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Lauter Einzelteile

26 Teile des Lebens, die sich Sterben nennen
von

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Bagatelle

Sie kann nicht mehr. Ihre Hände krallen sich in den schwarzen Strähnen ihres Haares fest. Die Finger zerren und kratzen und finden doch keinen Halt, weder an den eigenen schmalen Schultern, denen Atlas gespottet hätte, noch an den wankenden Beinen, die kaum die geringe Last tragen können. Sie sinkt hinab auf die Knie und stützt sich nur noch mit den zitternden Armen vom Boden ab, bevor auch diese nachgeben. Niedergedrückt liegt sie da. Das Gewicht kann sie spüren, doch sieht sie es nicht. Schon lange nicht mehr. So liegt das junge Mädchen in der Mitte des Zimmers. Ein kleiner Raum, der sie umgibt, der ihr oder dem sie gehört, der sie gefangen und am Leben hält. Kein Geräusch mehr, nur das Hämmern ihres Herzens, das tapfer gegen den Rhythmus der Welt ankämpft. Und unterliegt.

Sie atmet flach. Ein Stechen durchdringt ihre linke Brust bis zum Rückgrat. Dass ihre Hände sich krampfhaft suchend strecken, merkt sie kaum, während Tränen sich in ihre Haut beißen und im freien Fall das schwarze Haar tränken. Unbewusst findet sie endlich den Halt, den sie suchte. Mit der winzigen, unscheinbaren Schachtel. Den unauffälligen Hüllen. Und dem hauchdünnen Metallstreifen, dessen Form sie immer an die Kennmarken der Soldaten erinnert. Das Leben eines Kriegers, der kein Held mehr sein kann, reduziert auf ein Minimum an Information. Zugleich schenkt ein solches Metall auch anders Rettung. Durch Schmerz. Vielleicht auch mit dem Tod. Das Mädchen schaut zwischen dem Riss der Rasierklinge hindurch an die Wand ihres Käfigs und in das Universum dahinter. Nicht ein Stern ist zu sehen. Nur lauter Einzelteile eines verlorenen Horizonts. Langsam lässt sie die Klinge sinken. Versinken in ihrem eigenen Leib, des Kindes Haut und Fleisch. Der Riss, in welchem sie zuvor das Universum sah, ist verschwunden und zieht sich nun durch ihren Arm. Vom Makrokosmos zum Mikromort. Manchmal ist der nächste Tod nur einen Blick entfernt.

Das Hämmern wird lauter. Im Vakuum ihres Inneren hört das Mädchen kein Klopfen, kein Hämmern, aber der Boden trägt die Vibration an sie heran. Müde öffnen sich ihre Lider und ein paar Schritte weiter die Tür. Dann begegnet das Mädchen den Augen ihres Ebenbildes, ihrer Schwester. Kein Zwilling und doch von gleicher Art. Bereits in der ersten Sekunde spricht beider Mimik alle Emotionen aus, während die Schwestern einander betrachten. Erschöpfung im Gesicht der einen. Schrecken und Erkenntnis im Gesicht der anderen. Noch bevor jene, die im Türrahmen steht, den Atem zum Sprechen findet, weiß die am Boden Liegende bereits, was ihre ältere Schwester sagen will.

"Ich wusste es", formuliert diese nun leise. "Du hast schon wieder meine Rasierklingen genommen. Kauf dir endlich ein paar eigene!"

Genervt richtet sich die Jüngere auf. Voller Trotz und Verzweiflung setzt sie zu einer Entgegnung an. "Sei nicht so geizig. Du schneidest dich doch sowieso nur abends nach dem Abschminken."

"Mutter!", ruft die andere bereits. "Kannst du nicht mal ein Machtwort sprechen?"

"Was ist denn?", fragt die Frau mittleren Alters, die nun im Flur erscheint und ihre beiden Töchter mustert. "Hat deine Schwester etwa...?"

"Ja, hat sie!", fällt das ältere der Mädchen unterbrechend ein. "Sie hat schon wieder meine Rasierklingen benutzt."

"Aber Schatz, das bleibt doch in der Familie."

"Dann sieh dir das an." Genervt entwindet sie ihrer Schwester die Rasierklinge und hält sie vor das Gesicht der Mutter. "Nie, wirklich nie macht sie die nach dem Benutzen sauber. Das ganze verkrustete Blut daran, schau doch mal, das ist so widerlich!"

Tadelnd blickt die Mutter ihre jüngste Tochter an.

"Deine Schwester hat Recht. Wenn du schon ihre Sachen benutzt, dann behandle sie auch ordentlich. Letzten Monat habe ich schon nichts gesagt, wegen der Blutflecken im Teppich."

"Ihr übertreibt", verteidigt sich die Jüngste stur. "Wie kann man als Schwester nur so spießig sein? Mama, weißt du, was sie in der Schule über sie erzählen? Einige behaupten, sie hätte nicht mal einen Psychologen."

"Kleines, jetzt reicht es aber", schimpft ihre Mutter. "Ich habe dir schon tausend Mal gesagt, auf solche Gerüchte darf man gar nicht hören."



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Sas-_-
2014-05-11T11:46:22+00:00 11.05.2014 13:46
Ich hatte dir gesagt: "Ich will weiterlesen" wie ich es geplant hatte, wollte es irgendwie nicht funktionieren, aber dafür jetzt :D
Dieser Einschuss gefällt mir verdammt gut, man kann sich zwar denken, dass eine überraschende Wendung in der Geschichte steckt, aber man kann sich nicht wirklich sicher sein. Ich hab beim Lesen darüber nachgedacht, was der Titel dieses OS bedeuten könnte und hatte auch einige Ideen, aber nicht die richtige.
Ich finde es großartig, wie die gesamte Situation und Stimmung in dieser kurzen Geschichte kippt, das ist für mich einfach perfekt gemacht! Erst wirkt alles schwermütig und tieftraurig, eine depressive Stimmung, die einen glauben lässt, dass dieses Mädchen suizid begehen wird (Vielleicht kommt das noch, es steht wie eine Geschichte für sich) und dann doch diese Wendung, die, zumindest mich, erheiternd überrascht.
Mir hat es wirklich gut gefallen :D

LG
Sas-_-

Thaddäus zu Spongebob: "Erschieß dich gefälligst mit deinem eigenen Seil!" :DD
Antwort von:  halfJack
14.05.2014 12:16
*lach* Zwing dich doch nicht. Oder mach, wie es dir beliebt. Ich weiß, ich weiß, du hast gesagt, du würdest dich nicht zum Lesen zwingen. Ich will nur noch mal versichern, dass ich nicht so ein Gegenleistungsleseforderer bin (was für ein Wort).

Bei "Bagatelle" finde ich merkwürdig, wenn man sich auf den Anfang einlassen kann und es wirklich melancholisch und traurig wahrnimmt. Natürlich ist es gut, sollte es so rüberkommen, damit die plötzliche Kehrtwende verstärkt wird, aber den Anfang habe ich absichtlich so übertrieben formuliert, dass ich ihn selbst gar nicht ernst nehmen kann. Würde ich das in einem anderen Text lesen, könnte ich da vermutlich nicht mitfühlen, weil es zu dick aufgetragen ist. Andererseits laufe ich hiermit auch Gefahr, ein eigentlich schwerwiegendes Thema durch den Kakao ziehen.
Was soll's. Das muss eben auch mal sein. Nichts ist vor Parodien gefeit. :D

PS. Ich kenne das so: Nimm dir ein Seil und erschieß dich da, wo das Wasser am tiefsten ist!
Von: abgemeldet
2013-11-08T14:28:44+00:00 08.11.2013 15:28
^^ Verdammt, ja! Ich feier dich als Autor und bin wirklich entsetzt über deine Gedankengänge.

Von dem Leid des Mädchens blieb mein Herz einfach nicht verschont. Es hat regelrecht wehgetan zu lesen, weil man sich so genial darin einfügen kann und im Geschriebenen verliert.

Der Inhalt des Textes ist krass, klar und auf den Punkt gebracht.
Und die Familie ist einfach... krank?
Ich suche aktuell gezielt nach einem Sinn des Textes und finde keinen konkreten... Man hat so viele Interpretationsfreiheiten und das liebe ich <3

:D danke, dass ich dich gefunden habe!


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