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Lauter Einzelteile

26 Teile des Lebens, die sich Sterben nennen
von

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Abschied

Warum soll man keine Menschen töten?

Weil immer jemand deswegen weint.

Diese Frage und die vermeintliche Antwort darauf las ich in meiner Kindheit in einem Comicbuch, als verberge sich darin eine unheimlich wichtige Erkenntnis, die einen innerlich tief berühren sollte. Aber mal ehrlich: Ist das wirklich so?

Im Grunde genommen gibt es genug Leute, die einsam in ihrer Wohnung verrecken, ohne dass es jemand bemerkt. Alte Menschen, die erst nach ein paar Tagen von ihren Nachbarn gefunden werden, weil diesen im Treppenhaus ein komischer Geruch auffiel. Komischer als sonst, meine ich. Menschen, die von ihren verhungernden Haustieren umgeben an einer Krawatte von der Decke baumeln, als wollten sie nur ihre Seele baumeln lassen. Niemand interessiert sich dafür.

Sollte man sich denn überhaupt dafür interessieren? Oder ist es womöglich egal?

Hierbei erinnere ich mich an eine Beerdigung, von der ich jetzt nicht mehr weiß, wer eigentlich gestorben war, weil solche Veranstaltungen immer gleich ablaufen. Wie Weihnachten, Neujahr oder Hochzeiten sind Beerdigungen nicht dafür prädestiniert, einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen, wenn man zu viele davon erlebt hat. Jedenfalls mussten meine Schwester und ich wegen irgendeiner Sache lachen, lauthals, ohne es unterdrücken zu können, während wir von einigen Seiten böse Blicke ernteten. So ist es also, wenn man auf einer Beerdigung lacht, dachte ich damals.

Ich erinnere mich daran, dass bei irgendeiner Beerdigung, vielleicht war es dieselbe, sich ein paar Leute darüber aufregten, dass ein Bekannter von mir in Jeanshosen aufgetaucht war. Kann man nur in schwarzer Kleidung trauern? Ist man in Jeanshosen automatisch nicht traurig genug?

Und ich erinnere mich heute wie damals an das abgestumpfte Lächeln, mit dem meine Mutter schließlich sagte: "Das passiert halt."

Viel früher dachte ich noch nicht, dass so etwas "halt passiert". Aber da nahm ich auch noch an, man müsse auf Beerdigungen weinen und still sein. Jetzt weiß ich, dass man es auf unterschiedliche Weise hinter sich bringen kann, auch durch Lachen und Langeweile. Das passiert halt. Man gewöhnt sich an alles.

Mit der Zeit wundert man sich allerdings über das, was bei solchen Ereignissen alles erzählt wird. Von wem spricht der Typ da vorn mit seiner behutsam klagenden Stimme? Und außerdem, kann er das nicht schneller machen? Ein gut gemeinter Ratschlag: Man sollte sich für derlei Veranstaltungen stets einen neuen, frischen Redner aussuchen, sonst hört man stets dasselbe Zeug. Dieser Redner sollte nach Möglichkeit keinen Humor aufweisen und ehrlich sein darf er auch nicht. Denn niemand sagt beim Abschied so etwas wie: "Wurde auch Zeit" oder "Na endlich".

Der Tod macht jeden Menschen zum Engel, zum fehlerlosen Nichts.

Sobald jemand "ablebt", erfährt sein ehemaliges Dasein eine Generalüberholung. Das gestorbene Leben ist ja sowieso schon tot. Alles im Leben des Toten ist mit einem Schlag höchst ehrenhaft gewesen. Jeder trauert nach Plan. Natürlich hat der Verstorbene keine Fehler und er hat sie auch zu Lebzeiten nicht gemacht, das versteht sich von selbst. Gegen die eigene Perfektion kann man sich im Tod ohnehin nicht mehr wehren.

Aber was bleibt am Ende? Jeder Mensch ist nur eine Zusammensetzung lauter Einzelteile, Kopf und Glieder und allem Fleisch daran und einem Herzen und einem Gehirn, dem man fälschlicherweise solche lächerlichen Namen wie "Geist" oder "Persönlichkeit" verpasst hat. Das alles fein säuberlich drapiert in einem Holzkasten oder verbrannt zu einem Haufen Asche in einem simplen Krug.

Diesem unbedeutenden Rest erweist man dann die letzte Ehre.

Jedes Mal mache ich mir einen Spaß daraus, mich von meinem eigenen Verhalten überraschen zu lassen, ob meine Hand ein wenig Erde ins Grab wirft, obwohl für das Zuschütten eigentlich der Friedhofsbagger zuständig ist, oder ein paar Blumenblätter oder beides, was meist vorkommt, oder einfach gar nichts, man stelle sich das mal vor.

Weil so etwas halt passiert.

Bagatelle

Sie kann nicht mehr. Ihre Hände krallen sich in den schwarzen Strähnen ihres Haares fest. Die Finger zerren und kratzen und finden doch keinen Halt, weder an den eigenen schmalen Schultern, denen Atlas gespottet hätte, noch an den wankenden Beinen, die kaum die geringe Last tragen können. Sie sinkt hinab auf die Knie und stützt sich nur noch mit den zitternden Armen vom Boden ab, bevor auch diese nachgeben. Niedergedrückt liegt sie da. Das Gewicht kann sie spüren, doch sieht sie es nicht. Schon lange nicht mehr. So liegt das junge Mädchen in der Mitte des Zimmers. Ein kleiner Raum, der sie umgibt, der ihr oder dem sie gehört, der sie gefangen und am Leben hält. Kein Geräusch mehr, nur das Hämmern ihres Herzens, das tapfer gegen den Rhythmus der Welt ankämpft. Und unterliegt.

Sie atmet flach. Ein Stechen durchdringt ihre linke Brust bis zum Rückgrat. Dass ihre Hände sich krampfhaft suchend strecken, merkt sie kaum, während Tränen sich in ihre Haut beißen und im freien Fall das schwarze Haar tränken. Unbewusst findet sie endlich den Halt, den sie suchte. Mit der winzigen, unscheinbaren Schachtel. Den unauffälligen Hüllen. Und dem hauchdünnen Metallstreifen, dessen Form sie immer an die Kennmarken der Soldaten erinnert. Das Leben eines Kriegers, der kein Held mehr sein kann, reduziert auf ein Minimum an Information. Zugleich schenkt ein solches Metall auch anders Rettung. Durch Schmerz. Vielleicht auch mit dem Tod. Das Mädchen schaut zwischen dem Riss der Rasierklinge hindurch an die Wand ihres Käfigs und in das Universum dahinter. Nicht ein Stern ist zu sehen. Nur lauter Einzelteile eines verlorenen Horizonts. Langsam lässt sie die Klinge sinken. Versinken in ihrem eigenen Leib, des Kindes Haut und Fleisch. Der Riss, in welchem sie zuvor das Universum sah, ist verschwunden und zieht sich nun durch ihren Arm. Vom Makrokosmos zum Mikromort. Manchmal ist der nächste Tod nur einen Blick entfernt.

Das Hämmern wird lauter. Im Vakuum ihres Inneren hört das Mädchen kein Klopfen, kein Hämmern, aber der Boden trägt die Vibration an sie heran. Müde öffnen sich ihre Lider und ein paar Schritte weiter die Tür. Dann begegnet das Mädchen den Augen ihres Ebenbildes, ihrer Schwester. Kein Zwilling und doch von gleicher Art. Bereits in der ersten Sekunde spricht beider Mimik alle Emotionen aus, während die Schwestern einander betrachten. Erschöpfung im Gesicht der einen. Schrecken und Erkenntnis im Gesicht der anderen. Noch bevor jene, die im Türrahmen steht, den Atem zum Sprechen findet, weiß die am Boden Liegende bereits, was ihre ältere Schwester sagen will.

"Ich wusste es", formuliert diese nun leise. "Du hast schon wieder meine Rasierklingen genommen. Kauf dir endlich ein paar eigene!"

Genervt richtet sich die Jüngere auf. Voller Trotz und Verzweiflung setzt sie zu einer Entgegnung an. "Sei nicht so geizig. Du schneidest dich doch sowieso nur abends nach dem Abschminken."

"Mutter!", ruft die andere bereits. "Kannst du nicht mal ein Machtwort sprechen?"

"Was ist denn?", fragt die Frau mittleren Alters, die nun im Flur erscheint und ihre beiden Töchter mustert. "Hat deine Schwester etwa...?"

"Ja, hat sie!", fällt das ältere der Mädchen unterbrechend ein. "Sie hat schon wieder meine Rasierklingen benutzt."

"Aber Schatz, das bleibt doch in der Familie."

"Dann sieh dir das an." Genervt entwindet sie ihrer Schwester die Rasierklinge und hält sie vor das Gesicht der Mutter. "Nie, wirklich nie macht sie die nach dem Benutzen sauber. Das ganze verkrustete Blut daran, schau doch mal, das ist so widerlich!"

Tadelnd blickt die Mutter ihre jüngste Tochter an.

"Deine Schwester hat Recht. Wenn du schon ihre Sachen benutzt, dann behandle sie auch ordentlich. Letzten Monat habe ich schon nichts gesagt, wegen der Blutflecken im Teppich."

"Ihr übertreibt", verteidigt sich die Jüngste stur. "Wie kann man als Schwester nur so spießig sein? Mama, weißt du, was sie in der Schule über sie erzählen? Einige behaupten, sie hätte nicht mal einen Psychologen."

"Kleines, jetzt reicht es aber", schimpft ihre Mutter. "Ich habe dir schon tausend Mal gesagt, auf solche Gerüchte darf man gar nicht hören."

Countdown

Und wieder ist ein Jahr vergangen, die Pforten zu nächsten Neuanfängen sind geöffnet, alte Meinungen können abgestreift werden, kurz: ein neues Leben beginnt.

Wie haben Sie Ihren Jahreswechsel vollzogen? Doch hoffentlich auf angenehme Art und Weise, denn mich persönlich stimmt diese Wende immer traurig. Manche Leute sitzen jedes Jahr im Wohnzimmer und sehen sich Dinner for One an, wobei fast, ich betone fast allen Zuschauern die allzu tragische Begebenheit dahinter entgeht. Man trinkt, man plaudert mit Bekannten oder bleibt allein. Nun gut... man besäuft sich, streitet mit Bekannten und bleibt allein. Doch möchte ich nicht zynisch erscheinen. Letztendlich sind das auch nur Bagatellen in Anbetracht der Wucht des alten Jahres, das sich unaufhaltsam in den Abgrund der Vergessenheit stürzt.

Mit einem lauten Knall befördert man sich in neue Entschlüsse, neue Vorsätze und Entscheidungen, und bemerkt dabei nicht, dass die paar Sekunden zwischen zwei Jahren völlig unbedeutend sind. So unbedeutend wie alle anderen Sekunden. So unbedeutend wie die Silvesterraketen, die am nächsten Tag nur noch als lauter Einzelteile die Straße verunstalten, anstatt in bunten Lichtern den Himmel zu schmücken.

Meist steht am Silvesterabend der Weihnachtsbaum noch im Wohnzimmer, direkt neben dem Fernseher, auf dessen Bildschirm eine der unzähligen Silvestersendungen läuft. Der geschmückte Baum sieht jetzt schon ziemlich lächerlich aus, da er entweder bereits nadelt oder, falls er unecht ist, sowieso nur dümmlich krumm im Wege steht. Sollte man keinen Baum besitzen, macht das die ganze Situation auch nicht weniger trostlos.

Sobald sich alles dem Ende entgegenneigt, steht man gemeinschaftlich im Wohnzimmer, jeder ein Glas von dem billigen Sekt in der Hand, da man nicht das Geld hatte, sich Champagner zu leisten, und zählt den Countdown in der Flimmerkiste herunter.

...Drei ...Zwei ...Eins ...Null!

Alles jubelt. Jeder tut so, als würde er sich freuen. Man stößt extra lang mit den Sektgläsern an, um es noch ein wenig hinauszuzögern, sich das Gesöff in den Rachen gießen zu müssen. Viele nutzen dann die Methode, auf Freundschaft, wie es im Volksmund heißt, zu trinken, damit es hoffentlich nicht auffällt, dass man nur kurz am Glas nippt. Es sei denn, man war so klug, sich vorher zu betrinken, dann schmeckt das Zeug nur halb so schlimm.

Schließlich gehen alle nach draußen, man schaut dem Feuerwerk zu oder beteiligt sich sogar aktiv daran. Jeder Mensch hat dieses bestimmte Glitzern in den Augen. Sie wissen schon, was ich meine: die Tränen in den Augen, da man den Sekt gar nicht so widerlich in Erinnerung hatte. War das im letzten Jahr auch schon so gewesen?

Nun steht man auf der Straße, blickt sich um und erkennt viele neue und alte Gesichter. Dort ist der Nachbar, das ist der Enkel, den vorbeilaufenden Mann kennt man nicht... und plötzlich denkt man sich: Eigentlich... ja, eigentlich kennen wir uns alle gar nicht, diese Leute sind wie Fremde. Jeder einzelne.

Im nächsten Moment geht man noch einen Schritt weiter. Das Jahr ist vorbei. Wie war es überhaupt? Hat man irgendetwas erreicht? Sie wissen sicher, wovon ich spreche.

Wussten Sie, dass sich zu Neujahr unglaublich viele Selbstmorde ereignen? Es ist erstaunlich, es gibt tatsächlich noch kluge Menschen, denen eines klar ist: das letzte Jahr war beschissen, das nächste wird auch nicht besser sein. Auf ein Neues?

Daneben

Man kann auf die Familie verzichten, dachte ich am Ende des Jahres. Wie sich schnell für mich herausstellte, hat es hervorragend funktioniert.

Am vorneujährlichen Tag entschieden wir uns dazu, nicht bei der Familie zu bleiben, sondern zu meinen Freunden zu gehen. Verstehen Sie mich nicht falsch. Freunde sind nicht nur Bekannte. So fremd man ihnen ist, so nah steht man ihnen auch. Blut ist dicker als Wasser? Das sollte man überdenken.

Natürlich ließen meine Partnerin und ich nicht davon ab, schon im Voraus ein wenig intus zu haben und darüber hinaus nicht allzu früh auf der Feier zu erscheinen. Wir beide kommen lieber stilvoll zu spät. Endlich angekommen, nur ein wenig angetrunken, starrten uns unbekannte Gesichter entgegen, ein paar Typen, die es schick fanden, sich mit einem Bier in der Hand auf der Treppe zu versammeln, wie ein paar Obdachlose vor der Armenspeisung. Wortlos gingen wir an ihnen vorüber, ignorierten die Blicke und wurden bald von der Gastgeberin mit den Worten begrüßt: "Gott, ich bin schon so betrunken. Ich habe mit deiner besten Freundin rumgeknutscht."

Zur näheren Erläuterung: Meine beste Freundin sieht aus wie das komplette Gegenteil von mir, steht auf Oldies, trägt die dementsprechenden Klamotten und mag ansonsten Tiere und Pflanzen. Desweiteren sagte sie mir einst, sie würde nicht auf Titten stehen. So viel dazu.

Frau Anders, die Gastgeberin, ließ es sich nicht nehmen, das Gesagte noch in der Tür zu demonstrieren und in der Mundhöhle meiner Hippie-Freundin herumzulecken. Ich hoffte bloß, dass es bei dem einen Loch bleiben würde. Das war also unser Einstieg.

Durch die Wohnung dröhnte Rammstein und an einigen Stellen saßen suspekte jugendliche Männer, die ich nie zuvor gesehen hatte und die wirkten, als seien sie von der Straße aufgelesen worden. Waren sie vermutlich auch. Uns dreien – also meiner nicht anwesenden Schwester, meiner Partnerin und mir – ist das auch schon mal passiert, als meine Mutter uns ausgesperrt und den Schlüssel von innen in die Tür geschoben hatte. In derselben Nacht landeten wir auf einer Feier irgendeines Fremden. Seine hell erleuchtete Wohnung in einem Mietshaus hatte uns angelockt.

Doch zurück zur Neujahrsparty. Wir betraten das Zimmer der Gastgeberin. Nicht ohne Schwierigkeiten, da einer der Jugendlichen direkt vor der Tür lag. Sein Mund war von etwas Rotem verschmiert, als er sich schwerfällig erhob und mit einem anderen Kerl aus dem Zimmer verschwand. Keine Sorge, das dient nicht zu Ihrer Beunruhigung. Mir schien es nur eben erwähnenswert. Oder erinnerungswert, immerhin habe ich es aus unerfindlichen Gründen nicht vergessen.

Frau Anders lag mittlerweile auf dem Bett und war damit beschäftigt, einem Mädchen die Zunge in den Hals zu schieben. Wie? Meine Retrofreundin? Nein, dies wiederum war eine rothaarige und selbsternannte Gruftschlampe, die ich eher als Gruftschönheit bezeichnet hätte, und nebenbei die beste Freundin unserer Gastgeberin. Oder feste Freundin? Sie waren halt sehr, sehr gut miteinander befreundet. Wie auch immer.

Wir sahen uns um. Das einzige Licht in dem vollständig weißen Zimmer ging von Kerzen aus. Eine Menge Fotos von Bands und Leadsängern hingen in schwarzweiß an den Wänden, Poster von den Murderdolls, Bilder von Luis Royo. Ein Seil hing von der Decke. Falls es Sie interessiert: Die Frage, ob sie schon einmal versucht hätte, sich damit zu erhängen, verneinte Frau Anders. Ich wusste nicht, ob ich ihr glauben sollte, aber immerhin lebte sie noch.

Wir setzten uns auf das Bett, sodass die Gastgeberin und erwähnte Gruftschönheit ihr Spiel bald auf den Schoß meiner Partnerin verlegten. Nun gibt es erst einmal nur Belanglosigkeiten zu erzählen. An dem Bett waren übrigens ebenfalls Seile befestigt, an dem man bequem jemanden festbinden konnte, sodass meine Partnerin und ich... aber lassen wir das.

In den wenigen Atempausen erzählte uns Frau Anders, sie besäße seit der Hochzeit nicht mehr ihren alten, hier nicht aufgeführten Namen, an den ich mich, ehrlich gesagt, sowieso nicht erinnere. Stattdessen habe sie nun, welch Überraschung, einen neuen Nachnamen, doch wenn man sie fragte, wie sie jetzt hieße, antwortete sie stets, sie würde nun Anders heißen. Bei ihren Gesprächspartnern rief dies meist Unverständnis und weitere Fragen hervor, bei unserer überforderten Partygesellschaft hingegen sorgte diese Geschichte auch nach der dritten Wiederholung noch für betrunkenes Gelächter.

Richtig interessant wurde es erst, als Frau Anders nach dem stumpfen Messer auf ihrer Kommode griff und es über ihren Arm zog. Die Schnitte waren normal, bluteten den Erwartungen gemäß, sodass man damit auf ihrer schneeweißen Haut malen konnte, was sich meine Partnerin und ich nicht entgehen ließen. Jedoch konnte man mit solch einem stumpfen Messer nicht mehr als Malerei erwarten. Also gab ich ihr das meinige, welches sich zufälligerweise in meiner Tasche befand. Ein wirkungsvolleres Resultat stellte sich heraus. Der Abend schien nett zu werden, noch bevor es zehn Uhr wurde. Ich musste feststellen, dass sich das binnen kurzer Zeit verstärkt bestätigte. Frau Anders kam nämlich auf die geniale Idee, gleich ihre Rasierklinge zu benutzen, damit es mehr brächte. Das hat es auch.

Meine Partnerin war im Nachhinein der Meinung, dass die Wunde, die sich unsere Gastgeberin am Oberarm zufügte, nicht breiter offen stand als ein bis zwei Zentimeter. Für mich sah es bereits nach drei Zentimetern aus, aber ich denke, diese Täuschung stellte sich nur durch den Alkohol ein. Wer kann so etwas später noch beurteilen? Wir hätten ein Lineal benutzen sollen. Das Blut suppte noch nicht einmal heraus, nur das Fleisch wölbte sich nach oben, sodass unappetitlich weise Fettzellen die Wunde gänzlich ausfüllten. Sah im ersten Moment wie ein aufgerissenes Sitzpolster aus, aber lange würde der Körper wohl nicht brauchen, bis er schnallte, was passiert war. Meine Partnerin und ich blickten uns fragend an, während die Verletzte beteuerte, es sei nicht so schlimm, nur die Haut sei angekratzt. Ihre Stimme klang dabei sehr hysterisch. Als ihr Arm endlich das unvorhergesehene Loch bemerkte, wollte Frau Anders unbedingt das heraustretende Blut ablecken, woran ich sie natürlich hindert. Mir wurde klar, dass die Sache schlecht so bleiben konnte. Frau Anders jedoch entschloss sich bereits vor uns dazu, aufzustehen und ins Bad zu gehen, nicht ohne Blut auf der Kommode, dem Boden, dem Türrahmen und dem Albinohasen zu verteilen.

Meine Hippiefreundin, die als einzig andere Anwesende neben uns saß, sagte kurz, das Ganze sei ja wohl widerlich, es würde sie aber nicht weiter interessieren oder tangieren. Damit war das also auch erledigt und meine Partnerin und ich konnten der Verletzten ins Bad folgen.

Dort hatte Frau Anders bereits das Wasser aufgedreht, um ihren Arm darunter zu halten. Ich brauche die Gründe sicher nicht zu erklären, weshalb wir sie resolut daran hindern mussten. Wundverschließung kann eben nur schwerlich einsetzen, wenn Blut im Kontakt mit Wasser nicht gerinnt. Wollte Frau Anders sich umbringen, wäre das sicher eine gute Methode gewesen, obwohl der Erfolg dennoch fraglich blieb.

Im nächsten Augenblick rannte sie wie ein aufgeschrecktes Huhn aus dem Bad zurück in ihr Zimmer und fing an eine Mullbinde um ihren Arm zu wickeln. Ich nahm ihr die Arbeit ab, da sie sich nicht davon abbringen ließ. Eigentlich hätte man warten müssen, vielleicht hätten meine Partnerin und ich es sogar in Erwägung gezogen, die Wunde mit einem Tacker zu schließen, das wäre am sichersten gewesen. Möglicherweise fand ich diese Option auch nur wegen meines Alkoholpegels in diesem Moment so sinn- und reizvoll. Nach meiner Vorstellung wäre hierauf ein Druckverband über die Wunde gekommen und letztlich die Mullbinde. Stattdessen fingen wir mit der Mullbinde an. Den Druckverband holte meine Partnerin aus dem Verbandskasten im Zimmer, der übrigens nicht ohne Grund dort stand, und das Tackern ließen wir ganz bleiben. Nun war der Arm notdürftig abgeschnürt, auch wenn sich der Verband vom Blut bereits rot färbte.

"Irgendwie ist es lustig", sagte meine Partnerin zu mir, "dass ich Blut an den Händen habe, das weder von dir noch von mir stammt."

Als die anderen Anwesenden im Haus, darunter der Bruder von Frau Anders, das Geschehen endlich bemerkten, ging das Gehetze erst richtig los. Irgendwelche Besserwisser meinten, eine Hauptschlagader könnte getroffen worden sein und Frau Anders müsse unverzüglich ins Krankenhaus. Selbstredend wollte Frau Anders das nicht. Nichts lag ihr ferner. Verständlich.

Man schrie sie an, sie schrie zurück, einige Freundinnen von ihr weinten und meine Partnerin und ich tauschten debil grinsend amüsierte Blicke. Unter der dröhnenden Musik hörte ich um einiges lauter Einzelteile einer offenbar häufig geführten familiären Diskussion, der ich in meiner Trunkenheitsumnachtung nicht mehr folgen konnte oder wollte. Irgendwann wurde Frau Anders ins Bad gezerrt. Drei Männer, darunter ihr Bruder und der Bruder ihrer Freundin, redeten auf sie ein. Verbale Massenvergewaltigung. Moralapostel bei der Arbeit. Frau Anders wusste sich nicht mehr zu helfen, kauerte sich zusammen, schaukelte wie ein Geistesgestörter aus einem dieser klischeebeladenen Hollywoodfilm vor und zurück und hörte irgendwann mit der Gegenwehr auf, um sich berieseln zu lassen. Leider ohne Erfolg für die Apostel.

Während diverse Freundinnen heulend im Zimmer saßen und die Jungs sich mit Frau Anders im Bad eingeschlossen hatten, standen meine Partnerin und ich im Flur zwischen beiden Zimmern. Mittlerweile hallte dumpf die Stimme von Ville Valo durch die Holztür. Er sang 'Gone with the Sin', während wir an der Wand lehnten und müde belustigte Blicke austauschten. Lachen musste meinereiner jedoch erst, als ich auf das Schild an der Tür sah. Ein Bild hing dort von Samsas Traum, unter dem groß die Worte standen: "Heute Nacht sterben wir!"

Wir? Nicht ganz.

Zeitsprung. Nach dem vielen Gerede, Geschrei und Blut saßen wir alle erneut gemütlich zusammen im Zimmer. Noch immer dröhnte Musik von HIM durch den Raum. Sehr passend.

Der Gastgeberin ging es soweit wieder gut und ich schloss kurzerhand die Wette ab, sie würde bis zum Jahreswechsel bestimmt überleben. Das tat sie dann auch. Sie überlebte.

Mühelos und nur wenig schwankend konnte sie von ihrem Bett aufstehen, als ich sie kurz nach Mitternacht mit einigen anderen in die Küche schleifte. Gut, wir hatten den Wechsel verpasst, aber was machte das schon? Alle standen halb oder komplett betrunken in der Küche, wir hoben die Gläser und wünschten ohne Countdown, da das ein wenig zu spät gekommen wäre, ein schönes neues Jahr. Jeder goss sich das Billiggetränk in den Rachen und seltsamerweise schmeckte es gar nicht so schlecht, zumindest für mich. Der Alkohol in meinem Blut tat fleißig seine Arbeit und hieß jeden brüderlichen Neuzugang willkommen.

Was gibt es sonst noch zu erzählen? Das Feuerwerk war schön von drinnen anzuhören, als wir uns kurzentschlossen zu fünft ins Bett legten, welches eigentlich selbst für zwei schon zu klein war. Die Handschellen in meinem Rucksack fanden in dieser Nacht leider keine Verwendung mehr, aber es war trotzdem nett.

Am nächsten Morgen war der Arm von Frau Anders bereits ein wenig blau und eiskalt geworden, aber es ging, wie sie selbst versicherte. Das erfuhr ich jedoch nur per Telefon, da meine Partnerin und ich uns bereits vorher dazu entschieden hatten, den Rest der Nacht besser zu Hause zu verbringen. Was mittlerweile mit ihrem Arm ist, weiß ich nicht. Ihr Bruder wird sie verpfiffen haben und dann muss Frau Anders wahrscheinlich, wenn sie sich nicht zu wehren weiß, wieder ins Sanatorium. Geht mich ja eigentlich nichts mehr an. Ich hatte mein schönes Silvester. Schönes Silvester? Das letzte Jahr klebt mir noch wie Scheiße unterm Schuh. Im nächsten Jahr werde ich mich erst einmal damit beschäftigen, diesen Mist aus den Rillen herauszukratzen, bevor ich mir solch tiefschürfende Fragen beantworten kann.

Alles in allem, wenn ich rückblickend darüber nachdenke, war der Abend wohl ziemlich daneben.

Eidesis

Als sie auf das Mauerwerk der Uhr sah, waren gerade zwanzig Sekunden vergangen, seit sich die vierzehnte Minute der zweiundzwanzigsten Stunde verfestigt hatte. Gemeinsam mit dem Massiv der einundzwanzigsten Sekunde drehte sie sich wieder um.

Der Faden sirrte an ihrer behauenen Handinnenfläche entlang und spannte sich kraftvoll an der Wand ihrer Fingerkuppe, sodass es fast wehtat. Doch sie war stärker. Schon längst hatten sich Schuppen auf ihre steinernen Augen gelegt, auch wenn sie nicht drei von ihnen besaß und nur ein Lebensalter zählte, das wie ein Fels vor ihr selbst stand. Sie war sich viel zu sicher, um dieser Mauer nachgeben zu können.

Sie hörte den in Stein geschlagenen Geräuschen der Uhren zu, leiser und lauter Einzelteile eines labyrinthischen Urgesteins schlugen im pochenden Herzen, während der kräftige Faden über ihre Finger stieß. Es klang penetrant und überheblich, doch sie mochte das harte Klacken und Ticken der Zeiger, das stumme Rieseln des aus Millionen Steinen bestehenden Sandes, das Zerren an den kalten Ketten und blechernen Zapfen.

Mit den dürren, für ihre paranoide Sicht hautlosen Knochenfingern griff sie nach der ehernen Schere. Erst jetzt fiel ihr auf, dass der Faden rot war. Wie Mauerverputz, der bereits alt geworden war, bröckelte die Farbe in ihre blockierte Sicht. Doch als sie ihn zerschneiden wollte, stieß sie vor ein Hindernis, sodass nur Mörtel und Ziegelsteine zu unterscheiden waren, die sie von allen Seiten einschlossen. Noch immer bahnte sich der Faden einen Weg über die verschiedenen Unebenheiten ihrer Handfläche. Vertrauensvoll folgte sie ihm in seinen Wirrungen. Harte Rhythmen trieben ihre Gehirnwindungen im Kreis. Sie fand keinen Ausweg aus ihrem wie Stein schweren Schädel.

Fadenscheinig ragte das massige Monstrum vor ihr auf, als sei es morsch geworden, machtlos, kraftlos.

Sie grinste hart.

Der rettende rote Faden, ihre hagere Hand, die die starre Schere hielt, die kalte Spitze, sie trafen, einander, unaufhaltsam, unausweichlich, unauslöschlich, tot.

Fest

Das wird ein Fest. Die Alten und Guten stehen längst bereit und warten. Sind von ihren Meinungen überzeugt, tragen Flaggen und Kreuze vor sich her durch die Stadt. Halten Abstand zu uns, als wollten sie uns zeigen, dass wir nicht zu ihnen gehören. Machen das nur im festen Glauben, wollen ihre Kinder beschützen, ihre Familien, ihre Kultur und alles, was man vor dem Anderssein beschützen muss.

Aber wir sind nicht anders. Wir schützen die Unschuld, die sich nicht wehren kann.

Wir beschützen die Mutter mit ihrem Baby vor den Schlitzaugen, die ihr die Nahrung für den Nachwuchs wegkaufen. Unsere hochwertigen Produkte wollen die in die Welt verschiffen, die Mafia steckt da auch mit drin. Jeder nur zwei, maximal drei Packungen täglich. Wir erkennen euch sogar, wenn ihr mehrmals am Tag auftaucht und euer krummes Ding durchzieht. Immer auf die Fresse.

Wir beschützen die verhüllten Frauen, die ein paar Schritte weiter hinten laufen müssen. Wir schlagen ihre Männer zu Brei, reißen ihnen die Tücher herunter und fassen ihre Haare an. Das finden die schlimm, können dann nicht mehr heiraten und dann geht es ans Weiberabschlachten in den eigenen Reihen. Daneben stehen wir und lachen.

Wir beschützen das kleine Mädchen auf der Rutsche vor dem Mann in Orange, während Pfennige vom Himmel fallen. Das Geld ist aus der aufgerissenen Tasche geflogen, als wir den Kerl am Kragen und an der Hose packen. Stoff reißt unter unserem Griff. Wir halten fest und schlagen fest zu, bis das Blut auf den Gehweg spritzt. Es ist ein herrlicher Tag.

Unsere unehrlichen Mitstreiter stehen am Rand, halten anders als wir nur weiter ihre Flaggen und Kreuze fest und sind in Wahrheit froh, dass einer den Dreck wegräumt. Sind eigentlich froh, dass sie was zum Gucken haben. Dann schaut nur her, schaut uns zu.

Wir sind das Volk. Wir sind die Macht. Wir sind das Fest.

Die Punks singen, unser Fußtritt sei ein Schrei nach Liebe. Wir sagen, unser Fußtritt ist unser Standpunkt der Zusammengehörigkeit. Manche wechseln von links nach rechts und umgekehrt, doch unser Wort ist dasselbe und unsere Faust so fest wie das Wort.

Die Medien behaupten, wir hätten keine Argumente, aber was sie sagen, ist Rabulistik. Auch unsere Köpfe stammen aus dem Bildungsbürgertum. Lügenpresse, auf die Fresse. Die Fingerknöchel riechen nach Tod und Loyalität. Pack nennen sie uns und treffen damit jene fahnentragenden Köpfe, die getroffen werden wollen. Pack mit an, alter Mann, rufen wir und lassen für sie unsere Fäuste sprechen. Wir brauchen keine Argumente, denn wir haben eine gemeinsame Meinung. Was alle denken, ist Recht und richtig. Gemeinsam sind wir stark. Nur gemeinsam haben wir Macht und Macht stärkt unseren Gemeinsinn. Macht durch Disziplin, Gemeinschaft und Handeln! Das Zusammengehörigkeitsgefühl hält uns fest.

Unsere Idee bedeutet nicht die Unterordnung des Ganzen unter den Einzelnen, sondern die Hingabe des Einzelnen für das Ganze. Einer für alle, alle für das Ganze. Lauter Einzelteile sind sie, die laute Gesamtheit sind wir.

Es gibt kein Ich und kein Du. Es gibt nur uns und die Anderen.

Gedankenflug

„Entschuldigen Sie bitte, mir ist gerade mein Kopf explodiert.“

„Ach, dann ist das Ihre Hirnmasse?“

„Ja, ich mache das gleich weg.“

„Das will ich Ihnen auch geraten haben. Wo kämen wir denn da hin, wenn jeder hier seinen Dreck herumliegen lassen würde. Es liegt schon genug Müll auf der Straße.“

„Da haben Sie Recht. Es war auch gar keine Absicht.“

„Dann beeilen Sie sich aber, bevor der Verwalter kommt. Der sieht es nicht so gern, wenn lauter Einzelteile überall verstreut herumliegen, Gehirnmasse von irgendwelchen Menschen und so ein Zeug. Zu viele Gedanken auf einmal, verstehen Sie?“

„Ja, durchaus. Wann kommt denn der Abdecker?“

„Wegen der Proteine?“

„Kann man daraus noch Geld machen? Ich dachte, das wäre nur noch Müll.“

„Müll ist relativ, schauen Sie sich doch nur mal um. Diese Kanne zum Beispiel. Das Wasser hier.“

„Was ist das?“

„Die Ursuppe, quasi. Der Urschleim, wenn Sie so wollen, zumindest in Verbindung mit weiteren Zutaten.“

„Sind diese Zutaten, von denen Sie sprechen, etwa da drin? Das ist doch ein Krug.“

„Nein, eine Urne.“

„Ein Topf.“

„Nein, eine Urne.“

„Was ist das?“

„Was ist, vergeht. Was einst war, ist nicht mehr. Was nicht mehr ist, das war einmal. Merken Sie sich das.“

„Nun, was war das dann?“

„Meine Mutter.“

„Ich glaube kaum, dass sie es in Ordnung findet, hier verstreut zu werden.“

„Asche zu Asche und Staub zu Staub. Man nehme Wasser aus einer Kanne, unter ständigem Rühren mit der Asche vermischen, bis sich eine zähe Masse ergibt. Was zählt, ist das, was dabei hinten rauskommt, was bei Wasser und Erde logischerweise Matsch ist.“

„Sprechen Sie nicht so über Ihre Mutter.“

„Ich will gar nicht wissen, wie lange sie brennen musste. Allein das Herz ist schon ziemlich zäh. Früher hat man fremde Menschen, die man nicht als Menschen akzeptierte, für Kannibalen gehalten.“

„Wie kann man jemandem unterstellen, ein Kannibale zu sein, wenn man ihm nicht zugesteht, Mensch zu sein?“

„Angeblich sollen sie einem das Herz aus der Brust gerissen und gegessen haben. Stellen Sie sich das mal vor, ein kräftiger Muskel, der ein ganzes Leben lang arbeitet. Das braucht eine Menge Zeit in einem ziemlich heißen Topf. Eine wirklich anstrengende Arbeit, so ein Leben zu zerlegen.“

„Ich glaube wirklich nicht, dass Ihre Mutter damit einverstanden wäre. Mein Hirn liegt da schließlich auch noch rum.“

„Wussten Sie, dass, genauer betrachtet, das Gehirn nur ein Klumpen Matsch ist?“

„Wir sind aus der Erde entstanden und gehen wieder in sie ein, das ist wohl wahr. Irgendwelche Leute, wie beispielsweise Sie jetzt, können aus dem Schlamm einen Kuchen bauen.“

„Einen Mutterkuchen, quasi. Nehmen Sie sich ruhig ein Stück.“

„Nein, danke.“

„Greifen Sie zu. Das hätte auch ich sein können. Aber was haben Sie denn dort?“

„Das ist ein Double-Action-Revolver.“

„Oh, der ist aber schwer.“

„Ja, Sünden wiegen immer schwer, nicht wahr? Oh, bitte halten Sie ihn nicht an ihre Schläfe.“

„Wieso denn nicht?“

„Setzen Sie hinter dem Ohr an, sonst sterben Sie vielleicht nicht, sondern werden nur blind.“

„Keine Sorge, das bin ich schon.“

Heimatfront

Wir wussten nicht, wohin wir laufen sollten, wohin sie schießen würden. Die Kugeln fitschten über die Straße, aber sobald man sie hörte, war es bereits zu spät. Die Flieger kamen so tief herunter, dass man sogar die Leute sehen konnte, die in ihnen saßen.

Die Menschen brannten, als die Bomben herabfielen. Phosphorbomben. Viele sind in die Flüsse gesprungen, obwohl die Strömung sie nach unten ziehen konnte. Zuerst verbrannt, dann ertrunken.

Mir wurde schlecht, als unser Funkgerät die Worte abfing:

"Ich sehe hier lauter Einzelteile, gute Arbeit."

Aber sie konnten ja nicht sehen, wer hier unten starb. Und sie hatten Recht, denn von den Menschen blieb nicht viel übrig.

"Tritt ihm mal in die Seite", sagte der eine, während er sein Gewehr über die Schulter warf, "vielleicht lebt er noch."

"Blödsinn, schau dir doch mal den Bauch an. Das sind bestimmt keine Blähungen."

"Bisschen mehr Respekt, wenn ich bitten darf."

"Wieso? Der Tod hat doch auch keinen."

Am Rande hatte man große Becken und Eimer aufgestellt, um die einzelnen abgerissenen Gliedmaßen darin zu sammeln. Auf den unkenntlichen Körperteilen lag eine Haut aus feuchtem, menschlichem Haar.

"Helm ab zum Gebet!"

Nach dem Kampf nahmen alle Soldaten die schweren Eisenhelme vom Kopf und beteten, auch wenn sie schon lange nicht mehr an Gott glaubten. Einmal hörte ich einen sagen:

"Jesus kann mich mal gepflegt am Arsch lecken."

Auf meiner Suche landete ich schließlich beim Friedhof, wo die Soldaten ein paar Löcher gruben, um die toten Körper da reinzuwerfen. Einer musste es ja machen, sonst türmten die sich noch bis zum Himmel.

"Wen suchst du? Dann geh mal hinter die Leichenhalle, da liegen noch welche."

Ich war noch ein Kind, doch das interessierte niemanden. Die Toten waren alle nebeneinander aufgebahrt, ab und zu notdürftig mit einem Tuch bedeckt. Während ich auf meiner Suche die gesamte Reihe entlangging, schauten mich einige von ihnen an. Und grinsten.

Intus

„Warum hast du es mir dann erst vorgeschlagen?“

„Ich weiß nicht“, antworte ich in den Telefonhörer, was nur zur Hälfte stimmt, „vielleicht aus Gewohnheit. Ich habe nicht darüber nachgedacht.“

„Wie sooft“, kommt die abwertende Antwort. Ich seufze und sage nichts dazu. Eigentlich weiß ich ganz genau, wie ich auf die Idee kam. Mir war durch den Kopf gegangen, dass ich in meinem Zustand auf keinen Fall hätte Auto fahren können. Und ich habe mich gefragt, wie lange es dauern würde, bis ich mich wieder unter Kontrolle hätte. Wann wäre es nicht mehr gefährlich? Es war idiotisch und unbedacht, auch nur auf die Möglichkeit anzusprechen. Hätte ich meinen Mund gehalten, wäre es kein Problem gewesen. Nur weil ich die Wahrheit nicht ausspreche, heißt das nicht, dass ich lüge.

Eine lange Pause entsteht zwischen uns. Ich gebe mich der Illusion hin, sie am anderen Ende der Leitung gleichmäßig atmen zu hören, um den durch die Stille ausgelösten Druck auf meinen Ohren zu ignorieren. Ich schließe die Augen und stelle mir ihr Gesicht vor, ihre leicht geschminkten, geschwungenen Wimpern und den rötlichen Schimmer auf ihren Wangen, wenn sie wütend ist oder erregt. Ich glaube sie sogar zögern zu sehen.

„Hast du in letzter Zeit mal von unserem ehemaligen Kunstlehrer gehört?“, fragt sie unvermittelt.

„Nein, wieso? Ist was passiert?“

„Ich habe gehört, dass er jetzt zum dritten Mal in der Psychiatrie war. Er soll sogar einen Stuhl nach einem seiner Schüler geworfen haben.“

„Wundert mich nicht. Ich würde auch mit so einigen Stühlen um mich werfen, wenn sie griffbereit wären.“ Die Erwiderung wirkt emotionslos, obwohl es mir die Kehle zuschnürt. Mein Mund ist trocken, sodass ich nach dem Glas auf dem Tisch greife und einen Schluck trinke. Ich denke relativ oft an meine zurückliegende Jugend, an die Menschen, die mich prägten und ihre Zeit mit mir verschwendeten, Lehrer, die mich mit Kreide bewarfen, weil ich im Unterricht schlief, und Freunde, die sich mit mir betranken und lachten. Und unter all den wichtigen, unbedeutenden Gesichtern sticht sie hervor, damals wie heute, immer nur dieses eine Mädchen mit dem provozierenden Lächeln und ihrer völligen Hingabe, als ich sie mir schließlich nahm. Jedes Mal habe ich mir vorzumachen versucht, sie würde irgendwann nur mir allein gehören. Ich denke an meine Vergangenheit und versuche sie gleichzeitig zu verdrängen, wie ich es damals mit dem Gedanken an meine Zukunft tat.

„Weißt du“, sagt sie ganz leise, beinahe schon verletzlich, „ich will dich nicht verlieren.“

„Warum vögelst du dann andere Männer und machst uns beide mit deinem Selbsthass kaputt?“, will ich entgegnen, doch stattdessen antworte ich: „Das wirst du auch nicht.“ Meine Stimme ist rau, aber ich weiß, dass man mir nichts anhören kann. Meine Worte klingen kalt und unbeteiligt, stets in jeder Hinsicht nüchtern und trocken, aber wenigstens ehrlich. Sie weiß genau, dass sie mir glauben kann. Ich würde sie niemals verlassen.

„Also ist alles in Ordnung?“, fragt sie vorsichtig.

„Keine Sorge, mir geht es gut.“

Die Flecken auf meiner Camouflagehose scheinen über meine Beine zu wandern. Ich lenke mein verschwommenes Sichtfeld ziellos auf andere Dinge. Der Zusammenhalt meiner Umgebung, von der sich nur noch lauter Einzelteile überdeutlich abzeichnen, geht verloren. Die Bilder vor meinen Augen werden meinen Blicken hinterhergeschleift. Ich fühle mich nicht mehr so, als würde es wehtun, und beobachte gleichgültig die Tapete, die an den Wänden herunterfließt.

„Kannst du mich heute von der Arbeit abholen?“, will sie nach einer kurzen Pause wissen.

„Diesmal wartest du nicht, bis ich es vorschlage?“ Ich lache liebevoll und schiebe die aufkommende Angst beiseite. „Natürlich, mache ich doch gern.“

„Danke.“ Sie klingt schüchtern. „Ich muss dann mal wieder. Also, bis nachher?“

„Ja, bis nachher.“

„Ich liebe dich.“

„Ich dich auch.“

Nachdem ich aufgelegt habe, starre ich noch eine Weile auf den Telefonhörer. Unsicher erhebe ich mich. Meine Gliedmaßen sind schwer wie Blei. Ich nehme das Glas und die leere Flasche vom Tisch, bringe sie in die Küche und spüle beides aus. Dann schaue ich auf die Uhr an der Wand. Anschließend gehe ich ins Badezimmer, hocke mich vor die Kloschlüssel und stecke mir einen Finger in den Hals, um wieder nüchtern und ein wenig klarer im Kopf zu werden, bevor ich losfahre.

Jahreszeiten

„Setzen Sie sich bitte auf einen der Stühle. Die Aula wird lediglich ständig geschlossen gehalten im Frühling, Sommer, Herz und Kinder müssen in Begleitung ihrer Erziehungsberechtigten erscheinen. Die unteren Klassen haben ihr Ende schon angekündigt und befinden sich hinter der Bühne.“

Euch ist klar, dass es hier weder eine Bühne gibt noch einen Hinterausgang. Man kann schließlich alles sehen. Verbeugung Theater. Abgang Chor.

„Applaus bitte!“

Die Pause ist vorbei. Ruhe kehrt in den Saal ein.

Auf der Erhebung vor dem Publikum steht ein Stuhl. Darauf ein Mensch. weiblich, kurzes Haar, Rock in bordeaux, ansonsten schwarz, Gesicht betreten gesenkt. Sie ist die Mutter.

Daneben das Kind, schwarzes Kleid, barfüßig. Augen verschlossen.

„Ich weiß nicht, was passiert ist“, sagt die Mutter und wendet sich damit ernst an die Zuschauer. (Anmerkung: An euch, also schaut gefälligst wieder her!)

„Was soll denn auch passiert sein?“ Die Stimme der Mutter wird fast trotzig. Sie beschimpft euch.

„Sollten Sie mir das nicht sagen?“

Was meint ihr? Seid ihr dafür verantwortlich, der Mutter zu sagen, was passiert ist? Sollte sie das nicht selbst wissen?

„Ich weiß es nicht.“ Das ist ihre Antwort. Sie glaubt, sie weiß es nicht.

„Sie war doch meine Tochter“, ruft sie euch verzweifelt zu. „Wie konnte das geschehen?“ Die Frage verhallt. Schweigen im Saal. Verstört nimmt die Mutter die Hände vor das Gesicht. Sie sieht nicht, dass das Kind, welches neben ihr liegt, die Augen öffnet und sich langsam erhebt.

Sitzend schaut es zur Mutter und fragt leise, naiv:

„Mama?“

Die Mutter schreckt hoch, steht vom Stuhl auf. Der Schreck weicht jedoch schnell. Sie schaut ihr Kind überfreundlich an, geht ein paar Schritte auf es zu und spricht:

„Na, was ist mit dir?“

„Mama?“, lächelt das Kind eindringlich zurück.

„Ich weiß“, sagt die Mutter liebevoll und wendet sich halb von ihrem Kind ab, „dass dir nie…“

„Mama?“, fragt das Kind ungeduldig hinein.

„Dass dir nie etwas passiert ist, denn…“, fährt sie unbeirrt fort.

„Mama?“ Es hört der Mutter nicht zu, fällt ihr ins Wort.

„Denn ich bin…“

„Mama?“

„…ja immer bei dir.“

„Mama?“

„Sei still!“

Sie ist wütend, verständlicherweise, oder? Ihr Kind schweigt erschrocken.

Nun ist sie wieder freundlich.

„So ist es brav.“ In ihrer Stimme schwingt ein herrischer Ton mit, der sich nun in lächerliche Hebammensprache wandelt:

„Mami will doch nicht, dass dir etwas zustößt.“ Ihr Blick wird glasig, sie schaut über das Publikum und redet plötzlich in Gedanken versunken.

„Nein… das will sie nicht.“

Das Kind, noch immer sitzend, beobachtet die Mutter, wie sie langsam zu dem Stuhl zurückweicht, sich darauf niedersinken lässt und den Blick euch zuwendet. Sie scheint die Fassung wiederzugewinnen.

„Sie hätten ihr helfen müssen!“ Das ist allerdings eine harte Beschuldigung. Lasst euch das durch den Kopf gehen. Es lag an euch. Warum habt ihr nicht geholfen?

„Ich will wissen, wer der Schuldige ist!“ Das will man immer wissen. Bei wem liegt die Schuld? Wer ist schuldig?

„Wer hat das meiner Tochter angetan?“ Sie spricht langsam, sehr ernst und schaut nun über die Menge. Ihre Augen bleiben an manchem Gesicht hängen, auch an eurem.

(Anmerkung: Genau, du bist gemeint! Was fällt dir ein, deinen Blick zu senken?) Die Mutter blickt dir in die Augen. Sie hat dich erkannt. Ihre Miene spiegelt Verzweiflung wieder, während sie dich anschaut. (Anmerkung: Weitermachen!)

Das Kind erhebt sich aus seiner sitzenden Haltung und betrachtet kniend seine Mutter.

„Ich habe sie doch geliebt“, sagt die Mutter. Hört ihr das? Es sollte euch wehtun, daran zu denken. „Ich habe meine Tochter geliebt.“

Neugierig fragt ihr Kind erneut:

„Mama?“

„Halt den Mund!“ Mit wutverzerrtem Gesicht ist sie aufgesprungen.

„Mama?“, entgegnet das Kind ängstlich.

Seine Mutter dreht sich um, legt die Hände auf die Ohren und spricht apathisch flüsternd immer wieder die Worte:

„Halt den Mund. Halt den Mund…“

„Mama?“ Das Kind fragt verstörter, flehend. „Mama?“

„Halt den Mund“, redet sie beschwörend zu sich selbst.

„Mama!“, schreit das Kind nun endlich.

Sie hält inne, wendet den Blick verwirrt zum Kind, schweigt. Dieses schaut sie beschuldigend an und ruft dann fordernd:

“Lutscher!“

Erneut kehrt die Mutter zu ihrer Hebammensprache zurück und antwortet:

„Aber nein, mein Kleines. Das ist nicht gut für dich. Das ist schlecht. Ich will doch nicht, dass dir etwas zustößt.“ Ihre Stimme wird leiser. „Ich muss…“

Sie weicht wieder zurück.

„… doch schließlich auf dich aufpassen.“

Scheinbar erschöpft lässt sie sich auf den Stuhl fallen und wendet sich wieder dem Publikum zu. Das Kind kniet weiterhin, während es seine Mutter fragend betrachtet. Diese ruft nun aufgebracht in die Menge:

„Sie wollen mir die Schuld in die Schuhe schieben? Ich will wissen, wer meine Tochter umgebracht hat, und sie beschuldigen mich!? Ich liebe meine Tochter...“

Von ihr unbemerkt erhebt sich das Kind langsam und steht bald aufrecht. Seine Mutter fährt fort:

„Ich würde ihr das niemals antun. Halten Sie den Mund!“ Den letzten Satz schreit sie fast.

„Mutter?“, fragt das Kind erwachsen und ernst.

Erschrocken dreht sie sich zu ihm um, bleibt jedoch sitzen und spricht verwirrt und ängstlich, als sei ihr Kind das Unheil selbst.

„Was willst du hier?“

Freundlich lächelt das Kind und geht auf seine Mutter zu. Noch immer bleibt sie sitzen, als ihre Tochter sie zu umkreisen beginnt und fröhlich singt:

„Sie geht um den Kreis, sodass niemand es weiß. Wer sich umdreht oder lacht…“

Das Kind bleibt stehen und lacht. Die Mutter wendet den Blick ab und schaut vor sich auf den Boden. Gedankenversunken redet sie vor sich hin, man kann nicht sagen, mit wem sie spricht.

„Ich wollte nicht, dass das geschieht. Ich habe doch immer auf sie Acht gegeben. Es war nicht meine Schuld. Ich würde so etwas niemals tun. Ich liebe meine Tochter.“

Für den Zuschauer verliert sich das Gerede fast in der Tonlosigkeit lauter Einzelteile. Das Kind steht neben dem Stuhl und betrachtet seine Mutter, bevor es sich dem Publikum zuwendet und in überzeugtem Ton sagt:

„Meine Mutter liebt mich.“

Apathisch beginnt diese den Satz:

„Ich liebe sie wirklich…“

„…Wirklich“, beginnt das Kind zur selben Zeit, „sie liebt mich.“

„Ich wollte nicht, dass das geschieht“, sagt euch die auf dem Stuhl Sitzende verzweifelt.

„Sie wollte nie, dass das geschieht“, pflichtet ihr das Kind bei, doch unterdrückte Verachtung mischt sich in seine Stimme. „Sie hat immer auf mich Acht gegeben. Es war nicht ihre Schuld.“

„Es war nicht meine Schuld“, sagt die Mutter leise.

„Sie würde so etwas niemals tun“, erklärt euch ihre Tochter weiter. „Sie würde mich niemals schlagen, weder mit dem Kochlöffel noch mit dem Kleiderbügel.“

„Das würde ich niemals tun“, beschwört die Mutter lauter.

„Sie würde mich nicht auf dem Balkon schlafen lassen, damit ich sie nicht mehr störte.“

„Das würde ich niemals tun.“

„Sie würde nicht meine Hände auf die Herdplatte drücken, wenn sie wütend ist.“

„Das würde ich niemals tun.“

„Sie würde mir nicht die Hände um den Hals legen und zudrücken, damit sie endlich ihre Ruhe vor mir hätte.“

„Das würde ich niemals tun.“

„Sie…“, das Kind zögert und fährt nur sehr langsam fort, „…hätte mich niemals umgebracht.“

Die Mutter öffnet den Mund, als wolle sie etwas sagen, schaut über das Publikum und schweigt. Betreten schaut sie zu Boden und senkt immer weiter den Blick.

Das Kind läuft hinter dem Stuhl der Mutter entlang auf die andere Seite, scheinbar tief in Gedanken versunken. Schließlich bleibt es stehen, schenkt den Zuschauern ein Lächeln und sagt:

„Das hätte sie niemals getan.“

Koyaanisqatsi

Willkommen im Labyrinth, in dem die Welt aus den Fugen gerät.
 

Wir, die Mitglieder des Roten Faden, haben dir bereits am Morgen bei einer Lesung erklärt, warum Zwangsjacken maßgeschneidert sein sollten. Bis zum Mittag mussten wir es schaffen, in deinem Klassenzimmer das Gestell für unser Labyrinth aufzubauen. Niemals hätten wir trotz Hoffnung erwartet, dass das Holzgestell dafür halten würde, aber von unserer wackeligen Gesellschaft erwartet man schließlich auch, dass sie jeden Moment zusammenbricht.
 

Nun, meine Damen und Herren, treten Sie ein! Auch du, ja dich meine ich, tritt näher, tritt heran, noch näher, noch ein bisschen. So ist es gut.
 

Wer nicht stehen bleibt, wird erschossen verachtet!

Das steht auf einem alten Schild an der Tür. Daneben, an der Wand findet sich der Hinweis:

Folge dem Roten Faden.

Du betrachtest den dicken Strickfaden, der in das Innere des Raumes führt. Vorsichtig betrittst du die Schwelle und begräbst dabei ein großes Blatt Papier unter deinen Füßen.

Zitate sind das Grab des Gedankens.

Als nächstes berühren deine Schuhe Zeitungspapier, das über den gesamten Boden ausgebreitet ist. Vor dir stehen Stühle, die mit weißen Laken bedeckt sind. Rote Pfeile zeigen nach links. Auch der Rote Faden windet sich in dieser Richtung weiter. Du gehst ihm nach und trittst ein in ein mit Laken überspanntes Gestell. Du siehst nichts mehr, nur noch die wenigen Meter um dich herum. Du befindest dich im Labyrinth von Koyaanisqatsi.

Der rote Faden endet auf den ersten Stufen einer wackeligen Leiter, die mitten im Weg steht. Daneben ein weiteres Schild:

Es liegt in der Natur des Menschen Karriere zu machen.

gez.: die Erfolgreichen

Auf dem Boden liegen abgenutzte Kuscheltiere, noch immer mit Wäscheklammern an einer Leine befestigt. In die Bäuche und Köpfe der Plüschfiguren und Puppen sind Notizzettel mit Nadeln gestochen worden. Geschändet. Kinderlachen. Blut. Erwachsen. Die Worte auf diesen Zetteln vermischen sich mit den vielen Buchstaben, welche bereits durch das Zeitungspapier auf dem Boden deine Sinne vernebeln. Zeitungen aufgeklebt auf riesigen Pappen, die sich die Wände entlangziehen. Weitere Sprüche und Zitate bedecken auf Plakaten jeden freien Platz und versperren dir auf unzähligen Schildern den Weg.

Reklame, Propaganda, der Irrsinn unserer Zeit auf wehrloses Papier gepresst.

Du gehst durch ein paar bemalte Tücher hindurch, um eine Ecke. Schließlich zweigt sich der Weg. Vor dem einen Gang hängt ein Schild herunter, auf dem steht:

Kleine Fabel.

Bitte eintreten.

Du trittst ein und bleibst vor einer Sackgasse stehen, in der sich nur ein Kinderstuhl befindet. Als du dich umwendest, um zu gehen, fällt dir die Rückseite des Schilds über dem Eingang auf.

Du musst nur die Richtung ändern.

Darunter befindet sich ein großer Katzenkopf mit weit aufgerissenem Maul und spitzen Zähnen. Du kannst froh sein, dass deine eigene Endstation noch nicht an diesem Punkt ist. Aber vielleicht erinnerst du dich in genau diesem Moment daran, dass die letzte Ausfahrt auch an dir vorbeigehen wird.

Du gehst weiter und begegnest verschiedenen Gegenständen, lauter Einzelteile zur grotesken Darstellung ihrer Selbst auf kleinen Podien aufgebaut. In einer weiteren Sackgasse befindet sich ein Holzkopf mit ausgebreiteten Armen, Reklame auf der Brust klebend. Eine Pistole liegt direkt daneben, aus deren Mündung sich eine Zeitung rollt. BILD dir deine Meinung - wozu solltest du auch eigenständig denken, wenn andere das genauso gut für dich übernehmen können?

Unter deinen Füßen knirscht es, während du dich von herabhängenden Spinnweben befreist. Unzählige feste Glaskristalle sind über den Boden verteilt, als hätte jemand den Rahmen eines Bildes fallen lassen. Endlich kommst du aus der Dunkelheit in den hinteren Teil des unkenntlichen Klassenzimmers, der von einem zur Decke gerichteten Scheinwerfer erhellt wird. Wieder Schilder.

Straße des Erfolgs

Lebensweg

Vor dir wurden auf dem Boden Wackelbretter in einer Reihe aufgestellt, verstärkt durch hohe Sprungfedern. Auf dem ersten Brett direkt vor deinen Füßen steht in Leuchtbuchstaben Konjunktur, auf dem nächsten DDR. Das Holz ist schon ein wenig staubig von den Schuhen vieler Leute.

An einer Holzlatte hängt ein großes Plakat.

Erleben Sie das Gefühl sozialer Sicherheit.

Darunter ein kleinerer Hinweis, der mit einem Pfeil auf den schmalen Weg neben den Wackelbrettern zeigt.

Für die Ängstlichen:

Weg des geringsten Widerstands

Nach kurzem Zögern entscheidest du dich für den schweren Weg und stellst deinen Fuß auf das erste Brett. Du versuchst mit den Armen deinen Körper auszubalancieren. Beim zweiten Schritt verlierst du fast das Gleichgewicht, allerdings fängst du dich und meisterst das Hindernis. Auf der anderen Seite erwarten dich seltsame Gerätschaften, mit Bildern beklebte Pappscheiben, an denen du drehen kannst. Das Rad eines Fahrrads wurde auf einer Stange befestigt, daneben ein weiteres Schild.

Einmal am Rad drehen - 50 Cent

Du hörst seltsame Geräusche, die wie Musik aus einem alten Radio klingen, dann wieder wie priesterlicher Gesang und schließlich wie das Klopfen in einem Bergwerk. Die Musik berieselte dich schon die ganze Zeit, während du durch das Labyrinth gingst. Nun betrachtest du die alten Schränke und herunter gelassenen Rollläden, an denen weitere Werbezeitschriften befestigt wurden. Ihre bunte Farbe wirkt in dem schummrigen Licht irgendwie verwandelt und grotesk. Du liest ein Wort.

Konsumgesellschaft

Ein rohes Stück Fleisch neben einer Einbauküche und der dazu passenden Stehlampe im Wohnzimmer. Unterwäsche mit Spitze über dem SyncMaster 171N und einem neuen Roman von Rosamunde Pilcher. Weitere Plakate schleudern dir ihre Weisheiten, Phrasen und Sprichwörter ins Gesicht, sodass du kaum mehr aufnehmen kannst, was du liest.

Die Musik hämmert in deinem Kopf und du gehst weiter.

Eine seltsame steinerne Fratze blickt dich von der Tiefe eines Stuhles aus an. Vor dir ist ein Altar aufgebaut, beleuchtet durch eine Schwarzlichtlampe. Auf dem großen Triptychon darüber ist die Gestalt eines in rote Farbe getränkten Menschen abgebildet, der wie an ein Kreuz genagelt erscheint.

Du lässt den letzten Durchgang des Labyrinths hinter dir, an dem Tücher mit den Symbolen des Kommunismus herunterhängen und mit bunten Motiven bemalte Kinderdecken.

Nun ist der Boden von weißen Laken bedeckt. Unregelmäßig ist alles, auch die Tische und Stühle, mit weißen Laken bedeckt, ein Mülleimer steht einsam darin.

In der Ecke steht ein Fernseher und zeigt Bilder von unserer Gesellschaft. Menschen gehen durch die Straßen, arbeiten, stehen in Untergrundbahnen und sitzen in Autos. Die Bilder verschnellern sich, Tag wechselt zur Nacht, Nacht zum Tag. Arbeitsabläufe kehren immer und immer wieder. Menschen strömen aus ihren Häusern, weichen einander aus, stoßen zusammen. Rolltreppen funktionieren verlassen, auch ohne dass sie betreten werden, dann füllen sie sich und tragen die Last der großen Anonymität. Immer schneller zieht das Leben vorbei. Dennoch verändert sich nichts.

Du wendest den Blick vom Fernsehbildschirm ab und schaust zur Tür.

Nur einen kurzen Moment hältst du inne, dann trittst du heraus aus dem Labyrinth Koyaanisqatsi.

Und nichts hat sich geändert.

Lovesong

Die Schere lag auf meinem Tisch und es war unerträglich warm in meinem Zimmer. Ich saß auf dem Sofa. Mein Plattenspieler kratzte „Play for today“ von The Cure in die Stille und ich las gerade ein paar Kurzgeschichten, irgendwas mit "Lauter Einzelteile" im Titel. Was ich an Worten vor meinen Augen sah, verstand ich nicht, zumindest nicht im Moment. Es wäre mir auch so nicht gelungen, wie bei so vielen Dingen.

Ich war traurig.

Mein Bauch schmerzte unangenehm. Trotz der stickigen Hitze dieser Nacht öffnete ich weder die Tür noch das Fenster. Der Schlüssel war bis zum Anschlag herumgedreht.

Eins, zwei, drei, vier, das war das fünfte Buch, das ich zurzeit las, dachte ich und legte es beiseite. Das war nicht genug, um mich wirklich intelligent oder besser zu fühlen.

Es ist nicht genug, hatte sie damals zu mir gesagt, außerdem sei sie noch nicht bereit dazu.

Frauen sind kompliziert.

Ich fuhr mir durch meine ungewaschenen Haare und erhob mich.

Die Kaffeetasse stand schon seit drei Tagen dort auf dem Tisch, Essigfliegen waren in der braunen Flüssigkeit elendig verreckt. Neben dem Tisch lag meine Freundin und schaute mich an, ohne zu blinzeln.

„Weißt du, Kleines, ich liebe dich noch immer, auch wenn du langsam komisch zu riechen anfängst. Ich liebe dich.“ Sie hüllte sich in Schweigen. „Tu ruhig so, als hättest du mich nicht gehört.“

Ich nahm die Schere, an der noch immer ein wenig Dreck klebte, von der Tischplatte und hob vorsichtig die Hand meiner Freundin. Sie entzog sie mir nicht, aber irgendwie wusste ich, dass sie mir noch immer böse war. Bedacht kürzte ich ihre weichen Fingernägel, die sie stets abkauen musste. Sie war schon damals recht nervös gewesen.

„Tell me I’m wrong, I don’t really care.“

Warum hatte sie mir nicht geglaubt, dass es nicht nur darum ging? Dir ist doch nur wichtig, mir wehzutun, hatte sie gesagt. Du findest es toll, mich zu schlagen und zu würgen, mir mit dem Messer Muster in den Rücken zu schneiden.

Unter Tränen hatte ich ihr geantwortet, natürlich finde ich es toll, aber du schreist ja nie. Und außerdem geht es nicht nur darum. Sei froh, dass ich nicht mit dir schlafen will. Davor hast du doch in Wirklichkeit Angst, nicht wahr?

Das habe ich nicht mehr gesagt. Mir war wichtig, dass sie mir glaubte, selbst wenn ich log, selbst wenn ich wusste, dass sie lieber gestorben wäre.

Nun waren ihre Fingernägel wieder schön kurz, so wie sie es mochte. Das stört nur, hatte sie mir erklärt. Ich strich ihr die vom Haarspray und Blut verklebten Strähnen aus dem Gesicht.

„Die stören nur“, sagte ich leise und küsste ein letztes Mal ihre Lippen.

Masch(in)en

Links. Rechts. Links. Die Hände der Alten waren flink. Die Kleine starrte erstaunt.

"Stricken dauert doch sicher lange, Oma?"

"Ja, aber es lohnt sich. Das wird ein schöner Pullover."

"Aber warum kaufst du dir denn keinen?"

Ein Lächeln der Alten.

"Mein Pullover wird einzigartig. Kaufen, alles wird am Band produziert und geht an Tausende weiter. Alle gleich. Lauter Einzelteile zusammengefügt zu einem Gesamtkonstrukt. Jeder Einzelne perfekt, denn die Maschine macht keine Fehler."

"Machst du Fehler?"

"Nun, ich bin gut, aber ich mache auch Fehler. Wenn ich eine Masche fallen lasse, troddelt der Pullover sich auf, wird er zu sehr beansprucht. Du kannst ihn liegen lassen, dann geschieht nichts, dennoch ist er nicht zu gebrauchen."

"Kann ich auch stricken, Oma?"

"Du kannst es lernen. Mit der Zeit werden immer weniger Menschen wissen, wie es funktioniert. Man wird es vergessen."

"Es gibt ja noch Maschinen, wo man sie machen kann."

"Ja, Kleines. Maschinen."

Die Arbeit wurde wieder aufgenommen. Die Kleine starrte erstaunt und die Hände der Alten verloren unbemerkt eine Masche.

Nachtfalter

Der linke Flügel erscheint wie festgenagelt auf dem kalten Parkettboden. Der andere bewegt sich nur langsam, getrieben von Angst. Drei Beine liegen neben dem Körper. Einfach so sind sie abgefallen, wie lauter Einzelteile, die nicht mehr hinzugehören. Die restlichen Beine drücken sich nur manchmal im Todeskampf gegen den weichen, behaarten Leib, fast wie jemand, der unter Schmerzen seinen Brustkorb umklammert. Als könne das die Qual eindämmen.

Ganz langsam bewegen sich die winzigen Extremitäten hinauf in die Höhe, in den Himmel. Weich und leicht wie Federn, als hätte ein Lufthauch sie erfasst. Der Hauch des Todes.

Zur falschen Zeit am falschen Ort. Töten ist bloß Selbstschutz.

Und das Wort Humanität betrifft nur den Menschen. Nicht ein kleines geflügeltes Geschöpf, das sich in seinem eigenen Staub windet, obgleich es nicht einmal dem Licht zu nahe kam. Was es gesucht hat, weiß man nicht. Auf dem Weg nach Hause verirrt? Dafür musste es mit seinem Leben bezahlen, in einem Kampf, der einen ganzen Tag währte.

Als es vorbei ist, erhebst du dich und gehst einen Schritt zurück.

Stell dir vor, du wandelst durch deinen Alltag und bleibst ein Teil der Anderen. Niemand sieht dich nicht. Deine Zeit läuft ab und zu entgegen deines Empfindens. Du weißt, dass du jeden Tag die Möglichkeit hast, neu anzufangen und alles anders zu machen. Jede erdenkliche Tür steht dir offen. Dieser Gedanke beruhigt dich so sehr, dass du niemals die Notwendigkeit dafür siehst, etwas zu ändern. Damit du nicht den Halt verlierst. Aber irgendwann verlierst du auf einmal einen Arm. Du stehst in der Untergrundbahn, beobachtest einen kleinen Nachtfalter, der um die Leuchttafel der nächsten Haltestelle flattert, und plötzlich fällt eine deiner Gliedmaßen herunter. Zuerst bemerkt es niemand. Dann schauen einige auf und sehen, was für ein Geschöpf du bist.

Dein linker Arm, der wie festgenagelt auf dem kalten Boden liegt, interessiert dich nicht. Du hast ihn schon fast vergessen. Aber die Blicke der Anderen kannst du nicht vergessen. In Panik willst du nach Hause. Durch die Verwirrung verirrst du dich. Endlich bist du hier. Du kannst dich nicht mehr vom Boden lösen und windest dich in deiner Asche, in einem Kampf, der ein ganzes Leben währte.

Als es vorbei ist, erhebe ich mich und gehe einen Schritt zurück.

Overkill

...Another day and night

In reapers paradise

Come take the scythe

And try to smile
 

„Das waren RIP mit ihrem Debüthit Reaper in Paradise, welcher der Band auch ihren Namen gegeben hat. Jetzt kommt eine Band, deren Namen immer wieder Verwirrung stiftet: VRU. Leute, ich weiß gar nicht, wie viele Versionen ich davon bei den Musikwünschen am Telefon schon gehört habe. Die Band singt zwar ausschließlich deutsch, doch die Buchstaben des Namens werden englisch ausgesprochen. Es handelt sich dabei nämlich um die Phrase: We are you, was so viel heißt wie: Wir sind du. Schon komisch, was man sich heutzutage in der Musikbranche alles ausdenkt. Diese Dreierbuchstabenkombinationen scheinen ja ziemlich beliebt zu sein. Hier ist jedenfalls Drehmoment von VRU.“
 

Du glaubst, die Welt dreht sich um dich

Dass du dich dabei im Kreise drehst, merkst du leider nicht
 

Die Welt dreht sich um dich – um dich dreht sie sich

Sie dreht sich im Kreis – um dich dreht sich alles

Drehst du dich herum, dreht die Welt dich um,

Du drehst durch, drehst am Rad, drehst laut auf und bleibst stumm
 

Nichts bleibt, wenn wir gehen

Nichts war, wenn wir bleiben

Nicht ist...
 

„Wir unterbrechen wegen einer Sondermeldung. Soeben hat der Präsident der Vereinigten Staaten, Hugh Manfred Braintree, in einer Pressekonferenz, die zu dem Konflikt mit den südamerikanischen Widerstandstruppen und Guerillas abgehalten wurde, um die Sendung eines internationalen Kommentars ersucht. Es handelt sich dabei um eine Stellungnahme zu dem als Havarie vermerkten PAR-Testlauf, dem Pacific-Atlantic-Return, zu Deutsch auch als Pazifik-Atlantik-Rücklauf-Test bezeichnet. Wir schalten nun live hinzu.“

„Freedom for all mankind was always the most important...“

„Freiheit für die gesamte Menschheit war stets das Wichtigste für die Regierung und die Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika.“

„To keep the peace in...“

„Um den Frieden in einer Gesellschaft zu erhalten, sind Regeln unerlässlich. Doch sind dies keine Maßregelungen.“

„The PAR project is more than a test. It’s our way to find a solution…”

„Das PAR-Projekt ist mehr als ein Test. Es ist unser Weg, um eine Lösung für die Bedrohung von Freiheit und Frieden aller Menschen zu finden.“

„And this solution is called...”

„Und diese Lösung trägt den Namen Friedensstifter.“

„Soweit ein Ausschnitt aus der Rede des amerikanischen Präsidenten. Hierzu erklärte der deutsche Generalstabschef, es bestünde für Deutschland trotz der Globalität dieser Angelegenheit kein Grund zur Sorge. Der PAR-Test stelle keine Bedrohung für unser Land dar. Bei dem Projekt handle es sich lediglich um einen Einigungsversuch im Konflikt zwischen Ost und West. Damit gebe ich zurück ins Studio.“

„Wir halten euch in den nächsten Minuten weiter darüber auf dem Laufenden. Dann wollen wir die ernsten Themen mal beiseite lassen und wieder ein wenig Musik spielen. Die folgende Band hat letztes Jahr mit dem Song Vertragsschluss: Blocksberg einen Riesenhit gelandet und auch ihre aktuelle Single ist auf Platz 12 der Singlecharts eingestiegen. Hier sind Lautspiel mit Ansonsten Erving Goffman.“
 

Offen bleiben Frag und Wunden, falsch verbunden, schon geschunden?

Wollen müssen, können sollen, suchen dürfen

Leergesichtige Gestalten, Masken halten, Massen-Seele, Schlips und Kragen

Anonyme Köpfe haben, heute lieber länger leben, anonyme Leute köpfen

Holz, aus dem die Bretter sind, die als Bühnen uns noch tragen
 

Jetzt im Ganzen, lauter Einzelteile tanzen, lauter Einzelne geteilt

Lauter bitte, denn wir wollen nicht verstanden werden

Lauter bitte, lauter bitte, lauter bitte, ja!
 

Sich verkaufen, sich verlaufen, nicht stolziert ist dumm gelaufen

Auf das Glück kann keiner warten, nur ein Garten für die Harten und Gehetzten

Noch ein Stück hineingeraten in den Hintern seines Vorgesetzten

Vorm Gesetz ist jeder gleich, vor zurück zur Seite ran, Bauch herein und Brüste raus

Beine breit und nicht gelogen, heute schon zurechtgebogen?
 

Jetzt im Ganzen, lauter Einzelteile tanzen, lauter Einzelne geteilt

Lauter bitte...
 

„Soeben erreichen uns weitere Meldungen. Vor wenigen Minuten hat eine weltweit übertragene Bekanntmachung des amerikanischen Präsidenten für Aufruhr gesorgt. Aufgrund zahlreicher Anfragen gab Generalstabschef Bessermann eine Erklärung über den sogenannten PAR-Testlauf ab. Es handle sich dabei um kontrollierte Sprengungen im evakuierten Ozeanraum. Die amerikanische Regierung versicherte, der Test sei erst vorgenommen worden, nachdem absolute Sicherheit darüber bestand, dass weiträumig keine Menschen davon betroffen sein würden. Damit sollte demonstriert werden, wie effektiv die vom Pazifik ausgehenden Sprengköpfe von den entsprechend positionierten Abwehrsystemen sofort und ohne menschliches Zutun beantwortet werden würden. Durch den Testlauf wurde diese Ankündigung eindeutig bestätigt. Obwohl Bessermann bezweifelt, dass es sich um atomare Sprengköpfe gehandelt habe, widersprach Präsident Braintree diesen Befürchtungen in keiner Weise. Soweit die Meldungen.“
 

... verstanden werden

Lauter bitte, lauter bitte, lauter bitte, ja!
 

Hand aufs Herz und nicht gelogen, hingebogen für die Welt, in der wir leben

Nicht mehr wollen müssen können, nicht mehr weiter können wollen

Hand aufs Buch und überlegen, niemals unterlegen sein, nebenan ist auch noch frei

Leergesichtige Gestalten, anonyme Köpfe spalten, heute leben, länger lieben

Stolz, aus dem die Bretter sind, die wir vor den Köpfen tragen
 

Jetzt im Ganzen, lauter Einzelteile tanzen, lauter Einzelne geteilt

Leise bitte, denn wir wollen nicht verstanden werden

Leise bitte, leise bitte, leise bitte...
 

„So, da sind wir wieder, und zwar mit weiteren Nachrichten über den Vorfall, der sich auf unseren Meeren ereignete. Offenbar war das Ganze geplant und kontrolliert, aber trotzdem sind überall auf der Welt die Menschen verunsichert. Die Server von Google Maps scheinen heißzulaufen, weil viele sich gedacht haben, sie könnten vielleicht ein paar Satellitenbilder von den Explosionen zu Gesicht bekommen. Twitter quillt geradezu über vom Protest besorgter Bürger, die überall merkwürdige Vorkommnisse beobachtet haben wollen. So richtig hat hier noch niemand verstanden, worum es eigentlich geht. Unsere Reporter versuchen weiterhin Licht ins Dunkel zu bringen. Aus Berlin Anja Herbst.“

„Intervention nennt der amerikanische Präsident die Notwendigkeit für diesen Schritt. Und Sicherheit lautet das angebliche Fundament, auf dem wir uns damit bewegen. Mittlerweile kann kein Zweifel mehr darüber bestehen, dass es sich bei jener Intervention um nukleare Sprengköpfe handelt. Böse Zungen gratulieren Braintree mit Sarkasmus, er haben nun offenbar eine Verwendung für das amerikanische Sortiment an ABC-Waffen gefunden. Besonders Aktivisten, die sich bereits seit einigen Jahren mit den bislang unter Verschluss gehaltenen Informationen beschäftigen, bezeichnen Braintrees Strategie eines erzwungenen, angeblich kontrollierten Weltfriedens als ein Bootsticket für den Glücklichen Drachen. So jedenfalls habe der Name des japanischen Fischerbootes gelautet, das einem der ersten Atombombentests unbeabsichtigt zum Opfer fiel. Kritischen Stimmen zufolge könne sich die angepriesene Sicherheit rasch zum Galgenstrick zahlreicher Zivilisten wandeln.... soeben treffen weitere Meldungen ein. Wir werden gleich zu einer Liveübertragung schalten.“

„...gegangen. Da es sich um eine Organisat...“

„...a? In Ordnung. Meine Damen und Herren, es handelt sich um eine Stellungnahme des Bundespräsidenten. Wir schalten live hinzu.“

„...tes weltweit an alle Länder versandt. Ich wiederhole. Unter dem Leitspruch Gerechtigkeit durch Fairness haben die unbekannten Aktivisten das PAR-Projekt laut eigenen Angaben tatsächlich auf internationales Niveau gehoben und mehr als fünfzig Ländern die gleiche Verfügungsgewalt über den Friedensstifter ermöglicht. Seit Jahrhunderten befinden wir uns im Krieg, heißt es. Auch jetzt kämpfen und sterben unsere Soldaten in den Krisengebieten ferner Länder. Weltweiter Friede könne nur durch Angst erwirkt werden. Im globalen Wettstreit sei es immer schon um Macht gegangen. Wenn zwei Mächte nukleare Streitkräfte besitzen, in viel größerer Menge, als eigentlich benötigt werden würde, um den Feind auszulöschen, dann geht es nicht darum, diese Waffen tatsächlich einzusetzen. Doch was passiert, wenn es doch geschieht? Wenn es zur Eskalation kommt und diese Waffen außer Kontrolle geraten? Seit Hiroshima und Nagasaki scheinen Kernwaffen zu einem Tabu geworden zu sein, ähnlich wie Giftgas nach dem Ersten Weltkrieg, doch ihre große Bedeutung in einem quasi übergeordneten Kampf ist nicht zu leugnen. Es werden weiter Schlachten geschlagen, ohne dass alle Mittel dabei zum Einsatz kommen. Gewonnene oder verlorene Schlachten bewirken jedoch nicht, dass der Krieg endlich ein Ende findet. Niemand wagt es, den Finger auf den roten Knopf zu legen. Niemand will dafür die Verantwortung tragen. Selbst wenn ein Land zum Opfer eines atomaren Schlags werden sollte, wer wird sich dazu bereit erklären, mit gleichen Waffen zurückzuschlagen? Alle in das Projekt Involvierten sagen, der Friedensstifter werde fortan diese Entscheidung übernehmen. Ohne Spekulation. Ohne Zögern. Ohne das Moment menschlicher Schwäche. Denn nur an der Milde und Rücksicht, an dem Gewissen des Menschen ist unser Frieden bisher gescheitert. Die Aktivisten nutzen das PAR-Projekt, um den alten Leitspruch Atoms for Peace mit neuer Interpretation wieder aufleben zu lassen. Da es sich um eine Organisation handelt, die allen Nationalitäten angehört, wurden weltweit ähnliche Ansprachen jeweils an die Repräsentanten aller Staaten und Länder versandt.“

„Soweit die stellvertretende Übermittlung der aktivistischen Stellungnahme durch Walter Zenkow. Die genannte Verfügungsgewalt ist gleichzusetzen mit einem Zugriffsrecht auf alle Abwehrmechanismen des Friedensstifters. Ob demgemäß auch die Möglichkeit des Angriffs in den Bereich solcher Befugnisse fällt, bleibt vorerst unbekannt.“

„Das war Anja Herbst mit den Meldungen.“
 

Overcome with our leaving

Over everything with breathing

On the never ending evening

On the edge of finally over
 

Even over is not ending

Overstaying is the new start

Never ever even over

Even kill you twice again

Never ever see you going

Kill you over even over

Every overkill to you
 

Rock me, rape me, hug and hate me

Eat me, drink me, kiss and kill me

Heal me, hurt me, love and leave me

Let me never feel it’s over...
 

„Wir unterbrechen die Sendung... ein Vorfall, ein weiteres Ereignis ist aufgetreten... ähm... ja, es ist kalt geworden, Freunde. Wir hören gleich in die bundesstaatliche Konferenzschaltung rein. Zu Gast ist Bertrand Wirrenhaupt. Allerdings sind über dem europäischen Festland, in Asien und der Westküste der Vereinigten Staaten bereits Raketen abgeschossen worden. Durch das automatische Antwortsystem des Friedensstifters werden voraussichtlich weitere folgen. Wir gehen jetzt sofort live in die Konferenzschaltung.“

„... in New Mexico, Jornada del Muerto, die Wegstrecke der Toten, die danach wirklich ihren Namen zurecht getragen hat. Was soll das werden? Wollen Sie wieder behaupten, ein Munitionslager sei explodiert?!“

„Auf beiden Seiten stellten sich Wissenschaftler gegen den Größenwahn der Obrigkeit, Klaus Fuchs, Pjotr Kapiza, Andrej Sacharow, wir können nicht...“

„Ihnen ist doch wohl auch klar, wozu so etwas schon geführt hat?!“

„Bleiben Sie ruhig, es ist doch jetzt eh schon zu spät.“

„Zu spät!? Ja, jetzt! Jetzt haben wir...! Ach, was spielt das jetzt noch für eine Rolle!?“

„Krzschmb....“

„Dann verabschieden Sie sich eben. Vielen Dank. Ein Wiedersehen wünsche ich mal lieber nicht. Also, was ich sagen wollte, Menschen unterscheiden gern zwischen ihrem inneren und dem äußeren Ich. Sie sehen sich selbst, mit allem Fühlen und Denken, und dagegengesetzt sehen sie das, was quasi in der Außenwelt geschieht. Dabei wird das Denken gerade durch die äußeren Einflüsse erschaffen, wenn man davon ausgeht, dass die Körperlichkeit des Menschen, also all seine organischen Funktionen nicht von der Welt und Wirklichkeit getrennt werden können. Die Gedanken selbst existieren gar nicht als solches außerhalb ihrer neuronalen Aktivität. Und so ist es auch mit der elektronischen Wirklichkeit, die wir uns aufgebaut haben. Das Geld, mit dem wir spekulieren, existiert nicht einmal mehr auf dem Papier, sondern nur noch in Datensätzen. Soziale Netzwerke sind wie ein Konsens der Gedanken aller Menschen. Zwar sind sie da, sodass diese Netzwerke eine ganze Welt geschaffen haben, die nicht hier in der Wirklichkeit existiert, aber niemand kann sie greifen. Das macht sie so fragil. Diese irrealen Dinge schreiben unserer Wirklichkeit etwas zu, das gar nicht in ihr existiert. Doch es gibt auch sehr reale Bedrohungen, die unserer Welt mehr Wirklichkeit zuschreiben, als sie eigentlich einnehmen kann. Die Anzahl unserer Atombomben könnte unsere Erde gleich mehrfach wegsprengen. Wozu brauchen wir mehr Zerstörungskraft, als nötig ist, um alles um uns herum auszulöschen? Auch das ist ein Teil der Irrealität unserer heutigen Zeit. Wir müssen uns klarmachen, das Einzige, was in diesen wirren Zeiten zählt, is_______________________________________________________

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Parafabel

Es war einmal ein kleiner Vogel namens Rio. Er lebte mit vielen anderen Tieren in einer großen Welt. Rio glaubte, dass er für alle ein Freund sein konnte.

Doch Rio war ein schrecklich kleiner Vogel. Die anderen Tiere nahmen ihn kaum wahr, obwohl er in seinem kleinen Körper unendlich viel Liebe trug, die er mit jedem teilen wollte.

Die Zeit verging. Mit jedem vergangenen Tag wurde die große Welt ein Stück kleiner. Mehr und mehr verschwand die Erde und zurück blieben nur Schutt und Asche, lauter Einzelteile eines früheren und späten Friedens.

Die Welt war kaputt und zerstört.

Die Tiere sahen es voller Trauer. Sie begannen zu weinen, weil die Natur litt. Auch Rio trug in seinem kleinen Körper so viel Trauer, dass keine Tränen sie hätten auslöschen können. Doch Rio weinte nicht.

Er sah zu, wie das Salz der Tränen die Erde bedeckte, bis alles zu versinken drohte.

Da hatte Rio Mitleid.

Aufopferungsvoll trank er all die Tränen der Tiere, um die Welt zu retten. Die Tränen hatten die Erde gereinigt. Sie war wieder groß und schön. Rio hatte es geschafft.

Doch er konnte die Tränen nicht vertragen. Sein kleiner Körper wurde innerlich von dem Salz zerfressen. Ohne ein einziges Mal in seinem Leben geweint zu haben, starb Rio.

Da erkannten die Tiere, wie viel Liebe ihnen entgegengebracht worden war. Sie waren traurig, weil der kleine Vogel sich geopfert hatte.

Erneut begannen sie zu weinen. Alles wurde unter ihrer Trauer begraben, die Erde, der Körper des kleinen Vogels und schließlich die Tiere selbst. Die gesamte Welt versank.

Denn niemand war mehr da, der ihre Tränen trinken konnte.

Querschläger

Klassenzimmer. Eine von zwei Vorstellungen. Eintritt erst ab sechzehn. Nur ein Tisch im Raum. Decken auf dem Boden in der Mitte. Bitte Schuhe ausziehen. Setzen.

Noch reges Geschwätz unter den Anwesenden. Zögerndes Umschauen. Weiße Laken über Tische und Stühle gelegt. Ein Fernseher in der einen Ecke. Ein Projektor in der anderen. Auf der gegenüberliegenden Seite zwei riesige Plakate an Kartenständern aufgehängt. Dahinter Schränke, vollständig verdeckt. Unfertige Bilder, wo es nicht weiß ist, manche gezeichnet, einige primitiv gemalt, skizzenhaft, wie von Kinderhand.

Die Tür geschlossen.

Schülerin, weiß geschminkt, hinter dem Fernseher auf einem Stuhl. Keine Achtung. Starr geradeaus.

Licht gelöscht.

Nebenan Erschrecken. Kichern. Leises Flüstern. Verstummt. Erstickt.

Nach einer Minute Stille.

In der linken oberen Ecke plötzlich Licht. Eine Taschenlampe. Ein weißes Gesicht, losgelöst über einem der Plakate in der linken oberen Ecke.

„Katzensex.“

Aus der rechten oberen Ecke Miauen, krächzend, verzerrt. Kurz darauf Fauchen hinter dem Fernseher. Katzenkreischen in der Mitte. Laute ausklingend. Erzählung des Gesichts in der linken Ecke. Wie eine Katze vergewaltigt wird. Wie deren Schreie durch den Nachmittag hallen. Wie die Krallen des Katers sich in ihre Hüfte bohren. Wie er tiefer in sie eindringt, je lauter sie schreit. Wie er sie letztlich liegen lässt.

Licht der Taschenlampe erlischt. Entzündet sich hinter dem Fernseher.

Erzählung des Mädchens. Wie sie unbeholfen mit ihrem Freund schlief. In einem heruntergefallenen Haus. Hilfloses Grabschen an ihren Brüsten. Verteilte seinen Speichel auf ihrem Hals und in ihrer Ohrmuschel. Rieb sich an ihrem Körper. Fummelte, sodass es ihr wehtat. Schob seine Zunge in ihre Mundhöhle. Saugte unbeholfen an ihren Lippen. Sie dachte, er stank. Er dachte, er wüsste nicht, was er tat. Peinliches Aufhören.

Licht erlischt.

Klackern von Schuhen. Jemand um die im Kreis sitzenden Leute gehend. Im Kreis. Immer und immer wieder. Eine Taschenlampe. Weiterlaufen. Erzählung der besessenen Stimme, belehrend wie eine Mutter zu ihrem Kind. Geschichten von kullernden Augen. Kullernd und kullernd. Massenseele in uns allen. Schaut euch nicht um. Die Stimme direkt hinter euch. Noch einmal, eindringlich, aufdringlich.

Licht erlischt.

Flüstern.

„Das Monster.“

Von allen Seiten. Stimme aus der rechten oberen Ecke. Von dem Monster, in und um uns. Das Flüstern jedes Mal anschwellend, wenn die Stimme vor Angst von dem Monster schreit.

„Das Monster. Das Monster.“

Alles verstummt.

„Sich selbst.“

Projektor eingeschaltet, wirft sein Licht an die weiße Leinwand. Verschwommen ein Bild, unscharf, nicht erkennbar.

„Bild eins.“

Eine präzise Erklärung. Behandlung. Wie einen Studenten in einer Vorlesung. Das Gesagte nicht auf dem Bild sichtbar. Nicht einmal bildlich vorstellbar.

„Bild zwei.“

Prozedur fortgesetzt. Ein paar Farben, zusammengeklatscht, vermischt auf einer weißen Leinwand. Lauter Einzelteile der gleichen Unschärferelation.

„Bild drei.“

Übergenaue Aussprache. Kein Sinn.

„Bild vier.“

Ein neues Dia. Vielleicht ein Mensch. Vielleicht ein Berg. Ein bisschen Sisyphos. Ein wenig Meer. Endlich Unterrichtsende. Projektor aus.

Fernseher eingeschaltet. Bloß Schnee.

Beschuldigend lang gezogene Stimme ermahnt. Kleines Mädchen, hast deine Puppe aus dem offenen Fenster eines Wagens geworfen. Liegt auf dem weißen Mittelstreifen der Fahrbahn. Ihr nackter Hintern unter dem dreckigen Kleid in die Höhe gestreckt. Bald im Graben. Bald vergessen. Losgelassen aus dem fahrenden Auto. Ob beabsichtigt oder nicht.

„Wieso? Wieso hast du sie fallen gelassen?“

Weiter im Spiel. Licht an. Licht aus. Kälte, Hass, Verzweiflung, Angst, Resignation. Sprachliche Mittel ungenügend. Setzen, sechs. Erst ab sechzehn ohne Sex.

Deckenbeleuchtung an. Augenreiben. Ringsumher aufstehende Menschen. Mit dabei gewesen.

„Sehen diese Personen jetzt anders aus? Vielleicht wärt ihr gern dabei gewesen. Möglicherweise als Zuschauer oder als Schauspieler, als Opfer oder als Täter, auf den Decken, hinter dem Fernseher, auf dem Schrank, mitten unter uns allen.“

„Das seid ihr. Tagtäglich.“

Rein

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Selbst-los

Tief versunken im eigenen Verlangen, verschwindend zwischen dem Wollen hunderter Menschen, gesichtsloser Gestalten, einer Massen-Seele. Anonyme Köpfe, namenlose Glieder, lauter Einzelteile zur Einheit verschmolzen, sich selbst nicht mehr erkennend. Wie auf See schiffbrüchig Treibenden, wie Treibgut in der weiten Unendlichkeit des Nicht-Seins verloren, den Blick in die Ferne zum rettenden Mast gewandt. So erging es den brandenden Massen der Leiber, die dort in den seelisch aufbrechenden Wogen verweilten. Sie ergaben sich in ihre Schwäche, übergaben sich in die Selbst-Losigkeit, waren von einem innig durchdringenden Gefühl ergriffen zu einem Mann, der als einzige verlorene Planke in den Wellen zu treiben schien, belastet mit dem Wissen, nichts tun zu können, hilflos verirrt in ihren Gedanken. Es war wie ein Schluchzen, ein unterdrücktes Weinen, das sich als Schrei in der Kehle sammelt, darauf wartend, hervordringen zu können. Verdammt zu sein zum Schweigen und Ertragen, es suhlte sich in ihrer Verzweiflung. Die Menschen tropften aus ihrer Realität, waren aufgelöst in Verlorenheit. Ihr wild hämmerndes Herz pulsierte durch die Betroffenheit einzig und allein für diesen Mann.

Doch der Gekreuzigte wandte seinen Blick ab und starb.

Traumadenom

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

UnterHalb

Wenn du in den Spiegel siehst, dann erkennst du mich nicht, weil ich es nicht will. Dann verstecke ich mich im Glas hinter einer namenlosen Maske und warte. Das Leben ist ein ständiges Warten. Ein Warten worauf? Auf das Ende, das Ziel, die Erfüllung, das Glück, die Gerechtigkeit, auf Gott, auf das Nichts wirklich greifbar jeder Wirklichkeit? Ein Warten auf den Anfang? Vielleicht darauf, dass die Tür, durch die man niemals ging, geschlossen wird, obgleich sie nur für dich bestimmt war? Ein Schloss für die Gesellschaft dahinter, bei der Godot sowohl Türsteher als auch der Dritte im Bunde sein kann. Siehst du es nicht? Die Tür ist geöffnet. Doch sobald du dich umdrehst, wird niemand hinter dir stehen.

Nur ich sitze hier und schaue dir zu, solange du mich nicht beachtest. Du erkennst, wer ich bin, wenn ich es will. Dann lasse ich dich in einer ruhigen Sekunde innehalten und zwinge dich, mir in die Augen zu schauen. Was siehst du? Siehst du mich? Halb dich, halb nichts.

Während du erwachsen wurdest, bin ich das Kind einer Mutter, die lediglich eine Frau, allenfalls eine Freundin war, und das Kind vieler Männer, die nie meine Väter waren. Meine halbe Mutter nannte ich stets beim Namen, während du ihr noch einen Titel gabst. Halb verschämt, halb mutig, halb lügend, Halbkind. Doch ähnlich wurdest du ihr dennoch, auch wenn du stets mehr wie dein Vater sein wolltest. Mehr wie er, dem Individuum in dir, dem Unbekannten in ihm. Ein falscher Name an dich adressiert und du wusstest, dass nicht er es war, den du sahst, sondern nur eine weitere Maske der Pest und Krankheit, dem Geschwür in seinem Kopf, das ihm die Wirklichkeit zerfraß. Darum bin ich dein Geschwür hinter dem Spiegelglas.

Du bist ein Geschöpf des Grundes, dem Schoß des Bodens entsprungen. Solange dein Vater allein die Erde ist, kannst du nicht entkommen und wirst dahin zurückkehren, Asche zu Asche, Staub zu Staub. In beiden Welten kannst du nicht leben, nicht gleichzeitig im Himmel, den Kopf in den Wolken und die Füße auf festem Grund, mit Beinen, die dich am Boden halten, die dich an das Fundament binden. Nur eines wird dir erlaubt. Dich zu öffnen und dein Federkleid hervorbrechen zu lassen, dich der Geburt deiner blutigen Schwingen hinzugeben. Das Blut wird trocknen und der Schmerz wird Teil jeder einzelnen Feder werden. Doch wenn du dir Flügel wachsen lässt, musst du sie auch benutzen und fortfliegen gen Sonnenlicht. Du kannst nie mehr zurückkehren.

Du wusstest das. Aber was hast du getan? Glaubst du denn, wenn du dir einen deiner Flügel ausreißt, kannst du beides erreichen, sowohl das Licht des Himmels berühren als auch den Widerhall der Sterne auf Erden vernehmen? Träumst du von diesem Wunsch oder wünschst du dir nur einen Traum, wenn manchmal leiser und manchmal lauter Einzelteile dieses Abglanzes vom Wasser reflektiert bis an dein Ohr dringen? Nein, das kannst du nicht. Du bist nicht das, was du dir zu sein wünschst, weil du nur sein kannst, was du werden willst. Darum lebst du weder hier noch dort.

Gottgleich werden wir sein, hörst du leise die Dunkelheit sagen. Doch die Zirkel im Stamm des Zwillingsbaumes ließen dich dein Ebenbild nur in den Schatten an der Wand erkennen. Lauter Einzelkinder mit leisem, halbzerfressenem Wimpel, der frisst alle Länder vom Meer fort, alle Meere vom Land. Ein Halbgott, um einen tanzenden Stern für die Nachwelt zu gebären. So bist du einer der letzten Menschen. Ich, zu narzisstisch im Selbsthass verloren. Du, zu sehr der langen Weile und dem Ekel vor dir selbst übergeben, um dich mit dir zu beschäftigen, richtest du dein Augenmerk auf die Menschen um dich herum, halb Mensch, halb Wolf. Ist der Mensch dem Menschen ein Wolf? So kann er sich nur gegen das Anders wehren, indem er sein Selbst begrenzt, falls er sich für die verschlossene Gesellschaft entscheidet, weil er nicht allein überleben und nicht allein über Leben entscheiden kann. Leben Wölfe in der Steppe allein? So sind sie Einzelgänger außerhalb der Gesellschaft und können einander nie zur Gefahr werden. Wieso, fragt schweigend die Dunkelheit, kannst du dann angreifen und angegriffen werden, wenn wir trotzdem einsam bleiben müssen?

Des Menschen Wolf ist nur ein Wolf, der zeigt, dass es das Recht nur durch das Unrecht gibt. Das Gericht ist zu jung, um die erste Instanz zu sein, denn an ältester Stelle stehen Verletzung und Ungerechtigkeit. Nur die menschliche Hälfte gibt dem Wolf das Recht und damit die Fähigkeit, gegen Regeln und Grenzen zu verstoßen. Vorher ist er nicht halb, sondern vollständig Wolf. Durch die Halbierung sind Menschen dazu befähigt, die Gegensätze zu erkennen und anzuwenden. Ohne Unrecht, weißt du nicht, was Recht ist. Wenn du nicht lügen kannst, weißt du nicht, was Wahrheit ist. Wenn du nicht verletzen kannst, weißt du nicht zu lieben. Du kannst nur lieben, weil du einsam bist.

Sind Halbkinder stets Töchter und Söhne von Sonne und Mond? Ich warte hinter dem Spiegel im Wunderland und höre das Kratzen in deinem Inneren. Etwas hat einen Kokon gesponnen und sehnt den Tag der Vereinigung herbei. Ich bin es nicht und doch sind das Es und Ich du. Wir wachsen in dir heran. Hast du uns vermisst? Du glaubst noch immer, du seist ein Geldstück, eine der Münzen auf deinen Augen. Du glaubst, du hättest zwei Seiten, doch jeder Mensch, ob Halbkind, Halbmensch, Halbgott, trägt viele Seiten in sich. Nicht nur zwei, nicht nur drei Instanzen.

Sind wir Möbiusschleifen, die nach Vervollständigung und Vollkommenheit suchen, nach einer Ergänzung der Lücke, die wir ein Leben lang bei uns behalten, ohne dass sie ein Teil von uns sein kann? Ein Teil von dir, ein Teil von mir. Ein Teil vom Nichts der Unendlichkeit. Im Individuum geteilt, halb weiblich, halb männlich, betrachte ich die Frau in dir und möchte gern ein Mann sein, obgleich unser Geschlecht des blauen Blutes nicht binär ist. Ob gleiche Gedanken vom Körper unabhängig bleiben? Oberhalb der Stirn, unterhalb der Gürtellinie, unter halber Aufsicht, unter halb verstandenen Worten, Schritt um Schritt, Text um Text. Du bist zu sehr ich, wir sind zu viel von uns, ich bin zu viel in mir selbst. So bin ich fast sie, fast er, weil ich nicht genug geben kann und doch zu viel zu geben habe. Du bist Jill und ich bin Jack und das halbe Blut von Sonne und Mond kocht in meinen Adern.

Name ist nur Schall und Rauch. Manchmal heiße ich Frank oder Harvey. Dann habe ich lange Hasenohren und spitze Zähne, bin manchmal weiß und manchmal schwarz, trage in seltenen Fällen sogar eine Uhr bei mir. Ich bin dein imaginärer Freund, mit dem du reden kannst, wenn niemand sonst dir zuhört. Ich bin Jack im Versteck, aber auch Jekyll und Hyde, bin das tausendfach Gute und Böse in dir, der Voyeur deiner Kindertage. Als Ripper baue ich meinen Ruhm auf Leichen, als Reaper verhelfe ich den Menschen durch ihren Tod zur Unsterblichkeit. Bin ich nur halb hier, bin ich nur halb schuldig, sowohl Quell als auch Wasser, Regen und Meer und Wüste zugleich. Du hoffst, dass du mehr wie ich sein kannst, die perfekte Maske des Ichs, das du innerlich, aber nicht nach außen bist.

Du bist nicht wie ich. Aber ich bin halb wie du. Zum Schluss steht nur ein halbes Ende.

Vorsatz

Dir,

jener anderen Hälfte, die mich erst vervollständigt,
 

In meinen rastlosen Träumen sehe ich nur noch lauter Einzelteile des Wunsches, den du damals mit mir geteilt hast. Wie viel Zeit auch vergangen sein mag, die Erinnerungen sind so frisch wie das Eis, das sich zu dieser kalten Jahreszeit immer an unserem Küchenfenster sammelt. Die weißen Kristalle passen gut zu uns beiden, zu unserer Beziehung und zu jeder zerbrechlichen Verbindung zwischen den Menschen. Uns hält nur ein Band, das leicht reißen kann.

In den vergangenen Tagen und Wochen haben wir den Morgen immer gemeinsam im Licht der ersten Sonnenstrahlen verbracht. Nun, eigentlich sind es die letzten Sonnenstrahlen, weil das Jahr zu Ende geht.

Doch wir sind noch immer hier, nicht wahr?

Jeden Tag lächelst du mich an und jeden Tag sprechen wir nicht über das, was diesen Moment zerstören könnte, einen schier endlosen Augenblick, den wir so vergeblich festhalten, den wir zur Ewigkeit zu machen versuchen, obwohl wir beide wissen, dass das nicht geht. Dabei merken wir nicht, dass wir den Moment nur festhalten können, indem wir ihn einfrieren und erstarren lassen. Es ist kalt geworden seitdem.

Du bist meinen Blicken ausgewichen, als du mit einer heißen Tasse Kaffee am Tisch saßt und gedankenversunken nach draußen geschaut hast. Oft schon betrachtete ich dein feines Haar, die weichen Lippen und manchmal auch deinen zarten Körper, der meinem so unverzeihlich ähnlich ist.

Obwohl es erst gestern war und sich diese Erinnerung klar in meinem Gedächtnis manifestiert, fühlt sich all das fern und fremd an. Denn als der Abend in deiner Abwesenheit immer weiter voranschritt, hat sich der Entschluss in meinem Kopf gefestigt. Es ist ein Vorsatz, den ich schon lange in mir spüre, bis er so deutlich geworden ist, dass ich ihn nun nicht mehr ignorieren kann.

Um keine Angst vor dem Verlieren haben zu müssen, sollte ich wohl besser handeln, bevor die Geschehnisse mich einholen. Dann kann ich mich darauf vorbereiten. Aber vor allen Dingen, wenn ich von meiner Seite aus dafür sorge, dass das geschieht, wovor ich Angst habe, dann kann ich mir selbst die Schuld zuweisen. Sobald ich die Verantwortung übernehme, fühle ich mich wenigstens nicht mehr hilflos.

Jetzt kommt es mir so vor, als würde ich den gestrigen Abend noch einmal durchleben.

Kannst du dir vorstellen, wie das war? Würdest du mir von dir erzählen, wenn ich es zuerst versuche? Ich stand vor dem Spiegel und schaute in meine Augen, um aus ihnen irgendeine Sicherheit herauszulesen. Mit fahrigen Bewegungen schloss ich die Knöpfe meines Hemdes und streifte mir danach die Jacke über. Meine Hände zitterten. Ich weiß, dass nicht nur die Kälte der Grund dafür war. Bevor ich den Raum verließ, blickte ich einen langen Moment zurück. Das Bett war noch vom Morgen zerwühlt, doch durch das Fenster drang mittlerweile nur die Schwärze der Nacht. Ich wandte mich ab, ging mit raschen Schritten aus dem Schlafzimmer und griff im Flur nach dem Schlüssel. Als ich die Wohnungstür öffnete, zögerte ich keinen Augenblick mehr. Dieses Mal würde ich anders handeln.

Doch du gabst mir keine Chance, diesen Entschluss unter Beweis zu stellen.

Ich hörte deine Schritte, noch bevor ich überhaupt die Tür hinter mir schließen konnte. Kurz darauf begegneten sich unsere Blicke. Noch immer verstehe ich nicht, warum du gelächelt hast.

Im ersten Moment war ich einfach nur froh dich zu sehen. Trotz meiner Erleichterung nahm ich jedoch irritiert wahr, wie du wortlos deine Lippen auf meine legtest. Es war ein sanfter Kuss, der mich fast so wütend machte wie die Worte, die du danach gesprochen hast, als ich dich nach deinem Verbleib fragte. Du warst den gesamten Tag fort gewesen und kamst nun zwei Stunden später als erwartet. Die zwei Stunden wären nicht wichtig gewesen, hättest du sie mir erklärt. Fast wünschte ich, du hättest mich angelogen. Stattdessen meintest du nur, es sei egal.

Ich wollte keine Entschuldigung, nur eine Erklärung.

Jedes Mal nehme ich mir vor, ruhiger zu werden und dich mehr spüren zu lassen, wie wichtig du mir bist. Aber irgendwie schließt sich das in meinen Handlungen gegenseitig aus. Ich will nicht, dass aus Gefühlen Gewohnheit wird, egal wie lange wir schon zusammen sein mögen. Und ich weiß, dass es nicht an unseren Emotionen scheitert.

Vielleicht sind es nur Worte, die alles zerstören.

Darum habe ich geschwiegen, obwohl ich innerlich vor Wut kochte. Ich erwiderte deinen Kuss fordernder, als du ihn gemeint hast. Dabei spürte ich dein Lächeln auf meinen Lippen. Bereitwillig ließest du dich gegen die Wand in deinem Rücken fallen. Rasch öffnete ich deine Jacke, um deinen Körper zu fühlen. In solchen Momenten wird mir immer klar, wie sehr ich alles an dir mag. Die sanften Rundungen deines schlanken Körpers unter meinen Fingern, deine Stimme und deine Wärme. Wenn ich dich küsse, muss ich mich stets ein wenig hinabbeugen. In einer Umarmung legst du immer deinen Kopf in die Nähe meines Schlüsselbeins und fährst sanft mit der Hand mein Rückgrat hinab. Und während ich mit den Fingerspitzen über deine kurzen dichten Wimpern streiche, spielst du oft mit meinen Ohrringen, die du eigentlich zu groß findest.

Obwohl ich das alles für dich empfinde, kann ich nichts dagegen tun. Ich werde dich weiterhin verletzen und du wirst weiterhin schweigen. Wenn ich dir nicht das geben kann, was du suchst, dann findest du zeitweise eine andere Erfüllung.

Darum halte ich es für möglich, dass du diese Erfüllung auch für die restliche Zeit findest.

Ohne mich.

Weil ich dich nicht zerstören möchte.

Jedes Wort stellt eine Waffe dar. Dennoch ist es meine einzige Waffe.

Aus diesem Grund sage ich dir ein letztes Mal, dass ich dich liebe.

Und ich hoffe, dass ich meinen Entschluss, meinen Vorsatz für das neue Jahr nicht ändern werde.

Der Vorsatz, diesmal nicht zurückzukehren.

Whiteout

Er blickt hinüber in ihr schlafendes Gesicht. Die gelben Lichtreflexe der Laternen huschen gleichmäßig über die sanften Konturen ihrer Haut, nur unterbrochen von den Schatten der Bäume am Straßenrand. Er wendet sich ab und schaut wieder nach vorn. Es hat aufgehört zu schneien. Ein leichter Nieselregen liegt in der Luft.

Die Raststätten neben der Autobahn ziehen vorbei. Ihre Lichter verschwinden hinter ihm, bis auch das letzte Leuchten in den Seitenspiegeln erlischt. Zwischen den Leitplanken hindurch greift Finsternis nach dem grauschwarzen Asphalt. Nun rücken die Wälder näher an den Rand der Straße und atmen ihren Nebel in die Nacht.

Seit zwei Stunden lauscht er schon dem Motorengeräusch seines Wagens. Es erscheint ihm so laut, dass er das Radio ausgeschaltet hat, weil er nichts hören kann. Nur wenige Fahrer sind unterwegs. In der Dunkelheit sehen die Rücklichter der vorausfahrenden Autos in der Ferne wie Glühwürmchen aus. Leuchtkäfer, die unentwegt vor ihm fliehen, die er nicht erreichen kann und die ihn doch nicht verlassen wollen. Noch weiter entfernt, hinter ihnen am Horizont, blinken rote Sterne, vielleicht von den Windrädern oder Flugzeugen oder Rauchschlotspitzen der Fabriken.

In diesen Nächten des Schweigens, in denen er fast einsam ist, obwohl er nur die Hand neben sich ergreifen müsste, in diesen Nächten driften seine Gedanken weit weg. Aus der Leere formt er Bilder und Worte. Die Heimkehr fällt ihm leichter, wenn sie an seiner Seite ist, weil sie ihn allein lassen kann, ohne zu gehen. Er hört ihren Atem nicht, denn das Dröhnen der Geschwindigkeit ist zu laut. Doch er weiß, dass ein Wort von ihm sie wecken könnte. Und dass er dann nicht mehr allein sein müsste.

Auf einmal hört der Nieselregen auf. Schlagartig wird es still. Das Motorenrauschen verstummt und sein Wagen fährt ruhig, beinahe lautlos, als würden die Reifen über den Asphalt schweben. Unter den Nebelfetzen glitzert die Straße. Die Temperaturanzeige über dem Kilometerstand fällt um ein einziges Grad.

Links schießt ein Auto an ihm vorbei. Er schaut ihm nach, während sein Atem in der Luft kondensiert. Ihm fällt auf, dass sich das Lenkrad in seinen Händen eiskalt anfühlt. Rechts wird er von einem weiteren Wagen überholt. Es geschieht annähernd zeitgleich. Er spürt den reißenden Windzug und hält sich noch stärker am Lenkrad fest. Jetzt will der zweite Fahrer von der Auffahrt auf die Autobahn einbiegen. Der Blinker wird gesetzt. Am Ende des Beschleunigungsstreifens gerät der Wagen ins Schlingern. Von links zieht der Erste zu ihm hinüber. Er sieht ihn nicht. Halb auf der Fahrbahn, halb auf dem Standstreifen bricht das Heck des einen Wagens aus. Alles geschieht wie in Zeitlupe. Im Augenwinkel bleibt ihr schlafender Körper reglos, als hinter ihr etwas Schwarzes am Fenster vorbeifliegt. Der Aufprall erzeugt ein Kratzen und Knirschen und Schaben, das von woanders herzustammen scheint, bloß nicht von vorn. Bloß nicht von vorn.

Eine endlose Sekunde lang sieht es so aus, als würde eines der Autos horizontal auf der Straße weitergleiten. Dann hebt sich der rechte Hinterreifen vom Boden.

Er hat schon längst gebremst, ohne es zu merken, während er irritiert beobachtet, was sich vor ihm abspielt, ohne davon betroffen zu sein. Das sieht aus wie ein Tanz, denkt er verwirrt. Als die Tänzer in ihrer Endposition zum Stillstand kommen, verhallen die letzten Geräusche. Auch er ist am Rand zum Stehen gekommen und wartet den Moment bis zum Applaus ab.

„Ruf einen Krankenwagen.“

Er steigt aus und geht einen Schritt nach vorn, zögert und geht wieder zurück, zum hinteren Teil seines Wagens, öffnet den Kofferraum und nimmt von dort eine der Westen heraus, reißt die durchsichtige Plastikschutzhülle von der grellen Farbe herunter, wirft sie zurück in den Kofferraum und zieht sich die Warnweste an. Dann holt er tief Luft. Orangefarbenes Licht brennt in seinen Augen. Es lässt die Umgebung in Intervallen aufleuchten. Das ist seine Warnblinkanlage. Er fragt sich, ob er sie selbst angeschaltet hat oder ob sie es war.

Er geht wieder nach vorn, diesmal auf der rechten Seite, und öffnet die Beifahrertür.

„Bleib bitte hier“, hört er sich sagen.

Er spürt, wie er schnell läuft. Das hat er schon ewig nicht mehr getan. Vielleicht sollte er das häufiger tun, zusammen mit ihr, hinunter ans Meer und mit nackten Füßen im Sand spazieren gehen. Die Vorstellung ist jedoch viel schöner als die Wirklichkeit. Sie ziehen nie ihre Schuhe aus, weil es dafür meistens zu kalt ist. Außerdem liegen oft Steine und Scherben im Sand. Nach kurzer Zeit würden ihre Fußsohlen schmerzen. Darum reicht es ihm, sich einfach vorzustellen, dass er es jederzeit tun könnte, wenn er wollte. Er versteht nicht, warum er gerade jetzt daran denken muss.

So weit erschien ihm der Weg gar nicht, als er noch vor ihm lag.

Keuchend erreicht er die Unfallstelle. Ein Wagen schmiegt sich seitlich an die Leitplanke, mit zerbeulter Motorhaube, in entgegengesetzter Richtung. Wie eingefroren auf Geisterfahrt, denkt er und merkt, dass sein Nacken ganz kalt ist und seine Beine ganz weich. Ihm ist schwindlig. Seine Hände sind feucht und zittern. In dem Wagen sitzt ein junger Mann, ungefähr so alt wie er selbst. Er umklammert das graue Material des Airbags und starrt wie ein Kind darauf herab, als handelte es sich um einen Wasserball, aus dem jemand die Luft gelassen hat. Auf der Beifahrerseite lassen sich beide Türen nicht öffnen. Er rüttelt an ihnen, versucht in das Innere des Wagens zu gelangen, aber nichts rührt sich. Quer über die rechte Seite des Autos gräbt sich eine Delle ins Blech. Hinter dem Steuer bleibt der junge Mann weiterhin reglos und schaut mittlerweile durch das Spinnennetz seiner zerbrochenen Frontscheibe. Seine Lippen sind weiß wie der Raureif auf dem Gras am Randstreifen, wie der Frost auf den Leitplanken, wie das Eis auf der Fahrbahn. Viel weißer als der Rest seines aschfahlen Gesichtes. Dass ein Mensch derart weiße Lippen haben kann, hätte er nicht gedacht. Darüber hinaus scheint es dem Mann allerdings gut zu gehen.

Für das andere Automobil gilt das nicht. Es liegt einige Meter entfernt, umgekehrt auf dem Dach. Die Seitenfenster sind zersplittert wie Zuckerglas. Eine Frau hängt kopfüber in ihrem Gurt. Sie sieht aus wie eine Marionette, die sich in den Stricken verfangen hat. Rechts und links hängen ihre Arme schlaff herab, als wären sie im Jubel erhoben worden. Ihr stehen die Haare zu Berge. Im Gewirr der langen blonden Strähnen sind vereinzelt Diamanten oder Schmucksteine angebracht. Nachdem er näher herangetreten ist, schüttelt er unwillkürlich den Kopf über seine eigene Dummheit. Das sind keine Schmucksteine, sondern Glassplitter. Er wünscht sich, er hätte es nicht im ersten Augenblick schön gefunden.

Während er vorsichtig ihren Gurt löst, hört er jemanden reden. Das könnte seine eigene Stimme sein, mit der er sich beruhigend oder aufgebracht an die Frau wendet, um sie aus ihrem Schlaf zu wecken. Er weiß nicht, wie er es getan hat, aber dann schafft er es, sie aus dem Wagen zu ziehen. Er spürt keinen Atem an seinem Handrücken, keine Bewegung ihres Brustkorbs, keinen Herzschlag. Mit den Fingern sucht er in ihrer Mundhöhle nach Erbrochenem und auf ihrer nackten Haut nach dem Punkt, den er einst, scheinbar in einem anderen Leben, zu finden gelernt hat. Drei Finger breit die Rippen hinauf. Er drückt mit beiden Händen zu, rhythmisch im Takt ihres verloren gegangenen Herzschlags, berührt ihre Lippen, nicht aus Zuneigung, sondern aus Angst, presst wieder die Handballen auf ihr stummes Herz, um es zum Sprechen zu bewegen.

Es hat erneut zu nieseln begonnen. Blaue Lichter flackern im Regennebel. Und endlich geben seine Hände ihr den Widerhall des Lebens zurück.

Sanitäter packen ihn an der Schulter, knien sich neben ihn, klopfen ihm auf den Rücken, holen ihre Geräte und Koffer hervor und eine Trage, laden die Bewusstlose ein und fahren sie ins Krankenhaus. Sterben muss heute niemand.

„Rettet sie“, sagt er und lächelt.

Vom Rand aus beobachtet er das Geschehen. Der junge Mann wurde aus seinem Wagen befreit und steht unter Schock vor dem anderen Fahrzeug. Eine Decke wurde ihm über die Schulter gelegt. Er klammert sich daran fest, wie er zuvor den Airbag umklammerte. Ein Sanitäter dirigiert ihn schließlich umsichtig zum Krankentransport und lässt ihn einsteigen. Ein paar Polizisten stellen kleine Kegel auf der Straße auf. Dann winken sie die nachkommenden Autos auf der freien Überholspur vorbei.

„Können Sie uns schildern, was passiert ist?“

Zuerst versteht er nicht, was der Mann, der plötzlich vor ihm steht, von ihm will. Ihm fällt dessen Uniform auf. Sanft legt der Fremde die Hand an seinen Oberarm. Auch der zweite Mann daneben ist uniformiert und wirkt freundlich. Schließlich fällt ihm ein, dass es sich offenbar um Polizisten handelt. Er muss seine Gedanken ordnen. Er muss eine Antwort finden.

„Es ging alles sehr schnell“, sagt er. Es klingt in seinen Ohren wie der Text aus einem schlechten Drehbuch. „Ich kann mich kaum recht entsinnen, wie das passiert ist. Nur so bruchstückhaft, als hätte man meine Erinnerungen in lauter Einzelteile zerschlagen. Zack! Verstehen Sie?“ Er lacht unbeholfen. Warum, das versteht er selbst nicht. Ihm ist kalt, deshalb zieht er die Decke, die ihm jemand umgelegt hat, ohne dass er es mitbekam, enger um die Schultern.

„Beruhigen Sie sich erst einmal. Sie stehen unter Schock.“

Er schaut hinauf in das besorgte Gesicht des Sanitäters, der sich zu ihm hinabbeugt und noch einmal seine Schulter tätschelt. Jetzt erst fällt ihm auf, dass er nicht mehr auf der Straße steht, sondern in einem Transporter sitzt, auf einer von zwei Bänken, die einander gegenüber angebracht sind. Dazwischen befindet sich ein kleiner Tisch, auf der linken Seite, direkt unter dem Fenster. Er wundert sich, wie er in den Polizeitransporter gekommen ist und warum ein Sanitäter vor ihm steht, der doch eigentlich bei der Frau sein müsste, die er gerettet hat, die mit den blonden Haaren.

Leise murmelt er etwas und zuckt mit den Schultern.

„Was haben Sie gesagt?“, fragt ihn der Sanitäter stirnrunzelnd, übertrieben langsam, in einem deutlichen Tonfall.

„Ich weiß es nicht“, antwortet er, zuckt erneut mit den Schultern und lächelt verlegen, bevor sein Gesicht wieder jeglichen Ausdruck verliert. Er kann sich nicht daran erinnern, überhaupt etwas gesagt zu haben.

„Machen Sie sich keine Vorwürfe“, meint der Fremde und streicht ihm behutsam über den Oberarm.

„Wie bitte?“

„Die meisten Menschen können in so einer Situation nur schwer reagieren.“

„Wie bitte?“ Er schüttelt den Kopf, greift sich an die Stirn, massiert seine Schläfen, um seine Gedanken in Gang zu bringen. Das Denken und Begreifen fällt ihm schwer, als hätte er vergessen, wie das geht. Vor seinem geistigen Auge sieht er diesen großen dunklen Sack mit dem Reißverschluss, der ungefähr zwei Meter lang ist und von unten bis oben reicht, und am Ende sind da diese blonden Haarspitzen, die ein wenig heraushängen und auf dem dunklen Material, auch ohne das funkelnde Glas, im Scheinwerferlicht der Autos auffallend hell wirken. Er fragt sich, ob er das tatsächlich gesehen hat. Wenn es wahr ist, dann will er es nicht noch einmal sehen müssen. Es soll nicht von vorn beginnen. Bloß nicht von vorn.

Da war gar kein Leichensack. Aber er erinnert sich an die weit aufgerissenen Augen der Frau. Er weiß nicht, ob er ihren Herzschlag wirklich nicht bemerkte. Woran er sich jedoch erinnert, sind ihre Augen, die nicht blinzeln konnten, und ihr blondes Haar mit den Perlen aus Kristall und Rubin.

„Ist sie tot?“

Der Andere antwortet ihm nicht. Er schaut ihn nur an, so verständnisvoll, angefüllt mit der nötigen Stärke in seiner Ausstrahlung, derer er sich bedienen kann, sollte es erforderlich sein. Einen langen Moment versucht er, sich an den Namen dieses Mannes zu erinnern. Dann fällt ihm ein, dass er dessen Namen gar nicht kennen kann. Das ist nur irgendein Polizist. Oder irgendein Sanitäter. Er kann es selbst nicht genau sagen.

Er starrt auf die Riemen an der Bahre, die links von ihm in der Mitte des Wagens befestigt ist. Auf der anderen Seite der Bahre befindet sich ebenfalls ein Stuhl, der demjenigen gleicht, auf dem er selbst sitzt. Das Fenster ist verschwunden. Stattdessen hängen dort ein paar Gegenstände, die sachte hin und her pendeln, hin und her. Er sieht es nur im Augenwinkel und weiß nicht, worum es sich dabei handelt. Es interessiert ihn auch nicht. Er merkt, dass ihn die schaukelnde Bewegung des Wagens müde macht, doch er weiß nicht, warum der Transporter plötzlich so anders aussieht, seit wann er anders aussieht als der, in dem er eben noch saß, und seit wann sie nicht mehr stehen, sondern losgefahren sind, wohin sie fahren und warum er eigentlich allein ist.

„Ich rede mit Ihnen!“ Jemand sagt sehr eindringlich seinen Namen. „Sind Sie noch da? Ich rede mit Ihnen. Antworten Sie bitte auf meine Fragen. Sehen Sie mich an. Wissen Sie, wo sie sind?“ Immer wieder hört er seinen Namen, reagiert und antwortet. Was er sagt, versteht er nicht. Was der Andere sagt, versteht er genauso wenig.

Er sieht ein Standbild, einen Mann, eingefroren auf dem Asphalt. Das ist eine Erinnerung, denkt er und versucht zu atmen. Das ist er selbst.

Eine Frau liegt auf dem Boden im Scherbenmeer. Es ist die Frau mit dem blonden Haar. Sie atmet nicht und schaut ihn an. Er möchte zu ihr gehen, aber sein Körper ist erstarrt. Er kann sich nicht bewegen. Da sind Fesseln, die ihn halten, wie die Stricke einer Marionette, breit und anthrazitfarben. Sie schnüren seinen Magen ab. Es schmerzt, doch er kann sich nicht von ihnen befreien.

„Ich rede mit Ihnen. Können Sie mich hören?“

Verschwunden ist die Straße und der Horizont, die Erde und der Himmel, als wären sie eins geworden. Der Frost hat riesige Eisblumen auf das Glas vor seinen Augen gemalt. Spinnennetzartig breiten sie sich aus, umgeben sein gesamtes Blickfeld und werfen ihre Kristalle in die Nacht. Ihm ist übel, weil der Gurt ihm den Magen abschnürt, so übel, dass er sich übergeben möchte. Das Schwindelgefühl und die Trockenheit in seinem Mund hindern ihn daran. Er versucht nur noch zu atmen, während sein Schädel unerträglich dröhnt, ein Pfeifen in seinen Ohren anschwillt und langsam abklingt. Er will nicht alles noch einmal erleben.

„Bleib bitte hier“, hört er sich sagen und sucht nach der Hand seiner Frau.

Er würde gern loslaufen, schnell wie der Wind. Das hat er schon ewig nicht mehr getan. Vielleicht hätte er es häufiger tun sollen, zusammen mit ihr, hinunter ans Meer und mit nackten Füßen im Sand spazieren gehen. Die Vorstellung ist jedoch viel schöner als die Wirklichkeit.

Die Heimkehr fiel ihm leichter, als sie an seiner Seite war. Im Schlaf sah sie so friedlich aus. Er mochte es, mit ihr durch die Nacht zu fahren und schweigend für ein paar Sekunden das vorbeiziehende Laternenlicht auf ihrer Haut und dem blonden Haar zu betrachten.

Noch heute sieht er ihr Gesicht im Schlaf.

XXX

Er versucht ihm den xxx abzubeißen, doch abgesehen vom xxx, das auf den Boden tropft, und dem teils schmerzlichen, teils lustvollen Schrei, welcher sich der Kehle des nackten Mannes entwindet, bricht nichts aus dem geschundenen Körper hervor. Beide Männer atmen schwer, bis der eine es schafft, die Qual aus seiner Stimme zu verbannen, um verächtlich zu sagen:

„Du bist zu schwach.“

Dem anderen rinnen bereits die Tränen über das vom Schweiß glänzende Gesicht, aber das Schluchzen unterdrückt er. Kurz entschlossen greift er nach dem xxx, welches neben ihm auf den kalten Steinplatten liegt, und setzt dessen gezackte xxx unter der in xxx zitternden xxx an.

Er hält die xxx Spitze mit den Fingern fest und drückt das xxx Metall gegen die Haut des xxx, bevor er nach einigem Zögern zu xxx beginnt. Mühsam werden die Muskeln durch die xxx Bewegung auseinandergerissen. Weiteres xxx klatscht zur Erde. Jeglicher Schmerz wird gierig von den Drogen aufgesogen, welche seine menschliche Hülle in einen undurchdringlichen Nebel hüllen. Die mit den xxx verbundene Pein ist taub geworden, nur noch dumpf wahrnehmbar.

Wie Regen prasseln die Geräusche auf ihn ein. Ein angenehmes Rauschen dringt von außen zu seinen Ohren durch.

Und dann ist alles um ihn herum still.

Ein weicher Klang mischte sich in seinem Kopf waren lauter Gedanken die er kaum mehr zuordnen konnte und die ihn bestürmten Wogen aus Schmerz und einer unbeschreiblichen Befriedigung und etwas dass er nicht definieren konnte wie grauenvoll sein Tod wirklich sein würde auch wenn er sein Leben zu etwas Besonderem machen wollte damit er ein Teil von einem anderen Menschen waren nur lauter Einzelteile von einem anderen Menschen zu sein in ihm sein ihm innerlich sein nicht mehr allein nie mehr allein ein Teil ein Teil vom Menschen ohne Einsamkeit.

Ein Teil von dir.

Yokohama

Nina hat ein besonderes Album. Es liegt ganz hinten in der untersten Schublade ihres Schreibtischs. Kleine Mädchen besitzen oft Alben, in denen sie etwas sammeln. Aufkleber im Stickeralbum. Bilder im Fotoalbum. Freunde im Poesiealbum. Gedanken im Tagebuch.

Nina sammelt in ihrem Album Erinnerungen. Erinnerungen an sich selbst. In jenes Album, ganz hinten in der untersten Schublade ihres Schreibtischs, klebt sie äußerst sorgfältig, was sie von sich selbst verlor.

Mit einem ausgerissenen Zehnagel fing alles an.

Sie warf ihn nicht weg und jetzt klebt er in ihrem Album. Ein paar Seiten weiter bewahrt sie einen geflochtenen Zopf auf, den Mama abschnitt, als Nina sich einen Kaugummi in die Haare geschmiert hatte und Mama wütend geworden war. Sogar eine Locke von ihrem Schamhaar klebt darin. Besonders stolz jedoch ist Nina auf die Wundinseln.

Wenn sie hingefallen ist und es blutet, dann entstehen sie. Ganz vorsichtig löst Nina die kleinen Inseln von ihrer Haut ab, sobald sie reif genug sind. Erst anschließend macht sie ein Pflaster auf die helle, fleischfarbene Stelle, die zurückblieb. Dann klebt sie den Schorf auf und notiert darunter den Tag der Ablösung. All diese Wundinseln besitzen einen Namen, meist nach einem Kontinent oder Land, an dessen Form der Schorf erinnert. Manchmal wiederholen sich diese Formen, daher besitzt Nina Erinnerungen, die „Australien 1“ und „Australien 2“ und „Australien 3“ heißen, obwohl sie niemals in Australien war.

Einmal hatte sie ein seltsam geformtes Stück von einer Verletzung am Knöchel. Sie kannte kein Land, das so seltsam aussah wie dieses Stück Schorf, daher klebte sie es ein und nannte es „Yokohama“. Erst kürzlich hat sie im Fernsehen etwas davon gehört. Sie hatte keine Ahnung, wie Yokohama aussah, aber so seltsam der Name klang, so wahrscheinlich passte die Form davon vermutlich zu ihrer Wundinsel.

Staub sind tote Menschen, hat mal jemand zu ihr gesagt und Nina konnte es nie vergessen. Hautpartikel und Haare und abgestorbene Zellen, lauter Einzelteile von Menschen, die tot sind. Darum beherbergt das Album lauter Einzelteile der toten Nina.

Setz deinen Helm auf und mach die Schützer um, sagt Mama und Nina antwortet, jaja, und lässt die Schützer weg. Später behauptet sie immer, sie habe es vergessen. Dabei sammelt sie Erfahrungen. Sie sammelt Stürze.

Ihre Mitschüler verstehen sie nicht. Zum Geburtstag hat Mama sie mal eingeladen. Sie haben das Album gefunden und – auf dem Weg zur Schule lachen sie und schubsen und treten.

Nina kann den Griff oben an ihrem Schulranzen nicht ausstehen. Viel zu leicht kann man ihn packen und daran ziehen. Dann liegt man auf dem Rücken wie eine Schildkröte. Es blutet nicht, aber es tut trotzdem weh. Das sind keine Verletzungen, die man abziehen und aufbewahren kann. Keine Erinnerungen, die man behalten wollen würde.

Der Weg ist weit, aber Nina möchte heute nicht mit der Bahn fahren. Die Bahn, mit der all die anderen Kinder fahren. Es kann nicht schaden, zu Fuß zu laufen, denn schließlich hat sie Zeit. Ihr Orientierungssinn ist nicht gut, doch dieser Weg müsste richtig sein. Die Häuser hier sind wahrscheinlich nicht mehr bewohnt. Höchstens Obdachlose wohnen darin, sagt Mama. Die Türen und Fenster sind durch Eisenplatten versperrt oder komplett zugemauert. Der Laden vorne an der Ecke verkauft Tierbilder, umrahmt von goldenem Plastik, und unechte Blumen in bunten Vasen.

Nina geht über die Straße.

An einigen Stellen ragen lockere Pflastersteine heraus, über die man leicht stolpert. Die Häuserwand wurde mit Sprühdosen bemalt und auf der zertretenen Rasenfläche beim Eingang liegt ein umgekippter Mülleimer. Daneben auf dem Gehsteig flattern walnussgroße weiße Vögel herum. Die winzigen Vögel huschen schnell über das Pflaster, als spielten sie miteinander Fangen. Während Nina weitergeht, achtet sie darauf, keinen von ihnen zu zertreten.

Bald ist sie auf der belebten Hauptstraße. Aus einem vorbeifahrenden Auto hört sie laute Musik. An der Kreuzung muss das Auto halten, sodass es Nina bald eingeholt hat. Der Fahrer schaut zu ihr hinüber und macht eine abfällige Bemerkung. Nina streckt ihm die Zunge heraus.

Einige Radfahrer kommen vorbei, bleiben stehen, manch einer greift nach seinem Mobiltelefon. Ein älterer Mann hält kurz die Hand zur Seite und sieht Nina an. Sie weiß nicht, warum er das tut. Andere fahren vorbei.

Nina denkt zurück an die winzigen weißen Vögel, die miteinander gespielt haben.

Schade, dass es nur Papierfetzen waren, die aus dem Mülleimer fielen und im Wind tanzten, sonst hätte Nina vielleicht wirklich die Zunge herausgestreckt. Wenn die Mitschüler Freunde gewesen wären, hätten sie vielleicht das Album nicht zerrissen. Wenn Nina nach rechts und links geschaut hätte, wenn die Musik nicht so laut gewesen wäre, hätte der Autofahrer sie vielleicht bemerkt.

An ihrem reglosen Arm ist die Haut vom Asphalt aufgeschürft. Das ergäbe bestimmt eine hübsche Wundinsel, sehr groß und merkwürdig geformt. Vielleicht ein zweites Yokohama.

Staub sind tote Menschen. Tote Menschen sind Staub.

Nina sammelt ihr totes Ich. Sie sammelt den Tod. Wie jeder von uns.

Lebewohl, Yokohama.

Zentrum

Dass ich dich mochte, war keine Erinnerung, es war eine Tatsache.

Der Tag und dessen Sonnenlicht waren verblasst, fast schon vergangen. Die Laternen gingen an und ich lief durch die Straße. In der Mitte der Straße, nicht in der Straßenmitte, in der vertikalen Mitte der Straße sah ich ein Fahrrad.

Es war dein Fahrrad. Ich wusste, dass es dir gehörte.

Dein Fahrrad stand nicht an eine Laterne gelehnt, es stand mitten auf dem Fußweg, auf der horizontalen Mitte des Fußweges.

Es war angeschlossen, mit einem Schloss. Nicht an eine Laterne war es angeschlossen, denn das Fahrrad stand nicht an einer Laterne. Es war nur angeschlossen, an sich selbst angeschlossen.

Ich mochte dich noch immer und wusste, dass es dir gehörte. In diesem Moment dachte ich, dass du ziemlich dumm sein musstest. Das Schloss war einfach, ein normales Zahlenschloss, und nicht stabil. Es war nur an die Speichen geschlossen, also in sie hinein geschlossen. Das Schloss war nicht an das Fahrrad geschlossen, es war in das Fahrrad geschlossen.

Ich zog eine Zange hervor und ich mochte dich noch immer, trotzdem.

Die Speichen waren ganz dünn, wie das immer bei einem Fahrrad ist, auch bei deinem. Es war leicht, sie mit der Zange zu durchtrennen. Ich schnitt die Speichen mit der Zange durch und bog sie zur Seite. Du musstest wirklich dumm gewesen sein.

Dann konnte ich das hinein geschlossene Schloss aus dem Fahrrad entfernen. Auch wenn ich dich mochte, drehte ich mich um und nahm das Schloss mit.

In der horizontalen Mitte des Fußweges, der vertikalen Mitte der Straße stand dein Fahrrad unangeschlossen und mit zerschnittenen Speichen. Ich hatte das Schloss.

Ohne das Schloss in deinem Inneren bist du nicht mehr als ein Haufen Schrott, lauter Einzelteile, die mitten im Weg stehen und von zerschnittenen Speichen zusammengehalten werden. Nicht mehr.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Was bewegt Menschen dazu, sich in Ideologien hineinzusteigern und sie mit Hass aufzuladen, obwohl sich an ihrer Lebenssituation nichts geändert hat und sie keinen Grund für ihre Wut besitzen? Ich wohne in Sachsen, nicht weit entfernt von Heidenau, und höre immer wieder von ganz normalen Leuten, mit denen ich sonst gut auskomme, menschenverachtende Kommentare über Flüchtlinge oder generell über Ausländer. In Notsituationen werden Menschen zu Monstern, das stimmt, aber was bringt sie dazu, ihre Menschlichkeit zu verlieren und Notleidende anzufeinden, wenn es ihnen selbst eigentlich gut geht? Ist es vielleicht wirklich nur die Suche nach einem Gemeinschaftsgefühl, das ihnen ohne Ideologie fehlt? Diese Fragen beschäftigen mich in letzter Zeit häufig, ohne eine Antwort darauf zu finden.
Dieser Text ist bewusst aus umgekehrter Sicht verfasst. Ich weiß, dass man das leicht falsch verstehen oder sich davon angegriffen fühlen kann, darum entschied ich mich am Schluss für diese lange Anmerkung. Dennoch möchte ich an dieser Stelle nichts über meine Beweggründe schreiben. Stattdessen interessiert mich, welche Gedanken beim Lesen ausgelöst wurden.
Der Vollständigkeit halber muss ich darauf hinweisen, dass ich mich bei manchen Formulierungen an Mein Kampf von Adolf Hitler orientierte. Die Hingabe des Einzelnen für das Ganze ist ein Zitat von ihm. (Nach deutschem Recht ist das Zitieren erlaubt, solange es nicht kommerziellen Zwecken dient oder damit Volksverhetzung gegen bestimmte Menschengruppen betrieben wird.) Des Weiteren stammt die Devise von Macht durch Disziplin, Gemeinschaft und Handeln aus dem Roman Die Welle von Morton Rhue. An zwei Stellen finden sich Anspielungen auf die Lieder Schrei nach Liebe von den Ärzten und Slide von den Dresden Dolls. Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (20)
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Von:  Sas-_-
2014-08-27T12:37:41+00:00 27.08.2014 14:37
Ah, soweit ich weiß, übertrifft die Selbstmordrate sich vor allem an Weihnachten selbst, weil das als letzteres angesprochen wurde :]
Hm, automatisch denke ich natürlich an meine Neujahre, und mal abgesehen vom Lärm, den ich kaum errtragen kann, weshalb ich Oropacks trage, mag ich das Neujahr. Vielleicht auch vornehmlich, weil ich fast jedes Jahr für ein beinahe Massaker sorge :DDD
Mir gefällt dein kurzer Text, zynisch ist er eigentlich trotzdem durch und durch :DD Auch wenn der Erzähler noch von sich behauptet, dass er das nicht so meinen würde. Es klingt alles recht verbittert, als sei es das nun alles wirklich nicht wert :] Die Stimmung, die hier wiedergegeben wird, ist sehr gut geworden, ich kann das alles zwar nachvollziehen, empfinde es aber selbst nicht so. Also, das Neujahr. Okay, die Vorsätze sind Schwachsinn, die mache ich nie und wenn mir Leute von ihren erzählen, hätte ich gern jemanden, mit dem ich wetten kann, wie lange es dauert, bis die ganze Sache kippt :DDD
Ja, tatsächlich weiß ich nicht genau, was ich noch zu deinem Text sagen kann, außer, dass ich hoffentlich bald die Zeit finde, den nächsten Einschuss zu lesen :]

LG
Sas-_-
Antwort von:  halfJack
27.08.2014 19:38
So viel dazu, dass unter den Entwürfen sämtlicher Schriftverkehr auf Animexx gespeichert wird. Da hatte ich wohl Pech, denn die Antwort, die ich dir eben schrieb, wurde mit dem Versenden gelöscht und ist irgendwo in den Tiefen von Werweißwo verschwunden. Nun gut, ich versuche nochmal, alles zusammenzubekommen.

Zuerst danke ich dir für deinen Kommentar! :)
Welcher Feiertag bei der Selbstmordrate der Spitzenreiter ist, war mir bei der Reihenfolge der Nennung nicht unbedingt wichtig. Es schien mir nur bemerkenswert, dass es überhaupt so ist. Vielleicht liegt es an der Sentimentalität, Melancholie, Wehmut, Reue, dass sich Menschen gerade an solchen Tagen für den Tod entscheiden. Mich würde interessieren, wie das wohl in Japan ist, immerhin ist dort Weihnachten kein Familienfest, sondern eine romantische Pärchenzusammenkunft und Silvester wird nicht mit einem großen Knall, sondern besinnlich und ruhig gefeiert.
Übrigens habe ich diesen Text beim Wechsel vom Jahr 2004 zu 2005 verfasst, gleich am ersten Tag des neuen Jahres und ich war beim Schreiben noch immer ein bisschen besoffen. Der nächste Einschuss, "Daneben", ist übrigens die Fortsetzung davon. Die teils ziemlich bescheuerte Fortsetzung. Erwarte also nicht zu viel. :D

Vorsätze implizieren übrigens für mich automatisch, dass man sich nicht daran hält. Das Wort klingt ja schon so ungut und zwielichtig. Man kann sich das Ganze Jahr über Dinge vornehmen, wenn man das wirklich will. Dafür braucht man doch keinen speziellen Tag.

Wie sorgst du denn bitte für ein beinahe Massaker? o.O Du kannst mir auf die Frage auch gern per ENS antworten, falls dir das hier zu öffentlich ist. Wenn du möchtest. Deine Stellungnahme hat mich jedenfalls gefreut. :)
Von:  Sas-_-
2014-05-11T11:46:22+00:00 11.05.2014 13:46
Ich hatte dir gesagt: "Ich will weiterlesen" wie ich es geplant hatte, wollte es irgendwie nicht funktionieren, aber dafür jetzt :D
Dieser Einschuss gefällt mir verdammt gut, man kann sich zwar denken, dass eine überraschende Wendung in der Geschichte steckt, aber man kann sich nicht wirklich sicher sein. Ich hab beim Lesen darüber nachgedacht, was der Titel dieses OS bedeuten könnte und hatte auch einige Ideen, aber nicht die richtige.
Ich finde es großartig, wie die gesamte Situation und Stimmung in dieser kurzen Geschichte kippt, das ist für mich einfach perfekt gemacht! Erst wirkt alles schwermütig und tieftraurig, eine depressive Stimmung, die einen glauben lässt, dass dieses Mädchen suizid begehen wird (Vielleicht kommt das noch, es steht wie eine Geschichte für sich) und dann doch diese Wendung, die, zumindest mich, erheiternd überrascht.
Mir hat es wirklich gut gefallen :D

LG
Sas-_-

Thaddäus zu Spongebob: "Erschieß dich gefälligst mit deinem eigenen Seil!" :DD
Antwort von:  halfJack
14.05.2014 12:16
*lach* Zwing dich doch nicht. Oder mach, wie es dir beliebt. Ich weiß, ich weiß, du hast gesagt, du würdest dich nicht zum Lesen zwingen. Ich will nur noch mal versichern, dass ich nicht so ein Gegenleistungsleseforderer bin (was für ein Wort).

Bei "Bagatelle" finde ich merkwürdig, wenn man sich auf den Anfang einlassen kann und es wirklich melancholisch und traurig wahrnimmt. Natürlich ist es gut, sollte es so rüberkommen, damit die plötzliche Kehrtwende verstärkt wird, aber den Anfang habe ich absichtlich so übertrieben formuliert, dass ich ihn selbst gar nicht ernst nehmen kann. Würde ich das in einem anderen Text lesen, könnte ich da vermutlich nicht mitfühlen, weil es zu dick aufgetragen ist. Andererseits laufe ich hiermit auch Gefahr, ein eigentlich schwerwiegendes Thema durch den Kakao ziehen.
Was soll's. Das muss eben auch mal sein. Nichts ist vor Parodien gefeit. :D

PS. Ich kenne das so: Nimm dir ein Seil und erschieß dich da, wo das Wasser am tiefsten ist!
Von:  Kaylien
2014-01-28T13:52:13+00:00 28.01.2014 14:52
Heyo nochmal :D
Nachdem ich das Telefonat mit dem Tod gelesen habe, musste ich das hier natürlich auch lesen... Und ich muss sagen, dein schreibstil ist Klasse! Man sollte die Geschichten auf jeden Fall nicht mitten in der Nacht lesen, wie ich es getahn habe... xD
Besonders gut haben mir Abschied, Countdown und Eidesis gefallen. Wobei ich mich bei letzterem gefragt habe ob 'sie' vielleicht eine anspielung auf Atropos ist...?
LG
Kay
Antwort von:  halfJack
29.01.2014 18:02
Das hast du richtig erkannt. :)
Nur zur Information: eine Eidesis ist ein Stilmittel, das sich José Carlos Somoza in seinem Buch "Das Rätsel des Philosophen" ausgedacht hat. Dabei soll ein Geschehen mit solchen Worten umschrieben werden, die auf etwas anderes hindeuten. In diesem Fall geht es um die Moire/Parze Atropos, die den Lebensfaden durchtrennt. Die umschreibenden Worte hingegen deuten auf das Labyrinth des Minotaurus hin, sodass der rote Lebensfaden gleichzeitig für den Ariadnefaden steht. Insgesamt ist beides eine Metapher für das menschliche Dasein.
Von:  Sas-_-
2013-11-17T18:47:27+00:00 17.11.2013 19:47
Ah, das war herrlich :] Denn ziemlich genauso habe auch ich mal eine Beerdigung empfunden, im Endeffekt steht man in der ersten Reihe und denk unwillkührlich: "Ich könnte jetzt was spannedes tun, wie aufs Klo gehen oder einen Comic lesen, weil ... kommt schon, er/sie ist schon tot, der meckert mich deswegen sicher nicht an!" :DDD Und dann nennt sich das stille dastehen und betreten gucken Anstand! :D
Es ist kurz und ich fand es großartig, alles was da steht hat Biss und alles, was du geschrieben hast, ist "irgendwie" auch so, auch wenn viele vielleicht jetzt die Augen verschließen und sagen: "So ein zynischer, ekelhafter Mensch bin ich nicht!"
Und gerade das Zynische hat mir an dieser kurzen Passage gefallen!
Ehlich gesagt, ich habe auch oft lachen müssen, als ich das gelesen habe :DD Ich hab mich auch gefragt: schreibst du das direkt aus deiner Erfahrung oder hat die Person, die das hier erzählt gar nchts mit dir zu tun? Das wüsste ich gern oder du lässt es im Dunkeln, was die Sache auch sehr spannend hält :]
Och, eigentlich wollte ich das geordneter schreiben, aber jetzt fällt mir alles auf einmal ein :/
Mir hat alles gefallen und ich will auf jeden Fall weiterlesen :]
Ach ja, dein Schreibstil! :DD Ich möchte, will, sollte ja, wenn ich schon dabei bin, auch was dazu sagen, nachdem ich den Inhalt so toll fand :D Na, du schreibst natürlich sehr gut, was soll ich dazu noch großartig sagen :D Da kann ich überhaupt nicht meckern :] Sollte ich je irgendwas erwähnenswertes finden, werde ich es erwähnen :DD

LG Sas-_- :P
Antwort von:  halfJack
22.11.2013 13:21
Erst vor kurzem lief im Fernsehen einer meiner Lieblingsfilme: "Snow Cake". Darin geht es um eine autistische Frau, die ihre Tochter durch einen Autounfall verliert. Die daraufhin arrangierte Beerdigung ist wahrscheinlich die unkonventionellste, die ich je in einem Film gesehen habe. Auf ihrem Sarg stand sogar so ein buntes Leuchtding, wie man sie auf Boygroup-Konzerten verwendet.
Beerdigungen sind zwar ein bisschen sinnlos, aber irgendwie muss man die Leute ja unter die Erde bringen; in den Fluss werfen oder im Wald vergraben darf man sie in Deutschland schließlich nicht. Wenn man über das Ableben traurig ist, dann braucht man nicht einen festgelegten Anlass, um das zu zeigen, genauso wenig wie man zwangsläufig bei diesem Anlass traurig sein muss. Was ist so falsch daran, sich an die schönen Dinge zu erinnern und sich darüber zu freuen, anstatt die ganze Zeit einen Flunsch zu ziehen? In einigen Nationen wird das doch sogar wirklich so praktiziert, oder nicht?
Nun, mein Text wirkt auf mich mehr wie ein Bericht oder Weblogeintrag als wie Literatur, darum mag ich ihn auch nicht besonders. Trotzdem musste das mal gesagt werden. Ich bin dafür, zumindest Gameboyspielen auf Beerdigungen zu erlauben.
Dieses Empfinden, es klänge wie ein simpler Blogeintrag, wird noch dadurch verstärkt, dass ich den Text tatsächlich eher aus eigener Erfahrung verfasste. Ich war bisher auf... äh, sechs Beerdigungen? Bei zwei von denen bin ich mir zu hundert Prozent sicher, dass derselbe Pfarrer damals eine Passage wortwörtlich (!) wiederholte, obwohl es um zwei unterschiedliche Menschen ging. Und der Rest gleicht sich eigentlich auch immer. "Person xy war ein hilfsbereiter, herzensguter Mensch, der von allen geliebt wurde." Warum nicht ehrlich sein? Er kann es einem doch sowieso nicht mehr übel nehmen.
Ich finde Grabspruchbücher toll; kennst du die? Wenn es mir nicht egal wäre, würde ich auch irgendeinen Schwachsinn auf meinen Grabstein meißeln lassen. "Hier liegen meine Gebeine. Ich wünschte, es wär'n deine."
Von: abgemeldet
2013-11-08T17:18:37+00:00 08.11.2013 18:18
Hm... Ich hab gerade an "Ich hab die Unschuld kotzen sehen" gedacht.
Hast Du vielleicht schon mal überlegt deine Schreibereien verlegen zu lassen?

Falls Du so etwas bereits tust, dann entschuldige. Ich hab mir dein Profil noch nicht groß angesehen... ^^
Von: abgemeldet
2013-11-08T14:28:44+00:00 08.11.2013 15:28
^^ Verdammt, ja! Ich feier dich als Autor und bin wirklich entsetzt über deine Gedankengänge.

Von dem Leid des Mädchens blieb mein Herz einfach nicht verschont. Es hat regelrecht wehgetan zu lesen, weil man sich so genial darin einfügen kann und im Geschriebenen verliert.

Der Inhalt des Textes ist krass, klar und auf den Punkt gebracht.
Und die Familie ist einfach... krank?
Ich suche aktuell gezielt nach einem Sinn des Textes und finde keinen konkreten... Man hat so viele Interpretationsfreiheiten und das liebe ich <3

:D danke, dass ich dich gefunden habe!
Von:  Blaetterklingen
2013-06-24T10:14:10+00:00 24.06.2013 12:14
...Es ist ein lang diskutierter Mythos, aber gibt es sie wirklich? Waffensysteme des jüngsten Tages. Selbst wenn niemanden mehr gibt, der...
...Ab 5.45 wird zurückgeschoßen! Mit diesen Worten begann der...
...Heute führen wir euch in die Welt des neune Metal Gear....
...Sodass ein erstschlag völlig unmöglich wird. Soll das heißen auf die Vernichtung der USA hin, würden automatisierte Waffensystem...
...Die ganze Welt steht Kopf wen ich dich seh...
...Mit der Operation Narwik sollte der Russe...
...Und wenn das sechste Sigel bricht... Naja, wir wissen ja alle was dann passiert. Zerstörung die auf Zerstörung führt. Der Mensch ist ein wucherndes Krebsgeschwür, das sich immer wieder selbst versucht, operativ zu entfernen. Die Geschichten, die Filme, die Köpfe, alles ist voll von der Hoffnung, das es irgendwann endet und unsere Kollektive Schuld getilgt wird. Aber es wird...
„Kannst du mal bitte umschalten?“
...Kein Ende geben, weil Hoffnung keine Realität bildet...
„Ich will das jetzt sehen... Boah, ja ist ja ok“
...Damals waren es die Inuit, die zu erst die Kontinentalplatte...
...Ein Grab in den Wolken, dort liegt man nicht eng...
...ein interessantes...
...das neue Werk, das hier entstand...
Von:  TommyGunArts
2012-04-05T08:17:53+00:00 05.04.2012 10:17
Hallihallöchen.
Bin mal durch Zufall auf deine Geschichten gestoßen und dachte mir, ich lese mir einfach mal ein paar durch. Hier hab ich angefangen! :D
Zunächst ist es eine interessante Idee. Hier werden verschiedene Themen angeschnitten. Zum einen finde ich hier deutlich Bezüge zum Individualität. Bei Maschinen sind alle Pullover gleich und lassen sich kaum voneinander unterscheiden. Aber bei der Oma, die ihn selbst strickt, wird er einzigartig, vor allem, da sie nicht Perfekt ist und Fehler macht. Am Ende verliert sie ja auch eine Masche.
Aber nicht nur die Individualität wird hier angeschnitten, sondern auch das Thema Technik und technischer Fortschritt an sich, der unter anderem das Vergessen oder nicht mehr Lernen des Strickens mit sich führt. Und da ist durchaus was Wahres dran. Alles wird in Massen produziert, kann jeder Zeit und überall erworben werden, also warum dann selbst arbeiten?
Besonders gut gefällt mir auch der Titel, der durchaus als Wortkunst gelten kann. Hier hast du Maschinen und Maschen in ein Wort gepackt und nur mit einer Klammer voneinander getrennt. Eine witzige Idee. Ist mir, wenn ich mal ehrlich sein soll, am Anfang gar nicht aufgefallen^^
Insgesamt jedenfalls eine gute kleine Geschichte, die hauptsächlich aus Dialog besteht, aber dennoch Aussagekraft besitzt.
lg
E. Ternity
Von:  Blaetterklingen
2012-03-28T21:25:55+00:00 28.03.2012 23:25
Es ist jedesmal das gleiche mit dir. Man ließt zwei Sätze und zack, ist die Atmosphäre so dicht, das meint sie atmen könnte, wenn man nicht ohnehin des atmens beraubt werden würde.
Zu allererst: Scheiße ist das traurig T_T
Da baute sich ziemlich schnell ein mieser Verdacht auf, aber ich war mir so unsicher. Ich wurde immer unsicherer, das war alles so intensiv beschrieben. Man hat richtig mit ihm gekämpft, von Satz zu Satz zu verleugmen was man mehr weiß als ahnt. Es durfte einfach nicht sein. Es wäre zu einfach, es wäre falsch, es wäre einfach nicht richtig.

Wie das leben an ihn vorbeigerauscht ist, wie er sich alles in Gedanken schön geredet hat, bis die allgegenwärtige kälte der Realität auf ihn eindrischt. Irgendwie erinnert mich das etwas an Silent Hill. Die Suche nach anderen Möglichkeiten. Die Suche nach Geborgenheit, nach Vertrauten. Selbst wenn man die Fakten umschreiben muss. Was sind wir noch, wenn uns sogar unser Erinnerungen die Wünsche von den eiskalten Lippen ablesen, anstatt die Wirklichkeit wiederzugeben?
Beim ende war ich mir nicht so ganz sicher. Dann aber doch sehr. Nach kalter Verdrängung und kalter Wirklichkeit folgt kalte akzeptanz. Was es nicht weniger traurig macht. Ist nur ein ziemlich harter Schluß nach der sanftheit und dem immer drängendereren Gefühl das einen ganz langsam die Kehle zugeschnürt wird über die ganze Geschichte hinweg. Vielleicht ist das der Tot in diesem Einzelteil, das plötzliche loslassen am Ende, wenn ma sich nicht mehr belügen kann.
Von:  Blaetterklingen
2010-11-19T11:56:40+00:00 19.11.2010 12:56
Juppi eine neue Überarbeitung^^ ich verstehe die Leute nicht die sagen, das es irgendwann an der Zeit wäre, ein Werk zur Seite zu legen. Meistens bestimmen uns doch die Einfälle und Ideen und diktieren uns, woran wir jetzt weiter arbeiten.
"Doch möchte ich nicht zynisch erscheinen." nur der Erzähler ist in der Neuauflage grandios gescheitert^^

Ist es eigentlich legitim mehere Kommentare zu posten? Nicht, das ich es nicht trotzdem machen würde, immerhin hat sich die Geschichte ja auch verändert, aber was sagt eigentlich Knigge dazu^^


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