Früh, die Morgendämmerung war noch nicht einmal angebrochen, stand sie hier am Waldrand und wartete auf eine ihrer Freundinnen, die sich hier mit ihr treffen wollte. Wer konnte so verrückt sein, sich um diese Zeit und an diesem Ort zu verabreden? Sie! So etwas brachte wirklich nur Lilly fertig! Und dann verspätete sie sich auch noch. Keira hatte wirklich keine Ahnung, weshalb sie sich nicht bei ihr treffen konnten, in ihrem Zimmer, wo es jetzt sicher wunderbar warm war…

Was hätte sie jetzt dafür gegeben, irgendwo in einem heißen Land zu sein. An irgendeinem Strand zu liegen, das Meer rauschen zu hören und die unendliche Weite des Ozeans vor sich zu haben.

„Keira! Entschuldige, dass ich ein wenig spät komme.“ Lilly kam auf sie zugerannt und riss sie somit aus ihren Gedanken.

„Sag mal, was wollen wir hier eigentlich?“, entgegnete sie schroff.

Ihre Freundin schenkte ihr nur ein verschmitztes Lächeln. „Wirst du schon noch sehen. Komm mit!“
 

Etwas widerwillig folgte sie dem anderen Mädchen in den Wald hinein. Unter den dichten Bäumen war es noch stockdunkel und Keira klammerte sich ängstlich an den Arm ihrer Begleiterin.

Lilly war ein Stück größer als Keira, hatte langes, braunes Haar, welches sie, wie so oft, zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden hatte. Sie trug eine leichte Jacke, worauf sich Keira immer wieder wunderte, wie sie so herumlaufen und doch nicht frieren konnte.

Langsam wurde es dem jungen Mädchen zu blöd und es blieb abrupt stehen.

„Was hast du?“, fragte Lilly verdutzt.

„Wohin bringst du mich?“ Keira war zwar nicht direkt misstrauisch, denn wenn sie jemandem vertraute, dann waren es ihre Freundinnen, allerdings befand sich ein gewisser wütender Unterton in ihrer Stimme.

Lilly blieb jedoch völlig gelassen. „Wenn ich dir das jetzt verrate, ist es doch keine Überraschung mehr!“

Keiras Laune war mittlerweile rapide gesunken. Hatte sie denn zur Zeit nicht schon genug Probleme? Musste sie auch noch mit irgendwelchen vollkommen verrückten Ausflügen belästigt werden? Sie hakte sich wieder bei ihrer Freundin unter und versuchte, in ihre Gedankenwelt hinüber zu gleiten. Wenn sie einmal dort war, konnte sie nichts und niemand so schnell wieder da wegholen.
 

Weicher Sand wurde unter ihren Füßen behutsam von den immer wiederkehrenden Wellen weggespült. Der zarte Abendwind spielte sanft mit ihrem langen Haar. Vor sich sah sie am Horizont die blutrote Sonne untergehen. Am rosafarbenen Himmel befand sich keine einzige Wolke, die schlechtes Wetter hätte ankündigen können. Irgendwo in der Ferne glaubte sie, ein paar Schiffe vorbeifahren zu sehen. Sie stand einfach nur still da und bewunderte die herrlich friedliche Atmosphäre. Nach einiger Zeit nahm sie leise Geräusche hinter sich wahr. Sie drehte sich vorsichtig um, wobei ihr Herz zu rasen begann. Dann erblickte sie ihn. Hinter ihr stand ein Mann mit langem Haar und recht schäbigen Klamotten. Keira hatte nicht die geringste Ahnung, wer dieser Typ war oder wie er in ihren Gedanken auftauchen konnte, wo sie ihn doch gar nicht kannte. Sie empfand allerdings eine gewisse Ehrfurcht vor ihm und fühlte sich auf unbestimmte Weise zu ihm hingezogen. Er trat langsam auf sie zu, berührte behutsam ihre Wangen…
 

„Keira! Schläfst du etwa im Gehen?“ Lillys Gebrüll riss sie unsanft aus ihrer Traumwelt. Mit zornigem Gesichtsausdruck blickte sie in die verblüfften Augen ihrer Freundin. Wegen ihr hatte sie nun nicht erfahren, wer dieser Kerl war, der sich so einfach in ihre Phantasie schleichen konnte. Sie zitterte ein wenig, denn wirklich geheuer war ihr das nicht.
 

„Sind wir jetzt endlich da?“, entgegnete sie genervt.

Lilly zeigte mit ausgestrecktem Finger nach vorne. Keira sah in die angegebene Richtung und erblickte vor sich eine Reihe alter Birken, die ihre weichen Äste über den Boden breiteten. Die beiden Mädchen traten unter den Bäumen hindurch. Auf der anderen Seite befand sich eine riesige Lichtung, die von allen Seiten von den Birken eingerahmt wurde. In ihrer Mitte war eine Art See, über den ein schmaler Steg ans andere Ufer führte. Dort bot sich Keira ein wundervoller und zugleich doch recht unheimlicher Anblick. In einem Kreis aus aufeinandergelegten Steinen stand eine Art Schrein, der ebenfalls aus Felsen errichtet worden war. Lilly führte Keira näher an das seltsame Gebilde heran. Sie betraten das Monument, worauf Keira allerdings sogleich schreiend wieder hinaus stürmte.

„Komm schon! Sieh es dir mal näher an!“, beruhigte Lilly ihre Freundin, welche darauf erneut den Schrein betrat.

In seinem Inneren waren auf einer hohen, hölzernen Bank, auf der eine blaue Samtdecke lag, allerlei eigenartige Gegenstände aufgebart. Rechts außen lag ein langes Schwert, wie es schien, das in einer meisterhaft gearbeiteten Scheide steckte. Danach kam ein komisches, in ein rotes Tuch eingewickeltes Päckchen. Die Mädchen betrachteten es staunend, trauten sich jedoch nicht, es aufzumachen, um sich den Inhalt anzusehen. Links befand sich eine lange, reich verzierte, aber unglaublich alte Pistole, daneben ein Haufen undefinierbarer Stofffetzen, die wohl einst Kleider gewesen waren. In der Mitte dieser Holzpritsche lag das, weswegen Keira vorher schnell wieder das Weite gesucht hatte. Es handelte sich um einen Totenschädel, unter dem wiederum zwei überkreuzte Men-schenknochen lagen – das Zeichen der Piraten!
 

„Und? Was sagst du dazu? Was das wohl zu bedeuten hat?“ In Lillys Gesicht waren tausend Fragen abzulesen, wobei Keira sich nicht minder über die hier aufgereihten Artefakte wunderte. Wofür das gut sein sollte? Und weshalb hier, mitten im Wald in einem uralten Schrein Spuren von Piraten zu finden waren? Dieser Ort war ja wohl der letzte, der etwas mit dieser Gesellschaftsschicht des 18. Jahrhunderts zu tun hatte. So etwas würde man doch eher in Hafenstädten oder wenigstens an der Küste erwarten.

Dennoch, es war eben hier und Keira fragte sich, weshalb es bis heute noch keiner entdeckt hatte, denn dieses Denkmal schien hier schon eine unglaublich lange Zeit zu stehen, obwohl es nicht so aussah, als sei innerhalb der letzten hundert Jahre jemand dort gewesen. Die Mädchen empfanden dies alles als äußerst eigenartig. Allerdings waren beide viel zu neugierig um diesen Ort einfach sich selbst zu überlassen. Sie wollten wissen, was für Geschichten, Legenden oder Sagen sich da-hinter verbargen, wollten diesen Platz erkunden, einfach alles darüber erfahren. Und je geheimnis-voller es war, desto besser! Die Beiden liebten solch mystische Dinge. Es gab wohl kaum etwas, das sie mehr faszinierte.
 

Keira streckte vorsichtig die Hand nach dem in rotes Tuch gewickelten Gegenstand aus. Als sie den Stoff berührte, lief ihr ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Sie zuckte kurz zurück, nahm dann ihren ganzen Mut zusammen und griff nach dem Ding. Es fühlte sich ziemlich schwer an, dafür, dass es nur etwa die Größe eines Kompass’ hatte. Lilly kniete sich auf den Boden, gespannt, was ihre Freundin nun tun würde. Diese gesellte sich jedoch sogleich zu ihr um das Päckchen mit ihr gemeinsam zu öffnen. Die Zwei stellten fest, dass auch das Tuch, so wie alles in diesem Raum, schon ziemlich kaputt und schäbig aussah. Sie wickelten es ab, worauf ihnen tatsächlich eine Art Kompass offenbart wurde. Entweder lag es am Alter des Instruments oder es hatte von Anfang an nicht funktioniert, jedenfalls zeigte die Nadel des Gerätes nicht nach Norden, sondern in irgendeine willkürliche Richtung. Die Mädchen sahen sich verblüfft an. Im Gegensatz zu den anderen Sachen, war dieser „Kompass“ geradezu lächerlich. Lilly stand auf und nahm sich als nächstes die Pistole vor. Sie verstand zwar nicht besonders viel von solchen Waffen, konnte aber dennoch erkennen, dass sie nicht geladen war. Währenddessen machte sich Keira daran, das Schwert zu inspizieren. Schwerter waren schon immer ihre Leidenschaft gewesen – nur hatte sie bis zum heutigen Tage noch nie eines in der Hand gehalten. Umso glücklicher war sie jetzt, da sie endlich die Gelegenheit dazu bekam. Die Klinge wog ziemlich leicht in ihrer Hand – leichter, als sie gedacht hatte. Sie war aus wunderbar glänzendem Metall gearbeitet, wenngleich Keira auch nicht wusste, was genau der Stoff war, aus dem es gefertigt worden war.
 

Diese Waffe schien das Einzige zu sein, was noch nicht vollkommen zerstört war von der langen Zeit, die diese Gegenstände wahrscheinlich hier unten gelegen hatten. Das Schwert glänzte, als wäre es erst vor kurzem geschmiedet worden.

Lilly hatte inzwischen die zerlumpten Klamotten aufgehoben und hob sie vor sich in die Luft.

„Scheint mal ein Mantel gewesen zu sein.“, erklärte sie ihrer Freundin.

„Und das war wohl ein Hut…“, mutmaßte Keira, während sie einen wirklich verkommenen, alten Filzlappen begutachtete.

Die beiden Mädchen sahen sich ernst an, dann fielen ihre Blicke auf die Gebeine, welche sie bis jetzt von ihrer kleinen Expedition ausgeschlossen hatten. Allerdings fiel ihnen auf, dass sie auch noch nichts wahnsinnig spannendes herausgefunden hatten. Sie nickten sich mutig zu und legten anschließend gleichzeitig die Hände auf den Totenkopf, um ihn gemeinsam aufzuheben. Ein helles Licht erfüllte den Raum, was die Beiden dazu veranlasste, augenblicklich den Schädel loszulassen, worauf das Leuchten sogleich wieder erstarb.

„Was war das?“ Keira blickte angsterfüllt in die funkelnden Augen ihrer Gegenüber, die als Ant-wort nur den Kopf schüttelte um zu zeigen, dass sie es auch nicht wusste.
 

Doch da war etwas, dessen waren sich die jungen Frauen nun sicher. Und bei ihrem grenzenlosen Drang nach Abenteuern, war es natürlich selbstverständlich nur eine Frage der Zeit, bevor sie sich wieder gefasst hatten, um es erneut zu versuchen. Obwohl sich in Keiras Blicken immer noch die Furcht spiegelte, berührten sie den Gegenstand noch einmal. Auch diesmal erschien wieder dieses grelle, alles verschlingende Licht, doch jetzt waren sie darauf vorbereitet. Keira, die von Natur aus zwar kein Feigling, aber etwas furchtvoll und schreckhaft war, klammerte sich mit dem freien Arm um Lillys Hüften. Plötzlich erhob sich in dem engen Raum ein regelrechter Orkan. Alles um sie herum begann sich zu drehen, flog wirr durch die Gegend, wobei schon bald der feste Boden unter ihren Füßen verschwand. Keira stieß einen verzweifelten Schrei aus, als sie auf einmal in der völligen Leere schwebte und sich noch dazu nicht bewegen konnte. Lilly, die in diesem Moment wahrscheinlich genauso viel Angst hatte, wie ihre Freundin, drückte diese fest an sich, um sie zu beruhigen.

Nach kurzer Zeit wurde ihnen schwarz vor Augen und sie wussten nichts mehr, außer, dass sie fielen…

Das Neue, Unbekannte

Als Keira wieder zu sich kam stellte sie zuallererst fest, wie sehr ihr Kopf schmerzte. Sie vermutete, sich irgendwo angeschlagen zu haben. Vorsichtig setzte sie sich auf und sah sich dann verstört in ihrer Umgebung um. Links von ihr stand eine Reihe hoher Palmen, die sich sanft im Wind neigten. Zu ihrer Rechten sah sie das Meer, das sich in sachten Wellen immer wieder auf den Strand zu bewegte. Sie heilt Ausschau nach Lilly, welche sie nach einigen Minuten, etwas abseits am Rand des Palmenwaldes ausmachte. Sie kroch zu ihr hinüber und stupste sie behutsam in die Seite.

„Hey! Lilly! Wach auf!“, flüsterte sie ihrer Freundin zu.

Sie traute sich nicht, laut zu sprechen, denn schließlich hatte sie keine Ahnung, wo sie hier waren und was ihnen vielleicht noch bevorstand, wenn man sie entdeckte.

„Keira! Wo sind wir hier?“, rief das andere Mädchen erschrocken aus.

Keira legte den Finger auf die Lippen um ihr zu bedeuten, sie solle leise sein. Erst jetzt fiel den Beiden auf, wie sehr sie in ihren warmen Jacken, langen Hosen und dicken Pullovern schwitzten. Kein Wunder! Immerhin befanden sie sich hier in der Karibik, wie sie mittlerweile erkannt hatten – wenngleich sie auch immer noch nicht wussten, wer oder was sie hierher gebracht hatte.

Vorsichtig standen sie auf und suchten mit den Augen die Umgebung gründlich ab.

„Da vorne ist eine Stadt.“, stellte Lilly nach einer Weile fest. „Wollen wir da nicht mal jemanden fragen, wo wir eigentlich genau sind?“

Keira nickte und sie begaben sich auf den Weg in den naheliegenden Ort.

Die Menschen waren alle ziemlich altertümlich gekleidet, wie Lilly skeptisch bemerkte. In der Stadt angekommen, versuchten sie erst einmal, sich zurecht zu finden, was sich allerdings als relativ schwierig herausstellte, da sie von allen Seiten eingehend gemustert wurden. Sie befanden sich auf einem großen Platz, auf dem an allen Ecken reger Handel – legal oder illegal – herrschte. In der Mitte stand ein kleiner, schlichter Brunnen, aus dem jedoch klares Wasser floss. Die Häuser um sie herum erinnerten Keira an Bilder aus ihren Geschichtsbüchern. Ziemlich einfach gebaut und doch beeindruckend.
 

„Hey! Seht mal! Wen haben wir denn da?“, brüllte plötzlich ein Mädchen, das mit rasender Geschwindigkeit über den Marktplatz auf die Beiden zugerannt kam.

Sie hielt vor ihnen an und drehte sich zu ihrer Gefährtin um, die ihr grinsend gefolgt war und die nun die zwei jungen Frauen eingehend begutachtete. Allmählich erstarb das Lächeln auf ihrem Gesicht.

„Das sind sie nicht. Sie sehen nur genauso aus wie sie.“, erklärte sie ihrer Begleiterin.

„Wie heißt ihr?“, fuhr die Andere sie an, wobei sie Keira den Mantel vom Leib riss.

„Mein Name ist Keira.“, antwortete sie wütend und entriss dem Mädchen ihre Kleidung. „Und das ist Lilly.“

Die beiden Fremden starrten sich zuerst verblüfft an, bevor ihre Blicke wieder auf die außergewöhnlich seltsamen Leute ihnen gegenüber fielen.

„Ihr seid nicht von hier oder?“ Das Mädchen, das zuerst auf sie zugekommen war, sprach nun wieder. „Am Besten, ihr kommt erst mal mit uns mit!“

Lilly und Keira zögerten kurz, entschieden sich aber dann doch dafür, ihnen zu folgen. Was hatten sie denn sonst schon für Aussichten?

„Wie heißt ihr eigentlich?“, wollte Lilly schließlich von den Zweien wissen.

„Ich bin Jacky. Und das da ist Mika.“
 

Keira zerrte ihre Freundin am Ärmel, wobei sie mit der anderen Hand zu den jungen Frauen vor ihnen deutete. Lilly hatte es genauso bemerkt wie sie. Den Beiden war schon vorher aufgefallen, dass ihre Führerinnen zwei Mädchen aus ihrer Clique zum Verwechseln ähnlich sahen. Sie hätten glatt Zwillinge sein können! Jacky war das absolute Ebenbild von Jaqueline, ein aufgewecktes, rabiates Mädchen mit langem, dunkelbraunem Haar und nahezu schwarzen Augen – ebenso wie diese Jacky. Sie trug einen unheimlich kurzen Rock, Stiefel, die ihr bis zu den Schenkeln reichten, ein samtenes, mit goldenen Stickereien verziertes Hemd, das sie um die Hüften mit einem langen Stofffetzen zusammengebunden hatte. Um den Kopf hatte sie ein großes Tuch gewickelt, welches ihr das Aussehen eines Piraten verlieh. Das ganze Outfit ließ sie verdammt sexy aussehen.

Mika hingegen glich Minako wie ein Ei dem Anderen. Ihr Rock reichte ihr bis zu den Knien, um den Oberkörper hatte sie einige Tücher geschlungen, die gerade so ihre Brüste bedeckten. Ihre dunklen Haare waren zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden, ihre Schuhe waren aus altem Leder gefertigt und reichten ihr knapp über die Knöchel. Keira und Lilly fragten sich wirklich, was das zu bedeuten hatte. Hatten diese beiden Mädchen irgendwas mit ihren Freunden zu tun? Sie hofften, es bald heraus zu finden.
 

Die Vier waren am Ende der Stadt angekommen, wo sich ein riesiger Hafen befand. Am Bootssteg lagen mehrere große Schiffe vor Anker, die alle eine gewisse Eleganz ausstrahlten. Die beiden Piraten betrachteten diese allerdings mit einem herablassenden Lächeln. Sie führten die Freundinnen zu einem kleinen Boot und begannen damit aufs offene Meer hinaus zu rudern.

„Wo wollt ihr denn hin?“ Keira war ein wenig misstrauisch geworden. Was sollte es denn da draußen auf dem Wasser noch geben?

„Keine Sorge! Wir zeigen euch jetzt das wundervollste Piratenschiff, das ihr jemals gesehen habt!“ Mika platzte fast vor stolz.

„Kunststück“, meinte Lilly gequält, „Bis jetzt haben wir noch nicht besonders viele Piratenschiffe gesehen.“

Auf einmal machten sie ein abruptes Wendemanöver und bogen somit nach links in eine versteckte Bucht ein. Bei dem Anblick, der sich ihr nun bot, wäre Keira beinahe vor Staunen über Bord gegangen, konnte sich jedoch rechtzeitig wieder fangen und wurde von Jacky unsanft zurück auf ihren Platz befördert.

Die Black Pearl

Vor ihnen stand ein riesiges Schiff. Die Mädchen hatten nicht zuviel versprochen – es war ein Prachtexemplar, wenn auch etwas mysteriös und geheimnisvoll, doch genau das war es, was Keira daran so faszinierte. Es besaß drei Masten, von denen jeder einzelne mindestens fünfzehn Meter in die Höhe ragte. Daran waren große helle Segel befestigt, die nun, da die Mädchen zurückkehrten, sofort gesetzt wurden. Als sie angekommen waren, wurde ihnen sogleich eine Strickleiter zugeworfen, an der sie nach oben klettern konnten. An Deck herrschte reges Treiben und die Mannschaft, die wohl nur aus Frauen zu bestehen schien, machte sich anscheinend bereit zum Ankerlichten.

Keira und Lilly wurden im Eifer des Gefechts zuerst einmal vergessen. Sie stellten sich irgendwo abseits an die Reling und beobachteten, wie das Schiff die Bucht verließ.

„Was tut ihr denn hier?“, hörten sie plötzlich eine männliche Stimme hinter sich sagen.

Sie fuhren herum, worauf Keira sogleich von neuem Entsetzen gepackt wurde. Das war er! Der Mann, der letztes Mal in ihrem Traum einfach aufgetaucht war.

„Die zwei Mädchen haben wir in der Stadt aufgegabelt.“, erklärte Jacky, „Findest du nicht, dass sie Kiran und Lilian wie aus dem Gesicht geschnitten sind?“

Der Mann nickte. Er strahlte eine gewisse Autorität aus, keine Frage, aber er sah dennoch ziemlich harmlos aus. Sein langes, schwarzes Haar umspielte im Fahrtwind seine markanten Gesichtszüge. Keira wurde sogleich von seinen tiefgründigen, braunen Augen in den Bann gezogen. Die Kleidung ließ erkennen, dass es sich eindeutig um einen Piraten handelte. Er trug einen knielangen, grauen Mantel, darunter ein weißes Hemd und eine schäbige Hose, die an den Hüften von verschiedenen Bändern gehalten wurde. Seine Stiefel waren ebenfalls schon etwas altersschwach, aber erfüllten durchaus noch ihren Zweck. Um den Kopf hatte er, genau wie Jacky, ein rotes Tuch gebunden. Sein Haar war mit bunten Perlen durchwirkt, die wahllos irgendwo eingeflochten waren, wie es schien. Er wandte sich ohne weitere Worte von seinen Gästen ab und setzte im Gehen einen alten Hut auf, der Keira verdammt bekannt vorkam. Sie konnte allerdings nicht sagen, wo sie dieses Ding schon einmal gesehen haben sollte.

„Mein Bruder ist nicht sehr gesprächig.“, bemerkte Jacky und wandte sich ebenfalls ab.

Kurze Zeit später kam ein weiteres junges Mädchen auf sie zu, das sie sogleich als Ebenbild ihrer Freundin Aileen identifizierten. Ayana, wie die Frau hieß, brachte die beiden in eine Kabine und holte einen Haufen Kleider aus einem Schrank neben der Tür, welche sie darauf ordentlich verschloss.

„Nicht, dass der Captain auf dumme Gedanken kommt.“ Sie grinste Keira und Lilly verschmitzt an. „Na los! Sucht euch was aus. So könnt ihr hier nicht herumlaufen.“

Die Beiden warfen sich skeptische Blicke zu, bevor sie sich an den Stapel aus Klamotten machten um sich daraus ein neues Outfit auszusuchen.

„Wie heißt denn euer Captain?“ Keira hob ein langes, hellblaues Tuch in die Luft, welches wohl als Rock dienen konnte.

„Sein Name ist Jack Sparrow. Habt ihr etwa noch nie von ihm gehört?“

Keira schoss es wie ein Blitz durch den Kopf. Jack Sparrow! Irgendwo hatte sie diesen Namen schon einmal gelesen – wenn sie doch nur noch wüsste, wo…

Sie zog einen weiteren Fetzen hervor, diesmal einen dreckigen, dunkelgrünen, den sie als Oberteil benutzen wollte.

Lilly hatte sich indes einen beigen Minirock und ein bordeauxrotes Top, das allerdings keine Träger hatte, ausgesucht und war hinter einer großen Gardine, die ihnen Ayana zum Umkleiden gezeigt hatte, in ihre neuen Sachen geschlüpft.

Nachdem sie ihre Gäste noch einmal begutachtet und sie zum Abendessen mit der gesamten Crew eingeladen hatte, machte sich Ayana wieder auf den Weg nach oben, wo sie, wie sie sagte, noch allerhand zu tun hatte.

Als sie allein waren, fand Keira endlich Zeit mit ihrer Freundin über die Ereignisse des Tages zu sprechen.

„Also: Wie kommen wir hier her? Wo sind wir? Und wer ist dieser Jack Sparrow?“

„Halt, halt, halt! Nicht so schnell! Immer der Reihe nach.“, versuchte Lilly sie zu beruhigen. „Aber, ehrlich gesagt, kann ich dir auf keine deiner Fragen eine Antwort geben. Und was glaubst du, hat es mit diesen Mädchen auf sich, die unseren Freundinnen so ähnlich sehen?“

Keira schüttelte nur den Kopf. Sie hatte nicht die geringste Ahnung. Aber wer hätte es ihr sagen können? Wer wusste denn schon, was mit ihnen passiert war? Langsam regte sich in ihr der Gedanke, dass dieser Jack vielleicht der Schlüssel zu allem war. Dass er ihr sagen konnte, wieso sie hier war und wie sie hergekommen war. Sie wusste nicht, warum sie so dachte, doch sie beschloss, diesem Gefühl zu folgen und bald mit ihm zu sprechen.

„Keira?“ Lilly riss sie abrupt aus ihrer Gedankenwelt. „Wir waren doch zum Essen eingeladen. Wollen wir nicht gehen?“

Keira nickte, worauf sie sich auf den Weg machten. Den Mädchen fiel jedoch schnell auf, wie schlecht sie sich auf dem großen Schiff, dass von Ayana die „Black Pearl“ genannt worden war, auskannten. Sie liefen eine Weile orientierungslos durch die Gänge, bis sie schließlich von Mika gefunden und in den Speisesaal gebracht wurden. Dort saßen in der Mitte des Raumes um eine große Tafel sieben junge Frauen, aus denen Keira augenblicklich Jacky, die sich laut grölend mit ihrer Tischnachbarin unterhielt, herauskannte. Mika gesellte sich sogleich zu ihnen, wobei sie Lilly ein Zeichen gab, dass ihr sagte, sie sollten sich zu ihnen setzen. Zögernd traten die Mädchen auf die Gruppe Piraten zu und suchten sich freie Plätze. Keira fand einen Stuhl zwischen zwei jungen Frauen, die zu ihrem Entsetzen wieder zwei ihrer Freundinnen glichen. Sie sah sich entlang der Tafel um und stellte fest, dass diese Mädchen glatt ihre Clique hätten sein können. Links von ihr saß Sarina, die sie als Ebenbild Sarahs identifizierte. Sarina hatte schulterlanges, blondes Haar in das viele bunte Strähnen eingeflochten war. Sie trug ein kurzes, lilafarbenes Kleid mit hauchdünnen Trägern. Allerdings hatte sie normalerweise noch einen dunklen Mantel darüber, der jetzt an der Lehne ihres Stuhls hing. Ihre kristallblauen Augen waren einfach faszinierend, wie Keira fand, denn sie konnte ihren Blick lange Zeit nicht davon abwenden.

Zu ihrer Rechten befand sich Shania, welche Sharon ähnlich sah. Sie hatte kurzes, schwarzes Haar, das sie mit einem blauen Kopftuch bedeckte. Sie war eher klein gewachsen, aber das war in ihrem Erscheinungsbild keinesfalls ein Nachteil. Das zierliche Mädchen versteckte ihre weiblichen Formen gekonnt unter einer weiten, weißen Bluse, die ihr weit über die Schenkel und fast gänzlich über ihren kurzen Rock reichte. Um die Hüften hatte sie eine Art Schal locker geschnürt.

Lilly hatte einen Platz gegenüber von Ayana gefunden und saß nun zwischen Lianne, der Doppelgängerin Annes, und Patty, die wiederum Patricias Ebenbild war. Lianne hatte hellbraunes, leicht gelocktes Haar, welches ihr bis zum Kinn reichte. Sie trug ein knielanges, aprikosenfarbenes Kleid mit kurzen Ärmeln und darüber eine kurze, dunkelblaue Weste. Ihre hohen Stiefel verdeckten gänzlich ihre Beine.

Pattys Haar war blond mit vielen kunterbunten Strähnen. Sie schien ein ziemlich ausgeflipptes Mädchen zu sein. Ihre Kleidung bestand aus einigen zusammengeflickten Tüchern, die ihr als Rock nur kläglich dienten, und einer Art Bikinioberteil, das ihr allerdings nicht so richtig passte. Ihre Schuhe reichten ihr etwas über die Knöchel, wobei sie ziemlich wirr geschnürt waren.

Die jungen Frauen unterhielten sich nicht gerade leise, was den beiden Gästen aufs Neue verdeutlichte, dass sie sich hier wirklich unter Piraten befanden. Allmählich kamen auch sie ins Gespräch mit der Mannschaft der Black Pearl. Keira erfuhr, dass sie und Lilly angeblich den beiden größten Feinden ihres Captains glichen und, dass deshalb auch alle zuerst einen gewissen Respekt vor ihnen hatten. Denn diese Frauen, Kiran und Lilian mit Namen, waren wohl zwei der gefürchtetsten Piraten der Karibik.

„Und wenn sogar Captain Jack Sparrow sich vor ihnen fürchtet, dann will das schon etwas heißen!“, sagte Sarina ehrfurchtsvoll.

Keira und Lilly begriffen langsam überhaupt nichts mehr. Die Mitglieder dieser Crew sahen aus wie ihre Freunde, sie sahen aus wie deren Feinde und warum sie hier waren, wussten sie immer noch nicht. Allerdings glaubte Keira, langsam zu verstehen, wo sie waren. Sie vermutete, dass sie wohl in die Vergangenheit gereist waren, aber weshalb sie sich im Atlantik befanden, wussten sie dennoch nicht. Das war alles so schrecklich kompliziert…

„Hey! Träumst du?“ Patty beugte sich zu ihr herüber und fuchtelte mit den Armen vor ihrem Gesicht.

„Äh…was?“, stammelte sie verlegen.

„Ich habe gefragt, wo ihr herkommt.“

„Also, na ja…wir kommen aus einem kleinen Dorf, das sich erstens mitten in Europa auf dem Festland befindet und zweitens nicht mal in dieser Zeit existiert, wie ich glaube.“

Alle verstummten augenblicklich und sahen sie verwirrt an.

„Was meinst du damit ‚…nicht in dieser Zeit existiert…’?“, fragte Shania völlig perplex.

„Ich…äh…“ Keira wusste nicht, wie sie es ihnen erklären sollte. Außerdem, wer sagte ihr, dass sie mit ihren Vermutungen überhaupt richtig lag? Sie blickte hilflos in die Runde. Da sie jedoch alle, sogar Lilly, immer noch fragend anstarrten, sprang sie auf und verließ den Raum. Keiner der Anwesenden sagte etwas. Sie hielten es für besser, sie erst einmal allein zu lassen und wandten sich schweigend wieder ihrem Essen zu.

Keira ging schnellen Schrittes durch die engen Gänge im Inneren des Schiffes. Sie war auf der Suche nach einem Weg an Deck. Was hatte sie sich nur dabei gedacht, den anderen genau das zu erzählen, was ihr doch gerade eben erst als Hirngespinst durch den Kopf gegangen war? Sie wusste nicht, wieso sie das getan hatte, doch jetzt wollte sie zuerst mal ihre Ruhe haben. Sie musste darüber nachdenken, herausfinden, ob und wie das denn möglich sein konnte, dass sie tatsächlich in einer anderen Zeitebene gelandet waren.

Endlich fand sie einen Ausgang. Sie kletterte die schmale Leiter empor und fand sich schließlich auf dem Deck der Black Pearl wieder. Der kalte Nachtwind zauste ihr langes Haar und zerrte heftig an ihrem bodenlangen Seidenrock. Sie fror schrecklich in ihrem kurzen Oberteil, hatte jedoch keine Lust, wieder in den Speisesaal oder in ihre Kabine zu gehen. Sie begab sich nach vorne an den Bug des Schiffes, klammerte sich fest an die Reling und beugte sich weit hinaus. Plötzlich glaubte sie, jemandes Anwesenheit zu spüren, was sie durch den Schreck beinahe über Bord gehen ließ. Langsam drehte sie sich um, erblickte ihn und wäre am liebsten erneut davon gelaufen. Er stand einfach nur da, seine glitzernden Augen auf sie gerichtet. Keira fühlte, wie ihr Tränen die Wangen hinunter liefen, wobei sie noch nicht einmal wusste, wieso. Jack trat auf sie zu, zog seinen Mantel aus, den er ihr um die Schultern legte. Sie blickte ihn dankbar an. Er stellte sich stumm neben sie um die Atmosphäre dieser klaren Nacht zu genießen. Das Mädchen wusste nicht, wie es sich verhalten sollte. Sie erinnerte sich an ihre eigenartige Eingebung vom Nachmittag, die ihr gesagt hatte, Jack wüsste Antworten. Doch ob sie sich auf diese waghalsigen Gedanken verlassen konnte, war ja nicht sicher. Im Gegenteil, sie dachte, dass es wohl doch nur Schwachsinn gewesen sei, dass sie geglaubt hatte, dieser Mann, der jetzt hier neben ihr stand, könne ihr bei irgendwelchen Problemen helfen. Und noch dazu bei solchen, die eine gewisse Intelligenz voraussetzten. Wenn sie den Worten der Crew glauben schenken konnte, war ihr Captain nicht gerade jemand, der davon allzu viel hatte. Er war wohl ein versoffener, unehrbarer, verrückter – Pirat!

„Was ist los mit dir?“ Die tiefe, ruhige Stimme des Mannes riss sie aus ihren Gedanken.

„Äh… nichts!“, stammelte sie verlegen.

Er erwiderte nichts, aber sie wusste dennoch, dass er ihr das keineswegs abnahm. Ihr Verhalten war immerhin mehr als auffällig. Sie wunderte sich, weshalb er nicht nachhakte und überlegte, ob er vielleicht doch nicht ganz so gefühllos war, wie sie zuvor gedacht hatte.

„Ich habe etwas dummes gesagt…“ Schließlich überwand sie sich doch, zu sprechen.

Jack sah sie mit seinen tiefgründigen Augen an, worauf sie schnell den Blick abwand um nicht von dieser geheimnisvollen Aura verschlungen zu werden.

„Wisst Ihr, wo wir herkommen?“, fragte Keira geradeheraus.

Er nickte. „Jemand hat mir einmal von zwei Mädchen erzählt, die aus der Zukunft kommen würden… Mir wurde gesagt, sie sähen Frauen ähnlich, die ich gut kenne…“ Die Art, wie er sprach, ließ sie darauf schließen, dass dies nicht gerade sein Lieblingsthema war.

„Kiran und Lilian – ich weiß! Wer sind diese Frauen?“

„Sie sind meine größten Feinde. Lilian wollte schon immer die Black Pearl haben und Kiran…Sie hasst mich!“ In seinem Ton lag etwas, was Keira vielleicht Bedauern oder Wehmut nennen mochte. Sie hätte zu gerne gewusst, was es mit dieser Kiran auf sich hatte. Es bestand ein engeres Verhältnis zwischen den Beiden, oder hatte jedenfalls bestanden, dessen war sie sich sicher.

„Ähm…wisst Ihr auch, wie wir hierher gekommen sind?“

Wieder sah er sie mit diesem leidenden Blick an und es schien, als würde er ihre Frage gar nicht beachten. Seine klaren Augen ruhten auf ihrem Gesicht und musterten sie eingehend. Keira spürte, wie ihr Herz plötzlich heftig zu schlagen begann. Sie senkte den Kopf um so dem traurigen Ausdruck auf seinen Zügen auszuweichen. Er blickte wieder auf den weiten, dunklen Ozean hinaus.

„Nein. Das weiß ich leider nicht. Damals wurde mir nur erzählt, dass zwei junge Frauen aus einer anderen Zeit und einem anderen Land kommen werden – und sie werden Frieden schaffen… Allerdings weiß ich nicht, was damit gemeint ist.“

Keira konnte darauf nichts erwidern. Sie war einfach nur schockiert über das, was ihr soeben offenbart worden war. ‚Frieden schaffen’? Zwischen wem denn? Sie verstand langsam überhaupt nichts mehr! Das war alles so schrecklich kompliziert – dabei wollte sie doch nur wieder nach Hause. Dann fiel ihr noch etwas ein.

„Ich habe euch einmal in meinen Gedanken gesehen. Wisst Ihr, was das zu bedeuten hat?“

Er schüttelte den Kopf, doch man sah ihm an, dass er sehr nachdenklich geworden war. Hatte er auch eine Ahnung, so wie Keira selbst vorhin in der Kabine?

„Woher wisst Ihr all das?“, fragte sie vorsichtig.

„Ein Mädchen aus meiner Crew, Ayana, hatte einmal eine Vision und hat mir davon berichtet.“ Der Blick des Piraten war immer noch auf das schwarze Meer gerichtet, wo die sanften Wellen, deren Geräusch sie leise vernahmen, sich am Bug des Schiffes brachen.

Schlaflose Nacht

Keira entgegnete nichts mehr. Sie wusste einfach nichts zu sagen. Schließlich wand sie sich um und begab sich zurück unter Deck. Als sie ihr enges Zimmer betrat, saß Lilly schweigend auf dem Bett, das Licht war allerdings aus, von wo aus sie ihre Freundin freundlich ansah.

„Was war denn vorhin los?“

„Ich… Ähm… Ich weiß auch nicht! Weißt du, das, was ich vorher sagte… das war nur eine Mutmaßung! Ich habe nur versehentlich meine Gedanken ausgesprochen und als ihr dann mehr wissen wolltet, wusste ich nicht, was ich antworten sollte!“

„Aber das ist doch kein Grund, einfach wegzurennen!“ Lilly warf ihr einen skeptischen Blick zu.

Keira war kurz davor, wieder in Tränen auszubrechen, ohne irgendeinen bestimmten Grund.

„Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Das ist mir irgendwie alles zu viel…“

Ihre Freundin kam in der Dunkelheit auf sie zu, legte sanft ihre Arme um sie und drückte sie fest an sich.

„Schon gut!“, flüsterte sie liebevoll, „Ich kann gut verstehen, dass du mit der ganzen Situation nicht so recht klar kommst. Ich tu es ja selbst nicht…“

Nur dass du es besser verbergen kannst, fügte Keira in Gedanken hinzu. Sie war noch nie gut darin gewesen, ihre Gefühle zu verstecken.

Langsam löste sie sich von Lilly und begann zu erzählen: „Wir sind hier tatsächlich in der Vergangenheit. Zwar an einem anderen Ort, aber dennoch in einer früheren Zeit unserer Welt. Diese Ayana hatte angeblich eine Vision, welche sie über unsere Ankunft informiert hat. Diese Frauen, denen wir ähnlich sehen, sind Feinde dieser Piraten. Wobei ich glaube, dass diese Kiran ein besonderes Verhältnis zum Captain hat – oder jedenfalls hatte.“

„Woher weißt du das alles?“ In Lillys Gesicht stand tiefe Verwunderung geschrieben.

„Hat mir Mr. Sparrow erzählt. Ach, und noch was… wir sind dazu bestimmt ‚Frieden zu schaffen’, wie er so schön sagte. Was das bedeuten soll, wusste er selbst nicht.“

Ihre Gegenüber war nun vollends verwirrt. Sie stand einfach nur schweigend da, unfähig, etwas zu erwidern.
 

Keira hatte nicht die geringste Lust, jetzt noch über dieses Thema nachzudenken. Sie war unendlich müde. Rasch zog sie ihre Kleider aus, warf sie auf einen naheliegenden Stuhl und fiel wie ein Stein in ihr Bett. Lilly, die ihre Kameradin bis dahin nur beobachtet hatte, tat es ihr nun gleich und legte sich, aufgrund eines nicht vorhandenen zweiten Bettes zu ihrer Freundin. Die beiden Mädchen kuschelten sich eng aneinander, was Keira nach diesem anstrengenden Tag unglaublich gut tat. Da zu liegen und die Geborgenheit in den Armen eines Menschen zu spüren, von dem sie geliebt wurde. Mit diesen Gedanken sank sie in einen unruhigen Schlaf. In ihren Träumen tauchte immer wieder Jack auf. Jedes Mal sah er sie mit diesem Blick an, dieser Blick, der ihr sagte, dass er irgendetwas verbarg – ein Geheimnis, das wahrscheinlich mit Kiran zu tun hatte… Sie fühlte Jacks verzweifelte Traurigkeit fast körperlich. Sie wälzte sich in ihren Decken hin und her, wünschte, diesen unsagbar großen Schmerz aus seinen Augen, die jeglichen Glanz verloren hatten, verbannen zu können. Plötzlich entfernte er sich von ihr, er schien zu fallen. Keira streckte beide Hände nach ihm aus, konnte ihn jedoch nicht mehr erreichen…

Schweißgebadet und vollkommen erschöpft wachte sie auf. Lillys gleichmäßige Atemzüge neben ihr, sagten ihr, dass sie immer noch schlief. Keira fühlte sich, als hätte sie einen anstrengenden Marathonlauf hinter sich, nicht etwa mehrere Stunden Schlaf. Leise kletterte sie über ihre Freundin, warf sich einen alten Mantel, den sie fand, über die Schultern und schlich sich aus der Kabine.

Nur mit dem Umhang bekleidet suchte sie erneut nach einem Weg, der nach oben an Deck führte. Sie brauchte dringend frische Luft. Ihr war schwindelig und ihr Kopf schmerzte schrecklich. Diesmal fand sie die Treppe erheblich schneller, als beim letzten Mal, stieg sie empor, wo sogleich der kalte Nachtwind in ihr Haar und ihr Gewand fuhr. Keira verschränkte die Arme vor der Brust, damit der Wind, der ihren Mantel davon zu wehen drohte, sie nicht vollständig entblößen konnte.

Das Deck der Black Pearl schien verlassen zu sein, was sie dazu veranlasste, sich oben ans Steuerrad zu stellen um dem Mond, der schon weit im Westen stand, bei seinem ständigen Konkurrenzkampf mit den blassen Wolken zuzusehen. Sie liebte dieses Schiff! Wenn sie hier auch in einer eigenartigen Zeit war und auch gern wieder nach Hause wollte, so genoss sie es doch, an Deck zu stehen, den Wind mit ihren Haaren spielen zu lassen und einfach nur auf den unendlich weiten Horizont zu blicken. Sie fühlte sich so frei… Sie fragte sich, ob es wohl ein erhabeneres Gefühl geben konnte als die Freiheit.
 

„Kannst du nicht schlafen?“ Eine tiefe Stimme riss sie aus ihren Gedanken und ließ sie hochfahren.

Nervös wickelte sie ihre klägliche Bekleidung fester um ihren nackten Körper.

„Nein.“, antwortete sie knapp.

Er schien ein wenig belustigt über ihre verzweifelten Bemühungen, den Mantel im Wind zuzuhalten. Es war das erste Mal, dass Keira ein Lächeln von ihm sah.

Sie verfluchte sich, wie sie nur so leichtsinnig hatte sein können, hier halbnackt herumzulaufen, wo sie doch genau wusste, dass Jack sich fast immer an Deck aufhielt. Oder war sie etwa in der Absicht hergekommen, von ihm gesehen zu werden? Sie schalt sich eine Närrin und versuchte, an ihm vorbei zu kommen. Er stand auf der Treppe, die auf die Ebene führte, auf der sie sich nun befand. Da sie sich nicht an ihm vorbei drängen und so das Risiko einer ungewollten Berührung eingehen wollte, hatte sie keine Ahnung, wie sie dieses Hindernis überwinden sollte, denn sie erkannte schnell, dass er sie wohl nicht freiwillig durchlassen würde – dafür amüsierte er sich viel zu sehr über die in ihr aufsteigende Panik.

„Hast du Angst vor mir?“, fragte er grinsend.

Keira ersparte sich jeglichen Kommentar und senkte gedemütigt den Blick. Auf einmal wurde der Mann wieder vollkommen ernst. Seine Augen, die unbewegt auf die junge Frau gerichtet waren, strahlten einmal mehr diese tiefe Traurigkeit aus. In diesem Moment schien er schlagartig ein anderer Mensch zu sein. Sie sah ihn an, wobei sie sich wunderte, was es wohl sein konnte, das einen starken Mann wie Jack so sehr zeichnen konnte.
 

„Du… du siehst genauso aus wie sie…“ Sein Blick wanderte erneut hinaus aufs Meer, als ob er dort Trost suchen wollte.

Keira hätte den Moment nutzen und an ihm vorbeilaufen können, entschied sich jedoch dagegen. Es wäre feige und noch dazu ungerecht gewesen, hätte sie ihn jetzt einfach so hier stehen gelassen. Sie wusste nicht, wieso, aber sie fühlte sich auf eine Art zu ihm hingezogen, die ihr Angst machte. Obwohl sie ihn gar nicht kannte, litt sie mit ihm, wollte ihm helfen, auch wenn sie keine Ahnung hatte, ob und wie man diesem Mann helfen konnte.

Der Wind hatte es sich anscheinend zur Aufgabe gemacht, sie vor Jack auszuziehen, was sie immer noch verzweifelt zu verhindern suchte. Er kam langsam auf sie zu, diesmal ohne jeglichen Spott in seinem Gesicht, legte ihr die Arme um den Körper und zog sie eng an sich. In diesem Augenblick hasste Keira sich dafür, dass sie vorher nicht die Gelegenheit genutzt hatte um abzuhauen. Sie versuchte, sich von ihm loszureißen, was sich allerdings als äußerst schwierig erwies. Ihre Finger zitterten und sie konnte eigentlich nicht besonders viel gegen ihn ausrichten.

„Lasst mich los!“ Ihre Stimme klang fast flehend.

Er schob sie ein wenig von sich weg, hielt sie aber dennoch an den Schultern fest. Sie blickte ihn mit ihren grünen Augen an, in denen deutlich die Angst geschrieben stand. Was hatte dieser Kerl vor? Bei allem Respekt, er war immer noch ein Pirat… Und sie nur ein hilfloses, schwaches junges Mädchen, das zu allem Überfluss auch noch fast unbekleidet vor ihm stand. Immer wieder versuchte sie, sich aus seinem Griff zu befreien, doch alle Bemühungen waren umsonst.

„Was wollt Ihr von mir?“, flüsterte sie, während sie erneut gegen seine unsanften Berührungen ankämpfte.

„Du brauchst dich nicht vor mir zu fürchten! Ich würde dir nie etwas antun!“

Wie er das sagte, glaubte sie ihm aufs Wort. In seiner Stimme lag Ehrlichkeit, Wärme und vielleicht sogar Vertrauen. Nein, er würde ihr nicht wehtun.
 

Plötzlich fragte sie sich, weshalb sie überhaupt solche Angst vor ihm hatte. Es erschien ihr regelrecht lächerlich. Hatte sie nicht vorher etwas gespürt? Diese Zusammengehörigkeit, diese Einheit, die sie mit ihm wie ein unsichtbares Band verknüpfte. Es war seltsam, denn sie wusste weder woher es kam, noch was es zu bedeuten hatte, aber dennoch war es stetig anwesend. Allmählich gab sie ihre Gegenwehr auf und ließ sich in seine starken Arme zurück sinken. Sie war müde, wollte jedoch nicht wieder einschlafen. Was, wenn ihre Albträume zurückkehrten? Wenn sie doch nur endlich wüsste, was sie so eng mit diesem Jack verband…

Er zog sie abermals an sich, diesmal rührte sie sich nicht, wenngleich ihr Verstand sich immer noch dagegen wehrte. Vorsichtig hob er sie hoch, ihr Herz begann heftig zu schlagen, als sie den wohltuenden Duft seines Körpers einatmete. Sie wusste nicht, wo er sie hinbrachte, doch es war ihr egal. Er stieg die Stufen hinab und anstatt den Weg zu ihrer Kabine zu nehmen, wie sie vermutet hatte, machte er am Treppenabsatz kehrt und durchquerte eine große Tür, die in einen noch größeren Raum führte. Das Zimmer war wohl das schönste auf dem gesamten Schiff – oder wenigstens das komfortabelste. In der Mitte stand ein langer Tisch, der mit allerlei Speisen und Getränken gedeckt war. In einer Ecke des Raumes befanden sich einige Truhen, deren Inhalt Keira nur zu gern gekannt hätte. Gegenüber des Eingangs waren mehrere Fenster angebracht, durch die das schwache Mondlicht in die Kabine fiel. Auf der rechten Seite waren ein reichlich verzierter Kleiderschank und ein gemütlich aussehendes Bett. Darauf ging er nun langsam zu. Behutsam legte er sie auf die weichen Betttücher, ihr gesamter Körper bebte. Natürlich ahnte sie, was er vorhatte, aber trotzdem zeigte sie kein Anzeichen von Furcht. Sie lag nur da und überlegte, wie sie sich verhalten sollte. Er begab sich zum Tisch, holte zwei Gläser und eine Flasche Wein, von der er ihnen einschenkte. Er reichte ihr ein Glas und stieß mit ihr an. Der Wein schmeckte einfach köstlich, wie Keira fand.
 

Er nahm ihre Hand, stellte das Glas auf eine nahe Kommode und beugte sich ein wenig über sie. In ihrem Inneren herrschte ein derartiger Aufruhr, wie sie ihn noch nie zuvor erlebt hatte. Wollte sie das denn überhaupt? Sie kannte diesen Mann doch so gut wie gar nicht, hatte kaum fünf Sätze mit ihm gesprochen und dennoch empfand sie das hier nicht als falsch oder schlecht. Sie verbannte die skeptischen Gedanken aus ihrem Kopf und ließ sich einfach fallen. Das Mädchen schloss die Augen und spürte Jacks warme Hände, die behutsam ihren Mantel zur Seite schoben. Auf einmal bemerkte sie seinen Atem ganz nah an ihrem Gesicht und ehe sie noch irgendetwas hätte tun können, berührten sich ihre Lippen. Unendlich zärtlich küsste er sie, strich dabei liebevoll mit dem Finger über ihren Hals. Keira konnte nicht anders, als sich auf sein romantisches Spiel einzulassen. Sie fuhr ihm sanft durch sein langes, schwarzes Haar und erwiderte leidenschaftlich seine Küsse, welche mit der Zeit immer fordernder wurden. Als er begann, sanft ihren Körper zu streicheln, griff sie mit zitternden Händen nach seinen Kleidern, die ihr hierbei als äußerst überflüssig erschienen. Sie riss ihm sein Hemd regelrecht vom Leib, öffnete seinen Gürtel und befreite ihn schließlich auch noch von den störenden Hosen. Jack legte seine Hände auf ihre Taille, wobei er ununterbrochen ihren Bauch, ihre Brust und ihr Gesicht küsste. Keira genoss diese Liebkosungen in vollen Zügen. Sie fand es wunderschön, so von ihm berührt zu werden. Wie sollte sie das zu Hause ihren Freunden erzählen? Sie war dann wohl die Einzige unter ihnen, die schon einmal mit einem Mann geschlafen hatte…Aber das war nun wirklich das Letzte, was sie daran gehindert hätte!

Immer verlangender wurden ihre Küsse und immer intensiver tasteten sie des anderen Körper Zentimeter für Zentimeter ab. Plötzlich schob sie ihn ein Stück von sich weg, setzte sich halb auf und versuchte, ihn anzusehen.

„Nein“, flüsterte sie, „Ich glaube nicht, dass wir das tun sollten.“ Immer noch suchte sie seinen Blick. „Willst du wirklich mich? Oder… willst du Kiran?“

An seiner Reaktion erkannte Keira deutlich, was sie ohnehin schon befürchtet hatte: Ihre Bemerkung hatte ihn verwirrt, vielleicht sogar verletzt. Aber sie wollte nicht das Objekt der Begierde dieses Mannes sein, die wahrscheinlich noch nicht einmal ihr galt.

Jack wich noch weiter von ihr zurück. „Kiran…? Wie kommst du darauf? Sie ist meine Feindin!“ Während er sprach wurde seine Stimme immer lauter; er war sehr aufgebracht.
 

Keira schüttelte nur den Kopf, erhob sich von seinem so herrlich gemütlichen Bett und verließ ohne ihren Mantel seine Kabine.

Der kalte Wind ließ ihren nackten Körper zittern, was sie dennoch nicht dazu bewegen konnte, in ihre eigene Kabine, zurück in Lillys Arme, zu flüchten.

Was war das nur gewesen? War Jack betrunken gewesen? Eigentlich hatte sie nicht den Eindruck gehabt… Jedoch zweifelte sie nicht daran, dass er in ihr nur diese Kiran – wer immer diese verfluchte Frau war – gesehen hatte. Sicherlich hatten die beiden einander einst sehr nahe gestanden.

Ein Geräusch hinter ihr ließ sie erschrocken herumfahren. Hoffentlich war Jack ihr nicht gefolgt!

„Hallo?“, rief eine weibliche Stimme, welche Keira beim besten Willen nicht wiedererkannte.

Ein junge Frau näherte sich ihr aus der Dunkelheit, wieder ein Mädchen, dass einer ihrer Freundinnen glich – die letzte der zehn, die sie ihre Clique nannte. Sie sah aus wie Yvonne. Die lange, hellbraune Lockenpracht, die von einem schwarzen Band über der Stirn gezähmt wurde und die ihr hübsches Gesicht umrahmte, die überaus weibliche Form ihres Körpers… Sie waren sich so ähnlich! Keira konnte sich kaum noch darüber wundern. Sie hatte an diesem Tag schon zu viel erlebt. Als die Piratin in ihrem blassgrün schimmernden Kleid auf sie zukam, versuchte Keira, sich irgendwo zu verstecken. Immerhin lief sie völlig nackt mitten in der Nacht auf einem Schiff herum, auf das sie eigentlich gar nicht gehörte.

„Komm sofort heraus!“, brüllte das Mädchen. Keira war zweifellos entdeckt worden. Beschämt erhob sie sich, den Kopf gesenkt.
 

Die junge Frau begann lauthals zu lachen, wobei sie fröhlich auf sie zukam. „Hattest du eine Begegnung mit dem Captain?“, fragte sie scherzend. Kurz darauf blieb sie allerdings sofort wieder stehen und jeglicher Schalk wich aus ihren Zügen. „Wer bist du?“, verlangte sie zu wissen.

Keira flüsterte verlegen ihren Namen und erzählte rasch, wie sie mit Lilly hierher gekommen war. Die Piratin stellte sich als Ivy vor und warf Keira ihren Mantel um die Schultern. „Darf ich fragen… was du hier tust?“

„Nein, darfst du nicht.“, entgegnete Keira etwas schroffer als sie es gewollt hatte und schickte sofort einen entschuldigenden Blick hinterher. Ohne eine weitere Bemerkung wandte Ivy sich um, vertäute das Boot, mit dem sie soeben angekommen war und verschwand unter Deck.

Allmählich hielt es Keira wohl doch für das beste, wieder ihr eigenes Bett aufzusuchen und bahnte sich den Weg durch die dunklen Gänge des Schiffes.

Nachdem sie ein paar neue Räume entdeckt hatte, fand sie sich endlich in ihrer Kabine wieder und versuchte so leise wie möglich unter die Decke zu schlüpfen. Eine Weile dachte sie noch darüber nach, was wohl jetzt mit ihnen passieren würde und was es mit all diesen Ereignissen überhaupt auf sich hatte. Dann wanderten ihre Gedanken zu Jack und sie verfiel in einen unruhigen, viel zu kurzen Schlaf.

Seeschlacht

So... das ist jetz das letzte, bereits fertige Kapitel. Die nächsten muss ich erst noch schreiben, deswegen wird es wohl ab jetzt ein wenig länger dauern, bis ich wieder etwas hochladen werde, aber ich verspreche, mich zu beeilen!^^
 


 

Am nächsten Morgen erwachte sie sehr früh. Das Zimmer war nur schwach erhellt von den ersten blassen Sonnenstrahlen, die wohl schon den Weg über den Horizont gefunden hatten. Keira fühlte sich als hätte sie eine durchzechte Nacht hinter sich. Das Schaukeln des Schiffes unterstützte ihr übles Gefühl noch. An Lillys ruhigem Atem konnte sie erkennen, dass das Mädchen noch tief schlief. Beim Versuch über ihre Freundin zu klettern ohne diese zu wecken, stolperte sie und fiel der Länge nach auf den kalten Holzboden, hatte aber dennoch Erfolg – Lilly ließ sich dadurch keineswegs stören.

Fluchend rappelte sie sich auf und suchte rasch nach ihren neuen Kleidern. Nachdem sie endlich fündig geworden war, beeilte sie sich die enge Kabine zu verlassen. Keira schloss leise die Tür hinter sich, lehnte sich dagegen und atmete zuerst einmal tief durch. Dann machte sie sich langsam auf den Weg an Deck.

Beinahe wäre sie die Treppe wieder rückwärts hinuntergefallen, als sie vor Shania, die geschäftig an ihr vorbeirannte, zurückweichen musste. Die Mannschaft der Black Pearl schien eine andere Auffassung von „früh“ zu haben als Keira selbst. Die Mädchen waren bereits allesamt auf den Beinen und jede arbeitete an irgendeiner Ecke des großen Schiffes.

„Guten Morgen!“, rief Jacky, die als einzige gelassen auf dem Steuerrad saß und den anderen von ihrem Thron aus zusah. „Du kannst gern helfen!“

Keira wusste nicht, was sie entgegnen sollte und versuchte es mit einem schüchternen Lächeln.

Jacky sprang von ihrem Platz herunter und kam nun zu ihr herüber. „Ich meine es ernst. Du kannst dich nützlich machen.“
 

„Und wie?“ Keira war ein wenig skeptisch. Sie hatte nicht die geringste Lust, das Deck zu schrubben oder ähnliches.

„Geh zu Patty in die Kombüse. Du kannst meinem Bruderherz sein Frühstück bringen. Sonst muss ich das wieder machen…“ Mit einem Zwinkern wandte sie sich ab, um mit ihrer anstrengenden Arbeit, der Mannschaft Befehle zu erteilen, fortzufahren.

Keira spielte nervös mit einer Strähne ihres langen Haares. Warum ausgerechnet das? Schließlich fügte sie sich aber in ihr Schicksal und machte sich auf die Suche nach der Schiffsküche.

Glücklicherweise traf sie auf halbem Weg Ayana, die sie bereitwillig hinbrachte.

Als sie eintrat, war Patty schwer beschäftigt. Der Raum war erfüllt von den verschiedensten Düften, vollgestopft mit Massen an Gemüse und an der Decke baumelte geräuchertes Fleisch wie Birnen an den Bäumen.

„Was ist denn?“, fragte Patty schroff, ohne sich dabei auch nur umzudrehen. Sie war gerade dabei eine riesige Schüssel Karotten in mundgerechte Stücke zu verwandeln.

„Ich… ich soll dem Captain sein Frühstück…“, begann Keira, konnte ihren Satz jedoch nicht einmal beenden, bevor die junge Köchin ihr schon dazwischenredete.

„Da drüben!“ Sie fuchtelte zu einem kleinen Tisch hinüber.

Ohne sie noch ein weiteres Mal zu stören nahm Keira das silberne Tablett und verließ das Zimmer.

Jacks Kabine würde sie zweifellos alleine wiederfinden. Rasch machte sie sich auf den Weg zu ihm.

Als sie angekommen war, klopfte sie kurz an die schwere, dunkle Eichentür.
 

„Komm rein.“, hörte sie von der anderen Seite sein tiefe Stimme. Sie tat wie ihr geheißen und sah ihn, mit entblößtem Oberkörper, in den weißen Tüchern liegen. Er betrachtete aufmerksam einen Gegenstand, den er zwischen seinen Händen hielt. Dann stahl sich ein Grinsen auf seine Züge. „Na, welche meiner Schönheiten bedient mich heute?“ Keira räusperte sich. Langsam begriff sie, weshalb Jack Sparrows Crew nur aus Frauen bestand. Er streckte eine Hand nach ihr aus und winkte sie zu sich. Sie schluckte, trat aber mit pochendem Herzen näher, um dann eilig das Tablett auf der kleinen Kommode neben seinem Bett abzustellen. Ehe sie sich jedoch auch nur hätte umdrehen können, umfasste er ihre Oberschenkel mit seinem Arm und sah sie nun zum ersten Mal, seitdem sie gekommen war, überhaupt an. Für einen kurzen Moment blickten sie einander in die Augen, keiner bewegte sich, niemand sprach, aber das Lächeln war von seinem Gesicht verschwunden. Dann versuchte Keira endlich, sich aus seinem Griff zu lösen, doch er hielt sie zu fest.

„Würdet Ihr mich bitte loslassen?!“, sagte sie wütend. Immer noch schwieg er.

Nach einer Weile ließ er dennoch von ihr ab, schlug die Decke zurück und sprang hoch. Keira drehte sich nicht einmal weg, als sie bemerkte, dass er völlig nackt war. Sie wusste nicht, wozu das gut gewesen wäre. Immerhin hatten sie einander schon einmal so gesehen… Und ihn schien es ja offensichtlich auch nicht besonders zu stören, sich ihr so zu zeigen. Wortlos suchte er in den Weiten des Zimmers nach brauchbarer Kleidung. Ein wenig verlegen machte sie dieser Anblick allerdings doch, was er trotz seines scheinbaren Desinteresses an ihrer Anwesenheit nicht übersah: Als er sich umdrehte blitzte für einen Augenblick wieder sein erfreutes Grinsen auf.

„Du musst mich für einen schrecklichen Mann halten, was?“, sagte er schließlich mit belustigter Miene.

Keira sagte nichts. Er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen.

„Weißt du was“, fuhr er fort, „Du hast vollkommen Recht! Aber was soll ich machen? So bin ich eben! Und eigentlich fühle ich mich ganz wohl so!“ Damit verließ er, jetzt endlich fertig angezogen, die Kabine.

Was war denn das gewesen? Hatte er sich soeben vor ihr gerechtfertigt? So etwas hätte sie ihm gar nicht zugetraut… Ihr Blick fiel auf das nicht angerührte Frühstück. Neben dem Tablett stand eine Vase mit verwelkten Blumen. Mit einem Lächeln auf den Lippen pflückte Keira eine kleine Blüte, die vielleicht einst wunderschön blau gewesen war, welche sie in den seltsamen Brei – Was war das eigentlich? – legte; den hässlichen Strauß nahm sie mit und warf in kurzerhand über Bord.
 

Lilly war gerade dabei sich mühsam aus ihrem Bett zu erheben, als Keira zurückkam. Sie hatte es sorgsam vermieden noch einmal Jackys Weg zu kreuzen, denn wer wusste schon, was sich dieses verrückte Mädchen noch einfallen ließ um sie herumzuschikanieren?

„Wo warst du denn?“, wollte Lilly wissen, während sie sich ankleidete.

„Ach, ich habe nur Jackys Befehle ausgeführt.“

„Sie erteilt dir Befehle? Ich dachte, dieser Jack sei der Captain!“

„Ja, das dachte ich eigentlich auch. Aber anscheinend hält sie sich für sowas wie seine Vertreterin, und er war noch nicht an Deck.“ Sie musste wieder an Jacks Worte denken und fragte sich dabei, was er ihr damit wohl hatte sagen wollen.

„Er ist ein furchtbarer Kerl!“, ergänzte sie schließlich. „Wahrscheinlich schläft er sogar mit seiner Schwester…“

Lilly wandte sich zu ihr um. „Woher willst du das denn wissen?“

„Keine Ahnung“, entgegnete Keira schulterzuckend. „Denke ich mir halt.“
 

Ein lauter Knall ließ die Mädchen erschrocken hochfahren. Kurz darauf begann die Black Pearl enorm zu schwanken. Keira ergriff Lillys Hand und zog sie mit sich nach draußen und weiter an Deck. Die Besatzung war in hellem Aufruhr. Die Piraten rannten wie wild durcheinander, Kanonenkugeln wurden geschleppt, Jack brüllte Befehle, denen sich diesmal sogar Jacky fügte. Patty hatte ihre Küche verlassen und hatte sich hinter einem der Geschosse postiert. Mit fachmännischen Griffen versuchte sie die Kanone in die richtige Position zu bringen. Plötzlich packte Lilly sie am Ärmel, deutete aufgeregt nach Süden und zeigte Keira damit die Ursache für diesen unglaublichen Tumult. Ein paar hundert Meter von ihrem Schiff entfernt entdeckte sie ein weiteres, fast ebenso groß wie ihr eigenes. Sie drehte sich zu Jack um. Sein Gesicht war angespannt, der Ausdruck darauf sprühte vor grimmiger Entschlossenheit. Als sein Blick sie streifte, leuchteten seine Augen, was immer das momentan zu bedeuten hatte. Keira sah wieder auf das Meer hinaus. Auch auf dem gegnerischen Schiff herrschte rege Betriebsamkeit.

„Verschwindet unter Deck!“, hörte sie Jack rufen, und als sie sich zu ihm umwandte, stellte sie fest, dass er mit Lilly und ihr sprach. „Sofort!“

Keira dachte allerdings nicht im geringsten daran, seiner Aufforderung zu folgen. Sie wollte hier oben dabei sein, sehen was geschah und notfalls auch helfen.

Jedoch musste sie rasch erkennen, wie fehl am Platze sie hier war. Die schwer beschäftigten Piraten rannten sie regelrecht über den Haufen. Kurz entschlossen lief sie zu Mika hinüber, die sich gerade mit einem schweren Tau abmühte. Keira packte schnell mit an, bevor sich das Seil über die Reling davonmachen konnte. Mit aller Kraft zogen die beiden Mädchen das Segel in eine andere Position, dann wurde es von Mika mit einem geschickten Knoten befestigt; Sie nickte Keira nur kurz zu und war auch schon wieder verschwunden.

Keira wurde unsanft von den Füßen gerissen als die erste Kugel die Flanke der Black Pearl traf. Sie rutschte ein Stück über die rauen Dielen, bevor sie auf der gegenüberliegenden Seite schwer mit einem Beiboot zusammenstieß. Ihr Kopf schmerzte ebenso wie jeder einzelne verfluchte Knochen in ihrem Körper. Doch endlich wurde das Feuer ihrer Gegner erwidert. Jack ließ die Kanonen laden und begann somit seinen eigenen Angriff. Keira entging jedoch nicht die Besorgnis in seinen Augen. Sein Schiff war bereits beschädigt worden. Tapfer rappelte sie sich wieder hoch, um Jacky, die mit beinahe noch grimmigerer Miene als ihr Bruder alleine an der größten Waffe der Black Pearl saß, Gesellschaft zu leisten. Die Piratin drückte ihr die Lunte und eine Packung Streichhölzer in die Hand, während sie selbst mit Kugeln und Schießpulver nachlud.
 

Erneut schüttelte ein gewaltiger Knall das große Schiff, aber diesmal klammerte sich Keira an der Kanone fest, um nicht wieder in den Genuss einer Rutschpartie zu kommen. Allerdings begann sie sich eher darum zu sorgen, wie lange sie wohl noch mit trockenen Füßen hier hocken würden. Und wo war eigentlich Lilly abgeblieben? Sie sah sich kurz nach ihr um, konnte sie jedoch nicht sofort finden und gab es somit auch gleich wieder auf. Im Moment hatte sie wichtigere Dinge zu tun und ihre Freundin würde in der Zwischenzeit schon alleine zurecht kommen.

Keira machte sich daran, die ihr aufgetragene Arbeit so gut sie konnte zu erledigen. Kanonenabfeuern gehörte nicht gerade zu ihren gewöhnlichen, täglichen Aufgaben. Trotzdem blieb ihr hier und jetzt keine andere Wahl. Sie hoffte nur, sie würde nicht später die Gelegenheit bekommen, zu sehen, was die Waffen auf dem feindlichen Schiff angerichtet hatten.

„Feuer!“, brüllte Jack nun schon um wiederholten Mal. Noch immer war nicht absehbar, wer letztendlich als Sieger aus diesem Kampf hervorgehen würde. Der Gegner war unerbittlich, schoss mit ebenso schweren Geschützen wie sie selbst und kam dabei immer näher.

„Holt die Enterhaken!“, befahl der Captain schließlich. Er wollte den unausweichlichen Mann-Gegen-Mann-Kampf nicht auf der Black Pearl austragen lassen, soviel stand fest. „Das ist die Bloody Mary!“ Ein Raunen ging durch die aufgewühlten Reihen, doch es wurde auch deutlich, dass einige der Frauen es ohnehin schon vermutet hatten. „Aber keine Sorge! Diesmal…“ Der Rest seiner kleinen Rede ging im Tosen der Schlacht unter, als die etwas kleinere Bloody Mary mit einem Knall gegen die majestätische Black Pearl krachte. Jack Sparrows Piratinnen verfielen in barbarisches Kampfgeschrei, schwangen die schweren Haken hoch über ihren Köpfen und beförderten sie hinüber auf das andere Schiff. Dann sprangen sie auf Jacks Befehl hin an den Tauen hinüber zu ihren Feinden.
 

Sie zückten die Schwerter, doch bevor das Klirren von Metall ertönte, wurde die durchdringende Stimme einer Frau hörbar. Sie hing in der Takelage der Bloody Mary, von wo aus sie das gesamte Geschehen beobachten konnte, und verlangte nachdrücklich nach Ruhe. Zu Keiras großem Erstaunen verstummten die Mannschaften beinahe auf der Stelle. Die Piratin glitt an einem Seil von ihrem hohen Sitz herunter und bahnte sich gekonnt einen Weg durch die aufgebrachten Reihen.

„Jack!“, brüllte sie und machte keinen Hehl darum, dass sie nicht gerade besonders gut auf ihn zu sprechen war. Von hinten gesellte sich eine weitere Frau zu ihr. Keira versuchte von der Reling aus, einen besseren Blick auf das Geschehen zu erlangen. Als sie endlich etwas sehen konnte, wäre ihr beim Anblick der zwei jungen Mädchen beinahe das Herz stehen geblieben. Kein Zweifel! Das mussten Kiran und Lilian sein. Es war, als blickte sie in ihr Spiegelbild – und in das Lillys dazu. Dieses Bild war noch gruseliger als alles zuvor, was sie bisher hier erlebt hatte. Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen, als sie plötzlich wieder die Stimme vernahm.

„Du bist ein verfluchter Feigling! Schickst deine dressierten Schlampen hier herüber und versteckst dich in deiner Kajüte – Komm raus, du Mistkerl!“ Kirans Stimme war immer lauter geworden, hatte fast vor Wut gezittert. Ihre Schimpfarie ging noch weiter, aber Keira hörte nicht mehr zu. Sie bemerkte Jack zu ihrer Rechten auf dem Geländer der Black Pearl. Er hatte die Beine leicht gespreizt und stemmte die Hände in die Hüften. Lilian hatte ihn bereits entdeckt und stieß ihre Kumpanin grob in die Seite. Diese verstummte augenblicklich als sie ihn sah.

„Was willst du? Bist du gekommen, um mich zu beschimpfen?“, rief der Captain. „Willst du kämpfen oder mit mir reden?“

Man konnte sehen, dass Kiran sich sehr zusammennehmen musste, um nicht einfach auf ihn loszugehen.

„Du kennst den Grund!“, schrie sie nur.

Jacks Crew beäugte ihre Gegner argwöhnisch. Keira hätte nur zu gerne gewusst, worum es ging…
 

Sie spürte auf einmal einen Arm um ihre Taille. Erschrocken drehte sie sich um, atmete dann jedoch erleichtert auf, als sie Lilly erkannte und griff nach ihrer Hand.

„Kiran…“ Jack schüttelte lächelnd den Kopf. „Du langweilst mich! Fällt dir nichts neues ein? Oder wird es dir nicht endlich mal zu dumm, mir ständig hinterher zu laufen? Hast du nichts besseres zu tun?“ Keine Frage, er wollte sie reizen und mit ihrer Reaktion tat sie genau das, was er beabsichtigt hatte. Kiran stürmte los, riss Ivy ihr Seil aus der Hand und beförderte sich mit einem Satz auf die Black Pearl. Sie landete neben ihm auf der Reling, ihr eisiger Blick bohrte sich in seine Augen. Keira konnte nur hoffen, dass sie nicht entdeckt wurde, denn wer wusste schon, wie diese teuflische Frau reagieren würde, stünde sie auf einmal ihrem Ebenbild gegenüber.

Jack sah sie nur spöttisch an. „Was willst du?“ Seine Frage ließ keinen Zweifel daran, dass er die Antwort bereits kannte und sie nur zu seinem Vergnügen überhaupt stellte. Er wollte Kiran provozieren – und sie ging bereitwillig darauf ein.

„Du weißt ganz genau, was ich will!“, flüsterte sie bösartig. „Gib mir mein Schiff zurück oder wir versenken es!“

Ein lautes Lachen schallte über das Meer, als Jack ihr antwortete. „Dein Schiff? Wie kommst du darauf, dass ich dir mein Schiff so einfach geben werde? Und außerdem: Was nützt dir die Pearl noch, wenn sie auf dem Grund des Ozeans liegt und vor sich hinmodert?“ Er machte eine kurze Pause. „Oh nein, Kiran! Du bekommst sie nicht! Und du weißt auch, dass du es mit Waffengewalt niemals schaffen wirst! Du magst Männer in deiner Mannschaft haben, doch die sind absolute Versager im Vergleich zu meinen Mädchen! Und jetzt verschwinde, ich habe wichtigeres zu tun.“ Er drehte sich um und sprang von dem Geländer.
 

„Bleib sofort stehen! So einfach ist das nicht, Jack!“ Kiran riss ein Messer aus ihrem Gürtel und stürmte auf ihn los, noch ehe er sich vollständig umgewandt hatte. Doch sie kam kaum einen halben Meter an ihn heran. Er fing ihre zierliche Faust gekonnt ab und drückte ihr Handgelenk bis sie vor Schmerz das Gesicht verzog. Erst nach einer Weile stieß er sie grob von sich, ihre Gegenwehr war verschwunden. Rasend über diese Demütigung rauschte sie davon und zurück auf die Bloody Mary.

„Mädchen, wir fahren weiter!“ Während die Crew die Black Pearl wieder bevölkerte, beobachtete Keira ihre Doppelgängerin. Langsam setzte sich das Schiff wieder in Bewegung. Keira hätte nicht geglaubt, dass diese Begegnung so glimpflich ablaufen würde, aber sie war eigentlich ganz froh darüber…

Es waren ihre eigenen Augen, die sie jetzt anstarrten, hundert mal kälter, als sie selbst je schauen könnte. Mit Entsetzen und neuerlicher Wut begegnete Kiran ihrem Blick, sah sie an mit der Gewissheit, ihrem Tod davonzufahren…

Keira drehte sich weg. Das hätte nicht passieren dürfen! Sie wusste nicht recht, wieso, aber sie bezweifelte, dass es gut war, dass Kiran sie gesehen hatte. Jacks verzerrte Miene bestätigte ihren Verdacht. Er hatte es mitbekommen.

„Meint ihr nicht, ihr solltet uns langsam mal erklären, was es mit diesen Damen auf sich hat?“, hörte sie Lilly fragen. Sie sprach mit Ayana und Mika und ihr Ton klang aufgebracht, was bei ihr normalerweise eher selten vorkam. Keira wusste, sie hätte sie beruhigen können – ihre Freundin war sicher nur genauso verwirrt wie sie selbst –, doch sie hatte im Moment nicht die geringste Lust auf eine Auseinandersetzung. Allerdings hatte Lilly nicht ganz Unrecht. Auch Keira hätte gerne erfahren, was hier vor sich ging. Sie meinte sogar sagen zu können, wer ihr all ihre Fragen beantworten konnte… Sie erinnerte sich, was sie am Abend zuvor zu ihm gesagt hatte. Fast bereute sie es, nachdem sie den Streit und die feindliche Begegnung mit Kiran mitbekommen hatte.

„Jack!“ Ivy kam aufgeregt angerannt. „Jack, das Schiff ist stark beschädigt! Wenn wir nicht schnell irgendwo Ersatzteile herbekommen, um es zu reparieren, dann fürchte ich, dass wir bald unter Wasser weiterfahren werden…“

Jack sah einen Moment lang nachdenklich in die Ferne, bevor er sich fluchend wieder abwandte.

„Und wie stellst du dir das vor? Der nächste Hafen, den wir anlaufen könnten, ist der von Roseau…!“

Betretenes Schweigen breitete sich unter der Crew aus.
 

Nach einer Weile meldete sich Jacky lautstark und eifrig zu Wort: „Aber Bruderherz, das ist doch überhaupt kein Problem – wir schicken einfach die beiden seltsamen Mädchen. Die haben ja sonst ohnehin nichts zu tun, und sie sollten sich, wie ich finde, sowieso mal nützlich und durchaus auch dankbar erweisen!“ Sie schickte noch ein bekräftigendes Nicken hinterher.

Keira schreckte abrupt aus ihren Gedanken hoch. Ungläubig sah sie zu der Piratin hinüber.

„Worum geht es eigentlich? Wofür wollt ihr uns benutzen?“ Jack rollte unwillig die Augen. Anscheinend schien sie ihn mit ihrem Misstrauen zu nerven, doch es war ihr egal. Sie suchte Lillys Blick.

Shania kam nun auf sie zu und legte ihr besänftigend den Arm um die Schultern.

„Also passt auf.“, begann sie ruhig. „ Das Schiff ist ziemlich kaputt, aber die Stadt, die uns am nächsten ist, wird uns auf gar keinen Fall anlegen lassen, geschweige denn, uns irgendwelche Waren verkaufen, die aber für die Reparatur der Black Pearl unerlässlich sind.“

„Und aus welchem Grund könnt ihr diese Stadt nicht besuchen?“, fragte Lilly, obwohl sie sich die Antwort eigentlich schon denken konnte.

Jacky lachte laut und boshaft auf. Mit einer gewissen Überlegenheit und Genugtuung in der Stimme prahlte sie alsdann mit ihren meisterhaften Raubzügen durch Roseau. Nur leider hatte der Gouverneur des Ortes mitbekommen, wer ihn da bestohlen hatte… „Tja, und so droht uns nun der Tod, sollten wir je wieder auch nur in die Nähe dieser Insel kommen.“, endete die Schwester des Captains ihren Bericht.

Sonderlich überrascht war Keira nicht. Immerhin war sie hier unter Piraten, was sie zwar zeitweise vergaß, aber ihr durch solche Erzählungen wieder überdeutlich bewusst wurde.
 

„Und jetzt wollt ihr, dass wir für euch einkaufen gehen, habe ich das richtig verstanden?“

„Bravo, du bist aber intelligent… Worüber sprechen wir eigentlich die ganze Zeit?“, meinte Sarina höhnisch und kletterte dann in die Takelage um die Segel zu hissen.

„Also, werdet ihr es tun oder nicht?“ Jack trat dicht vor die beiden Mädchen und sah sie durchdringend an.

Bevor Keira auch nur noch einmal darüber nachdenken konnte, hatte Lilly bereits entschlossen genickt. Der Captain entfernte sich ohne ein weiteres Wort und brüllte der nun wieder schwer beschäftigten Mannschaft Befehle zu. Keira hatte keine Ahnung von Schiffen, doch sie hoffte, dass sie es noch bis zu diesem ominösen Hafen schaffen würden.

Plötzlich fiel ihr etwas ein. Rasch lief sie zu Ayana hinüber, die zufällig gerade in Reichweite stand und bat sie, ihr die Waffenkammer zu zeigen, falls es so etwas gäbe.

„Was willst du?“ Sie blickte ein wenig nervös um sich. „Das wird dem Captain nicht gefallen…“

„Wenn ihr uns schon alleine in diese Stadt schicken wollt, dann bestehe ich darauf!“

Ayana seufzte, während Lilly ihre Freundin ein wenig erstaunt musterte.

„Na schön, kommt mit. Aber passt bitte auf, dass Jack euch nicht mit den Dingern sieht.“
 

Sie führte die beiden unter Deck, ein paar Gänge entlang und, wie es Keira schien, bis ganz nach unten in den Bauch der Black Pearl. Als sie vor einer kleinen morschen Tür angekommen waren, zog Ayana einen Schlüsselbund aus ihren Kleidern hervor und suchte nach dem für das alte Schloss passenden. Es dauerte eine Weile, bis sie ihn gefunden hatte und Keira war gerade dabei sowohl ihre Geduld als auch die Hoffnung, dass sie jemals dort hinein kämen, zu verlieren.

„Bitte sehr.“ Die Piratin öffnete ihnen die Tür und ging dann eilig wieder davon.

Lilly sah ihr kopfschüttelnd nach. „Was für ein Feigling…“

Aber Keira hörte ihr gar nicht mehr zu. Ihre Augen waren groß und leuchteten selig beim Anblick, der sich ihr hier bot. Der Raum war nicht groß, doch er war angefüllt mit den prachtvollsten Waffen, die das Mädchen je gesehen hatte – nicht dass es schon so viele gewesen wären…

Auf einen mit dunkelrotem Samt bezogenen Sofa lagen lange, stählerne Schwerter, die im blassen Licht, welches durch die Ritzen der Schiffswand drang, herrlich glänzten. Die Hefte waren teils ganz einfach mit schwarzem Tuch umwickelt und teils prunkvoll verziert mit Gold, Silber und funkelnden Edelsteinen. Unter den Klingen lagen einige Scheiden aus dunklen, hartem Leder, deren Äußeres man aber so nicht genau erkennen konnte. In einer anderen Ecke stapelten sich am Boden eine ganze Menge Dolche, die ebenfalls von einfachen Bauernstücken bis zu Königsgütern reichten. Auch einige Pistolen konnte Keira entdecken, die sie sich aber nur flüchtig ansah. Sogar zwei kunstvoll geschnitzte Bögen hingen an der Wand, und daneben in einem Köcher etwa fünfzig zugehörige Pfeile. Sie fragte sich, woher die Mannschaft diese letzten Schätze wohl hatte, denn Bogenschießen gehörte, wie sie zu wissen glaubte, nicht gerade zu Grunddisziplin der Karibikbewohner.
 

Eine kühle Hand legte sich von hinten auf Keiras Schulter und riss sie somit aus ihrem Staunen. Lilly lächelte sie an, wohlwissend, wie sehr sie solche Dinge liebte. Keira trat ehrfurchtsvoll ein wenig näher an die Schwerter heran und kniete sich dann davor nieder. Behutsam nahm sie sich jedes einzeln vor, betrachtete sie alle eingehend. Ihr Herz verlor sie schließlich an einen europäisch anmutenden Säbel. Die Klinge war oben etwa zehn Zentimeter dick und verjüngte sich dann in einem leichten, langen Bogen zu einer feinen Spitze. Der Stahl glänzte beinahe wie Silber. Zum Schutz der Hand bei gegnerischen Hieben waren zur Klinge hin geschwungene, breite Metallblätter angebracht. Der Griff war aus dem gleichen Material wie der Rest des Schwertes, umwickelt mit schwarzem Wildleder und umrankt von einem dünnen Faden aus purem Gold, der in dem tropfenförmigen Knauf verschwand. Sie suchte sich dazu noch eine schwarze, einfache Scheide und einen ebensolchen Gürtel aus und präsentierte ihren Fund dann stolz und überglücklich ihrer Freundin.

Auch Lilly hatte sich mittlerweile bewaffnet. Sie hatte sich für einen der Bögen entschieden – die Pfeile hatte sie alle genommen.

„Ein Schwert… Lilly, ich hab ein Schwert!“, rief Keira immer noch sehr aufgeregt.

„Du wirst dich nicht mehr so freuen, wenn du es benutzen musst.“, entgegnete Lilly nur kühl.

Die Andere senkte betreten den Kopf. Dieses Mädchen konnte einem wirklich jeden Spaß verderben!

„Lass uns gehen.“, sagte sie missmutig und verließ mit einem letzten, wehmütigen Blick das Zimmer.

Der Hafen von Roseau

So, hier kommt jetzt doch noch RELATIV schnell ein neues Kapitel hinterher.^-^

Hab ja noch Ferien... XD Allerdings, wie schon gesagt, kann's jetz immer länger dauern, bis es weiter geht. Aber seid versichert, liebe Fans (XD), dass ich die Story auf keinen Fall abbrechen werde!

Ich muss eben nur um etwas Geduld bitten, vor allem, weil ich ja auch bad wieder Schule habe und das ja mein letztes Jahr wird... Es verspricht also anstrengend zu werden... *seufz*

Okay, genug gelabert! ^^; Viel Spaß beim Lesen, ich hoffe, es gefällt euch!!

Liebe Grüße

Cain
 

Die Mädchen waren sehr darauf bedacht, dass sie auf ihrem Rückweg niemand sah. Jack hätte sie womöglich auf der Stelle von Bord geworfen, hätte er herausgefunden, dass sie sich an seinen kostbaren Schätzen vergriffen hatten.

Sie hatten beschlossen, Ayana darum zu bitten, die Waffen auf ihr Boot zu schmuggeln.

„Komm schon, bitte!“, sagte Keira nachdrücklich, als die Piratin wenig geneigt war, ihren Wunsch zu erfüllen. „Du kannst sie doch beim Proviant verstecken…“

Ayana seufzte tief. Lilly hatte einen diplomatisch flehenden Blick aufgesetzt.

„Also gut… Aber ihr schuldet mir was…!“, lenkte Ayana schließlich ein.

Keira bemühte sich, ihr überlegenes Lächeln zu verbergen. „Danke.“

Dann machten sie und Lilly sich auf den Weg nach oben, wo die Mannschaft mittlerweile wieder ihren normalen Aufgaben nachging. Ein Beiboot war vorbereitet worden und hing fertig beladen über der Reling. Keiner kümmerte sich um die beiden Beauftragten, die sich zu ihrem Transportmittel begaben. Erst als sie einstiegen, trat Jack aus dem Schatten der Treppe und kam mit einem gefalteten Stück Papier auf sie zu.

Er drückte es Lilly in die Hand und währen er nun sprach, sah er Keira kaum, und wenn nur mit kaltem Blick, an. Sie versuchte es zu ignorieren.

„Ich habe euch aufgeschrieben, an wen ihr euch wenden müsst, und was ihr zu besorgen habt.“

Er wandte sich ab. „Viel Glück!“

Keira kletterte ohne ein weiteres Wort in das Boot. Als sie beide saßen, kamen Mika und Lianne angelaufen, um die Taue zu lösen. Es gab weder Glückwünsche noch irgendwelche anderen Verabschiedungen. Die Piratinnen gingen ganz einfach wieder ihrer Arbeit nach, so als wäre nie etwas besonderes passiert. Keira fragte sich, ob diese Gleichgültigkeit wohl zum Piratenhandwerk gehörte wie eine elegante Kleidung zu einem Bürojob…

„Bringt ein paar Flaschen Rum mit!“, rief ihnen Jacky aus der Takelage herab hinterher und Keira musste unwillkürlich grinsen, erwiderte aber nichts. Sie vermutete, dass dies wohl Jackys Art war, ihnen alles Gute zu wünschen.
 

Zunächst hatte Lilly das Rudern übernommen. Sie hatten erst einige Buchten zu durchqueren, da die Black Pearl nicht einmal in der Nähe des Hafens gesehen werden durfte. So dämmerte es schließlich bereits, als die Mädchen endlich am Strand die ersten Häuser ausmachen konnten. Keira, die mittlerweile die Paddelarbeit übernommen hatte, legte ein wenig mehr Kraft in ihre Bewegungen, um das kleine Boot schneller voran zu bringen.

Schon aus dieser Entfernung war zu erkennen, dass Roseau zwar eine Hafenstadt, jedoch keine besonders große war. Es gab lediglich vier Ankerplätze an zwei parallel liegenden, ins Meer hineinragenden Kais. Ein einzelnes kleines Handelsschiff war soeben dabei, eine späte Ladung zu löschen, doch ansonsten schien alles ruhig zu sein. Ein Markt, wie man ihn sonst so oft in Hafenvierteln antraf, war nicht vorhanden. Roseau lag an einer recht annehmbaren, wenn auch nicht sehr hohen Gebirgskette, welche die Stadt von Süden über Westen nach Norden wie eine Sichel einschloss. Morgens musste es ein herrliches Spektakel sein, der Sonne beim Erwachen zuzusehen, aber zu dieser frühen Abendstunde lag der Ort bereits in fast völliger Dunkelheit. Nur wenige Lichter aus spärlich erleuchteten Häusern drangen über das Ufer hinaus.

„Sieht nicht sehr einladend aus…“, meinte Lilly nach einer Weile bedrückt.

Keira erwiderte nichts, sondern vertäute ihr kleines Boot schweigend an einem eisernen Ring, der neben einigen anderen in die Kaimauer eingelassen war.

„Glaubst du, wir müssen hier übernachten?“ Lilly schien die Stille, die zwischen ihnen herrschte, enorm zu stören. Seufzend zwang Keira sich zu einer Antwort.

„Ich fürchte ja. Erstens weiß ich nicht, ob wir die Black Pearl in der Finsternis wiederfinden würden und zweitens würden die Bewohner wohl verdacht schöpfen, wenn wir mitten in der Nacht verschwinden würden… Wir dürfen nicht verfolgt werden!“

Lilly nickte unbehaglich. Keira konnte sich denken, wie sie sich fühlte. Nach ihrer Zeit unter den Piraten wirkte dieser Ort irgendwie falsch. Alles schien so bieder, so anständig – und falsch! Keira konnte die unehrenhafte Verlogenheit beinahe spüren… Sie empfand diese Stadt als weitaus gefährlicher als die von Freibeutern bevölkerte Black Pearl!

Die beiden Mädchen gingen auf das erste noch helle Haus im Hafen zu. Im Schein der brennenden Kerzen, der durch die Fenster des Gasthauses drang, entfaltete Keira Jacks Notiz. Darauf stand ein Name und eine Reihe von Dingen, wovon sie die meisten nicht kannte.
 

Lilly überlegte nicht lange, nahm Keira an der Hand und zog sie mit sich in das Gebäude. Für eine Kneipe war es seltsam ruhig. Es waren nicht einmal so wenige Leute anwesend, doch die Stimmung wirkte gedrückt. Man vernahm gedämpfte Gespräche, ab und zu ein betrunkenes Kichern. Kaum jemand bemerkte die beiden Neuankömmlinge – nur der Wirt war gleich zur Stelle.

„Na, ihr zwei Hübschen?! Was kann ich für euch tun? Rum? Whiskey?“

Lilly hob abwehrend die Hände. „Nein, danke. Wir bitten nur um eine Auskunft.“

Der Besitzer der Taverne machte ein beleidigtes Gesicht. Nach einem kurzen Augenblick lächelte er jedoch wieder versöhnlich und fragte Lilly nach ihrem Anliegen.

„Könnt Ihr uns sagen, wo wir Mr. Tingles finden?“

Die Hand des Wirtes wanderte an sein Kinn, als er angestrengt nachdachte, dabei allerdings schon verneinend den Kopf schüttelnd.

Ein kräftig gebauter Mann mit kurzem, blondem Haar, der nebenan an der Bar saß, mischte sich helfend in das Gespräch ein: „Ich weiß, wo er wohnt. Wenn ihr wollt, bringe ich euch hin, meine Damen.“

Keira war nicht sehr wohl bei dem Gedanken, in der Dunkelheit mit einem fremden Mann durch verwinkelte, ausgestorbene Gassen zu laufen, doch bevor sie protestieren konnte, hatte Lilly bereits zugestimmt. Ein wenig ängstlich lächelte Keira de Mann, der sich als Mike vorgestellt hatte, zu-stimmend an. Sie hatten wohl ohnehin keine andere Wahl.

Erst jetzt, in diesem Moment fiel ihr siedend heiß ein, dass sie ihre wunderbaren Waffen, die sie Jack entwendet hatten, einfach in dem schmutzigen Boot zwischen den halb verdorbenen Früchten liegen gelassen hatten. Sie versuchte, ihr fast schon panisches Entsetzen zu verbergen. Das war nicht gut… Überhaupt machte Lilly gerade den Eindruck, als hätte sie ihren Verstand auf Captain Sparrows Schiff vergessen. Sie handelte doch sonst nicht so gedankenlos. Im Gegenteil! Eigentlich war Lilly immer die vernünftigere von ihnen beiden gewesen. Was war nur in sie gefahren?

„Lilly…“, versuchte Keira ihre Freundin auf die ihrer Meinung nach aufziehende Gefahr aufmerksam zu machen. Diese hörte sie noch nicht einmal. Sie war vertieft in ein Gespräch mit Mike. Die-ses Mädchen konnte wahrlich schnell Freundschaften schließen.

„Entschuldigt bitte, ihr beiden… Während ihr euch hier unterhaltet, werde ich mal eine Weile an die frische Luft gehen und mich ein wenig umsehen.“ Keira hatte vor, wenigstens ihr Schwert aus dem Beiboot zu holen.

„Oh… aber wir wollten soeben zu Mr. Tingles aufbrechen.“, sagte Lilly und erntete dafür einen verzweifelten Blick von ihrer Begleiterin. Zu spät. Unauffällig würde Keira nun nicht mehr an die Waffen kommen. Resigniert nickte sie und wandte sich in Richtung Tür.

Mike und Lilly folgten ihr auf dem Fuße.

„Folgt mir.“, forderte der Seemann die beiden auf und verschwand voran in den dunklen Straßen.

Keira griff nach dem Arm ihrer Freundin, blieb mit ihr ein winziges Stück zurück und flüsterte kaum hörbar: „Bist du sicher, dass das eine gute Entscheidung ist? Wir… wir haben unsere Waffen vergessen…!“ Lilly sah sie kurz ein bisschen entsetzt an, was sich aber rasch wieder gab.
 

„Sei doch nicht immer so misstrauisch…!“ Keira konnte kaum fassen, was sie da hörte, aber sie hatte keine Chance mehr, etwas darauf zu erwidern, denn Lilly hatte wieder zu Mike aufgeschlos-sen.

Der Mann führte sie durch viele verwinkelte, oftmals dunkle, manchmal schwach erleuchtete Gassen. Die kleine Reise dauerte eine halbe Ewigkeit. Keiras Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt. In ihrem Inneren mischten sich Gefühle der Angst, der Verzweiflung, aber auch der Hoffnung. Als sie schon fast nicht mehr daran geglaubt hatte, je heil bei besagtem Händler anzukommen, rief Mike plötzlich laut aus: „So, da wären wir! Erlaubt, dass ich euch Gesellschaft leiste?! Ich kenne Mr. Tingles recht gut und das könnte für euch möglicherweise von Vorteil sein, falls ihr vorhabt, mit ihm Geschäfte zu tätigen…“

Während Keira nur genervt die Augen verdrehte, hieß ihn Lilly dankbar willkommen. Keira war fest davon überzeugt, dass sie diesem Verkäufer da drinnen auch selbst den von Jack geforderten Preis hätte aufzwingen können, aber sie schwieg. Vielleicht irrte sie sich ja tatsächlich in diese, Mike und er war einfach nur hilfsbereit… Sie musste ein gequältes Lachen unterdrücken, welches ihren Gedanken Ausdruck verleihen wollte: „Hilfsbereit? Er war ein Mann…“

Lilly klopfte sanft an die Tür des Hauses, vor dem sie nun schon eine ganze Weile schweigend gestanden hatten. Eine Weile tat sich gar nichts, und die beiden Mädchen fürchteten schon, ihre Geschäftspartner sei vielleicht verreist. Doch nach geraumer Zeit wurde es schließlich hell hinter den beschlagenen Scheiben des halb verfallenen Gebäudes. Die Holztür wurde gespannt von drei Au-genpaaren gemustert, bis sie endlich aufging und ein Mann mit der Statur eines großen Fasses seinen schneidenden Blick auf sie richtete. Sein fettes, wettergegerbtes Gesicht machte nicht im Mindesten den Eindruck als wäre es an irgendetwas auf dieser Welt interessiert, doch die kleinen, brau-nen Augen straften diesen Ausdruck Lügen. Scharf und wachsam musterten sie die Neuankömmlinge.

„Was wollt ihr?“, verlangte Mr. Tingles mit seiner ihm eigenen tiefen, kehligen Stimme zu wissen.

Ehe Lilly oder Mike irgendetwas sagen konnten, trat Keira in den Vordergrund und baute sich, die Hände in die Hüften gestemmt vor dem viel größeren Koloss auf.

„Wir brauchen Ersatzteile für unser Schiff. Unser Captain sagte uns, ihr seiet mit ihm bekannt…“

Mehr wagte sie nicht zu sagen, da dieser Mike immer noch wie ein Schatten hinter ihr stand. Sie war sich ziemlich sicher, dass er für ein ordentliches Entgelt jeden verraten würde und Jack genoss in Roseau ja nun wirklich ein sehr fragwürdiges Ansehen.

„Euer Captain? Wer soll das sein, dass er nicht den Anstand besitzt, seine Schergen zu gebührlicherer Uhrzeit auszuschicken?“
 

„Ich kann Euch seinen Namen in Gesellschaft derart fragwürdiger Personen leider nicht anvertrau-en.“

Mr. Tingles warf ihr einen skeptischen Blick zu. Er schien nachzudenken. Nach einer Weile erhellte sich aber sein Gesicht und er fing lauthals an zu lachen.

„Ja… wahrlich, es gibt nur einen Mann, der Frauen des Nachts in eine zwielichtige Stadt schickt.“ Dann trat er einen Schritt beiseite und macht eine auffordernde Geste. „Kommt herein.“

Keira beglückwünschte sich selbst mit einem Lächeln zu ihrer gekonnt diplomatischen Vorgehensweise. Dicht gefolgt von Lilly und Mike betrat sie das kleine Haus. Nun ja, wenn man es näher betrachtete, war es eigentlich mehr eine Hütte. Keira fragte sich, was das eigentlich für ein Händler war. Er erschien ihr nicht sonderlich seriös. Das Aussehen seiner Wohnung verstärkte ihr eigenartiges Gefühl noch. Geschäftsleute waren für gewöhnlich reiche Männer, doch die Heimstadt von Mr. Tingles erinnerte eher an armes Fischerhäuschen. Um Jacks Kontakte nicht infrage zu stellen, dachte sie nicht weiter darüber nach. Er würde schon wissen, mit was für Leuten er sich abgab… Cap-tain Sparrow hatte ihrer Meinung nach eine unvergleichliche Menschenkenntnis – er hatte ja anscheinend auch schon genügend Erfahrungen gesammelt.

Der Kaufmann führte sie in einen kleinen Raum, in dem ein klobiger, quadratischer Holztisch und ein paar Stühle standen. In einer Ecke befand sich ein schmutziger Ofen, der aber offensichtlich recht selten benutzt wurde. Er bot seinen Gästen die ungemütlich anmutenden Sitzmöglichkeiten an, und die drei nahmen der Höflichkeit halber Platz. Er selbst setzte sich ihnen gegenüber.

„Ihr müsst entschuldigen, dass ich euch nichts anbiete, aber des Nachts schlafen brave Männer wie ich für gewöhnlich und deshalb möchte ich das hier möglichst schnell hinter mich bringen. Also! Was wollt ihr?“

Seine eben beinahe zuvorkommende Art, wandelte sich schnell und Keira merkte, dass seine Laune nicht gerade die beste war. Deswegen sprach sie schnell, ehe er es sich noch anders überlegen konn-te.

„Wir brauchen Teile für unser Schiff, wie ich bereits sagte. Der Captain hat alles notiert.“ Als sie Mr. Tingles das Pergament mit den aufgelisteten Materialien geben wollte, erschrak sie. Natürlich! Sie hatte den Jacks Zettel in die Schwertscheide gesteckt…

Ein wenig verlegen blickte sie ihren Gegenüber an.

„Es tut mir furchtbar leid, Sir, aber ich fürchte, ich habe die Liste in unserem Boot vergessen… Wenn Ihr einen Moment warten würdet, könnte ich sie schnell holen.“

Eigentlich glaubte Keira nicht wirklich, dass er sich darauf einlassen würde, doch dann rollte er nur ungeduldig die Augen.

„Wie kann dieser verdammte Kerl nur so dumm, so unfähige Gören zu mir zu schicken?! LOS! Geh schon!!“

Erstaunt sprang Keira auf. Einen Moment lang zögerte sie noch, wandte sich dann aber entschlossen dem Ausgang zu.
 

„Warte!“, rief Mike und erhob sich ebenfalls. „Du würdest dich mit Sicherheit verlaufen. Komm, ich begleite dich.“ Keira war weder wohl bei dem Gedanken, mit ihm allein durch die Nacht zu wandeln, noch bei dem, Lilly hier allein zu lassen. Doch die nickte ihr aufmunternd zu. „Geh ruhig. Ich komm schon klar.“

Seufzend fügte sich Keira schließlich in ihr Schicksal. Mike nahm sie an der Hand und schleppte sie durch die Straßen zurück zum Hafen. Sie sprachen kein einziges Wort. Als sie angekommen waren, eilte sie zu ihrem Beiboot und griff nach ihrem Schwert. Dann hielt sie jedoch inne. Es war wohl nicht besonders vertrauenerweckend, wenn sie nun auf einmal mit einer Waffe zurückkehrte. Schweren Herzens holte sie das Stück Pergament aus der Scheid und verstaute das Schwert selbst wieder unter den Planen mit dem Proviant.

Mike wartete auf dem Kai auf sie. Keira kam zurück, sah ihn auffordernd an – er rührte sich keinen Zentimeter. Sein Blick war eisig, beinahe bedrohlich.

„Gib mir den Zettel!“, forderte er sie auf, in einem Ton, der keinen Widerspruch erlaubte. In seiner Rechten ruhte eine schmale, scharfe Klinge.

Panik überfiel Keira. Was sollte sie tun? Sie hatte es geahnt, man konnte ihm nicht trauen… Sie bewegte sich nicht. So leicht würde sie sich nicht geschlagen geben! Wenn sie doch nur eine Waffe gehabt hätte…

Mike trat einen Schritt näher an sie heran, ein gefährliches Funkeln in den Augen.

„Gib es mir!“, verlangte er noch einmal.

Langsam hob er seinen Säbel. Er schien offensichtlich zu allem entschlossen zu sein. Keira traute diesem Mann durchaus zu, sie ohne der Wimper zu zucken zu töten. Jack kam ihr in den Sinn und die Frage, ob er sie wohl vermissen würde. Eher nicht…

„Stop!“ Eine kalte Stimme durchschnitt die Nacht. Keira horchte auf. Irgendetwas in diesem Tonfall kam ihr verdammt bekannt vor – sie wusste nur nicht, woher.

Ihr Ahnung wurde bestätigt, als der Sprecher aus den Schatten trat. Kiran ging mit energischen Schritten auf Mike zu und entriss ihm, seine Klinge.

„Ich sagte, du sollst ihr unter keinen Umständen etwas antun!“ Sie sprach nur leise, aber der junge Seemann erbleichte trotzdem. Diese Frau strahlte eine unglaubliche Autorität aus, mit jeder einzelnen Bewegung, mit jedem einzelnen Wort. Dann wandte sie sich an Keira.
 

„Gib mir das verfluchte Pergament!“, herrschte die Piratin ihr Spiegelbild an.

„Warum sollte ich?“ Ein Hoffnungsschimmer war in Keira aufgekeimt, als sie Kirans Warnung gehört hatte. Sie wollten ihr also nichts antun. Diese Erkenntnis weckte neuen Mut in ihr.

Kiran seufzte beinahe gelangweilt, winkte ein paar Männern, die noch in der Dunkelheit gelauert hatten. Ohne einen weiteren Befehl kamen die Matrosen auf ihr Opfer zu, banden ihr Hände und Füße grob mit einem Seil zusammen und entrissen ihr Jacks Notiz. Die Gefangene hatte rasch erkannt, dass jeglicher Widerstand vollkommen zwecklos war.

Als Kiran ihr Beute in Händen hielt, lächelte sie die andere böse an. Ganz nah trat sie an sie heran und redete dann leise auf sie ein: „Na? Hast du Captain Sparrow schon kennen gelernt? Ich hoffe es für dich, denn sonst wirst du nun leider um das Vergnügen betrogen werden.“ Ihre Augen senkten sich in gespieltem Bedauern, bevor sich ihre Züge zu einem überlegenen, boshaften Grinsen verzogen. „Ich habe zwar keine Ahnung, aus welchem Zweck wir uns so ähnlich sehen, aber es ist auch vollkommen egal. Es wird sich wohl als vorteilhaft erweisen. Ich wünsche dir einen angenehmen Aufenthalt auf der Bloody Mary. Lilian wird sich sicher gut um dich kümmern.“ Damit wandte sie sich von Keira ab, nickte ihren Männern zu und verschwand dann mit Mike in den Straßen des nächtlichen Roseau.

Grobe Hände packten sie, noch ehe Keira richtig realisiert hatte, was eigentlich gerade geschehen war. Ja, es war so naheliegend! Kiran nahm ihren Platz ein, niemand würde es bemerken und im passenden Augenblick würde sie Jack einen Dolch in den Rücken stoßen…

Ihre Gedanken wurden unsanft aus ihrem Bewusstsein verdrängt, als Kirans Schergen sie in ein kleines Beiboot warfen. Es dauerte nicht lange, bis Keira in der Finsternis der Nacht die Umrisse der Bloody Mary sehen konnte. Ein weiteres Mal musste sie feststellen, dass die Black Pearl ungleich eleganter und fesselnder wirkte als Kirans Schiff. Es handelte sich ebenfalls um einen großen Dreimaster, doch das helle Holz, des wohl noch jungen Gefährtes übte keinerlei geheimnisvolle Faszination aus.
 

Keira prallte schmerzhaft auf den Planken auf. Vor ihren Augen sah sie unzählige Stiefelpaare hin und her laufen, bis eines direkt vor ihrem Gesicht halt macht und sich nicht mehr bewegte. Man zerrte sie wieder auf die Beine und löste ihre Fesseln.

Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte sie, wieder ihrer geliebten Freundin gegenüber zu stehen, doch augenblicklich besann sie sich eines besseren.

„Wie ist dein Name?“, herrschte Lilian sie an.

Keira antwortete nicht, erwiderte nur trotzig ihren Blick, womit sie sich einen derben Stoß in den Rücken einhandelte.

„RÜHR SIE NICHT AN!“, wies der zweite Captain der Bloody Mary den Piraten zurecht. „Nur Kiran und ich allein haben das Recht dazu. Wer weiß schon, was passiert, wenn man diesem Mäd-chen etwas antut… Und könnte einer von Euch verantworten, wenn Captain Kiran etwas zustieße?“ Der Boden erntete einige betroffene Blicke, aber niemand entgegnete etwas.

„Wie ist dein Name?“, fragte sie Keira erneut, diesmal mit einer bedrohlichen Sanftheit.

Als diese noch immer keine Anstalten machte, der Aufforderung nachzukommen, verlor Lilian die Beherrschung und schlug ihr mit dem Handrücken ins Gesicht, dass sie taumelte. Weiße Punkte explodierten vor ihren Augen und sie bekam nur noch im Ansatz mit, wie eine aggressive weibliche Stimme den Befehle erteilte, sie einzusperren.

Echte Piraten

Juhu~ ^-^v

Endlich geht's weiter. Na ja... Das Kapitel war ja schon lange begonnen... Es hat lange gedauert, aber ich hatte ein Abitur zu schreiben! XD Nun, da ich dieses hinter mir habe, geht's auch wieder etwas zügiger - vorausgesetzt meine Muse macht mit... XD

Zum Kapitel... ^^; Ich persönlich finde es ziemlich schlecht, um das mal nett auszudrücken. Aber ihr dürft euch natürlich euer eigenes Urteil bilden - mir gefällt's halt nicht. Das nächste wird wieder besser! ^.~

Trotzdem viel Spaß damit!

Bussi

Sarina

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Als Keira erwachte, war es noch immer – oder schon wieder – dunkel. Sie konnte nicht erkennen, wo sie sich befand. Einzig die unbequeme Lage auf irgendetwas Hartem und Feuchtem, das sich anfühlte wie nasse Holzscheite, verriet ihr wohl, dass sie überhaupt noch am Leben war. Ihr Kopf dröhnte, und da es vollkommen gleichgültig zu sein schien, ob sie die Augen offen oder geschlos-sen hatte, machte sie sie wieder zu. Stöhnend legte sie eine Hand auf ihre Stirn. Was genau war eigentlich passiert? Richtig… Kiran. Keira fragte sich, ob Lilly den Unterschied bemerkt hatte. Ehr-lich gesagt bezweifelte sie das stark, nach dem, was sich bei ihrer letzten Begegnung offenbart hat-te. Lilly war anscheinend naiver als sie immer geglaubt hatte.

Nach einer Weile richtete sich Keira endgültig auf. Sie musste irgendetwas unternehmen! Langsam tastete sie sich in dem kleinen Raum entlang. Die Wände waren ebenso nass wie der Boden und die Tür, die sie schließlich fand, war selbstverständlich verschlossen. Eine unbändige Wut breitete sich in ihrem Inneren aus und sie schlug die Faust lautstark gegen die Bretter, machte in lauten Schreien ihrem Zorn Luft und rief dabei immer wieder Lilians Namen. Sie wollte hier raus, verdammt!

Doch es blieb still. Auf der anderen Seite der Tür rührte sich nichts. Kraft- und mutlos sank Keira wieder in sich zusammen und zwang die Tränen nieder.

Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis sie endlich Stimmen auf der anderen Seite des klammen Holzes hörte. Es waren Männer, die sich ihr näherten. Vorsichtshalber wich sie ein paar Meter zurück – man wusste ja nie, mit welcher Wucht Piraten Türen zu öffnen pflegten. Umso erstaunter war Keira, als sich ein vom Gegenlicht beleuchteter, jedoch unverkennbar junger Seemann sehr behutsam Zu-tritt verschaffte. Wortlos winkte er das verängstigte und mittlerweile vor Kälte zitternde Mädchen zu sich. Dieses rappelte sich ungeschickt hoch, verharrte dann aber regungslos an Ort und Stelle. Der junge Freibeuter machte einen Schritt auf sie zu, packte sie auf unerwartet sanfte Weise am Handgelenk und zog sie aus der Zelle und an Deck. Keira musste die Augen mit der Hand bede-cken, so sehr blendete sie das blasse Mondlicht nach all der Zeit in ihrer völlig lichtlosen Kammer.

„Ihr könnt gehen. Ich denke, ich werde alleine mit ihr fertig.“, sagte ihr Führer in gebieterischem Ton und die anderen Matrosen entfernten sich augenblicklich. Ein staunendes Augenpaar ruhte auf ihm, doch er schien es einfach zu ignorieren. Stattdessen erklärte er ihr, seine Stimme nun wieder vollkommen ruhig und in keiner Weise unangenehm: „Lilian hat angeordnet, dir ein wenig Auslauf zu gönnen. Wie heißt du?“

Keira nannte lediglich ihren Namen und schwieg wieder. Nach einiger Zeit der Stille, richtete der Pirat mit dem, wie sie nun im schwachen Licht erkennen konnte, hübschen, von braunen Locken umrahmten Gesicht seinen Blick auf sie.

„Jetzt bist du ganz schweigsam.“, stellte er emotionslos fest. „Dein Gezeter vorhin hat wahrschein-lich die gesamte Karibik gehört.“

Ein wenig verlegen starrte sie den Boden an, erwiderte noch immer nichts.

„Du solltest dich lieber an dieses Schiff gewöhnen – und an die Captain.“

Sie wunderte sich ein wenig über die Formulierung, sagte aber nichts. Vermutlich waren Kiran und Lilian derart überemanzipiert, dass sie sogar darauf bestanden, den Begriff „Captain“ zu verweibli-chen.

„Wie ist Euer Name?“, brachte sie schließlich endlich hervor.

Der junge Pirat stellte sich als erster Maat Fareloan vor.

Keira beschloss, dass sie seinen Namen seltsam fand. Aber wie dem auch sein mochte – er tat ihr immerhin nichts. Wenn sie also keine ohnehin völlig zwecklosen Fluchtversuche startete, würde sie wohl eine Weile die kühle Nachtluft genießen dürfen.

Sie vermisste die Black Pearl. Gerade einmal wenige Tage war es her, seit sie das große, alte Schiff zum ersten Mal betreten hatte, und doch, so stellte sie mit Erstaunen fest, hatte sie sich schon mehr daran gewöhnt als ihr vielleicht lieb sein konnte. Außerdem – und diese Tatsache machte sie fast ein wenig wütend – vermisste sie Jack.

Seufzend schüttelte sie den Kopf, was Fareloan zwar nicht entging, er aber dennoch geflissentlich ignorierte. Er wollte scheinbar nicht aufdringlich sein…

Es gab so unendlich viele Fragen, die Keira durch den Kopf schwirrten, so viele Dinge, die sie hätte unternehmen müssen – wie zum Beispiel das Leben Captain Sparrows zu retten! Verdammt! Aber sie saß hier fest! Und alles, zu was sie im Moment die Möglichkeit hatte, war, den Mond anzustar-ren, und in melancholischen Gedanken zu versinken. Tief durchatmend zwang sie sich zur Ruhe. Wenn sie jetzt ausrastete, war damit auch keinem geholfen…

Schließlich drehte sie sich zu Fareloan um, der noch immer schweigend irgendwo schräg hinter ihr stand.

„Kiran wird Jack töten, nicht wahr?!“, sagte sie plötzlich.

Der Pirat zuckte mit gleichgültiger Miene mit den Schultern. „Ich weiß es nicht. Sie wird es auf jeden Fall versuchen.“

Keira seufzte. Natürlich. Was hatte sie erwartet? Sie wusste es ja. Sie wusste, was Kiran vorhatte! Irgendwie musste sie es schaffen, Jack zu warnen. Und Lilly! Wieso nur neigte sie in letzte Zeit dazu, ihr geliebte Freundin zu vergessen? Es war sogar beinahe Abneigung, die sich in ihre Gedan-ken schlich, wann immer Lilly darin auftauchte. Gab Keira ihr die Schuld an alledem? Wahrschein-lich war das mehr als ungerecht. Sie waren beide leichtgläubig gewesen.

Resigniert lehnte sie sich an Reling, schloss die Augen und ließ den Wind an ihrem Haar zerren.

Sie spürte Fareloans Blick in ihrem Rücken, versuchte aber ihn zu ignorieren.

„Genug.“, sagte er schließlich. Die Art, wie er sie am Handgelenk packte, war sehr viel unsanfter, als man es von seiner zarten Erscheinung erwartet hätte. Keira wehrte sich jedoch nicht. Ihr war bewusst, dass sie gegen ihn keine Chance haben würde. Vielleicht sollte sie sich von Jack Sparrow ein wenig in das Piratenhandwerk einführen lassen – vorausgesetzt sie würde noch einmal die Gele-genheit bekommen, mit ihm zu sprechen. Im Augenblick bot ihre Situation einen eher jämmerlichen Anblick: Sie war gefangen auf einem Schiff voller wilder – männlicher! – Freibeuter, die von zwei Frauen angeführt wurden, von denen eine in exakt diesem Moment auf der Black Pearl ihren – Kei-ras – Platz einnahm. Wenn man außerdem bedachte, dass sie eher wenig vom Kämpfen verstand und wohl auch nicht einmal die Kraft hatte, ein Schwert überhaupt zu halten, war sich zu fügen und abzuwarten das Sinnvollste, was ihr derzeit einfiel. Das war wirklich deprimierend!

Fareloan brachte seine Gefangene zurück in ihr nasses, dunkles Gefängnis. Nachdem er wortlos die Tür hinter ihr geschlossen hatte, kauerte sie sich in eine Ecke, schlang die Arme eng um die Knie und bemühte sich, nicht zu weinen.

Hier in der Finsternis war eine Minute wie die andere, eine Stunde wie die andere, und so hatte Kei-ra nicht die leiseste Ahnung, wie lange sie in ihrer Position verharrt hatte – immerhin die einzige, in der sie einigermaßen sicher sein konnte, dass ihr nicht sämtliche Gliedmaßen abfroren.

Sie jammerte nicht mehr, schrie nicht mehr, gab auch sonst keinen Laut von sich.

Irgendwann hörte sie das knarren des Holzes, dann spürte sie einen warmen Strahl von Sonnenlicht auf ihrem Arm. Langsam hob sie den Blick, blinzelte eine Weile gegen die Helligkeit und erkannte schließlich Lilian, die mit in die Hüften gestemmten Händen und herablassendem Blick im Türrah-men stand.

„Aufstehen!“, bellte sie nur und es klang tatsächlich wie das Kläffen eines Straßenköters.

Nur mühsam konnte Keira gehorchen. Ihre Glieder waren steif. Ungeduldig tappte die Piratin mit dem Fuß auf dem Boden herum. Sobald ihre Gefangene sich auf die Beine gerappelt hatte, zerrte sie diese mit sch an Deck und warf sie auf den Boden. Ein Eimer voller Wasser und eine verrottete, alte Bürste folgten dem Mädchen. „Putzen kannst du hoffentlich?!“, säuselte Lilian und machte sich nicht die Mühe, ihre Aussage zu präzisieren – was auch gar nicht nötig war. Keira hatte durchaus verstanden. Unsicher sah sie sich in der Reihe der Männer um, die überall um sie herum arbeiteten oder einfach nur herumstanden und so taten, als würden sie arbeiten. Sie entdeckte Fareloan am Steuer, doch als sie ihm ein vorsichtiges Lächeln schenkte, blieb sein Gesicht so ausdruckslos wie zuvor und er wandte den Blick in Richtung Horizont. Fluchend griff Keira nach den Sachen, die ihr so großzügig bereitgestellt wurden. Immerhin musste sie nicht mit den Händen putzen, das war Li-lian und ihrer Horde doch schon mal positiv anzurechnen.

Es vergingen sicherlich nur ein paar wenige Stunden, ehe die Captain zurückkehrte. Keira fragte sich, wie sie in dieser Zeit das ganze Schiff hätte schrubben sollen – sie hatte nicht einmal die Hälf-te geschafft.

„Du brauchst ganz schön lange…“ Lilian hatte sich in ihrer favorisierten Pose mit ihren Kleidern, die mehr zeigten, als sie verhüllten vor ihr aufgebaut und starrte gelangweilt auf sie hinab. Keira musste sich auf die Zunge beißen, um sie nicht zornig anzuschreien. Höchstwahrscheinlich hätte sie sich damit nur selbst geschadet. Also erwiderte sie den Blick nur ebenso gleichgültig und schwieg.

„Los. Komm mit!“, befahl die Piratin und Keira folgte ihrem Befehl so schnell sie konnte.

Lilian band die Handgelenke ihrer Gefangenen mit einem groben Seil zusammen, gab ihrer Gefolg-schaft einen Wink und zerrte Keira dann alleine unter Deck. Ein wenig verwirrt stolperte sie hinter der Freibeuterin her. Der Raum, in den sie gezogen wurde, war ungleich prunkvoller als man es von einer Schiffskajüte erwartete. Kein Zweifel, das mussten Lilians eigene Räumlichkeiten sein. Die Holzwände waren mit einer von Gold- und Silberfäden durchwirkten Tapete bezogen, die Dielen auf dem Boden glänzten wie im Salon eines altehrwürdigen Herrenhauses. Mit einem bitteren Grin-sen musste Keira feststellen, dass man durchaus sehen konnte, ob der Captain eines Piratenschiffes männlich oder weiblich war. Wenn sie da an Jacks Zimmer dachte…

Hier waren sogar vorhangähnliche Stoffe an den runden Bullaugen angebracht, eine weitere Gardi-ne aus rotem Brokat trennte eine Ecke vom Rest des Raumes ab, vermutlich befand sich dort ein Bett. Auch der Schreibtisch war nicht mit dem Captain Sparrows zu vergleichen. Unordnung hatte der hier mit Sicherheit noch nie gesehen. Ein paar Pergamentrollen waren fein säuberlich aufeinan-dergestapelt, ein sauberes Tintenfass glänzte neben einer großen, weißen Gänsefeder auf dem dunk-len Holz; der Stuhl mit den von Blattgold überzogenen Beinen war mit dunkelrotem Samt gepols-tert. Truhen mit Kleidern oder Dokumenten ließen sich nur erahnen. Sofern sie vorhanden waren, hatte man sie gut versteckt.

Keira staunte nicht schlecht. Sie fragte sich, wie viele Leute die Piratin wohl hatte bestehlen müs-sen, um sich solch eine Pracht leisten zu können. Sie wollte es gar nicht wissen… Ihr blieb auch gar keine Zeit mehr, darüber nachzudenken, denn Lilian zückte ein Messer und trat mit einem bösen Grinsen nahe an sie heran.

„Ich warne dich!“ Ihre Stimme klang ruhig und gefährlich zugleich wie die eines Tigers, der sich seiner Beute sicher ist. „Wenn du versuchst abzuhauen, werde ich nicht zögern, den Wunsch meiner Partnerin zu missachten…!“

Mit einem dicken Kloß im Hals zwang Keira sich zu einem Nicken. Sie glaubte dieser grausamen Frau aufs Wort! Lilian würde sie töten, wenn es sein musste – auch wenn das bedeutete, sich gegen Kiran und deren Befehl, ihr nichts anzutun, aufzulehnen. Die beiden Frauen schienen gleichgestellt zu sein.

Noch immer wurde Keira eingehend gemustert, wand sich innerlich unter dem Blick ihrer Gegen-über. Schließlich wurde sie erlöst, als Lilian ihr schweigend die Fesseln durchtrennte. Ein letztes Mal durchbohrten Keira zwei raubtierhafte Augen, ehe die andere Frau sich von ihr abwandte, um sich mit einem zufriedenen Stöhnen in den Sessel zu werfen, die schweren Stiefel landeten wucht-voll auf der Tischplatte, wo Lilian die Beine übereinander schlug.

„Nun…“, seufzte sie theatralisch und begann eine Flasche in den Händen zu drehen, die sie faszi-niert zu beobachten schien. Keira fragte sich allmählich, was sie hier eigentlich sollte.

„Vielleicht wirst du mir ja jetzt endlich deinen Namen verraten, das würde vieles erleichtern.“

Eine skeptische Miene war das einzige, was die Captain als Antwort erhielt.

Kopfschüttelnd fuhr diese fort: „Also schön. Dann werde ich dich ganz einfach ‚Sklave’ nennen. Denn genau das wird von nun an deine Funktion sein: Du wirst mir dienen. Ausschließlich mir. Für schwere Arbeit taugst du wohl kaum…“ Lilian kicherte verächtlich, als sie Keiras Körper von oben bis unten begutachtete. „Deswegen wirst du für mein persönliches Wohlergehen sorgen. Das heißt, du trägst Sorge für meine Kajüte, meine Mahlzeiten, meine Kleidung – und für alles, was mir sonst noch beliebt, dir aufzutragen.“

Soweit Keira wusste, hatte sie eigentlich immer ganz gute Ohren gehabt. Im Moment zweifelte sie daran. Das konnte doch nicht ihr Ernst sein! Diese Frau konnte sich bestimmt unzählige Grausam-keiten einfallen lassen. Allerdings, wenn man es recht bedachte, war dies wohl das geringere Übel. Lilian hätte sie genauso gut zur Gespielin ihrer Crew erklären können – da war ihr weibliche Ge-sellschaft doch noch lieber. Wenngleich Keira jedoch bezweifelte, dass das auf diesem Schiff einen großen Unterschied machte. Sie musste an Fareloan denken. Er hatte nicht so ausgesehen, als würde er sich zum Spaß an unschuldigen Mädchen vergreifen. Nun ja, der Schein konnte bekanntlich trü-gen.

Der Aufprall von Lilians Füßen auf dem Boden riss Keira aus ihren Gedanken.

Ihr blieb keine Zeit mehr, sich daran zu erinnern, wo sie noch vor einer Woche gewesen war… Zu-hause, in ihrer Welt, in ihrer Zeit – im Alltag…

„Für den Anfang darfst du mir die Stiefel ausziehen und mir etwas zu essen besorgen – die Kombü-se wirst du schon finden.“

Lilians ungeduldiger Blick sorgte dafür, dass Keira aus ihrer Lethargie erwachte und sich beeilte, die ihr soeben erteilten Befehle zu befolgen.

Tief in ihrem Inneren hasste sie sich selbst im Augenblick mehr als Lilian. Es war ihr unerklärlich, wie sie so feige sein konnte, sich nicht gegen derlei Lächerlichkeiten zu widersetzen.

Auf dem Weg zur Schiffsküche musste sie ein paar Mal fragen, ehe sie diese fand. Als sie schluss-endlich mit einem Tablett voller sogenannter „Köstlichkeiten“ zurück in Richtung Lilians Kajüte wanderte, kam ihr plötzlich eine Idee. Mit Sicherheit würde es nicht einfach werden, aber sie wollte versuchen, ein wenig mehr über die beiden Captains der Bloody Mary herauszufinden.

Irgendwie musste sich Jack helfen! Vielleicht konnte sie etwas mehr tun, wenn sie wusste, aus wel-chem Grund Kiran ihn töten wollte. Irgendwie musste sie dahinterkommen, was es mit all diesen Merkwürdigkeiten auf sich hatte…!

Double

Wie schrecklich dumm dieser unschöne Abklatsch von Lilian doch war! Es war Kiran ein Leichtes, sie zu täuschen.

Nachdem sie mit Mike, einem ihrer eigenen Männer, zurück in Mr. Tingles’ bescheidene Behau-sung gekehrt war, hatte sie nichts weiter tun müssen, als sich so lächerlich wie möglich zu beneh-men, um Lilly glauben zu machen, ihre Freundin stünde wieder vor ihr.

Der Händler, welcher hingegen sehr wohl Captain Kiran erkannt hatte, war mit einem einzigen e-bendieser zum Schweigen gebracht worden. Er hatte ihnen die von Jack notierten Materialien gege-ben und nun, kaum eine Stunde nachdem sie Lilian und ihrer beider Schiff verlassen hatte, befand sie sich mit Lilly in dem kleinen Beiboot, das sie zur Black Pearl zurück bringen sollte.

„Schade, dass Mike uns nicht begleiten wollte…“, seufzte Lilly nun schon zum wahrscheinlich hundersten Mal, seit sie den Hafen von Roseau verlassen hatten und der Matrose das Angebot des Mädchens ausgeschlagen hatte, mit ihnen auf Captain Sparrows Schiff zurückzukehren.

Kiran zuckte mit den Schultern. „Was findest du denn an dem…?!“, entgegnete sie genervt. Dieses Erstaunen empfand sie sogar, ohne sich verstellen zu müssen. Mike war nun wirklich nicht das, was man sich gemeinhin unter einem „liebenswerten Kerl“ vorstellte.

Aber Lilly wurde es nicht müde, ihrer vermeintlichen Freundin immer und immer wieder vorzu-schwärmen, wie umwerfend der junge Seemann doch war – so wie auch jetzt schon wieder: „Er sieht super aus, ist total nett, hilfsbereit, freundlich… Komm schon, Keira! Du musst doch zugeben, dass er sich wie ein echter Gentleman benommen hat…!“ Die Augen des Mädchens drifteten ir-gendwo in entfernte Sphären ab.

„Wenn du meinst…“, seufzte Kiran nur und konzentrierte sich dann wieder mehr als nötig gewesen wäre auf ihre Aufgabe, die derzeit darin bestand, zu rudern.

Lilly bekam wohl längst nicht mehr mit, dass ihre Gegenüber überhaupt geantwortet hatte. Auch gut. Wen diese dämliche Kuh, die anscheinend keine allzu hohen Ansprüche an Männer stellte, in ihren Träumen versank, hatte die Piratin wenigstens ihre Ruhe…!

Als sie endlich das Schiff mit den zwar im Augenblick gerafften, aber dennoch unverkennbar schwarzen Segeln erreichten, wurde bereits das erste Licht der Morgendämmerung am Horizont sichtbar. Grimmige Erregung breitete sich in Kiran aus, wenn sie daran dachte, dass sie Jack bald ins Gesicht schlagen konnte.

Sie fuchtelte ungeduldig vor Lillys Gesicht herum. „ Hey! Wir sind da. Greif doch mal nach dem Tau!“, fuhr sie das diese an.

Noch immer etwas benommen, tat das Mädchen, wie ihm geheißen und zog das kleine Boot somit nah an das große Mutterschiff heran.

Jacky musste sie bemerkt haben, denn sie sprang auf die Reling und grinste, eine Strickleiter in der Hand, überheblich auf die beiden hinab. „Wollt ihr etwa an Bord…?“

Kiran verdrehte die Augen und war dankbar, dass es so dunkel war. Ja, jetzt erinnerte sie sich wie-der, wie sehr sie diese Crew voller aufgescheuchter Hühner doch hasste – Captain Sparrows Betthä-schen-Truppe…

Ungeduldig wartete sie, bis Lilly nach oben und über die Reling geklettert war, dann folgte sie ihr.

Als sie auf den so seltsam vertauten Planken der Black Pearl stand, bemühe sie sich, selbstsicher in die erwartungsvollen Gesichter der Mannschaft zu blicken. Sie lächelte. „Wir haben alles bekom-men!“, meinte sie fröhlich. „Hoffentlich können wir jetzt das Schiff reparieren und endlich wieder in See stechen.“

Die Piratin hoffte das wirklich. Sie glaubte, dass es auf offener See einfacher sein würde, sich Jacks zu entledigen – und gegebenenfalls auch der ganzen Crew. Doch zunächst galt es, dem Captain möglichst überzeugend glaubhaft zu machen, dass er Keira wiederhatte. Das würde nicht einfach werden. Jack kannte Kiran – viel zu gut! Jede kleine Macke, die sich nicht unterdrückte, jede kleine Gewohnheit konnte sie verraten. Und sie wusste zudem nicht, was für ein Verhältnis er zu (oder mit) ihrer Doppelgängerin hatte. Kiran fühlte Wut in sich aufsteigen bei dem Gedanken… Sie schluckte und zwang das Gefühl nieder, grinste wieder vielsagend in die Gesichter der Piraten-Mädchen.

Jacky gab Mika soeben einen etwas genervten Wink, woraufhin die blonde Frau kurzerhand in das Beiboot hinabkletterte, um die Materialien an Bord zu holen, die Keira und Lilly von Mr. Tingles mitgebracht hatten.

Zum wiederholten Male fragte sich Kiran, wie der Captain eigentlich so dumm sein konnte, die beiden Mädchen zu dem Händler zu schicken, die ganz offensichtlich mit der Seefahrt so gar nichts am Hut hatten. Schön, ihr konnte es ja recht sein, denn so hatte sie jetzt immerhin wenigstens den Ansatz einer Chance, sich an Jack zu rächen. Und außerdem: besonders klug war er ja in der Tat nie gewesen – sonst hätte er es auch niemals gewagt, Kiran ihr Schiff zu stehlen und sie dabei buch-stäblich über Bord zu werfen.

Mit einem zornigen Kopfschütteln schob Kiran den Gedanken von sich. Jedes Mal, wenn sie ihn dachte, gefiel er ihr weniger.

Sie sah sich an Deck der Black Pearl um. Jack stand am Steuer, die Ellbogen lässig darauf gestützt, und blickte gedankenverloren in die Ferne. Es war erstaunlich, wie er es schaffte, trotz seiner geisti-gen Abwesenheit hin und wieder Befehle in seine Meute zu brüllen und dabei auch noch das Schiff auf Kurs zu halten. Er war schon immer ein Träumer gewesen, meist fern jeglicher Realität. Kiran würde dafür sorgen, dass dies zu seinem Verhängnis wurde.

Die Piratinnen waren hellauf beschäftigt. Ein paar von ihnen waren hinunter in den Bauch des Schiffes gelaufen, der Rest hatte zwei Beiboote zu Wasser gelassen. Kiran lehnte sich über die Re-ling, um das Treiben der Mädchen besser beobachten zu können. Jacky und Ivy entledigten sich soeben ihrer Kleider und sprangen ins Wasser, sodass Kiran nun gezwungen war, sich noch weiter nach vorne zu beugen, wenn den Beiden mit ihren Blicken folgen zu können, als diese zum beschä-digten Teil der Pearl hinabtauchten. Ein grimmiges Lächeln umspielte Kirans Lippen, als ihr be-wusst wurde, dass das hier ihr Verdienst war: Das kaputte Schiff, die beiden Dummchen in Rous-seau, die Flickarbeiten unter Wasser.

„Sie ist so etwas wie der Vize-Captain – die Vize-Captain.“ Bei seiner Verbesserung grinste Jack schief und Kiran musste sich verkneifen, mit den Augen zu rollen. Sie hasste diesen übertriebenen Feminismus, auch wenn sie selbst eine Frau und Captain war.

Obwohl sie seine Worte gehört und irgendwie – wohl unbewusst – sogar darüber nachgedacht hatte, sah sie ihn einen Augenblick lang nur verständnislos an, bis sie schließlich den Sinn seiner Worte richtig erfasste. Es war seltsam, aber aus einem unerfindlichen Grund war sie eben völlig versunken in den Anblick der arbeitenden Frauen gewesen. Sie hatte noch nicht einmal bemerkt, wie er neben sie getreten war – was ihr auch erst jetzt auffiel… Beinahe hätte sie den Kopf über sich selbst ge-schüttelt. Wenn sie sich nicht verraten wollte, musste sie ein bisschen vorsichtiger und vor allem aufmerksamer sein!

Als sie ihn nun wieder richtig ansah, war sie umso erstaunter, dass sich so etwas wie Verlegenheit in seine überhebliche Miene gemischt hatte. Wieso das denn.…?!? So sehr Kiran ihr Gedächtnis auch bemühte, sie konnte sich nicht daran erinnern, dass Jack ihr gegenüber jemals in irgendeiner Weise beschämt gewesen wäre. Etwas war anscheinend vorgefallen, das sie nicht verstand – wobei sie aber den Gedanken nicht loswurde, dass sie darüber vielleicht besser Bescheid wissen sollte, wollte sie Jack glaubhaft verkaufen, sie sei Keira.

Plötzlich bemerkte sie, wie sie ihn anstarrte und wandte abrupt den Blick ab, um ihn mit einem be-müht ebenso verlegenen Lächeln auf das Wasser unter ihnen zu richten.

„Das ist nicht zu übersehen.“, antwortete sie schließlich mit einiger Verspätung, Belustigung schwang in ihrer Stimme mit.

Jacky war mittlerweile wieder aufgetaucht und kommandierte ihre Kameradinnen schon wieder aufs Ärgste herum. Kiran hatte sie nicht zuletzt deswegen immer gehasst.

Planken wurden nach unten zum Lack gebracht, ein Beutel voller Nägel und ein verrosteter Ham-mer. Bald konnte Kiran lautes Klopfen aus dem Inneren des Schiffes, durch die Wasseroberfläche sah sie Jackys und Ivys von der Brechung verzerrte Schemen mit Brettern und Werkzeugen hantie-ren. Etwa jede halbe Minute mussten die beide auftauchen, um nach Luft zu schnappen. Die körper-liche Anstrengung machte es nicht gerade einfacher, den Verlust von frischem Sauerstoff lange zu ertragen. Schon nach dem dritten Mal wurden von Miss Sparrow genervte Flüche laut, die davon zeugten, dass ihr die ganze Sache wohl viel zu langsam ging.

Jack folgte derweil schweigend Kirans Beispiel und beobachtete gelassen die kräftezehrenden Aus-besserungsarbeiten seiner Crew. Dennoch hatte die Piratin irgendwie das Gefühl, als wolle er etwas sagen. Wie gut sie ihn doch immer noch zu kennen schien… Dabei wollte sie ihn gar nicht mehr kennen! Nur… töten!

„Wo fahren wir hin, wenn wir wieder fahren können?“, fragte sie dann, um sich von ihren Gedan-ken abzulenken. Sie wusste, dass es ihr nicht gut tat, wenn sie zu viel über Jack grübelte. Am Ende würde es vielleicht damit enden, dass sie…

„Mayaguana.“ Sie war froh als er antwortete und ihr so weitere Persönlichkeitskonflikte ersparte. Aber sie verschluckte sich dennoch fast an ihrer eigenen Zunge, als sie hörte, wohin er mit ihnen wollte. Das war… weit. Eine kleine, ausschließlich von Piraten bevölkerte Insel am südwestlichen Rand des Atlantiks. Es würde nicht einfach sein, dorthin zu gelangen – noch dazu für Jack, der von jedem zweiten Schiff, das ihm begegnete entweder getötet oder gefangen genommen werden wollte.

Er seufzte und schüttelte den Kopf. „Eine reine Pirateninsel.“ Unnötig, Kiran das zu erläutern. „Ich brauche…“ Wieder grinste er schief. Es gefiel ihr noch immer. „… Männer.“

Kiran lachte auf. „Männer?!?“ Sie verzog das Gesicht – er ebenso.

„Für meine Crew! Zum Kämpfen!“ Sein Blick wurde wieder ernst und abwesend, als er ihn weit aufs Meer hinaus richtete.

„Gegen die Bloody Mary.“, sprach er nach einer Weile weiter, leise und seine Stimme klang dabei so entrückt, wie seine Augen wirkten. „Ich will das endlich ein für alle Mal beenden!“

Kiran bemühte sich, ihn nicht entsetzt anzustarren. Sie würde sich beeilen müssen mit ihrem Plan, sich Jacks zu entledigen. Wenn er Lilian mit geübten Piratenkriegern anzugreifen gedachte anstatt mit dieser Hurenmannschaft hier, dann würde die Frau mit Kirans Azubi-Seemännern kaum eine reelle Chance haben, sich überhaupt noch zu wehren. Kiran war sich ziemlich sicher, dass es keine drei Minuten dauern würde, bis die Bloody Mary zusammen mit ihrer Mannschaft in den Tiefen des Ozeans versinken würde. Die Black Pearl war größer, stärker bewaffnet, sie würde eine an Kraft sowie an Können überlegene Crew haben.

Jack musste sterben, bevor er seinen Plan umsetzen konnte! Und seine Leute am besten gleich mit ihm, von denen Kiran ziemlich sicher war, dass sie ihn zu rächen wenigstens versuchen würden.

Aber bis Mayaguana war es weit und sie und Lilian würden sicherlich mehr als eine Gelegenheit bekommen, den Captain der Black Pearl endlich von dieser Welt zu verabschieden.

Als sie bemerkte, dass ebenjener sie skeptisch beäugte, runzelte Kiran die Stirn und schüttelte miss-billigend den Kopf. „Was denn…?!“, murmelte sie gereizt. Zu spät fiel ihr ein, dass ihn das viel-leicht misstrauisch machen könnte. Sie rettete sich in hilfloses Lächeln. „Man hört nichts Gutes über männliche Piraten, weißt du?!“

Jack sagte nichts dazu, was Kiran nur zum wiederholten Male auf die Frage brachte, in welcher Beziehung er zu Keira stand.

Kiran machte eine Kopfbewegung in Richtung der arbeitenden Piratinnen. „Sie sehen aus, als wüss-ten sie, was sie tun. Wo hast du all diese Frauen eigentlich aufgetrieben?“ Sie wollte das Gespräch in etwas unverfänglichere, sicherere Bahnen lenken.

Er sah belustigt aus, zuckte mit den Schultern. „Wo man Frauen so findet…“

Sie verdrehte die Augen. „Das meine ich nicht! Ich wollte wissen, wie es kommt, dass sie sich alle mit Schiffen auskennen – und sich dazu bereit erklärt haben, dich zu begleiten.“ Wo er sie aufge-trieben hatte, konnte Kiran sich lebhaft vorstellen: In diversen Hurenhäusern der halben Welt.

„Sie begleiten mich weil sie es so wollen.

Und… ich weiß ja nicht, wo du herkommst, oder was Frauen dort für gewöhnlich tun, aber hier gibt es sehr viel mehr fähige Handwerkerinnen oder Navigatorinnen als die meisten wissen, oder auch nur ahnen.“ Sein Blick wurde plötzlich düster. „Viele sind ehemalige Huren, die ihr Glück in der Piraterie versuchen wollen. Andere Möglichkeiten haben solche Frauen ohnehin kaum.“ Jetzt grins-te er wieder. „Und glaub mir, es gibt genügend Männer, die einer Prostituierten liebend gern ein paar Dinge beibringen…“

Kiran machte ein angewidertes Gesicht. Obwohl sie diese Dinge natürlich wusste, ahnte sie doch, dass diese Keira geschockt wäre, so etwas hören zu müssen. Wo immer dieses Püppchen herkam, herrschten mit Sicherheit andere Verhältnisse, das hatte Kiran auf den ersten Blick erkannt. Dieses Mädchen war noch nicht oft mit Leid oder Armut konfrontiert worden und Arbeiten wie die einer Hure waren für sie verwerflich. Hier waren sie eine Art Sprungbrett für Frauen, die aus ihren Ver-hältnissen, aus ihren Familien und Verpflichtungen ausbrechen wollten. Sie konnten Kontakte knüpfen und Dinge lernen, die sie anderweitig einsetzen konnten, wie Jack sagte.

Die Piratin übte sich in betroffenem Schweigen und bemühte sich, erschrocken zu wirken. Zu ihrer Überraschung seufzte Jack und schenkte ihr ein entschuldigendes Lächeln.

„Ich wollte dich nicht erschrecken…“, murmelte er, was Kiran zu einem ungläubig-sarkastischen Lachen verführen wollte. Aber sie beherrschte sich gerade noch und grinste nur dämlich zurück, zuckte andeutungsweise mit den Schultern und er fuhr fort: „Aber so ist es nun einmal leider hier… in unserer…“ Er zögerte, anscheinend nach dem richtigen Wort suchend. „…Welt… Zeit…“ Keiras Herkunft schien ihn zu verwirren, doch vor Kiran konnte er auch das neugierige Glitzern nicht ver-bergen, das in seine Augen trat, während er sprach. Die Fremdartigkeit und das Geheimnisvolle um des junge Mädchen schienen ihn gleichermaßen zu faszinieren wie zu beängstigen. Es war leicht, ihm seine Gedanken anzusehen, wenn man ihn kannte. Viel zu leicht, wie Kiran fand und sie wand-te sich mit einem tiefen Seufzen von ihm ab.

„Ich glaube, ich schaue lieber mal, ob ich mich nützlich machen kann. Ehe ich mir noch eine Mo-ralpredigt von deiner Schwester anhören darf…“ Grinsend ging sie davon. Sie spürte, dass sie jetzt weg von Jack musste. Es tat nicht gut, ihm so nah sein zu müssen. Sie fürchtete, dass er noch ihre Pläne durchkreuzen würde, wenn sie nicht aufpasste.

Nein! Captain Sparrow musste sterben! Er würde büßen für alles, was er Kiran und ihrer Freundin angetan hatte!



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Kommentare zu dieser Fanfic (35)
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Von:  Aranori
2008-05-30T18:56:42+00:00 30.05.2008 20:56
Das lange Warten entschädigt einen wirklich jedes mal auf Neue. *g*

- Captain Sparrows Betthäschen-Truppe
- „Und glaub mir, es gibt genügend Männer, die einer Prostituierten liebend gern ein paar Dinge beibringen…“

Ich mag deine Bezeichnungen und die zynischen Kommentare der Charaktere sehr. Das macht deinen Schreibstil sehr lebendig.

Ich freu mich schon auf das nächste Kapitel! ^^
Von:  Aranori
2007-09-26T12:21:57+00:00 26.09.2007 14:21
He he, Lilian erinnert mich so sehr an einen meiner eigenen Charaktere. xD So richtig skrupel- und hemmungslos! Du hast Keiras Abneigung wunderbar beschrieben. Nur weiter so!
Von: abgemeldet
2007-08-01T10:11:23+00:00 01.08.2007 12:11
hi *wink*
ach ich liebe diese geschichte *schwärm*
ich schließe mich dem von Lord Rikash an, ich weiß nicht was du hast es ist doch ein tolles kapi.
wenn das andere noch besser wird, ich würde mich nicht beschweren. ^^
mach weiter so!

gez.: blackcat_Alen
Von:  RyuAsuka
2007-07-12T07:57:42+00:00 12.07.2007 09:57
So~, meine Liebste XD

Ich bin sogar die erste, die zu diesem Kapitel nen Kommi schreibt und ich muss ganz ehrlich sagen: Ich versteh dein Problem net XP Mir gefällt das Kapitel gut und ich bin weiterhin gespannt, wie es weitergehen wird^O^~

Gruß und Kuss XD

Dein Lord Rikash Mondschwert *spöttisch verbeug*
Von:  Aranori
2007-01-16T15:33:48+00:00 16.01.2007 16:33
Es scheint fast so, als ob Keiras Abenteuerlust in Naivität umgeschlagen ist. Die Arme!! Und gerade jetzt pausierst du mit Schreiben. Wie gemein! -.- Aber ich weiß ja, woran's liegt. =) Ich freu mich auf die Fortsetzung!!
Von:  Aranori
2007-01-16T15:31:50+00:00 16.01.2007 16:31
"Dressierte Schlampen" ... *lol*
Du hast die Mühe gegeben beim Schreiben. Die eigentliche Schlacht ist für ein Kapitel dieser Länge aber etwas sehr kurz. Und du hättest sie vielleicht besser rüberbringen können, wenn einige Sätze kürzen geraten wären.
Aber insgesamt gesehen gefällt mir dieses Kapitel bisher am besten.
Von:  Aranori
2007-01-16T15:29:33+00:00 16.01.2007 16:29
Oho, hier kommt ja ordentlich Romantik ins Spiel!! Du hast exakt das ausgesprochen, was ich dachte: will Jack Keira oder Kiran? Good job! ^^d
Von:  Aranori
2007-01-16T15:28:01+00:00 16.01.2007 16:28
Bei den ganzen Namen kommt man ja leicht durcheinander. ^^° Aber hier erfährt man zumindest schon mal etwas über den Hintergrund der Story. Das ist gut. ^^
Von:  Aranori
2007-01-16T15:26:55+00:00 16.01.2007 16:26
Da haben die beiden ihre Angst aber schnell verloren ...
Den Titel hättest du überdenken sollen. Nicht, weil er nicht passt, sondern weil er eine Pause durch das Komma enthält. Aber das ist nur eine kleine Anmerkung.
Von:  Aranori
2007-01-16T15:25:39+00:00 16.01.2007 16:25
Beim Lesen hat mich echt die Abenteuerlust gepackt! Ich liebe "Fluch der Karibik", und die Geschichte auf so eine Weise aufzuwickeln (mit den Mädels aus der Zukunft) finde ich interessant.


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