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Von der Kunst, richtig zu sein

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Es ist nicht das Kapitel, das ich letztes Mal im Kopf hatte^^"
Es braucht noch 2 weitere bis wir da hin kommen.
Freut euch drauf :D Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Willkommen beim Von der Kunst - Adventkalender :D
Das mit dem Buch dauert noch eine Weile und ich hab keine Lust mehr, auf den letzten Kapiteln rumzusitzen und ihr habt sicherlich auch keine Lust, noch länger zu warten.
Deshalb gibt es jetzt bis Heiligabend jeden Tag ein neues Kapitel.

Viel Spaß! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Theoretisch ist es zu spät für das 'tägliche update', aber zeigt gnade mit mir, ich hab gerade ein Projekt in der Uni eingereicht, das 8 Monate lang lief XD ich hab gefühlt 4 Tage nicht geschlafen. Komplett anzeigen

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Prolog

Heute war ihm nicht danach. Der laute Bass dröhnte in seinen Ohren und ließ, zusammen mit dem Wodka-O in seiner Hand, seine Welt gefährlich schwanken.

Er hatte sich schon lange nicht mehr so sehr betrunken, war aber noch klar genug, um genau das festzustellen. Er war eigentlich noch viel zu klar.

Was genau er hier tat, wusste er nicht einmal. Normalerweise ließ er keine Party aus, aber heute hatte er sich her schleppen müssen. Der einzige Antrieb war gewesen, dass er auf keinen Fall hatte zu Hause sein wollen. Alles war besser, als allein mit seinen Gedanken zu sein.

Er schloss kurz die Augen, um die aufkommenden Bilder wieder zu verdrängen. Offensichtlich hatte er noch nicht genug Alkohol getrunken. Immer noch nicht. Aber er durfte es auch nicht übertreiben. Wenn sein Vater heraus fand, wo er heute war, würde er nur wieder Hausarrest bekommen. Deshalb war so viel zu trinken, bis er sich übergab keine Option. Auch wenn er gerne würde. Ein Blackout wäre großartig, auch wenn er wusste, dass er die Erinnerungen der letzten Tage damit nicht auslöschen konnte.

Als dann auch noch Bilder vor seinem inneren Auge vorbei zuckten, riss er sie wieder auf, sah sich um, um irgendwie seine Gedanken zu überblenden. Man sollte doch meinen, man könne sich auf so eine Hausparty gut ablenken, aber heute funktionierte es ganz und gar nicht. Sein Blick konnte sich nicht auf das hier und jetzt fixieren. Er sah die anderen Schüler nicht. Sah das bunte Treiben nicht. Stattdessen sah er andere Bilder. Bilder aus seinen Träumen, aus seinen Vorstellungen. Er erschauerte kalt. Er wollte das nicht sehen, doch der Alkohol schien alles noch so viel deutlicher zu machen.
 

"Hey, Shinji."

Er sah auf und erkannte Nate, seinen besten Freund. Natürlich war seine ganze Clique auch hier, sie waren unzertrennlich. Doch der Anblick des großen Amerikaners beruhigte ihn nicht. Im Gegenteil. Sein Herz schlug einfach nur noch aufgeregter.

"Alles klar bei dir? Wir warten alle auf dich."

Als könnten die nicht auch ohne ihn feiern. Taten sie wahrscheinlich auch und nur Nate machte sich Sorgen. Typisch. Der andere hatte einen Beschützerinstinkt, der wirklich über ein gesundes Maß hinaus ging. Dass er wie ein Schäferhund auf den Partys versuchte, die Gruppe zusammen zu halten, war da noch harmlos. Es war auch nicht ungewöhnlich, dass er ein Auge auf ihn hatte. Sein bester Freund war auch der, der sich, während Shinjis Hausarrest, in dessen Zimmer schlich, um Zeit mit ihm zu verbringen.

"Ja, sicher.", antwortete er einen Hauch abweisend und wahrscheinlich auch lallend.

"Komm mit!"

Ohne eine Reaktion abzuwarten, nahm Nate seine Hand und zog ihn mit sich, in eines der leeren Schlafzimmer.
 

"Und jetzt erklärst du mir, was los ist."

Klar hatte Nate die Lüge erkannt. Er hätte sie auch auch erkannt, wenn Shinji sich mehr Mühe damit gegeben hätte.

"Es ist nichts", antwortete er und stürzte den Rest Wodka hinunter. Der Alkohol breitete sich warm in seinem Magen aus und gab ihm ein trügerisches Gefühl von Sicherheit. Er wollte ja darüber reden, aber er konnte nicht.

"Und jetzt die Wahrheit?"

Sollte er? Nate war immerhin sein bester Freund und irgendwie betraf es ihn ja auch. Unter anderem. Nicht nur ihn, aber dennoch. Er wollte gerne darüber reden, aber er wusste nicht wie und er hatte furchtbare Angst vor der Reaktion. Aber Nate hatte ihn noch nie enttäuscht, ihn noch nie abgewiesen und er war auch ganz sicher nicht sein Vater, der ihn nie wieder vor die Tür lassen würde, wenn er es ihm sagte.

"Nate ich... ich bin abnormal." Er wandte den Blick seitlich zu Boden, plötzlich nicht mehr imstande seinem Freund in die Augen zu sehen.

"Was meinst du?"

Shinji wischte sich gestresst durch sein Gesicht.

"Es hat vor ein paar Wochen angefangen. Erst ganz harmlos... nur Träume erst, aber dann haben sich diese komischen Gefühle in die Wirklichkeit übertragen und... und... das macht mich fertig."

Eigentlich war er sicher, dass Nate sein Gestammel nicht verstand, aber das breite Grinsen, das sich jetzt auf dessen Gesicht schlich, strafte Shinjis Gedanken eine Lüge. Allerdings zeigte es Shinji auch, dass sein Kumpel ebenfalls schon gut getrunken hatte. Der grinste zwar gerne mal, aber nicht so übertrieben.

Vielleicht hätte er doch den Mund halten sollen.

"Welche Gedanken und Gefühle, Shinji?"

Es klang nicht wirklich wie eine echte Frage, mehr so, als wollte er die Worte aus ihm locken, die er sowieso schon kannte. Ahnte Nate etwas? Hatte er sich zu auffällig verhalten? Gerne hätte Shinji jetzt noch mehr getrunken, aber sein Becher war leer.

So konnte er nur hilflos die Schultern zucken. Er war definitiv nicht betrunken genug, um das tatsächlich auszusprechen.

"Und du hältst das wirklich für abnormal?"

Hatte Nate die ganze Zeit schon so nah bei ihm gestanden? Ihm wurde ganz warm und er ahnte, dass es nicht am Alkohol lag.

Plötzlich war da eine Hand an seiner Wange, deren Daumen sanft seine Haut streichelte. Die Wärme nahm zu und ihm kamen wieder die Bilder seiner Träume in den Sinn, die Gefühle, die sich in den letzten Wochen für seinen Freund entwickelt hatten und die er so sehr versucht hatte, beiseite zu schieben. Er war es leid. Er wollte sich nicht mehr verstecken, aber er hatte solche Angst davor. Nate würde ihn nicht enttäuschen, ihn nicht verstoßen und das sah er jetzt noch deutlicher an dem warmen Ausdruck in dessen Augen. Trotzdem fiel es ihm so unglaublich schwer.

"Ich mag dich, Shinji.", hauchte sein Freund ihm entgegen und schien noch näher zu kommen. "Und wenn du mich lässt, zeige ich dir, dass du ganz und gar nicht abnormal bist."
 

Nates Lippen berührten seine erst ganz sanft. Shinji schmeckte das herbe Bier, vermischt mit dem Geschmack nach Zigaretten. Er hasste es, dass Nate rauchte, aber er hatte noch nie etwas erotischeres geschmeckt. Diese ganz besondere Mischung machte ihn schier wahnsinnig und der Alkohol tat sein übriges.

Gierig erwiderte er den Kuss, der schnell tiefer wurde. Mit Nate fühlte es sich einfach richtig an, er machte sich gar keine Gedanken mehr. Morgen konnte er sich immer noch um die Probleme kümmern.

"Ich bin so froh, dass du auch so fühlst.", murmelte Nate ihm entgegen und drängte ihn langsam in Richtung des Bettes. Irgendetwas in Shinjis Kopf wollte ihn noch warnen, dass das viel zu früh sei, aber er drängte den Gedanken sofort zurück. Zu früh... klar. Nachdem er Wochenlang davon geträumt hatte? Pfft...

Er ließ sich auf die Matratze drücken, genoss die immer wiederkehrenden Küsse und wie Nate ihm durchs Haar strich. Es war ein zärtliches Spiel ihrer Körper. Sie fielen nicht übereinander her wie hungrige Tiere, vielmehr genossen sie die Nähe des anderen.

Bald schon lag ihre Kleidung verstreut auf dem Boden und im dämmrigen Schein einer kleinen Lampe wurden sie eins.
 

Dass die eigentlich geschlossene Tür einen Spalt offen stand, bemerkte keiner von ihnen.

Wiedersehen

Es war eine merkwürdige Zeit zum Einkaufen, aber das war vollkommene Absicht gewesen. Um diese Uhrzeit war hier kaum jemand im Laden, Shinji wusste das. Er mochte Menschen nicht besonders und größere Menschenmengen machten ihn nervös. Deshalb ging er ihnen aus dem Weg.

Dummerweise war die Zeit auch eine, in der er normalerweise schlief. Zwar war es schon nach Mittag, doch meist arbeitete er bis Sonnenaufgang. Dementsprechend müde war er gerade. Aber es ging heute nicht anders. Er musste einkaufen, er konnte nicht die ganze Zeit von Pizza leben. Wozu hatte er auch kochen gelernt, wenn der Lieferservice seine Essgewohnheiten besser kannte, als er selbst? Mal abgesehen davon, dass man etwas mehr zum Leben brauchte, als Essen und er war kein großer Fan von Leitungswasser. Das hatte kein Koffein. Wenn er ehrlich zu sich war, wäre er auch nicht hier, wenn er noch Kaffee zu Hause hätte. Ein leerer Kühlschrank war zu verkraften, fehlendes Koffein nicht.

Der Schlafmangel und der Entzug sorgten aber dafür, dass er ewig brauchte. Wo hatte er noch mal hin gewollt?

Er sah auf seinen leeren Einkaufswagen und seufzte. War er nicht schon mal in dem Gang gewesen?

Müde sah er sich um. Durch seine eigenen, trägen Bewegungen, kamen ihm die Leute um ihn herum geradezu hyperaktiv vor. Manchmal beneidete er sie dafür. Um die Kraft die sie hatten, die Ignoranz, die sie alle mit sich herum schleppten, wie er seine Müdigkeit. Er wünschte, er könne auch so ignorant sein. Stattdessen sah er unterbelichtete Menschen, die durch ihren Alltag hetzten, als hätten sie zu wenig Zeit. Dabei könnten sie sich diese Zeit nehmen. Sie taten Dinge, die sie nicht wollten, bereuten Entscheidungen, die sie niemals hatten treffen wollen und taten vor sich selbst doch so, als wären sie glücklich. Sie wirkten glücklich. Ob sie das auch waren? Ignoranz machte vieles einfacher.

Er selbst war zufrieden. Es war nicht alles perfekt, aber die meiste Zeit fühlte er sich wohl. Er hatte sich sein Leben so gemacht, dass er damit klar kam und das beinhaltete möglichst wenig Kontakt mit Menschen. Kein leichtes Unterfangen, aber er hatte so lange daran gearbeitet, bis er das geschafft hatte.
 

Als er seinen Weg fortsetzte, hatte er das Gefühl sich in Zeitlupe zu bewegen. Vielleicht sollte er sich erst einmal einen Kaffee oder Energy Drink holen und das Einkaufen später noch einmal versuchen. Dieser Alltagskram war einfach nichts für ihn. Das einzige was er wollte, war an seinen PC zurück und arbeiten.
 

Erschreckt zuckte er zusammen, als ein lautes Scheppern in seinen Ohren klingelte. Ein viel zu lautes Geräusch, für diese Tageszeit. Erst danach realisierte er, dass er mit seinem Wagen gegen einen anderen gefahren war. Mit kaltem Blick fuhr er auf:

"Hey du..." Ihm blieb der Rest des Satzes im Hals stecken, als er erkannte, wer da vor ihm stand. Nathan. Er hatte sich ganz schön verändert, aber Shinji würde ihn unter tausenden wieder erkennen. Er war noch ein gutes Stück größer geworden und noch muskulöser. Unter seinen hoch geschobenen Ärmeln, traten die Ansätze von Tattoos hervor. Die kurz geschorenen Haare ließen ihn noch bulliger und gefährlicher wirken.

Shinjis Blick wurde kälter.

"Arschloch", fluchte er und riss seinen Einkaufswagen herum um in einem anderen Gang zu verschwinden. Vielleicht hatte er ja Glück und der andere hatte ihn nicht erkannt.
 

"Shinji!"

Beinahe hätte Angesprochener seinen Wagen in die Pyramide aus Ananasdosen gesteuert, als er seinen Namen hörte. Nein, natürlich hatte er kein Glück. Zudem war sein Name derart euphorisch ausgesprochen worden, dass er sich fragte, ob der Andere die Beleidigung überhaupt gehört hatte.

"Wie geht`s dir, Alter?"

Die Hand, die seine Schulter traf, ließ ihn leicht zusammen zucken, bevor er sie weg schlug.

"Lassen Sie mich in Ruhe. Sie verwechseln mich.", antwortete er so unfreundlich wie möglich, auch wenn er ahnte, dass es den überaus selbstbewussten Amerikaner nicht interessierte. Sie beide waren schon immer unglaublich stur gewesen.

Leider konnte er nicht fliehen, denn Nathan hatte sich so gestellt, dass er die Dosen hätte umfahren müssen, um an ihm vorbei zu kommen.

"Dann warst du also nicht auf der Johnson-High?" Er sollte einfach die Klappe halten! Am liebsten hätte er ihn umgefahren, aber er wollte nicht die Aufmerksamkeit des ganzen Ladens auf sich haben.

"Seltsam", fuhr der Amerikaner fort, "Ich kann mich gut an dich erinnern. Wir waren doch eine größere Clique..."

Gut an dich erinnern!? War das sein verdammter Ernst!? Wie konnte er das sagen, nach allem was... Er war eben doch genau das Arschloch, für das er ihn immer gehalten hatte. Er hatte ihn nur verarscht. All die verdammten Jahre lang.

"Mann, wie viele Jahre ist das jetzt her? 15?"

Noch nicht lange genug, wenn es nach Shinji ginge. Am liebsten hätte er Nathan sein verdammtes Grinsen aus dem Gesicht geschlagen!

"Hören Sie", versuchte es Shinji noch einmal, mit unterdrückter Wut, "Ich kenne Sie nicht und ich habe heute noch was vor. Würden Sie mich also meinen Einkauf fortsetzen lassen?"

Er wollte nur weg von ihm. Er wollte ihn nicht sehen, nicht mit ihm reden, gar nicht erst von seiner Existenz wissen. Nathan hatte ihn verarscht und es war eigentlich eine Schande, dass es jetzt schon wieder so weh tat, obwohl er es doch die ganze Zeit gewusst hatte.

"Ich bin`s, Nate.", sagte sein Gegenüber, jetzt doch etwas verdutzt und sein Grinsen fiel endlich. "Erkennst du mich denn gar nicht mehr?"

Wütend presste Shinji die Kiefer aufeinander und schaute angestrengt in seinen leeren Einkaufskorb. Er durfte nicht nachgeben. Nur noch ein bisschen und der Amerikaner würde endlich verschwinden, dann konnte er selbst wieder verdrängen, dass er überhaupt existierte. Nur noch ein wenig durchhalten.

"Ist nicht gerade nett von dir, so zu tun, als würden wir uns nicht kennen."

Nicht nett. Das traf einen dermaßen wunden Punkt, dass sich Shinji diesmal nicht zurückhalten konnte. Er explodierte:

"Mir wirfst du vor 'nicht gerade nett' zu sein!? Fass dir erst einmal an die eigene Nase!"

Er war viel zu laut. Seine eigene Stimme hallte schmerzhaft in seinen Ohren wider und er kauerte sich etwas zusammen, als habe er Angst, eine schlafende Bestie geweckt zu haben.

"Du kannst froh sein, dass ich so tue, als würden wir uns nicht kennen.", zischte er jetzt wieder leise. Und da sowieso alles zu spät war, riss er den Einkaufswagen herum und versuchte, ohne Rücksicht auf Verluste, davon zu stapfen.

"Und dein scheiß Grinsen kannst du dir sonst wo hin stecken!", setzte er noch nach, weil er einfach nicht anders konnte.
 

Zu seinem großen Missfallen ging Nathan ihm allerdings nach. Natürlich ließ er ihn nicht in Ruhe! Dieser verdammte...!

"Wann war ich denn nicht nett?"

War das sein Ernst!?

"Komm schon, Kumpel. Klär mich auf."

War Nathan die ganze Sache tatsächlich dermaßen egal gewesen, dass er es vergessen hatte? War es für ihn nur ein dummer Scherz gewesen? Hatte er das alles vielleicht gar nicht mitbekommen? Das konnte er kaum glauben! Das konnte nicht sein!

"Ist das dein Ernst!?", sprach er seine Gedanken laut aus. Natürlich wieder in gedämpfter Stimmlage. Sie zogen sowieso schon genug Aufmerksamkeit auf sich.

"Raffst du es nicht!? Ich will nichts mit dir zu tun haben, also verschwinde einfach!" Verschwinden konnte der Kerl sowieso sehr gut.

Wie befürchtet, vertrieb diese Ansprache den Anderen aber nicht. Stattdessen hielt Nathan jetzt seinen Wagen fest und machte es ihm so unmöglich, weiter zu fliehen.

"Gut, ich verschwinde meinetwegen." Da war doch noch ein 'aber' in dem Satz. "Aber..." Na bitte. "... sag mir doch vorher wenigstens, warum du so sauer auf mich bist."

Langsam musste er einsehen, dass er den Amerikaner nicht los werden würde, ehe er nicht Klartext gesprochen hatte. Offenbar hatte Nathan tatsächlich vergessen, was passiert war. Eine kleine, gemeine Stimme in seinem Kopf, wollte ihm weiß machen, dass Nathan vielleicht gar nichts damit zu tun gehabt hatte. Dass er nicht einmal etwas davon wusste und deshalb jetzt so ratlos vor ihm stand. Aber Shinji wollte dieser Stimme nicht vertrauen. Die Hoffnung war immer geblieben, aber er würde sie nicht auch noch nähren. Der Fall danach wäre so tief, dass er nicht wusste, ob er wieder aufstehen könnte.

Wenn er also endlich nach Hause in sein sicheres Nest wollte, dann musste er hier jetzt durch. Also straffte er sich etwas und zischte so gefühlskalt wie er konnte:

"Du hast mir meine Highschool Zeit komplett versaut und bist zu allem Überfluss danach einfach abgehauen! Deshalb bin ich sauer auf dich!"

Er schnaufte vor unterdrückter Wut, aber er konnte nicht weg. Dass er einfach nur den verdammten Wagen loslassen müsste, sah er nicht.

"Okay. Warte. Was?"

Nathan schien ehrlich verwirrt über diesen Ausbruch und langsam musste Shinji wirklich glauben, dass er nicht wusste, was passiert war. Oder ob er es einfach nur als dummen Scherz gesehen hatte und die Konsequenzen nicht mehr mitbekommen hatte? Wusste er gar nicht, was er angerichtet hatte?

Es war schwer zu glauben, aber die rohen Emotionen auf dem Gesicht des anderen machten Shinji unsicher. Wenigstens war Nathan das Grinsen endlich vergangen.

"Ich bin umgezogen und nicht abgehauen.", stellte der Amerikaner erst einmal richtig. "Und ich kann mich nicht erinnern, dich gemobbt zu haben oder dergleichen. Also wie soll ich dir die Zeit dann versaut haben?"

Shinji presste die Kiefer aufeinander und musste aufpassen, nicht frustriert zu schreien. Erinnerte dieses Arschloch sich denn tatsächlich nicht!?

Er schloss kurz die Augen und rieb sich über den Nasenrücken, versuchte die Bilder wieder zu unterdrücken, die die aufkommenden Erinnerungen mit sich brachten. Er wollte gar nicht mehr daran denken. Nie wieder. Und dennoch wurde er dazu gezwungen, weil er Nathan nicht mehr los wurde, ehe er sich damit auseinander gesetzt hatte.

Plötzlich fühlte er sich eingesperrt zwischen Nathan, der Gesellschaft und seinen eigenen Problemen und Komplexen. Er wollte einfach nur noch raus aus dieser Situation, doch nach einigen Sekunden fielen seine Schultern kraftlos und aufgebend und er senkte seinen Blick wieder auf den leeren Einkaufswagen. Müde diesen Kampf mit sich selbst zu führen, gab er einfach nach. Die Wut war urplötzlich verflogen und machte nur einer tiefen Leere Platz, in der ein dumpfer Schmerz hallte, der seit 15 Jahren nicht verklungen war.

"Ist doch egal warum du weg warst. Du hast mich mit der ganzen Scheiße einfach allein gelassen. Ich hab mich dir anvertraut, du hast es ausgenutzt und dann warst du weg und ich stand da mit diesem ganzen Rattenschwanz an Problemen."

Es war sehr lange unangenehm still um sie. Er hasste Stille, wenn er bei jemandem war. Sie war ihm unangenehm und ließ viel zu viel Platz um nachzudenken, um Dinge zu zerdenken. Normalerweise würde er sich jetzt an seinem Computer verkriechen und versuchen, das alles zu vergessen.

"Entschuldige...", kam von seinem ehemaligen Kumpel. Shinji schnaubte. Das brachte ihm auch nicht viel, auch wenn es sich ein wenig gut anfühlte. Ein kleines bisschen nur. Als Nathan ihm mit einer Hand kumpelhaft auf die Schulter klopfte, wischte er sie dennoch vehement fort.

"Kann ich jetzt gehen?", zischte er weiterhin schlecht gelaunt und hoffte, dass ihn der Amerikaner endlich entließ.

"Klar..." Doch als er sich gerade erleichtert abwenden wollte, ertönte Nathans Stimme erneut:

"Habe ich keine Chance, mit dir mal was trinken zu gehen?"

Vergangenheit

Dass Nathan nicht, nachdem er weggezogen war, in irgendeinem dunklen Raum gesessen und sich über seinen genialen Schachzug amüsiert hatte, war Shinji schon länger klar. Dass er wahrscheinlich gar nicht wusste, was genau passiert war, dämmerte Shinji nun auch so langsam.

Dennoch hatte er sich ausgenutzt und betrogen gefühlt und vor allem hintergangen.

Und trotz allem kam jetzt das verquere Bedürfnis in ihm auf, sich Nathan einfach an die Brust zu werfen und ihm zu erzählen, wie gemein die anderen zu ihm gewesen waren. Das war aus mehreren Gründen ungewöhnlich und der wichtigste davon: Er war gewiss keine Heulsuse. War er nie gewesen. Wenn er sich in eine Ecke gedrängt fühlte, biss er eher um sich wie ein verletztes Tier. Aber er weinte nicht.

Ein anderer Grund war, dass er seine Probleme gewöhnlich immer selbst geregelt und nie Schutz bei Anderen gesucht hatte. Es war also eine wirklich merkwürdige Situation.

Aber Nathans Auftauchen und seine Frage, die Shinji als unglaublich fehl am Platz empfand, ließen diesen Drang in ihm aufkommen.

Deshalb wusste er nicht wirklich, was er antworten sollte. Offensichtlich - und das musste er sich langsam wirklich eingestehen - hatte Nathan nicht einmal eine Ahnung davon, was los war. Das wiederum ließ ganz andere Fragen aufkommen.

Auch wenn er eigentlich nur weg wollte, war die kleine Stimme, die kleine Flamme der Hoffnung, plötzlich so dominant, dass er stehen blieb und durchatmete. Wahrscheinlich war das hier die einzige Chance, die er bekam, um alles zu klären und wenn sie schon dabei waren, warum dann nicht auch noch den Rest aufdecken? Dann konnte er das alles endlich hinter sich lassen.

"Beantworte mir eine Frage...", murmelte er noch leiser, damit auch ja niemand sie hören konnte.

Plötzlich schlug sein Herz ihm bis zum Hals und seine Handflächen wurden feucht.

"Warum hast du..." Ihm blieb das verdammte Wort im Hals stecken. Noch heute war der Schaden so groß, dass er es nicht einmal aussprechen konnte.

Er sollte sich zusammenreißen und es einfach durchziehen, aber er konnte nicht. Stattdessen begann er innerlich zu zittern und seine Kehle schnürte sich zu.

"Warum hast du...", setzte er erneut an und bemerkte, dass er die Worte fast schon hervor würgte. Er konnte das nicht. "... das gemacht?", beendete er deshalb. Spezifischer konnte er einfach nicht werden.

Diese dumme Hoffnung in ihm, pochte noch immer darauf, dass es alles nur ein Missverständnis gewesen war.

Nathan war etwas näher gekommen, wahrscheinlich um ihn besser zu verstehen, doch es war Shinji schon zu nah. Ausweichen konnte er nur auch nicht, denn dann hätte er lauter sprechen müssen und das war ihm unmöglich. Wenn das jemand hörte!

Wobei es ihm auch bereits den Schweiß auf die Stirn trieb, dass andere die körperliche Nähe missverstehen könnten. Hoffentlich zog niemand die falschen Schlüsse.

"Ich nehme an, du meinst damit nicht den Umzug..."

Shinji erstarrte, ehe er seine Kiefer wieder wütend aufeinander presste:

"Machst du dich gerade über mich lustig!?"

Es war eine dumme Idee gewesen einzulenken. Eine verdammt dumme. Wie war er überhaupt darauf gekommen?

"Vergiss es einfach!", zischte er... aber er ging nicht. Verdammt nochmal, warum bewegten sich seine Füße nicht!? Vorwärts! Los jetzt! Doch er bewegte sich keinen Millimeter. Er stand nur da und starrte in seinen leeren Einkaufskorb.

"Seh ich so aus, als würde ich dich verarschen?"

Die Stimme von Nathan war dermaßen verwirrt, dass Shinji das Gefühl hatte, irgendetwas verpasst zu haben.

"Shinji, bitte rede mit mir. Was um alles in der Welt habe ich getan, das dich so fertig macht?"

Jetzt hob Angesprochener doch wieder den Kopf und sah den Anderen vollkommen fassungslos an. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, ob das Nathans Ernst war. Er sah deutlich die Sorge und Verwirrung in den Augen seines ehemaligen Kumpels, doch für Shinji war es unbegreiflich, dass er immer noch keine Ahnung hatte. Sie nie gehabt hatte...

"Wofür hast du dich denn gerade entschuldigt, wenn du nicht weißt, wovon ich rede!?"

Jetzt fühlte er sich wirklich verarscht. Hatte Nathan ihn nur einwickeln wollen? Mit einem Mal schlossen sich die Hände, die gerade noch vollkommen verkrampft um den Griff des Einkaufswagens gelegen hatten, um Nathans Kragen und zogen ihn etwas zu sich herunter.

"Muss dir ja tierisch egal gewesen sein, wenn du es einfach vergessen hast!", spuckte er ihm förmlich ins Gesicht.

Zu laut! Viel zu laut! Doch er konnte nicht aufhören, obwohl das innere Zittern sich bereits auf seine Hände übertrug. Zu viel Aufmerksamkeit, zu viele Missverständnisse!

Der halbwegs rationale Teil seines Hirns feuerte Warnsignale, doch er ignorierte sie. Was jetzt folgte, platzte einfach aus ihm heraus.

"Mir war's das nicht! Ich habe dir vertraut! Ich hab' mir Mut antrinken müssen, damit ich überhaupt mit jemandem darüber reden konnte! Über diese komischen Träume und die anderen Anwandlungen! Und du brabbelst noch was davon, wie froh du bist und dass du mich magst und dass du mir zeigst, dass das alles gar nicht so schlimm und ganz normal ist! Und danach!? Nichts! Gar nichts und dann bist du einfach weg und lässt mich mit der ganzen Scheiße alleine! Und kaum bist du weg und hast rein gar nichts mehr zu befürchten, geht so ein scheiß Video von uns durch die ganze Schule!"
 

Nathan stand da, wie vom Donner gerührt. Und dann schien ihn die Erkenntnis zu treffen. Shinji konnte förmlich sehen, wie es in Nathans Kopf arbeitete.

Als sich Nathans Hände dann auf seine legten, ließ er es zu, dass er sich von ihm löste, ein wenig Abstand nahm und ihn leicht geschockt, aber auch nachdenklich musterte.

"Was für ein Video?"

Zitternd atmete Shinji durch und ließ selbst erst einmal sacken, was gerade geschehen war. Es war raus. Er hatte es ausgesprochen und plötzlich fühlte er sich nicht nur unglaublich müde, sondern auch vollkommen leer. All die Jahre hatte er das mit sich herum geschleppt, hatte sich ausgemalt wie es war, Nathan das ins Gesicht zu sagen, ihm zu sagen, was er von ihm hielt. Und jetzt war es raus und die Welt drehte sich einfach weiter. Es hatte sich nichts verändert.

Seine Hände lagen kraftlos und leicht zitternd in denen von Nathan, während er geradeaus auf die Brust seines Gegenübers starrte.

"Ich glaube es war wer aus unserer Clique", murmelte er leise. "Aber als ich es mitbekommen hab, war das Video schon zu weit verbreitet."

Er hatte nicht einmal eine Ahnung, wie es sich überhaupt so schnell hatte verbreiten können. Internet, so wie man es heute kannte, hatte es damals noch nicht gegeben.

Bitter presste er die Lippen aufeinander. "Und von wegen so was ist ganz normal." Jetzt fing er doch noch an zu jammern, aber er konnte nicht anders. Nathan hatte ihm versprochen, dass er nicht abnormal war! Und er hatte ihm geglaubt...

"Sie haben mich alle spüren lassen, wie abnormal das ist. Ich war mal einer der beliebtesten Jungs in der Schule gewesen. Auf jeder Party eingeladen... immer vorne dabei. Das war dann sehr plötzlich Geschichte. Und als mein Dad es mitbekommen hat... ich will gar nicht mehr daran denken... seitdem hab ich nicht mehr mit ihm geredet... er will nichts mehr von mir wissen."

Dass er ihn mit achtzehn vor die Tür gesetzt hatte, konnte er nicht einmal aussprechen und er unterdrückte krampfhaft die Erinnerungen an die Worte und den Gesichtsausdruck seines Vaters. Er wollte sich nicht daran erinnern. Nie wieder.

Einige lange Sekunden war es still, ehe er wieder leise, aber gepresste Worte von seinem ehemaligen Freund hörte:

"Entschuldige... dass ich nicht an deiner Seite war."

Und diesmal glaubte Shinji ihm, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern. Die Wut war endgültig verraucht. Die Wut, die er all die Jahre mit sich herum geschleppt hatte und die ihn Nathan keinen einzigen Tag hatte vergessen lassen. Es war weg und er fühlte sich doch kein Stück besser. Nur leer.

So hatte er sich das nie vorgestellt. In seiner Fantasie war an diesem Punkt wieder alles gut. In seiner Fantasie hatte er sich danach befreit gefühlt. Aber es war einfach nichts da. Nur der dumpfe Schmerz, der sich langsam wieder in den Hintergrund seines Bewusstseins schob.

Etwas hilflos sah er auf seinen leeren Einkaufswagen, nachdem er seine Hände endlich aus Nathans gelöst hatte und wusste nicht recht, wie er jetzt weiter machen sollte.

"Schon in Ordnung", begann er dann langsam.
 

Er sah, dass Nathans ganze Körper unglaublich angespannt war, doch Shinji wusste, dass dessen Wut nicht ihm galt, sondern der Vergangenheit. Nathans Beschützerinstinkt hatte eingesetzt und wäre ein ehemaliges Cliquenmitglied gerade hier, wäre wohl die Hölle los. Aber Nathan riss sich zusammen, wahrscheinlich Shinji zuliebe.
 

Nein... sein ehemaliger Freund hatte wirklich nichts mit der ganzen Sache zu tun gehabt. Eigentlich war es von Anfang an lächerlich gewesen, überhaupt zu glauben, dass er es hätte. Aber er hatte irgendwem die Schuld geben müssen und es war einfacher gewesen, sie auf jemanden zu schieben, der nicht dagewesen war, als sie bei sich selbst zu suchen.

Ein leises Seufzen entkam Shinji und ihm wurde klar, dass er es gerade nicht ertrug, allein in seine leere Wohnung zurückzukehren. So tief konnte er sich nicht in seine Arbeit stürzen, dass ihm das hier nichts mehr ausmachte. Er wollte gerade nicht allein sein. Das erste Mal in 15 Jahren, wollte er Gesellschaft. Wie absurd...

"Ich brauch 'nen Kaffee...", sagte er dann, ohne Nathan anzusehen. "Kommst du mit?"

Nates Familie

"Kennst du nen Platz, wo man guten Kaffee trinken kann?"

Shinji hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass Nathan 'nein' sagte, aber er war dennoch erleichtert. Warum war er so erleichtert? Er sollte sich gar nicht nach Gesellschaft sehnen! Wo kam das nur plötzlich her?

Er wischte den Gedanken schnell beiseite, denn es gab ein anderes Problem. Kannte er einen Platz? Nein, nicht wirklich. Die Kenntnisse seiner Stadt beschränkten sich auf seine Wohnung, diesen Supermarkt und seine Arbeitsstelle, die er nur selten besuchen musste. Mit Lieferservices hätte er Nathan zuschmeißen können, aber nicht guten Cafés.

"Wenn nicht, können wir rauf zu mir. Ich wohne gleich gegenüber. Dann verstau ich gleich die Einkäufe... deine Entscheidung."

Shinjis Blick schweifte zu dem Einkaufswagen und ihm wurde flau im Magen. Zu ihm nach Hause? In seine Wohnung? Ihm war wirklich unwohl dabei. Andererseits war er ein wirklicher Pragmatiker, weshalb er den Sinn darin nicht sah, die Einkäufe erst weg zu bringen, um dann noch einmal raus zu gehen. Ganz abgesehen davon, dass er nicht gewusst hätte, wohin. Und zu sich in seine heiligen vier Wände, würde er den anderen sowieso nicht lassen!

Also blieb ihm nur zu sagen: "Ja, erscheint mir am sinnvollsten." Dass er damit nicht wirklich auf die 'entweder..., oder...' Frage antwortete, fiel ihm nicht einmal auf.

Kurz fiel sein Blick auf seinen eigenen, leeren Wagen, der ihm vorhin noch so viel Halt gegeben hatte. Kurz sah er sich um und als er sicher war, dass niemand hinsah, ließ er den Wagen einfach stehen und ging hinüber zu Nathans Wagen. Diese Aktion brachte ihm ein amüsiertes Lachen ein, doch er ging nicht weiter darauf ein. Klar tat er nichts böses, wenn er den Wagen einfach stehen ließ, aber er kam sich dennoch unhöflich dabei vor.

"Sieht so aus, als wäre ich nicht der Einzige, mit einem leeren Kühlschrank.", sagte er, nur um irgendwas zu sagen. Hoffentlich ging der andere auf den unbeholfenen Gesprächsversuch ein.

"Einen Tag länger und der Kühlschrank hätte sich selbst zum Einkaufen geschickt", erwiderte Nathan mit einem schiefen Grinsen.

"Ich kenn das Problem." Und damit war das Gespräch dann doch beendet. Glücklicherweise konnte sich Shinji aber damit ablenken, die Einkäufe auf das Laufband zu legen und sie auch wieder einzuräumen. Er wunderte sich sehr über den ganzen Süßkram, früher hatte Nathan einen großen Bogen darum gemacht. Aber sie hatten sich sicherlich beide verändert.

Nathan hatte nicht gelogen, er wohnte tatsächlich direkt gegenüber. Mit zwei vollgepackten Tüten stand er dann vor der Tür. "Hältst du kurz?" Und schon hatte Shinji eine der Tüten in der Hand. Nicht, dass er nicht sowieso eine getragen hätte, aber Nathan hatte so bestimmt danach gegriffen, dass er ihm seinen Willen hatte lassen wollen.
 

Oben angekommen stockte Shinji allerdings. Auf dem Boden lagen überall verstreut Buntstifte und er war sich ziemlich sicher, dass die nicht von Nate waren.

"Du hast Kinder?", krächzte er erstickt. Er war sich nicht sicher, warum er dermaßen geschockt war, aber aus irgendeinem Grund, war er sicher gewesen, dass Nate Single war. Dass er das nicht war, zeigte die Tasse mit dem Lippenstiftabdruck darauf, die in der Spüle stand. Nathan hatte sie leicht schmunzelnd hochgehoben und den Kopf geschüttelt. Er hatte Frau und Kinder.

"Ehm... hier", murmelte er etwas unbeholfen und stellte die Tüte auf die Anrichte.

Erst jetzt sah er sich in der Wohnung etwas genauer um. Sie war hell und groß. Wohn- und Esszimmer lagen in einem gemeinsamen Raum direkt hinter der Eingangstür, während die Küche in einem kleineren Raum abgetrennt war, der durch einen Durchbruch betreten werden konnte. Es wirkte offen und freundlich und die Stille verriet, dass wohl niemand zu Hause war. Das änderte allerdings nichts daran, dass sich Shinji wie ein Eindringling hier vorkam. Das war nicht seine Welt.

Nathan hatte eine Familie und verdiente offensichtlich genug. Und was hatte er selbst erreicht? Er wohnte in einer kleinen Zwei-Zimmer Wohnung, in einem Keller und versteckte sich vor der Welt. Er konnte nicht einmal eine Freundin vorweisen oder überhaupt Bekannte. Sein bester Freund war das Internet, in dem sich noch mehr Leute wie er tummelten und mit denen er sich gut verstand.

"Es ist nicht meines", hörte er Nathan plötzlich lachen. "Aber ich hänge an dem Mädchen, als wäre es mein eigenes."

Sein Gastgeber zog zwei Tassen aus einem Schrank und Shinji hörte die Filterkaffeemaschine vor sich hin glucksen. "Milch und Zucker?"

"Ja", antwortete Shinji. "Drei Stück Zucker." Er hatte seinen Kaffee schon immer süß getrunken. Das hatte sich bis heute nicht geändert und würde sich auch nicht ändern. Er war eine furchtbare Naschkatze.

"Also eine Patchworkfamilie?", fragte er weiter, weil wieder so eine unangenehme Stille eintrat. Eigentlich wollte er es gar nicht wissen. "Aus der ersten Ehe deiner Frau?" War ja heutzutage nicht ungewöhnlich.

Nathan nahm wieder die Tasse in die Hand, grinste noch Mal so komisch und räumte sie dann in die Spülmaschine. Dann wandte er sich wieder an Shinji und schmunzelte belustigt. Hatte er was witziges gesagt?

"Wenn ich mit ihr verheiratet wäre, würde ich mich erschießen. Sie ist eine Chaotin und außerdem meine Schwester."

Oh... "Sorry." Da hatte er etwas ganz schön missverstanden. War das peinlich. Aber wie hatte er auch etwas anderes denken sollen? Die Situation war nahezu eindeutig gewesen. Aber eben nur nahezu. "Ich verbringe hier mehr oder weniger meinen Urlaub.", setzte Nathan noch hinten an.

"Was ist mit dir? Hast du Kinder?", fragte sein Gastgeber jetzt. Wie sehr Shinji Smalltalk doch hasste, vor allem, wenn es um ihn ging.

Betont lässig zuckte er mit den Schultern. "Ich hab es aufgegeben noch eine Partnerin zu finden. Ich bin zu sehr mit meiner Arbeit verheiratet." Das war er wirklich, allerdings war das nicht der Grund, warum seine Beziehungen alle zu Bruch gegangen waren. Aber das würde er Nathan sicher nicht unter die Nase reiben.

"Das kenne ich.", erwiderte sein Gesprächspartner. Schon standen Tassen, Milch und die Kaffeekanne auf dem Esstisch, weshalb sich Shinji nun auch setzte. Nathan nahm ihm gegenüber Platz. "Was arbeitest du denn?"

Shinji goss noch Milch nach und nahm einen Schluck Kaffee, um seine Unsicherheit etwas zu überspielen. Er wollte wirklich nicht über sich reden, aber das hatte er sich jetzt selbst eingebrockt.
 

"Nichts Besonderes.", murmelte er und drehte leicht die Tasse in seinen Händen hin und her. Er hatte Schwierigkeiten damit, anderen Menschen in die Augen zu sehen, weshalb er Nathan eher auf die Nase sah oder knapp an ihm vorbei. Für seinen Gegenüber sah es nahezu so aus, als würde er ihn normal ansehen. Das war ein Trick, den er sich im Laufe der Jahre angewöhnt hatte. "Ich bin Freelancer in der Softwareentwicklung. Ist die einzige Möglichkeit, wie ich nachts arbeiten kann."

Das hatte er eigentlich schon nicht preisgeben wollen. Aber Nathan hätte wahrscheinlich sowieso nachgefragt und das ersparte er sich jetzt vielleicht. Dann lief er auch nicht Gefahr, ihm die anderen Gründe noch zu nennen. Zum Beispiel, dass er nur so kaum Kontakt mit anderen Menschen haben musste. Das war ihm unangenehm. Wenn er ehrlich zu sich war, vermisste er die Zeit, in der er ständig auf Achse gewesen war, ständig neue Menschen kennengelernt hatte und er Freitags nicht gewusst hatte, wo er Sonntags aufwachte. Aber er war so nicht mehr. Schon lange nicht mehr.

Aber das sprach er natürlich nicht aus, schließlich musste er Nate nicht gleich auf die Nase binden, was für ein langweiliger, uncooler Loser er geworden war.

"Und du? Ich nehme an, das hier ist dann auch nicht deine Wohnung?", fragte er stattdessen mit echter Neugierde in der Stimme.

Doch Nathan schien noch nicht über sich reden zu wollen:

"Du bist wohl noch immer eine Nachteule, was?"

Sie Frage ließ Shinji schief grinsen, und die Schultern zucken:

"Schuldig im Sinne der Anklage. Ist sogar eher noch schlimmer geworden. Ich fang meistens um 21 oder 22 Uhr an zu arbeiten und stehe dafür zwischen 13 und 16 Uhr auf."

Wieder konnte Shinji nicht sagen, warum er das erzählte. Das klang viel zu unnormal, aber Nate strahlte immer noch diese Sicherheit aus, die er schon damals an ihm gemocht hatte. Nate war loyal, das wusste er und allein, dass er gerade mit ihm hier saß, zeigte ihm, wie loyal. Shinji hatte seinem ehemaligen Freund so viel an den Kopf geworfen und dennoch saßen sie nun hier und wollten sich neu kennenlernen. Er konnte dem Zauber dieses Moments offensichtlich nicht widerstehen. Es fiel ihm dennoch schwer, Nathan direkt anzusehen und das schien seinem Gesprächspartner auch aufzufallen, der sich plötzlich vor lehnte und den Kopf schief legte, um wohl einen Blick in Shinjis Augen zu werfen, aber der lehnte sich nur scheu zurück, während die dunklen Augen nur kurz über die seines Gegenübers flackerten. Glücklicherweise gab Nathan den Versuch dann auch gleich wieder auf und lehnte sich wieder zurück.

"Dann bist du heute ja einigermaßen früh aufgestanden."

"Ja... musste eben einkaufen. Aber ich bin noch nicht richtig wach, die Nacht war lang. Es hat schon gedämmert, als ich ins Bett bin."

"Ich schenk' dir gerne noch was nach, wenn du noch Kaffee möchtest. Schließlich kann ich es nicht verantworten, wenn du hier noch einpennst."

Als Nathan den Kaffee ansprach, nahm Shinji gleich noch einen Schluck, als hätte er vergessen, dass er da war. Schlechtes Zeichen. Kaffee war sein Lebensinhalt.

"Ich meld' mich schon, wenn ich noch was brauche." Die Antwort war etwas abwehrend, aber er konnte gerade nicht anders. Das hier lief gefährlich aus dem Ruder. War er so gebannt von Nathan, dass er sogar den Kaffee vergaß? Eigentlich sollte er spätestens jetzt aufstehen und verschwinden, aber das brachte er nicht über sich, warum auch immer...

"Jetzt aber zu dir. Das hier ist also die Wohnung deiner Schwester?"

Zwickmühle

"Ja, ich helfe meiner Schwester ein wenig aus. In handwerklichen Dingen war sie schon immer eine Niete."

Nathan verbrachte also seinen Urlaub damit, seiner Schwester die Wohnung zu reparieren? Das war schon etwas merkwürdig, oder? Shinji war sich da nicht so sicher. Menschen taten merkwürdige Sachen für Menschen, die sie mochten und hatten dabei auch noch Spaß. Vielleicht entspannte Nathan das Heimwerken ja tatsächlich, auch wenn Shinji sich nicht vorstellen konnte, warum. Menschen waren komisch.

"Das ist nett von dir", murmelte er leise, weil er nicht genau wusste, was er sonst darauf sagen sollte.

"Und was machst du, wenn du nicht gerade Urlaub machst?", fragte er dann einfach weiter, um zu überspielen, dass er keine Ahnung hatte, wie man auf so etwas anständig antwortete. Er umfasste die Tasse mit beiden Händen, um etwas zu haben, woran er sich festhalten konnte, denn er fühlte sich, als würde er den Halt verlieren. Diese Situation war so surreal, dass er nicht wusste, was er damit anfangen sollte und gleichzeitig wirkte alles so vertraut, als hätten sie sich vor einer Woche das letzte Mal gesehen.

Nate hingegen grinste nur verschwörerisch über seinen Tassenrand hinweg: "Ich bin in der Sicherheitsbranche tätig."

Zum ersten Mal musste Shinji kichern. "Sagt man das nicht immer, wenn man nicht sagen will, dass man Türsteher ist?"

Hatte es Nate wirklich dort hin verschlagen? Klar, er hatte schon immer einen ausgeprägten Beschützerinstinkt gehabt, aber Türsteher? Bodyguard vielleicht, aber Türsteher erschien ihm doch ein wenig zu... normal.

"Türsteher ist ein cooler Job.", antwortete sein Gegenüber und grinste so breit, dass sich Shinji sicher war, dass er glücklich mit dem war, was er tat und das war doch die Hauptsache.

"Passt irgendwie zu dir." Und um wieder zu verhindern, dass ihnen die Themen ausgingen, fuhr er gleich fort:

"Das sind übrigens ziemlich coole Tattoos. Ich weiß noch, dass du damals oft davon geredet hast, dass du dir welche stechen lassen willst."
 

Nach einem kurzen Blick auf seinen Unterarm, krempelte Nate die Ärmel seines Hemdes noch etwas weiter hoch, als sowieso schon und grinste stolz.

Die kompletten Oberarme waren voll mit Tinte und unter dem Hemd lugte auch auf der Brust etwas davon hervor.

"Anfangs wollte ich nur eines stechen lassen. Aber wenn man mal anfängt, findet man immer noch einen anderen Platz."

Im ersten Moment war es schwer die einzelnen Motive auseinander zu halten, aber man merkte schnell, dass es sehr asiatisch angehaucht war. Seit wann Nate sich wohl so sehr für die fernöstliche Kultur interessierte? Damals, als sie in der Schule waren, hatte er zumindest noch nichts davon verlauten lassen.

Ein typischer, chinesischer Glücksdrache schlängelte sich um den einen Arm, während sich eine Hannya-Maske hinter geschwungenen Wolken auf dem anderen versteckte. Das waren die zwei hervorstechendsten Motive, aber es gab noch unzählige mehr. Shinji konnte sich kaum daran satt sehen, aber er wollte auch nicht starren, deshalb versuchte er sich wieder von dem Anblick zu lösen.

"Die sehen echt krass aus und wirklich cool. Wie viele Motive sind das?"

"Hmm... ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung. Ich war bei 37 Sitzungen und am Rücken geht es auch noch weiter, auch wenn der noch nicht so voll ist, wie die Arme."

Shinji nickte beeindruckt, sofern das eben ging und hatte wahrlich Probleme, seinen Blick wieder davon abzuwenden. Hoffentlich merkte Nathan nicht, wie sehr er starrte.

"Ich wusste gar nicht, dass du dich so sehr für die Kultur interessierst."

"Nicht nur die Kultur", antwortete Nate grinsend und irgendein merkwürdiger Unterton schwang da mit. "Auch das Essen."

Plötzlich kam eine alte Erinnerung in Shinji hoch. Er konnte sie nicht ganz fassen, aber das Gefühl der Vertrautheit überschwemmte ihn so sehr, dass er lachen musste. "Dann musst du unbedingt mal zu mir zum Essen kommen."

... ... ... Fuck! Was hatte er denn da gesagt? Scheiße, wie war das denn passiert?

Um den Schock zu überspielen, nahm er schnell noch einen Schluck Kaffee. Nur die Einladung konnte er nicht überspielen. Wo hatte er sich da nur wieder rein geritten?

"37 Sitzungen sind echt viel." Das klang so gezwungen künstlich, er wäre am liebsten im Erdboden versunken. Den Versuch, die Nervosität mit Kaffee zu ertränken, musste er abbrechen. Das eben war der letzte Schluck gewesen.

"Ehm... ich würde dann noch einen nehmen."
 

Nate stand auf und Shinji konnte das Grinsen schon aus seiner Stimme hören als er antwortete:

"Zu der Einladung sage ich nicht nein. Auch wenn ich mich noch an deinen ersten versuch erinnern kann, als du Tempura machen wolltest. Hier unter den Tattoos ist irgendwo noch eine kleine Brandnarbe davon übrig geblieben."

Ja, das war die Erinnerung gewesen, die ihn vorher gestreift hatte und ihm diese Miesere eingebrockt hatte. "Ich weiß noch, wie sauer mein Dad war, als er die Küche gesehen hat."

Kurz schweiften seine Gedanken zu seinem Vater und er versuchte sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn das berührte. Er zwang seine Gedanken wieder in eine andere Richtung, erinnerte sich viel lieber an den schiefgegangenen Kochversuch, bis er sogar ein halbwegs ehrliches Schmunzeln zustande brachte.

"Mittlerweile ist man außer Lebensgefahr, wenn ich koche." Und wenn er ehrlich war, kochte er sogar echt gerne. Nur eben nicht oft, weil er meist zu müde war und sich die Arbeit für ihn alleine irgendwie nicht lohnte.

Nate kam mit frischem Kaffee zurück und füllte Shinjis Tasse ganz selbstverständlich mit der korrekten Menge Zucker und Milch - aufmerksam wie er schon immer gewesen war...

"Danke", murmelte Shinji und nahm gleich wieder einen Schluck.

"Wohnst du eigentlich schon lange in der Stadt? Ich kann's noch immer nicht glauben, dass wir uns hier getroffen haben."

Ja, das konnte Shinji auch nicht. Wie lange er wohl noch bleiben musste, damit es nicht unhöflich war zu gehen? Manchmal verfluchte er seine asiatische Erziehung. Aber vielleicht schaffte er es wenigstens, hier weg zu kommen, ohne, dass Nathan nach seinen Kontaktdaten fragte. Dann konnten sie auch kein weiteres Treffen ausmachen.

"Sicherlich fünf oder sechs Jahre", gab er zu, während er noch darüber nachdachte, wie er Nathan am Besten aus dem Weg gehen konnte, wenn das hier vorbei war. "Hier ist gerade die Auftragslage gut. Ich hab im Prinzip einen festen Arbeitsplatz. Wo wohnst du eigentlich, wenn du gerade nicht Urlaub machst?"

"Ich habe nicht wirklich einen festen Wohnsitz. Ich wohne dort, wo es Arbeit gibt."

Das klang nicht wirklich typisch für einen Türsteher, oder? Aber er bekam gar nicht die Gelegenheit dazu, weiter darüber nach zu denken: "Aber wenn du schon so lange hier wohnst, weißt du bestimmt auch, wo man sich ordentlich besaufen kann."

"Eh..." Er blinzelte kurz. Was sollte er denn jetzt sagen? Konnte Nathan seine Schwester da nicht fragen? Oder wohnte die auch noch nicht lange hier?

Er kannte sich in dieser Stadt nicht aus. Er kam nicht viel raus und trinken tat er auch kaum noch. Ab und an mal ein Bier nach oder während der Arbeit, alles andere hatte er sich abgewöhnt. "Nicht so richtig. Weil ich nachts arbeite, komme ich nicht so viel raus."

Das war keine Lüge, aber trotzdem sehr weit von der Wahrheit weg. Er wollte nicht raus, nicht unter Menschen. Was sollte er da auch? Er konnte mit alldem nichts mehr anfangen, das war schon lange vorbei.

Als Nathan sich dann vor lehnte und ihm anscheinend beruhigend den Oberarm tätschelte, wäre Shinji beinahe zusammengezuckt. So lehnte er sich nur vorsichtig zurück - ganz so als wolle er sich gemütlicher hinsetzen - um solche Aktionen in Zukunft von vornherein zu verhindern. Dass Menschen aber auch immer so auf Kuschelkurs gingen. Dabei sollten Männer das doch sein lassen, war immerhin unglaublich unmännlich.

"Macht ja nichts. Ich finde schon ein Plätzchen, an dem wir uns so richtig nett betrinken können."

Shinji wurde etwas bleich. Er wollte mit ihm trinken gehen? Warum? Verdammt noch mal, er hätte ihn nicht zum Essen einladen dürfen! Das gab ein vollkommen falsches Bild. Er hätte gar nicht erst mit dem Kaffee anfangen dürfen! Was war da nur in ihn gefahren?

Aber vor Nathan zugeben, dass er zu einem uninteressanten Nerd geworden war? Wäre es zu auffällig, wenn er absagte? Was würde sein Gegenüber dann von ihm halten, wenn er ihm gestand, dass er gar nicht mehr trank? Würde er ihn dann für schwach und weibisch halten? Schließlich war es normal, dass 'harte Kerle' am Wochenende trinken gingen und auch unter der Woche öfter ein Bier zischten.

Niemand sollte denken, er wäre verweichlicht. Nicht Nathan und auch nicht irgendwer anderes. Hatte er dann eine andere Wahl als zuzusagen? Ihm fiel keine Ausrede ein. Nun, es wäre ja auch möglich, das Treffen so lange aufzuschieben, bis Nathan es aufgab, oder?

"Ehm... ja... klar... sag einfach Bescheid, wenn du was gefunden hast."

Vielleicht hatte er ja auch einfach Glück und Nathan vergaß tatsächlich ihn nach seinen Kontaktdaten zu fragen. Dann brauchte er nur einen neuen Supermarkt, in dem er einkaufen konnte.

Erschreckt zuckte er zusammen, als die Tür plötzlich aufflog.
 

Ein Wirbelwind in Form einer jungen Frau stürmte in die Wohnung, was das leise Klicken der zufallenden Tür surreal erscheinen ließ.

"Meine Schwester", hörte Shinji Nathan unnötigerweise erklären.

"Alles okay, Lily?"

Lily... Lily... Lily... Er sollte sich diesen Namen wenigstens merken, bis er aus der Wohnung wieder raus war. Unangenehm genug, dass er sie überhaupt kennenlernte. Lily... Lily... Lily...

"Die scheiß Idioten glauben wohl, ich könnte mit 5 Dollar Trinkgeld meinen Lebensunterhalt bezahlen."

Fast wäre Shinji unter der lauten Stimme zusammengezuckt, riss sich aber zusammen. Viel zu laut... viel zu hektisch...

Ob ... Lily Kellnerin war? Lily... Lily... Lily...

Als sich die Besitzerin der Wohnung endlich zum Tisch umwandte, stockte sie überrascht. "Oh, hallo."

Shinji musterte die Frau vor sich kurz und der erste Gedanke, der ihm kam, war, dass, wenn sie mehr Trinkgeld wollte, sie sich wohl etwas offenherziger kleiden sollte. Nicht, dass sie nicht gut aussah, aber als Kellnerin galt 'Sex sells' wie überall sonst auch. Aber den meisten Müttern war das wahrscheinlich unangenehm, wenn sie gleichzeitig versuchten, ein Vorbild für ihre Kinder zu sein.

Wie alt ... Lily wohl war? Er konnte nicht genau sagen, ob sie jünger oder älter war als Nathan und er erinnerte sich auch nicht mehr an sie. Hatte er sie überhaupt jemals gesehen? Hatte Nathan je von ihr erzählt?

Shinji unterbrach seine Gedanken sofort, als ihm auffiel, dass er starrte. Stattdessen stand er nun eilig auf, um sich vorzustellen:

"Ehm... hi. Ich bin Shinji, ein alter Freund von Nathan. Es freut mich Sie kennen zu lernen und eh... ich hoffe, es ist in Ordnung, dass ich auch hier bin."

Schließlich war das ihre Wohnung und er war ungefragt hier. Auch wenn Nathan ihr half, hatte er vielleicht nicht das Recht, hier einfach Leute her einzuladen. Gerade wenn ein Kind im Haus sein könnte, waren fremde Männer doch meistens eher unwillkommen, oder? Innerlich stellte er sich bereits auf eine Standpauke ein und eine viel zu laute Stimme in seinem Kopf hoffte ganz eindeutig, dass sie ihn hochkant raus warf.

Wetteinsatz

"Shinji... Der Name sagt mir was", überlegte Lily, ehe sie schlagartig die Augen aufriss und ihren Gegenüber noch einmal von oben bis unten musterte. "Doch nicht etwa der Shinji?"

Anscheinend hatte Nate mehr über ihn geredet, als über seine Schwester. Wie unangenehm, aber es schien hauptsächlich Gutes gewesen zu sein, denn sie schien begeistert. "Der Shinji, mit dem Nate in der Schulzeit ständig rumgehangen hat? Oh Mann, ich hätte nie gedacht, dass ich dich noch kennenlerne!"

Prompt ergriff sie seine Hand und schüttelte sie überschwänglich. Dann aber schlug ihr Gesichtsausdruck um und wurde finster.

"Weißt du, wie oft er deinetwegen seine süße, kleine Schwester versetzt hat?"

Er kam nicht einmal dazu Luft zu holen, ehe sie sich die Frage selbst beantwortete: "Unfassbar oft!"

"Eh...", setzte er an, weil er einfach nicht wusste, was er dazu sagen sollte. Ja, Nate hatte viel Zeit mit ihm verbracht. Mehr Zeit, als mit jedem anderen aus ihrer Gruppe. Er war sein bester Freund und wohl hauptsächlich deshalb auch Hauptdarsteller in seinen Träumen gewesen. "Tut... mir leid?", riet er dann die Antwort. Er war sich nicht sicher, ob sie das hören wollte.

"Ich habe mich ja nicht nur mit ihm getroffen. Die ganze Clique hatte Schuld.", sprang ihm Nate zu Hilfe. Wie damals auch immer. Er hatte nie ein schlechtes Wort auf ihn kommen lassen.

Diese ganze Aufmerksamkeit die hier auf ihm lastete, war Shinji fast zu viel. Sein Herz flatterte schon ganz nervös.

Plötzlich wurde der Gesichtsausdruck von Nathans Schwester - Lily - wieder weich und ruhig und sympathisch, was darauf schließen ließ, dass sie es von Beginn an nicht ernst gemeint hatte. Ha ha... wie unsagbar witzig. Er hasste Menschen.

"Setz dich doch wieder und fühl dich wie zu Hause." Wie zu Hause? Das ging nicht. Viel zu viele Fenster, viel zu viel Licht und vor allem: viel zu viele Menschen. "Möchtest du was essen? Bei Nate verhungerst du noch, wenn du es dir nicht selbst nimmst."

Shinji setzte sich daraufhin einfach, kam aber nicht dazu, Lily zu antworten.

"Musst du nicht Hana abholen? Oder sonst irgendwas anderes tun?" Hana war dann wohl Lilys Tochter.

"Oooh, stör ich euch etwa?", entgegnete Lily sofort und grinste schelmisch. "Du weißt doch, kleine Schwestern nerven gerne. Und Hana ist noch bei einer Freundin. Aber du könntest sie nachher abholen." Und ohne Luft zu holen fuhr sie einfach fort: "Und Shinji? Was kann ich dir anbieten?"

Er wusste gar nicht so recht, was er sagen sollte. Diese Situation war merkwürdig und er wollte hier am liebsten weg. Anbieten? Ja, gerne. Sie konnte ihm gerne anbieten ihn rauszuwerfen, er hätte nichts dagegen. Er wollte zurück in seine sicheren vier Wände. In seinen Keller, wo ihn niemand sah und er niemanden sehen musste.

Dass Nathan seine Schwester so offensichtlich loswerden wollte, machte es auch nicht besser. Warum wollte er mit ihm allein sein? Wollte er da weiter machen, wo sie aufgehört hatten?

Shinjis rasendes Herz warnte ihn davor, nicht über so etwas nachzudenken. Eine Panikattacke konnte er nicht gebrauchen. Außerdem war Nathan nicht so... das damals war sicherlich nur der Alkohol gewesen oder ein dummes Experiment. Eine Geschmacksverirrung, so wie es bei ihm gewesen war. Jugendlicher Leichtsinn, nicht mehr. Er sollte aufhören so etwas furchtbares von seinem ehemals besten Freund zu denken. Das hatte der nicht verdient.

Lily sah ihn noch immer fragend an, weshalb er schnell den Kopf schüttelte:

"Nein, nein. Ist schon gut. Bitte, keine Umstände. Nathan hat mich bisher hervorragend bewirtet. Vor meinem fünften Kaffee kriege ich sowieso nichts runter. Also keine Sorge. Ruh dich lieber aus, solange du noch deine Ruhe hast."

Es fiel ihm ziemlich schwer Nathans Schwester zu duzen und er hoffte inständig, dass sie das kurze Zögern nicht bemerkt hatte. Das zu erklären wäre mehr als peinlich.

"Fünf Tassen Kaffee? Ich hoffe, du scherzt. Das ist doch nicht gesund!" Sie hatte es anscheinend nicht bemerkt, sehr gut. Und nein, natürlich war das nicht gesund, aber warum sagte sie ihm das? Das ging sie nichts an. Außerdem gab es ihm das Gefühl, etwas falsches gesagt zu haben. War es nicht unhöflich, seinen Gästen so unangenehme Gefühle zu bereiten?

"Sie ist ne kleine Gesundheitsfanatikerin.", informierte ihn Nate und zwinkerte ihm leicht zu. Aha... konnte er jetzt endlich gehen? Bitte?

Lily ließ sie glücklicherweise endlich allein und ging in die Küche, wo sie im Kühlschrank herum kramte. Es ging ihn nichts an, weshalb er schon den Blick abwenden wollte, doch da drehte sie sich schon wieder um und hielt Nate mit vorwurfsvollem Blick einen Becher Schokoladenpudding entgegen.

"Weißt du, wie viel Zucker da drin enthalten ist?"

Doch Nathan zuckte nur gelassen mit den Schultern und grinste breit. Sah aus, als hätte er den Pudding nur gekauft, um sie zu ärgern. Geschwister waren komisch.

Seufzend stellte Lily den Pudding zurück, nahm sich einen Naturjoghurt und setzte sich damit vor den Fernseher. Im Prinzip waren sie jetzt also wieder allein.

"Ah!", rief Nate dann plötzlich aus, was Shinji diesmal wirklich zusammenzucken ließ. Was zum? "Gib mir mal deine Handynummer. So einfach lass ich dich nicht mehr davon kommen."

"Was?", fragte Shinji mit dünner Stimme. Ach verdammt! Ihm war aber auch nichts vergönnt.

"Uhm... ja klar.", murmelte er und griff in seine Hosentasche. "Erwarte nur keine Instant Messenger oder so einen Scheiß. Ich bin auch bei keinem sozialen Netzwerk.", stellte er gleich klar. Es war auch nicht gelogen, mit diesen Datenkraken wollte er nichts zu tun haben.

Vielleicht hätte er ihm einfach eine falsche Nummer geben sollen, aber das brachte er einfach nicht über sich. Nathan hatte ihm eigentlich nichts getan... mal einen Abend mit ihm weg zu gehen, würde ihn schon nicht umbringen. So legte er seinem ehemaligen Freund also das Handy vor die Nase, wovon er die Nummer ablesen konnte, was den zum schmunzeln brachte. "Weißt du deine Nummer nicht auswendig?"

Nein, wusste er nicht. Er musste die auch nicht besonders oft angeben.

Nates Augen funkelten hell, während er die Nummer ausprobierte und Shinjis Handy kurz vibrierte. Ah, ja, natürlich. Deshalb konnte er auch keine falsche Nummer angeben. Noch mal Glück gehabt, er war wohl wirklich noch nicht wach.

"Heute ist es vielleicht etwas knapp für dich, aber wie wäre es, wenn wir morgen was trinken gehen? Am Samstag kannst du deine Arbeit auch ruhig mal hinten anstellen."

Nathan war einfach zu vorsichtig. Shinji hatte wirklich gehofft, er würde es vergessen, aber natürlich hatte er nicht so viel Glück. Er kam da nicht mehr raus, auch wenn er hoffte, dass das Thema danach erledigt war. Er glaubte nicht wirklich dran... er würde ja umziehen, wenn er könnte, aber das war unsinnig. Er musste das ja nur durchhalten, bis Nate wieder weg war. Der verbrachte ja nur seinen Urlaub hier.

"Spricht wohl nichts dagegen...", gab er mehr zu, als tatsächlich mit Elan zu antworten. Es gab wirklich nichts, was dagegen sprach. Er hatte nichts vor... er hatte nie etwas vor. Außer arbeiten. Woher Nate wohl ahnte, dass er auch am Wochenende arbeitete?

"Ausgezeichnet." Nate nahm die Kaffeekanne und schenkte Shinji noch nach. Woher auch immer er wusste, dass die Tasse schon wieder leer war.

"Wohnst du hier in der Gegend? Dann könnten wir uns vor dem Supermarkt treffen und in ein Lokal in der Nähe gehen."

Es beruhigte Shinji etwas, dass Nathan ihn nicht zu Hause abholen wollte. Das wäre auch mehr als merkwürdig gewesen und hätte sich vollkommen falsch angefühlt. Er wollte nicht, dass irgendwer sah, wie ihn ein Mann abholte... wie zu einem... nein, nein daran wollte er nicht denken.

Während Nathan seine Arbeitsgewohnheiten erahnte und ihn die ganze Zeit ansah, als hätten sie sich nie 15 Jahre lang aus den Augen verloren, schien er kein bisschen zu ahnen, dass Shinji am liebsten in eine andere Stadt gezogen wäre, nur, um diesem Treffen aus dem Weg gehen zu können. Aber da musste Shinji wohl durch, es nutzte ja nichts. Dennoch wurde ihm schlecht, wenn er daran dachte, dass er unter Menschen musste. In eine stickige Bar, in der es nach Alkohol, Kotze und anderen Körperflüssigkeiten roch. In der es laut war und eng und wo ihn viel zu viele andere beobachten konnten. Wo er sich wie ein Tier fühlte, von dem jeder erwartete, dass es sich lächerlich machte, damit man über es lachen konnte. Er wollte nicht...

"Nur wir zwei, ja?", fragte er und wäre bei den Worten beinahe im Erdboden versunken. Das klang so falsch... so falsch. Hoffentlich dachte Nate jetzt nichts komisches. Er wollte doch nur sicher gehen, dass der andere nicht noch irgendwen einlud, weil man das ja manchmal so machte. Dass Nathan ihm erzählt hatte, dass er hier niemanden kannte, hatte er schon längst wieder vergessen.

"Ja, geplant sind nur wir beide. Ich bin erst seit 10 Tagen hier. Ich kenne gerade mal den Postboten... aber vielleicht will der ja mit."

Jetzt musste Shinji doch unwillkürlich schmunzeln. Er hatte Nates Sarkasmus schon immer gemocht und diesmal projizierte er ein Bild in seinen Kopf, über das er fast sogar laut gelacht hätte.

"Darf ich dabei sein, wenn du ihn einlädst?" Er konnte sich die Frage einfach nicht verkneifen, aber er konnte sich das Gesicht des Mannes so gut vorstellen, wenn ein wildfremder ihn fragte, ob er mit ihm was trinken gehen wollte, während der einfach nur das Päckchen ausliefern wollte. Das musste ein Bild für die Götter sein.

Doch Nathan schnaubte nur belustigt und schüttelte leicht den Kopf. Wahrscheinlich würde der das tatsächlich machen, nur, damit Shinji etwas zu lachen hatte. Das hatte Nate früher schon immer gemacht. Sicher dachte er, Shinji hätte das nicht bemerkt, aber das hatte er durchaus. Jedes Mal, wenn er traurig war oder Sorgen hatte, hatte Nate begonnen sich auffällig albern zu verhalten. Ihm war fast nichts heilig gewesen, nur, um Shinji wenigstens ein Schmunzeln abzuringen. Wie hatte er nur je glauben können, dass sein bester Freund ihm mit Absicht etwas böses getan hatte? Erst jetzt fiel Shinji auf, wie unglaublich absurd das war. Er hatte ihm wirklich unrecht getan.

"Ich will auf jeden Fall wohin, wo es einen Billardtisch gibt.", warf Nate dann plötzlich ein. "Kannst du noch spielen? Dann zocken wir gleich wieder ein paar Leute ab!"

Ob sein Kumpel da ansetzen wollte, wo sie aufgehört hatten? Sie hatten das früher oft gemacht, hatten sich damit ihr Taschengeld aufgebessert, irgendwelche aufgeblasenen, halb betrunkenen Spinner abzuziehen. Nicht nur sie beide, natürlich. Ihre ganze Clique war dabei gewesen. Solche Erinnerungen waren bittersüß, weshalb er sich gewöhnlich davon fern hielt. Nathan zumindest hatte ihm nie aktiv etwas getan, seine anderen Freunde hingegen schon. Sie hatten ihn nicht nur im Stich gelassen, sondern hatten auch noch kräftig nachgetreten. Das waren Erinnerungen, die so weh taten, dass es ihn fast zerriss. Diesen Verrat konnte niemand je wieder gut machen.

Zurück in der Realität musste Shinji dann doch feststellen, dass das, was Nate vor hatte, gar nicht so furchtbar klang. Nur sie beide und ein Billardtisch. Dann würde auch kein trostloses Schweigen aufkommen und er war auch nicht gezwungen viel zu trinken. Sicherlich käme er auch darum herum mit anderen zu spielen.

"Klingt gut", antwortete er deshalb und entspannte sich ein wenig. Vielleicht war das alles doch nicht so schlimm.

"Natürlich klingt das gut. Ich habe ja auch nur gute Ideen!", prahlte Nate gespielt arrogant und brach dann im nächsten Moment in schallendes Gelächter aus, das so ansteckend war, dass selbst Shinji schmunzelte. Letzterer erinnerte sich noch hervorragend an all die guten Ideen, die Nate im Laufe der Jahre gehabt hatte.

Sie hatten selbst die typische 'nachts, nackt im Freibad schwimmen' Eskapade hinter sich, die natürlich in einer Flucht vor der Polizei geendet hatte. Hätte sein Vater je davon erfahren, er hätte ihn nie wieder vor die Tür gelassen. Aber das war mit vielen Aktion von Nate so gewesen, was allerdings auch den besonderen Charme der Erinnerungen ausmachte. Nur seine Freunde hatten ihn von der Konservativität seines Vater ablenken können, hatten ihn dazu verleitet auszubrechen und sich gehen zu lassen. Ohne sie wäre er untergegangen, denn bevor er Nathan kennengelernt hatte, hatte er sich selbst dermaßen unter Druck gesetzt, um den Ansprüchen seines Vaters zu genügen, dass er daran beinahe zerbrochen wäre. Erst mit den anderen hatte er sehen können, dass das Leben nicht nur aus Lernen und Noten bestand und dass es so viel besser funktionierte, wenn man alles ein wenig lockerer nahm. Absurderweise waren seine Noten dann auch um ein Wesentliches besser geworden. Das waren so schöne Erinnerungen.

"Nur gute Ideen, ja? Wie das eine Mal, als du dich hinter die Theke der Bar geschlichen hast und die edelste Flasche, die du finden konntest, hast mitgehen lassen? Danach mussten wir uns eine andere Stammbar suchen und es hat sich nicht einmal gelohnt! Das war das widerlichste Gesöff, was ich je getrunken hab."

Uralter Whiskey eben, das wussten ein paar Halbwüchsige nicht zu schätzen. Nate hatte damals geschworen, wenn er erst einmal selbst Barkeeper wäre, so etwas ekelhaftes gar nicht erst zu verkaufen. Was für irrsinnig schöne Zeiten.

Das herzliche Lachen von Nate pulsierte durch Shinjis ganzen Körper und versetzte ihn zurück in diese Momente, in denen noch alles gut gewesen war. Er konnte gar nicht anders, als sich zu entspannen und zu genießen, dass er gerade hier war. Vielleicht gab es ja doch noch ein klein wenig Hoffnung für sie beide. Als Freunde, natürlich.

"Die Flasche haben wir trotzdem geleert bekommen, auch wenn es bei manchen Brechreiz ausgelöst hat." Das Lachen verklang langsam und ließ so dem wohligen Gefühl zwischen ihnen noch mehr Raum. "Ja, das waren gute Zeiten. In den zwei Monaten, als du danach Hausarrest hattest, habe ich praktisch bei dir gewohnt, ohne, dass ich deinem Vater je begegnet bin."

Jetzt wo Nate es erwähnte... ja, es war wirklich hauptsächlich er gewesen, der sich zu ihm geschlichen hatte. Wie hatte er all das nur vergessen können?

Anfangs hatte er solche Panik geschoben, aber die war immer unbegründet gewesen. Sein Vater hatte sie nie erwischt.

Nate war immer da gewesen... immer. Shinji konnte sich an kaum einen Tag erinnern, an dem er ihn nicht gesehen hatte. Es war alles so viel einfacher gewesen.

"Ich muss mal schauen, wie gut ich noch Billard spielen kann.", ging er dann endlich auf die vorhin gestellte Frage ein und grinste sogar etwas herausfordernd, als er fortfuhr: "Aber für dich wird es allemal noch reichen." Der Umgang mit Nate war plötzlich wieder so unsagbar einfach. Fast, als wäre wirklich keine Zeit vergangen.

"Oh, du willst gegen mich spielen?" Ja, natürlich wollte er das. Das war immerhin der einzige Weg, wie er andere Menschen von sich fern halten konnte. Aber das herausfordernde Funkeln in Nates Augen, gefiel ihm gar nicht. "Aber nur mit Wetteinsatz."

Shinji schluckte. Konnte denn auch gar nichts einfach mal einfach sein? Musste Nathan es unbedingt in allen Varianten unangenehm für ihn machen? Die vorige Euphorie bekam einen Dämpfer, doch er war zu stolz, um sich davon jetzt einschüchtern zu lassen. "Was schwebt dir vor?", fragte er deshalb.

Das Grinsen, das Nathan ihm dann entgegenbrachte, ließ ihn eiskalt erschauern. Er kannte die Wetteinsätze noch von früher, aber jetzt waren sie älter und vielleicht noch grausamer? Was kam da jetzt? Ein Blowjob? Dass er vor der Kneipe zugeben sollte, dass sie miteinander geschlafen hatten? Ihm wurde kotzübel, wenn er nur daran dachte, aber er hoffte wirklich, dass Nathan mittlerweile erwachsen genug war, um die Grausamkeit hinter so etwas zu sehen und es deshalb sein zu lassen.

"Hmmm...", zog sein Gegenüber die Spannung noch etwas in die Länge. "Wenn ich gewinne, musst du mich eine Woche lang bespaßen."

Bespaßen? Was hieß das? Sex? Sein Hirn versuchte ihm deutlich zu signalisieren, dass es nichts anderes als das sein konnte. Nathan würde doch nicht ernsthaft... "Das heißt, wir treffen uns jeden Tag für eine Woche und machen was zusammen. Sag also schon mal Ade zu deiner Arbeit."

Shinji stieß den angehaltenen Atem geräuschvoll aus. Er schämte sich etwas dafür, dass er tatsächlich gedacht hatte, Nathan könnte das von ihm verlangen, aber zu Shinjis Verteidigung musste bedacht werden, dass er die letzten Jahre wirklich keine besonders gute Erfahrung mit Menschen gemacht hatte. Er hätte sich auf solch eine Wette auch nie eingelassen, aber hätte definitiv fluchtartig die Stadt verlassen.

Eine Woche lang Zeit mit dem anderen verbringen, war zwar auch Horror, aber wenigstens machbar und ein Wetteinsatz musste schließlich ein wenig unangenehm sein, damit man sich besonders rein hängte. Es war in Ordnung und selbst mit seiner Arbeit vereinbar. Er hatte genug Überstunden, mal ganz abgesehen davon, dass er immer und überall arbeiten konnte, solange er nur einen halbwegs vernünftigen Internetanschluss hatte.

Wann hatte er überhaupt das letzte mal Urlaub gemacht? Er konnte sich gar nicht mehr so recht daran erinnern. Oh, doch! Damals, als dieses eine World of Warcraft Add-On rausgekommen war. Ganz schön lange her, wenn man bedachte, dass er das Spiel schon eine ganze Weile nicht mehr angerührt hatte.

"Okay...", stimmte er zu und schwieg, weil ihm kein Gegeneinsatz einfiel. Er wollte nicht verlangen, dass Nathan ihn danach in Ruhe ließ. Das brachte er gerade nach diesem Gespräch nicht mehr übers Herz. Aber was sonst? Er hatte keinerlei Hobbys oder Wünsche oder sonst irgendwas. "Ich... muss über meinen Teil noch nachdenken.", wich er dann aus. Sie beide wussten, dass Nathan nicht zurückschrecken würde, egal mit was er ankam.

Als Antwort grinste Nathan heiter und schnippte ihm leicht gegen die Stirn. Eine Handlung, die Shinji verwirrte, weil er nicht wusste, was er damit anfangen sollte. Außerdem war sie ihm unangenehm und viel zu intim.

"Denk dir was schönes aus. Du weißt ja: das sind Ehrenschulden.", schob Nathan noch nach, was Shinji trotz aller Verwirrtheit und Überforderung grinsen ließ. "Keine Sorge", antwortete er gelassen. "Spätestens, wenn ich dich in Grund und Boden gespielt habe, fällt mir schon was ein."

Gerade als Nate noch etwas antworten wollte, schlurfte Lily an ihnen vorbei, um den leeren Joghurtbecher zu entsorgen. Es wirkte so, als hätte die kurze Pause auf der Couch ihr alle Kraft genommen. Es war nichts mehr von dem Wirbelwind da, der vorhin noch in die Wohnung gefegt war. Schlagartig wurde Shinji bewusst, dass sie alles hatte mithören können, was sie gesagt hatten.

"Könntest du Hana dann abholen? Sie hat bestimmt noch Hausaufgaben zu machen und mit dir geht sie gleich mit. Wenn ich komme, muss ich eine Stunde auf sie warten."

Lily klang mitleiderregend fertig. Vorhin hatte Shinji nicht ganz verstanden, warum sie unbedingt Nate schicken wollte, um ihre Tochter zu holen. Wenn er ehrlich war, hatte er das sogar ziemlich mies gefunden, schließlich war es ja ihr Kind. Doch nun verstand er. Diese Frau war einfach vollkommen überfordert und als alleinerziehende Mutter hatte sie auch alles Recht dazu, wie er fand.

"Entschuldige", richtete sie sich dann an Shinji, doch er winkte nur ab. Kinder gingen vor. Nach seinen eigenen Erlebnissen war er davon besonders überzeugt.

"Ich kann dich heim bringen, wenn du möchtest. Ich hab ein Auto.", bot Nathan auch gleich an und Shinji war sich recht sicher, dass er das nicht nur aus reiner Nächstenliebe tat. Wenn er ihn heim brachte, hatte er schließlich auch seine Adresse. Aber das ging Shinji dann doch zu weit. Er wollte wirklich nicht, dass der Andere einfach bei ihm auftauchen konnte. Noch immer grauste es ihn davor, was die anderen Anwohner denken könnten, wenn plötzlich ein Kerl bei ihm ein und aus ging. Nein... nein. Das würde niemals passieren.

"Danke, aber nein. Ich muss ja noch einkaufen." Eine schöne Ausrede, vor allem, weil sie stimmte.

Man merkte deutlich, wie unsicher er immer noch war, als er aufstand und sich aus alter Gewohnheit und Erziehung vor Lily verneigte. Normalerweise waren die japanischen Traditionen nämlich weit aus seinem Bewusstsein verbannt.

"Es hat mich gefreut dich kennen zu lernen und vielen Dank für die Gastfreundschaft." Das klang so steif und formell, aber er konnte einfach nicht anders.

Als sich Shinji wieder aufrichtete, sah er, dass auch Lily sich eilig verneigte. Keine unübliche Reaktion, die dennoch pure Überforderung widerspiegelte. Ja, das passierte vielen, wenn sie mit fremden Traditionen in Berührung kamen, aber das war nicht schlimm. Im Gegenteil, es war immer wieder angenehm mit anzusehen, wenn andere versuchten, sich anzupassen. Das zeugte von Sympathie.

Nathan nutzte die Gelegenheit und verwuschelte ihr die Haare. Sehr freundlich. Mit einem aufgebrachten "Nate!" richtete sie sich wieder auf und richtete sich ihre Frisur.

"Entschuldige nochmals, dass ich euch einfach so unterbreche.", fuhr sie dann an Shinji gewandt fort, als wäre nichts gewesen. Der schüttelte nur eilig den Kopf: "Nein, kein Problem. Ich verstehe das."

Daraufhin lächelte Lily versöhnlich und fuhr fort: "Aber komm uns doch bald wieder besuchen. Er hat früher viel von dir erzählt. Ich freue mich, dass ich endlich die Person hinter dem Namen kennenlerne."

Nate, der hinter sie getreten war, verdrehte nur die Augen und rettete ihn davor, auf das Angebot eingehen zu müssen: "Und sie quasselt weiter... gehen wir?"

Shinji indes verstand nicht ganz, warum Lily ihn so unbedingt kennenlernen wollte. Ja, er und Nathan waren damals beste Freunde gewesen, aber rechtfertigte das schon, dass sie ihn so dringend kennenlernen wollte? Vor allem, wo sie sich doch komplett aus ihrem Gespräch rausgehalten hatte? Das war zu hoch für ihn. Deshalb war er auch froh endlich gehen zu können.
 

Im Flur griff Nathan dann ihr Gespräch noch einmal auf: "Was deine Kampfansage angeht... ich bin definitiv gespannt, auf dein Billardspiel. Ich hoffe nur, du erschlägst nicht versehentlich jemanden mit einer Kugel oder stichst jemandem mit dem Queue ein Auge aus."

Shinji konnte daraufhin aber nur die Augen verdrehen: "Klar hoffst du das, schließlich wärst du dann das potentielle Opfer. Aber keine Sorge, so viel Zeit kann zwischen den Spielen gar nicht vergehen, dass ich so schlecht werde." Und davon war er fest überzeugt. Er würde erst wieder rein kommen müssen, aber im Billardspielen war er damals schon ein Naturtalent gewesen. Merkwürdig eigentlich, weil er sonst nie besonders viel Körpergefühl und Feinmotorik besaß. Manchmal waren Talente eben ungewöhnlich.

Als sie am Supermarkt angekommen waren, wollte Shinji sich schon ganz locker verabschieden und sich dann einfach abwenden. Aber Nathan hatte andere Pläne und zog ihn einfach in eine Umarmung. Vollkommen irritiert spannte Shinji sich an und überlegte fieberhaft, ob das jemand missinterpretieren konnte. Definitiv ja! Aber noch ehe er reagieren konnte, ließ Nathan ihn auch schon wieder los, sodass es nun an Shinji blieb ihm betont lässig auf die Schulter zu klopfen und sich mit einem "Ehm... bis morgen dann." sehr unelegant zu verabschieden.

"Passt dir neun Uhr?", fragte Nathan noch und wandte sich dann ab, nachdem Shinji zustimmend genickt hatte.

Bar

Als Shinji zu Hause in seiner Wohnung war, wusste er erst einmal nichts mit sich anzufangen. Die vergangenen Stunden wirkten wie ein Traum und er war sich wirklich nicht sicher, was er davon halten sollte. Fakt war: Nathan war wieder da. Er war zurück in Shinjis Leben und Shinji hatte die wage Befürchtung, dass er auch nicht wieder daraus verschwinden würde. Das machte ihm Angst, was auch der einzige Grund dafür war, dass ihm sein Herz bis zum Hals schlug.

Zuerst machte er seinen Computer an, obwohl er sicher war, nicht mehr zu arbeiten. Er hatte genug Überstunden, niemand erwartete Ergebnisse vor Montag, was hieß, dass er auch nicht arbeiten musste. Er wäre dazu auch nicht in der Lage.

Als nächstes räumte er die Einkäufe weg und setzte sich einen Kaffee auf, ehe er sich dabei erwischte, wie er begann die Wohnung aufzuräumen. Das war vergebene Liebesmüh und endete auch eher damit, dass er Dinge von A nach B räumte, ohne, dass es irgendwie ordentlicher wurde.

Er setzte sich an den Computer und startete ein Spiel, stand dann aber wieder auf, weil er seinen Kaffee vergessen hatte. Fünfzehn Minuten später realisierte er, dass er Geschirr spülte und sein Kaffee kalt neben dem Waschbecken stand. Er schüttete ihn weg und kehrte an seinen PC zurück, nur um festzustellen, dass er noch immer keinen Kaffee hatte und zurück in die Wohnküche ging, um die Tasse erneut aufzufüllen. Er setzte gleich eine neue Kanne auf.

Gerade als er das Zimmer betreten wollte, fiel ihm auf, dass er seine Tasse nicht in der Hand hatte und als er auf dem Weg zurück am Bad vorbei kam, fiel ihm auf, dass sein Wäschekorb voll war. Als die Waschmaschine gefüllt war, ging er zurück in sein Zimmer, nur um erneut aufzustehen, weil da immer noch keine Tasse neben seiner Tastatur stand.

Erneut in der Küche musste er dann erschreckt feststellen, dass er vergessen hatte den Deckel der Kanne abzumachen und die Maschine so den Kaffee auf der Arbeitsplatte verteilt hatte. Er fluchte, machte die Maschine aus, wischte die Platte wieder sauber und nahm sich dann einen verdammten Energydrink mit in sein Zimmer.

Nachdem er sich endlich einige Stunden mit einem Spiel ablenken konnte, schreckte er plötzlich hoch, weil er die Wäsche noch aufhängen musste. Mittlerweile war es dunkel draußen. Im Badezimmer bemerkte er dann aber, dass in der Maschine kein Waschpulver war. War aber nicht schlimm, er hatte auch vergessen sie an zu stellen. Heute war wirklich nicht sein Tag und mittlerweile war es zu spät, um noch zu waschen.

Gut, dass er sich entschieden hatte nicht zu arbeiten. Die ganzen Bugs im Code hätte er nicht fixen wollen. Als er erneut auf die Uhr sah, beschloss er, sich mit ein paar Bekannten im Internet zu treffen und sich von denen ablenken zu lassen. Die meisten sollten gerade online sein.
 

So vergingen die nächsten Stunden zäh und weiterhin konzentrationslos. Irgendwann war er aus dem Spiel gebannt worden, dass er mit den anderen gespielt hatte und konnte sich darüber auch nicht mehr ablenken. Aber an Schlaf war nicht zu denken. Er hatte auch nicht noch einmal versucht Kaffee zu kochen, stattdessen stapelten sich die Energy-Dosen auf seinem Schreibtisch.

Irgendwann graute der Morgen, doch erlösend war der nicht. Stattdessen wusste er, dass es noch fast 12 Stunden dauern würde, bis das Treffen stattfand. Erst danach würde er wieder seine Ruhe haben. Erst dann würde er sich wieder konzentrieren können. Bis dahin musste er die Zeit irgendwie rum kriegen.
 

Um 18 Uhr dann, stand er vor seinem Kleiderschrank und überlegte tatsächlich, was er anziehen sollte. Wenn das so weiter ging, würde er sich selbst in eine Anstalt einweisen lassen. Wann hatte er zum letzten Mal über seine Garderobe nachgedacht? Wenn er sich recht erinnerte, war das kurz vor dem Vorstellungsgespräch für seinen aktuellen Job gewesen. Das war doch absurd.

Aus reinem Protest heraus, zog er eine alte, ausgewaschene Jeans und einen etwas zu weiten, schwarzen Pullover aus dem Schrank und beschloss, dass das vollkommen ausreichend war. Es war schließlich nur ein Treffen unter alten Freunden und nichts besonderes, also musste er sich auch nicht besonders einkleiden. Fertig. Punkt. Aus.
 

Schon fünfzehn Minuten vor der ausgemachte Zeit, stand er vor dem Supermarkt und ärgerte sich unglaublich, dass er so früh raus gegangen war. Eigentlich hätte er aus Prinzip zu spät kommen sollen, aber er hatte es einfach nicht mehr ausgehalten. Er wollte das hier endlich hinter sich bringen.

Sollte er sich jemals irgendwie hierauf gefreut haben, war ihm diese Vorfreude längst vergangen. Er war furchtbar übermüdet und gestresst, weil er sich immer wieder dabei erwischte, wie er sich viel zu viele Gedanken um das alles machte.
 

Nathan war pünktlich. Überpünktlich um genau zu sein und das war erwähnenswert, denn in der Schulzeit hatten sie ihm sehr oft eine frühere Zeit nennen müssen, damit er gleichzeitig mit allen anderen eintraf. Das schien sich geändert zu haben.

Mit Unbehagen sah Shinji auf Nathans Outfit. Auch wenn es nur eine Jeans und ein schwarzes Hemd waren, fühlte er sich dagegen ziemlich schäbig und unwohl. Er hasste das Gefühl, aus der Norm zu fallen. Aber gerade ließ es sich nicht ändern, denn er würde jetzt nicht zurück gehen und sich noch einmal umziehen. So weit käme es noch. Da musste er jetzt durch.

"Bereit?", fragte sein ehemaliger Freund mit seinem so typischen Grinsen auf dem Gesicht, während er sich die Ärmel hoch schob. Warum zog Nathan überhaupt langärmlige Hemden an, wenn ihn die Länge so offensichtlich störte? Das war gestern ja auch schon so gewesen. "Zwei Blocks weiter gibt es ein Lokal mit Billardtischen. Wir müssen aber ein wenig gehen."

"Abend", grüßte Shinji erst einmal, weil ihm das Protokoll einer normalen Konversation sonst fehlte. Dann nickte er aber: "Ist ja kein Probem. Ich komme zwar nicht viel aus dem Haus, aber das überlebe ich schon."

Warum er gerade unbedingt betonen musste, dass er nicht viel raus kam, wusste er selbst nicht so genau. Die Worte waren einfach so aus seinem Mund gepurzelt.

Er wartete noch, bis Nathan los ging, weil er die genaue Richtung ja nicht kannte, ehe er sich selbst in Bewegung setzte.
 

"Wie war dein Tag?", fragte Shinji bald, um die Stille zwischen ihnen zu überbrücken. Er war wahrlich kein Meister in Smalltalk, aber ein paar Standardfragen gab es ja.

"Ich hab ihn größtenteils mit Nichtstun verbracht. Ein wenig gewöhnungsbedürftig, aber okay." Dann begann Nathan aber zu lachen: "Oh und ich hab einer kleinen Göre beigebracht, wie man auf elegante Art und Weise den Boden mit dem Gesicht küsst. Aber ansonsten..."

Etwas skeptisch schielte Shinji daraufhin zu ihm hoch: "Was hast du getan? Versucht ihr Ballett beizubringen?" Bei der Vorstellung zuckte ein Grinsen um seine Lippen.

"Ja, genau. Woher weißt du das?" Shinji traf ein so verwunderter Blick, dass er sich kurz nicht sicher war, ob Nate das nicht tatsächlich ernst meinte. "Ich war bis vor kurzem ein erfolgreicher Balletttänzer. Ich liebe enge Strumpfhosen und so."

Das breite Grinsen, das sich auf Nates Gesicht ausbreitete, verriet, dass er nur scherzte. Dennoch flog Shinjis Blick kurz über dessen Körper, um das Bild einer Strumpfhose an Nates Beinen besser visualisieren zu können.

Schnell wandte er den Blick aber wieder ab und beschloss für sich, dass man seinen Freunden das nicht einmal in Gedanken antun sollte.

"Nein", lenkte Nathan dann aber halb lachend ein, "ich habe mit ihr Radfahren geübt. Mittlerweile schafft sie es schon, fünf Meter zu fahren, bevor sie auf den Boden knallt. Aber sie ist ein Stehaufmännchen."

"Ein wichtiger Schritt für ein Kind.", steuerte Shinji der Konversation bei. Dann stockte er aber kurz. Das war doch eigentlich keine Aufgabe für Onkel, sondern... "Was ist eigentlich mit ihrem Vater?" Die Worte entkamen ihm so schnell, dass er sie nicht mehr zurückhalten konnte. So was fragte man doch nicht einfach! "Wenn... ich das mal so dreist fragen darf.", schob er deshalb noch eilig nach.

Doch entgegen seiner Befürchtung schüttelte Nate nur den Kopf. Sein Grinsen wich aber Ernsthaftigkeit.

"Nein, die Frage ist nicht dreist. Wenn jemand dreist ist, dann ihr Erzeuger. Denn der ist sofort abgehauen, als meine Schwester schwanger wurde. Der kann froh sein, dass ich damals nicht im Land war, sonst wär er wahrscheinlich immer noch in Rehabilitation."

Shinji schluckte trocken, weil er wusste, dass Nate das ernst meinte. Jeder hatte so seine Fehler und Probleme und bei Nate war es sein über die Ufer schlagender Beschützerinstinkt. Schon damals hatte er Nathan einige Male davon abhalten müssen, sich mit seinem Vater anzulegen. Immer, wenn Shinji mal wieder eine Nacht durch gelernt hatte, weil seine letzte Note nicht ausreichend gewesen war oder wenn er wegen irgendeiner Nichtigkeit Hausarrest bekommen hatte, war Nate schon drauf und dran gewesen, seinem Vater den Kopf zu waschen. Manchmal war das nicht nur anstrengend, sondern auch wirklich furchteinflößend gewesen, denn in seinem so sanftmütigen, geduldigen und immer fröhlichen Freund, steckte auch eine gewalttätige Bestie. Tat man Nates Familie oder Freunden weh, bezahlte man das bitterlich. Es war nie so weit gekommen, dass er jemanden krankenhausreif geprügelt hatte, aber der Vater von Nates Nichte hätte Potential als sein erstes Opfer gehabt.

Was war Shinji froh, dass er immer auf der anderen Seite gestanden hatte. Er fragte sich zum wiederholten Mal, ob damals alles anders gelaufen wäre, wenn er Nate an seiner Seite gehabt hätte. Aber das 'was wäre wenn' war vollkommen unsinnig.

Shinji kommentierte die Geschichte nur mit einem gemurmelten 'Arschloch'. Danach, war es wieder kurz still.
 

"Und wie war dein Tag?" Ach ja, so waren sie ja darauf gekommen. War nur logisch, dass Nathan dann auch die Gegenfrage stellte.

Aber Shinji zuckte nur etwas ausweichend mit den Schultern: "Samstag ist mein Haushaltstag..."

Das war glatt gelogen, aber er konnte ja schlecht 'stundenlang wie ein gestochenes Huhn durch die Wohnung laufen' als Aktivität anbringen.

"Dann hast du also deine Wohnung geputzt? Ausgezeichnet, dann ist sie wohl bereit für meinen Besuch zum Essen." Gerade wo er es beinahe vergessen hatte...

Unbewusst wanderte Shinjis Hand in seinen Nacken. Ein deutliches Zeichen, dass er nervös war. Nicht verwunderlich, wenn man bedachte, dass seine Wohnung noch immer im Chaos versank und er sich selbst dazu verdammt hatte, Nathan zu ihm einzuladen. Aber da kam er wahrscheinlich nicht mehr raus.

"Ich hab nicht gesagt, dass es ein erfolgreicher Haushaltstag war.", setzte er murmelnd nach.

Plötzlich klopfte Nathan ihm auf den Rücken und grinste wieder: "Mach dir keinen Stress. Ich komme, wenn du mich einlädst. Wenn nicht, werde ich zwar ewig traurig darüber sein, aber ich werde es verkraften."

Merkte man ihm denn so deutlich an, dass er sich deshalb stresste? Andererseits breitete sich ein warmes Gefühl in seinem Bauch aus, als er begriff, dass Nate es vollkommen ihm überließ, ob er ihn zu sich einlud oder nicht. Er nagelte ihn nicht auf seinen eigenen Vorschlag fest, sondern ließ ihm alle Freiheit. Er musste ihn nicht zu sich in die Wohnung einladen, auch wenn Nathans Nachsatz ihm schwer auf der Brust lag. Dennoch machte ihn diese Antwort wieder etwas lockerer:

"Ja, alter. Das nimmt mir vollkommen den Druck." Sarkasmus konnte er schließlich auch.

"Oh, das beruhigt mich." Das dunkle Grinsen, das Nate ihm zuwarf, ließ ihn leicht erschauern.
 

Dann stoppte sein Begleiter und deutete mit einem Nicken auf ein Gebäude. Ganz subtil bestand das Aushängeschild aus zwei Queue, die den Namen einrahmten. Dass sie nicht auch noch blinkten, damit auch jeder begriff, dass es eine Billardbar war, war auch schon alles.

"Da wären wir."

Nathan ging vor, stoppte dann aber und hielt Shinji die Tür auf. Vollkommen verwirrt dauerte es eine Sekunde, bis Shinji das Gebäude betrat. Ihm war noch nie die Tür aufgehalten worden und es war ein merkwürdiges Gefühl, wenn einem das passierte. Machte man das nicht normalerweise nur bei Frauen? Wahrscheinlich hatte Nathan ihn nur veralbern wollen und Shinji hatte den Witz nur nicht verstanden.
 

Entgegen seiner Erwartung ekelte ihn der vertraute Geruch einer Bar nicht an. Ganz im Gegenteil. Er fühlte sich so sehr an früher erinnert, als noch alles gut gewesen war, dass es ihn angenehm entspannte. Das schummrige Licht schien auch seine Gedanken abzudunkeln und so weniger greifbar zu machen. Und trotzdem wandte er sich ein wenig hilflos an Nathan, der hinter ihm eintrat: "Wohin?"

Denn wenn er aussuchen musste, würden sie in der hinterletzten, dunkelsten Ecke landen, die er finden konnte und er war sich sicher, dass Nate damit eher nicht einverstanden wäre.

Ohne lange nachzudenken, führte sein Begleiter sie an einen Tisch, der zwar mittig, aber zumindest nah an einer Wand stand.

Shinji war wirklich froh, dass sie so früh begannen. So waren nicht allzu viele andere hier und er hatte Zeit, sich an die Situation zu gewöhnen. Bisher war es gar nicht so schlimm, wie er angenommen hatte.

"Ich hol die erste Runde", sprach er und ließ Nate keine Sekunde Zeit um zu protestieren. Er würde um das Trinken nicht herum kommen, aber so konnte er wenigstens bestimmen, womit sie begannen. Mit etwas Glück konnte er steuern, wie viel Alkohol heute fließen würde, ohne, dass sich Nathan am Ende beschweren konnte.

Als er wieder kam, hatte Nathan nicht nur die Kugeln wieder aufgestellt, sondern auch eine Zigarette im Mundwinkel stecken. Er rauchte also immer noch? Unwillig verzog Shinji das Gesicht. Er hatte wirklich gehofft, dass Nate sich das abgewöhnt hatte. Aber wenn man schon als Jugendlicher damit anfing, wurde man dieses Laster wohl nur schwer wieder los.

"Oh, wie ich sehe, beginnen wir mit etwas Leichtem."

Ertappt drückte Shinji seinem ehemaligen Kumpel die Bierflasche in die Hand und fragte sich, ob er tatsächlich so leicht zu durchschauen war.

"Dachtest du, ich komme mit Schnaps wieder?"

Das Grinsen, das Nate ihm daraufhin schenkte, sagte wohl alles. So richtig verdenken konnte er es ihm nicht, denn Nathan hatte sicherlich noch zu gut den alten Shinji im Kopf, der keine Gelegenheit zum Feiern und trinken ausgelassen hatte und dabei nicht selten zu harten Spirituosen gegriffen hatte. Aber diesen Shinji gab es schon lange nicht mehr, so schwer es ihm auch fiel, das zuzugeben. Trotzdem war er etwas geschockt, dass Nate sich in dieser Hinsicht wohl kein Stück verändert hatte.

"Wie viele Runden spielen wir, bis der Gewinner feststeht? Eine einzige kann ja auch pures Glück sein.", lenkte Shinji schnell ab, damit Nathan keine Zeit dafür hatte, ihn als Langweiler abzustempeln. Außerdem war das ein wichtiger Punkt, denn er würde sich definitiv erst wieder einspielen müssen und er wollte dringend eine Chance haben zu gewinnen, auch wenn er noch immer nicht wusste, was seine Forderung an Nathan wäre. "Drei von fünf?", schlug er vor, weil das nicht zu lang dauerte und ihm dennoch genug Möglichkeiten bot, wieder warm zu werden.

Nathan zog noch einmal an der Zigarette, ehe er sie im Aschenbecher ausdrückte und nahm einen tiefen Schluck seines Biers.

"Drei von fünf klingt gut. Fang an, wenn du willst."

"Nichts lieber als das! Ich nehm die Halben."

Nachdem Nathan das Dreieck angehoben hatte, beugte Shinji sich vor, setzte den Queue an und... traf viel zu schwach und ungenau. Er musste über seine eigene Unfähigkeit lachen.

"Fuck, ich bin echt aus der Übung."

Doch Nate zog ihn nicht einmal auf, sondern prostete ihm nur kurz mit der Flasche zu, nahm einen Schluck und stellte sich dann seinerseits an den Tisch. "Dann bin ich wohl dran."

Geübt beugte Nate sich über den Tisch und versenkte die erste Kugel... und die zweite... erst beim dritten Mal legte er so viel Kraft in den Stoß, dass die Kugel, statt in der Tasche zu verschwinden, im Zickzack über den Tisch rollte.
 

Das war auch im Groben der Ablauf der ersten Runde. Shinji wurde nur langsam wieder warm, aber sein Ehrgeiz war geweckt, weshalb er nicht einmal bemerkte, wie Nathan die nächste Runde Alkohol brachte. Er spülte einfach blind damit seinen Frust hinunter. Das erste Spiel verlor er haushoch.

Nach einer sehr starken Eröffnung der nächsten Spiels durch Nate, hatte er kurz das Gefühl, es überhaupt nicht schaffen zu können. Aber als er selbst an der Reihe war, bemerkte er, dass seine alten Fähigkeiten nicht ganz verloren waren. Immer schneller fand er ins Spiel zurück, weshalb die zweite Runde nur noch sehr knapp an Nate ging.

Während dem Spielen bemerkte er weder, dass sie sich die meiste Zeit anschwiegen, noch, dass die Bar sich nach und nach füllte. Er war vollkommen fokussiert. Etwas, was ihm sonst nur beim Programmieren gelang.
 

"Okay, jetzt spielst du mich langsam an die Wand.", lachte Nate und kippte einen der Shots hinunter, die er gebracht hatte. Jede versenkte Kugel des Gegners bedeutete einmal trinken und Nathan war gerade ziemlich am Führen, was das anging. Als Shinji endlich verfehlte, drückte Nate ihm grinsend das Tablett in die Hand, zündete sich eine weitere Zigarette an und versenkte dann elegant eine seiner Kugeln. Auffordernd sah er zu seiner Begleitung und überprüfte, ob die sich auch an die Regeln hielt.

Als Shinji den Rauch der Zigarette wahrnahm, hatte er plötzlich das Gefühl, sie selbst schmecken zu können. Schnell stürzte er den Kurzen hinunter, doch die Erinnerung, die in seinem Geist aufflackerte, ließ seinen Bauch warm kribbeln. Damals, als sie sich das erste Mal geküsst hatten, da hatte Nate nach einer Mischung aus Zigarette und Bier geschmeckt. Als überzeugter Nichtraucher hätte ihn der Geschmack eigentlich anekeln müssen, aber das war Nate gewesen, sein bester Freund und seine heimliche Sünde. Der raue Geschmack hatte ihn nur noch mehr erregt.

Fahrig leckte er sich über seine plötzlich trockenen Lippen und schreckte leicht aus der Erinnerung, als eine weitere Kugel vom Tisch verschwand. Ohne Zögern floss auch der nächste Shot seine Kehle hinab. Ihm war furchtbar warm und ein wenig schwindelig.

Er lachte ausgelassen, als Nathan die nächste Kugel verfehlte.

"Du spielst ja heute auch, als wolltest du verlieren.", gab er als verspätete Antwort darauf, dass er ihn ja an die Wand spielen würde. "Ich sagte doch, für dich reichen meine Fähigkeiten allemal!"

Grinsend schob er seinem Kumpel das Tablett wieder zu und brachte sich selbst wieder in Position. "Wenn ich in dem Zug fertig werde, trinkst du den ganzen Rest!", forderte er und wartete Nates Antwort gar nicht erst ab.
 

"2:1", jubelte er dann einen Augenblick später. So musste das laufen!

"So...", er lockerte sich übertrieben und grinste diabolisch: "Die nächsten zwei Punkte hole ich mir auch noch!"

Angst

Er schwebte wie auf Wolken. Es war warm und weich. Es roch gut. Und der leise Herzschlag des Anderen schlug in einem beruhigenden und einlullenden Takt.

...?

Erschrocken riss Shinji die Augen auf und drückte sich ans andere Ende des Bettes. Eine Aktion, die er augenblicklich bereute, als ein scharfer Schmerz durch seinen Kopf zuckte. Mit einem gequälten Aufstöhnen massierte er sich die Schläfen und versuchte sich zu sammeln.

Sein Herz raste aus schierer Panik, aber er wusste, dass er ruhig bleiben musste. Kurz Bestandsaufnahme: Er hatte keine Hose mehr an, aber dafür noch den Pullover und seine Unterhose. Was er von Nathan sah, bestätigte, dass der auch nicht nackt war. Was zum Teufel war nur gestern passiert? Nach der dritten Runde Billard, die er dann endlich gewonnen hatte, konnte er sich an nichts mehr erinnern. Wie viel zur Hölle hatte er getrunken?

Er musste erst einmal dringend aus diesem Bett raus, bevor Nathan aufwachte. Das konnte er jetzt gar nicht gebrauchen. Überhaupt nicht. Scheiße, jetzt wusste Nathan ja doch wo er wohnte!

Panisch schnappte er sich seine Hose, die über dem Bettende lag, schlüpfte hinein und verschwand dann aus dem Raum.

Das Hämmern seines Herzens war nicht synchron zu dem in seinem Kopf und zudem auch noch so laut, dass er Mühe hatte, sich selbst denken zu hören.

Ihm war schlecht und er war sich sicher, dass das nicht am Alkohol lag. Wenn Nathan ihn angefasst hatte, würde er ihm das niemals verzeihen. Und die Stadt wechseln! Er würde definitiv die Stadt wechseln!

Ob man sie beide gesehen hatte, wie sie hier angekommen waren? Ob schon jemand verdachte schöpfte? Was, wenn sein Chef das spitz kriegen würde? Müsste er sich dann auch einen neuen Job suchen?

Stopp! Nein!

Er zwang sich dazu tief durchzuatmen und rief sich ins Gedächtnis, dass es absolut nicht unnormal war, dass Männer in der Wohnung von anderen Männern übernachteten. Es war sogar normal, wenn sie mal gemeinsam im Bett lagen.

Nachdem er den kleinen Flur bis zur Wohnküche durchquert hatte, warf er einen Blick auf die Couch und runzelte skeptisch die Stirn. Die Klamotten, die gestern noch quer darauf verteilt gewesen waren, lagen jetzt auf einem kleinen Stapel daneben. Und plötzlich konnte er ahnen, was passiert war.

In ihrer beider Suff war wohl ihre Höflichkeit mit ihnen durchgegangen. Nate hatte sicherlich darauf bestanden, auf der Couch zu schlafen, aber da die viel zu klein für einen zwei Meter Kerl war, hatte Shinji das nicht über sich bringen können. Nach einer kurzen... oder vielleicht auch längeren Diskussion hatten sie sich dann wahrscheinlich darauf geeinigt, dass sie beide in Shinjis Bett schliefen. So würde es gewesen sein. Alles hetero... alles gut. Kein Problem.

Dennoch erklärte das nicht, warum er sich über Nacht an Nathan gekuschelt hatte. Hoffentlich hatte der das nicht bemerkt. Niemand durfte wissen, dass er diese Tendenzen noch immer hatte. Niemand. Nicht einmal er selbst. Er war sicher nur untervögelt. Er sollte sich mal wieder eine Frau suchen. Diese krankhaften Anwandlungen durften nicht wieder Überhand nehmen, auf gar keinen Fall.

Nein... nein. Es war alles gut. Er musste nur mal wieder vögeln, das war alles.

"Morgen." Shinji zuckte erschreckt zusammen, als Nathan hinter ihm aus dem Flur trat. Als er sich umdrehte, war sein Gast schon bei ihm. "Und? Wie geht's dir? Du warst ja ziemlich betrunken."

Und wessen Schuld war das bitte? Er hätte nie...

Schnell schlug er die Hand weg, die ihm gerade durchs Haar gewuschelt hatte.

"Lass das!"

Er konnte sich gerade nicht anfassen lassen und die Tatsache, dass Nathan es offensichtlich für vollkommen in Ordnung hielt, das zu tun, versetzte ihn in Schrecken. Was war gestern passiert, dass er das dachte?

Vollkommen aufgelöst eilte er zur Küchenzeile um sich einen Kaffee aufzusetzen. Am liebsten hätte er Nathan einfach rausgeworfen, aber sein Anstand verbot ihm das. Als er zwei Tassen mit eiskaltem Kaffee entdeckte, hätte er beinahe trocken aufgelacht. Offenbar hatte er Nathan gestern noch zu sich eingeladen. 'Auf einen Kaffee'. Ihm war so unsagbar schlecht.

Erst einmal angelte er sich ein Glas aus dem Schrank und eine Schmerztablette die er mit Wasser runter spülte. Da er sich sicher war, keine Tassen mehr zu haben, leerte er die beiden kaum benutzten aus und begann zu spülen.

Ihm war vollkommen bewusst, wie unhöflich es war, Nathan einfach so stehen zu lassen, aber er konnte gerade wirklich nicht mit ihm umgehen. Er brauchte Abstand. Viel davon.

"Ich muss los, aber... ist alles okay bei dir?" Der besorgte Tonfall tat Shinji fast körperlich weh. Warum war Nate nicht einfach sauer, dass er so ekelhaft zu ihm war? Warum ließ er nicht einfach einen genervten Spruch ab und verließ dann die Wohnung? Warum fragte er auch noch, ob es Shinji gut ging?

Aber trotz der unglaublich netten und freundlichen Reaktion, konnte sich Shinji nicht zu etwas ähnlichem durchringen. Er sah Nate nicht einmal an.

"Ja, sicher. Findest du selbst raus?"

Er presste die Lippen aufeinander, nachdem die Worte raus waren. Das klang noch viel schlimmer, als in seinem Kopf.

"Klar. Ich ruf dich später mal an." Und einen Augenblick später fiel seine Wohnungstür ins Schloss.

Fahrig strich er sich durch die Haare, nahm dann eine der gespülten Tassen und füllte sie mit Kaffee. Doch statt in sein Zimmer zu verschwinden und sich hinter seinem PC zu vergraben, ließ er sich zu Boden gleiten und drückte sich dort in eine Ecke zwischen zwei Küchenschränken.

Shinji spürte gar nicht, wie der heiße Inhalt seiner Tasse immer wieder über seine Finger tropfte, weil seine Hände dermaßen zitterten.

Er hatte so furchtbare Angst. Angst davor, dass irgendwer etwas falsch verstehen konnte, dass die Anwohner dieses Hauses etwas ahnten und dass, wenn es erst einmal raus kam und er Hassparolen an seiner Haustür geschmiert vorfand, es auch irgendwann an seinen Chef getragen würde. Und dann müsste er wieder von vorne anfangen. Dann müsste er wieder wegziehen, sich wieder einen neuen Job suchen, sich wieder so lange beweisen, bis man ihn guten Gewissens von zu Hause aus arbeiten ließ. Er würde sich wieder an seine neue Umgebung gewöhnen müssen und das dauerte Monate. Wieder neue Ärzte, neue Orte zum Einkaufen... alles wieder von vorne. Das war doch alles furchtbar.

Was hatte er denn getan, dass er das verdiente? Warum wurde er so bestraft? Er war doch nicht freiwillig so. Er wollte das doch selbst nicht. Er wollte doch normal sein und er war doch auch normal! Fünfzehn Jahre lang, war er ganz normal gewesen und er durfte nicht zulassen, dass sich das jetzt änderte. Es war abnormal, wenn er sich in den Armen eines anderen Mannes wohl fühlte. Das musste er sich nur immer wieder vor Augen halten. Es war abnormal und er musste sich das wieder abgewöhnen.

Wenn er Nate jetzt endlich vergrault hatte, konnte er wieder in den Zustand zurückkehren, in dem er vorher gewesen war. Und nach der Aktion heute, würde Nate bestimmt nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen. Und dass sein Herz jetzt so schmerzte, war nur die Scham über sein schlechtes Benehmen.

Anruf

Als Nathan anrief, war er gerade mit putzen beschäftigt.

Ihm war vollkommen klar, dass es ein furchtbares Klischee war, dass er zu putzen begann, wenn er Angst hatte, aber, obwohl er wusste, was die psychologischen Hintergründe waren, konnte er nicht damit aufhören. Die wahrscheinlich bekannteste krankhafte Ausbildung dieses Phänomens war wohl der Waschzwang. Wenn Menschen Angst hatten und das Gefühl hatten, keine Kontrolle mehr über ihr Leben oder eine bestimmte Situation zu haben, begannen sie andere, kleinere Dinge zu kontrollieren. In einem komplexen Prozess aus passiver, positiver Verstärkung - wenn ich es tue passiert nichts (aber wenn ich es nicht tue, könnte etwas passieren) - und anderen psychologischen Faktoren, formte sich daraus dann die Psychose. Shinji würde es bei sich nicht unbedingt als Psychose bezeichnen, obwohl er fast wahnsinnig wurde, wenn er mit dem Putzen aufhörte.

Dennoch unterbrach er sein Tun, als er sein Handy hörte. In einem sehr unwahrscheinlichen Fall hätte das sein Chef sein können, weshalb er zu dem Gerät eilte und auf das Display sah. Eine Nummer die noch nicht benannt war... das konnte nur Nathan sein. Hatte er ihn denn immer noch nicht vergrault? Das durfte doch wirklich nicht wahr sein!

Ohne wirklich darüber nachzudenken, nahm er den Anruf an und knurrte ein 'Hi' in das Handy.

Das 'Hey' das erwidert wurde, klang brutal warmherzig. Warum zum Teufel war Nathan so geduldig mit ihm? Wenn ihn jemand so sehr abgewiesen hätte, hätte er ihn schon dreimal mit einem 'Fick dich' stehen lassen.

"Ich hab daheim noch ein paar Karten fürs nächste Basketball Spiel herumliegen. Hast du Lust mit zu kommen? Die Play-Offs haben angefangen, jetzt wird es ernst."

Basketball? Ernsthaft? Er war nie der größte Fan gewesen, aber er erinnerte sich gut an das eine Mal, als sie aus Spaß zu einem B-Liga Spiel ihrer Heimatstadt gegangen waren. Das war schon ziemlich cool gewesen.

Aber heute? Heute sah das ganz anders aus. Wenn Shinji sich jetzt vorstellte, sich in eine Halle mit hunderten, vielleicht tausenden verschwitzten und grölenden Menschen zu zwängen, bekam er Probleme zu atmen.

... mal ganz abgesehen davon, dass er sich dazu entschlossen hatte, Nathan auf Abstand zu halten.

"Ich hab keine Zeit, sorry." Das klang nicht halb so genervt und abweisend, wie er eigentlich gehofft hatte, aber es würde sicher reichen. Was sollte Nathan auch schon dagegen sagen?

"Hm...", kam es nachdenklich aus dem Handy. Shinji hielt die Luft an und hoffte, dass Nathan das einfach schlucken würde.

"Du weißt ja noch nicht einmal, wann das Spiel ist und sagst schon, dass du keine Zeit hast?"

Fuck! Er hatte gar nicht bemerkt, dass Nathan noch kein Datum genannt hatte.

"Shinji... was ist los?"

"Nichts", antwortete er automatisch, bevor er die Frage richtig verstanden hatte. Es war eine Standardantwort, denn natürlich war immer 'nichts', wenn man ihn das fragte. Sein verkatertes Hirn spulte einfach irgendwelche Protokolle ab, aber so kam er hier nicht weiter. Vielleicht ging es ja anders. Er wusste, er hätte einfach weiter stur und unfreundlich bleiben sollen, aber das kostete ihn so unglaublich viel Kraft.

"Sorry... ich bin... einfach kein besonders großer Fan von... so was..." Toll formuliert, wirklich! Vor allem, weil Nate jetzt ganz locker auch etwas anderes vorschlagen konnte.

"Wenn du mich nicht sehen willst, dann sag es mir."

Shinji presste die Lippen zusammen. Er wollte Nate ja nicht weh tun. Er wollte wirklich nicht, aber so konnte es einfach nicht weiter gehen.

Erschöpft lehnte er seine Stirn gegen eine Wand. Jetzt war der perfekte Zeitpunkt, aber ihm lagen die Worte so unglaublich schwer im Magen.

"Aber wenn es nur daran liegt, dass du kein Fan von Basketball bist, geb ich die Karte wem anders. Ich hatte nur gedacht es wäre ganz cool, wenn wir zu zweit etwas unternehmen könnten, das vielleicht weniger feuchtfröhlich endet."

Plötzlich fragte sich Shinji, wer das Billard Match eigentlich gewonnen hatte, denn wenn Nathan der Sieger war, hätte er einfach auf der Wette bestehen können. Das tat er aber nicht. Warum? So fertig wie Shinji heute war, konnte er unmöglich gewonnen haben und selbst wenn, konnte er sich an seine Forderung nicht einmal erinnern. Er wollte aber auch nicht fragen. Feige wie er war, hoffte er einfach, dass sein ehemaliger Freund auch einen Filmriss hatte.

"Hör mal...", begann er dann aber, bevor das noch weiter so ging. Die Wand fühlte sich kühl auf seiner Haut an, die vor Stress völlig überhitzte. "Ich weiß nicht mehr was gestern Abend passiert ist. Aber da ich dich hier hab schlafen lassen... also... ich wollte nicht den falschen Eindruck erwecken. Es ist nett, dass du versuchst, die alte Freundschaft wieder aufleben zu lassen, aber ich denke nicht, dass das viel Sinn macht..."

Jetzt war es raus. Das hätte er schon viel früher sagen sollen, auch wenn es ihm so unsagbar schwer fiel. Er wollte niemandem weh tun. Er wusste doch selbst nur zu genau, wie sich das anfühlte.

Doch er hatte die Rechnung ohne Nate gemacht: "Mach dir nicht ins Hemd. Was ist schon dabei, wenn du einen Besoffenen bei dir pennen lässt? Wer weiß, ob ich den Weg zu mir noch gefunden hätte."

Shinji schlug seinen, sowieso schon schmerzenden Kopf, frustriert gegen die Wand. Das durfte doch wirklich nicht wahr sein!

"Ich kann mir nicht vorstellen, dass du keinen Bock auf Basketball hast. Wenn du nicht mit mir zu den Play-Offs willst, dann schauen wir uns das Spiel eben bei dir an. Oder bei mir. Oder mittig in einer Sportbar. Komm schon! Du brauchst auch ein wenig Freizeit außerhalb der Arbeit. Also?"

Was sollte er denn noch machen? Jetzt hatte er es ihm schon direkt gesagt und Nathan gab immer noch nicht auf? Was war der Kerl? Grenzdebil?

"Das ist doch Schwachsinn!", knurrte er als Antwort. "So Karten sind teuer und schwer zu kriegen. Such dir wen mit dem du hin kannst, statt deine Zeit mit mir zu verschwenden."

Doch als Antwort bekam er erst einmal nur ein seufzen. Kein genervtes, eher ein angestrengtes, was klang wie: "Du bist echt ein Idiot."

"Ich will mit dir das Spiel sehen, Shinji. Wir können uns den Bauch vollschlagen und uns über die hysterischen Fans lustig machen. Mit wem könnte ich das sonst machen? Um die Karten brauchst du dir keine Gedanken machen, die hab ich selbst nur zufällig geschenkt bekommen. Wir können das also ganz gemütlich machen. Komm schon... Kumpel... lass mich nicht hängen. Muss ich wirklich erst betteln?"

Und da platzte Shinji der Kragen:

"Ja, aber warum denn!? Wir haben uns Ewigkeiten nicht gesehen und du willst mir ernsthaft erzählen, dass du mit niemandem lieber das Spiel sehen willst?"

Wenn er so darüber nachdachte, war das schon sehr merkwürdig. Warum versteifte sich Nathan so auf ihn? War da doch etwas im Busch? War das ein Trick? Hatte er sich doch geirrt? So gutmütig Nathan auch war, derart treudoof konnte nun wirklich niemand sein. "Verarschen kann ich mich selbst."

Eine lange Zeit war es still in der Leitung und er hoffte schon, Nathan hätte einfach aufgelegt. Doch Fehlanzeige.

"Du bist mir vielleicht einer."

Er verstand beim besten Willen nicht, wie Nathan immer noch an diesem Gespräch hier festhalten konnte. "Wir hatten gestern echt Spaß, genauso wie früher. Warum sollte ich meine Freizeit nicht mit dir verbringen wollen?"

Spaß? Sie? Nate mit ihm? Das konnte er kaum glauben. Er kannte sich. Klar war er durch den Alkohol lockerer gewesen, aber sie hatten nur Billard gespielt, mehr nicht. "Wenn ich die Wahl habe, entscheide ich mich immer für dich, Shinji."

Sofort ruckte sein Kopf von der Wand weg.

"Hältst du das für witzig!?" Eigentlich hatte er das ins Handy schreien wollen, aber der plötzliche Luftmangel und sein hämmerndes Herz, nahmen den Druck aus seiner Stimme. Wie konnte Nathan auch so was sagen? Und warum? Nur, damit er mit ihm dieses ätzende Spiel ansah? Das war doch krank! "Hör auf so einen Schwachsinn von dir zu geben!"

"Warum bist du so sauer?"

Das war doch wirklich die Höhe!

"Ich bin nicht...!" Er brach ab, weil er diese Lüge nicht aus sich heraus gepresst bekam. Stattdessen biss er die Zähne zusammen und zwang sich zur Ruhe, damit er nicht auch das letzte bisschen Verstand verlor.

"Ich will so was nicht hören, klar? Mal abgesehen davon, dass das nicht wahr sein kann, ist es... ist es..."

Widerlich, wollte er sagen, aber er bekam es nicht über die Lippen. Er wollte Nate nicht auf diese Weise weh tun. Er wollte ihm nicht vorwerfen ekelhaft zu sein, wenn er solche Empfindungen einem Mann gegenüber hatte. Es überschritt ja nicht einmal die Grenze, aber es kratzte so sehr an ihr, dass alle Warnsignale in seinem Kopf an gingen.

"Sag das gefälligst deiner zukünftigen Frau, aber nicht mir.", beendete er schließlich und ein müder Unterton klang mit seinen Worten mit.

"Ist schon klar", versicherte Nate ihm schnell, als wäre ihm erst jetzt aufgefallen, was er da eigentlich gesagt hatte. "Mach dir keinen Kopf. Ich grab doch nicht meinen ehemals besten Freund an. Ich meinte das ganz freundschaftlich."

Shinji wunderte sich ein wenig, wie Nathan gleich auf 'angraben' kam, denn das hatte er wirklich nicht gemeint. Ja, es war etwas, was man nicht zu einem Mann sagen sollte, aber selbst er hatte es noch knapp vor der Grenze zum Flirten eingeordnet. Dann aber wurde ihm bewusst, dass man in dem Zusammenhang seinen unvollständigen Satz auch als 'Ich bin nicht schwul' interpretieren konnte, was dann wiederum Sinn ergab. Das hatte er aber nicht gemeint. 'Ich bin nicht sauer', war das gewesen, was er hatte sagen wollen.

Er lehnte seinen Kopf wieder gegen die Wand und seufzte kraftlos.

"Ich kann das nicht, Nathan. Geh in eine Bar oder wo man auch immer Leute kennenlernt und sprich da den nächstbesten Kerl an. Ich bin sicher, er ist ein besserer Freund als ich. Mit mir verschwendest du nur deine Zeit." Er war einfach zu müde um noch zu verbergen, was er eigentlich dachte. Denn was sollte Nate schon mit ihm? Er war ein Einsiedler, ein Langweiler und ein Spinner mit so vielen Komplexen und Ängsten, dass er es kaum schaffte etwas anderes als seinen Alltag zu bewältigen. Und selbst das scheiterte regelmäßig, was sein ständig leerer Kühlschrank hervorragend demonstrierte.

"Ich geb dich nicht auf.", kam es leise aus dem Telefon. "Ich geb nicht so einfach meinen besten Freund auf." Und dann legte Nate auf.

Freundschaft

Shinji fühlte sich müde und abgeschlagen, als er am nächsten Nachmittag aus dem Bett fiel. Er hatte nicht gut geschlafen und die letzten Worte von Nate hatten ihn bis in seine Alpträume verfolgt. Er wünschte sich nicht zum ersten Mal, dass er Nathan gar nicht wieder getroffen hätte. Es war vorher alles in Ordnung gewesen und jetzt konnte er wieder nicht schlafen und war wieder nervös und angespannt. Warum nur wurde er Nathan nicht los? Und was sollte das heißen, dass er ihn nicht aufgeben würde? Warum nicht? Sie hatten sich 15 Jahre nicht gesehen und Nathan musste doch gemerkt haben, dass Shinji nicht mehr so war wie früher und dass er Probleme hatte. Wie konnte Nathan dann noch an ihrer Freundschaft festhalten? Dachte er, er könne ihn verändern? Könne ihn wieder zu dem Shinji von damals machen? Das war ein vergeblicher Versuch. Der Shinji von damals war tot. Sein eigener Vater und der Rest der Gesellschaft hatten ihn umgebracht.

Nathan würde auch irgendwann begreifen, dass man mit jemandem wie ihm nichts anfangen konnte. Dann wäre er ihn endlich los.
 

Als es am frühen Abend an seiner Tür klingelte, hatte er bereits ein schlechtes Gefühl. Das konnte nur einer sein, auch wenn er hoffte, dass es nicht so war. Er überlegte kurz, ob er die Tür einfach zuließ, aber dann würde sein Handy wahrscheinlich so lange klingeln, bis er aufmachte. Oder wahlweise seine Tür natürlich.

Als er ihm öffnete, konnte er dennoch eine gewisse Verblüffung nicht verbergen:

"Nathan... was... ehm... hi?"

"Hi" Und plötzlich hatte er ein Stück Papier vor der Nase. "Samstag ist Spieltag. Ich komm dich abholen, wir schauen uns das Spiel an, du denkst mal nicht an Arbeit und dann fahr ich dich wieder Heim. Alles easy."

Es war schwer den reinen Reflex, das Papier anzunehmen, zu unterdrücken, aber er wusste, dass er verloren hatte, sobald er es in der Hand halten würde.

"Nathan...", begann er verzweifelt und müde, stoppte dann aber. Wollte er das wirklich hier besprechen? So zwischen Tür und Angel, während jeder hier vorbei kommen konnte? Aber die Alternative wäre gewesen, Nathan in seine Wohnung zu lassen, und da bekam er ihn im Zweifel nicht mehr raus. Nach kurzem Zögern beschloss Shinji, dass ihm das Risiko zu groß war, weshalb er ihn nicht herein bat, sondern einfach nur die Stimme senkte, damit man sie nicht mehr so gut hören konnte. "Es reizt mich wirklich nicht, mich in eine Halle voll mit grölenden Menschen zu zwängen. Behalt das Ticket." Aber natürlich bewegte sich Nathan keinen Millimeter.

"Wovor hast du solche Angst? Sie tun dir nichts."

Die Definition einer Phobie kannte Nathan auch nicht wirklich, oder? Dachte der wirklich, dass es ausreichte, ihm zu sagen, dass schon nichts passieren würde? Im Grunde wusste Shinji sehr genau, dass eine Traube von Menschen nicht Lebensgefährlich war, dennoch reagierte sein Körper, als wäre es so. Was dachte Nathan also, was er hier tat?

Vielleicht wollte Shinji das gar nicht wissen, denn sein Gegenüber fing plötzlich an zu lachen. Schön, dass wenigstens einer das hier lustig fand.

"Du warst schon immer ein Sturkopf. Dass du damals meine Jacke nicht einfach angenommen hast, versteh ich genauso wenig, wie diese Situation. Aber okay... zwingen kann ich dich schließlich nicht, nicht wahr?"

Die Jacke?

"Das mit der Jacke war was anderes.", wehrte er sofort ab und wich Nates Blick aus. Da war mal eine Situation gewesen, in der er selbst furchtbar gefroren hatte, aber partout die Jacke von Nate nicht hatte annehmen wollen. Aber das hatte ganz simpel daran gelegen, dass er seinen Geruch nicht ertragen hätte. Damals waren die Träume schon da gewesen. Er hatte einfach angst gehabt, komisch zu reagieren.

"Warum denkst du, arbeite ich als Freelancer im Home Office? Ich mache das nicht, weil es mir Spaß macht. Ich bin nur nicht gerne unter Menschen..."

Doch Nathan schnaubte daraufhin nur: "Auch wenn du oft genug von Menschen enttäuscht wurdest, ich werde dich nicht enttäuschen. Da kannst du mich noch so oft von dir schieben."

Und damit griff Nathan einfach seine Hand und drückte das Ticket hinein, ehe er sich umdrehte. Vollkommen verstört betrachtete Shinji das Stück Papier in seiner Hand, dass mindestens einen Zentner wog.

"Aber... warum?", fragte er mit einer Mischung aus Verwirrung, Verzweiflung und vielleicht auch ein wenig Misstrauen. "Ich verstehe es nicht. Hoffst du einfach, den alten Shinji wieder zu treffen? Ich denke nämlich nicht, dass es den noch gibt..."

"Ein Teil von ihm schlummert noch immer in dir und es würde dir gut tun, ihn zu wecken. Und das werde ich dir auch zeigen. Wir sehen uns Samstag." Und damit ging Nathan dann auch.

Zitternd und mit den Nerven am Ende, schloss Shinji die Tür und obwohl er das nicht wollte, fühlte er so etwas wie Vorfreude in seiner Brust.

Aber wollte er das? Wollte er Zeit mit Nathan verbringen und riskieren, dass diese Gedanken wieder kamen? Wollte er, dass Nathan das, was von dem alten Shinji übrig war, weckte und wollte er damit auch zulassen wieder verletzbar zu werden?

Denn der alte Shinji war unbedarft gewesen. Naiv. Er hatte darauf vertraut, dass seine Freunde zu ihm standen und dass sein Vater immer da sein würde, um ihm zu sagen, dass er sich mehr anstrengen musste. Der alte Shinji war dumm und schwach gewesen und hatte erst noch lernen müssen, wie scheiße Menschen wirklich waren.

Würde er jetzt nicht alles gelernte wegwerfen, wenn er Nate an sich heran ließ? Das... das war viel zu gefährlich. Viel zu gefährlich.

Und trotzdem... trotzdem brachte er es nicht über sich, das Ticket zu zerreißen.
 

Der Rest der Woche war gefüllt mit Putzen und Arbeiten. Die Zeit, in der er Nathan weder sah noch hörte, gab ihm die Möglichkeit sich wieder etwas zu beruhigen. Er wusste noch immer nicht, ob das alles eine gute Idee war, aber er wollte es versuchen. Hatte er sich nicht gewünscht, wieder etwas lockerer sein zu können? Er musste eben sämtliche merkwürdigen Gedanken dabei verbannen. Konnte doch eigentlich nicht so schwer sein, oder?

Er hatte mit Nathan nicht genau abgesprochen, wann sie gemeinsam los gehen würden, was darin resultierte, dass er schon sehr früh fertig war. Er wusste nicht, wie früh man vor so einem Spiel da sein musste, deshalb ging er lieber auf Nummer sicher.

Diesmal trug er etwas, in dem er sich unter anderen Menschen wohler fühlen konnte. Er trug ein helles Hemd und eine normale Jeans. Schlicht, einfach, effektiv. Persönlich bevorzugte er dunklere Farben, aber damit fiel man in der Öffentlichkeit definitiv zu sehr auf. Das wollte er heute mehr als sonst vermeiden.

Da er sich auf nichts konzentrieren konnte, begnügte er sich damit, in seiner kleinen Wohnung auf und ab zu tigern. Viel Platz hatte er dafür nicht. Zwei Zimmer und ein Bad reichten nicht gerade für einen Marathon. Aber er brauchte nicht mehr, vor allem, weil er hier nur in der Wohnküche ein Fenster hatte, das die kleine Couchecke erhellte. So konnte niemand in seine Wohnung schauen und er brauchte nicht ständig Panik haben, dass irgendwelche Gardinen nicht vor fremden Blicken schützten.

Als er bemerkte, dass er definitiv viel zu früh dran war, verschwand er noch einmal im Bad und begann tatsächlich sich die Haare zu machen. Er wusste ehrlich nicht warum, aber es war ihm ein Bedürfnis. Er wollte vor sich selbst nicht zugeben, dass er sich irgendwie - ein ganz, ganz klein wenig - auf das Spiel freute.

Viel zu viel Zeit später, hatte er dann diesen 'frisch aufgestanden Look', für den seine etwas längeren Haare gut geeignet waren.
 

Als es an der Tür klingelte, war er viel zu schnell da. Nate würde wissen, dass er gewartet hatte, aber das konnte er nicht ändern.

"Hi...", grüßte er Nate kurz und schloss dann die Tür hinter sich, dass er selbst draußen stand. "Ich bin fertig, wir können also sofort los."

Nathan nickte, schmunzelte leicht und nickte dann mit dem Kopf die Straße runter: "Ich bin mit dem Auto hier."

Doch nachdem Nate zwei Schritte gegangen war, drehte er sich noch einmal zu Shinji um, als wolle er überprüfen, ob er ihm wirklich folgte. Shinji schnaubte, sagte aber nichts. Er konnte es seinem ehemaligen Freund ja nicht verübeln.

Shinji war froh, dass sie mit dem Auto fahren konnten. Er selbst besaß keines und er hasste die überfüllten U-Bahnen der Stadt.

Sie schwiegen während der kompletten Fahrt, aber die leise Musik aus dem Radio machte es nicht unangenehm. Es war in Ordnung. Ein wenig war Shinji sogar erstaunt, dass Nate ihm keine Sekunde sein trotziges Verhalten vorwarf. Er schien es einfach zu akzeptieren. Es war... angenehm, dass nicht von ihm erwartet wurde, sich nach irgendwelchen Vorgaben zu verhalten und obwohl er wusste, dass er Nates Geduld nicht weiter so sehr strapazieren sollte, war all die Gewissheit, dass er es dürfte, ohne, dass der andere ihm gleich den Rücken zu wandte und ging, eine enorme Erleichterung. Es war, als hätte Nathan einen riesigen Schritt über den Graben gemacht, den Shinji um sich gezogen hatte.
 

Kurz bevor sie an der Halle ankamen, meldete sich Shinji aber dennoch noch einmal zu Wort: "Erwarte aber nicht zu viel, okay? Ich kann wirklich nicht so gut mit solchen Menschenmassen..."

Dass er nervös war, sah wohl jeder Blinde. Er saß total verkrampft in dem Autositz und spielte ständig an dem unteren Zipfel seines Hemds herum. Wahrscheinlich war er auch ziemlich grün im Gesicht und je näher sie der Halle kamen, desto übler wurde ihm.

"Ich erwarte nur, dass die Mannschaft gewinnt, auf die ich heute gesetzt hab, Kleiner."

Kleiner... hallte es in Shinjis Kopf wider und er musste den Kloß, der sich in seinem Hals bildete, gewaltsam hinunter schlucken. Als Asiate war er in ihrer Clique damals immer schon der Kleinste gewesen und verglichen zu Nate, der mit seinen zwei Metern ein Riese war, fiel das noch mehr auf. Daher hatte er den Spitznamen schon immer getragen. Erwartungsgemäß hätte die Bezeichnung Herzrasen auslösen sollen, doch stattdessen hüllte sie ihn in die Wärme einer alten Freundschaft.

"Nenn mich nicht so", antwortete er ganz automatisch.
 

Als sie den Parkplatz anfuhren, erbleichte Shinji. Die Warteschlange war schon ewig lang, wie viele Menschen würden dann erst in der Halle sein? Zum Glück erwartete Nate wirklich nicht, dass er mit irgendwas klar kam. So wie es aussah, musste er froh sein, wenn er ohne Panikattacke durch den Abend kam.

Als sie endlich einen Parkplatz hatten, war Nate sofort an seiner Seite: "Bleib dicht hinter mir."

Und Shinji hielt sich an den Rat, denn ohne Nate, wäre er nicht ohne Blessuren durch die Massen gekommen. Aber sein Kumpel gab auf ihn acht, wie ein Schäferhund auf seine Schafe und Shinji war ihm unglaublich dankbar dafür.

Nun... auf in den Kampf.

Nach dem Spiel

Als sie wieder im Auto saßen, gönnte sich Shinji ein tiefes Durchatmen. Endlich wieder Platz und Ruhe. Seine Ohren klingelten immer noch und überall auf seiner Haut juckte es phantomhaft, weil er das Gefühl hatte, zu oft berührt worden zu sein. Zu Hause musste er unbedingt duschen.

Aber alles in allem war es nicht so schlimm gewesen, wie er befürchtet hatte. Es war weit entfernt von angenehm gewesen, aber keine Katastrophe und Nate hatte wirklich aufgepasst, dass ihnen niemand zu nahe kam. Hauptsächlich deshalb hatte er ausgelassen mitfiebern und Nates Mannschaft anfeuern können. Mit der ganzen Gruppendynamik hatte er sogar ein wenig lauter gejubelt, war sogar einmal aufgesprungen.

Noch immer durchflutete ein wenig Euphorie seine Venen: "Der letzte Spielzug war wirklich der Knaller. Hätte nicht gedacht, dass die den Dreier noch rein kriegen."

Nathan lachte ausgelassen, während er das Auto sicher durch den Verkehr lenkte. "Ja, wobei ich echt für einen Augenblick gedachte habe, dass ich mein Geld los wäre."

Nate warf einen warmherzigen Blick auf Shinji, der jetzt locker und entspannt neben ihm saß. "Danke, dass du mitgekommen bist. War doch ganz witzig, oder?"

Shinjis leichtes Lächeln fiel, als er die Frage hörte. Hätte Nathan sich die nicht verkneifen können? Das klang so verdammt nach 'ich hab's dir doch gesagt' und das war echt das Letzte, was er gerade hören wollte.

"Wofür bedankst du dich?", antwortete er deshalb mit deutlich gedämpfter Laune. "Ist ja nicht so, als hättest du nicht massig Arbeit damit gehabt, mich hierher zu bringen." Auf den Rest antwortete er nicht. Jetzt würde er garantiert nicht mehr zugeben, dass er tatsächlich Spaß gehabt hatte.

"Na ja, im Prinzip hättest du gar nicht mitkommen müssen. Deshalb: danke", erklärte Nathan und grinste, als hätte er im Lotto gewonnen.

"Ich hoffe beim nächsten Mal ist es nicht so schwierig."

Zum wiederholten Mal fragte Shinji sich, wer eigentlich die Wette gewonnen hatte. Ob sie hatten abbrechen müssen, weil er zu betrunken gewesen war? Aber er traute sich immer noch nicht zu fragen, weil er nicht gezwungen sein wollte, die Tage mit Nathan zu verbringen. "Mal sehen..."

Würde Nathan die Lust verlieren, wenn es zu schwierig und nervig wäre, ihn zu Aktivitäten zu überreden? Wahrscheinlich. Jeder Mensch wurde es irgendwann leid, sich derart anstrengen zu müssen, um so wenig zu bekommen.

Er wollte gerade weiter in Selbstmitleid versinken, als irgendetwas an seiner Aufmerksamkeit zerrte. Wie ein mentaler Finger, der seinen Geist immer und immer wieder anstupste, bis er der Quelle endlich lauschte.

Es war ein Lied... erst begriff er nicht, was daran so besonders sein sollte, doch dann sah er plötzlich Bilder vor seinem inneren Auge. Lauter Bass, eine Party, ein abgedunkelter Raum und ein Körper über ihm, der sich an seinem rieb.

"Fahr mal bitte rechts ran..."

Auch wenn Nate gerade eilig das Lied umschaltete, war es schon viel zu spät.

Sobald das Auto hielt, sprang er heraus und übergab sich geräuschvoll. Normalerweise wurde er besser mit diesen Flashbacks fertig, aber nach diesem Tag ging einfach nicht noch mehr.

Er wollte gar nicht wissen, was Nathan jetzt von ihm dachte, wenn Shinji von sich selbst schon kaum noch etwas hielt. Das war so peinlich...

"Trink einen Schluck..."

Plötzlich tauchte eine Flasche Wasser in seinem Blickfeld auf und erst als er danach griff, merkte er, wie sehr er zitterte. Wunderbarer Abschluss für diesen Tag, dachte er in einem Anflug von Sarkasmus.

Hatte das denn wirklich passieren müssen? Hätte es nicht einmal einfach laufen können?

Er nahm zuerst einen Schluck, um sich den Mund auszuspülen, ehe er vorsichtig etwas trank.

"Geht schon wieder", murmelte er und stand auf, ohne seine Begleitung anzusehen. "Tut mir leid", setzte er noch nach, weil er das Bedürfnis dazu hatte, sich zu entschuldigen. Wie gerne hätte er eine Ausflucht benutzt, aber es brachte ja nichts. Selbst jemand, der sich mit so was nicht auskannte, hätte sehen können, dass das psychisch war.

Warum konnte er sich nicht auch einfach zusammenreißen? Stattdessen war aus ihm solch ein Weichei geworden.

"Passiert manchmal...", murmelte er noch, ohne irgendwas zu erklären. "Vergiss das einfach." Echte Hoffnung, dass irgendwer das vergessen konnte, hatte er ja nicht, aber vielleicht tat Nathan ihm den Gefallen und würde einfach nicht darüber reden.

"Dir muss nichts leid tun, aber...", begann Nate, zögerte allerdings. Shinji seufzte, natürlich würde er ihn nicht in Ruhe lassen. Das würde nach der Aktion wohl niemand.

Doch es war anders, als er erwartet hatte, denn Nathan öffnete ihm erst einmal nur die Autotür.

"Willst du darüber reden?", fragte er dann und klang dabei ganz sanft. Shinji war sich nicht sicher, ob er sich ins Auto setzen wollte, oder lieber draußen blieb, falls er sich doch noch dazu entschied, einfach weg zu laufen. Denn danach war ihm gerade eher.

"Nicht darüber, was zwischen uns vorgefallen ist..." Nicht? Aber worüber denn dann? "Darüber, was zwischen dir und deinem Vater vorgefallen ist. Und zwischen dir und den anderen, wie deinem Lehrer. Egal... Ich hör dir zu."

Was? Woher wusste Nathan davon? Sie hatten nie darüber gesprochen... oder? Nein, er konnte sich an keine Situation erinn... oh. Doch nicht etwa, als er betrunken gewesen war? Hatte er Nathan da davon erzählt? Hatte er sich wirklich so wenig im Griff gehabt, dass er vor ihm herum gejammert hatte?

Jetzt setzte er sich doch, weil er das Gefühl bekam, sich gleich wieder übergeben zu müssen, wenn er es nicht tat. Zur Sicherheit ließ er die Beine aus der geöffneten Tür hängen.

"Ich hab dir...?", stotterte er verwirrt. Er würde nie wieder auch nur einen einzigen Schluck Alkohol trinken! Nie wieder!

Dennoch... trotz dessen, dass er jetzt so schockiert war, zeigte es ihm doch, dass er darüber reden wollte. Der Alkohol hatte nur seine Zunge gelockert. Aber sollte er wirklich? Sollte er all das wieder ausgraben, was damals passiert war? Das komplette Ausmaß an purem Pech das er gehabt hatte? An Dingen, die er einfach hatte tun müssen, weil es nicht anders gegangen war? Wollte er das wirklich alles noch einmal durchkauen und das auch noch vor Nathan?

Irgendwas in seinem Innern schrie 'Ja!', was ihn dazu veranlasste sein Gesicht verzweifelt in seinen Händen zu vergraben und die Ellbogen auf seine Knie zu stützen. Er zitterte wie Espenlaub.

"Erinnerst du dich noch an Mr. White?", fragte er dann einfach, um wenigstens irgendwie anzufangen. Er wusste nicht, was er Nathan erzählt hatte, aber als der fragte, ob er bei diesem Lehrer untergekommen war, wusste er, dass es nicht viel gewesen sein konnte.

"Ja... und... es ist eigentlich gar nichts passiert.", stellte er sofort klar, weil er nicht wollte, dass sein Lehrer Probleme bekam. Mr. White war ein netter Lehrer gewesen, um die 50 und immer ein wenig väterlich. Sehr sympathisch.

Dennoch musste er würgen, als er an damals dachte. Es war wirklich nichts passiert, aber allein die Angst, dass etwas passieren könnte, hatte ihn damals sehr schnell wieder von dort vertrieben.

"Ich hab schon recht schnell bemerkt, dass er mich irgendwie komisch ansieht. Aber es war sonst nichts. Keine zufälligen Berührungen oder was man sonst so aus dem Fernsehen kennt. Er hat auch nie mal plötzlich in meinem Zimmer oder im Bad gestanden. Also... wirklich nichts wildes." Und wahrscheinlich sollte er sich nicht so anstellen. "Aber... nach ein paar Wochen bin ich mal früher als angekündigt zurück gekommen. Da hab ich ihn gesehen... er... hat sich das Video... er hat es sich angesehen und... sich dabei angefasst und... du weißt schon..." Er musste sich dazu zwingen ruhig weiter zu atmen, konnte ein weiteres würgen aber nicht verhindern. "Deshalb bin ich kurz darauf weg. Direkt nach meinem Schulabschluss. Er weiß nicht, dass ich ihn gesehen hab. Ich hatte Angst es passiert doch was, wenn ich ihn drauf anspreche..."

Nathan schwieg. Er schwieg für unendlich lange Sekunden und bewegte sich nicht einmal. Shinji hörte nur einmal kurz das Rascheln von Stoff, aber er traute sich nicht, aufzublicken. Was hielt Nate jetzt von ihm? Würde er ihn auslachen und ihm sagen, er solle sich nicht so anstellen? Ihn fragen, warum er wegen so etwas, so ein Theater machte? Shinji wusste ja, dass er übertrieb, aber mit allem, was da sonst noch gewesen war, war ihm das einfach zu viel gewesen.

Als Nathan sich in Bewegung setzte und einfach nur das Auto umrundete, um sich auf dem Fahrersitz nieder zu lassen, brannten Shinji plötzlich Tränen in den Augen. So weit käme es noch, dachte er bei sich. Er würde hier sicherlich nicht anfangen zu heulen, wie so ein kleines Mädchen!

Als Nathans Stimme letztendlich die Stille zwischen ihnen brach, zuckte Shinji zusammen: "Ich weiß, du kannst auf dich selbst aufpassen, aber nimm es mir nicht übel, wenn ich ab sofort ein wenig mithelfe. Wenn dich ein Kerl angräbt, wird er mich kennenlernen."

Mit der Antwort konnte er nichts anfangen, aber zumindest machte Nate ihm keine Vorwürfe. Eine Lösung war das allerdings auch nicht.

"Die können doch auch nichts dafür", sagte er deshalb und hatte alle Mühe, seine Stimme stabil zu halten. Sie drohte immer wieder weg zu brechen und damit den Tränen freien Lauf zu lassen. Schnell trank er noch einen Schluck Wasser, aber es brachte nichts.

Plötzlich zerwühlte eine Hand ihm die Haare.

"Hey!", beschwerte er sich, ohne darüber nachzudenken und versuchte sich eilig wieder die Haare zu richten. Verdammt! Er hatte sich so viel Mühe damit gegeben!

"Hab ich dir schon erzählt, wie ich einmal vor meinem Chef verbergen wollte, dass ich betrunken war? Er ließ mich einen Handstand machen und das Alphabet rückwärts aufsagen, um zu prüfen, ob ich nüchtern war. Ich hab es bis 'X' geschafft, bevor ich ihm vor die Füße gekotzt hab."

Und obwohl er wusste, was Nate da tat, musste er dennoch schmunzeln. Verdammt noch mal, das hatte schon immer bei ihm funktioniert und Nate wusste das ganz genau! Bei so einer Geschichte konnte er nicht ernst bleiben, vor allem nicht, wenn er so dringend eine Ablenkung brauchte.

Deshalb wischte er sich auch möglichst unauffällig über die Augen, um alle verräterischen Spuren zu beseitigen und drehte sich dann nach vorne, um richtig auf dem Sitz zu sitzen.

"Bis X?", fragte er dann um darauf einzugehen, auch wenn es ein wenig schwer fiel. "Früher wärst du mindestens bis T gekommen."

Er zwang sich dazu, herum zu albern, weil es ihm selbst gut tat und weil er so vielleicht verhindern konnte, dass Nate irgendwas bemerkte.

Nate steckte sich eine Zigarette an, schnaubte und winkte dann ab:

"Ich hatte wohl einen schlechten Tag. Jetzt bin sowieso ich der, der den Handstand machen lässt." Er grinste düster und stieß den Rauch durch die Nase aus.

"Aber du hast Recht, 'X' ist wirklich peinlich.", setzte er dann noch lachend nach.

Aber Shinji überging den letzten Satz einfach, weil er beim besten Willen nicht wusste, was er darauf sagen sollte. Ihn interessierte auch etwas anderes viel brennender: "Du bist Chef? Also leitest du eine Sicherheitsfirma? Ich dachte echt, du wärst Türsteher! Du hättest mich ruhig mal korrigieren können." Stattdessen hatte er ihn einfach in dem Glauben gelassen. Das war schon dreist, wenn man bedachte, dass Shinji ihm gerade eben etwas unglaublich intimes erzählt hatte.

Sofort nagte wieder das Misstrauen an ihm. Verschwieg Nathan ihm etwas? Warum war er nicht ehrlich gewesen? Das musste doch einen Grund haben. Wollte er ihre Freundschaft doch nicht wieder aufleben lassen? Erzählte man Freunden so etwas nicht? Das war doch sogar ein ganz gewöhnliches Smalltalk Thema. Aber es wäre vollkommen unlogisch, sich dann derart viel Mühe zu geben, nur um dann bei so etwas banalem zu stoppen. Auch wenn seine Komplexe laut 'Falle' schrieen, musste er diesmal, ausnahmsweise auf seine Vernunft hören. Nathan verheimlichte das nicht aus Böswilligkeit, er tat das, weil er einfach nicht darüber reden wollte. Und dieses Gefühl kannte Shinji nur zu gut.

Nathan schnippte seine Zigarette aus dem Fenster, ein Verhalten das Shinji so gar nicht leiden konnte, aber er sagte nichts, weil er einen Streit heute definitiv nicht auch noch vertrug. Er wollte nur noch heim und an seinen PC.

"Türsteher wäre auch sehr cool. Du hast nie wirklich gefragt, also hab ich auch nicht geantwortet." Dass das eine billige Ausrede war, wussten sie beiden.

"Ich frage nicht nach, wenn du nicht willst.", schickte er voraus, musste dann aber darüber nachdenken, was er denn genau sagen wollte. "Wenn's dir unangenehm ist: Kein Problem. Geht mich nichts an. Aber... weißt du... mir sind Menschen im Allgemeinen so egal... ich schätze ich hätte nicht mal groß ein Problem damit, wenn du mir sagst, dass du Auftragskiller bist." Shinji hatte keine Ahnung, wie nah er mit dieser Vermutung an der Wahrheit war. Dabei war es wirklich nur ein dummer Scherz von ihm gewesen. Dennoch meinte Shinji ernst, was er sagte. Egal was Nathan tat, er würde damit leben können. Wenn sein ehemals bester Freund gegen alle Logik tatsächlich kriminell wäre, würde ihn das nicht kalt lassen, aber er würde sich an den Gedanken gewöhnen. Allerdings war es ihm dann tatsächlich lieber, wenn er nichts Genaueres wusste, dann brauchte er auch keine Angst haben, in irgendetwas mit hinein gezogen zu werden. Wirklich an diese Theorie glauben, tat er aber nicht. Wahrscheinlich ging er deshalb so locker damit um. Nathan war ein herzensguter Mensch. Aber was wusste er schon vom Leben des anderen? Wenn Hana, Lilys Tochter, tot krank war, würde Nate für die medizinische Versorgung wahrscheinlich alles tun. Von dem her...

Doch Nate lachte nur laut, schlug sogar aufs Lenkrad und musste sich danach ein paar Tränen aus den Augen wischen. "Ja, genau das ist es! Deshalb bin ich auch umgezogen." Der Sarkasmus war überdeutlich zu hören. Da war Shinji aber wieder auf seinem Gebiet, weshalb er aufrichtig grinste: "Erklärt einiges. Ich wette, dein Spitzname in der Szene ist nur 'Der Riese'."

Er stoppte dann aber gespielt nachdenklich und verschränkte kritisch die Arme: "Aber sag mal. Du bist ja nun wirklich keine Nachteule. Ich dachte immer, das gehört zur Jobbeschreibung."

"Was glaubst du denn, woher die Augenringe kommen?"

Daraufhin grinste Shinji nur wieder: "Ich sag ja: Erklärt einiges." Damit war das dann aber auch erledigt, denn Nathan startete den Motor wieder, lenkte zurück auf die Straße und wechselte das Thema:

"Es ist noch früh. Willst du schon heim oder hast du Hunger?"

"Hunger weniger... aber..." Shinji zögerte deutlich und die eben noch gute Stimmung wurde etwas abgedämpft. Irgendwie wollte er Nate ja schon 'danke' sagen. Der hatte ihn zwar mehr oder weniger ins Stadion geschleift, aber er hatte eine schöne Zeit gehabt und Nate hatte sich gerade eben wirklich lieb um ihn gekümmert. Irgendwas wollte er schon machen, um seine Wertschätzung auszudrücken.

"Wir könnten ja zu mir." Sein schneller schlagendes Herz warnte ihn eindrucksvoll davor, dass das die falsche Wortwahl gewesen war. "Ich meine... ich schulde dir doch noch ein Essen, oder? Falls ich, bis es fertig ist, immer noch keinen Hunger habe, setze ich mich einfach mit einem Kaffee dazu." Das war nicht die optimale Konstellation, aber immerhin etwas. Damit konnte er gut ausdrücken, dass er ihm dankbar war, ohne es direkt sagen zu müssen. Denn das wäre ihm irgendwie unangenehm.

Als er einen schüchternen Blick auf Nate warf, konnte er dessen Freude deutlich sehen. Nicht an seinem Gesicht, sondern an seinen Augen, die so glücklich glänzten, dass es wirkte, als würden sie leuchten. Nates Pokerface war immer schon durch seine Augen untergraben worden.

"Geht klar", antwortete Nate scheinbar locker. "Ich bin nämlich echt bald am verhungern und meine Schwester kocht eindeutig zu gesund für mich. Von dem Essen werde ich noch krank."

Shinji musste wieder schmunzeln und das schlechte Gefühl, das er erst hatte, schwächte deutlich ab: "Dem kann ich abhelfen. Kann dich ja nicht einfach an gesundem Essen krepieren lassen. Auf was hast du Lust?" Je nachdem würden sie nämlich vorher noch einkaufen gehen müssen.

Es war schon merkwürdig, wenn er bedachte, dass er vor nur einer Woche noch Todesangst vor diesem Essen gehabt hatte und jetzt saß er relativ gelassen hier und lud Nate sogar noch mal ein. Irgendwas hatte Nathan gemacht, dass es ihm besser ging, dass es einfacher war. Er konnte nur nicht sagen, was.

"Hauptsache was mit Fleisch."

"Krieg ich hin." Sogar ausnahmsweise ohne einzukaufen.

Den Rest der Fahrt schwiegen sie und obwohl das Radio - zum Glück - aus war, war es nicht unangenehm.

Nathan ließ ihn vor seiner Wohnung raus und fuhr dann weiter, um einen Parkplatz zu suchen. Shinji war sogar so freundlich draußen auf ihn zu warten, auch wenn das den Sinn von Nates zuvorkommender Aktion ziemlich untergrub, aber es dauerte ja auch nicht lange, bis sein Kumpel wiederkehrte.

Nates Job

"Wie wär's mit Curry?", schlug Shinji nach einem kurzen Blick in seinen Kühlschrank vor. Ein gutes, japanisches Curry ging eigentlich immer und man konnte es gut noch mal warm machen. Er ahnte, dass Nate sowieso ja sagen würde, deshalb griff er schon einmal alles, was er brauchte.

"Ach ja", stoppte er sich dann aber selbst und wandte sich mit einem leicht nervösen Grinsen noch einmal an Nate:

"Wenn du was brauchst bedien dich bitte einfach. Ich bin ein beschissener Gastgeber. Cola, Energydrink und Milch sind im Kühlschrank. Die Kaffeemaschine kennst du schon, falls du was willst. Ich bringe dir auch gerne was, oder setze Kaffee auf oder so, aber du musst mir sagen wenn du was willst, ich bemerke so was nämlich nicht."

Nate aber winkte nur ab und setzte sich auf das Sofa, das in der Wohnzimmerseite des Raumes stand.

"Ich brauch nichts, danke." Und nachdem Nate sich kurz umgesehen hatte: "Hattest wohl vor Kurzem deinen Haushaltstag, was? Scheint dieses mal erfolgreicher gewesen zu sein."

Damit erwischte er Shinji dann doch ziemlich kalt. Zum Glück hatte er noch kein Messer in der Hand gehabt, das hätte übel enden können. "He he...", antwortete er erst einmal nur ziemlich verkrampft und wandte sich dem Kochen zu, um Nathan nicht ansehen zu müssen. "Ja... offensichtlich."

Dass er zum aufräumen und putzen neigte, wenn er psychische Probleme hatte, musste der andere ja nicht wissen. Diesen letzten Teilsatz dachte er allerdings in letzte Zeit so oft, dass er allmählich befürchtete, doch etwas zu viele Komplexe angehäuft zu haben. Vielleicht sollte er anfangen, dazu zu stehen?

Nein, beschloss er für sich. Das waren genug Offenbarungen für einen Tag, er brauchte definitiv Ruhe.

"Hey, mach dir nichts draus."

Was? Konnte Nate neuerdings Gedankenlesen oder war es wirklich so offensichtlich, woran er gerade dachte?

"Ich bin Schlimmeres gewöhnt." Wer in Nates Umgebung hatte denn noch schlimmere Komplexe als Shinji? "Im Chaos fühle ich mich erst richtig wohl."

Achso... darum ging es. Ja, das war natürlich logisch. Klar dachte Nate, es wäre ihm peinlich, dass es das letzte Mal hier ziemlich furchtbar ausgehen hatte und wahrscheinlich sollte er sich auch dafür schämen.

Oder? Leider konnte er sich noch immer nicht an diese eine Nacht erinnern. Vielleicht war es ja wirklich nicht schlimm für seinen Kumpel gewesen, als er das Chaos hier gesehen hatte. Aber so richtig vorstellen konnte er sich das nicht. Wer fühlte sich schon in fremder Unordnung wohl? Es war doch etwas anderes, ob es die eigene Wohnung und damit auch das eigene Chaos war oder nicht. Shinji ging das auch so. Er selbst brauchte eigentlich ein kreatives Chaos, obwohl er gar nichts kreatives machte. Aber wenn alles zu klinisch und akkurat war, machte ihn das nervös und gab ihm das Gefühl, nicht bei sich zu Hause zu sein. Deshalb war die ganze momentane Ordnung auch nichts, was er sonderlich toll fand, wobei der vorige Zustand auch etwas zu sehr in die anderen Richtung geschlagen war. Da war schon nichts kreatives mehr dran.

Wenn er nun aber bei jemand anderem war und dort war es unordentlich in einem solchen Ausmaß, fühlte er sich nicht wohl, weil alles automatisch schmutzig wirkte. Dann wusste man nicht, wo man sich gefahrlos hinsetzen konnte und alles schien beengt und ungemütlich.

Aber er wollte Nate auch nicht unterstellen, ihn angelogen zu haben, deshalb sagte er einfach nichts dazu.
 

Japanisches Curry war ein sehr einfaches Gericht, weshalb es schon fast fertig vor sich hin brodelte, als Nathan hinter ihn trat und ihm einen Blick über die Schulter warf.

"Ich bin begeistert... und sprachlos. Du hast tatsächlich kochen gelernt."

Shinji musste lachen. "Ja, kaum zu glauben, was? Aber es ist eigentlich gar nicht so schwer, wenn man sich an ein paar Regeln hält."

"Dann werde ich es wohl nie lernen. Ich hasse Regeln.", erwiderte Nate nur und grinste schief.

Irgendwie war das typisch, dachte Shinji bei sich und musste schmunzeln. Früher war er selbst auch mehr gegen Regeln gegangen, aber mittlerweile gaben sie ihm Sicherheit.

"Magst du probieren? Vielleicht fehlt ja noch was.", fragte Shinji und hielt Nathan den Löffel hin.

Manchmal hatte er das Gefühl, den Umgang mit Menschen vollkommen verlernt zu haben. Bei Nate ging es noch erstaunlich einfach, was aber wahrscheinlich daran lag, dass Nate sehr umgänglich war und Shinji noch von früher kannte. Wahrscheinlich war das auch der einzige Grund, warum sein Kumpel ihre Freundschaft nicht aufgab: Er ertrug das alles, weil er hoffte, dass er wieder mehr so wurde wie früher. Eine andere Erklärung konnte Shinji einfach nicht finden.

Er wurde aus seinen Gedanken gerissen, als Nate aufzischte, als hätte er sich die Zunge verbrannt. Ein prüfender Blick brachte Shinji aber nur ein 'Daumen hoch' ein, das kurze Zeit später von einem "Es ist perfekt" begleitet wurde. Ein wenig fragte er sich ja schon, wie Nate das schmecken konnte, wenn er sich gerade verbrannt hatte. Aber gut...

Sein Gast schien etwas zu dem Essen beitragen zu wollen, weshalb er begann die Schränke nach Geschirr zu durchsuchen. "Eins rechts", murmelte Shinji nur und rührte das Curry noch einmal gut durch. Da er danach aber nicht tatenlos am Herd stehen wollte, griff er zwei Gläser - stoppte dann aber: "Ehm... Cola oder Leitungswasser?" Viel mehr Auswahl war nicht da. Es sei denn, Nate stand plötzlich auf Milch zum Essen. Wobei die tatsächlich gar nicht so schlecht zu Curry passte.

"Cola.", kam prompt die Antwort.
 

Als sie schließlich gemeinsam am Tisch saßen, fühlte es sich fast so an wie früher. Beinahe so, als wären die 15 Jahren nie vergangen, aber das war ein Trugschluss und obwohl Shinji das wusste, genoss er kurz das Gefühl, dass alles normal war.

Doch während sie so dasaßen, kroch die Erinnerung an das Gespräch wieder in Shinjis Bewusstsein. Was nur arbeitete Nathan, das ihm so unangenehm war? Er konnte nicht aufhören darüber nachzudenken.

"Gaaaah!", stieß er einige Minuten später aus und raufte sich die Haare. "Ich bin so neugierig!", klagte er über sich selbst. Und setzte gleich ein "Es tut mir leid!" hinten an. Wahrscheinlich hatte Nathan nicht einmal eine Ahnung, worum es ging. Dennoch blieb sein Gast ganz ruhig und zuckte nur mit den Schultern.

"Du warst schon immer neugierig. Das braucht dir nicht leid tun." Und Nate fragte nicht einmal nach was er meinte, ganz so, als wolle er ihm zeigen, wie unterschiedlich sie in dem Punkt waren. Vielleicht ahnte er aber auch einfach, was los war.

"Es ist nur...", setzte Shinji an, um Nate nicht im Dunkeln zu lassen und um es endlich aus seinen Gedanken zu kriegen. "Ich kanns mir nicht vorstellen. Du bist so ein lockerer Typ. Du kannst mir ohne Probleme davon erzählen, dass du deinem Chef vor die Füße gekotzt hast, aber redest nicht über deine Arbeit? Ich weiß wirklich nicht, was SO schlimm sein kann, dass du nicht darüber reden willst. Und dann gerade wenn es um Sicherheit geht. Was kann man da schon groß komisches tun? Bordellbesitzer? Und selbst das würdest du mir doch knallhart ins Gesicht sagen. Ich versteh's einfach nicht!"

Doch statt sauer zu sein, weil er weiter nachbohrte, lachte Nathan aus vollem Hals. Der tiefe Bass, der direkt aus Nates Lunge zu kommen schien, hallte angenehm durch die Wohnung. Shinji mochte Nates Lachen, auch wenn er gerade lieber Antworten hätte. Dennoch nahm er sich zurück und nutzte den Lachanfall um etwas klar zu stellen: "Das musste ich einfach mal loswerden. Ich frag nicht weiter, versprochen!"

"Bordellbesitzer!? Wie kommst du denn darauf? Oh Mann..." Hatte Nate ihm überhaupt zugehört? Er war sich da nicht so sicher.

"Ich bin alles durchgegangen was zu 'Sicherheit' und 'unangenehm' passt. Der Job ist ne gute Schnittmenge."

Doch statt jetzt etwas dazu zu sagen, dass er überhaupt gefragt hatte, wurde Nathan ernster: "Wenn ich es dir sage, versprichst du mir, dass du danach kein einziges Wort darüber verlierst?"

Was ging denn jetzt ab? Doch etwa was kriminelles? Aber dachte Nate wirklich, er würde jetzt 'nein' sagen können? Das einzige, was ihn davon abhielt, war, dass er ihm ja eigentlich so schon versprochen hatte, nicht zu fragen. War doch eigentlich nicht fair, oder? Nate fragte ja auch keine Details über damals, weil er wusste, dass Shinji nicht darüber reden wollte. War es fair, ihn dann dazu zu drängen? Na ja... gedrängt hatte er ihn nicht wirklich. Dennoch... er fühlte sich nicht ganz wohl damit und er wollte, dass Nate wusste, dass er sein Versprechen diesmal hielt. Shinji schluckte.

"Gut, ich versprech's. Und jedes Mal, wenn mir zu dem Thema trotzdem was raus rutscht, darfst du mich was fragen, was ich sonst eigentlich nicht beantworten würde." Das war doch fair, oder? Quit pro quo oder so ähnlich.

"Deal" Aber dann schwieg Nathan erst einmal wieder.

"Es ist eigentlich nicht wirklich unangenehm", begann er dann. "Ich spreche nur nicht über die Arbeit, wenn ich hier bin."

Hier? Was bedeutete 'hier'? Bei Nates Schwester? In seiner Küche? In dieser Stadt? Wo wohnte Nate eigentlich sonst?

"Okay... um dir eine Antwort zu geben... Weißt du, Auftragskiller war gar nicht so weit weg." Wie jetzt? Was?

"Ich gehöre zu den Navy SEALs"

Vertrauen

Shinji klappte der Mund auf. "Was? Nein... ernsthaft?"

... fuck. So viel dann dazu, dass er nichts dazu sagen würde. "Das... hat ja nicht gerade lange gedauert", seufzte er schuldbewusst.

Aber da nicht zu reagieren, war wirklich unmöglich! Die Navy SEALs. Er hätte mit vielem gerechnet, aber sicherlich nicht damit! Sobald er wieder alleine war, würde er nachsehen, was genau das war. Klar kannte er den Ausdruck, aber mit militärischen Organen hatte er sich nie näher befasst und er wollte nicht am Ende irgendwelchen Vorurteilen erliegen.

"Ja, ernsthaft...", antwortete Nate nur und grinste süffisant. Wenigstens war er nicht sauer oder enttäuscht, das wäre schlimmer für Shinji gewesen.

"Also? Was willst du wissen?" Shinji stand zu seinem Wort und egal was für unangenehme Dinge Nate jetzt fragen würde, er würde wahrheitsgemäß antworten. Das war er ihm schuldig.

Aber Nate überraschte Shinji wieder, weil er auffällig lange überlegte. Konnte er sich einfach nicht entscheiden, was er ihn nun genau fragen sollte, weil es so viel gab, oder wusste er tatsächlich nicht was? Es gab so viele tausend Dinge die man allein über damals fragen könnte. Es gab so viel, das er Nate noch nicht gesagt hatte, dass er ihm definitiv nicht sagen wollte! Und Nate selbst kam wirklich auf keine Frage? Shinji hätte ihm ja fast geholfen, doch dann kam tatsächlich noch etwas von seinem Gast:

"Wer hat das Video gemacht?"

Das war die Frage? Nathan hatte die Möglichkeit ihn alles zu fragen und er wählte die? Das war ja nicht einmal eine, die er normalerweise nicht beantwortet hätte: "Ich bin mir nicht sicher..." Und das war die Wahrheit. "Ich glaube nur, dass es jemand aus unserer Clique war. Wenn ich raten müsste, würde ich Liz sagen und ich bin mir auch ziemlich sicher, dass sie nichts böses damit vor hatte. Sie hat sich wahrscheinlich gar nichts dabei gedacht. Sie wird's Jake gezeigt haben und dann wird er es verbreitet haben. Aber... ich weiß absolut nicht ob das stimmt. Als es bei mir ankam, wusste es schon die halbe Schule."

Aber es war die logischste Konstellation. Jake war damals mit Liz zusammen gewesen und Shinji hatte sich einmal mit ihm angelegt, weil er das Gefühl gehabt hatte, er hätte Liz schlecht behandeln. Wenn er ehrlich war, dachte er das sogar heute noch, er hatte nach der ganzen Sache nur nichts mehr dagegen tun können. Vielleicht war es aber auch ein anderes Pärchen aus der Gruppe gewesen und der Kerl hatte gedacht so einen Konkurrenten ausschalten zu können. Vielleicht war es auch niemand aus der Clique gewesen... er konnte es wirklich nicht sagen.

Nate schwieg. Er saß einfach nur da, mit verschränkten Armen und vollkommen emotionslosem Gesicht. Sein Blick war so durchdringend, dass er Shinji einschüchterte. War das der SEAL? War das, was das Militär aus Nathan gemacht hatte? Emotionslos... berechnend... angsteinflößend?

"Hast du noch zu jemandem von ihnen Kontakt? Ist das der Grund, weshalb du dich so zurückgezogen hast?"

Shinji senkte den Blick auf den Tisch, machte sich automatisch kleiner, als er sowieso schon war und antwortete ganz automatisch:

"Ich... nein, hab ich nicht. Sie wollten keinen mehr. Ich bin ihnen zwei Tage lang hinterher gelaufen, vollkommen irritiert, bis sich einer mal erbarmt hat mit zu 'erklären', warum sie mich plötzlich meiden. Wobei das 'erklären' darin bestand, dass mir Mike vor die Füße gespuckt hat und mir sagte, dass sie mit solchen wie mir nicht mehr zu tun haben wollen." Wut und Bitterkeit ließen seinen Körper leicht zittern. Er konnte sich so genau an diese Worte erinnern. An die Abscheu die darin gelegen hatte. Als wäre er kein Mensch mehr... als wäre er Müll.

Aber so war es eben, nicht? Man war eben Müll, wenn man auf Männer stand, wenn man nicht normal war.

Er brachte es nicht über sich die zweite Frage zu beantworten. Stattdessen presste er unbewusst die Lippen zusammen. Das ging ihm zu weit. Da konnte Nathan ihn so lange in Grund und Boden starren, wie er wollte. Das bekam er nicht aus ihm heraus. Das würde er nicht zugeben. So tief würde er nicht sinken, dass er offen zugab, dass er sich hier in diesem Keller vor der ganzen Menschheit versteckte.

"Entschuldige..."

Shinji war sich nicht ganz sicher, wofür sich Nathan entschuldigte, doch als er aufblickte und in das, nun wieder offene, Gesicht schaute, die Augen voller Fürsorge und mit einem gezwungenen Lächeln auf den Lippen, wusste es, dass Nate bemerkt hatte, dass er zu weit gegangen war.

Dennoch sank sein Blick noch einmal auf den Teller vor sich und er musste kurz durchatmen, um sich wieder zu beruhigen. Vorhin noch war die Stimmung so ausgelassen gewesen, er wollte das nicht kaputt machen, indem er jetzt auf diesem Ausrutscher herum ritt. Er sollte sich zusammenreißen.

"Nicht schlimm", murmelte er deshalb, um einen Anfang zu finden. Sich zusammen zu reißen war wirklich einfach gesagt als getan. Die Stimmung im Raum war erdrückend.

Irgendetwas musste es doch geben, an das er denken konnte, das ihn fröhlicher stimmte und noch ehe er diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, musste er an das Basketball Spiel erinnern und an Nate, wie er auf ihn aufgepasst und sich um ihn gekümmert hatte. Da kam das sanfte Lächeln ganz allein auf seine Lippen zurück.

Etwas schüchtern sah er auf: "Danke... für heute..."

In so einer Situation wirkte das erstaunlich fehl am Platz, wie ihm im Nachhinein auffiel. Das mit dem sozialen Umgang war wirklich nicht so seins.

Glücklicherweise ging Nate aber auf den Themenwechsel ein und obwohl es noch etwas gestelzt wirkte, lockerte sich die Stimmung doch merklich:

"Nichts zu danken. Ich hatte ja auch meinen Spaß." Nate lächelte jetzt viel ehrlicher. "Außerdem hast du eindeutig Glück gebracht, sonst hätte ich heute bestimmt nicht gewonnen."

Dann herrschte kurz wieder Schweigen, ehe Nathan wieder ansetzte: "Und du bist dir sicher, dass du die Stadt nicht kennst? Ich würde mich echt gerne von dir rum führen lassen. Und das nicht nur, weil es echt deprimierend ist, dass ich bisher kaum mal weiter als bis zum Supermarkt auf der anderen Straßenseite gekommen bin."

Shinji konnte es seinem Gast nicht verdenken, dass er noch einmal nachhakte. Er hatte ihm so viel Mist erzählt, nur um ihn von sich fern zu halten, dass es nahe lag, dass auch das gelogen gewesen war.

"Na ja...", begann Shinji langsam und wollte eigentlich gar nicht so recht zugeben, was er im Begriff war zu sagen: "Ich könnte dir den Weg zu meiner Firma zeigen." Er grinste schief. "Das war's dann aber wirklich." Er wohnte ja auch erst ein paar Jahre hier... soviel dann zu 'deprimierend'.

Schon wieder fragte er sich, was Nate jetzt von ihm denken musste. Offenbar war das Shinjis neueste Lieblingssportart, die noch viel drängender wurde, jetzt, wo er wusste, dass Nathan SEAL war. Mit Führungsposition! Wie erbärmlich musste Shinji wirken?

"Okay..." Doch statt einen komischen Spruch ab zu lassen, grinste Nate einfach nur so typisch wie immer und schnippte ihm dann leicht gegen die Stirn: "Worüber denkst du nach? Es macht mit langsam Sorgen, dass ich ständig hören kann, wie dein Hirn arbeitet."

"Sorry...", murmelte Shinji. "Nichts wichtiges..."

Und das war es wahrscheinlich wirklich nicht, denn jedes Mal, wenn er Angst bekam, er würde in der Achtung seines Freundes sinken, passierte einfach gar nichts und es ging einfach weiter wie bisher. Shinji war wirklich froh darüber, aber er konnte einfach nicht verstehen warum. Sie waren so unterschiedlich und er so erbärmlich, gerade im Vergleich zu Nate.

... jetzt fing er schon wieder damit an!

Schnell fuhr er sich durch die Haare und lehnte sich im Stuhl zurück, um diesen verdammten Gedanken zu entfliehen.

"Tut mir leid. Ist wohl so eine dumme Angewohnheit, die man nicht abstellen kann. Hattest du noch was gesagt? Ich hab's nicht mitbekommen."

Nathan grinste wieder nur und wiederholte seine Frage: "Ich habe gefragt, ob wir uns nicht zusammen die Stadt ansehen wollen? Ich bin mir sicher, dass sie etwas mehr zu bieten hat als einen Supermarkt, eine Kneipe und eine Firma."

Nate sah ihn an wie ein Hund der Gassi geführt werden wollte. Eigentlich fehlte nur noch eine Leine und das klägliche Winseln. Nate wusste genau, dass das bei ihm zog! Das hatte er früher schon so oft gemacht, verdammt!

Demonstrativ wandte Shinji den Blick ab und kaute sich nervös auf der Unterlippe herum: "Wir können's ja mal versuchen.", grummelte er etwas unwillig. "Wie lange hast du denn noch Urlaub?" Ugh... das klang als wollte er den Rest des Urlaubs mit Stadterkunden verbringen. Hervorragend. Er fühlte sich wie bei ihrem Wiedersehen in der Küche von Nates Schwester.

"Ausgezeichnet! Hast du morgen schon was vor?" Für das unschuldige Lächeln, hätte er Nate erwürgen können. Berechnender Bastard!

Aber er konnte ihm nicht böse sein, vor allem, weil es einen besseren Tag zum Auskundschaften als einen Sonntag nicht gab. Da wäre die Stadt wesentlich ruhiger. Als lächelte er versöhnlich und stimmte zu.

"Lässt du mich denn ausschlafen?", scherzte Shinji halb und meinte es halb ernst.

Nate aß gerade seinen letzten Löffel Curry und stand gleich auf, als er fertig war. "Ich denke, es wird Zeit, dass ich mich auf den Weg mache."

Verwirrt stand auch Shinji auf, fragte sich aber, ob er gerade etwas falsches gesagt hatte. Doch Nate grinste so breit, dass das eigentlich nicht sein konnte. Vielleicht musste er wirklich los... allerdings hatte sein Gast nicht einmal auf die Uhr geschaut.

Aber beschweren würde sich Shinji nicht, wenn Nate freiwillig abzog. Das ersparte es ihm ihn rauszuwerfen.
 

An der Tür wuschelte ihm sein Gast noch einmal ausgiebig, was Shinji nur genervt die Augen verdrehen ließ. Das war schon das zweite Mal heute. Das war ja schlimm.

"Weißt du eigentlich, wie lange du noch in der Stadt wohnst?" Die Frage nach dem Urlaub vorhin hatte Nate nicht wirklich beantwortet, vielleicht weil es ihm zu nah am Thema Arbeit war, vielleicht aber auch, weil er es nicht wusste. Aber Shinji musste wissen, wie sehr er sich an die Anwesenheit des anderen gewöhnen durfte, denn noch war es befremdlich, dass da jemand war, der sich Mühe mit ihm gab. Er war sich nicht sicher, was passieren würde, wenn dem nicht mehr so war und Nathan dann plötzlich wieder umziehen würde.

"Warum fragst du? Raub ich dir etwa schon den letzten Nerv?" Wie gerne würde sich Shinji einreden, dass es tatsächlich so war. "Meine Schwester hat den grauenhaften Plan, ihre Wohnung komplett zu renovieren. Handwerker will sie keine rufen, also ruft sie mich. Es dauert wahrscheinlich also tausend Jahre, bis ich fertig bin und hier weg kann. Ich schätze, ich werde eher zurück auf einen Einsatz gerufen, als dass das passiert."

Daran hatte er noch gar nicht gedacht. Natürlich musste Nathan auch auf Einsätze. Auch in den Krieg? Er wusste nicht genau, wo SEALs eingesetzt wurden und auch nicht wann oder warum. War Nate schon im Krieg gewesen? War vielleicht gerade aus einem zurück? Zurück auf einen Einsatz, bedeutete ja schließlich, dass er schon einmal auf einem gewesen war, oder? Natürlich musste es so sein... es war ja Nates Job. Irgendwie war das ein Stück Realität, mit dem er nicht gerechnet hatte und das ihn nun besorgte.

Das musste doch schwer sein. Er konnte sich nicht mal vorstellen, wie schwer es war.

Die ganze Zeit über hatte er nur an sich gedacht, denn Nathan wirkte so ausgeglichen und glücklich, dass er nicht einmal darüber nachgedacht hatte, was er auf seinen Schultern trug, was 'Urlaub' für ihn bedeutete und was es bedeutete, dass er diesen Urlaub ausgerechnet mit ihm verbringen wollte.

Shinji schluckte trocken und wusste nicht recht, was er tun sollte. Nate würde nicht wollen, dass er sich anders verhielt, nur, weil er jetzt wusste, was Nate beruflich tat. Dennoch wusste er es jetzt und das beeinflusste ihn, dagegen konnte er nichts machen.

"Ich hab angst davor, was passiert, wenn ich mich daran gewöhne, dass du da bist.", sprach Shinji dann plötzlich aus, ohne den Gedanken bewusst gefasst zu haben. "Ich habe angst davor, was passiert, wenn du wieder weg bist..."

Nate richtete sich wieder auf. Er hatte sich die Schuhe gebunden. Ein Umstand, der Shinji gar nicht aufgefallen war.

"Wenn ich wieder weg bin, hast du wieder mehr Freizeit, das ist alles." Als wäre das wirklich so einfach.

"Mach dir keinen Kopf, ich werde dich trotzdem weiter nerven." Was auch immer Nathan damit jetzt meinte. "Ich hol dich morgen um 3 ab!"

Und dann war er weg.
 

Shinji wusste nicht wirklich, was er von der ganzen Sache halten sollte und wenn er ehrlich war, war ihm das auch zu kompliziert. Also tat er, was er immer tat, wenn sein Sozialleben ihm zu anstrengend wurde: er schob es ganz weit von sich.

Nathan war selbst Schuld, wenn er ausgerechnet Shinji ausgewählt hatte, um seinen Urlaub mit ihm zu verbringen. Shinji hatte sein Bestes getan um ihn davon abzuhalten, also war es definitiv auch nicht Shinjis Problem, wenn Nathan immer noch an diesem Plan fest hielt.

Er ging zurück ins Wohnzimmer und sah sich um. Er sollte endlich mal wieder die Zimmerdecke abstauben... und seinen Kühlschrank hatte er auch schon viel zu lange nicht mehr geputzt...

Chris

SEAL bedeutet Sea, Air, Land und bezeichnet eine Sondereinheit des Amerikanischen Militärs. SEALs werden für zahlreiche Dinge eingesetzt, wie z.B. zur Aufklärung, direkter Kampfeinsätze, unkonventionelle Kriegsführung und sogar für so etwas wie den internationalen Drogenhandel. Also im Prinzip alles und nichts.

Das war die grobe Ausbeute einer durchzechten Nacht: Alles und nichts. Das hatte Shinji kein Stück weiter gebracht. Im Gegenteil! Das Gebiet um das er sich Sorgen machen musste, hatte sich sogar noch vergrößert. Das war so unglaublich frustrierend.

Aus lauter Frust hatte er sich mitten in der Nacht sogar überlegt, zu versuchen, sich bei der Navy einzuhacken. An diesem Zeitpunkt hatte er die Browserfenster geschlossen und hatte sich einem Spiel gewidmet um sich abzulenken. Das ging dann bis weit in den Morgen hinein, was darin resultierte, dass er um drei Uhr nachmittags, als es klingelte, noch immer schlief. Fuck!

Wie von der Tarantel gestochen, sprang er aus dem Bett, zog sich das erste T-Shirt und die erste Hose an, die er fand und hastete zur Tür. Er war sogar etwas außer Atem, als er öffnete.

"Morgen... ich meine... eh... hi!" Er strich sich einmal verlegen die Fransen aus dem Gesicht und trat dann beiseite, um Nate herein zu lassen. Ein kritischer, aber belustigter Blick musterte ihn eingehend. Shinji erschauerte von dem kalten Zug, der aus dem Treppenhaus kam und schloss die Tür schnell. Er wollte sich ja nicht erkälten.

"Hast du etwa noch die Nacht durchgemacht?" Und plötzlich hatte Shinji eine Hand in seinen Haaren, die versuchte, die einzelnen Strähnen zu ordnen. Was hatte Nate nur immer mit seinen Haaren?

Doch dem fiel selbst bald auf, dass das, was er da tat, unangebracht war. Deshalb lächelte er entschuldigend, nachdem er die Hand hatte sinken lassen.

"Ich bin noch ziemlich in einem Spiel versackt... Dota... aber das kennst du wahrscheinlich nicht." Wie auch? Nate war kein Zocker, nie gewesen. Sie hatten früher nur ab und an Rennspiele und vor allem Mario Kart gespielt, aber selbst dabei hatte sein Kumpel sich selten dämlich angestellt. Eigentlich war das Spielen auch nur eine zusätzliche Gelegenheit gewesen, um zu wetten und zu saufen.

Wann hatte es eigentlich begonnen, dass es ihm so leicht fiel, Verfehlungen von sich selbst vor Nate zuzugeben?

Das verwirrte "Dota?" riss ihn wieder aus den Gedanken und er winkte einfach ab. Er wollte Nathan nicht mit Details über etwas nerven, was ihn im Grunde nicht interessierte.

"Wenn du mir ein paar Minuten gibst, können wir sofort los", lenkte er stattdessen ein.

"Lass dir ruhig Zeit, wir haben es ja nicht eilig." Nate verschwand darauf ins Wohnzimmer und Shinji verschwand schnell wieder in seinem Schlafzimmer und danach kurz im Bad um sich fertig zu machen.
 

"So, ich bin so weit", verkündete Shinji, als er in die Wohnküche trat, wo Nate an dem kleinen Küchentisch saß. Er musterte seinen Kumpel, der vollkommen in das Bild dieser Wohnung passte. Als wäre er nie woanders gewesen.

Jetzt sah er von seinem Smartphone auf und hielt Shinji den Bildschirm hin: "Ich hab ein hübsches Café zum Frühstücken ausgesucht. Mit reichlich Bagel Auswahl, oder Pancakes. Wie du willst."

Shinji wurde es augenblicklich warm ums Herz. Nicht nur, weil Nate noch um drei Uhr nachmittags mit ihm frühstücken wollte, sondern auch, weil genau das früher immer ihr Katerfrühstück gewesen war. Nate hatte ganz oft auch einfach nur Pancakes mitgebracht, weil er wusste, dass Shinji morgens lieber süß aß und hatte sich das Zeug dann selbst auch reingedrückt, obwohl Nate wirklich keine Naschkatze war. Vor allem nicht morgens. Diesen Kerl konnte man einfach nur mögen.

Dennoch wollte er nicht, dass Nate wie damals anfing, ihm ständig alles recht machen zu wollen. "Wir müssen nicht extra wegen mir... uhm... frühstücken." Er hatte ja schließlich verschlafen, nicht? Dann sollte er seine eigenen Fehler auch ausbügeln. Allerdings... war es doch auch unhöflich, das Angebot einfach abzulehnen, oder? Schließlich schien sich Nate auch irgendwie auf das 'Frühstück' zu freuen.

"Andererseits", setzte er deshalb noch nach. "... würde das wohl auch unter 'Stadt erkunden' fallen, denke ich."

Nate Antwortete mit einem Grinsen: "Klar, die Kulinarik dieser Stadt sollten wir zumindest probiert haben."

Damit war das dann wohl beschlossene Sache. Und wahrscheinlich damit sie nicht noch länger Zeit vertrödelten, schob Nate Shinji in den Flur, um sich dort dann die Schuhe wieder anzuziehen.
 

Die Fahrt verlief sehr ruhig, aber es war nicht unangenehm. Das Radio blieb aus, was Shinji beruhigte.

Das Café war klein und gemütlich und gerade wegen der ungewöhnlichen Tageszeit auch nicht zu voll. Nate ließ ihm den Vortritt - wie immer - weshalb er sich in eine ruhige Ecke verzog, ohne, dass sie gleich vollkommen ab vom Schuss waren. Er versuchte ja wirklich, sich mit Nate zusammen nicht so zu verkriechen. Mittlerweile wusste er ja auch, dass er auf ihn aufpasste, wenn was passierte. Mit ihm zusammen, war das alles ein wenig einfacher.

"Shinji? Nate?"

Shinji zuckte Augenblicklich zusammen. Jemand der sie beide kannte?

Erschrocken hob er den Kopf und sah direkt in die Augen eines Kellners. "Ich bin's, Chris!"

Chris... Shinji atmete vorsichtig durch. Chris war ein halbes Jahr vor der ganzen Miesere damals von der Schule gegangen. Trotzdem hieß das nicht, dass der das Video nicht kannte.

Mo... Moment! Es... es war doch ganz normal, dass zwei Kumpel zusammen essen gingen, oder? Das hatten sie beide immerhin auch früher schon sehr oft gemacht. Das war nichts ungewöhnliches! Das machten ganz normale Leute ständig! Ja... ja... es... es war alles in Ordnung. Alles gut... alles safe...

Dennoch verspannte er sich. Er wollte mit niemandem von damals reden. Er wollte diesen furchtbaren Smalltalk nicht führen müssen. Aber wie kam er da wieder raus?

"Hi Chris", seine eigene Stimme klang weit entfernt, kühl und vor allem distanziert. Es war unhöflich, ja, aber als Kellner konnte Chris sowieso nicht ewig bei ihnen rumstehen. Also lenkte er ganz simpel von sich selbst ab: "Lange nicht gesehen. Wie geht es dir?" Das sollte einen normalen Menschen genug beschäftigen, dass er danach keine Zeit mehr hatte, ihn noch irgendetwas zu fragen.

"Mann, dass ich euch hier treffe! Nach so langer Zeit!", rief Chris aber nur freudig aus und klopfte Shinji auf die Schulter, was den fast dazu brachte, einfach aufzustehen und zu gehen. Er wollte nicht angefasst werden.

Doch D´die Hand rutschte sogar seinen Rücken hinab und blieb dort. Shinji lief es kalt den Rücken hinunter.

"Hängt ihr etwa immer noch miteinander ab?"

Nathan schien die Situation auch nicht zu gefallen, denn es legte sich ein verkniffener Zug um seine Lippen.

"Was machen die anderen?", fragte Chris weiter, nahm die Hand aber wenigstens weg. Shinji wollte hier weg. Ganz schnell. Er wollte nicht über alte Zeiten reden, nicht über die anderen und er wollte auch nicht bei jemandem bleiben, der noch nie etwas von Abstand gehört hatte.

Glücklicherweise übernahm Nate das Reden, obwohl Chris eindeutig versuchte, mit Shinji zu sprechen: "Ehrlich gesagt, habe ich Shinji ebenfalls erst vor Kurzem getroffen."

"Ja wirklich?", warum klang das nur so übertrieben? "Meine Schicht ist bald um. Dann können wir doch auf die guten, alten Zeiten anstoßen!"

Wie zufällig strich Chris Hand noch einmal über Shinjis Rücken, dann ging er zu einem anderen Tisch.

Das war ihm zu viel.

Hastig sprang er auf und strich sich nervös durch die Haare: "Ich... bin mal kurz..." Er gab sich nicht einmal die Mühe den Satz zu beenden, sondern ging einfach Richtung Toilette. Er brauchte jetzt Abstand. Ganz viel davon.

Während er Wasser in sein Gesicht spritzte, versuchte er sich einzureden, dass das alles nichts zu bedeuten hatte. Dass er nur überempfindlich war und sich das alles nur einbildete.

Hoffentlich konnte er Nate begreiflich machen, dass er definitiv nicht noch mit Chris etwas unternehmen wollte. Sie hätten gar nicht erst weg gehen sollen! Es gab einen Grund, warum er lieber zu Hause blieb! Er konnte einfach nicht mit Menschen!

Plötzlich ging die Tür auf und ein Putzeimer, samt Mopp wurde in eine Ecke gefahren. Dann fiel die Tür wieder zu.

Shinji dachte sich nichts dabei, bis er Chris Stimme hörte, der plötzlich hinter ihm stand: "Bist du etwa mit Nate zusammen?"

Sofort wirbelte Shinji herum. "Was?" Hatte er richtig gehört?

Da war auf einmal diese Hand, die ihm eine Strähne hinters Ohr strich. Wie Nate sonst manchmal, aber das hier fühlte sich anders an. Falsch.

Shinji war so steif vor Schreck, dass er sich nicht wehrte, als Chris sich vor lehnte um ihm die nächsten Worte ins Ohr zu flüstern: "Besorgt er es dir etwa immer noch?"

... Was?

Die Hand fuhr seine Wirbelsäule entlang.

"Weißt du? Es ist wirklich schade. Hätte ich gewusst, dass du auf Männer stehst, hätte ich es viel früher bei dir versucht."

Und erst als die Hand auf seinem Hintern landete, bekam er wieder genug Gewalt über seinen eigenen Körper, dass er Chris weg stoßen konnte.

"Fass mich nicht an!", stieß er aus und machte einige Schritte zurück. Er merkte gar nicht, dass er sich von der Tür entfernte. "Das ist echt widerlich, reiß dich doch zusammen!" Zu aufgeregt und zu überrumpelt, spie er Chris die Worte entgegen, die er sonst nur an sich selbst richtete.

Er musste unbedingt aus diesem Raum raus. Er musste zu Nate! Nate würde ihn beschützen. Nate würde ihm keine Vorwürfe für diese Situation machen, er würde ihn einfach nur beschützen. Er musste zu ihm!

Doch er kam nicht weit. Und ehe er es sich versah, stieß ihn Chris in eine der Kabinen.

"Du sagst das so, aber in deinem Gesicht lese ich was ganz anderes." Die Tür wurde verriegelt, ohne, dass Shinji es schaffte, sich zu wehren. Er bekam keine Luft mehr. Alles war zu eng und zu nah. Er wollte hier nicht sein!

"Ist dir überhaupt klar, was du mir damals angetan hast? Ich war so verschossen in dich und dann vögelst du mit dem da draußen?!"

Das Video, schoss es Shinji vollkommen überflüssig durch den Kopf. Dieses verdammte Video... schon wieder.

Chris falsches Lächeln wirkte wie eine Grimasse, das seine Gesichtszüge vollkommen verzerrte und er hielt ihn fest - am Handgelenk - so dass Shinji ihn nicht noch einmal wegstoßen konnte. Dennoch zog und zerrte Shinji daran, wollte weg, wollte zu Nate. Er wollte nicht hören, was Chris sagte. Es stimmte nicht! Er war nicht schwul! Da war nichts in seinem Gesicht! Und er wollte das hier nicht!

Doch er hatte keine Chance. Stattdessen wurde er an den größeren Körper gezogen und hatte im nächsten Moment fremde Lippen auf seinen, während die freie Hand seinen Kiefer gewaltsam nach unten drückte, um einer Zunge Zutritt zu verschaffen.

Shinji traute sich nicht, zu zu beißen. Die Kabine war verschlossen, eine Hand außer Gefecht gesetzt und sein Körper wurde gegen die Kabinenwand gepresst. Er kam hier nicht mehr raus und wenn er begann sich so zu wehren, würde Chris wahrscheinlich ganz ausflippen.

Und während er versuchte auszublenden, was nicht auszublenden war, fragte er sich, ob Chris nicht doch recht hatte. War er selbst Schuld an dieser Situation? War in seiner Mimik noch irgendetwas, was an seine Anwandlungen damals erinnerten? Hatte er all das nicht sorgfältig genug versteckt? War es für andere wirklich so sichtbar? Hatte er sich einfach nicht genug zusammen gerissen und Chris damit die falschen Signale gesendet?

"Chris", schluchzte er zitternd, als der kurz von ihm abließ. "Bitte... ich stehe nicht auf Männer. Wirklich... das... das damals war eine dumme Phase. Ich hab meine Lektion gelernt."

"Willst du mich verarschen!?", keifte Chris, riss ihn herum und drückte ihn auf den Toilettensitz.

"Hast du dir das Video angesehen? Du bist vor Lust zergangen als Nate dich genommen hat! Das war keine Phase!"

Chris war ihm immer näher gekommen und gerade als Shinji dachte, noch einen Kuss ertragen zu müssen, streichelten ihm beiden Hände plötzlich über die Knie. Chris stand so, dass Shinji nicht weg kam und in dieser unterlegenen Position noch weniger Kraft aufbringen konnte, als sowieso schon.

"Ich will nur einmal noch dein Gesicht sehen, wenn du kommst."

Als die Hände höher wanderten, wehrte Shinji sie sofort ab, oder versuchte es zumindest. "Chris... bitte...", flehte er, doch es brachte nichts.

Chris Bewegungen wurden fahriger, grober, als er seine Hände wieder abschüttelte und Shinji hatte Angst, er würde das nächste Mal zu schlagen, wenn er sich noch einmal wehrte.

"Stell dich nicht so an!" Shinji fuhr unter der heftigen Stimme zusammen, die sofort danach wieder sanfter wurde. "Es wird dir gefallen. Du wirst schon sehen."

Und damit öffnete er Shinjis Hose und ließ eine Hand hinein gleiten. Shinji wimmerte.

"Du bist so schön", raunte Chris, während seine Hand langsam begann, ihn zu massieren. Die andere lag noch immer auf seinem Oberschenkel und hielt ihn dort fest.

Und während Shinji einfach nur versuchte all das zu erdulden, legte sich plötzlich ein sehr zufriedener Ausdruck auf das Gesicht des Anderen.

"Ich wusste doch, dass es dir gefällt", säuselte Chris.

Nein! Nein! Nein, es gefiel ihm nicht! Er wollte das nicht! Warum betrog ihn sein Körper dann? Warum?

Das konnte nicht sein! Das... das war unmöglich. Unmöglich... es war so widerlich. Er wollte nicht von Chris berührt werden. Nicht so wie gerade und auch sonst nicht! Warum reagierte sein Körper?

War das das kranke Verlangen, vor dem er all die Jahre davon gelaufen war? Holte es ihn jetzt ein? Zeigte sein eigener Körper ihm, was er eigentlich wollte?

"Shinji? Bist du hier? Die Pancakes werden kalt."

Nate! Nate war da!

Shinji holte schon Luft, aber ihm blieb jegliches Geräusch im Hals stecken. Wenn Nate sie beide so sah... wie musste das aussehen? Er saß hier auf dem Toilettendeckel, wurde kaum festgehalten und er... er war... er war steif. Nate würde sehen, dass es ihm gefiel. Wie sollte er auch verstehen, dass sein Körper völlig falsch reagierte?

Das hier durfte niemand sehen! Niemand je erfahren! Erst recht nicht Nathan! Nicht Nate... nicht der letzte Mensch, der noch etwas auf ihn hielt. Es würde ihn endgültig von ihm treiben.
 

Also schwieg er, stumm ertragend, was geschah und unterband selbst das Schluchzen, das sich so drängend in seiner Kehle sammelte, dass es ihm die Luft abschnürte. Er gab einfach auf. Endgültig. Er konnte sowieso nicht mehr weglaufen. Sie hatten alle recht gehabt. Er war krank und widerlich.

Abgrund

Es krachte, als etwas gegen die Kabinentür stieß. Panisch riss Shinji die Augen auf. Was machte Nate da?

Plötzlich war Chris weg.

Vollkommen panisch rollte Shinji sich auf dem Toilettensitz zusammen. Er zog die Knie so nah wie möglich an seinen Körper und versteckte den Kopf in seinen Armen. Das war der schlimmste Tag seines Lebens und er würde noch so viel schlimmer werden. Gleich würde Nathan zurück kommen, wenn er mit Chris fertig war und dann ginge es mit ihm weiter. Er würde ihn beschimpfen, ihn krank nennen, ihn bespucken und schlagen und danach... danach würde er ihn verstoßen. Wie alle anderen vor ihm und er hatte Recht damit. Wie sollte auch irgendwer in der Lage sein, mit jemandem befreundet zu sein, der solche Neigungen hatte? Dem bei so einer Szene einer abging?

Er sah nicht einmal auf, wollte nichts hören, wollte nur, dass es bald vorbei war. So lange war alles gut gewesen und jetzt würde wieder alles kaputt gehen.

Er konnte das nicht. Er konnte nicht noch einmal von vorne anfangen. Er konnte seinen besten Freund nicht noch einmal verlieren. Er konnte nicht. Er wollte nicht mehr. Jetzt wo er über sich selbst Bescheid wusste sowieso nicht mehr. So was wie er sollte gar nicht existieren.

Er hörte etwas... jemanden bei sich. Es war sicher Nate, doch er traute sich nicht, sich zu rühren. Und obwohl er gerade beinahe noch gedacht hatte, dass Nate ihn besser totschlagen sollte, griff doch die Angst und die Verzweiflung und der letzte Funke Hoffnung, dass er noch alles wenden konnte.

"Es tut mir leid!", rief er aus. Ein Schluchzen schüttelte seinen gesamten Körper durch und machte es ihm schwer, genug Luft zu bekommen. "Ich kriege das wieder in den Griff! Ich versprechs! Das... das war nur ein Ausrutscher... ein dummer Rückfall... ich versprechs..."

Er glaubte sich ja selbst nicht. Wie sollte Nate ihm da glauben? Er hatte sich ganz offensichtlich nicht einmal gewehrt. Er war selbst Schuld. Er hatte Chris falsche Signale gesendet und war selbst Schuld...
 

Als er eine Hand auf seinem Kopf spürte, zuckte er so heftig zusammen, dass er fast von seinem Sitzplatz gefallen wäre. Er erwartete einen Schlag, erwartete Schmerzen und Geschrei... aber nichts davon kam. Da war nur die Hand, die ihm beruhigend über den Schopf strich und sonst nichts.

"Wofür entschuldigst du dich, Shinji?" Das klang so gehässig.

Warum fragte er das? War das nicht offensichtlich? Oder wollte Nate unbedingt, dass er es selbst aussprach? Als Legitimation? Wollte er auf Nummer sicher gehen?

Ihm fehlte die Kraft zum Schweigen und der Mut zum Reden, doch die Nähe seines Freundes und die verräterische Hand, die ihn in trügerischer Sicherheit wiegte, machten es ihm noch schwerer zu Schweigen. Und das, obwohl er fest damit rechnete, dass sie sich gleich in seinen Haaren verkrallen würde, um ihn daran hoch zu reißen.

Er sollte es hinter sich bringen... es hatte doch keinen Zweck... er sollte einsehen, dass es vorbei war... er sollte es endlich aussprechen, damit die ganze Welt es wusste... damit alle es sehen konnten... damit er sich nicht mehr in der Illusion verstecken konnte... er sollte das Weglaufen endlich beenden...

Also holte er zittrig Atem, würgte und schluchzte aufgeregt und versuchte, diese Worte aus sich heraus zu pressen: "Dass ich so abnormal bin... dass ich mich nicht gewehrt hab... dass ich es zugelassen habe... dass... dass... dass es mir... gefallen hat..."
 

Da waren plötzlich Arme um ihn. So vertraut und so sanft... sie waren kein Gefängnis, keine Schraubzwinge, die ihn zu erdrücken versuchte. Sie waren nur da und hielten ihn. Und genauso sanft drangen die leisen Worte seines Freundes durch das Rauschen in seinen Ohren:

"Ich verstehe nicht, warum du glaubst, dass du abnormal bist. Chris hat sich an dir vergriffen. Die meisten wehren sich nicht, das ist ganz normal. Nur Chris ist abnormal. Aber der wird dir nie wieder zu nahe kommen. Das werde ich nicht zulassen."

Warum verstand Nate es denn nicht? Warum verteidigte er ihn auch noch? Hatte er ihm nicht zugehört?

"Sie hatten alle Recht!", stieß er wimmernd aus. Er löste die Kugel nicht, in die er sich gerollt hatte. "Ich bin krank und widerlich! Sie hatten alle Recht! Es ist kein Wunder, dass ich unfähig bin irgendeine Beziehung zu führen! Es ist alles wahr! Wenn ich... wenn ich auf... so was... stehe... Ich dachte ich hätte das im Griff! Aber ich hab's nicht... und jetzt ist wieder alles kaputt... ich will doch nur normal sein... ich kann's ihnen nicht übel nehmen... ich wollte mit jemandem wie mir auch nichts zu tun haben..."

"Hör auf dich so fertig zu machen.", kam es so nachdrücklich von Nate, dass Shinji zusammenzuckte. "Wenn es dir tatsächlich gefallen hat, warum weinst du dann? Als ich gekommen bin, hat es wirklich nicht so ausgesehen, als hättest du Spaß daran gehabt. Oder wolltest du, dass er weiter macht?"

Sofort schüttelte Shinji den Kopf: "Ich wollte nur, dass er aufhört. Nur weg von ihm... aber... aber mein Körper..." Sein Körper hatte ihn verraten, hatte ihn betrogen.

"Okay, lass deinen Körper mal außen vor." Nate richtete sich wieder auf, Shinji konnte spüren, wie sich die Arme etwas lockerten und der Körper sich ein klein wenig entfernte. "Dirhat es nicht gefallen und basta. Ob da jetzt irgendwas steif wird oder nicht, ist vollkommen irrelevant und kann passieren."

Wieder wurde ihm sanft über den Kopf gestrichen und als Shinji langsam begriff, dass Nate auf seiner Seite war und das unwiderruflich, begann er sich vorsichtig ein wenig zu entspannen. Er bewegte sich möglichst unauffällig, um endlich seinen Reißverschluss zu schließen und hoffte, dass Nate die Bewegung nicht auffiel.

Ob sein Freund mit seiner Aussage recht hatte, konnte Shinji nicht sagen. Er glaubte es nicht wirklich, wenn er ehrlich war. Wie sollte das auch eine natürliche Reaktion sein? Er war fast verg... verg... - er konnte es nicht einmal denken - und sein Körper hatte nichts anderes zu tun gehabt, als zu zu stimmen!

Aber... das war nicht so wichtig, solange Nate nur selbst glaubte, was er sagte. Solange er nur auf seiner Seite blieb. Solange er nur da blieb und ihn weiter so hielt.

Letztendlich löste er die Kugel und lehnte sich gegen Nathan, suchte Schutz, den er auch fand. Das erste Mal in seit sehr langer Zeit war da jemand. Da war jemand, der ihn auffing und umfing und ihn beschützte. Der zu ihm stand.

Dieses Gefühl war so überwältigend, dass er noch einmal schluchzte.
 

"Ich hasse Menschen.", murmelte er nach einer kleinen Weile und gab damit zum ersten Mal laut zu, was er schon all die Jahre dachte. Es war die Grundlage seines ganzen Verhaltens. Er wollte mit Menschen nichts mehr zu tun haben. Sie waren dumm und widerten ihn an. Sie waren engstirnig und generell einfach überflüssig. Er hasste Menschen für das, was sie waren und schloss sich selbst nicht einmal aus. Nur Nate schloss er aus. Nate war nicht wie die anderen. War er nie gewesen. Zumindest zu ihm nicht und er war egoistisch genug um das zählen zu lassen. Er war anderen Menschen auch egal, dann konnte es ihm ebenso egal sein, ob Nate zu anderen Menschen auch so gut war, wie zu ihm.

"Kann man niemandem verübeln", antwortete Nate da und wurde in Shinjis Augen damit nur noch toller. Er musste ihm ja nicht zustimmen, Shinji wusste genau, dass Nate das anders sah, aber er akzeptierte einfach, dass es Shinji da nicht so ging.

Und gerade weil Nate ihm gerade so viel gutes Tat, traf ihn die Erkenntnis, ihn heute enttäuschen zu müssen, schwer.

"Tut mir leid", murmelte er. "Jetzt ist der ganze Tag hin..." Denn er würde jetzt nichts anderes mehr tun, als noch irgendwie nach Hause zu kommen und sich dort dann zu verkriechen. Der geplante Stadttrip war nicht mehr machbar. Er würde wahrscheinlich auch die nächste Zeit keinen Fuß mehr vor die Tür setzen. Er hatte die Nase gestrichen voll von 'draußen'. Da warteten nur Menschen auf ihn... Menschen wie Chris oder wie seine ehemaligen Mitschüler. Menschen wie dieser Lehrer oder wie sein Vater. Er wollte nicht mehr. Es reichte. So viel Pech konnte man wirklich nicht haben, oder? Es konnten doch nicht alle Menschen so scheiße sein! Aber er zog sie offensichtlich alle an... und die guten vergraulte er wahrscheinlich, aus zu viel Angst, dass sie auch böse waren, ihm böses wollten. Nate hatte sich nur einfach nicht vertreiben lassen, deshalb hatte er endlich jemand gutes an seiner Seite. Nate würde ihm nicht weh tun... das hatte er nie.

"Die Stadt ist nächste Woche auch noch da. Das läuft uns nicht davon. Schnappen wir uns das Essen und fahren heim. Ich bring dich nach Hause."

Shinji war erleichtert das zu hören. Nach allem hatte er nicht geglaubt, dass Nate ihn jetzt tatsächlich alleine ließ, aber man konnte nie wissen. Er hätte es ihm auch nicht übel genommen, wenn er jetzt einfach gefahren wäre. Aber so war Nate nicht. Zum Glück.

"Danke.", stieß er erleichtert aus und es war nicht nur auf das nach Hause bringen bezogen. Sondern auch auf alles andere. Auf alles, was Nate für ihn tat und war. Ohne ihn... Shinji wollte gar nicht daran denken.

Zögernd löste er sich aus der schützenden Umarmung. Es wurde Zeit, sich der Welt wieder zu stellen, zumindest so lange, bis sie im Auto saßen. Am liebsten hätte er sich unsichtbar gemacht, wäre geflüchtet aus einer Realität, die er schon lange zu verleugnen versuchte, vor der er sich hatte beschützen wollen. Aber er hatte immer wieder lernen müssen, dass er in dieser Realität nun einmal lebte und bevor er sie wieder verdrängen konnte, musste er sie zulassen. Nur einen kurzen Augenblick. Nur ein paar Minuten vielleicht - wenn überhaupt.

Seine Beine zitterten, als er stand, aber sie gaben nicht nach. Er wischte sich die Tränenspuren weg. Es musste niemand sehen, dass etwas passiert war.

Als er aus der Kabine trat, würgte er ein paar Mal trocken, zwang sich dann aber zum ruhigen Atmen. Alles fühlte sich etwas taub an, als wäre er in Watte gepackt, aber er begrüßte das Gefühl. Es würde alles früh genug wieder über ihm zusammenbrechen. Er musste nur durchhalten, bis er wieder alleine war.
 

Es war unspektakulär. So wie immer. Während seine ganz persönliche Welt wieder Kopf stand, hatte sich die eigentliche Welt weiter gedreht und schenkte ihm kleinen Individuum keinerlei Beachtung. Es war frustrierend zu erfahren, wie unbedeutend er war. Niemand drehte sich zu ihm um, es gab keine merkwürdigen Blicke, kein Getuschel. Der ganze Vorfall war vollkommen an allen Anwesenden vorbei gegangen. Beinahe so, als wäre er nicht passiert oder als wäre er nicht wichtig. Warum sollte er auch wichtig sein? Es betraf niemanden hier. Niemandem tat er weh, niemanden belästigte er. Im Großen und Ganzen war er nur Teil einer Dunkelziffer. Ein mikroskopisch kleiner Teil in einer viel zu großen Zahl. Der Welt war Shinji egal, aber wahrscheinlich war das gut so.

Eine Hand in seinem Kreuz, die ihn sanft in Richtung Kasse schob, erinnerte ihn daran, dass er diesmal wenigstens nicht alleine war. Es war nicht allen egal. Er war nicht allen egal. Seine Welt war nicht ganz leer.
 

Im Auto drückte Nate ihm die verpackten Pancakes in die Hand, die tatsächlich immer noch so warm waren, dass man es spüren konnte. Der Vorfall konnte also nicht lange gedauert haben, was absurd war, denn Shinji hatte das Gefühl, eine ganze Ewigkeit in diesem Raum verbracht zu haben.

Die Wärme tat gut und auch wenn der Geruch nach Essen Übelkeit in ihm verursachte, war er auch gleichzeitig beruhigend.

Nate lenkte sie sicher durch den Stadtverkehr, sie schwiegen und nur leise Radiomusik war zu hören, die kaum zu Shinji durchdrang. Er genoss die Ruhe ausnahmsweise und nutzte sie, um sorgfältig zu verdrängen, was gerade passiert war. Letztendlich blieb nur der Nachhall des Gefühls, dass es eine dumme Idee gewesen war, nach Draußen zu gehen.

Ablenkung

Nate war mit herein gekommen. Hatte gefragt, ob er jemanden brauche, der ihm half, die Pancakes zu vernichten. Shinji wusste, dass er ihm einfach nur die Möglichkeit hatte lassen wollen, 'nein' zu sagen. Aber er wollte nicht allein sein, weshalb er 'ja' gesagt hatte. Ja, er brauchte Hilfe. Nur die Pancakes waren ihm egal. Die wanderten wahrscheinlich sowieso in den Müll, er würde heute nichts mehr runter bekommen.

Jetzt stand er in seinem Wohnzimmer. Er hatte gehofft sich erleichtert zu fühlen, wenn er hier ankam, doch dem war nicht so. Er fühlte sich sicherer, ja, aber seine Wohnung nahm ihm nicht den schweren Stein von seiner Brust, sie half ihm nicht zu verdrängen, nicht zu verarbeiten. Das konnte niemand.

Tränen brannten plötzlich wieder in seinen Augen, doch er blinzelte sie weg. Er würde nicht mehr weinen. Er würde nicht daran kaputt gehen. Jetzt wo er Nate hatte, hatte er einen Grund, gegen die Verzweiflung zu kämpfen.

Dennoch stand er jetzt hier und wusste nicht, was er mit sich anfangen sollte. Was tat man jetzt? Er wollte nichts essen, obwohl er wusste, dass er müsste. Er wollte nicht fernsehen oder reden oder sonst irgendwas. Aber er wollte auch nicht gar nichts tun. Er musste etwas tun... irgendwas.
 

Nate kam um ihn herum und nahm ihm die Pancakes aus der Hand, packte sie aus, nahm zwei Teller und stellte alles auf den Tisch. Shinji stand weiterhin mitten im Raum und verfolgte die Bewegungen, ohne sie richtig wahrzunehmen.

"In der Navy bekommen wir normalerweise nicht so etwas. Da gibt es weder Pan noch Cakes."

Erst als Shinji das Wort Navy hörte, wurde er wieder aktiv. "Du musst nicht darüber reden." Er setzte sich an den Tisch, sprang dann aber gleich wieder hoch und setzte Kaffee auf. Er wusste, warum Nate das machte. Aus irgendeinem Grund wusste er es genau. Es war fast, als wäre eine Wand niedergerissen worden, die zwischen ihnen gestanden hatte. Er verstand ganz genau was Nate da tat. "Es gibt sicherlich auch andere Themen, mit denen du mich ablenken kannst."

Nate brauchte einen Moment, lachte dann aber auf: "Bin ich echt so leicht zu durchschauen? Ist ja furchtbar."

Shinji konnte aber nur die Schultern zuckten. "Das hast du früher schon immer gemacht."

Nachdem er mit zwei gefüllten Kaffeetassen zurück kam und sich gesetzt hatte, starrte er auf die Pancakes, als seien es Aliens. Nein. Davon bekam er nichts runter, da konnte das Zeug so gut riechen, wie es wollte.

"Ich will einfach nicht, dass du über etwas redest, worüber du nicht reden willst, nur, damit ich mich besser fühle.", fuhr er fort. "Wobei ich dir natürlich gerne zuhöre, wenn du darüber reden möchtest. Ich hoffe, das weißt du."

Das war natürlich nicht auf das Geben von Informationen bezogen. Es gab sicherlich viel, was Nathan belastete und er sollte sich frei fühlen, darüber zu sprechen. Selbst in solchen Momenten wie diesem, in denen es Shinji nicht so gut ging und er nicht unbedingt den Kopf dafür hatte. Selbst jetzt würde er sein Bestes geben, um ein guter Zuhörer zu sein. Viel mehr als das konnte er wahrscheinlich sowieso nicht tun. Wirklich helfen konnte er nicht, aber manchmal - und das wusste er aus Erfahrung - war es auch genug, wenn man nur jemanden hatte, der zuhörte. Ohne zu urteilen, ohne zu hinterfragen. Einfach nur jemand, der da war und sich anhörte, was einen bedrückte. Der einem ein wenig die Last von den Schultern nahm.

Das konnte Shinji tun, selbst in diesem Moment.
 

"Anderes Thema also... hmmm... Hana kann jetzt Fahrradfahren. Das besser?"

Doch Shinji konnte nur die Stirn verwirrt in Falten legen: "Merkwürdiges Thema."

Aber, dass er das überhaupt so aussprach, zeigte wohl den Fortschritt zwischen ihnen. Das Fehlen der Mauer war auch jetzt deutlich spürbar, denn vorher hätte er niemals zugegeben, dass er mit normalem Smalltalk nicht klar kam.

"Was soll ich auf so etwas antworten? 'Aha, hat sie es also tatsächlich geschafft'? Und du antwortest dann 'Ja, hat sie'. Dann grinsen wir uns dümmlich an und wissen nicht mehr, was wir sagen sollen." Er sah überhaupt keinen Sinn in einem solchen Gespräch. Dennoch senkte er seinen Blick nachdenklich und selbstkritisch in seine Tasse. "Wobei man natürlich auch meinen sollte, dass ich, wenn ich schon solche Kritik anbringe, auch ein anderes Thema hätte..."

Aber er wusste keins. Irgendwie wollte er gerne über sich selbst sprechen und wusste doch nicht, wo er anfangen sollte, denn er wollte gar nicht über sich sprechen.

Vielleicht wollte er einfach nur alles los werden, was ihn beschäftigte, damit Nate ihm wieder sagte, dass alles in Ordnung und nicht schlimm war. Aber das wäre unfair. Nate war nicht da um sich um Shinjis innere Dämonen zu kümmern, der andere hatte beim besten Willen Besseres zu tun, als ihn zu therapieren. Außerdem war da immer noch diese winzige Angst, dass er es doch noch übertreiben konnte. Dabei hatte er ihm das Schlimmste von sich doch schon gebeichtet. Seine größte 'Sünde'. Eben, dass er alle Menschen pauschal verachtete und keinem davon wirklich die Chance gab, ihm das Gegenteil zu beweisen. Etwas Schlimmeres gab es über ihn nicht mehr zu sagen.

"Denkst du, ich bin schwul?" Er hatte diese Worte ausgesprochen, ohne darüber nachzudenken und überraschte sich damit sogar selbst. Sofort brannten wieder Tränen in seinen Augen und diesmal schaffte er es nicht, sie weg zu blinzeln. Stumm kullerten sie aus seinen Augen und er ließ sie, weil er wusste, dass es unsinnig war sie weg zu wischen. Er brauchte das auch nicht machen, denn Nate versuchte sein Glück, doch es brachte nichts. Etwas gequält lächelte Shinji ihn an und als er sprach, war seine Stimme trotz der Tränen ganz ruhig: "Würde zumindest erklären, warum meine Beziehungen nie länger als ein paar Wochen gehalten hatten."

"Warum sind deine Beziehungen bisher gescheitert?", fragte Nate ruhig nach und zog die Hand wieder zurück, als er wohl merkte, dass das wegwischen sowieso nichts nutzte.

"Es ist nicht so, als würde ich mich mit Menschen im Allgemeinen wohl fühlen...", begann er leise und sah weiter in die Tasse. Nate bei diesem Thema jetzt anzusehen, war ihm unmöglich. Er hatte Angst doch noch so etwas wie Ekel zu finden. "Die meisten meiner Exfreundinnen sind stinkwütend auf mich und denken, dass ich sie nur einmal ins Bett kriegen wollte und danach zu feige war es ihnen zu sagen. Aber... das war es nie. Sex ist mir einfach nicht so wichtig, deshalb hab ich es nach dem ersten Mal meistens vermieden. Es wird immer davon geredet, wie großartig es doch wäre, aber... ich finde es ist mehr wie Arbeit. Ich dachte eben immer... ich... hätte einfach noch nicht die richtige gehabt... Na ja... die, die mich nicht hassen, bemitleiden mich, weil sie denken, ich könne keine Bindung eingehen. Sie sagten, es hätte sich nach ein paar Tagen eher nur noch freundschaftlich angefühlt. Deshalb dachte ich auch, ich sei Beziehungsunfähig."

Eigentlich beantwortete das doch schon die Frage. Und eigentlich wusste er das auch. Shinji hatte es all die Jahre gewusst, denn auch wenn die Nacht mit Nate damals etwas verschwommen durch den Alkohol war, wusste er, dass nichts, was er je mit einer Frau erlebt hatte, ansatzweise vergleichbar war. Er war nur immer vor diesem Gedanken weg gelaufen, hatte sich selbst belogen. Er wusste das... hatte es immer gewusst. Aber allmählich konnte er nicht mehr weg laufen. Nicht heute... heute hatte er da keine Kraft für.

Und plötzlich spürte er Nates Hand auf seiner.

Berufung

Shinji zuckte zusammen und sah auf seine und Nates Hand, die nun beide auf seinem geröteten Unterarm ruhten.

"Du machst das ja immer noch.", hörte er Nate sagen. Shinji hatte sich den Unterarm fast wund gekratzt, ohne es selbst zu bemerkten.

"Manchmal...", antwortete er. Er hatte das früher schon gemacht, wenn er zu viel Stress gehabt hatte. "Normalerweise fange ich mittlerweile an zu putzen...", gestand er leise. Er war sich bewusst, dass das irgendwie ein Kontrollzwang war. Den hatte er hauptsächlich seinem Vater zu verdanken und es war durch die Sache in der Schule und den Rausschmiss nur schlimmer geworden, bis er sich dazu gezwungen hatte, etwas anderes zu tun. Aber gerade konnte er nicht putzen. Genau deshalb verkrampfte sich seine Hand jetzt auch um Nathans. Es fiel ihm schwer nichts zu tun und ruhig zu bleiben.
 

Mit seiner freien Hand schob er den Teller beiseite, damit seine Stirn dort Platz finden konnte. Er fühlte sich komisch. Einerseits fühlte er sich erleichtert, dass er sich selbst endlich eingestand was Sache war... andererseits überkam ihn die Panik, die er immer spürte, wenn es in diese Richtung ging. Gleichzeitig fühlte er sich so taub vor Überforderung, dass einfach gar nichts passierte. Eigentlich war er einfach nur unendlich müde.

Dennoch war es, als würde er gegen eine Wand stehen und eine Steinplatte ihn immer fester dagegen drücken. Er konnte jetzt nicht still bleiben und er konnte aus dieser Situation auch nicht raus, konnte in seinen eigenen vier Wänden ja schlecht weg laufen. Also tat er das einzige, das er in diesem Moment konnte: Weiterreden.

"Ich hab's eigentlich schon immer gewusst. Sonst wäre ich damals ja nicht zu dir gekommen. Ich hab so oft von dir geträumt, dass es eigentlich klar war... aber nach der Katastrophe danach dachte ich... wenn ich das nur ignoriere, dann geht das schon weg. Aber jedes Mal, wenn wieder eine Beziehung an dem gleichen Thema kaputt gegangen ist, wusste ich, dass es nicht funktioniert. Ich hab angst davor, was passiert, wenn das wieder irgendwer mitbekommt."

Er zog sich wieder zusammen, sofern das mit der Tischplatte ging. Aber er ließ Nates Hand nicht los.

"Aber was ändert es letztendlich? Dann bleibe ich eben allein. Dann kriegt es keiner mit. Dann ist es auch kein Problem. Ist ja nicht so, als hätte ich das nicht sowieso vorgehabt."

"Hey", kam es leicht anklagend von über ihm und die Hand, die Nates hielt, wurde sanft geschüttelt. "Und was ist mit mir? Du bist ein Idiot, wenn du glaubst, dass ich dich alleine lasse."

Shinji sah auf, schon wieder mit Tränen in den Augen. Wann er aufgehört hatte zu weinen, hatte er gar nicht mitbekommen, aber jetzt war er kurz davor, schon wieder damit anzufangen.

"Das meinte ich so nicht", beeilte er sich zu sagen und das sanfte Schmunzeln von Nate wurde durch den Tränenschleier hindurch nur schief und krumm. "Ich meine... ich suche mir einfach keinen Partner. Wie könnte ich das auch jemandem antun? Immer, wenn ich mitbekomme, dass jemand schwul ist, verziehe ich angeekelt das Gesicht. Ich will gar nicht wissen, was passiert, wenn es dann doch mal ernster wird."

Niemand würde sich erst durch seine homophoben Tendenzen kämpfen. Verzweifelt legte er den Kopf wieder auf die Tischplatte.

"Ich weiß ehrlich nicht, wie du es mit mir aushältst. Ist ja nicht so, als hätte ich nicht versucht, dich weg zu beißen. Und jetzt stell dir mal vor, ich fange das Spiel mit jemandem an, der mich attraktiv findet." Er lachte bitter und gequält: "Soll ich demjenigen dann sagen 'Hey, übrigens, wenn ich dich wegen deiner Sexualität beleidige, dann ignorier das. Ich bin zwar schwul aber homophob, aber das legt sich sicher mit der Zeit.'?"

Er merkte selbst, dass er viel zu viel redete und er Nate viel zu wenig Zeit zum reagieren ließ, falls der überhaupt noch zuhörte. Aber irgendwie hatte er Angst, dass alles über ihm einstürzen würde, wenn er damit aufhörte. "Jedem, der was von mir will, müsste ich erst einmal eine hundertseitige Bedienungsanleitung in die Hand drücken... inklusive Zusatzübersetzung..."

Doch Nate lachte nur über den ganzen Unsinn, den er redete. Nicht aus Boshaftigkeit, sondern ehrlich amüsiert.

"Und nicht zu vergessen, dass ich die Person vorher erst einmal überprüfen müsste. Denn wenn der Kerl meinen Check nicht besteht, wird er nicht einmal an dich ran gelassen..." Nate machte eine bedeutungsschwere Pause und danach konnte Shinji das Grinsen förmlich aus seiner Stimme heraus hören: "Also ja... du bleibst ziemlich wahrscheinlich alleine."

"Nein, ernsthaft", fuhr Nate wesentlich gefasster fort. "Irgendwo da draußen wartet schon der Richtige auf dich. Dem ist es egal, wie viel Geduld er aufbringen muss und ob er irgendeine Bedienungsanleitung lesen muss. Er weiß, dass es sich am Ende lohnen wird, weil er trotz allem das Gefühl hat, mit dir den Jackpot gezogen zu haben."

"Der Richtige...", murmelte Shinji und konnte die Verachtung aus seiner Stimme nicht vertreiben. Das war das falsche Pronomen. Es sollte nicht der heißen. Das klang so falsch. So fremd. Konnte es keine die geben? Gab es auf dieser Welt wirklich keine Frau, mit der er es aushalten konnte? Die es mit ihm aushielt?

...

Sein Zukünftiger würde es wirklich nicht leicht mit ihm haben.
 

Langsam richtete er sich wieder auf. Er wusste nicht wieso, aber es ging ihm etwas besser. Er hatte nicht mehr das Gefühl die Wände hoch laufen zu müssen. Noch einmal wischte er sich über die Augen und sah dann zu seinem Gast.

"Ich bin wirklich froh, dass du hier bist, aber du musst deinen Sonntag nicht mit mir verschwenden. Du hast Urlaub und sicherlich Besseres zu tun, als auf mich aufzupassen. Ich komm schon klar."

Er versuchte das so überzeugend wie möglich auszusprechen. Nate sollte seinen Urlaub genießen können. Wenn Nate wieder zurück auf einen Einsatz musste, würde er bereuen, seine wertvolle Freizeit so verschwendet zu haben.

"Oh, das sagst du so. Aber in Wahrheit wärst du ziemlich erstaunt, wenn ich jetzt aufstehen und gehen würde."

Es war Nate, der ihre Hände letztendlich trennte und erst da fiel Shinji auf, dass er sie die ganze Zeit umklammert gehalten hatte.

"Außerdem wartet drüben nur eine Wand auf mich, die tapeziert werden will. Ich habe also Zeit."

Shinji nahm sich seine Kaffeetasse wieder, weil seine Hand sich unsagbar leer anfühlte. "Erstaunt ja", gestand er leise. "Aber nicht böse." Er hätte es wirklich verstanden.

Ein wenig hilflos sah er sich im Raum um. Die Situation wirkte plötzlich absurd steif, aber vielleicht lag das auch nur an ihm.

"Was macht man so, wenn man nicht raus kann und auch sonst nichts da hat, aber ein Gast direkt vor einem sitzt, mit dem man irgendwas anfangen muss?", fragte er, ein wenig verzweifelt. "Früher ist uns immer irgendein Blödsinn eingefallen, aber ich kann mich nicht daran erinnern, was..."

Aber Nate ließ sich von seinen furchtbaren Umgangsformen nicht einschüchtern: "Du kannst dich nicht daran erinnern, weil ständig Alkohol im Spiel war."

Kurz erfüllte Nates angenehmes, tiefes Lachen den Raum, ehe er fortfuhr: "Hast du noch so ein nerdiges Autorennspiel? Dann zeig ich dir, wie ein Anfänger dich platt macht."

So hatte es damals auch immer angefangen. Mit einem vollkommen unauffälligen Vorschlag und dennoch... oder gerade deshalb hatten sie unglaublichen Spaß gehabt.

Dass das Gespräch aber nicht spurlos an Nate vorbei gegangen war, merkte Shinji daran, dass er plötzlich nach einer Schachtel Zigaretten griff. Der wollte doch nicht etwa hier drin rauchen, oder? Nach allem, was Nate für ihn getan hatte, würde er es nicht über sich bringen, tatsächlich nein zu sagen, aber... ernsthaft? Musste er sich jetzt wirklich die Wohnung vollqualmen lassen?

"Macht es dir was aus, wenn ich eine am Fenster rauche?" Am Fenster?

Shinji stieß erleichtert den Atem aus. Gut. Fenster war vollkommen in Ordnung.

"Ja, mach nur. Ich such in der Zeit ein Spiel." Und damit verschwand er dann auch kurz.
 

"Sooo...", machte sich Shinji bemerkbar, als er wieder ins Wohnzimmer trat und stellte seinen Laptop auf den Couchtisch. Er empfand die Stimmung immer noch als merkwürdig, schob es aber darauf, dass er sich noch immer gehemmt fühlte und sich zu zwanghaft versuchte abzulenken. Aber es funktionierte wenigstens. Für den Moment musste er nicht mehr daran denken, was dieser ganze Tag für ihn bedeutete.

Wenn Shinji einen wirklich männlichen Tick hatte, dann war es seine Vorliebe für Technik. Er hatte so viele Laptops, wie Frauen Schuhe, weil er sich jedes Jahr einen neuen zulegte. Der Fernseher im Raum, der sehr selten genutzt wurde, war auch das neueste High-End Gerät und eigentlich zu groß für das Zimmer. Nur kein 3D, das war ihm zu albern.

Als er alles aufgebaut hatte und Nate zu ihm trat, drückte er ihm einen Controller in die Hand. Der grinste nur finster: "Dann zeig ich dir mal, wo's langgeht. ... ahm... wo ist Gas?"

Shinji lachte und schüttelte den Kopf: "Muss ich auch erst schauen, hab das Spiel gerade erst gekauft." Es war einfach witziger gemeinsam zu failen.

Ein paar Sekunden nach dem Start, standen sie beide noch immer an der Startlinie und drückten wild alle Knöpfe durch.

"Ah!", stieß er dann aus und zeigte Nate seinen Controller: "Der Knopf hier. Und der zum Bremsen."

Und nachdem sie dann beide endlich vom Fleck kamen, kam kurz darauf die nächste Erleuchtung. "Und der hier ist zum Schalten!"

Nate hatte sofort seinen Spaß, lachte über seine eigenen ungelenken Versuche, das Auto gerade zu halten, während er kläglich daran scheiterte. Aber Shinji entspannte sich dafür endlich etwas, denn die gute Laune seines besten Freundes war unglaublich ansteckend.
 

"Du hast eindeutig das bessere Auto.", kommentierte Nate trocken, als Shinji seinen Wagen als erster durchs Ziel brachte. Shinji grinste überheblich und legte triumphierend den Controller beiseite. "Naaah, ich bin einfach nur besser als du."

Dann schwang er sich vom Sofa und streckte sich kurz. "Ich hab eventuell noch Bier in der Minibar, willst du auch eins? Vielleicht schaffst dus mit Alkohol ja endlich gerade zu fahren."

Und da Nate noch nie 'Nein' zu Bier gesagt hatte, verschwand Shinji einfach in seinem Zimmer

"Pass nur auf, Kleiner! In der nächsten Runde siehst du nur noch meine Rücklichter.", wurde ihm noch hinterher gerufen, ehe er wenig später mit zwei Flaschen zurück kam und eine davon Nate reichte. Er hatte wirklich beste Laune, auch wenn ihm bewusst war, dass es pure Verdrängung war. Aber immer, wenn er drohte wieder abzudriften, tat Nate wieder etwas absurdes und brachte ihn damit zum Lachen.

"Du hast dich echt kaum verändert.", platzte es plötzlich aus ihm heraus und er trank schnell einen Schluck Bier um seine Unsicherheit zu überspielen. Aber es stimmte. Nate war immer noch genau wie früher, nur eben ein wenig erwachsener. Und genau deshalb fragte Shinji sich, ob Nate wirklich glücklich mit seiner Berufswahl war. Er konnte ihn sich einfach nicht als SEAL vorstellen.

Er ließ sich neben seinen Kumpel fallen.

"Kaum verändert? Kann ich das jetzt positiv oder negativ auffassen?"

"Durchaus positiv", lächelte Shinji, wurde dann aber ernst. Er nahm noch einen Schluck und sah Nate forschend an.

"Du weißt jetzt so unglaublich viel über mich, aber ich gar nichts über dich. Deshalb... eine Frage, ok? Bist du echt glücklich mit dem, was du tust?"

"Meinst du, dich aufziehen? Ja..." Nate grinste schief und unschuldig, obwohl sie beide genau wussten, dass das nicht das Thema war. Deshalb fiel auch Nates Grinsen bald schon wieder in sich zusammen. "Was glaubst du denn, was ich tue?"

Da fing es ja schon an. Shinji hatte keine Ahnung, was Nate tat. Es konnte alles und auch gar nichts sein. Wobei Shinji stark bezweifelte, dass sein Kumpel hinter einem Schreibtisch saß und Papierkram erledigte. Er hoffte es ein bisschen, aber er glaubte nicht daran.

"Es geht mich nichts an...", schickte er voraus, damit klar war, dass ihm das durchaus bewusst war. "Und ich weiß, du willst nicht darüber reden, das ist auch vollkommen in Ordnung. Du musst nicht antworten."

Nate konnte jederzeit sagen, dass er aufhören sollte zu reden, doch momentan sah er ihn nur offen und geduldig wartend an.

"Ich hab nicht wirklich eine Ahnung was du tust.", fuhr Shinji fort. "Ich hab ehrlich gesagt versucht zu recherchieren, aber das ist nicht so einfach. Du hast von Einsätzen gesprochen, deshalb nehme ich an, dass du kein Verwaltungsbeamter da bist. Generell ist das natürlich ne bescheuerte frage, denn du würdest das sicher nicht machen, wenn du nicht zufrieden damit wärst. Ich weiß auch nicht... der Job ist sicher nicht einfach... ich würde einfach gerne wissen... obs... obs dir einigermaßen gut damit geht."

Nachdem er sich so um Kopf und Kragen geredet hatte, trank er noch einen Schluck und seufzte dann. "Vergiss es einfach. Ist ne bescheuerte Frage." Und um von dem Thema wieder ganz abzulenken: "Lass mich dich lieber noch ne Runde Staub fressen lassen!"

Doch statt darauf einzugehen schüttelte Nate den Kopf. Während er leicht lächelte, ruhten seine Augen nachdenklich auf Shinji: "Schon gut. Es ist nur echt seltsam, mit jemandem darüber zu sprechen. Ich mische die Welten nur ungern. Unter anderem, weil ich nicht will, dass man mich mit anderen Augen sieht. Besonders bei dir will ich das nicht."

Shinji wollte schon etwas einwerfen, wollte Nate sagen, dass er sich darum wirklich keine Gedanken machen brauchte, aber sein Gegenüber hob kurz die Hand, um ihm zu zeigen, dass er schweigen sollte. Das tat er auch und hörte zu.

"Deine Frage vorhin kann ich dir nicht beantworten. Ist man denn glücklich, wenn man in den Krieg zieht? Ich schätze nein. Mir wäre es lieber, wenn das alles vorbei wäre. Aber ich mache es, weil ich es als Pflicht sehe, die Schwächeren zu schützen. Ich kann nicht tatenlos zusehen, wie Frauen und Kinder für eine Sache missbraucht werden, die sich unter dem Deckmantel 'Religion' versteckt. Meine Einheit und ich dienen der gezielten Terrorismusbekämpfung im mittleren Osten, aber nicht auf die Art und Weise, wie das die Armee macht. Wir marschieren nicht mit hunderten Soldaten und Panzern in ein Land ein. Nein. Unsere Einheit besteht nur aus 24 Personen und unsere Aufträge sind gezielt auf einzelne Menschen gerichtet. Verstehst du, warum ich hier nicht darüber rede? Wenn ich drüben bin, bin ich ein anderer Mensch. Dann bin ich nur noch ein Scharfschütze."

Shinji schwieg eine Weile. Nicht, weil er schlimm fand, was er erfuhr, sondern, weil er die Informationen erst einmal erfassen musste.

Krieg und Terrorismus waren Dinge, die für ihn nicht wirklich real waren, obwohl selbst er fast täglich auf das Thema stieß. Er trieb sich genug im Internet herum, um die Diskussionen und Theorien zu kennen, aber vor jemandem zu sitzen, der das konkret mitmachte, der ein realer Teil davon war, das hinterließ einen merkwürdigen Beigeschmack und er wollte sich davon nicht verleiten lassen, irgendetwas dummes zu sagen. Er hatte Vorurteile gegen das Militär. Und auch gegen Worte wie Terrorismus und das allgemeine Konzept des Krieges. Aber im Prinzip hatte er keine Ahnung. Er wusste nicht, wie ehrlich Medien über diese Themen berichteten, wusste nicht, was er überhaupt wusste. Und es dauerte einen Moment, bis er seine gewohnte Nüchternheit wiedererlangte.

Schließlich und endlich fand er für sich, dass es ihm egal war. Das alles betraf ihn nicht direkt und damit war es ihm egal. Wäre es nicht auch heuchlerisch, sich jetzt plötzlich für andere Menschen zu interessieren? Nur, weil die ganze Welt dachte, sich da einmischen zu müssen? Er hatte keine Ahnung und auch nicht den Willen zu erfahren, wie es wirklich war. Es war ihm egal.

An manchen Tagen spürte er die dumpfe Angst vor dem Ungeheuer, das Terrorismus hieß und an manchen Tagen empfand er Wut gegen Obrigkeiten, die dachten, Krieg spielen zu müssen. Manchmal empfand er auch Ekel vor den Taten von Soldaten, wenn mal wieder irgendein Video die Runde machte.

Aber all diese Empfindungen waren so flüchtig und von so kurzer Dauer, dass sie keinesfalls wichtig waren. Wenn er jetzt genau darüber nachdachte, war es ihm wirklich egal.

Nur Nate war ihm nicht egal. Ganz und gar nicht und deshalb war ihm wichtig, was er dazu sagte. Nate hatte einen anderen Blickwinkel auf die Dinge. Und zu einem gewissen Grat rechnete Shinji da auch eine Art militärische Gehirnwäsche mit ein. Aber es war immer noch Nate und er glaubte ihm, dass es ihm ein Bedürfnis war. Shinji war sich nur nicht sicher, ob er ihm glauben konnte, dass es das Richtige war. Es war aber auch nicht seine Position das zu bewerten. Er konnte akzeptieren, dass Nate das so sah und deshalb war es in Ordnung. Er war sogar froh über diese Ansicht, denn das bedeutete, dass sein Freund nicht nachts wach lag und sich fragte, ob er nicht doch auf der falschen Seite stand. Das war gut. Das beruhigte ihn.

Was ihn auch beruhigte war das Stichwort 'Scharfschütze', denn von allem, was Nate tun konnte, war das noch etwas, was einigermaßen sicher klang. Das war im Idealfall weit von den eigentlichen Geschehnissen weg und gut getarnt. Es war immer noch besorgniserregend, aber zumindest war Nate niemand, der irgendwelche Türen eintrat und im Kugelhagel versuchte, einen seiner Gegner zu treffen. Wahrscheinlich gab es so was auch nur in Filmen oder Spielen.
 

"Da war ich mit meiner Vermutung, du seist Auftragskiller, tatsächlich nicht so weit weg..." Er legte so überdeutlich einen erheiterten Ton in seine Worte, dass klar war, dass er das nicht ernst meinte. Man merkte aber auch sofort, dass ihm wichtig war, dass es da nicht zu Missverständnissen kam. Er wollte nicht, dass Nate dachte, er würde ihn für einen Killer halten.

Shinji hob seinen Blick und sah Nate offen in die Augen: "Du brauchst keine Angst haben. Nicht bei mir. Es war am Anfang komisch, als du meintest, du wärst ein SEAL, aber daran hab ich mich gewöhnt... denke ich. Ich hab auch zu dieser ganzen Thematik nicht wirklich eine Meinung. Es interessiert mich einfach nicht und mir fehlen fundierte Informationen, die man als Zivilist wahrscheinlich sowieso nicht bekommt. Ich fange mit dir also keine Grundsatzdiskussionen über Religionskriege und Terrorismus an und auch nicht über irgendwelche Verschwörungstheorien zu 9/11. Ist für dich also alles safe bei mir."

Nates Blick wanderte zu dem Bildschirm und wirkte abwesend, als er antwortete: "Ich weiß, dass ich manche Leute vor den Kopf stoße, wenn ich nichts über mich erzähle. Oder was drüben passiert. Dabei gibt es Momente, in denen ich echt mit jemandem darüber sprechen möchte. Das Leben hier ist so surreal. Ich spiele mit dir Videospiele, während auf der anderen Seite der Welt Kinder abgeschlachtet werden. Manchmal kann ich kaum still sitzen, wenn ich daran denke, was drüben los ist. Und insgeheim warte ich jeden Tag auf den Anruf. Mich mit dir zu treffen lenkt mich ab und ich weiß, ich mache meiner Schwester nur Kummer. Dass ich bei ihr wohne und sie sich diese Beschäftigungstherapie für mich ausgedacht hat, ist doch Beweis genug. Ich weiß das alles... ich kann es trotzdem nicht ändern, dass ein Teil von mir nicht hier ist."

Für Shinji war es schwierig Nates Gedankengängen zu folgen, aber er glaubte zu verstehen. Die Grundbotschaft war auf jeden Fall angekommen. Nate hatte Probleme hier zu sein, weil ihn sein Pflichtgefühl immer wieder in sein Einsatzgebiet rief. Das ging wahrscheinlich vielen Soldaten so.

"Wenn du reden willst, bin ich für dich da. Ich kann verstehen, wie du dich fühlst. Ich kann's mir nicht vorstellen, aber ich kann's verstehen. Ich bin aber auch da, wenn du Ablenkung brauchst oder willst. Das liegt ganz bei dir. Bleibt jetzt natürlich die Frage, ob du lieber reden oder lieber abgelenkt werden möchtest."

Hormone

Ohne es selbst zu merken, hatte Shinji seine Hand auf eine von Nates gelegt und hielt diese nun mit sanftem Druck. Das fiel ihm erst auf, als Nates Blick die Hände nachdenklich betrachtete.

"Ich..." Normalerweise hätte Shinji die Hand sofort zurückgezogen, aber er hatte seinen Freund selten so unsicher und verletzbar erlebt, dass er es nicht über sich brachte, diesem den kleinen, Trost spendenden Körperkontakt zu verwehren. Musste er aber auch gar nicht. Plötzlich wurde er näher gezogen und Nate verpasste ihm eine sanfte Kopfnuss, während er ihn in einem leichten Schwitzkasten hielt, der mehr eine Umarmung, als ein Gefängnis war.

"Wah, Hey!" Shinji versuchte sich frei zu zappeln, was kläglich scheiterte. Nate ignorierte ihn.

"So, wenn ich mich recht erinnere, hast du gemeint, du würdest mich ein zweites Mal beim Autofahren besiegen?"

Ganz offensichtlich, hatte Nate sich für die Ablenkung entschieden. "Du wirst mich noch für meine Skills anbeten!"

"Sokann ich nicht spielen. Das ist unfair! Wir spielen ohne Handicap." Aber statt Panik zu schieben, musste er lachen. Er wusste nicht genau wieso, ihm war einfach danach. Vielleicht schnappte er ja über, denn etwas in seinem Innern sagte ihm, dass es nicht gut war, von seinem Kumpel so gefangen gehalten zu werden.

"Schwache Ausrede. Du siehst den Fernseher immerhin noch!"

Aber wenigstens hatte er Nate zum Lachen gebracht. Die trübe Stimmung war sofort wieder verflogen. Als hätte Nate einfach alles von sich abgeschüttelt und sich entschieden, dass er genug Trübsal geblasen hatte. Shinji beneidete seinen Freund für diese Fähigkeit. "Mit den Füßen zu spielen, daswäre ein Handicap, Kleiner.", fuhr Nate fort und begann Shinji zu kitzeln.

Shinji begann zu lachen und versuchte sich sofort aus dem Griff zu befreien. "Nein! Aufhören!", lachte und rief er gleichzeitig. "Ich beiße! Und kratze! Ich schwör's!"

Aber egal wie viel er zappelte, er wurde nicht losgelassen und irgendwann lag er unter Nate, der sich auf ihn setzte, und konnte sich nur noch krümmen vor lachen. "Gnade! Bitte!", japste er.

Endlich ließ sein Freund von ihm ab und grinste süffisant, während Shinji nach Luft schnappte und versuchte, seinen Körper wieder unter seine eigene Kontrolle zu bringen.

"An deinem Widerstand musst du echt noch arbeiten", grinste Nate und schnippte ihm sanft gegen die Stirn. "Aber ich will mal nicht so sein. Heute bin ich gnädig."
 

Shinji schaute atemlos zu Nate auf. Etwas an dieser Situation fühlte sich merkwürdig an. Er konnte nur nicht mit dem Finger drauf zeigen. Auch sein Innerstes half ihm nicht, das schwieg und dann gleichzeitig auch wieder nicht. Alles schien durcheinander und doch nicht ganz existent zu sein. Es war merkwürdig, aber er konnte sich nicht dazu bringen, sich Sorgen darüber zu machen. Stattdessen wartete er darauf, dass sein Körper aufhörte, vor Überreizung zu kribbeln.

Und plötzlich wusste er, was so merkwürdig war. Er wusste es, als er Nates Lippen auf seinen spürte.

Panik überfiel ihn so schnell, dass er einige Sekunden lang nicht imstande war, auch nur zu denken. Es waren lange Sekunden. Viel zu lange und Nate rührte sich nicht.

Mit aller Gewalt versuchte er sich gegen ihn zu stemmen, ihn weg zu schieben, sich zu wehren, aber es ging nicht. Es ging nicht, denn er war viel zu schwach, vollkommen unterlegen und unter diesem zwei Meter Riesen eingesperrt, der fast nur aus Muskeln bestand.

Doch im nächsten Moment zuckte Nate vor ihm zurück, als hätte er sich verbrannt. Und als dann auch das Gewicht von seinem Körper verschwand, presste Shinji sich sofort von Nathan weg, bis er fast vom anderen Ende des Sofas fiel.

Ängstlich fixierte er sein Gegenüber. Ob Nate es noch einmal versuchen würde? Wäre er dann genauso aggressiv wie Chris? Wie würde er reagieren, wenn er 'Nein' sagte? Wie, wenn er wieder steif wurde?

Vor Nate konnte ihn niemand retten. Und er konnte hier nicht weg. Das war seine Wohnung, seine heiligen vier Wände! Wie hatte er sich nur so eine Gefahr ins Haus holen können?

"Bitte... Nate...", flehte er schluchzend und wusste dennoch nicht, worum er flehte. Um Gnade? Darum, dass er aufhörte? Ging? Oder vielleicht auch nur dafür, dass er ihm nicht weh tat? Dass wenn er das schon tun musste, wenigstens dabei aufpasste?

Shinji wusste es nicht genau. Er hatte sowieso keine Hoffnung, dass sein Flehen erhört würde. Alles was er tun konnte, war, sich auf das Kommende vorzubereiten.

"Es tut mir leid", hörte er von Nate. "Kleiner... ich mache nichts mehr. Versprochen."

Shinji konnte Nate nicht glauben. Er wollte, aber er konnte nicht. Er wollte den Vorfall weglachen und dann weiter machen wie vorher, aber es ging nicht. War er denn auch nur von Irren umgeben? Hatte er etwas an sich, dass andere wahnsinnig werden ließ?

Als Nathan aufstand, spannte sich Shinji an. Würde er jetzt über ihn herfallen? Ihn anfallen, wie ein wildes Tier?

Nein... Nathan ging zur Küchenzeile und begann Wasser zu kochen. Würde er Drogen in den Tee mischen, die Shinji gefügiger machten? Wenn ja... sollte er annehmen? Es so einfacher für sich selbst machen? Vielleicht würde er sich dann nicht mehr daran erinnern.

Er konnte ja doch nichts tun, außer zusammengekauert dort auf dem Sofa zu sitzen und auf sein Schicksal zu warten.

Als Nathan zurück kam, mit der Tasse in der Hand, versuchte er sich noch kleiner zu machen. Er wollte nicht... er wollte nicht... konnte es nicht schon vorbei sein? Wieso nur hatte er Nate in seine Wohnung gelassen?
 

Mit einem leisen Klacken wurde die Tasse auf den Wohnzimmertisch gestellt und Nathan kniete sich vor die Couch.

"Shinji ich... ich hab nicht nachgedacht... ich weiß nicht, wie das passieren konnte, es tut mir leid. Du braucht keine Angst haben... ich... ich tue dir nichts, wirklich. Es tut mir leid..."

Sollte es das jetzt besser machen? Dachte Nate wirklich, er könne ihn so einlullen?

War sein Tag nicht schon beschissen genug gewesen?

Können wir es nicht einfach hinter uns bringen? Wollte er fragen, aber er bekam den Mund nicht auf.

Nathan saß da vor ihm, vollkommen reumütig und rührte sich nicht. War das eine Taktik? Wenn er es nicht mochte, dass man sich wehrte, warum hatte er ihn dann so überfallen? Und warum hatte er dann, als es schon passiert war, nicht einfach weiter gemacht?

Nates Augen zeigten nicht den selben Ausdruck wie Chris noch vor ein paar Stunden. Nate sah ihn treuherzig an, reumütig und ruhig. In seinen Augen tobte nicht dieser Sturm aus Hass und Lust und krankem Wahn. Es war nicht das Selbe.

Das vor ihm war immer noch Nate, kein Monster aus irgendwelchen Alpträumen. Und Nate war sofort zurückgewichen, als Shinji sich zu wehren begonnen hatte. Nicht wie Chris, der dann nur aggressiver geworden war.

Es ist nicht das Selbe, versuchte er sich klar zu machen. Aber es war schwer.

"Du bist also auch einer von denen..." Es rutschte ihm mehr heraus, als dass er es bewusst sagte. Es war ein Gedanke, der aus seinem Mund gepurzelt war.

"Ich bin noch immer ich... aber... ja..."

Hm... Er war sich nicht sicher, was er mit den Informationen anfangen sollte. Es ergab nur plötzlich Sinn, dass Nate nicht aufgegeben hatte. Wenn da irrationale Gefühle im Spiel waren, war das nur logisch.

Woher diese Klarheit in seinem Kopf plötzlich kam, wusste er allerdings nicht. Aber es war angenehm. Trügerisch angenehm, wie er befürchtete, denn er wusste gleichzeitig, dass er unmöglich klar im Kopf sein konnte. Er sollte auch nicht plötzlich wieder so ruhig sein, denn was gerade passiert war, war so ähnlich zu dem gewesen, was Chris getan hatte, dass er gerade eine Panikattacke hätte haben sollen.

Und dann bemerkte er, dass er tatsächlich nicht klar im Kopf war. Es war mehr so, als würde er die ganze Situation von außen betrachten, als hätte er sich von sich selbst distanziert, sich von seinen eigenen Gefühlen abgekoppelt. Alles fühlte sich stumpf und surreal an und daran, wie schnell sein Brustkorb sich hob und senkte, konnte er klar erkennen, dass er kurz vor einer Panikattacke stand. Aber er fühlte sie nicht. Er spürte seinen beschleunigten Herzschlag, spürte, dass er schwieriger Luft bekam, aber es fühlte sich nicht echt an. Das, was damit verbunden war, fehlte vollkommen: Die Angst, die Atemnot, die Beklemmung, das Gefühl, gerade in Lebensgefahr zu sein. Nichts davon war da. Ihm war nicht einmal schwindlig, es war alles taub. So, als hätte er den Kontakt zu seinem Körper verloren...

Aber er versuchte diesen Umstand zu nutzen. Die Klarheit mochte falsch sein, aber er musste versuchen, die Situation dadurch zu verbessern. Denn wahrscheinlich war es ein Schutzmechanismus... das sollte er ausnutzen.

"Ich will nicht, dass das zwischen uns steht", begann er deshalb. "Aber ich weiß nicht, was ich tun soll..." Er hörte sich selbst schluchzen. Ein merkwürdiges Geräusch. "Ich hab Angst... und bin überfordert... und... und... ich weiß einfach nicht."

Und er wusste tatsächlich nicht. Er fühlte sich so fremd in seinem Körper.

"Soll ich gehen?", fragte Nate da. "Würde es dir dann besser gehen?"

Nate würde also tatsächlich gehen? Er würde einfach gehen und ihn alleine lassen? Wenn er es nur sagte?

Aber würde das helfen? Ja, kurzfristig bestimmt. Dann konnte er sich in sein Bett verkriechen und die Welt ausblenden. Und ein großer Teil seiner selbst wollte auch nichts anderes. Aber er wusste, dass, wenn Nate jetzt ginge, er ihn nie wieder würde ansehen können. Er würde nicht mehr mit ihm umgehen können. Diese Sache würde auf ewig zwischen ihnen stehen und das wollte er nicht.

"Ich würde mich ja gerne selbst verprügeln.", fuhr Nate fort. Er lächelte viel zu verquer aufmunternd für diese Situation. "Aber wenn du willst, kannst du mich schlagen."

Was?

"Nein!", platzte es sofort aus Shinji raus. War das Nates Ernst? Wirklich? War er vollkommen übergeschnappt!?

Er würde doch niemanden schlagen und schon gar nicht, wegen eines kurzen Kusses!

Oh... was? Nur ein Kuss, huh? Dachte er das wirklich? Ja... ja, irgendwie schon. Irgendwie... war es doch wirklich nur ein Kuss gewesen. Ein kurzer Hirnaussetzer von Nathan, den er sofort wieder bereut hatte. Shinji hatte nur ein wenig Angst, dass der Aussetzer irgendwann einmal länger gehen würde und dass Nathan dann nicht mehr aufhören würde, wenn Shinji begann sich zu wehren. Aber das gerade eben, das war wirklich nur ein Kuss gewesen. Nate war nicht Chris. Nate war nicht Mr. White. Nate war nicht seine alte Clique. Nate war nur Nate. Und Nate würde ihm niemals etwas tun. Dieses Vertrauen war noch immer da, auch wenn er nicht wusste warum. Auch wenn die Angst daran nagte, war es da und vermittelte ihm deutlich, dass er nichts zu befürchten hatte. Deshalb zwang er sich auch zu einem Lächeln, als er fortfuhr: "Mal abgesehen davon, dass ich mir dann selbst mehr weh tun würde, als dir."

Nathan lachte tatsächlich leise über die Bemerkung: "Okay, dann lieber nicht. Sonst müsste ich mich dafür auch noch schlecht fühlen."

Sofort erstarb das leise Lachen wieder und Nates Miene wurde wieder ernst.

Shinji schwieg abermals und nutzte die Gelegenheit, um sich etwas zu ordnen.

"Du hast also Gefühle für mich...", stellte er dann erst einmal fest, denn wäre es pure Lust gewesen, hätte Nate wahrscheinlich nicht einfach so aufgehört. "Wie lange denn schon?"

"Irgendwie schon immer", antwortete sein Gegenüber und grinste schief.

Schon immer. Das war erstaunlich... enttäuschend. Er hatte immer geglaubt, dass ihre Freundschaft etwas besonderes gewesen wäre, dabei war Nathan einfach nur in ihn verliebt gewesen. Was dann wohl auch bedeutete, dass ihre Freundschaft nur wegen dieser Gefühle so unsagbar tief gewesen war. Das traf ihn wie einen Schlag.

Für die meisten war Liebe wahrscheinlich eine Erweiterung von Freundschaft, aber für Shinji war es das nicht. Liebe war vordergründig ein Hormoncocktail, der einen zu Dingen trieb, die man sonst nicht tat. Zum Beispiel eine viel engere Freundschaft knüpfen, als man es normalerweise tat oder sich viel intensiver an jemanden ran hängen, obwohl der ihn ständig ablehnte. War alles, was Nate so besonders gemacht hatte, letztendlich nur ein hormonverseuchtes Gehirn gewesen?

"Das heißt...", er musste das jetzt wissen, "... all das besondere Zeug damals... und dass du jetzt so hartnäckig warst... das lag daran, dass du Gefühle für mich hast?"
 

"Au!", jammerte er im nächsten Moment und rieb sich den Kopf, nachdem Nate ihm eine nicht ganz sanfte Kopfnuss verpasst hatte.

"Entschuldige", sagte sein Peiniger sofort. "Aber ist das wirklich dein Ernst? Ja, ich hatte schon damals Gefühle für dich, aber das heißt noch lange nicht, dass ich nur deshalb eine coole Zeit mit dir hatte. Du warst in erster Linie mein bester Freund. Und als wir uns wiedergesehen haben, war ich deshalb so hartnäckig, weil ich meinen besten Freund aus der Highschool Zeit wieder lachen sehen wollte."

Das... klang gut. Vielleicht hatte es an den Hormonen gelegen aber... vielleicht auch nicht. Und... die Gefühle mussten ja auch irgendwo her kommen, oder? Wenn er zuerst sein bester Freund gewesen war, dann hatte sich das einfach daraus entwickelt. Ganz simpel. Und irgendwas sagte ihm, dass er normalerweise nicht so leicht zu überzeugend war.

Aber vielleicht wollte er Nate einfach glauben. Er wollte wieder naiv sein dürfen, wollte wieder vertrauen dürfen. Die letzte Zeit mit Nate war ereignisreicher gewesen, als die letzten fünf Jahre und abgesehen von der Sache mit Chris und seiner ständigen Nervosität, war es wirklich schön gewesen. Er wollte das nicht verlieren. Nicht wegen eines Kusses. Dennoch nagte da eine verborgene Angst, die er nicht abschütteln konnte.

"Und... das... wird dir nicht zu viel? Ich meine... man hört oft... dass sich das bei Männern... du weißt schon... irgendwie aufstaut... und dann die... Triebe... einfach übernehmen... du weißt schon..."

Nein, wahrscheinlich wusste Nate nicht und der verwirrte Blick, den er ihm zuwarf, bestätigte das nur. "Ich meine...", begann er deshalb noch einmal und versuchte bessere Worte dafür zu finden. "Was ist... wenn wir uns noch mal so nah kommen? Und das noch Mal eh... versehentlich passiert? Und du dann nicht mehr aufhören kannst?"

Ihm schlug das Herz bis zum Hals. Er wollte Nate ja auch nichts unterstellen. Er war nicht Chris, das sollte eigentlich klar sein: "Ich weiß du bist eine unglaublich fürsorgliche Person, bitte versteh mich nicht falsch. Es ist nur... die Hormone und die Triebe und... und... ich will nicht, dass mit dir das gleiche passiert, wie mit... mit Chris..." Denn vielleicht war Chris gar nicht Schuld an dem, was passiert war. Vielleicht war es nur die Schuld von Hormonen und der aufgestaute Frust. Was er da schon alles gelesen hatte...

"Ich kann verstehen, dass du dir Sorgen darüber machst. Aber Shinji... ich habe dir versprochen, dich nicht mehr anzurühren. Jedenfalls nicht ohne deine Erlaubnis. Und ich würde generell nichts machen, was dich verletzen oder verunsichern würde. Soweit habe ich mich schon unter Kontrolle. Wenn das nicht so wäre, wäre es vorhin auch nicht bei dem Kuss geblieben. Du hast immer Vorrang für mich, Shinji, schon immer gehabt."

Das war ja schön und gut, aber... "Darum geht es nicht."

Natürlich glaubte er Nathan, wenn er sagte, er würde nichts mehr tun. Nicht, weil er dachte, dass tatsächlich nichts mehr passieren würde, sondern, weil er wusste, dass Nate das ernst meinte. Nate glaubte wirklich an das, was er sagte, aber es ging nicht um das Bewusstsein...

"Es geht um deine nicht bewussten Entscheidungen. Und... irgendwie... ist es auch eine generelle Frage."

Er hatte doch keine Ahnung von so was. Sexuelles Verlangen war nie ein Problem von ihm gewesen. Aber er kannte genug andere Männer, allein durch das viele Spielen von MOBAs und MMORPGs und was sonst noch. Und er kannte die Geschichten, die sie erzählten. Wie anstrengend und ätzend es wäre, dass ihre Frauen nicht wollten und sie hatten über Samenstau und Schmerzen geklagt.

"Ich weiß nicht, wie das ist...", gab er dann leise zu, damit Nate verstand, warum er das fragte. Denn wenn er ehrlich war, hatte er das schon immer für übertrieben gehalten, aber er hatte nun einmal wirklich keine Ahnung von der Materie. "Ich weiß also nicht, was das mit einem macht. Ich hab noch nie wirklich Sex haben wollen..."

Außer... damals mit Nathan. Auch wenn es wirklich schwer war, das zuzugeben, aber er hatte wirklich mit ihm schlafen wollen.

"Ich hab da nur Sachen drüber gehört oder gelesen... Internet ist keine gute Informationsquelle für so was." War es wirklich nicht. Denn alles rund um Sex beruhte da auf Klischees und Vorurteilen. Zumindest hatte er das Gefühl. Er konnte eben nicht genau sagen, was denn nun kein Klischee war. Vielleicht... auch wenn es unangenehm war das zu erfragen, konnte Nate ihm da ja weiterhelfen. "Ich hab gehört... dass es irgendwann weh tut, wenn man... will und nicht darf; dass man irgendwann so viel 'Druck' hat, dass man das raus lassen muss." Und er musste das wissen, damit er, falls dem so war, peinlich genau darauf achten konnte, Nathan nicht versehentlich zu provozieren. Bei Chris hatte es sich ja augenscheinlich so sehr aufgebaut und er hatte ihn versehentlich dann auch noch provoziert, wenn auch vielleicht nur damit, dass sie sich wieder getroffen hatten.

"Äh... wow... nein... Ich glaube nicht, dass das so funktioniert.", antwortete Nate. "Es mag durchaus solche Leute geben, die ihren Gelüsten einfach freien Lauf lassen und später dann sagen, es hätte sich in ihnen schon so lange aufgestaut. Aber die haben alle kein Hirn und ihre Hemmschwelle ist sehr gering. Ich könnte mein Hirn nicht mal so sehr abschalten, dass ich nur noch schwanzgesteuert funktioniere."

Nate schien die Hockposition, in der er sich befand, zu anstrengend zu werden, weshalb er aufstand, sich streckte und sich dann wieder ans andere Ende des kleinen Sofas setzte. Shinji konnte nicht anders, als ihn mit Argusaugen zu beobachten. Irgendwo, tief in ihm drin, erwartete er immer noch, dass ihn 'das Monster' gleich anspringen würde.

"Ok...", war das einzige, was er fähig war, zu antworten. Stattdessen nahm er sich vorsichtig die Tasse vom Tisch, ehe er sich wieder in seine Ecke mümmelte. Bevor er jedoch einen Schluck trank, fuhr er sich leicht über die Lippen. Es kribbelte merkwürdig.

"Ich hab mich furchtbar erschreckt. Ich... sorry. Die Sache mit Chris... das ist gerade mal ein paar Stunden her... ich hab Panik bekommen." Das war aber auch auffallend schlechtes Timing von Nate gewesen. Sonst war der doch so überfürsorglich und vorsichtig. Das musste ein echt übler Kurzschluss gewesen sein.

Doch ehe Nate einsprang und ihm sagen konnte, dass nicht Shinji es war, der sich entschuldigen sollte und ihn überhaupt keine Schuld traf, redete er einfach weiter, denn das brauchte er nicht hören: "Sollte ich was beachten?"

Shinji legte die Stirn nachdenklich in Falten und sah auf seine Tasse. Das hatte in seinem Kopf noch nicht so komisch geklungen. "Ich meine... eh..." Er wusste eigentlich gar nicht, was er meinte. "Ich sollte vielleicht einfach aufhören, zu reden."

"Irgendwas beachten?", echote Nate dann aber. "Meinst du, damit ich dich nicht mehr ohne Vorwarnung abknutsche?"

Shinji zog sich bei dieser direkten Frage wieder etwas zusammen, als hätte er Angst, dass es jetzt sofort wieder passierte. Aber ein Blick auf Nate beruhigte ihn dann doch wieder, denn in seinen Augen lagen gefühlt tausend Entschuldigungen, die er noch nicht ausgesprochen hatte und es wahrscheinlich auch nie würde. Nicht alle, zumindest.

"Dann solltest du aufhören, mich so niedlich anzusehen."

Test

Aber noch ehe Shinji reagieren konnte, lachte Nate leise und winkte ab.

"Nein, natürlich nicht. Was solltest du schon beachten? Nur, wenn du mich küsst, könnte das dazu führen, dass ich erwidere."

Shinji war ein wenig überfordert mit Nates Antwort,beschloss aber, sie einfach so hin zu nehmen und nickte letztendlich. Eine Weile schwiegen sie beide, ehe er etwas tat, was ihn selbst ziemlich erstaunte. Er schob es einfach auf die Flasche Bier, die irgendwo halb ausgetrunken neben dem Sofa stand, und auf die Tatsache, dass er ansonsten nichts zu sich genommen hatte. Vielleicht schob er es auch auf seinen instabilen geistigen Zustand... oder beides. Wahrscheinlich brauchte er vor sich selbst auch nur eine Ausrede, weil er das tat, obwohl er eben noch vollkommen verschreckt und panisch gewesen war.

"Mach einfach gar nichts, ok?", murmelte er, nachdem er auf eine halbe Armlänge Entfernung an Nate heran gerückt war.

Shinji war bewusst, dass, wenn er seine Angst nicht jetzt überwand, das zu einer unüberwindbaren Kluft zwischen ihnen würde und obwohl Shinji das vor nur einer Woche noch wirklich begrüßt hätte, wollte er das jetzt mit aller Macht verhindern. Dennoch zögerte er deutlich, ehe er einen Finger seiner freien Hand auf Nates Arm legte. Nur ganz leicht. Dennoch huschte sein Blick sofort zu seinem Freund hoch, um zu sehen, ob noch alles in Ordnung war, in der irrationalen Angst, diese kleine Berührung würde ihn schon zum Tier werden lassen. Aber sein Kumpel blieb ganz ruhig und sah ihn irritiert, aber auch neugierig an.

Schnell wandte Shinji seinen Blick wieder auf den Arm. Augenkontakt fiel ihm gerade unglaublich schwer.

Noch nie hatte er mit jemandem umgehen müssen, von dem er wusste, dass er auf ihn stand, während er sich gleichzeitig selbst darüber bewusst war, dass er zumindest das selbe Geschlecht mochte. Das führte zu ein paar Merkwürdigkeiten... wie dieser Berührung zum Beispiel. Abgesehen davon, dass sie etwas steif war, fühlte sie sich an, als würde er Nate gerade zum ersten Mal berühren.

Er strich mit dem Finger vorsichtig den Arm entlang, immer darauf achtend, dass, wenn Nate nur zuckte, er sich sofort wieder zurückziehen würde. Einerseits natürlich aus Angst, andererseits aber auch, damit es für Nate nicht unangenehm wurde. Er wollte auf keinen Fall, dass der sich in dieser Situation unwohl fühlte.

Als sich Nathans Haare etwas aufstellten und er zum ersten Mal miterlebte, was für Reaktionen er hervorrufen konnte, mochten sie auch noch so klein sein, fuhr ein leichter Schauer durch seinen Körper. Plötzlich fühlte er sich nicht mehr so überwältigend unterlegen, denn offensichtlich hatte er durchaus Einfluss und damit ein wenig Macht auf den Körper seines Freundes. Und der hielt auch brav still.

Damit wurde das reine Überwinden von Angst zu mehr. Da war plötzlich Faszination und das Gefühl, nicht mehr wehrlos zu sein. Ein wichtiges Gefühl, eine wichtige Erkenntnis. Im Zweifelsfall würde ihm das auch nicht viel bringen, aber es beruhigte ihn dennoch. Nathans Gefühle waren keine reine Gefahr für ihn.

Da Nate nicht nur im letzten Eck des Sofas saß, sondern tatsächlich auf der Armlehne, löste sich Shinji von ihm, rutschte etwas weg und dirigierte ihn mit sanftem Zug ganz aufs Sofa. Kurz sah er wieder zu Nate auf, aber der hielt immer noch still. Nur die Verwirrung lag deutlich auf seinem Gesicht, doch Shinji konnte sich jetzt nicht erklären.

Die Tasse Tee, von der er immer noch nicht getrunken hatte, landete abermals auf dem Tisch, bevor Shinji sich rittlings auf Nats Beine setzte.

Er fragte sich kurz, ob er vollkommen übergeschnappt war, schob den Gedanken aber beiseite. Eine Ausrede hierfür konnte er sich später noch ausdenken.

Es war schwer in dieser Position keinen Blickkontakt aufzubauen, aber er versuchte sich einfach auf Nates Gesicht und nicht dessen Augen zu konzentrieren.

Das war der Mann, den er mochte und der gerne von ihm berührt werden wollte, sich sogar so sehr danach verzehrte, dass er einen kurzen Moment die Kontrolle über sich verloren hatte. Jetzt, wo Shinji nicht mehr unter ihm lag, war das kein furchteinflößender Gedanke mehr. Er fühlte sich nicht mehr machtlos. Nicht hier, wo er jetzt auf ihm saß und ihn damit sogar ein wenig überragte. Hier fühlte es sich so an, als hätte er Macht über den Anderen und nicht umgekehrt.

Nate hielt vollkommen still, auch wenn er dessen Blicke auf sich spüren konnte.

Shinji begann wieder am Arm, fuhr diesmal mit all seinen Fingerspitzen daran nach oben und achtete auf jede Regung von Nates Körper. Er fuhr auch über sein Oberteil, um zu sehen, ob die Reaktionen dort anders waren oder ähnlich intensiv.

Letztendlich kam er am Hals an. Er zögerte kurz, sein Blick noch einmal den von Nate suchend um zu verifizieren, dass alles in Ordnung war, ehe er auch dort mit seinen Fingern entlang fuhr. Die Reaktionen wurden deutlicher. Er konnte das leichte Schaudern jetzt spüren und als er über die Schlagader wanderte, konnte er auch den erhöhten Puls wahrnehmen.

Als er am Ohr ankam, fuhr er daran nur mit einem Finger entlang, von dort zum Kiefer, dann bettete er seine Hand auf Nates Wange.

Was er jetzt tat ging wahrscheinlich zu weit. Aber er musste für sich wissen, wie es sich anfühlte.

Die Berührungen hatten bei ihm selbst ein leichtes Kribbeln verursacht, etwas, was er so gar nicht kannte. Es war eine aufgeregte Freude darüber, dass er solche Reaktionen hervorrufen konnte. Und er bemerkte, wie er mehr dieser Reaktionen spüren und sehen wollte. Und das verwirrte ihn. Denn das kannte er so nicht. So was war immer Arbeit für ihn gewesen. Eine nervtötende Notwendigkeit, wenn er in einer Beziehung gewesen war. Bisher hatte er immer geglaubt, dass sexuelle Befriedigung hauptsächlich mit der Befriedigung der eigenen Bedürfnisse zu tun hatte, aber jetzt, wo er eigentlich keine Lust empfand, war es trotzdem aufregend zu beobachten, wie der Andere reagierte.

Langsam ahnte er, warum seine Freundinnen so unsagbar enttäuscht gewesen waren und ihm vorwarfen, keine Bindung eingehen zu können. Er hatte immer geglaubt, dass es ausreichte, wenn ihre Gelüste befriedigt würden, hatte aber nicht geahnt, dass die Reaktionen seines Körpers genauso wichtig dabei waren.

"Wenn es dir zu viel wird, oder ich dich emotional verletze, halt mich sofort auf. Ansonsten... lass mich bitte einfach machen."

Bevor Nate fragen konnte, was das alles sollte, beugte er sich zu ihm vor und küsste ihn. Es war etwas, was er ausprobieren musste, um sich selbst von seinen Vorlieben zu überzeugen. Es war gemein Nate dermaßen als Versuchskaninchen zu missbrauchen, dessen Gefühle auszunutzen, aber er redete sich ein, dass er durch den Schock, den Nate eben noch verursacht hatte, sowieso noch einen gut bei ihm hatte.

Er spürte die Bewegung sofort und dann hatte er eine Hand federleicht in seinem Nacken. Nicht drängend, nicht halten. Sie war einfach nur da. Aber er ertrug das nicht. Er wollte nicht berührt werden, es gab ihm sofort wieder das Gefühl eingesperrt zu sein und die Oberhand zu verlieren. Deshalb strich er die Hand sanft weg und richtete sich wieder auf.

"Nimm's... mir bitte nicht übel, aber ich ertrag' Berührungen gerade nicht."

Nate nahm das ohne Weiteres hin, legte seine Arme sogar demonstrativ auf die Rückenlehne und grinste ihn leicht an: "Dein Haus, deine Regeln."

Shinji war beruhigt. Nate ließ ihn tatsächlich machen, wies ihn nicht zurück, sondern hielt sich selbst sogar zurück, damit es Shinji besser ging. Wie hatte er nur je Angst vor diesem Mann haben können? Nate saß ganz ruhig da, ließ alles über sich ergehen und riss sich vollkommen zusammen.

Deshalb beugte sich Shinji auch wieder herunter und setzte den Kuss von vorher fort. Diesmal deutlich intensiver und fordernder, denn jetzt wo er wusste, dass alles in Ordnung war, war er auch mutiger.

Das Gefühl war... überwältigend. Anders konnte er es gar nicht beschreiben. Von seinen eigenen Lippen aus zog sich ein Kribbeln durch seinen gesamten Körper und immer wieder rannen kleine Schauer über seinen Rücken, die Lust auf mehr machten.

Der Kuss blieb Keusch, obwohl er gerne weiter gegangen wäre, aber er hatte Angst sich zu überfordern, wenn er jetzt einen Zungenkuss begann. Kurz flackerte das Gefühl in ihm auf, das er gehabt hatte, als Chris ihm seine Zunge in den Mund gezwängt hatte. Beinahe hätte er gewürgt, aber er schob die Erinnerung weit in den Hintergrund, er wollte das jetzt nicht. Er wollte sich weiterhin so gut und befreit fühlen, wie im Moment. Er wollte nicht an die Konsequenzen denken, nicht daran, dass er Angst hatte, man könnte ihn erwischen. Das hier war seine Wohnung, niemand konnte hier hinein sehen, niemand in diesem Haus interessierte sich für ihn und es würde auch niemand plötzlich an der Tür klingeln, denn der Einzige, der das tun würde, saß hier unter ihm.

Als er die Hände auf Nates Brust legte, konnte er den schnellen Herzschlag spüren und als Shinji letztlich doch dessen Lippen sanft auseinander drückte und mit seiner Zunge in seine Mundhöhle glitt, spürte er auch, wie Nates Mitte reagierte.

Lust

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Durchgebrannt

All die positiven Gefühle verschwanden sofort, nachdem Nate gekommen war und plötzlich fühlte Shinji sich unsicherer als jemals zuvor. Die Situation war merkwürdig und seine Erregung viel augenblicklich in sich zusammen. Kurz hatte er wirklich das Gefühl irre zu werden oder es schon zu sein. Er rutschte gerade von einem Gefühlsextrem ins nächste.
 

Nate reichte ihm ein Taschentuch, mit dem er sein beflecktes Shirt abtupfte. Erst als er bemerkte, wie seltsam es war, noch immer auf Nates Schoß zu sitzen, rutschte er zurück aufs Sofa und brachte dort Abstand zwischen sie beide. Er fühlte sich komisch.

"Okay... das kam etwas überraschend."

Die Reaktion von Nate war auch merkwürdig, auch wenn Shinji sich nicht ganz im Klaren darüber war, was er eigentlich erwartet hatte. Mehr als das jedenfalls. Bittere Enttäuschung legte sich in seinen Magen, ohne, dass er sagen konnte, was er eigentlich wollte.

"Alles okay?"

Aber, dass Nate selbst keine Ahnung hatte, wie er reagieren sollte, war doch kein Wunder, oder? Welcher Teufel hatte ihn eigentlich geritten? Nate hatte ihm vorhin Gefühle gestanden und er hatte nichts Besseres zu tun, als ihm einen runter zu holen? Wo war sein Verstand eigentlich, wenn er ihn einmal brauchte? Er war doch intelligent, wie schaffte er es, sich so dumm zu verhalten?

"Hab ich's übertrieben?", fragte er leise und fühlte sich plötzlich unsagbar klein. Wo war nur der Übermut von vor ein paar Minuten?

Er fühlte sich einfach nur noch unglaublich müde und ausgelaugt. Was war das nur für ein merkwürdiger, komplizierter Tag? Vielleicht wäre es besser, wenn er sich hinlegte und einfach schlief, bis alles wieder normal war. Aber die Aussicht darauf, sich mit seinen eigenen, wirren und irgendwie nicht einmal wirklich vorhandenen Gedanken und diesem beklemmenden Gefühl in der Brust alleine zu sein, machte ihm Angst.

"Nein", kam die einfach Antwort. Und noch ehe sich Shinji Gedanken um die abermals sehr einsilbige Antwort machen konnte, lag er plötzlich in Nates Armen. Automatisch und ohne überhaupt darüber nachzudenken, vergrub er sein Gesicht in Nates Brust.

"Ich denke... wir sollten besser Freunde bleiben."

Das tat weh. Natürlich hatte er nie vor gehabt, mit Nate zusammen zu kommen! Nein, ganz sicher nicht! Er wollte sogar jetzt schon vergessen, was er gerade eben gemacht hatte, weil ihm schlecht wurde, nur bei dem Gedanken.

Und dennoch tat es weh. Weil es sich so sehr wie Ablehnung anfühlte. Weil er gerade über sich hinaus gewachsen war und dafür so etwas zu hören bekam. Da half auch die große Hand nichts, die ihm sanft über den Hinterkopf streichelte.

Oder vielleicht doch... Ja, doch, ein wenig halfen die Streicheleinheiten doch.

Er schloss die Augen, in denen sich Tränen gesammelt hatten und drückte sich enger an seinen Freund. "Ich glaube, mir geht's nicht gut."

Einen kleinen Moment war es still, bis Nate antwortete: "Ist ja auch kein Wunder, du hast dich gerade das erste Mal mit Sperma besudelt."

Das sollte wohl ein Scherz sein und vielleicht hätte Shinji auch geschmunzelt, aber gerade war ihm wirklich nicht danach. Mehr kam von Nate nicht, aber die Hand strich weiter durch sein Haar und beruhigte ihn so ein wenig.

"Wie lange kannst du heute bleiben?", fragte Shinji leise, weil er nicht wusste, was er alleine tun sollte. Er würde ja doch nur wieder putzen, dabei war seine Wohnung schon seit Ewigkeiten nicht mehr so sauber gewesen wie im Moment. Er würde nur irgendwann den Boden durchscheuern, wenn das so weiter ging.

Am liebsten hätte er ja gefragt, ob Nate über Nacht bleiben konnte, aber er wusste nicht recht, wie er das ausdrücken sollte, ohne, dass es komisch klang und ob das überhaupt in Ordnung war. Er wollte nicht so wirken, als würde er Nathans Gefühle für sich ausnutzen.

Es war einfacher gewesen, als er sich von Menschen noch fern gehalten hatte. Da hatte er keine Gedanken darum verschwenden müssen, wie er sich am Besten richtig verhielt und wie er jemandem nicht weh tat.

Dennoch war er froh, dass Nate gerade bei ihm war. Um nichts auf der Welt wollte er, dass es gerade anders war. Hier, in den Armen seines Freundes, fühlte er sich sicher und das nicht nur, weil sein Freund über alle Maße bewiesen hatte, dass er sich im Griff hatte. Es war schon immer so gewesen. Wenn nur sein bester Freund bei ihm war, dann konnte er den Rest der Welt ausblenden, dann war es egal, was andere dachten oder was um ihn herum los war. Er wünschte, er könnte sich immer so fühlen.

"Im Prinzip warten auf mich keine Verpflichtungen." Nates tiefe Stimme brummte in dessen Brustkorb. "Oh, doch. Ich soll Hana morgen von der Schule abholen. Aber bis dahin bin ich ein freier Mann."

Ob er ihn doch fragen sollte? Wäre das nicht echt mies? Aber da bot Nate doch gleich auf dem Silbertablett an, dass er noch über Nacht bleiben konnte. Oder? Vielleicht verstand er das auch falsch.

"Ich muss dich außerdem noch in diesem Autorennspiel schlagen. Eher kann ich sowieso nicht gehen."

Und diesmal musste Shinji unwillkürlich lachen. Nur leise, aber er tat es, auch wenn das Lachen nicht ganz seine Gefühlswelt erreichte. Als wäre es nur ein Reflex. Es tat dennoch irgendwie gut. "Du willst also die ganze Woche bleiben? Sag das doch gleich!" Er sah nach oben und grinste Nate leicht an. Eine Art Herausforderung. Wenn er erst gehen wollte, wenn er ihn geschlagen hatte, dann konnte er das durchaus haben.

Dennoch war was anderes wichtiger. Statt seine Wohnung aufzuräumen, begann er seine Tagesstruktur zu richten. Auch das gab ihm etwas Sicherheit. Also löste er sich von dem anderen. "Aber zuerst sollte ich mal duschen. Und... du vielleicht auch? Ich hab zumindest T-Shirts und vielleicht auch Unterwäsche, die dir eventuell passen könnte." Wären immer noch ein wenig zu eng wahrscheinlich, aber es würde gehen.

Und er selbst müsste auch aus dem Shirt raus. Er fühlte sich seltsam schmutzig. Das war unangenehm. Als würden die Spermaflecken sich durch sein Shirt in seine Haut brennen.

"Klar, danke"

Als Shinji Nates übertrieben unschuldiges Lächeln sah, in Verbindung mit dem offenen Hemd, wurde ihm klar, dass die Sache mit dem Duschen auch falsch verstanden werden konnte. Deshalb stand er jetzt auch schnell auf und machte mit einem 'ich geh als Erstes' klar, dass er definitiv getrenntes Duschen meinte.

"Fühl dich wie zu Hause" Dann verschwand er einfach.

Im Badezimmer angekommen, riss er sich das T-Shirt vom Leib und stopfte es gleich in die Waschmaschine. Er machte sie nicht an, aber der Gedanke, dass das Shirt seine anderen schmutzigen Klamotten berührte, war ihm plötzlich zuwider.

Erst, als er unter der Dusche stand, wurde ihm langsam klar, dass etwas definitiv nicht stimmte. Er konnte nicht aufhören, sich zu waschen. Dieses Gefühl, schmutzig zu sein, verschwand einfach nicht.
 

Als er schließlich wieder ins Wohnzimmer kam, war seine Haut deutlich gerötet, aber er hoffte, dass es Nate nicht auffiel. Er hielt ihm Handtücher und Kleidung hin: "Du kannst jetzt, wenn du willst."

Ein paar Herzschläge lang hatte Shinji Angst, Nate würde nachfragen, doch der nahm nur die Sachen mit einem skeptischen Blick entgegen, bedankte sich kurz und verschwand dann im Bad.

Shinji setzte sich einen neuen Tee auf und mümmelte sich damit und mit einer Decke zurück aufs Sofa. Kurz hatte er wirklich darüber nachgedacht, ob er etwas essen sollte, doch sein rebellierender Magen hatte ihn sofort umgestimmt. Er wusste, dass er essen musste, aber er bekam nichts runter. Ein Tee mit Zucker musste also reichen.

Shinji konnte nicht sagen, wie lange Nate brauchte. Vielleicht war er eingedöst, denn erst als jemand die Wohnküche betrat, fand er wieder in die Realität zurück. Und wie er zurück fand.

Nate war das T-Shirt wohl doch zu eng oder ihm war noch zu warm vom duschen. Gut, in dem Zimmer mussten auch Saunatemperaturen geherrscht haben. Seine Tattoos zogen sich über beide Oberarme, bis fast zum Hals und leicht über die Brust. Es waren alles Motive aus der japanischen Mythologie, wenn er richtig sah. Und es stand ihm fantastisch. Die Farbe zog sich ästhetisch über die wohldefinierten Muskeln, betonte sie sogar etwas und es passte einfach so unglaublich gut zu Nate.

Auf den Anblick reagierten auch Shinjis überstrapazierte Nerven und sandten ein Kribbeln in seine unteren Regionen. Ein Glück, hatte er sich mit einer Decke zugedeckt. Vorsichtshalber zupfte er sie aber noch zurecht, damit man auf keinen Fall etwas verräterisches sehen konnte. Aufhören zu starren konnte er allerdings nicht. Er nickte nur kurz, als Nate fragte, ob er am Fenster wieder eine rauchen durfte und folgte seinem Gast dann mit den Augen. Die Tattoos gingen auch über den Rücken weiter. Shinji kribbelte es in den Fingern, Nate noch einmal zu berühren.

Erst als Nate das Shirt doch überzog, das sich nur widerwillig über die Muskeln spannte, konnte Shinji den Blick abwenden.

"Ist dir kalt?", fragte Nate etwas verwundert vom Fenster her. Anscheinend hatte er die Decke erst gerade bemerkt.

"Ist gemütlicher so", antwortete Shinji schulterzuckend und nippte an seinem Tee. "Außerdem beschwert sich mein Kreislauf ein bisschen, weil ich zu wenig gegessen habe."

Nate schüttelte missbilligend den Kopf, während er einen tiefen Zug nahm. "Du brauchst eindeutig Zucker. Willst du eine heiße Schokolade?"

Dass sich Nate nach allem noch immer so herzzerreißend um ihn kümmerte, ließ Shinji schmunzeln. Dennoch schüttelte er den Kopf. "Wahrscheinlich hab ich nicht einmal Zeug dafür im Haus. Mach dir nicht solche Umstände. Ich krieg sicherlich heute Nacht irgendwann Hunger." Wäre nicht ungewöhnlich. Durch seinen sonstigen Tagesrhythmus aß er meistens mitten in der Nacht irgendwann. Es gab den ein oder anderen Fast Food Service, der bis früh morgens noch lieferte. Sehr praktisch.

"Klingt nicht gerade überzeugend", erwiderte Nate nur kritisch, zuckte dann aber mit den Schultern. "Wenn ich ehrlich bin, würde ich selbst auch eine trinken wollen. Aber wenn du nichts dafür im Haus hast... auch okay..."

Shinji verengte kritisch die Augen. Er wusste, was Nate da tat und es funktionierte. Die anerzogenen Höflichkeitsregeln setzten ein und es begann dieses Gefühl an ihm zu nagen, dass er ein schlechter Gastgeber war.

"Ich schau mal nach", murmelte er, stellte die Tasse auf den Tisch und ging dann rüber zur Küchenzeile. Nate trank gar keine heiße Schokolade! Die war ihm viel zu süß! Das machte der nur, damit Shinji auch eine trank.

Dennoch durchsuchte er die Schränke, bis er Fertigpulver fand.

"Haben die Tattoos eigentlich eine Bedeutung?", fragte er, um sich selbst von dem Umstand abzulenken, dass er gerade tatsächlich heiße Schokolade ansetzte. Zwei Tassen...

"Nicht wirklich", kam die Antwort und nach einer kurzen Pause: "Trotzdem kann ich jedem Motiv ein Ereignis zuordnen."

Während die Milch warm wurde, wandte sich Shinji um und sah so, wie Nate auf den Drachen zeigte, der sich um seinen Arm wand. "Das hier habe ich nach meinem ersten Einsatz stechen lassen. Und das hier..." Er zeigte auf einen kleinen, pummeligen Teufel, den geschwungene Wellen zu verschlingen drohten, "als ein guter Kumpel von mir gestorben ist."

Hätte Shinji gewusst, wie ernst die Themen waren, die an den Motiven hingen, hätte er wahrscheinlich nicht gefragt, aber Nates Job war nun einmal ein großer Teil von dessen Leben und Shinji sollte lernen, damit umzugehen, ohne ständig Angst davor zu haben, unsensibel zu sein.

"So was wie für andere ein Fotoalbum?", fragte er. "Also eine Ansammlung von verschiedenen Erinnerungen?"

Nate verstaute seine Packung Zigaretten wieder und schloss das Fenster.

"Ja, kann man so sagen. Jedes einzelne Tattoo erinnert mich an etwas, das zu der Zeit passiert ist. Sie lassen mich nicht vergessen."

Dass Nates aller erstes Motiv gestochen worden war, als er Shinji aus den Augen verloren hatte, würde dieser auch bald erfahren.

"Wird unser Wiedersehen denn auch verewigt?", fragte er neugierig, auch, um das Thema in etwas angenehmere Gefilde zu lenken. Dann aber legte er doch die Stirn wieder in Falten und hätte so beinahe die Milch überkochen lassen. Schnell goss er die Milch in die beiden Tassen und rührte das Pulver unter. "Na ja... vielleicht nicht gerade unser Wiedersehen."

Er hatte sich doch ziemlich eklig verhalten. Nein, nicht nur ziemlich. Er war ein riesiges Arschloch gewesen. Nathan war ein so wundervoller Kerl und all die Jahre hatte er ihm die Schuld an seinen Problemen gegeben. Einfach nur, weil er einen Sündenbock gebraucht hatte.

Nate lachte leise. "Ich bin ohnehin noch nicht ganz fertig. Hier fehlt noch was..." Damit klopfte er sich leicht auf die Brust.

Shinji lächelte leicht auf die Ansage und nahm die beiden Tassen, mit denen er rüber zum Wohnzimmertisch ging und sie abstellte.

"Du... ich... es... es tut mir echt leid. Wie ich mich verhalten hab... ich war echt scheiße zu dir und dazu hatte ich weder das Recht, noch einen Grund..."

Nate machte das Fenster zu und kam sofort zu ihm, setzte sich ebenfalls und nahm seine Hand von seinem Arm.

"Schon okay, aber bitte hör auf, das macht mich echt fertig."

Etwas verwundert sah Shinji auf die gerötete Stelle am Arm, die er schon wieder zu kratzen begonnen hatte ohne es zu bemerken.

"Ich schwöre, ich hatte mir das abgewöhnt.", beteuerte er sofort. Sozialer Umgang stresste ihn einfach. All die Regeln und Stolperfallen, das machte ihn wahnsinnig.

"Du hast ein paar hässliche Dinge erlebt", fuhr Nate fort, "Es ist kein Wunder, dass du Abstand halten wolltest. Aber ich hoffe, dass du mittlerweile weißt, dass ich immer auf deiner Seite bin."

Bei diesen Worten konnte Shinji nicht anders, als zu lächeln. Es war so typisch Nate. "Danke", sagte er aus voller Überzeugung. "Dass du nicht aufgegeben hast." Und dass du immer noch nicht aufgibst. War ja nicht so, als wäre er gerade psychisch stabil und nicht furchtbar anstrengend.

"Aufgeben war für mich nie eine Option." Und damit ließ Nate ihn los, nahm sich seine Tasse und trank einen Schluck.

Shinji konnte sich ein dunkles Grinsen nicht verkneifen, als er sah, wie Nate das Gesicht verzog.

"Ich wusste, du wolltest eigentlich gar keine." Damit nahm er sich seine Tasse und genoss, wie die warme Schokolade seine Kehle hinunter floss.

"Ich hab auch extra zwei Löffel mehr rein gemacht, weil ich ja weiß, dass du so eine Naschkatze bist.", lächelte er ihm unschuldig über den Tassenrand hinweg zu. Er war ja schließlich nicht blöd und Rache musste sein. Er ließ sich nicht ungestraft derart manipulieren. Und er wusste, dass Nate austrinken würde, sein Kumpel konnte keine Lebensmittel wegwerfen.

"Deshalb hast du sie selbst gemacht" Doch statt sauer zu sein, grinste Nate ihn nur dunkel an: "Das bekommst du irgendwann zurück, verlass dich drauf."

Was Shinji nur ein trockenes Lachen entlockte. Warum nur rann ihm gerade ein warmer Schauer den Rücken hinab? "Ich zittere vor Angst"

"Ja, solltest du auch! Denk dann an mich, wenn deine Milch plötzlich verklumpt ist und sauer schmeckt." Aus Nates Augen sprach der pure Schalk und Shinji kicherte bei der Vorstellung, wie Nate versuchte, seine Milch altern zu lassen. Das musste er wirklich nicht weiter vertiefen, deshalb lenkte er abermals vom Thema ab: "Hast du ein Lieblingstattoo?"

Wieder stieg sein Gast freudig darauf ein und zog das T-Shirt etwas hoch, dass Shinji einen weiteren Blick auf die muskulöse Brust werfen konnte.

"Ich finde sie alle cool, aber das hier" und damit zeigte er auf ein Tattoo, das japanische Fischerboote auf welliger See darstellte. "...ist was Besonderes. Die Tsunami von Hokusai. Das war mein Erstes."

Das sagte Shinji entfernt was, aber er musste sich nicht daran erinnern, um zu erkennen, dass das ein sehr ausdrucksstarkes Motiv war.

"An was erinnert es dich?", fragte er neugierig nach.

"An dich."

Sofort schnellte Shinjis Blick von dem Tattoo weg und zu Nates Gesicht hoch, auf dem ein süffisantes, selbstsicheres Grinsen lag.

Ob Nate es nach ihrer gemeinsamen Nacht hatte stechen lassen? Obwohl... wohl eher nicht. Daran hatte der Andere sich nicht wirklich erinnert. Aber wann dann? Nach ihrem Abschied? So ein Symbol bedeutete doch Kraft und Stärke, aber auch negative Veränderung. Zerstörung. Verlust.

Shinji musste schlucken, lächelte aber tapfer, damit Nate nicht dachte, er hätte etwas falsches gesagt. Hatte er ja auch nicht, ganz im Gegenteil.

Shinji plagte jetzt nur noch mehr das schlechte Gewissen. Jahrelang hatte er gedacht, Nate hätte ihn einfach vergessen, dabei hatte er ihn immer bei sich getragen. Und dann auch noch so nah an seinem Herzen. Er war sein bester Freund und ein wenig mehr gewesen, Shinji hätte ihm vertrauen sollen.

Um keine zu lange Stille entstehen zu lassen, trank Shinji schnell seine Tasse leer, um die dunklen Gedanken gleich mit hinunter zu spülen und sah seinen Gast dann herausfordernd an: "So, du bleibst also so lange, bis du mich in dem Rennspiel geschlagen hast? Dann ruf schon mal ein Umzugsunternehmen an, denn das kostet dich sicher ein paar Jahre."
 

Die Stimmung wurde schnell wieder lockerer. Shinji zog Nate mit seinen nicht vorhandenen Spielkünsten auf, während der Spaß daran hatte, zu verlieren. Als sie dann aber über eine Belohnung für den Gewinner redeten und Nathan nicht nur das Reden über seine dunkelsten Geheimnisse, sondern auch eine Massage anbot, brannte bei Shinji endgültig eine Sicherung durch. Nachdem ihm "Wenn du dich danach auch noch um meine Erektion kümmerst" herausgerutscht war, setzte er das Auto vor Schreck so hart gegen eine Wand, dass Nate ihn auf den letzten Metern vor dem Ziel noch überholte und die Runde für sich entschied.

"Ich weiß echt nicht, was heute mit mir los ist", murmelte er, nachdem Nate aufgehört hatte zu lachen. "Ständig setzt mein Verstand aus und dann passiert so was"

"Das macht dich nur niedlicher." Shinji konnte das Grinsen aus der Stimme heraus hören, denn Nate jetzt in die Augen zu sehen, war ihm unmöglich. "Verrucht niedlich"

Nate nahm noch einen großen Schluck von der Trinkschokolade, ehe er den Controller wieder in die Hand nahm. "Du musst das Auto auswählen, oder willst du gleich ins Schlafzimmer?"

Nate sagte das ganz locker, weil er es offensichtlich nicht ernst meinte, doch es brachte Shinji dazu, den Controller zur Seite zu legen.

Das Video

Sie hatten nicht miteinander geschlafen. Eigentlich hatte Shinji wirklich gewollt, aber als sie sich geküsst hatten und Nate versucht hatte mit seiner Hand unter sein Oberteil zu gleiten, da spürte er plötzlich wieder diesen Ekel, den er auch gespürt hatte, als Chris ihn berührte. Es hatte sich angefühlt, als wäre er wieder in dieser Toilettenkabine, als würde man seinen Kiefer aufzwängen, damit man die Zunge hinein quetschen konnte. Er hörte die Worte wieder, dass es ihm doch gefalle.

Da war er zurückgewichen und Nate hatte sofort geschaltet. Hatte beruhigend auf ihn eingeredet, ihm versichert, dass sie nichts tun mussten, was sie nicht wollten und hatte ihn letztendlich, als sich Shinji wieder beruhigt hatte, in den Arm genommen.

Sie waren dennoch zusammen zu Bett gegangen und Nate hatte ihn gehalte; hatte ihn beschützt vor der Außenwelt und hatte ihm so geholfen, zumindest kurz weg zu dösen. Doch Chris war auch in seinen Träumen. Und nicht nur Chris. Da war auch das hassverzerrte Gesicht seines Vaters gewesen, die Ablehnung seiner sogenannten Freunde. Und da war so viel Schwärze gewesen, die gedroht hatte, ihn zu ersticken, dass er kurz darauf schweißnass wieder aufgeschreckt war. Nate war sofort wieder da und hatte ihn gestreichelt, doch diesmal half es nicht. Irgendwann war Nate wieder eingeschlafen und hatte Shinji somit mit seinen Gedanken allein gelassen. An Schlaf war nicht mehr zu denken.

Hast du dir das Video angesehen? Du bist vor Lust zergangen als Nate dich genommen hat! Das war keine Phase!

Diese Worte gingen ihm nicht aus dem Kopf. Das Video... dieses verdammte Video! Immer und immer wieder nur das. Warum? Was war denn verdammt noch mal darauf zu sehen, was so viel bewies? Da hatten zwei Kerle miteinander geschlafen, ja... und? Das verdammte Internet war voll mit dem Zeug! Warum verfolgte es ihn dann so sehr? Was nur faszinierte die Menschen daran?

Ehe er es selbst richtig mit bekam, war er aufgestanden. Nate schlief den Schlaf der Gerechten und Shinji ließ ihn. Das, was er vor hatte, musste sein Freund nicht mitbekommen.
 

Er setzte sich im Wohnzimmer wieder vor seinen Laptop, entsperrte ihn und wagte sich dann in die tiefsten Tiefen seiner Festplatte. Er hatte diese Datei schon seit langer Zeit, hatte sie aber nie geöffnet. Und er versteckte sie auch mit allen Sicherheitsvorkehrungen, die er kannte. Es dauerte einen Moment, bis er sie öffnen konnte. Der Mediaplayer sprang in den Vordergrund, doch noch bevor auch nur der erste Frame des Videos zu sehen war, pausierte er.

Wollte er sich das wirklich antun? Wollte er das wirklich sehen? Und hören? War es nicht schlimm genug, dass er sich daran erinnerte? Musste er es jetzt auch noch von außen beobachten? - Ja. Das war eine ziemlich simple Antwort, aber ja. Er musste sich das antun. Er musste wissen, was all die anderen gesehen hatten. Es ging nicht anders. Es wurde Zeit.

Seine Hand schwebte eine weile über der Space-Taste, mit der er das Video wieder starten konnte, doch nach einem Blick über den Tisch, auf dem tausend Tassen verteilt waren, stand er erst einmal auf, räumte alles weg und begann zu spülen.
 

Der Rest der Nacht wurde pure Quälerei. Shinji konnte nicht sagen, wie oft er das verdammte Video gestartet und wieder angehalten hatte. Nachdem seine gesamte Wohnung - bis auf das Schlafzimmer natürlich - wieder einmal geputzt worden war, hatte er mit Panikattacken, Heulkrämpfen - ja... er hatte geflennt wie ein kleines Mädchen, so sehr schob er Panik vor dieser Ansammlung von Bildern - und Brechreiz zu kämpfen gehabt. Nun... nicht nur Brechreiz...

Und irgendwann... irgendwann kurz vor Sonnenaufgang, da hatte er es geschafft. Nicht, ohne sich zwischendurch noch mehrmals fast zu übergeben. Irgendwann gab sein Magen einfach nichts mehr her. Und dann kamen anderen Empfindungen, die ihn fast noch mehr quälten.

Da war ungewollte Erregung, gepaart mit dem Ekel darüber, dass er das tatsächlich so anregend fand.

Da war Bedauern darüber, was er verloren hatte, nur, weil andere für ihn bestimmt hatten, was richtig und was falsch war.

Da war die Sehnsucht, dort weiter zu machen, wo sie damals aufgehört hatten. Nach dem vergangenen Tag, so furchtbar er auch gewesen sein mochte, war dieser Gedanke gar nicht mehr so abwegig.

Da war noch mehr Ekel, denn er hatte das Gefühl, dass es ihm nicht erlaubt sein sollte, doch so einfach dem Trauma, das er nach gestern haben sollte, entkommen zu sein.

Da war pure Müdigkeit, weil er seit gefühlt einer Woche nicht geschlafen hatte.

Da war Gleichgültigkeit, weil er einfach nichts Schlimmes an dem Video finden konnte.

Da waren tief vergrabene Gefühle, für den Mann, der nur ein paar Meter entfernt in seinem Bett lag.

Letztendlich war da auch Faszination über das, was er sah. Hier, vergraben in seinen eigenen vier Wänden, wo niemand ihn sehen konnte, wo er sicher war vor der Außenwelt, da konnte er tatsächlich Faszination dafür empfinden. Denn was er vor sich hatte, war kein bloßer Porno. Es war keine rohe Lust, die er sah. Nein... es war so viel ästhetischer.

Man bemerkte an den manchmal sehr fahrigen Bewegungen, dass sie beide ziemlich betrunken gewesen waren, aber man sah auch eindeutig die Gefühle füreinander. Da waren immer wieder Blicke voller Zuneigung, sanftes Streicheln und das sinnliche flüstern eines Namens. Jeweils eine ihrer Hände blieben miteinander verschränkt, während Nate ihm immer wieder sanft durchs Haare streichelte. Küsse wurden ausgetauscht, die so viel Gefühl ausstrahlten, dass es ein Kribbeln in seinem Bauch verursachte.

Wie konnte das nur irgendwer verurteilen? Das war Shinji in diesem Moment unbegreiflich. Es war so schön... so rein... er konnte einfach nicht verstehen, wie man so etwas abstoßend finden konnte.

Und langsam musste Shinji auch erkennen, dass die Wut, die er Nate gegenüber empfunden hatte, auch nur seine Art gewesen war, ihn in Erinnerung zu behalten. Er hatte ihm nicht nachtrauern dürfen, hatte ihn nicht vermissen dürfen. Aber er hatte ihn auch nicht vergessen können. Wut war das einzige Ventil gewesen, das ihm zur Verfügung gestanden hatte, denn alles andere hätte ja seine Gefühle für den anderen preis gegeben.
 

Als Nate Stunden später ins Wohnzimmer kam, saß Shinji noch immer auf dem Sofa. Fest eingehüllt in eine Wolldecke, die Augen verquollen, das Gesicht leichenblass mit tiefen, schwarzen Ringen unter den Augen, saß er da und schaute sich das Video noch immer an. Sein Innerstes fühlte sich leer an und obwohl er Nate bemerkte, starrte er weiter wie hypnotisiert auf den Bildschirm.

"Warum siehst du dir das an?"

Die Couch neben ihm gab etwas nach, als der schwere Körper sich darauf sinken ließ.

"Weiß nicht...", antwortete Shinji, weil er den Grund wirklich nicht mehr kannte. Doch sein müdes Hirn gab einfach weiter Signale und sein Mund bewegte sich ganz automatisch:

"Chris hat mir das Video als Beweis vorgelegt, dass ich definitiv nicht hetero bin... und irgendwie war mir danach, es anzusehen."

Nate nahm diese Aussage einfach so hin, alles andere wäre sowieso unsinnig gewesen, denn Shinji konnte es nicht besser erklären.

"Wow... ich seh echt nackt aus, ohne Tattoos."

"Ich find's ganz hübsch", sagte er, ohne den Kontext der Tattoos wahrzunehmen oder den Blick vom Monitor abzuwenden. "Es hat was... man sieht, dass wir beide uns damals sehr gemocht haben. Und dass du schon damals unglaublich vorsichtig warst..."

Ja, das war ihm auch aufgefallen. Nate hatte ihn angefasst, als wäre er eine wertvolle, aber zerbrechliche Vase gewesen. Er war ganz vorsichtig und zärtlich gewesen. Nate hatte eben schon immer auf ihn aufgepasst. Ein Umstand, der ihn damals manchmal wirklich genervt hatte. Heute war es entspannend, sich auf den anderen derart verlassen zu können.

"Hübsch? Echt?" Nate schwieg dazu, sah nur mit ihm zusammen auf den Bildschirm und schien die Worte abzuwägen. Da er ihm nicht widersprach, ging Shinji davon aus, dass er ihm zustimmte.

"Wäre ich geblieben... hätte das etwas an deiner Situation geändert?"

Shinji beugte sich jetzt doch vor und pausierte das Video. Das schien ihm kein Gespräch zu werden, bei dem man Stöhnen als Hintergrundgeräusch haben wollte.

"Ich hab dich mit den ganzen Problemen allein gelassen.", fuhr Nate fort. "Ich wusste zwar nichts davon, aber trotzdem. Ich werde das Gefühl nicht los, dich im Stich gelassen zu haben."

Die Stille, die sich kurz nach diesen Worten über sie legte, war so allgegenwärtig, dass Shinji kurz erschauerte, ehe er antwortete:

"Vielleicht hätte unsere Clique nicht so extrem reagiert. Aber das nur vielleicht. Aber es wäre einfacher gewesen, weil da jemand gewesen wäre, der das mit durchgemacht hätte. Jemand, der auf meiner Seite gewesen wäre, der mir hätte sagen können, dass alle anderen Idioten sind. Wir hätten uns gehabt, egal, was die anderen gesagt hätten. Spurlos wäre das sicher nicht an mir vorbei gegangen... aber... es wäre nicht so extrem gewesen."

Er seufzte dann aber und fuhr sich kurz durchs Haare: "Oder ich hätte mich von dir fern gehalten, hätte dich gemieden, weil es mir peinlich war und alles wäre exakt so gekommen, wie jetzt auch." Nun ja, das war ein unwahrscheinliches Szenario, weil Nate sicherlich nicht locker gelassen hätte, aber es war möglich. Wer wusste schon, was die ganze Ablehnung aus Nate gemacht hätte? Der war zwar wie ein Fels in der Brandung, aber sicher wäre das auch an ihm nicht einfach abgeprallt.

"Aber du hast mich nicht im Stich gelassen.", setzte Shinji noch eindringlich nach. "Du konntest nichts dafür. In dem Alter zieht man mit seinen Eltern mit. Dafür kannst du nichts. Das war alles nur ein unglücklicher Zufall und genau das wusste ich all die Jahre eigentlich auch. Ich... hätte dir das nie vorwerfen dürfen." Aber das Thema hatten sie schon gestern gehabt. ... gestern. Es kam ihm vor, als lägen Tage dazwischen, nicht Stunden.

Obwohl Nate ihn während seiner Worte nicht angesehen hatte, hatte er seine Hand ergriffen und hielt sie. Sie verschwand fast in der großen Pranke und Shinji erschauerte etwas, als er sich daran erinnerte, wie es sich angefühlt hatte, als sie warm und fordernd über seine Haut gestrichen hatte.

"Ich hoffe du weißt, dass das kein zweites Mal passieren wird?", fragte Nate da und richtete seinen fernen Blick wieder ins hier und jetzt. "Wenn mein Urlaub einmal zu Ende ist und ich weg muss, komme ich später wieder hierher zurück und ich erwarte, dass du dann auch da bist."

Das klang fast wie ein Befehl, der Shinji kurz in Angst versetzte. Es war ein dunkles Versprechen, als würde Nate ihn so lange jagen, bis er ihn wieder gefunden hatte, sollte er es wagen zu verschwinden. Zum Glück wusste Shinji wie es gemeint war. Denn wenn er wirklich ernsthaft 'Nein' sagen würde, würde Nate das akzeptieren. Wahrscheinlich nicht ganz kampflos, aber er würde sich niemals in sein Leben zwingen, wenn Shinji ihm deutlich machte, dass er nichts mit ihm zu tun haben wollte. Aber das wollte er ja gar nicht. Das hatte er nie gewollt. Er hatte immer seinen besten Freund zurück haben wollen, auch wenn es anfangs ganz und gar nicht so ausgesehen hatte.

Shinji schluckte. Wann war es eigentlich so weit gekommen? Wann war es normal geworden, dass seine Hand in Nates lag? Wann war es klar geworden, dass das zwischen ihnen, was auch immer es war, eine neue Chance bekam? Er wusste es nicht. Aber es war auch nicht wichtig. Denn es fühlte sich gut an und alles andere als falsch.

"Ich bin da", hauchte er leise, als hätte er Angst, diesen Moment kaputt zu machen. "Und falls nicht... falls ich doch wieder die Stadt wechseln muss, dann verspreche ich, wird deine Schwester Bescheid wissen." Und die nächsten Worte fühlten sich genauso natürlich und selbstverständlich an, wie die Hand, die seine umschloss: "Aber ich warte. Das weißt du hoffentlich. Jeden Tag... bis du wieder zurück kommst."

"Shinji..." Nates Stimme hörte sich plötzlich ganz rau und zittrig an. "Was genau fühlst du jetzt für mich?"

Der nächste Schritt

Shinjis Hand zuckte zurück, als hätte er sich verbrannt. Am liebsten wäre er aufgestanden und weg gelaufen. Nur Nates hoffnungsvoller Blick hielt ihn davon ab. Ein Blick, den er kaum ertragen konnte.

"Hör mal..." Shinji rückte etwas weg von dem Anderen.

Unfair, hallte es in seinem Kopf. Du bist unfair.

Er wollte Nate nicht weh tun, wollte ihn nicht enttäuschen, aber er konnte nicht anders. "Du hast alles Recht der Welt sauer zu sein... aber... aber ich kann das noch nicht."

Was genau er nicht konnte, wusste er selbst nicht. Es aussprechen? Es empfinden? Waren da Gefühle? Er wusste es ja selbst nicht. Und irgendwie wollte er es auch nicht wissen. Er wollte sich nicht damit auseinander setzen müssen. Konnte es nicht so bleiben wie jetzt? Musste er sich entscheiden? Hier? Jetzt?

Doch statt sauer zu sein, verwuschelte Nate ihm nur wieder die Haare. Und dann griff Nathan wieder seine Hand und hielt sie, als wolle er ihm sagen, dass alles in Ordnung war, dass sich durch die Abweisung nichts geändert hatte. Und vielleicht hatte es das auch nicht.

"Sag mir, wenn du dich entschieden hast. Ich habe schon mein halbes Leben auf dich gewartet und vermutlich werde ich das auch noch länger tun."

Jetzt wurde Nate aber auch unfair. Ihm das einfach so zu sagen. Und ihn dabei so treuherzig anzusehen, wie ein Hund sein Herrchen.

"Ich will dir das sagen können, ohne dabei zu heulen, oder mich danach im Badezimmer einzusperren oder mich zu übergeben..." Halt, stopp!... nein. Da fehlten Wörter, die in seinem Kopf noch da gewesen waren. Da fehlte 'falls' und 'vielleicht' und 'sollte es positiv ausfallen'.

Nate lachte leise, aber es klang nicht fröhlich. Es klang mitfühlend und als er ihre Hände hob und sein Arm aus der Decke lugte, wusste Shinji auch wieso. Nate hatte mitbekommen, was er die halbe Nacht getrieben hatte. Sein Arm war immer noch rot, genauso wie wohl der Rest seines Körpers. Er wusste nicht, wie oft er duschen gewesen war, aber Nate hatte es wohl gehört.

"Vielleicht glaubst du mir nicht, aber das macht mich echt fertig, wenn ich das sehe."

Shinji wusste das, aber es änderte nichts. Es nährte nur sein schlechtes Gewissen darüber, dass er mit der ganzen Thematik so gar nicht klar kam. Und es beschämte ihn, dass Nate das ständig mitbekam. Was musste der auch von ihm denken?

"Ich weiß gar nicht, was du überhaupt von mir willst.", murmelte er mutlos. "Ich stolpere gerade von einem Gefühlsextrem ins nächste und du darfst alles ausbaden. Ständig blocke ich ab, bin unfreundlich... und angenehm mit anzusehen, dass ich mich davor ekele, nachdem wir uns nahe gekommen sind, kann es ja auch nicht sein."

"Shinji" Ohne ihn wirklich darum zu bitten, schaffte es Nate mit diesem einen Wort, dass er ihn ansah. "Du hast dich zwar verändert, aber der Kern ist immer noch derselbe. Du bist zuverlässig und loyal. Du bist sensibel genug, dich in andere hinein zu versetzen und hinter deiner Fassade wesentlich freundlicher als ich."

Gelobhudelter legte skeptisch die Stirn in Falten. War Nate sich da wirklich sicher, dass er von ihm redete? Loyal... ja okay, vielleicht. Zuverlässig auch. Sensibel... ließ er auch noch irgendwie zählen. Aber freundlich? Unwillkürlich musste er lachen. "Das muss aber ganz schön weit hinter der Mauer liegen."

"Wenn es darauf ankommt, dann ja. Ich hätte Chris krankenhausreif geschlagen, wenn du nicht da gewesen wärst."

Shinji verstummte wieder. Gut, ja. In dem Sinne war er wirklich freundlicher. Aber er sah auch wirklich keinen Sinn in Gewalt. Aber Nate auch nicht, solange niemand seinen Liebsten weh tat.

"Ist doch auch eher die Frage, was du mit mir willst.", warf Nate dann ein. Offenbar hatten sie beide da ziemlich große Bedenken. "Du wärst sehr oft und für ziemlich lange Zeit allein. Ich bin manchmal an die neun Monate nicht da. Wäre das wirklich okay für dich?"

Warum redeten sie eigentlich plötzlich darüber? Schlug sein Herz gerade so schnell, weil er Angst hatte oder weil er aufgeregt war?

"Das Alleinsein an deinem Wegsein wäre nicht das Schlimme." Allein war er sein halbes Leben gewesen und er war damit klar gekommen. Natürlich war es etwas anderes, wenn man jemanden aktiv vermisste, aber dennoch. Das würde gehen. "Dass ich nicht wüsste, ob du wieder kommst, schon eher."

Ein verwunderter Blick traf ihn: "Und mit dem Rest würdest du klar kommen?" "Versteh mich nicht falsch, einfach wäre das sicher nicht. Aber ja, ich denke schon. Und das wäre ja auch nicht für immer so, oder? Es wäre wohl sehr lange so, aber irgendwann bist du ja auch zu alt für solche Einsätze, oder? Solange ich die Aussicht darauf habe, dass ich irgendwann einmal ein normales Leben mit dir führen kann, ist es in Ordnung für mich, den Rest als sehr lange Testphase zu sehen. Die ersten Jahre kann ich die Zeit nutzen um an mir zu arbeiten. Ganz in Ruhe, ohne mir Gedanken darum machen zu müssen, dass es dir nicht schnell genug gehen könnte. Das nimmt mir tatsächlich ein wenig Druck.. " Er bemerkte gar nicht, dass er längst so redete, als sei diese Diskussion nicht rein hypothetischer Natur.

"Ich weiß nicht, wie es wird, wenn ich die Zeit mal nicht mehr für mich brauche. Aber... es ist nun einmal dein Job. Eine Beziehung ist immer auch irgendwo schwer, oder? Und ich habe mich nun wirklich schon durch Schlimmeres durch gebissen. Wir müssen eben zusehen, dass wir die paar Wochen im Jahr, die du da bist, so effektiv nutzen, dass wir beide davon zehren können."

Nate schwieg eine Weile, wahrscheinlich etwas überfahren von dem Redeschwall. Shinji konnte selbst nicht sagen, woher der kam, aber er war zu müde, um darüber nachzudenken. Vielleicht hätte er so ein Gespräch nicht in diesem Zustand führen sollen.

"Es wäre nicht für immer, nein.", ging Nate dann auf die vorher gestellte Frage ein. "Aber es gibt keine richtige Altersgrenze. Die meisten hören auf, weil es ihnen einfach zu viel wird. Viele haben aber auch einfach Verletzungen davon getragen, mit denen es ihnen unmöglich ist, ihren Job zu 100% zu erledigen. Einen normalen Pensionseintritt gibt es in dem Fall nicht. Ich werde den Job so lange machen, wie ich kann. Kann sein, dass ich schon nach dem nächsten Einsatz aufhören muss, vielleicht aber auch erst in zehn Jahren."

Shinji verzog unwillig das Gesicht: "Wenn das so ist, dann wünsch ich mir ja glatt, dass du nie aufhörst. Entweder körperliche oder psychische Verletzungen sind nun wirklich nicht erstrebenswert."

"Okay, bei dir klingt das echt hart. Ich dachte eigentlich eher daran, dass meine Sehkraft irgendwann nicht mehr ganz optimal ist oder so..." Nate grinste ihn so unschuldig an, dass man denken könnte, er hätte sich nie Gedanken um Verletzungen gemacht. Aber Shinji kannte ihn gut genug. Er war ein positiver Mensch. Er wusste um die Risiken, aber hielt sich nicht damit auf, Angst davor zu haben. Das wäre wohl auch tödlich für ihn.

"Aber gut zu wissen." Und plötzlich war Nates Stimme so dunkel, dass Shinji erschauerte.

"Hab ich... was falsches gesagt?" Er konnte diesen Unterton nicht identifizieren und er wusste, dass er manchmal unsensible Sachen sagte. Er wusste nur diesmal wirklich nicht was.

Doch statt eine Antwort zu geben, zog Nate ihn einfach an sich und schloss die Arme um ihn. "N... Nate? Ist alles in Ordnung?"

Doch Nate vergrub sein Gesicht erst einmal in seinen Haaren und hielt ihn noch etwas fester. "In all den Jahren bin ich keine Beziehung eingegangen, weil mir Abschiede einfach nicht liegen. Aber du warst schon immer eine Ausnahme. Ich weiß, ich hab gestern noch gesagt, es wäre besser, wenn wir nur Freunde bleiben. Aber ich liebe dich Shinji. Wenn du jemals bereit bist, eine Beziehung mit mir einzugehen, habe ich alles, was ich mir je erhofft habe."

Shinji riss die Augen auf und wusste im ersten Moment nicht, was er sagen sollte. Meinte Nate das ernst!?

"Mit mir fallen dir Abschiede also leicht?", sprach er das erste aus, was ihm in den Sinn kam. Hauptsächlich um die Situation zu überspielen und nachdenken zu können.

"Ja, total leicht", konterte Nate und löste sich langsam wieder. Sein Gesichtsausdruck war neutral bis heiter, so, als würde er gar keine Antwort erwarten. Aber Shinji wollte ihm eine geben, denn dieses Geständnis löste tief in ihm etwas aus, das er so nicht benennen konnte. Aber allein das Flattern seines Herzens sagte ihm, dass da der Ansatz einer Antwort war. Er war nur noch lange nicht bereit dazu, irgendetwas davon zu zugeben. Er wusste nur nicht, wie er Nate das mitteilen sollte.

"Darf... ich dir mal einen... absurden und total dummen Vorschlag machen?"

"Na ja... bisher habe ich selbst ja nur vor bescheuerten Ideen geglänzt. Wird also Zeit, dass du mal an der Reihe bist."

Shinji hatte zwar keine Ahnung, was Nate für dumme Ideen gehabt haben sollte, aber er war auch gerade nicht wirklich in der Lage, darüber nach zu denken.

Nervös strich er sich über den Nacken und suchte nach Worten, die er nicht fand, weil es für so was Dummes einfach keine Worte gab.

"Wir könnten doch... ich meine... keine Beziehung... nicht, dass ich dir weglaufen würde... aber... ich weiß nicht... vielleicht... würde es mir ja helfen? Und dir vielleicht auch? ... dann... dann hättest du wenigstens ein bisschen... und überhaupt... ich hätte Gewöhnungszeit... und... keine Ahnung... das... ich sagte doch es ist dumm..."

Wie konnte er das überhaupt vorschlagen? Wie asozial war das denn?

Und Nate blinzelte ihn gerade so verwirrt an, dass Shinji sich nicht ganz sicher war, ob er sich ordentlich ausgedrückt hatte.

"Bietest du mir gerade eine Beziehung an, die du selbst nicht so bezeichnest?"

"Wenn du das so ausdrückst, klingt das echt lächerlich.", grummelte er und zog die Decke etwas enger um sich. "Ich hab ja gesagt es ist ein blöder Vorschlag. Vergiss es einfach."

Nate begann zu lachen, was Shinji dazu brachte, leicht bockig zur Seite zu blicken. Erst als ihm sanft eine Strähne hinters Ohr gestrichen wurde, linste er wieder zu seinem Gegenüber.

"Dann darf ich das also machen? Ohne, dass du dich darüber wunderst?", fragte Nate da und strich ihm sogar leicht mit dem Daumen über die Wange, bevor er die Hand wieder zu sich nahm. "Es ist alles andere als blöd. Versuchen wir es."

War das sein Ernst!? War der Kerl wirklich so verzweifelt?

"Das heißt nicht, dass ich mich den ganzen Tag betatschen lasse." In einer Beziehung hing man ja auch nicht 24/7 aufeinander rum. Die Aussage brachte ihm allerdings eine leicht Kopfnuss ein, bevor Nate ihm grinsend wieder die Haare verwuschelte. Das machte der viel zu oft, weshalb er ihm auch diesmal wieder die Hand weg schlug.

"Aber das heißt, dass du hier rumhängen kannst, so viel du willst. Ich werd mich heute krank schreiben lassen, aber ab morgen muss ich wieder arbeiten. Ich bin also unter der Woche nur Tagsüber erreichbar, sofern ich nicht schlafe. Oder sehr sehr früh morgens, wenn ich nicht mehr arbeite aber auch nicht schlafe." Da war er sehr pragmatisch, auch wenn das für einen Außenstehenden wohl klang, als würde er von Nate verlangen, einen Termin zu machen, wenn er ihn sehen wollte. Er informierte aber nur darüber, wann es sich für Nathan lohnte her zu kommen.

Nate sah gerade so aus, als wolle er die ganze Welt umarmen. Bevor er aber auf die Idee kam Shinji als Teddybärersatz her zu nehmen, stand er samt Decke auf. "Und wo wir schon dabei sind."

Er ging zu einer Kommode die im Flur stand, kramte in einer Schublade und kam dann wieder, um Nate einen silbernen Schlüssel zu übergeben.

"Mein Zweitschlüssel. Falls du heute wieder kommen willst, wenn du Hana abgeholt hast, brauchst du nicht klingeln."

Nate lächelte so glücklich, dass Shinji schier das Herz schmolz. Es war doch nur ein Schlüssel.

"Sobald ich meine Schwester davon überzeugt habe, dass sie einen Elektriker braucht, komme ich zurück. Kann sich nur um Tage handeln.", antwortete Nate und verdrehte die Augen mit einem gespielten Seufzen. "Soll ich uns was zu essen mitbringen?"

"Das wäre praktisch, ja."

Er setzte sich wieder, weil er sich wacklig auf den Beinen fühlte. Dennoch lächelte er ein klein wenig, weil er sich irgendwie glücklich fühlte. Als er seinen Blick schweifen ließ und der auf den Laptop fiel, klappte er einfach den Bildschirm runter. Das Video musste er nicht noch einmal sehen.

"Willst du frühstücken?", fragte er dann, weil es schon wieder viel zu still geworden war. "Ich könnte Kaffee kochen und ich hab sicherlich noch Toast da. Oder du versuchst dich an den Pancakes von gestern."

Eine Augenbraue von Nate stieg in die Höhe: "Hast du denn noch Eier oder Käse da?"

Nach kurzem Überlegen schüttelte Shinji den Kopf.

"Schinken?"

"Nope."

"Erdnussbutter auch nicht?"

Shinji verzog angewidert das Gesicht.

"Hast du abgesehen von Pancakes und Toast irgendwas essbares im Kühlschrank?"

Doch Nate ahnte die Antwort bereits und wartete sie deshalb gar nicht erst ab. "Schreib mir ne Liste, ich geh einkaufen."

Damit ging Nate in Richtung Schlafzimmer, um sich anzuziehen.

"Was? Nein!" Alarmiert sprang Shinji wieder auf und lief Nate hinterher. "Du musst doch nicht für mich einkaufen!" Wie peinlich war das auch? Als könne er sich nicht um sich selbst kümmern! Gut, er hasste Einkaufen und insgeheim wäre er froh, wenn sich jemand darum kümmern würde, aber peinlich war es trotzdem!

"So weit weg ist der nächste Bäcker nicht, wenn's dir ums Frühstück geht. Ich kann was holen gehen. Und einkaufen kann ich dann morgen selbst. Wenn du mir heute Abend was mitbringst, komme ich super über den Tag." Viel mehr als zum Arzt gehen und schlafen, würde er sowieso nicht. Außerdem war ein leerer Kühlschrank für ihn wirklich nicht unnormal. Dafür gab es Lieferservices.

"Ich weiß, dass du nicht viel zu essen brauchst. Lass mich trotzdem ein paar Kleinigkeiten kaufen gehen. Wenn ich bei dir vorbei schaue, will ich dir nicht unnötig was weg futtern."

Das war natürlich auch ein Argument. Keines, mit dem Shinji sich wohl fühlte, aber er konnte den Punkt verstehen.

"Ok...", gab er deshalb zu. "Aber du bräuchtest das nicht unbedingt. Ich hoffe, das weißt du."

Er war sich nicht ganz sicher, ob das die richtigen Worte in so einer Situation waren, aber Nate hatte sich bisher gut darin erwiesen, zu hören, was er sagen wollte und nicht das, was er tatsächlich sagte. Shinji hoffte, Nate würde verstehen, dass er zwar dankbar war, aber er nicht wollte, dass Nate sich zu so etwas genötigt sah. Er sollte sich hier wohl fühlen, statt sich Sorgen um die paar Lebensmittel zu machen.

Allerdings verstand er auch, dass sich Nate bei ihrem jetzigen Arrangement nicht wie ein Gast fühlen wollte, sondern wie... nun... mehr. Was auch immer 'mehr' jetzt war.

Schnell schlüpfte er an Nate vorbei ins Schlafzimmer, um sich ebenfalls anzuziehen, denn es wurde langsam lästig, ständig mit der Decke durch die Gegend zu laufen. "Ich lagere auch gerne Kram ein, den du magst. Also halt dich nicht zurück. Ich hab Platz." Wenigstens ein wenig wollte er ihm entgegenkommen.

Nate verschwand aus dem Zimmer und nur kurze Zeit später hörte er ein 'ich bin gleich wieder da', ehe die Tür ins Schloss fiel.

Skeptisch runzelte Shinji die Stirn. Hatte der Andere nicht eben noch eine Liste verlangt? Seufzend zog Shinji sich fertig an, ehe er sein Handy zückte und begann zu schreiben. So lange kannten sie sich schließlich nicht wieder, dass Nate schon wusste, was er in seinem Kühlschrank wollte.

Ganz zum Schluss, auch wenn ihm nicht ganz wohl dabei war, setzte er ein 'Wenn du willst, bring Bier mit'. Er wusste ja, dass Nate gerne Bier trank und solange sie beide es in Gesellschaft des anderen taten, war das ja auch in Ordnung. Dennoch nahm sich Shinji jetzt schon vor, darauf zu achten, dass das nicht überhand nahm.

Andererseits war es ja auch nur Bier. Er sollte sich da nicht solche Gedanken drum machen.

Er seufzte, als er sich der Leere der Wohnung bewusst wurde. Es war erdrückend leer. Viel zu still. Vor noch ein paar Tagen hatte er das gut gefunden, aber jetzt vermisste er Nates Lachen und die pure körperliche Anwesenheit des Anderen, die ihm so viel Ruhe und Geborgenheit schenkte.

Plötzlich stand sein Leben wieder Kopf und er wusste noch nicht, ob er das gut fand.

Frühstück

„Das nennst du ‚ein paar Kleinigkeiten‘?“, fragte Shinji skeptisch, als Nate mit zwei Tüten wieder kam, die fast überliefen.

„Ich hab Hunger“, wurde ihm nur entgegnet, was Shinji dazu brachte, die Augen leicht zu verdrehen und mit einer der Tüten in die Küche abzuhauen, um da alles weg zu räumen.

Nate wusste schon, wo das Bier hin kam, weshalb er auch kurz verschwand und danach nur noch mit einer halbvollen Tüte wieder kam.

„Hat vorhin jemand geklingelt?“

„Hä? Nein? Warum? Hätte jemand klingeln sollen?“ Das ergab aber keinen Sinn. Wer sollte denn bei ihm klingeln? Niemand außer sein Chef kannte diese Adresse und der hatte beim besten Willen keinen Grund, hier aufzutauchen. Oder war es Nates Schwester? Wie hieß die noch Mal? Irgendwas blumiges. Aber die hatte die Adresse wenn dann überhaupt von Nate und dann müssten sie beide ein ernstes Wort miteinander reden. Er mochte es nicht, wenn so etwas weiter gegeben wurde, ohne dass er gefragt wurde.

„Hm…“, machte Nate nur, während Shinji das letzte Stück verstaute.

„Was ist los?“, bohrte er sofort nach. „Das ist eine seltsame Frage, wenn man bedenkt, dass ich weder Freunde noch Bekannte habe, die wissen, wo ich wohne. Hier kann niemand klingeln, das ist unlogisch.“

„Okay…“ Hä? Wie Okay? Was Okay? Doch er bekam keine wirkliche Erklärung. „Ach nichts. War wohl nur an der falschen Tür.“

Shinji schüttelte den Kopf. Das war ihm gerade echt zu blöd. Er war zu müde für solche Spielchen, also ließ er es einfach sein. Wenn etwas wäre, würde Nate ihm das schon sagen. Außerdem gab es ja noch mehr Anwohner in dem Haus. Wahrscheinlich hatte wer-auch-immer niemanden angetroffen und war dann wieder verschwunden.

„Ich nehme an, du willst erst mal Frühstücken?“

Doch er war schon zu spät. Während er die Einkäufe weggeräumt hatte, hatte Nate offenbar den Tisch gedeckt. Aber… was zum!? Was war das alles?

Croissants, Donuts, frisches Brot, Marmelade und die Pancakes von gestern. Alles süß, bis auf das Brot. Nate aß davon doch gar nichts.

„Und wer denkst du, soll das alles essen?“ Das allein war schon das dreifache von dem, was er sonst zu sich nahm und das war offenbar erst das Frühstück…

Wollte Nate ihn mästen?

Nate aber lachte nur und wuschelte ihm durch die Haare - schon wieder.“Du siehst überfordert aus.“

Wie sollte er auch nicht überfordert sein? Sein ganzer Küchentisch stand voll mit Zeug, das er gar nicht runter bekam. „Iss einfach, was du kannst. Den Rest hebst du dir für die nächsten Tage auf.“

Nate setzte sich munter an den Tisch, als wäre alles in Ordnung und grinste ihn an, während er sich das Brot mit Käse und Schinken belegte. „Schlimmstenfalls esse ich es.“

„Über deinen Haarfetisch müssen wir echt noch reden.“, grummelte Shinji als Antwort nur, weil er wirklich überfordert war. Sarkasmus war immer eine gute Antwort.

Er ging erst einmal an die Kaffeemaschine und kippte das dunkle Gebräu, das er bereits vorbereitet hatte, in zwei Tassen. Dann setzte auch er sich.

Die Auswahl auf dem Tisch nahm ihm sämtlichen Appetit. Es war wirklich lieb gemeint von Nate, aber das machte satt, noch bevor man angefangen hatte zu essen. Und gerade fühlte er sich irgendwie dazu gezwungen, sich etwas zu nehmen.

„Ich denke ich ess‘ später was.“, murmelte er mit entschuldigendem Unterton in seine Tasse hinein.

„Deine Wahl, Kleiner“, grinste Nate und biss genüsslich in sein Brot.

Shinji wusste, dass er etwas essen sollte. Er hatte viel zu lang nichts gegessen, aber er bekam gerade noch immer nichts runter.

Das Frühstück verlief schweigend, was Shinji nur zum Teil unangenehm war. Da war immer noch dieses drängende Gefühl, etwas sagen zu müssen, aber er konnte es lassen. Genießen konnte er die Stille nicht, aber es war irgendwie angenehm, dass einfach jemand anderes da war. Er wollte jetzt nicht alleine sein. Er brauchte Ablenkung und in letzter Zeit hatte sich sein Computer da nicht als ausreichend erwiesen. Hoffentlich konnte er schlafen, wenn er vom Arzt wieder kam. Hoffentlich konnte er schlafen, bis Nate wieder kam.

Nach dem vierten Brot schien sein Gast genug zu haben und trank nur noch an seinem Kaffee. Allerdings fing er dann auch an, nervös mit den Fingerkuppen auf den Tisch tippen. Ein stetiger Rhythmus, der nur von einer ganz bestimmten Sucht ausgelöst wurde.

„Du musst dich nicht zurückhalten, Nate. Ich hab nichts dagegen, solange du am Fenster rauchst.“

Auch wenn er es natürlich lieber hätte, wenn sein Freund das Rauchen ganz einstellen würde. Das war nicht gesund und es wäre eine Schande, wenn so ein Mensch wegen dieser Unart früher verstarb, als eigentlich notwendig. Shinji versuchte nicht daran zu denken, dass Nates Job viel gefährlicher war.

„Ich wollte dich nicht beim Frühstücken allein am Tisch hocken lassen.“, erklärte Nate, stand dann aber dennoch auf. Er hob schon die Hand, ließ sie dann aber doch sinken, statt ihm durch die Haare zu wuscheln.

„Ich darf ja nicht.“, beschwerte er sich übertrieben theatralisch. „Es ist so traurig, dass du mir verbieten möchtest, mit deinen Haaren zu spielen.“, fuhr er fort und zerstrubbelte Shinji doch wieder die Haare.

Lachend ging er zum Fenster, zog die Zigarettenschachtel heraus und zuckte mit den Schultern: „Ich hab echt versucht zu widerstehen.“

Fast hätte Shinji ja ein schlechtes Gewissen gehabt. Fast!

Grummelnd und eingeschnappt richtete er sich die Haare und warf Nate dann einen bösen Blick zu: „Was hast du nur damit? Das hast du damals auch schon ständig gemacht. Und in dem Video erst! Das ist echt auffällig. Und es ist ja nicht so, dass meine Haare besonders weich wären, oder so.“

„Bitte?“, fragte Nate sofort nach dem ersten Zug. „Du könntest Haarmodel für Shampoowerbungen werden. Ich hab noch nie einen Kerl gesehen, der auch nur annähernd so weiches Haar hat, wie du. Ich werde deine Haare bis aufs Blut verteidigen! Also sag nichts gegen sie.“

Nates Grinsen überstrahlte die ganze Wohnung. So ein Kindskopf - Das grummelte Shinji auch in seine Kaffeetasse, eher er den letzten Schluck trank. Haarfetisch. Definitiv. Ganz klarer Fall.

Andererseits war das auch gar nicht so schlecht. Dann würde Nate niemals darüber meckern, dass er zu lange Haare hatte. Man konnte ja alles irgendwie positiv sehen.

Während Nathan aus dem Fenster sah, schnappte er sich doch einen Donut und begann daran zu knabbern. Irgendwas musste er ja essen.

Letztendlich wurde es ihm aber doch zu still zwischen ihnen:

„Worauf hast du am Wochenende Lust?“ Sie würden jetzt sicherlich mehr Zeit miteinander verbringen, also warum nicht voraus planen? Schaden konnte es ja nicht und auch wenn er keine große Lust hatte, seine Wohnung zu verlassen, war ihm klar, dass sie nicht ständig bei ihm rumhängen konnten.

Nate schwieg ein paar Sekunden zu lange, aber Shinji konnte nicht erahnen, woran er dachte. „Ich weiß nicht. Was läuft denn im Kino?“

Kino war gar keine so schlechte Idee. Da gingen sie vor die Tür und unter Menschen, aber sie würden mit niemandem sonst reden und er musste Nate ja nicht sagen, dass er die beiden Plätze neben ihnen ebenfalls reservieren würde.

„Lego Batman“, hörte er sich selbst plötzlich sagen und hielt dann inne. Warum nur konnte er in Nates Nähe eigentlich nie die Klappe halten? Nate war kein Nerd, dem konnte er so einen Kinderfilm doch nicht vorschlagen! Nicht, dass Shinji ihn als Kinderfilm sah, aber die meisten Erwachsenen fanden so etwas nicht ansprechend sondern kindisch. Warum auch immer…

Schnell stand Shinji auf und holte sich noch eine Tasse Kaffee um diesen peinlichen Moment zu überspielen.

„Oh, ich liebe den Humor dieser Filme. Wollen wir uns den anschauen?“

Verwundert wandte Shinji sich um: „Ehrlich?“ Aber er lächelte sofort. Eigentlich hätte er sich denken können, dass Nate solche Filme kannte und wenn nur wegen Hana.

„Du klingst so überrascht. Hast du vergessen, dass ich auch der Typ war, der seinem Vordermann in der Schule versucht hat, Papierkügelchen in die Kapuze zu werfen?“ Nate lachte wieder sein herrliches, dunkles Lachen. „Ich bin für alles zu haben.“

„Es gibt trotzdem wenige Erwachsene, die sich so was geben.“ Dennoch grinste Shinji bei der Erinnerung. Sie alle hatten ziemlich viel Unsinn angestellt. Von normalen Sachen wie Papierkügelchen-Versenken bis zu dem Klauen von teurem Whiskey in ihrer Lieblingsbar. Und wahrscheinlich war da noch viel mehr vergraben, an das er sich einfach nicht erinnern konnte. „Ich reservier‘ dann Karten für uns.“
 

Als Nate wieder vom Fenster weg trat, befüllte Shinji dessen Tasse gerade mit dem Rest des noch vorhandenen Kaffees. Nate seufzte leise, was Shinji irritierte, doch er fragte nicht. Dennoch suchte er wieder fieberhaft nach einem Gesprächsthema, das glücklicherweise sein Gast diesmal aussuchte: „Was hast du eigentlich mit deinen Freundinnen so gemacht?“

Oh weia, wie kam Nate denn jetzt darauf? Was sollte er denn dazu sagen?

„Viel shoppen… viel zusammen essen gehen… viele romantische Fernsehabende.“ Er zuckte die Schultern. Was man mit Frauen halt so tat. „Ich hatte auch die ein oder andere Gamerin. Mit der hab ich mich dann am Wochenende hinter dem PC vergraben.“ Das waren auch die einzigen Beziehungen gewesen, die etwas länger gehalten hatten, weil sie mehr Gemeinsamkeiten gehabt hatten. Trotzdem hatte das natürlich nicht gereicht.

Nate verzog wie viele Männer bei dem Wort ‚Shoppen‘ das Gesicht und Shinji konnte es ihm nicht einmal verübeln. Aber er hatte es sogar ganz gern gemacht, weil das einer der wenigen Momente gewesen war, in denen er das Gefühl hatte, seiner Partnerin wirklich eine Freude machen zu können. Das waren die einzigen Stunden gewesen, in denen sie sich wie ein normales Paar verhalten hatte.

„Ist auch nicht ganz meins, wenn ich ehrlich bin.“, antwortete er auf die verzogene Miene. „Aber was tut man nicht alles, um jemanden an seiner Seite zu halten? Wenn ich ihnen schon keine Intimität bieten konnte, dann wenigstens ein paar Stunden Spaß für sie. Das hat mein Gewissen etwas beruhigt und sie haben sich über die neuen Teile gefreut.“ Das… war dann aber auch mehr als einmal schief gegangen, wenn sie sich heimlich Reizwäsche gekauft hatten und sich dann abends bei ihm hatten bedanken wollte. Ihm war das heute noch unsagbar peinlich, wie er sich damals verhalten hatte. Eigentlich hatte er diese Frauen ja nur ausgenutzt, um sich selbst besser zu fühlen. In Retrospektive war er ein ziemliches Arschloch gewesen und er hoffte inständig, dass er keiner von ihnen wirklich weh getan hatte.

„Wow, das klingt echt deprimierend.“

Oh ja, und wie deprimierend das gewesen war. Wahrscheinlich für die Frauen mehr, als für ihn. „Deshalb hab ich es ja auch irgendwann aufgegeben. Ich hatte jetzt seit 2 oder 3 Jahren keine Beziehung mehr.“

„Wo hast du die alle kennengelernt?“

„Online Dating.“, antwortete Shinji und trank noch einen Schluck. „Es war für mich nie wirklich schwer jemand neuen zu finden. Ich bin wohl recht attraktiv.“ Auch wenn er das nicht ganz nachvollziehen konnte. „Und es war für mich ziemlich optimal. Man schreibt erst mal miteinander und kann ja so schon aussieben und nach einer handvoll Treffen findet man dann meistens eine, die sympathisch genug ist.“ Oh Mann, wie das klang. Als wäre er der letzte Chauvinist. Er hatte nie genauer darüber nachgedacht, weil es für ihn ein Muss gewesen war, eine Partnerin zu finden. Aber jetzt kam er sich echt schäbig vor.

„Du kannst froh sein, dass du nicht irgendwelche Psychotanten erwischt hast.“ Shinji legte die Stirn in Falten. Er war sich gerade nicht sicher, ob er nicht eher der ‚Psychoonkel‘ gewesen war.

„Aber hey“, sagte Nathan plötzlich. „Mich hattest du von Anfang an. Das ist eigentlich noch viel deprimierender. Weil du noch nicht einmal was dafür machen musstest.“

Wo kam das denn jetzt her? Und war die Ansicht nicht ziemlich verdreht?

„Sollte es nicht im Idealfall so sein?“, fragte Shinji deshalb verwirrt. „Dass man einfach nur man selbst sein muss, damit es funktioniert? Es nutzt doch nichts, wenn man ständig investieren und investieren muss und es damit dann gerade irgendwie läuft. Das ist einfach nur anstrengend und tut einer Beziehung nicht gerade gut. Damals… hat es zwischen uns allgemein ja ziemlich gut funktioniert.“

„Ja, das hat es.“

Nate stellte die Tasse beiseite und beugte sich etwas vor, um Shinji sanft eine Strähne aus dem Gesicht zu streichen. „Aber du irrst dich, wenn du denkst, es hätte nur früher gut funktioniert. Klar, die Vergangenheit bleibt Vergangenheit, aber ich denke, wir sind nach wie vor recht kompatibel. Wir müssen uns nur wieder aneinander gewöhnen.“

Oh, Nate war mit ihm kompatibel. Und wie er das war. Nate war der einzige Mensch, der ihn ertrug. Zumindest so nah und nach allem, was er ihm schon entgegengeworfen hatte. Shinji glaubte nicht daran, dass irgendwer anders das mitgemacht hätte, aber Nate war noch da. Ob das jetzt an purer Sturheit oder etwas anderem lag, konnte Shinji nicht sagen. Dennoch konnte er nicht aufhören sich zu fragen, was Nate eigentlich von ihm wollte. Oder eher warum… was er wollte, hatte er ihm ja mehr als deutlich gesagt.

„Findest du? Wenn du dich nicht so rein gehängt hättest, wäre nach dem Treffen im Supermarkt wieder Funkstille gewesen.“

„Na ja… man hat dich schon immer zu deinem Glück zwingen müssen. Wie damals, als du meintest, du hättest keine Lust auf Camping. Ich habe dich so lange bearbeitet, bis du mit uns mitgefahren bist und letztendlich war es ein echt cooles Wochenende! Zumindest bis auf die brennenden Marshmallows… und das brennende Zelt. Aber das war eindeutig Logans Schuld.“

Oh ja… das Campingwochenende. Das, wo sie am Ende alle am Lagerfeuer geschlafen hatten.

Shinji schmunzelte selig, als er sich daran erinnerte. „Das war eine pure Katastrophe. Aber… ich wollte die Erinnerung wirklich nicht missen.“

Eigentlich war die gesamte Zeit mit Nate eine, die er nicht missen wollte. Jeder einzelne Tag. Egal wie schwer es manchmal gewesen war, es war es immer wert gewesen. Ganz im Gegensatz zu allem, was danach kam und dazu rechnete er auch die Jahre, in denen es ihm wieder besser gegangen war. Jeder Tag - so schön auch manche Stunden online gewesen waren - war absolut ersetzbar. Außer so mancher Erfahrung, die er im Laufe der Jahre aus verschiedensten Situationen gezogen hatte, war alles eigentlich nicht wichtig. Es hatte keine Substanz, keine Qualität. Auf seinem Sterbebett würde er sich an die Zeit mit Nate erinnern, an keine andere. Und diese Erkenntnis war erschreckend, zeigte sie ihm doch, dass er noch mehr dieser Erinnerungen sammeln wollte und es war das erste Mal in 15 Jahren, dass er sich danach sehnte, Zeit mit einem Menschen zu verbringen.

Doch erst einmal war diese Zeit um, wie Shinji bemerken musste, als Nate kritisch auf die Uhr sah. Sie sprachen noch ab, wann Nate wieder kam und was er mitbringen sollte - heiß und fettig; zwar nicht das gesündeste, aber genau das, was Shinji gerade haben wollte - dann verabschiedeten sie sich.

Nate gab Shinji keinen Abschiedskuss, was diesen etwas irritierte, doch er nahm es so hin. Die Tür fiel ins Schloss und es war Ruhe.

Arztbesuch

Shinji hatte Glück gehabt, mit seiner Arbeitsstelle. Er hatte lange Jahre suchen müssen, bis er einen Arbeitgeber gefunden hatte, der so familiär war, dass er ihn ohne groß zu murren von zu Hause aus arbeiten ließ. Das ging mit Gehaltseinbußen einher, natürlich. Er verdiente nicht so viel wie in einer großen Firma, die ihm Arbeitszeiten genauso wie Anwesenheitszeiten und Teamarbeit aufzwang. Er verdiente so aber auch mehr als genug. Er war sicherlich nicht arm.

Eigentlich hatte er es auch nicht nötig, sich krank schreiben zu lassen, hätte stattdessen auch Urlaub nehmen können, aber sein Chef bestand auf solche Sachen. Wenn er mit ihm telefonierte um für heute abzusagen oder Urlaub zu beantragen, würde er ihn fragen, was los sei und dann hätte Shinji lügen müssen. Und er log nicht gerne. Also ging er eben den mühseligen Gang zum Arzt. Aber das war in Ordnung. Sein Arzt war pragmatisch und fragte nicht zu viel. Zumindest hatte er das bis gerade gedacht.

"Sie bringen mich hier wirklich in eine schwierige Situation, Herr Yamato."

Warum das denn? Kritisch zog Shinji die Augenbrauen zusammen.

"Ich habe die gesamte Nacht nicht geschlafen, ich bin offensichtlich nicht in der Lage, zu arbeiten."

Sein Arzt sah ihm geduldig entgegen. Fast schon väterlich faltete der ältere Mann die Hände zusammen und neigte sich etwas vor.

"Ich sehe deutlich, dass Sie nicht arbeitsfähig sind, aber darum geht es mir gar nicht. Sehen Sie... wir kennen uns jetzt wie lange? 4 Jahre? Und ich erinnere mich an Sie, obwohl Sie in diesen Jahren vielleicht drei mal hier waren. Wissen Sie, warum ich mich so gut an Sie erinnern kann?"

Was spielte dieser Idiot hier für Spielchen? Woher sollte Shinji denn wissen, warum sein Arzt wusste, wer er war? War das nicht irgendwie sein Job? Glücklicherweise fuhr der Mann einfach fort, statt Shinji noch länger zu nerven und rückte endlich mit dem raus, was ihm auf dem Herzen lag:

"Sie kamen mit einer Grippe zu mir, mit Magen-Darm Beschwerden und einmal mit ziemlich hohem Fieber. Aber egal wie sehr ich auf Sie eingeredet habe, das Arbeiten sein zu lassen, Sie haben sich jedes Mal strikt geweigert. Und nun sitzen Sie hier vor mir und erzählen mir, dass Sie nicht arbeiten können, weil Sie eine Nacht lang nicht geschlafen haben. Verstehen Sie mein Dilemma? Ich mache mir Sorgen um Sie."

Shinji war sich nicht ganz sicher, ob der Kerl vor ihm nicht seine Kompetenzen überschritt. Was ging ihn das denn an, warum er sich jetzt plötzlich krankschreiben ließ? Die letzten Male hatte er eben noch arbeiten können und diesmal nicht, na und? Kein Grund, so einen Aufstand zu machen.

"Wenn Sie mich nicht arbeitsunfähig schreiben wollen, dann sagen Sie das gleich. Dann nehme ich mir Urlaub."

Aber dann wäre dieser ganze Besuch vollkommen umsonst gewesen. Er hätte sich umsonst aus dem Haus gequält, hätte sich umsonst in das überfüllte Wartezimmer, mit viel zu vielen Menschen geschleppt und hätte umsonst viel zu lange gewartet. Wenn das stimmte, wäre er das letzte Mal hier gewesen.

"Sie missverstehen mich. Ich gebe Ihnen das Attest natürlich." Und wie zur Bestätigung drückte er die Enter-Taste auf seiner Tastatur und der Drucker begann zu arbeiten. Doch als Shinji nach den Blättern greifen wollte, um endlich zu verschwinden, hielt sein Arzt ihn noch einmal zurück.

Was zum Teufel? Er hatte echt keine Nerven für so was!

"Ich habe Sie noch nie so angespannt erlebt und Sie erklärten mir einmal, dass sie verrückt werden, wenn Sie nicht arbeiten. Was macht Sie jetzt also so fertig, dass Sie nicht einmal etwas tun können, was Ihnen so klar gut tut?"

Das ging den Kerl doch einen Scheißdreck an! Er griff sich endlich die Zettel und stand dann auf, doch die Stimme hielt ihn ein weiteres Mal zurück.

"Sie haben äußerlich keine Blessuren, Sie können sich normal bewegen. Also ist es schon einmal nichts körperliches. Sie sind auch nicht wirklich krank, nur vollkommen verkrampft und übermüdet. Sie wissen, dass Sie mit mir sprechen können? Nichts, was sie mir sagen, wird diesen Raum verlassen."

Shinji stürmte zur Tür.

"Wenn Sie nicht darüber sprechen, wird es nicht besser."

Shinji hielt inne. Reden... darüber reden. Als ob das irgendetwas besser machen würde! Dieser Kerl hatte doch keine Ahnung.

"Herr Yamato, setzen Sie sich wieder."

Und Shinji tat genau das. Er ging zurück und setzte sich wieder.

"Versuchen Sie mir zu erzählen, was geschehen ist."

"Nichts", antwortete Shinji sofort.

"Und jetzt die Wahrheit?"

"Das ist die Wahrheit! Ich bin angefasst worden, das war's. Keine große Sache, es ist kaum etwas passiert."

"Vor ein paar Sekunden war es noch nichts, jetzt ist es schon 'kaum etwas'. Was ist es, wenn ich in einer Minute noch einmal nachfrage?"

Shinji verdrehte genervt die Augen. War er ein Kleinkind oder was?

"Jemand hat mir geholfen, bevor Schlimmeres passiert ist. Wirklich keine große Sache."

"Und das war wann?"

"Gestern."

"Haben Sie Anzeige erstattet?"

Was? "Nein!"

"Warum nicht?"

"Weil es nichts war! Außerdem... stünde Aussage gegen Aussage, das bringt nichts." Und er wollte diesen Aufstand darum nicht. Er wollte nicht mit irgendwem darüber reden. Vor allem nicht mit der Polizei. Wenn das öffentlich würde... nein. Nein, definitiv nicht. Es war nicht wirklich etwas passiert und solange er Chris nicht wiedersah, der glücklicherweise in einem ganz anderen Stadtteil arbeitete und sich dank Nate hoffentlich nicht mehr an ihn heran traute, war doch alles in Ordnung.

"Sie sagten gerade, man hätte Ihnen geholfen. Damit hätten Sie einen Zeugen."

Shinjis Augen weiteten sich in purer Panik. Nate da mit reinziehen? Und am Ende würde man noch fragen, wie sie beide zueinander standen und dann würde alles raus kommen? Und wenn Chris dann sagte, er wäre steif geworden, was dann? Dann glaubte ihm doch keiner mehr. Jeder würde ihn für eine notgeile Schwuchtel halten.

Heftig schüttelte er mit dem Kopf.

"Keine Polizei also. Das ist natürlich Ihre Entscheidung. Aber es steht fest, dass sie - verständlicherweise - Probleme deshalb haben. Ein Trauma. Das ist nichts Ungewöhnliches und wenn Sie Glück haben, kann sich das auch ganz von alleine legen. Jeder geht anders damit um. Gegen die Schlafstörungen kann ich Ihnen Schlaftabletten geben, aber das lindert nur die Symptome, nicht die Ursache. Haben Sie seitdem vermehrt Angstzustände oder Panikattacken?"

Shinji schüttelte den Kopf. Nicht vermehrt...

"Aber?", hakte sein Arzt nach, der wohl irgendwas in seinem Gesicht lesen konnte.

Shinji biss sich auf die Unterlippe. "Es geht mir gut, ich brauche nur etwas Schlaf. Morgen bin ich wieder fit."

"Es ist wichtig, dass Sie ihrer Psyche die Ruhe gönnen, das zu verarbeiten. Haben Sie jemanden, der ein Auge auf Sie haben kann?"

Nate, sprang es ihm sofort in den Kopf, aber das war doch absurd. Er brauchte keinen Babysitter. Er musste einfach nur schlafen, mehr nicht. Er war so furchtbar müde.

"Ich würde Sie gerne die gesamte Woche krankschreiben. Was halten Sie von dem Vorschlag?"

"Nicht viel", blockte Shinji sofort ab. "So ziemlich gar nichts, um genau zu sein. Hören Sie, Ihre Sorge in allen Ehren, aber es ist alles in Ordnung. Wenn ich erst einmal geschlafen habe, bin ich wieder fit."

Der Mann lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sah ihn ruhig, aber auch etwas abschätzend an. "Wenn Sie selbst überzeugt davon wären, würden Sie nicht immer noch hier sitzen. Ich denke, dass da etwas ist, über das Sie reden wollen. Aber Sie trauen sich nicht. Was hält Sie davon ab? Denken Sie, ich urteile über Sie? Falls dem so ist, kann ich Sie beruhigen. Sie interessieren mich auf rein professioneller Ebene. Und ich praktiziere schon sehr lange als Arzt. Ich habe viel gehört und gesehen. Ich denke nicht, dass Sie mich überraschen können."

Eigentlich wäre genau das der Moment gewesen, in dem Shinji aufstehen und gehen sollte. Aber der Moment zog vorbei und er saß immer noch auf diesem Stuhl. Seine Hände krampften sich um die Armlehne und er wusste nicht, ob er damit Halt suchte, oder sich selbst zum Sitzenbleiben zwang.

"Sie müssen nicht alleine damit fertig werden. Egal was es ist. Was haben Sie zu verlieren? Ich kann niemandem etwas sagen. Ich würde mein eigenes Leben ruinieren, wenn ich es doch täte. Sie haben mich komplett in der Hand."

Und das war tatsächlich ein Argument. Ein gutes Argument. Dieser Arzt hatte recht. Nichts was er sagte, würde jemals diesen Raum verlassen. Falls doch, könnte er diesen Menschen in Grund und Boden klagen. Nicht, dass es ihm etwas bringen würde, wenn Shinjis eigenes Leben dann schon zerstört war, aber das hielt den Arzt definitiv stumm.

"Es ist... alles so durcheinander...", begann er zögernd und spürte förmlich, wie seine Mauer brach.

"Dann lassen Sie mich Ihnen helfen, alles zu ordnen."
 

Und Shinji begann zu erzählen. Er wusste nicht warum, aber es brach alles aus ihm heraus. Alles. Nate, die Schule, das Mobbing, sein Vater, sein Lehrer, wieder Nate, dann Chris und letztendlich das, was er Nate heute morgen gesagt hatte.

Er erzählte von seiner eigenen Homophobie, von den Angstschüben, dem Putzen, dem Kratzen, dem Waschen, dem Ekel. Alles. Er erzählte alles.
 

Natürlich hatte der Arzt ihm nicht helfen können. Das hatte Shinji aber auch nicht erwartet. Der Mann war ja kein Zauberer, aber er hatte ihm geduldig zugehört, hatte hier und da nachgefragt, hatte ihn beruhigt, wenn es zu viel wurde und hatte nicht ein Mal bewertet. Nicht ein einziges Mal. Shinji verstand gar nicht, wie das ging. Wie konnte man zuhören ohne eine eigene Meinung mit einzubringen? Wie konnte man einfach hinnehmen, dass es ihn fertig machte und er Probleme deshalb hatte? Einfach so. Ohne Kritik, ohne ihm zu sagen, dass er übertrieb oder sogar, dass er Recht mit seinem Ekel hatte. Nichts. Er hatte einfach nur da gesessen und zugehört. Und es hatte gut getan darüber zu reden. Es hatte wirklich gut getan.

Es war anders gewesen, als mit Nate zu reden. Er hatte anfangs gedacht, es würde keinen Unterschied machen, aber das war ein Irrtum gewesen. Ein großer.

Wenn er mit Nate darüber redete, waren es Eingeständnisse. Er versuchte ihm damit Verhaltensweisen zu erklären, damit er verstand wo es her kam, damit er wusste, dass es nicht an ihm lag. Wenn er es Nate erzählte, war da Druck und Angst. Druck, weil sein Freund ein gewisses Recht hatte all das zu wissen. Weil er ein Recht darauf hatte zu erfahren, warum er so ekelhaft zu ihm gewesen war. Weil er ein Recht hatte zu wissen, dass es eben nicht an ihm lag, sondern an allem anderen. Und Angst, weil er mit diesen Selbstoffenbarungen seinen besten Freund auch verlieren könnte. Weil er sich damit verletzlich machte, angreifbar. Nate könnte ihn, mit allem was er jetzt wusste, restlos zerstören. Er wusste jetzt, welche Knöpfe er drücken müsste, damit er implodierte und sich nie wieder davon erholen würde.

Aber seinem Arzt war das alles egal. Egal wie scheiße er sich dem gegenüber verhielt, der wurde dafür bezahlt das zu ertragen. Er wurde auch dafür bezahlt, ihm zuzuhören. Er hatte gutes Geld für die Stunde hingelegt, die er da gewesen war. Es war vollkommen egal was er ihm erzählte, im Grunde interessierte es den Arzt gar nicht. Wie er ihm anfangs gesagt hatte: Er hatte nur professionelles Interesse. Shinji war für ihn nur ein Patient, nichts weiter. Er hatte ihn wahrscheinlich vergessen, sobald er die Tür verlassen hatte. Und auch wenn manche das wohl stören würde, für ihn war das befreiend. Dieser Mann hatte nichts davon ihn zu zerstören. Im Gegenteil, er würde sich eine Geldquelle damit kappen.

Gut... Nate hatte auch nichts davon, ihn kaputt zu machen. Aber Nate war eine Privatperson und hatte damit ganz andere Motive. Ein anderer Mensch hätte sich längst für die Frechheiten, die Shinji sich geleistet hatte, gerächt. Es gäbe sicherlich auch den ein oder anderen, der sich absichtlich mit ihm angefreundet hätte, nur um ihn dann doch fertig zu machen. Einfach nur, weil es ihm Spaß machte. Shinji hatte in seinem Leben genug Menschen kennengelernt, die genau so drauf waren.

Aber das brachte diesem Arzt einfach nichts. Der hatte kein Motiv.

Und hinzu kam auch noch, dass er nicht bewertete. Shinji wusste nicht wie er es machte, aber er hatte das geschafft. Er bewunderte ihn etwas dafür, denn es war eine Fähigkeit, die er nicht besaß und wahrscheinlich nie besitzen würde. Er bewertete alles und zwar hart und was durchfiel, dem gab er nicht einmal eine zweite Chance.

Er bewertete ja selbst Nate. Seine Arbeit zum Beispiel. Er versuchte es nicht zu tun, weil er so wenig Ahnung von dem Thema hatte, aber tief in sich drin, tat er es doch. Und er fand es nicht gut. Er fand Krieg nicht gut und töten schon zweimal nicht und wenn er daran dachte, dass Nate Menschen tatsächlich schon getötet hatte, wurde ihm schlecht. Deshalb verdrängte er das Thema und zwar möglichst vollständig. Er vergrub es im hintersten Teil seines Bewusstseins und hielt es dort gefangen. Für ihn gab es einen Unterschied zwischen dem Nate, den er kannte, und dem SEAL. Es waren für ihn zwei verschiedene Personen und das würde auch immer so bleiben.

Aber das war hier nicht Thema.

Shinji sah auf den Zettel in seiner Hand. Es war eine lange Liste mit Namen und Telefonnummern. Eine sehr lange Liste mit noch mehr Doktortiteln. Sein Arzt hatte nur eine einzige Bewertung vorgenommen und ihm gesagt, dass er darüber nachdenken sollte, einen Psychologen aufzusuchen. Es würde auch welche geben, die gut und nicht allzu teuer waren. Niemand müsse davon erfahren, auch nicht sein Chef. Es gäbe keine Verpflichtung eine Behandlung irgendwo anzugeben. Nur Nate sollte er davon erzählen. Damit da jemand war, der ihn unterstützen konnte.

Shinji lächelte bitter. Nate würde ihn nicht unterstützen können und er wollte auch gar nicht, dass er das tat. Er wollte mit ihm gar nicht darüber reden.

Shinji wusste nicht, wann er den Entschluss gefasst hatte, tatsächlich mit einem Therapeuten zu sprechen. Sein Arzt hatte ihm versucht klar zu machen, dass eine Therapie ganz normal war und viele eine machten. Aber das hatte er gar nicht hören brauchen. Ihm war das nicht peinlich. Warum auch? Er sah das pragmatisch. Wenn er sich einen Arm brach, hoffte er ja auch nicht, dass der von alleine wieder ordentlich zusammenwuchs. Dann ging er auch zu einem Arzt und ließ sich behandeln. Jetzt war eben etwas in seiner Psyche gebrochen und er ging zu einem Therapeuten und würde sich das richten lassen. Objektiv gesehen gab es da keinen Unterschied.

Dennoch war er noch nicht bereit dazu, irgendwen anzurufen.

In seiner Küche faltete er den Zettel zweimal und pinnte ihn dann an eine Korkwand. Dort gesellte er sich zu Zetteln, die er die meiste Zeit geflissentlich ignorierte. 'Gönn dir Pausen' stand auf einem. 'Geh an die frische Luft' auf einem anderen. Es waren Hinweise von sich selbst an sich selbst, damit er daran dachte, dass ein Mensch mehr brauchte als einen PC und die Nummer eines Lieferservices.

Jetzt hing dort auch die Liste mit den Therapeuten, damit er auch die ignorieren konnte, bis er bereit dazu war, sich dem anzunehmen. Der Zettel war so gefaltet, dass man nichts von seinem Inhalt sah. Nate musste nicht wissen, was er mit seinem Arzt heute besprochen hatte. Die Therapie würde so oder so erst beginnen, wenn sein Freund wieder außer Landes war, denn Shinji wusste, dass die Wartezeiten lang waren. Nate würde wohl kaum das Glück haben, noch mehr als zwei Monate zu bleiben. Also alles safe. Er würde ihn dann mit den Fortschritten überraschen. Wenn Nate wieder kam, würde er offener sein können und sie würden miteinander schlafen können, ohne, dass er sich danach wund schrubbte. Das würde eine schöne Überraschung werden.

Jetzt aber würde er endlich schlafen. Er hatte noch ein paar Stunden, bis sein Freund mit dem Abendessen kam.

Randy

Er hatte sich gerade hingelegt, als es an seiner Tür klingelte. Vollkommen verwirrt stand er also wieder auf und zog sich seine Hose an. War Nate doch früher als gedacht und hatte den Schlüssel liegen lassen?

Er schloss bei sich auf und sah einem Blondschopf entgegen, der nur ein wenig größer war als Shinji und ähnlich schmal war. Er hätte ihn auf 25 geschätzt.

"Ehm...", stotterte Shinji vollkommen irritiert. "Ich denke, Sie haben sich in der Tür geirrt."

Der Blick der ihm entgegnet wurde, war genauso perplex wie sein eigener und dann hatte dieser Kerl auch noch die Dreistigkeit, an ihm vorbei in den Wohnraum zu linsen.

"Ist Nathan da?"

Shinji lief es eiskalt den Rücken runter. Vermutete dieser Kerl etwa, dass sie zusammen wohnten? Warum? Warum suchte er hier nach Nathan und nicht bei dessen Schwester?

Die Müdigkeit war schlagartig vergessen, doch das hieß nicht, dass er geistig noch irgendetwas leisten konnte, denn sonst hätte er einfach die Tür wieder zu geworfen und die Sache wäre wahrscheinlich vergessen gewesen. Stattdessen begann er zu reden, großer Fehler: "Was wollen Sie denn von ihm? Wie kommen Sie überhaupt darauf, hier nach ihm zu suchen?"

Nachdem der Kerl sich die Handfläche an seiner Jeans abgewischt hatte, streckte er Shinji die Hand hin. "Ich bin Randy. Ich habe Nathan heute Früh zufällig gesehen, wie er aus der Wohnung kam. Wohnt er denn nicht hier?"

Bitte was!?

Shinji war so sehr damit beschäftigt, die Panikattacke zu unterdrücken, die sich gerade in ihm hoch kämpfte, dass er die Hand gar nicht bemerkte.

"Nein!", zischte er abwehrend und wahrscheinlich etwas zu energisch, ehe er sich wieder ein bekam. "Ich meine... wir sind alte Schulfreunde und er ist zu Besuch hier."

Das war doch plausibel, oder? Das taten alte Freunde eben so. Kein Grund zur Panik, alles gut. Wobei... nein. Er hätte 'war zu Besuch hier' sagen müssen! Vergangenheitsform! Aber es war zu spät. Der Kerl würde wieder kommen. Randy hieß der... oh. Er hatte sich noch gar nicht vorgestellt: "Ich bin Shinji." Und da war ja auch schon eine Hand, die man schütteln konnte.

Überschwänglich wurde seine Hand geschüttelt. "Das heißt, er ist hier?"

Wer war dieses Kind?

"Er wohnt derzeit hier in der Stadt...", antwortete Shinji vage und hoffte, dass seine Miene so finster aussah, wie sie sich anfühlte. Mehr würde der Kerl auch nicht aus ihm heraus kriegen. Wer wusste schon, wer das war. Am Ende schickte Chris den. Shinji lief es wieder kalt den Rücken hinunter.

"Wenn es das dann war..." Und damit wollte er die Tür schon wieder zuschlagen.

"Oh, warte, warte... warte!"

Shinji hielt inne. "Kannst du ihm meine Nummer geben? Er soll mich unbedingt anrufen! Ich habe mein Handy mit allen Kontaktdaten verloren und es ist verdammt schwer, an ihn ran zu kommen, wenn er seine E-Mails nicht checkt. Der Kerl hat ja nicht mal Facebook oder Twitter! Warte... ich geb dir meine Nummer... Wenn du ihn siehst, sag ihm bitte, er soll Randy anrufen, ja?"

Und schon wühlte dieser Wirbelwind in seiner Umhängetasche nach Papier und Stift, während Shinjis Hirn noch versuchte herauszufinden, was ihm gerade mitgeteilt worden war. Wie konnte man nur so viel und schnell reden?

"Ich weiß das wirklich zu schätzen, Shinji..." Er kritzelte kurz etwas auf ein Stück Papier. "Und sorry für mein plötzliches Auftreten."

Mehr als skeptisch nahm Shinji den Zettel entgegen.

"Seid ihr auch alte Freunde?"

Er konnte nicht genau sagen warum, aber irgendwas störte ihn. Wahrscheinlich, weil der Kerl gerade mehr wie ein Stalker rüber kam, als sonst irgendwas.

"Ja... kann man sagen. Er und mein Bruder haben zusammen gearbeitet." Randy tippte mit dem Zeigefinger noch mal auf den Zettel, als wolle er ihn an seine Existenz erinnern und hob dann die Hand zum Abschied. "Danke nochmals!" Und dann war er weg.

Zeit zu schlafen.
 

Natürlich schlief er nicht wirklich viel. Aber er war so fertig, dass er noch bis Abends im Bett lag und hauptsächlich den Zettel auf seinem Nachttisch böse anstarrte. Irgendetwas störte ihn...

Schließlich hörte er die Tür, die aufgeschlossen wurde, und war sofort auf den Beinen. So leicht war er schon lange nicht mehr aus dem Bett gekommen.

Schnell hatte er sich seine Hose und ein frisches Shirt angezogen und trat dann auf den Flur.

Doch da blieb er ein wenig erschrocken stehen. "Regnet's draußen so heftig?"

Nate stand da und sah aus wie ein begossener Pudel. Sein Hemd klebte an seinem Oberkörper und er triefte so sehr, dass er sogar eine kleine Wasserspur hinter sich her zog.

"Das ist nur Wasser, ich bin nicht aus Zucker."

Doch Shinji sah das anders. Er nahm Nate das Essen aus der Hand und schob ihn dann ins Bad. "Geh warm duschen, ich such noch mal frische Klamotten raus."
 

Kurz darauf stand Shinji ein wenig unschlüssig vor dem Bad. Er hatte nicht gehört, dass Nate abgeschlossen hatte, aber sollte er einfach rein? Es war ja eigentlich keine große Sache und auch wenn er mit dem Deal eher Nate die Chance hatte geben wollen, sich ganz natürlich ihm gegenüber zu verhalten, damit er sich an ihn gewöhnen konnte, sollte er vielleicht auch ein wenig die Initiative ergreifen.

Mit einem kurzen durchatmen überschritt er also die unsichtbare Grenze und öffnete die Tür. "Ich lass dir die Sachen hier liegen.", sagte er laut genug, dass Nate ihn hören konnte.

Wegen des Dunstes konnte er durch die Duschkabine hindurch nur Umrisse sehen und dennoch blieb sein Blick kurz daran hängen. Nate war unglaublich gut gebaut. Die Silhouette war schon nahezu perfekt und er erwischte sich bei dem Wunsch, sich einfach mit unter die Dusche zu stellen. Stattdessen schluckte er einmal trocken und beeilte sich den Raum zu verlassen.

Mit klopfendem Herzen griff er nach dem Essen, dass noch auf der Kommode stand und verschwand in der Küche, um alles vorzubereiten.

Nate war wohl aus der Dusche gekommen, gleich nachdem Shinji verschwunden war, denn noch ehe er die Ente süß-sauer und Frühlingsrollen auf den Tellern verteilt hatte, spürte er eine Präsenz hinter sich. Er erschauerte heftig. Hoffentlich sah man das nicht.

Aber warum legte Nate nicht einen Arm um seine Taille? Versuchte er ihm seinen Freiraum zu lassen oder war ihm wirklich nicht danach? Shinji wünschte sich wirklich er würde es machen, traute sich aber selbst nicht, es einzufordern.

"Ich hab echt Hunger..."

Shinji konnte Nates warmen Atem in seinem Nacken spüren, wusste aber gleichzeitig, dass er sich das nur einbildete. Sein Freund war viel zu groß, als dass er ihm im Stehen in den Nacken hauchen könnte.

"Dann setz dich", antwortete Shinji etwas steif, weil er mit den Gefühlen nichts anfangen konnte. "Ich krieg auch langsam wieder Hunger." Auch wenn er eher Appetit auf etwas anderes bekam.

Nate nahm ihm die Teller ab und ging damit zum Esstisch, was Shinji dazu veranlasste, Gläser und Getränke zu holen.

"Hast du schlafen können?"

Unweigerlich musste Shinji daran denken, dass er die meiste Zeit damit verbracht hatte, auf einen Zettel zu starren: "Schon, aber da fällt mir was ein."

Er sah auf um Nate das mit Randy zu sagen, stockte dann aber. Er schluckte wieder. Das T-Shirt war wohl kleiner, als das gestern und spannte sich deshalb ziemlich... aufreizend... über die Brust seines Freundes.

"Oh...", murmelte er gedankenverloren. "Das... Shirt ist wohl ein wenig zu klein..."

"Ein wenig?", lachte Nate und Shinji fragte sich, ob er wirklich über die Enge lachte oder über ihn. "Ich habe Angst es zu sprengen, wenn ich mich zu sehr bewege."

Vor Shinjis innerem Auge riss das Kleidungsstück und gab so den Blick auf die delikate Brust frei. Leider tat ihm das Fabrikat nicht den Gefallen.

"Wolltest du mir das sagen?"

Er beobachtete wie Nate sich eine der kleinen Frühlingsrollen griff und sie sich komplett in den Mund schob. Beinahe hätte Shinji gewinselt.

"Was?", fragte er abgelenkt, realisierte dann aber, dass Nate mit ihm gesprochen hatte. "Eh... nein... da war so ein Kerl... Andy oder so... der hat vorhin hier geklingelt, weil er dachte, du wohnst hier." Seltsamerweise wurde ihm nicht mehr schlecht und bange bei dem Gedanken, dass der andere Kerl etwas absurdes vermuten könnte. Da war ein anderes Gefühl, das sich schwer in seinem Magen ausbreitete. "Er hat seine Nummer hier gelassen und meinte, du hättest mal mit seinem Bruder zusammengearbeitet?"

Um sich von dem Anblick vor sich los zu reißen, nahm er sich schnell von der Ente und dem Reis, Nate tat es ihm gleich.

"Meinst du vielleicht Randy?" Shinji nickte. "Ja genau, so hieß er. Sorry, ich kann mir Namen nicht so gut merken."

Doch Nate überging das einfach: "Ich hab das Tattoo stechen lassen, als sein Bruder fiel. Du erinnerst dich? Wo ist die Nummer?"

Shinji hätte jetzt wahrscheinlich Mitgefühl zeigen müssen, aber er war viel zu sehr mit der Frage beschäftigt, wie sein Freund zu Randy stand, wenn er so schnell diese Nummer haben wollte.

"Hätte ich dich anrufen und Bescheid geben sollen? Oder ihn aufhalten sollen?"

Wenn die Verbindung der Bruder war, könnten die beiden nach seinem Tod recht eng befreundet gewesen sein. So etwas konnte zusammen schweißen.

"Nein, ist schon okay. Ich werde ihn später anrufen." Und Nate sah dabei so nachdenklich auf seinen Reis, dass sich automatisch etwas in Shinjis Magen verknotete.

"Ich hoffe er hat dich nicht genervt.", fügte Nate eine ganze Weile später hinzu. "Das kann er nämlich sehr gut."

Das typische Grinsen fehlte und das besorgte Shinji. Wollte Nate Randy vielleicht gar nicht sehen? Hatte er gerade eben ein falsches Gefühl gehabt? Er war sich wirklich nicht sicher. Manchmal wünschte er wirklich, er wäre empathischer. Dann wüsste er jetzt auch, was dieser Ausdruck auf Nathans Gesicht bedeutete.

"Ich war halb am Schlafen, wenn ich ehrlich bin. Er war ein bisschen aufgedreht, aber... freundlich... denke ich."

Und er war hübsch gewesen. Nicht sein Typ, aber hübsch. Und das störte ihn. Allerdings ausnahmsweise mal nicht, weil er sich selbst dabei erwischte, wie er Männer kategorisierte.

"Entschuldige. Ich weiß, du bist nicht der größte Fan von unangekündigtem Besuch."

"Kannst du ja nichts für", antwortete Shinji stirnrunzelnd. War ja wohl kaum so, als hätte Nate den Kerl vorbei geschickt. "Außerdem..."

"Das Essen ist ganz schön heiß."

Die furchen auf Shinjis Stirn wurden tiefer. "Ist alles in Ordnung? Reißt das Gespräch alte Wunden auf?" Anders konnte er sich das nämlich nicht erklären. Nate war wirklich nicht der Typ der so plötzlich und so eindeutig das Thema wechselte. Es sei denn, er wollte Shinji aufmuntern, aber dann erzählte er irgendeinen Blödsinn und begann nicht über das Essen zu reden.

"Ich habe ihn nur seit über einem Jahr nicht gesehen. Das ist alles." Nur ein Jahr nicht? Aber das war doch wirklich nicht die Welt, oder? Was war so schlimm daran? Wahrscheinlich hatte Nate einen Einsatz gehabt und danach hatte seine Schwester ihn sofort zu sich geholt. Das war doch nichts ungewöhnliches und auch nichts verwerfliches. Randy wusste doch, was Nate arbeitete, da würde der wohl doch Verständnis haben. Und er wirkte auch alles andere als sauer.

"Ich hätte ihn erst gar nicht aus den Augen verlieren dürfen. Ich habe es seinem Bruder versprochen, da lag er auf dem Sterbebett. Aber... ich muss zugeben... ich habe nicht einmal nach ihm gesucht. Ich habe mir eingeredet, dass es so okay sei und es für ihn an der Zeit wäre, endlich auf eigenen Beinen zu stehen. Aber vielleicht war das falsch... Ich habe Dinge getan auf die ich nicht stolz bin und vielleicht wollte ich einfach nur Abstand dazu gewinnen."

Shinji verstand nur Bahnhof. Na gut, nicht nur. Nate hatte ein schlechtes Gewissen, das verstand er. Er verstand ebenfalls, dass das an dem Versprechen lag. Aber den Rest begriff er nicht. Nate war nun wirklich niemand, der andere im Stich ließ und schon gar nicht absichtlich. Was könnte ihn nur dazu getrieben haben?

Aber das war jetzt auch nicht wichtig. Wichtig war, Nates Trauermiene wieder aufzuhellen. Also... wie tröstete man? Erst mal Körperkontakt... also legte er die Hand auf Nates Arm. Dann... Worte... positive Worte. Nate hatte Angst, dass es Randy nicht gut ginge, oder? Da konnte er doch ein bisschen entgegenwirken:

"Ich denke er sah ganz normal aus. Nicht irgendwie fertig oder so. Und er hat ziemlich intensiv Ausschau nach dir gehalten, schien aber nicht sauer auf dich. Und er hat es auf sich genommen, dass ihr euch aus den Augen verloren habt. Er meinte, er hätte sein Handy mit den Kontaktdaten verloren... oder es wäre kaputt gegangen oder so. Er hat auch nur seine Nummer da gelassen und nicht deine gewollt. Sieht also so aus, als wäre er nicht total verzweifelt oder von dir besessen oder so..."

Nates Blick lag eine Weile auf der Hand, die auf seinem Arm lag. Erst dann wanderte er langsam nach oben und traf schließlich Shinjis Augen. Und dann lachte Nate völlig unvermittelt. "Handy verloren", gluckste er. "So ein Idiot."

Er hatte ein wenig das Gefühl, dass Nate jetzt nur so locker reagierte, weil er nicht wollte, dass Shinji sich Sorgen machte. Aber er konnte sich da auch irren. Da Nate das Essen wieder aufnahm, tat auch Shinji das und nahm dafür seine Hand auch wieder zu sich.

Dennoch lag ihm irgendwas im Magen...

"Außer, dass er der Bruder von deinem Kumpel war... ist noch irgendwas... ich weiß nicht... besonderes an ihm? Ich hab so ein komisches Gefühl..."

Nate hob irritiert eine Augenbraue: "Also... ein Psychopath wird er nicht sein. Du meintest, er sähe ganz normal aus."

Als ob Psychopathen nicht auch ganz normal aussehen. Randy stand ja nicht vor der Tür, mit einem abgetrennten Kopf in der Hand und über und über mit Blut besudelt. Außerdem hatte er keine Angst vor dem Kleinen.

"Wieso fragst du?"

Doch Shinji schüttelte nur abwehrend den Kopf: "Vergiss es einfach... ich dreh wahrscheinlich nur langsam durch und fange schon an Gespenster zu sehen."

"Nach gestern verständlich", sagte Nate da ganz neutral. "Geh es ruhig an, Shinji. Erst wird gegessen, dann wird gezockt. Oder willst du 'nen Film sehen? Für mich egal, ich kann bei beidem Bier trinken."

Shinji musste schmunzeln, besonders, als er sah, wie Nate seine Augenbrauen hüpfen ließ. War er nicht eigentlich gerade dabei gewesen, Nate aufzumuntern? Jetzt war es ja doch wieder umgekehrt. Aber sein Arzt hatte ihn schon vorgewarnt, dass das Zeit brauchte und dass er sich ruhig in die Hände seines Freundes begeben solle. Shinji wollte nur aufpassen, dass das nicht Überhand gewann. Er wollte nicht zu einem jammernden Waschlappen verkommen. Er war immer auch selbst klar gekommen, das wollte er auch beibehalten. Dass Nate ihm jetzt durch diese Zeit half, war in Ordnung, aber irgendwann musste das auch wieder aufhören. Irgendwann musste man loslassen.

"Mir ist irgendwie nicht nach zocken. Aber wir können ja mal Netflix durchwühlen, da finden wir sicherlich was."

"Klingt gut", erwiderte Nate, lächelte dann aber fürsorglich: "Aber lass uns endlich mal essen."
 

Als sie fertig waren ging Nate ans Fenster zum Rauchen und Shinji holte den Zettel mit der Nummer. Er wollte das nicht noch vergessen und Nate sollte auch nicht noch einmal fragen müssen. Das wäre nicht fair.

"Ich ruf ihn kurz an, ja? Es dauert nicht lange." Aber Shinji schüttelte schnell den Kopf: "Lass dir Zeit. Ihr habt euch lange nicht gesehen." Er sagte das ganz ehrlich, auch wenn diese Worte einen bitteren Nachgeschmack hinterließen. Was war nur los mit ihm?

"Ich geh in der Zeit auch eine Rauchen", erklärte Nate noch und war dann zur Tür raus. In den viel zu engen Klamotten... und draußen war es sicherlich immer noch am nieseln. Dieser Kerl...

Dennoch schmunzelte Shinji, als er begann das Geschirr zu spülen. Als er einen Blick auf die Korkplatte warf, fiel das aber. Er hatte Nate noch nicht gesagt, dass er die komplette Woche krank geschrieben war, das sollte er noch nachholen.

Erstes Mal

Nate setzte sich neben Shinji auf die Couch, näherte sich ihm aber nicht. Langsam fragte der Asiate sich, warum er den Deal überhaupt vorgeschlagen hatte, wenn Nate ihn nicht nutzte. Was brachte das denn? Sie verhielten sich mehr wie Freunde, als jemals zuvor. Was sollte das? Hatte Nate doch das Interesse verloren? Shinji verstand es nicht. Nate hatte doch so glücklich gewirkt.

"Und, alles gut zwischen euch?", fragte er, schließlich wollte er, dass es Nathan gut ging.

"Bestens", erwiderte Nate. "Ich soll am Donnerstag mit ihm was trinken gehen, das wird furchtbar. Aber ansonsten ist alles bestens."

Das... verstand Shinji irgendwie nicht. Warum furchtbar? Genau das hatte Nate mit ihm auch gemacht, als sie sich wiedergesehen hatten. Sollte doch also Routine sein, oder?

"Warum wird das furchtbar?", fragte er deshalb auch. "Ich dachte, du freust dich, ihn wieder zu sehen?"

"Das ganze wird einfach nur ein Besäufnis, deshalb wird es furchtbar." Ehm... und ihr Wiedersehen war keines gewesen? Shinji konnte sich noch immer an kaum etwas erinnern.

"War das nicht genau das, was wir auch gemacht haben? Wer hatte eigentlich die Wette gewonnen?", fragte er dann doch.

Doch Nate lachte nur: "Schuldig. Aber während du nur bis zu einem Filmriss trinkst, kauert er irgendwann neben der Straßenlaterne und kotzt sich die Seele aus dem Leib. Und meistens bin ich die vermeintliche Straßenlaterne."

Hmm... da wollte ihm wohl jemand nicht auf die Frage antworten. Ehrlich gesagt war ihm das lieber, als wenn Nate ihn anlog. Wer wusste schon, was an dem Abend passiert war? Vielleicht hatte Shinji gewonnen und sich was total peinliches in seinem Suff gewünscht? Oder Nate hatte eingesehen, dass es keinen Sinn hatte, ihn zu Aktivitäten zu zwingen? Wer wusste das schon? Nun... Nate... aber was sollte es. Es war auch nicht so wichtig.

"So, Film." Er rief Netflix auf und Nate rutschte an ihn heran, sodass ihre Schultern sich berührten. Ein bisschen entspannte Shinji das ja. Vielleicht bildete er sich die ganze Sache mit dem Abstand auch ein.

Sie scrollten eine Weile, bis Nathan ihn stoppte. "Was ist mit dem?"

'Logan', stand da und nachdem Shinji die Kurzbeschreibung gelesen hatte, wusste er auch, worum es ging.

Doch Nate nutzte lieber die Nähe und strich ihm über den Kopf. Ganz sanft, aber viel zu kurz. Shinji hatte kaum Zeit, um das Gefühl zu genießen, aber er tat es trotzdem. Und das ganz ohne schlechtes Gewissen, denn hier in seiner Wohnung würde es niemand sehen. Niemand würde es erfahren.

Durch die Bewegung konnte er sich auch noch etwas näher an Nate schummeln, sodass der notgedrungen danach einen Arm um ihn legen musste, wenn er ihn nicht total grob und unhöflich weg schubsen wollte.

"Kennst du X-Men?", überging Shinji die Situation einfach und tat so, als würde er gar nichts bemerken. "Das ist der Film über Wolverine."

"Den fand ich damals schon cool. Dann schauen wir doch den."

Shinji startete den Film und sie machten es sich auf dem Sofa gemütlich. Getrennt... zumindest anfangs. Schon während der ersten Szene wanderte der Arm, der hinter ihm auf der Sofalehne gelegen hatte, auf seine Schulter und ehe er es sich versah, hatte Nate ihn an sich gezogen. Das war echt filmreif, da hätte nur noch das vorausgehende, falsche Gähnen gefehlt.

Endlich, war sein erster Gedanke dazu. Sein zweiter war, wie angenehm es doch war, den anderen so nah zu spüren. Und der dritte, wie einfach es ihm jetzt schon fiel, das einfach zu akzeptieren.

"Mann, ist der Kerl alt geworden.", kam der Kommentar von seinem Kuschelkissen.

Shinji änderte noch etwas die Position, damit er es gemütlicher hatte und genoss dann die Nähe des anderen. Dumm war nur, dass er sich jetzt kaum noch auf den Film konzentrieren konnte. Die Eindrücke, die er von Nate bekam, waren viel intensiver. Sein Geruch, sein Herzschlag, seine Wärme und einfach das Gefühl, so nah bei ihm zu sein. Deshalb antwortete er auch nur geistesabwesend mit einem 'Hmhm'.
 

Während Nate sich zunehmend entspannte, je länger der Film andauerte, hatte der andere Körper exakt die gegenteilige Wirkung auf Shinji. Die Nähe zu Nate erregte ihn, sowohl im sexuellen Sinne als im anregenden. Deshalb war er auch etwas irritiert als Nate sich so gar nicht rührte, als der Abspann des Filmes lief, den Shinji keine Sekunde lang verfolgt hatte.

"Nate?", fragte er verwirrt. Aber Nate schlief. Tief und fest. Na toll...

Kurz kamen Shinji tatsächlich ein paar unanständige Gedanken, aber Nate so zu wecken, war ihm dann doch ein wenig zu offensiv.

Stattdessen drehte er sich etwas und strich mit seiner Hand leicht über Nates Wange. "Hey...", sagte er sanft. "Du solltest dich lieber hinlegen. So bekommst du nur Rückenschmerzen..."

Nate murrte müde, zog Shinji noch fester an sich und ließ sich dann einfach mit ihm zur Seite fallen. "Liegst du bequem? Ja? Ich auch... gute Nacht."

Shinji musste lachen, schmiegte sich aber sogar kurz an ihn. Als Nathan ihm über den Rücken streichelte, erschauerte er stark. Sein Körper war komplett überreizt und sein Geist schon seit Stunden nur noch mit unanständigen Bildern gefüllt. Eine etwas intensivere Berührung hätte ihn wahrscheinlich zum keuchen gebracht.

Als er Nates Blick auf sich spürte, grinste er zu ihm hoch: "Wie schade. Ich hätte da viel interessantere Aktivitäten als schlafen im Sinn."

Nate hob amüsiert, aber auch deutlich interessiert eine Augenbraue und kam ihm schon etwas näher. "Ach ja?", fragte er und gab ihm einen sanften Kuss auf die Unterlippe. Es war ein wenig, als hätte sein Freund nur darauf gewartet, dass er den ersten Schritt machte. "So etwas?" Dann küsste Nate ihn noch einmal, diesmal richtig und so intensiv, dass sich Shinji leicht zu winden begann, vor Erregung. "Oder so etwa?"

Und plötzlich lag Nathan über ihm, eine Hand unter seinem Shirt und die Lippen an seinem Hals. "Oder doch lieber so etwas?"
 

Es war wundervoll gewesen. Traumhaft. Besser, als Shinji es in Erinnerung hatte, wenn auch ein wenig schmerzhafter. Es hatte sich heraus gestellt, dass Nathan die ganze Zeit schon ein Kondom und ein Tütchen Gleitcreme in der Hose gehabt hatte. Dennoch war das eine zweite Entjungferung und dementsprechend unangenehm. Aber das war schnell verflogen. Wesentlich schneller als gedacht und sie hatten sich beide in immer höhere Höhen getrieben.

Bis es dann irgendwann vorbei gewesen war...

Shinji fühlte sich komisch. Er konnte nicht genau sagen was es war, aber er fühlte sich nicht gut. Schon kurz nachdem er zum Höhepunkt gekommen war und Nathan sich von ihm gelöst hatte, waren ihm Tränen in die Augen gestiegen. Aber er wusste nicht warum. Es war perfekt gewesen, warum fühlte er sich plötzlich so elend?

Druck, wie von einem Panikgefühl, legte sich auf seine Brust, während er versuchte sein Gesicht in Nathans Brust zu verstecken, damit der bloß nichts mitbekam. Er konnte doch nicht zu heulen anfangen, direkt, nachdem sie das erste Mal Sex gehabt hatten! Vor allem nicht nach gestern. Nicht, dass Nate noch dachte, er hätte etwas falsch gemacht. Denn das hatte er nicht und Shinji wollte nicht, dass er sich schlecht fühlte, nur weil mit ihm jetzt die Emotionen durchgingen. Was war denn los?

Doch als die ersten Tränen fielen, wurde ihm klar, dass Verbergen keine Option mehr war.

"Es tut mir leid", sagte er vorsorglich, das Gesicht immer noch an der Brust des anderen vergraben, weil er gerade nicht weg konnte. Dieser andere Körper war das einzige, was ihn gerade noch zusammenhielt. Was war denn nur los?

Starke Arme legte sich um ihn und er spürte, wie Nate den Kopf schüttelte. Wohl um ihm zu zeigen, dass er sich nicht entschuldigen brauchte, dabei hatte er wirklich das Bedürfnis dazu. Denn das, was Shinji hier tat, war doch nicht richtig. Man heulte doch nicht nach dem Sex. Zittern vor Lust - ja, aber nicht flennen.

"Gut, Sofa auch abgehakt." Hörte Shinji da plötzlich und er gluckste leise - leider endete es in einem Schluchzen. Doch er ging auf den Scherz ein. Dieses Spiel zwischen ihnen kannte er ja schon und er war sich sicher, Nate konnte ihn auch diesmal beruhigen. Shinji vertraute darauf und es war das einzige, was ihn davon abhielt, sich zitternd und schluchzend zu einem Ball zusammen zu rollen und die ganze Welt auszuschließen.

"Du führst also eine Liste?" Seine Stimme war weit weg von einem Zustand, den man stabil nennen konnte, doch er ignorierte das. Genauso, wie Nate es ignorierte. Vielleicht ging es so ja weg... "Was steht denn sonst noch drauf?"

"Hmm... der Küchentisch, die Dusche... das Bett wäre sicher auch ganz nett... noch mal das Bett aber die andere Seite... oh... und natürlich der Vorraum!"

Während Nate ihm sanft den Nacken kraulte, ließ der Druck auf der Brust ein wenig nach. Es schien zu klappen. Also spielte er auch weiter mit.

"Beide Seiten vom Bett? Dann aber mindestens noch zweimal. Mit dem Kopf jeweils zum Fußende." Was man so für einen Nonsense reden konnte, aber es half, das war die Hauptsache. "Und der Vorraum? Das wird doch mega unbequem. Nicht, dass dich das interessieren müsste. Ich bin ja der mit den Rückenschmerzen danach."

Nathan lachte leise. Shinji hörte, dass es nicht ganz ehrlich war, aber das tiefe Brummen beruhigte ihn zusätzlich. "Eigentlich dachte ich mehr an was vertikales. Ich halte dich und die Wand macht den Rest. Oder war es umgekehrt?"

"Wie? Du hältst die Wand und ich mache den Rest? Das ist aber eine unfaire Arbeitsverteilung. Die Wand ist doch viel zu schwer für dich."

"Ich hab genug Spinat gegessen, dass ich die Wand mit meinem kleinen Finger halten kann."

Als Shinji diesmal über diesen vollkommen unwitzigen Witz gluckste, hörte man kein Schluchzen mehr. Stattdessen drückte er sich noch enger und schutzsuchend an Nate. "Wie viel einfacher alles mit dir sein kann...", murmelte er. Und es stimmte. Er wusste, dass er ohne ihn Stunden mit diesen Gefühlen gekämpft hätte, die er noch immer nicht zuordnen konnte und die ihm unsagbar peinlich waren. Aber auch wenn Nate sicherlich nicht begeistert davon war, so sagte er nichts. Machte ihm keine Vorwürfe und verurteilte ihn nicht. Er legte die Arme nur noch enger um ihn, knuddelte ihn kurz förmlich und hauchte nur ein Wort "Shinji...". Und in diesem Wort lag so viel Liebe und so viel Herz, dass Shinji gar nicht anders konnte, als sich zu entspannen und sich auf diesen Gefühlen forttragen zu lassen.

"Nate... ich..." Und plötzlich war die Realität wieder da und die Worte, die er fast ausgesprochen hätte, hämmerten in seinem Kopf zusammen mit Gefühlen und Erinnerungen, die so gar nicht dazu passten. Übelkeit schwoll so gewaltig in ihm an, dass er sich sich sofort weg drückte, noch eine Entschuldigung hervorwürgte und dann ins Bad verschwand um sich geräuschvoll zu übergeben.
 

"Trinkst du deinen Tee mit Honig?" Nur Augenblicke später stand Nate in der Tür und Shinji konnte nicht mehr, als den Kopf als Antwort zu schütteln. Zusammengesunken kniete er neben der Toilette und traute sich kein Wort zu sagen, aus Angst, dass der Rest des Abendessens auch wieder raus wollte.

Er schämte sich so unglaublich. Wie hielt Nate es nur mit ihm aus? Jeder andere wäre längst zutiefst beleidigt gegangen und Shinji hätte es ihm nicht einmal übel genommen. Er hätte es verstanden.

Aber Nate blieb und es schürte die Gefühle nur, die er für ihn empfand, was letztlich nur dazu führte, dass er sich noch elender fühlte.

Wir führen keine Beziehung, versuchte er sich einzureden. Wir führen keine, es ist alles gut. Niemand hat es gesehen, niemand wird es erfahren. Es ist alles gut. Dass da mehr war... das war nicht schlimm. Das musste er nicht aussprechen, das konnte sein Geheimnis bleiben. Er trug es seit 15 Jahren in sich, hatte es neu entdeckt und es würde niemals jemand erfahren.

Langsam... ganz langsam und vorsichtig stand er auf. "Ich zieh mich mal an..." Doch er stoppte noch bevor er nur einen Schritt getan hatte.

Er stoppte, weil die Vorstellung, so in Kleidung zu steigen, ihn anwiderte. Er widerte sich selbst an. Er war schmutzig... er fühlte sich so unsagbar schmutzig. Er konnte sich so nicht anziehen.

Aber unter der Dusche würde er wieder versacken. Diesmal würde es nicht bei geröteter Haut bleiben und davor hatte er Angst. Würde er jetzt duschen, er würde sich die Haut blutig schrubben und wer wusste, was sonst noch. Selbst wenn er sich die Haut abzog, würde das Gefühl ja nicht verschwinden, aber was sonst tun? Er wollte ja klar bei Verstand bleiben, aber es fiel ihm so schwer.

Was wusste er? Er wusste, dass etwas gerade ganz und gar nicht in Ordnung war. Er wusste, dass es an dem lag, was sie gerade getan hatten und daran, was er nach Nathans Worten kurz empfunden hatte. Wahrscheinlich hatte er eine Panikattacke... wenn er Pech hatte, war es ein kleiner Nervenzusammenbruch und er wusste schon, zu was das noch führen würde. Man sollte ihn nicht allein lassen.

Es blieb nur eine einzige Option und auch wenn alles in ihm dagegen schrie, zwang er sich dazu, sich an Nate zu wenden. "Gehst du... mit mir duschen?"

Nathan zögerte. Shinji verstand das und es war sinnvoll, dennoch hätte er ihn dafür gerade gerne geschlagen. Wehe er würde nachfragen. Wehe er würde irgendwas sagen. Shinji konnte nichts mehr stand halten. Er wollte nur dieses Gefühl loswerden.

Und - zum Glück - Nate verstand. Er nickt sachte und ging zur Duschkabine, um das Wasser schon einmal warm laufen zu lassen. Als er es als in Ordnung befunden hatte, machte er ihm Platz: "Nach dir."

Als Shinji eintrat, wusste er nicht wirklich, was er erwartete. Keine Ahnung was Nate jetzt tun sollte, damit das weg ging, aber er wusste, dass er nicht allein sein konnte - es gar nicht durfte. Allein Nates Anwesenheit hinderte ihn schon daran, das Wasser heiß zu stellen. Das war schon einmal etwas. Dennoch war er mehr als verkrampft, als er nach dem Duschzeug griff und begann sich ein zu schäumen.

Als Nate den Duschkopf nahm, um ihm beim abwaschen zu helfen, verzog er kurz, und Shinji bekam einen ganzen Schwall Wasser ab.

"Entschuldige", lachte Nate verkrampft, schien dann aber die Situation zu nutzen, um ihm die Haare ganz nass zu machen.

Erst wollte Shinji protestieren, aber dann erinnerte er sich, wie gerne Nate mit seinen Haaren spielte. Vielleicht konnte er ihm damit ja einen Gefallen tun. Als drehte er sich mit dem Rücken zu ihm, ließ sich von der riesigen Pranke die Augen abschirmen und legte den Kopf etwas in den Nacken. Halb blind griff er nach dem Shampoo und reichte es weiter. "Willst du?"

Der Kopf war immerhin keine kritische Zone und irgendwie... wollte er Nate schon danken, für das, was er die ganze Zeit für ihn tat. Er konnte ihm gerade nicht mehr geben, aber es war doch letztlich der Gedanke dahinter, oder?

"Tz... ob ich will, fragt er."

Es war die richtige Entscheidung gewesen, denn er merkte deutlich, dass Nate sich ausgiebig Zeit nahm. Wenigstens konnte er ihn so ein wenig dafür entschädigen, dass er ihm so viel Arbeit machte. Ein angenehmer Nebeneffekt war auch, dass er selbst etwas entspannte. Er konnte bei der Kopfmassage gar nicht anders.

Irgendwann schirmte Nate seine Augen ab, legte seinen Kopf ein wenig nach hinten und spülte das Shampoo wieder aus.

"Blitzeblank", sagte er und verwuschelte Shinji noch einmal die Haare.

"Danke...", murmelte Shinji, was das rauschende Wasser fast übertönte. Er zögerte kurz, nahm aber dann das Duschgel noch einmal zur Hand, um diesmal Nate einzuschäumen. Er merkte wie der kurz die Luft anhielt, sich dann aber auch wieder entspannte. Vielleicht verstand Nate nicht, warum er das machte, aber wie schon am Sonntag, musste er das machen. Er wollte sich von seinen Komplexen nicht übermannen lassen, nicht diesmal. Nicht bei Nate. Er wollte, dass das funktionierte. Er wollte ihm irgendwann einmal Nahe sein, ohne danach Panik zu bekommen, dafür durfte er nicht anfangen ihm aus dem Weg zu gehen. Das hier sollte funktionieren.

Es war ein besonderes Gefühl, den Körper von Nate durch den Schaum hindurch zu spüren, obwohl er nur bei dem Oberkörper blieb. Es war nicht das erste Mal, dass er einen anderen Menschen einschäumte, aber bei Nate war es anders, wie alles andere auch.

"An meinen Kopf kommst du wohl nicht ran", lachte der zwei Meter Riese und entlockte Shinji sogar ein kleines Grinsen.

"Du könntest dich ja setzen." Doch der Vorschlag brachte Shinji nur eine gehobene Augenbraue ein: "Als hättest du dann hier drin noch Platz."

Das war ein Argument, denn die Kabine war für sie zwei, wenn sie standen, schon ein wenig eng. Nate würde mit seinen langen Beinen zu viel Platz einnehmen.

Also mussten sie sich damit zufrieden geben, dass Shinji Nate nur abbrausen konnte, doch der nutzte die Gelegenheit sich für den scheinbaren Ausrutscher vorher zu revanchieren und Nate auch Wasser ins Gesicht zu spritzen.

"Ups", kommentierte er das mit einem unschuldigen Lächeln.

Nathan knurrte zur Antwort amüsiert und grinste Shinji teuflisch an, als er ihm geschickt den Duschkopf aus der Hand.

"Oh, Kleiner. Das hättest du nicht machen sollen." Mit diesen Worten stellte er die Temperatur kurz auf kalt und übergoss Shinji damit, der aufquiekte und sofort zurückwich.

"Bah, das kriegst du zurück.", zischte er, aber das Schmunzeln, das um seine Lippen zuckte, zeigte deutlich, dass er das noch immer im Spaß meinte. "Irgendwann, wenn du es nicht erwartest." Diese halbe Drohung war hauptsächlich dem Umstand geschuldet, dass er gerade nicht wirklich kreativ war.

"Oooh, ich bin gespannt." Nate grinste breit und Shinji befürchtete, dass er wusste, dass das nur leere Worte gewesen waren.

Aber statt noch weiter darauf einzugehen, tat Nate ihm den Gefallen und drehte das Wasser ab und trat aus der Kabine.

Shinji erwischte sich erst viel zu spät dabei, wie er auf den Hintern seines Freundes starrte, als der sich zu dem kleinen Schrank vorbeugte um dort Handtücher heraus zu holen.

Kurz flackerte Scham in ihm auf. Scham darüber, solche Gelüste zu haben, aber diesmal schaffte er es, dieses Gefühl wieder zu begraben, was auch an Nate lag, der ihm das Handtuch nicht einfach gab, sonders es ihm aufhielt und ihn dann regelrecht darin einwickelte. Erst dann nahm der sich ein eigenes Handtuch. Shinji wurde richtig warm ums Herz. Es war eine so kleine Geste, aber sie zeigte so viel Liebe. Es war unmöglich sich in Gegenwart dieses Mannes nicht wohl zu fühlen. So konnte er auch das Gefühl ignorieren, noch immer nicht sauber zu sein. Selbst Nate konnte das wohl nicht ändern, aber das war in Ordnung. Wenn das Gefühl schmutzig zu sein, der Preis dafür war, mit einem so wundervollen Menschen zusammen zu sein, dann war er bereit, ihn zu zahlen. Nate war es wert.

"Ich nehme an, du bist müde. Wenn du willst, leg dich ruhig schon ins Bett, ich bleibe noch im Wohnzimmer."

Shinji war definitiv zu wach, um jetzt schlafen zu gehen. Er hatte bis in den Nachmittag geschlafen und er war sowieso das Arbeiten in der Nacht gewohnt. Er konnte noch nicht schlafen, aber Nate hatte einen anderen Tagesrhythmus und den wollte er nicht unnötig stören. Obwohl er, wenn er ehrlich war, immer noch ein wenig Angst davor hatte, allein zu sein. Aber da musste er jetzt eben durch. Nate hatte genug Arbeit mit ihm, er würde ihm nicht auch noch den Schlaf nehmen.

"Siehst du noch fern?", fragte sein Freund dann aber. "Falls ja, würde ich mitmachen."

"Bist du sicher?", fragte Shinji sofort. "Es... es ist wirklich spät."

Wieder kribbelte Wärme in seiner Brust. Ob Nate ahnte, dass er nicht allein sein wollte? Oder ob er selbst vielleicht noch nicht genug von ihm hatte? Beides waren unglaublich schöne Vorstellungen.

Als Nate nickte, gingen sie zusammen ins Wohnzimmer und Shinji setzte sich wieder vor seinen Laptop.

"Worauf hast du denn Lust? Normales Fernsehen habe ich nicht, nur Netflix, also könnten wir uns eine Serie raus suchen." Wenn er nicht arbeitete oder spielte, schaute er Serien. Mehr Hobbies hatte er nicht wirklich, aber die waren auch zeitfressend genug.

"Serien sind immer gut", antwortete Nate, aber Shinji war sich nicht einmal sicher, ob das die Wahrheit war. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Nate im Fernsehen viel anderes als Nachrichten schaute, aber solange sein Freund sich nicht beschwerte, konnte er ihm auch nicht helfen.

"Whoa, das nächste Mal nehme ich Klamotten mit. Das ist echt furchtbar, dass ich ständig in deinen rumlaufen muss."

Er sah auf und musste sich ein Grinsen verkneifen. Nate trug zwar mittlerweile sein eigenes T-Shirt, aber eine kurze Trainingshose von Shinji und die sah doch sehr... kurz aus. Und ein bisschen eng, aber Shinji lenkte seinen Blick schnell wieder auf den Bildschirm.

Nate und er legten sich kurz darauf aufs Sofa und begannen die Serie, doch es war, wie er schon vermutet hatte: Sein Freund schlief keine halbe Stunde später ein.

Schmunzelnd löste sich Shinji von ihm, setzte sich wieder an seinen Laptop, setzte sich Kopfhörer auf und begann noch zu spielen. Mit Nate direkt bei ihm, war er relativ ruhig und das Spiel half ihm ebenfalls, seine Gedanken aus gefährlichen Gefilden fern zu halten. Um 3 Uhr morgens war er dann endlich müde genug, dass er sich zu seinem Freund legen konnte, auch wenn das Sofa etwas eng war. Nate schien kurz wach zu werden, denn er wechselte die Position, um ihm mehr Platz zu machen und zog ihn zu sich. Aber kurz darauf war dessen Atem wieder gleichmäßig und auch Shinji driftete bald weg.

SEAL

Am nächsten Morgen öffnete Shinji träge die Augen, als er bemerkte, dass Nate neben ihm langsam unruhig wurde.

„Hm?" Er murmelte etwas Unverständliches, schloss aber die Augen wieder und vergrub sein Gesicht in Nates Brust.

„Es ist ja noch hell...", grummelte er. „Viel zu früh..." Am Ende dieser Worte war er schon wieder halb eingeschlafen.

Das hielt aber nur so lange, bis Nate neben ihm zusammenzuckte und dann schwer atmend aufwachte. Sofort war auch Shinji wach und löste sich ein wenig, um ihn ansehen zu können.

„Ist alles in Ordnung?", fragte er leise. „Schlecht geträumt?"

„Schlecht? Naaah... nur eine Erinnerung."

Das schiefe Lächeln gab dem ganzen etwas mehr Bedeutung als ein ‚nur'. Aber wenn es tatsächlich eine Erinnerung gewesen war, war es fast offensichtlich, worum es ging.

„Willst du darüber reden?", fragte er vorsichtig. „Ich hör dir zu."

„Ich weiß nicht", antwortete Nate und Shinji konnte das Zögern deutlich in dessen Stimme hören. „Im Moment schirme ich alles bewusst ab. Vielleicht ist das ja auch ein Fehler von mir. Aber ich habe das Gefühl, wenn ich dauernd daran denke, ist es unlogisch hier zu sein."

Okay... das ging jetzt weniger über den Traum, aber Nate sprach darüber. Das war gut. Jetzt musste Shinji nur noch das Gefühl der Überforderung loswerden, um seinen Freund anständig unterstützen zu können. Puh...

Aber wenn er einen Schritt zurück trat und sich die Worte losgelöst von dem darunterliegenden Thema besah, war das eigentlich eine Sache, die ihm sehr bekannt vor kam.

Er rutschte etwas hoch, um Nate eine Hand auf die Wange legen zu können. Er wusste mittlerweile, das solche Berührungen sehr beruhigend wirken konnten.

Die Worte, die er jetzt an Nate richtete, waren vorsichtig, denn er hatte wirklich angst, noch mehr kaputt zu machen. Er war nicht gut mit Menschen, nicht gut mit Worten, aber er musste es versuchen. Wenn Nate schon mit ihm sprach, dann musste er es wenigstens versuchen, auch wenn ihm sein Herz dabei bis zum Hals schlug.

„Du führst aber nicht zwei Leben. Auch wenn es dir vielleicht so vor kommt. Du bist nur eine Person, nicht zwei. Du kannst nicht hier der private Nate sein und dort der SEAL. Du bist beides, auch hier. Es ist nicht das Selbe, aber ich habe ein bisschen Erfahrung damit, wie es ist, einen Teil von sich zu verdrängen... das ist nicht gesund und das geht auch auf Dauer nicht gut."

Er pausierte kurz um zu sehen, ob Nate verstand, was er damit sagen wollte. Er protestierte zumindest nicht, also konnte er sich weiter wagen.

„Ich bin gut im Zuhören und wenn du willst, sage ich auch überhaupt nichts dazu oder frage nur, wenn mir etwas nicht klar ist. Und du brauchst dir auch keine Sorgen machen, dass du mich damit emotional überforderst, denn das ist so abstrakt, dass es mich wahrscheinlich nur sehr wenig berührt."

Nate reagierte erst einmal gar nicht auf das Angebot, sondern sah Shinji nur nachdenklich an. Er legte nur eine Hand auf die an seiner Wange und rang deutlich mit sich.

„Weißt du...", begann er dann nach einer kleinen Ewigkeit. „Es war ein ziemlich langer Weg, bis ich dort war, wo ich jetzt bin. In der Ausbildung stärken sie den Körper und den Geist, aber viele schaffen es bis über einen gewissen Punkt nicht hinaus und fliegen dann aus der Ausbildung oder gehen freiwillig. Für mich war es aber das einzig Richtige. Ich dachte, ich könnte so die Welt ein wenig sicherer machen. Aber wenn du dann dort bist... wenn du dort bist und einem Jungen in den Kopf schießt, weil der eine Granate in die Menge werfen will, beginnst du dich wirklich zu fragen, wie es nur so weit kommen konnte. Das erste Mal, dass ich abgedrückt habe, war bei solch einem Kind. Er war vielleicht gerade mal zwölf Jahre alt. Ich habe vielen das Leben gerettet, indem ich jemanden getötet habe, der wahrscheinlich nicht einmal wusste, wozu er das tat... Ich habe genauso vielen das Leben genommen. Nein... es waren sogar mehr... Im Quartier haben sie von mir gesprochen, als wäre ich irgendeine Legende, aber das ist nicht wirklich etwas, womit ich mich schmücken möchte. Sie haben sich vermutlich sicherer gefühlt, wenn ich ihren Rücken deckte. Es war dementsprechend naheliegend, dass sie mich für den zweiten Einsatz befördert haben. Mittlerweile leite ich mein eigenes Team, aber ich habe schon länger das Gefühl, dass es nie ein Ende nehmen wird. Du kannst die Welt nicht sicherer machen. Es werden immer welche nachkommen. Du kannst nur versuchen, die Arbeit zu erledigen, um den Schaden zu begrenzen. Vielleicht bin ich aber auch einfach nur müde geworden..."

Shinji hörte ihm geduldig zu. Bei der Sache mit dem zwölfjährigen erschauerte sogar er kurz, aber das Gefühl verflog so schnell wie es gekommen war. Bald schon war es nur noch ein statisches Bild, das für ihn keine Bedeutung mehr hatte.

„Vielleicht...", begann er dann nachdenklich, hielt aber noch einmal inne, um genau abzuwägen, was er jetzt sagte. Er konnte sich nicht recht vorstellen, wie Nate sich fühlen musste, er wollte das auch gar nicht können... aber das einfach so stehen zu lassen, erschien ihm falsch und Nate hatte nicht den Wunsch geäußert, dass er nur zuhören solle.

„Vielleicht solltest du das anders sehen.", schlug er letztlich vorsichtig vor. „Natürlich kommen immer mehr nach, aber das ist bei allem so. Solange es Menschen gibt, gibt es auch böse Menschen. Aber wenn man von Anfang an nichts dagegen tut, weil es ja sowieso keinen Sinn macht, dann würden auch die weiterhin Unheil stiften, die du eigentlich ausschalten würdest. Verstehst du, was ich meine? Es mag sinnlos erscheinen, aber das ist es nicht. Du rettest nicht nur die Leben, die in diesem Augenblick deines Auftrags bedroht sind, sondern auch alle, die dieser Mensch danach auch noch gefährdet hätte und jene, die dieser Mensch passiv auf dem Gewissen hätte, weil er andere auch zu Extremisten machen würde, die sonst vielleicht gar nicht damit in Berührung kämen, wenn er nicht da gewesen wäre. Das ist ein ziemlich heftiges, exponentielles Wachstum, das du da aufhältst. Wenn man es ganz extrem sieht, dann bewahrst du diese Kinder vor einem ziemlichen furchtbaren Leben. Ich weiß, dass die allgemeine Meinung ist, dass ein furchtbares Leben immer noch besser ist als gar keines... aber wenn ich ehrlich bin, sehe ich das nicht so."

Das war wahrscheinlich eine ziemlich naive Ansicht der Dinge und er fühlte sich nicht ganz wohl damit, weil es so einfach eigentlich nicht war. Aber er wollte auch nicht, dass Nate da in etwas versank und in Zukunft einmal zu lange zögerte und damit sich selbst gefährdete. Er war da egoistisch, auch wenn viele das wahrscheinlich als furchtbar ansehen würden. Dennoch konnte er das alles nicht ganz so stehen lassen:

„Das ist von mir natürlich einfach gesagt. Ich kann mir nicht vorstellen, wie das ist. Ich bilde mir auch nicht ein, das zu können. Das... sind nur meine Gedanken dazu."

Vielleicht war das doch eine etwas zu extreme Ansicht. Vielleicht hätte er doch etwas anderes sagen sollen. Denn wenn er so darüber nachdachte, dann hatte er Nate gerade gesagt, dass es gut war, wenn er Kinder erschoss. Meine Güte, wie hatte er das nur sagen können? So hatte er das auch eigentlich gar nicht gemeint. Natürlich war es nicht gut. Aber sich deshalb fertig zu machen, brachte auch nichts. Nate hatte das ja nicht aus Willkür getan, sondern aus einem sehr guten Grund und wenn Shinji ehrlich war, glaubte er auch nicht, dass Nate mehr Menschen getötet, als gerettet hatte. Wahrscheinlich wogen die Toten für ihn nur wesentlich schwerer.

Arg, das war alles so ein unglaublich heikles Thema.

Als Nate dann auch noch den Blickkontakt abbrach, befürchtete er, es vollkommen versaut zu haben.

„Diese Sichtweise habe ich schon lange aus den Augen verloren", antwortete Nate dann schließlich und Shinji atemte auf, als er ihn auch wieder ansah. „Aber es tut gut, sie durch dich noch einmal in Erinnerung zu rufen. Die Frage ist nur, wie ich weitermachen kann, wenn ich den Glauben daran endgültig verliere."

Ob Nate wirklich ans Aufhören dachte? Ihm wäre das nur Recht, wenn er ehrlich war. Was ihm natürlich früh einfiel, nachdem er ihn gerade aufgebaut hatte. Er hatte da die ultimative Chance verpasst, Nate den Job auszureden. Aber wenn er ehrlich zu sich war... wollte er nur, dass Nate zufrieden war und bisher hatte es immer so gewirkt, als wäre sein Job ein großer Teil davon. Deshalb würde er ihm den Job nicht ausreden. Er würde ihn unterstützen, solange Nate noch glücklich mit seinem Lebensweg war. Dennoch zeigte er ihm natürlich auch gerne Alternativen auf, denn die gab es durchaus:

„Dann machst du eben nicht weiter. Wenn du an dem Punkt angelangt bist, wird es Zeit aufzuhören. Dann hast du genug für die Welt getan... oder du suchst dir eine andere Möglichkeit. Unterstützt zum Beispiel Ärzte ohne Grenzen. Ich bin sicher, die freuen sich über jeden Schutz, den sie kriegen können, wenn sie in einem Krisengebiet unterwegs sind. Du könntest auch zur Polizei wechseln oder Sozialarbeiter für Kinder auf der Straße werden. Es gibt viele Möglichkeiten."

Gegen Ende hatte er sich wirklich etwas warm geredet und er hoffte, Nate damit nicht überfordert oder überrollt zu haben. Hoffentlich hatte der nicht bemerkt, dass er gegen Ende absichtlich hauptsächlich Alternativen genannt hatte, die er in Amerika, ja, sogar in dieser Stadt ausführen könnte, denn das wäre ihm wesentlich lieber, auch wenn alle Optionen nicht ganz ungefährlich waren, aber nichts war schlimmer, als der Krieg, wie er fand. Und Nate müsste nirgendwo sonst Menschen umbringen und hätte hoffentlich wirklich das Gefühl, etwas zu verändern.

„Bei dir klingt das alles so logisch. Als wäre es ganz klar, was als nächstes zu tun ist."

War das denn nicht auch so? Für Shinji war die Lösung recht einfach, aber vielleicht auch nur, weil er mit alldem nichts zu tun hatte. Wahrscheinlich hatte Nate auch Skrupel, sein Team zu verlassen. Wie er ihn kannte, fühlte sich das für den an, als würde er sie im Stich lassen.

Doch wenigstens lächelte Nate wieder und strich ihm jetzt sogar sanft über die Stirn, dann über den Nasenrücken, bis hin zur Spitze.

„Ich habe jetzt noch einen Grund dazu bekommen, weiter zu machen."

„Einen weiteren Grund? Mich etwa?" Na ganz toll, das hatte er jetzt wirklich nicht erreichen wollen. Wie war das denn jetzt passiert? „Um mich brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Wenn hier Krieg ausbricht, besorg ich mir einen hübschen Bunker und warte, bis es vorbei ist." Er grinste schief, aber ironisch, ehe er die nächsten Worte sprach: „Ist ja nicht so, als wäre die Wohnung noch weit von dem Flair eines Bunkers entfernt."

Auf Nates Gesicht legte sich ein ganz sanfter Ausdruck und er strich ihm durch Haar, auch danach den Körperkontakt nicht aufgebend.

„Mag sein", hauchte er. „Aber ich werde mir trotzdem Sorgen um dich machen."

Kurz umspielte ein entschuldigendes Lächeln seine Mundwinkel, ehe er weiter erklärte und ihm mit jedem Satz ein Stückchen näher kam:

„Isst er genug? Ob er wieder zu viel arbeitet? Wie geht's ihm? Gut?"

Das klang fast ein wenig wie die Stichwortkarten auf dem Korkbrett, das neben seiner Kaffeemaschine hing, aber es ließ sein Herz dennoch höher schlagen. Er mochte diese Fürsorgliche Art von Nate sehr. Letztendlich hauchte sein Freund ihm einen Kuss auf einen Mundwinkel, zog sich nur ein wenig zurück und schien dann zu Zögern. Doch falls er noch etwas sagen wollte, gingen diese Gedanken in dem Klingelton seines Handys unter. Er tastete blind danach und ging nach einem kritischen Blick auf das Display dann ran.

„Es ist alles okay, Lily", schickte er voraus und Shinji musste tatsächlich kurz überlegen, wer Lily war.

Nates Schwester sprach so energisch in das Handy, dass Shinji ohne Anstrengung mithören konnte. Toll... eigentlich hatte er nicht lauschen wollen, aber solange er nicht aufstehen wollte - und das wollte er gerade definitiv nicht - wäre das unausweichlich.

„Du hast gesagt es würde später werden! Du hast nicht gesagt, dass du über Nacht weg bleibst. Nate, weißt du, was für Sorg-"

Doch Nate ließ sie gar nicht ausreden: „Bei dem Wetter wäre ich kein zweites Mal raus gegangen. Mach dir nicht immer so viele Sorgen. Ich bin älter als du."

„Du kannst meinetwegen hundert Jahre älter sein! Verdammt noch mal, Nate! Wenn du plötzlich nicht mehr da bist..."

Huch? Wo kam denn das her? Warum sollte Nate plötzlich nicht mehr da sein? Als hätte sie Angst, er würde überfahren werden oder so etwas. Nate war ein SEAL, der würde es doch sicher schaffen, selbstständig über eine Straße zu gehen. Dass sie davor Angst hatte, dass Nate plötzlich auf einen Einsatz gerufen wurde oder sich vielleicht etwas angetan hätte, ahnte Shinji im Entferntesten nicht.

Nate beendete das Gespräch mit wenigen Sätzen und wandte sich dann wieder an Shinji: „Okay... ich glaube, ich sollte mal nach Hause."

Und ja, selbst Shinji hatte mitbekommen, dass das eventuell angebracht war. Dennoch bekam er da eine Sache nicht zusammen. Warum machte sich Nates Schwester Sorgen, wenn Nate ihn besuchte? Er wohnte gerade um die Ecke, da konnte wirklich nicht viel passieren. Eigentlich gab es dafür nur eine Erklärung: „Hast du deiner Schwester nicht gesagt, wo du bist?"

Aber Nate schüttelte den Kopf: „Meine Schwester weiß, dass ich auf Kerle stehe. Wenn ich ihr sage, dass ich bei dir bin, zählt sie eins und eins zusammen. Zumal sie schon damals die Vermutung hatte, dass da was zwischen uns gelaufen ist. Wäre das wirklich okay für dich?"

Jetzt stockte Shinji doch und er spürte, wie sein Herz gegen seine Brust hämmerte. Er wollte nicht, dass Nates Schwester sich sorgte, aber wenn er das verhindern wollte, hieß das, dass sie etwas ahnen würde. Selbst wenn es nur eine Vermutung war, fühlte es sich an, als würden sie das, was sie hatten, nach draußen tragen. Aus dieser Wohnung raus. Raus, aus den sicheren Wänden und so wie er Frauen kannte, würde sie die Klappe nicht halten können. Sie war Kellnerin, was, wenn sie einem ihrer Gäste das erzählte? Und wenn dieser Gast ein Arbeitskollege war oder jemand, der in seinem Haus wohnte?

Andererseits hatte Lily gerade wirklich ängstlich und besorgt geklungen und er wusste, dass Nate keine anderen Freunde hier hatte. Er konnte niemanden vorschieben. Das war echt eine unglaublich dumme Situation. Er wollte wirklich nicht, dass sich jemand wegen ihm schlecht fühlte und wenn er Nate das nicht erlaubte, wäre es seine Schuld, niemandes sonst.

Automatisch vergrub er sein Gesicht wieder in Nates Brust.

„Wenn du mir schwören kannst, dass sie es niemals weiter sagt... dann okay." Er atmete tief durch. Das war gar nicht so schlimm gewesen. „Aber sie darf es niemandem sagen! Und... und sie darf mich nie darauf ansprechen!"

Okay... jetzt war ihm doch nach weglaufen. Aber Nate würde schon wissen, was zu tun war. Wenn Nate seiner Schwester vertraute, dann hieß das doch was, oder? Andererseits... Nate hatte auch ihrer Clique vertraut. Das hatten sie beide und er hatte ja gesehen, wohin das geführt hatte. Warum mussten Menschen nur so scheiße sein?

Nate legte eine Hand auf seinen Hinterkopf und streichelte ihn sanft, bis er sich wieder ein wenig entspannt hatte. Der Unterschied zu damals war, dass Nate diesmal hier war. Egal was passierte, da war jemand, der ihn hielt und stützte und aufbaute. Er musste einfach darauf vertrauen, dass am Ende alles gut würde.

„Wenn ich ihr sage, dass ich die Nächte bei dir bin...", begann Nate dann langsam und sanft. „... und sie mich fragt, ob wir zusammen sind... was soll ich ihr antworten? ‚Nein, wir haben einfach nur wilden, leidenschaftlichen Sex'?"

Shinji löste sich sofort von Nate und funkelte ihn böse an. Dass er gleichzeitig dabei rot wurde, konnte er nicht verhindern. Eigentlich sollte er blass werden, aber er wusste, dass Nate seiner Schwester das nie so sagen würde.

„Erzähl ihr... wie es ist", grummelte er dann aber und seufzte schließlich. „Ich hab dir gesagt, wie ich es nicht definiere. Wie du es definierst ist deine Sache."

Aber es war für ihn auch nicht ‚nur Sex', er brachte es nur nicht über sich, Nate das auch so zu sagen.

Plötzlich wurde er an die Brust des anderen gedrückt und förmlich durch geknuddelt.

„Ehrlich, bei dir sterbe ich noch an Herzversagen", seufzte Nate verträumt und schaffte es damit tatsächlich, dass es in Shinjis Brust warm wurde. Es war schön, einen Menschen um sich zu haben, der einen so gern hatte und der ihn einfach nahm, wie er war.

Letztendlich stand Nate aber auf. „Du wirst noch früh genug kapieren, wie ich das hier definiere."

Nachdem Nate seine Sachen zusammen gesammelt hatte, standen sie gemeinsam vor der Eingangstür.

„Das sollten wir wiederholen. Auch wenn ich das Ende vom Film nicht mehr gesehen habe. Es war ein schöner Abend."

Shinji blinzelte vollkommen verwirrt: „Machst du mit mir Schluss?"

Die frage war nicht wirklich ernst gemeint, aber er war doch ein wenig erschrocken. Warum sagte Nate das? „Jedes Mal, wenn ich das gehört habe, habe ich die Frau danach nie wieder gesehen. Wann sind wir denn auf den Status der leeren Floskeln zurück gefallen?"

Eigentlich hatte er wirklich gedacht, sie wären weiter. Das war kein schönes Gefühl, wenn er ehrlich war. Und es passte so gar nicht zu dem, wie Nate gerade eben noch gewesen war. Hatte er was verpasst? Er hatte doch nur seine Sachen zusammen gesammelt. Eben gerade war doch noch alles gut gewesen...

„Kleiner, wenn ich könnte, würde ich dich sogar heiraten."

...? Das war ein ziemlich schneller und krasser Umschwung. Er kam da nicht mehr hinterher.

„Du bist echt irre...", murmelte er dazu nur, weil er wirklich nicht wusste, was er damit anfangen sollte. Nate meinte das sicher nicht ernst. Das war sicherlich auch nur so ein rhetorisches Ding. Oder er übertrieb absichtlich, um seinen Standpunkt klar zu machen.

„Aber wenn du mir nicht glaubst, dann machen wir doch gleich ein nächstes Date aus."

Bei dem Wort ‚Date' lief ihm ein kalter Schauer den Rücken hinunter. Ob das jemals aufhören würde? Er wollte ja wirklich positiver reagieren, wollte akzeptieren, was er selbst empfand, aber das jahrelange davonlaufen davor, war immer noch so drin, dass er nichts dagegen tun konnte. Er wusste auch nicht, wie er das loswerden sollte. Aber solange sich das alles nur in seiner Wohnung abspielte, war es in Ordnung. Er konnte sich zumindest einreden, dass es in Ordnung war.

„Wann, wo, was?", fragte er möglichst locker. Nate musste nicht mitbekommen, dass er allein mit dem Wort schon ein Problem hatte.

Nate schien nichts bemerkt zu haben, denn der zuckte nur die Schultern und grinste ein wenig verschwörerisch:

„Wenn die Wahl bei mir liegt, dann sage ich: Heute Abend, beim Italiener, eine Riesenpizza."

„Okay... holst du mich ab?"

Als Nate sich eben so merkwürdig verabschiedet hatte, hatte Shinji schon befürchtet, einen einsamen Abend vor sich zu haben. Eigentlich war das nichts ungewöhnliches für ihn, aber aus irgendeinem Grund war er einfach davon ausgegangen, dass Nate so viel Zeit mit ihm verbringen würde, wie möglich. Er hatte es irgendwie als selbstverständlich angesehen und als das nicht mehr gegeben gewesen war, hatte er erst bemerkt, wie sehr er sich schon an die Anwesenheit des anderen gewöhnt hatte. Außerdem war er krank geschrieben... er wusste gar nicht, was er mit seiner Freizeit anfangen sollte.

Nate sagte ihm noch, dass er ihn um sieben abholen würde, dann war er weg. Eigentlich hätte Shinji sich einen Abschiedskuss erwartet, aber wenn man bedachte, wie er auf körperliche Nähe reagierte, war es wohl nur allzu verständlich, dass Nate sich zurück hielt. Shinji schloss die Tür mit einem Seufzen und ging zurück ins Wohnzimmer.

Plötzlich von der Stille überwältigt, setzte er sich an seinen Rechner in seinem Schlafzimmer, drehte dort die Musik auf und loggte sich in eins seiner online Spiele ein. Etwas anderes hatte er ja sowieso nicht zu tun.

Kleidung

Als es am Abend klingelte, war Shinji schnell an der Tür. Es war Nate, wie er eigentlich erwartet hatte, aber es verwunderte ihn dennoch.

„Hast du deinen Schlüssel vergessen?" Immerhin hatte er ihm den extra dafür gegeben. Aber er trat erst einmal zur Seite, um seinen Kumpel herein zu lassen.

Da sie nur zu einem Italiener gingen, trug Shinji ein kurzärmeliges, dunkelgraues Hemd mit schwarzen und roten Tribals. Dazu eine normale, blaue Jeans.

Erst jetzt musterte er Nate. Er trag ganz klassisch für ihn ein weißes Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln und eine helle Jeans. Aber was viel interessanter war, war die schwarze Sporttasche, die er dabei hatte. Auch wenn es ein etwas komisches Gefühl war, dass Nate Sachen von sich hier lassen würde, kribbelte es in seinem Magen aufgeregt. Shinji konnte nicht sagen, was sich verändert hatte, aber er vermutete, dass es die alten Gefühle waren, die sein bester Freund schon zum zweiten Mal hatte in ihm erwachen lassen. Einerseits war das wirklich aufregend, andererseits war da auch immer dieser Gedanke, ganz weit hinten in seinem Bewusstsein, der immer wieder leise an eine Tür kratzte und versuchte hindurch zu kommen. Er wusste, dass, sobald sich diese Tür öffnen würde, er da wäre, bereit, ihn wieder dort hin zu bringen, wo er noch vor etwas mehr als einer Woche gewesen war. Er wollte dort nicht wieder hin. Denn dieser Zustand bedeutete, dass auch Nate nicht mehr bei ihm sein würde und das war wirklich etwas, was er nicht wollte. Also musste diese Tür unter allen Umständen zu bleiben, denn auch wenn das alles ein wenig neu für ihn war und etwas plötzlich gekommen war, wollte er weiterhin Zeit mit Nate verbringen.

Nate sagte nichts zu der Sache mit dem Schüssel, aber sein entschuldigendes Lächeln hieß wohl, dass er vergessen hatte, ihn zu besitzen. Shinji fragte sich unwillkürlich, wo Nate seinen Kopf hatte, aber vielleicht hatte der sich einfach nur auf ihr Date gefreut. Er sah auch nicht traurig oder so aus, was wohl ausschloss, dass etwas mit seiner Schwester war. Apropos Schwester... „Hast du alles mit deiner Schwester klären können?"

„Ich hab's ihr gesagt. Sie freut sich und schweigt."

Der kleine Zusatz am Ende beruhigte ihn sehr, auch wenn er sich immer noch nicht ganz sicher war, ob man ihr wirklich vertrauen konnte. Aber es war ihm lieber, als wenn sie sich Sorgen machte und sie beide jeden Morgen aus dem Bett klingelte.
 

Shinji hasste U-Bahn fahren und das wusste offensichtlich auch Nathan, denn der suchte ihnen beiden eine Ecke und stellte sich dann so vor ihn, dass sie beide einen kleinen, privaten Bereich für sich hatten. Noch vor einer Woche hätte Shinji sich über die Rücksichtnahme gefreut, aber irgendwas schien sich verändert zu haben, denn plötzlich fiel es ihm negativ auf. Nate nahm ständig Rücksicht auf ihn und irgendwie... störte ihn das gerade. Es war ein bitterer Beigeschmack, denn es machte ihm bewusst, wie viele Baustellen da noch waren, die auf ihn zu kamen. Und so kam er nicht weiter... kamen sie nicht weiter.

„Du musst das nicht machen", sagte er so leise wie möglich, damit auch wirklich nur Nate das hörte. Er führte nicht gerne Gespräche in der Öffentlichkeit, schon gar nicht solche...

„Ich weiß, du denkst, du tust mir damit einen Gefallen und du liegst damit auch gar nicht so daneben, aber wenn du mich ständig in meiner Komfortzone belässt und darauf achtest, dass ich mich auch ja nicht unwohl fühle, macht es das auf lange Sicht nur schlimmer."

Er gab sich wirklich Mühe das so nett zu formulieren, wie er konnte, denn er war Nate durchaus auch dankbar für seine Zuneigung. Aber er war eben auch schon vor Nate durchs Leben gekommen und in der U-Bahn etwas gedrängt an andere Menschen zu stehen, würde ihn nicht umbringen, egal wie unangenehm es war. Er wollte von Nate nicht bemuttert werden. Außerdem befürchtete er, dass Nate das auch in anderen Bereichen machte. Es war ihm schon mehrmals aufgefallen, dass Nate sich mit Berührungen zurück hielt, selbst wenn sie nur unter sich waren. Er musste immer den ersten Schritt machen und er verstand durchaus, warum Nate das tat aber... so kamen sie nicht vorwärts. Er hatte diesen Deal nicht mit Nathan geschlossen, damit der sich zurück hielt. Aber das tat er. Wenn Shinji genau darüber nachdachte, hatte er das auch vorhin wieder getan. Er hatte ihn nicht mit einem Kuss begrüßt oder ihn damit aufgezogen, dass er sich diesmal offensichtlich Gedanken um sein Outfit gemacht hatte. Nicht einmal umarmt hatte er ihn und das irritierte Shinji unglaublich. Wofür sprang er selbst denn über seinen Schatten, wenn Nate sich dann zurück hielt? Das ergab keinen Sinn!

Irgendwie musste er Nate klar machen, dass er das sein lassen sollte. Denn auch wenn Shinji wusste, dass er schwach und hilflos wirkte... er musste nicht beschützt werden. Nicht vor so etwas. Nicht, wenn er sich in den Kopf gesetzt hatte, es zu ändern, weil es da plötzlich einen Menschen gab, mit dem es funktionieren sollte.

Er wusste auch, dass er widersprüchliche Signale schickte, dass es durchaus Momente gab, in denen sich Nate zurückhalten musste, aber das hier war keiner. Und wenn er ihn zu einem Date abholte, war das auch kein solcher Moment. Irgendwie musste er es schaffen, Nate das zu sagen.

„Ich weiß", sagte Nate dann plötzlich. „Ich weiß, dass du meine Hilfe nicht benötigst, aber..." Nate stockte und auf sein Gesicht legte sich ein Ausdruck, den Shinji nicht zuordnen konnte. Ob da doch etwas war, was Nate beschäftigte? War er deshalb so zerstreut gewesen?

„Ich wollte es dir eigentlich erst später sagen, aber ich muss am Wochenende ins Hauptquartier."

Was? Nate war auf einen Einsatz gerufen worden? Jetzt schon? Aber... aber sie hatten sich doch gerade erst wieder getroffen und... und...

„Ich bin dann wohl erst mal eine Woche nicht da."

Oh... eine Woche? Das... das war doch gar nicht so schlimm. Oder? Der Ausdruck in Nates Augen sagte ihm etwas anderes. Irgendwas war da.

Nate sagte nichts mehr, bis sie nach fünf Stationen aussteigen mussten.

So sehr Shinji auch wollte, dass es funktionierte, es war immer noch ein No-Go für ihn, dass andere von dem, was sie hatten, erfuhren. Deshalb achtete er darauf, nicht zu nah an Nate zu gehen. Das änderte sich erst, als sie in eine Seitengasse einbogen. Aber er änderte es nicht freiwillig. Nate packte ihn plötzlich am Handgelenk und zog ihn etwas näher, was Shinji nur erschrocken die Hand wieder wegreißen ließ, aber er sagte dazu nichts. Er hatte schließlich eben noch darauf bestanden, dass Nate ihn aus seiner Komfortzone holen sollte.

„Lass mich dich einfach verwöhnen, solange ich noch da bin."

Das klang auch wieder viel zu sehr nach Abschied und nach ‚Ich bin nicht nur eine Woche weg'.

„Gut, darfst du. Aber nur, wenn du im Gegenzug aufhörst, dich zurück zu halten. Zumindest, wenn wir allein sind."

„Deal", lachte Nate leise. Ob jetzt wegen des Angebots oder deshalb, weil Shinji den eher mürrisch formuliert hatte, war dabei nicht ganz klar.
 

Das Restaurant war klein und gemütlich und fast voll besetzt. Auf den noch leeren Tischen fanden sich ‚Reserviert' Karten, was klar machte, dass es hier in Kürze wirklich brechend voll wäre. Es war aber auch ein Zeichen dafür, dass das Essen dort wirklich gut sein musste.

Sie beide saßen an einem Tisch direkt am Fenster, aber dennoch eher mittig im Raum. Es war also keine dunkle Ecke, fern ab der anderen Tische, wie Shinji sonst gesessen hätte.

„Entschuldige... ich habe es auch vorhin erst erfahren, sonst hätte ich es dir früher gesagt. Aber es sind ja nur sieben Tage."

Shinji brauchte eine ganze Weile, bis er begriff, wovon Nate da eigentlich sprach, was unter anderem auch daran lag, weil er sich fragte, ob es normal für zwei Kerle war, essen zu gehen und wie wahrscheinlich es war, dass er hier auf Arbeitskollegen traf. Er hatte auf beides keine wirkliche Antwort und er hoffte einfach, dass er in der Menge der Menschen hier untergehen würde, falls doch noch jemand herein kam, den er kannte.

Warum genau noch mal hatte er hierzu zugestimmt? Ach ja... er war so erleichtert gewesen, dass sie doch noch den Abend zusammen verbrachten, dass er zu allem ‚Ja' gesagt hätte. Dumme Hormone...

Nach einigen Sekunden des Schweigens verstand er dann aber, dass es um die Sache mit der Navy ging.

„Es gibt keinen Grund, dich zu entschuldigen. Ich habe zu keiner Zeit angenommen, dass du mir das verschwiegen hast."

Plötzlich hatte er eine zusammengeknüllte Serviette im Gesicht und Nate grinste wie frecher Schuljunge. „Schau nicht so ernst, hier frisst dich keiner, wenn du ein wenig lächelst."

Doch statt der indirekten Bitte nach zu kommen, hatte Shinji nichts weiter als einen skeptischen Blick für seinen Partner übrig. Ihm war nicht nach lächeln und das hatte auch nur zum Teil damit zu tun, dass er nicht wollte, dass das hier nach außen hin wie ein Date wirkte. Da half es auch nicht, dass Nate seine Augenbrauen hüpfen ließ.

„Bist du sicher, dass es nur eine Woche ist? Denn dann ist das doch keine große Sache.", knüpfte Shinji an das vorige Gespräch wieder an.

Nate lachte nur wieder, trotz des ernsten Themas, als er Shinjis unbeeindruckten Blick sah. Er schnappte sich dann auch einfach Shinjis Serviette, weil er ja jetzt keine mehr hatte. Sehr freundlich.

„Ich bin nächste Woche Samstag wieder da.", berichtete er dann und klang nicht halb so ernst, wie er eigentlich sollte. „Aber es ist ziemlich wahrscheinlich, dass ich dann wenig später zurück muss. Ich habe ohnehin jeden Tag damit gerechnet. Ich bin ja schon mehr als drei Monate hier..."

Shinji sah auf die Karte, die er in der Hand hielt. Er hatte schon gewählt, aber gerade fiel es ihm schwer, Nate anzusehen. Es war wirklich bitter, dass sie nur noch sie wenig Zeit miteinander hatten. Da war der Andere wie ein Wirbelwind in sein Leben gestürmt und zog genauso schnell auch wieder ab. Es würde hart werden, wenn Nate wieder weg war. Der einzige Lichtblick war, dass Shinji krankgeschrieben war und sie so die Zeit möglichst effektiv nutzen konnte. Wobei da natürlich das Treffen mit Randy war, was sie einen gemeinsamen Abend kosten würde und sicherlich wollte Nate auch noch Zeit mit seiner Schwester verbringen. Das sah nicht besonders gut aus...

Dennoch wollte er Nate kein schlechtes Gewissen machen, weshalb er sich anstrengte seine Gesichtszüge etwas zu entspannen, als er aufsah und antwortete: „Dann sollten wir die bleibende Zeit nutzen, oder?"

Ehe er sich zu einem Lächeln bringen konnte, kam die Bedienung und er konnte selbst spüren, wie seine Mimik wieder gefror. Sie bestellten erst einmal ihre Getränke, weil Nate noch nicht gewählt hatte.

„Das hatte ich durchaus vor. Zumindest werde ich jede freie Minute auf dir hocken, bis du mich freiwillig abschiebst."

Alarmiert sah Shinji sich nach dieser unglücklichen Formulierung im Raum um. Glücklicherweise war der Kellner schon weg und die Tische um sie herum waren in tiefe Gespräche vertieft. Es lief ihm kurz ein kalter Schauer über den Rücken, aber er fing sich bald wieder. Es war nichts passiert.

„Klingt wie eine Herausforderung.", kommentierte er halb fragend, halb annehmend. Er hoffte wirklich, dass Nate seine Drohung wahr machte, auch wenn er selbst wusste, dass es unangenehm werden würde. Aber das war es ihm wert. Er wollte so viele Erinnerungen an den anderen haben, wie er bekommen konnte.

„Das war ein Versprechen", antwortete Nate und vergrub sein Gesicht dann schnell in der Speisekarte. Wahrscheinlich grinste er vor Vorfreude. Gut so.

„Ich bin vorbereitet. In der Sporttasche sind genug Klamotten zum Wechseln. Und wenn es dich nicht stört, würde ich die gleich bei dir lassen, damit etwas da ist, wenn ich wieder komme."

Im ersten Moment kribbelte sein Bauch aufgeregt. Nicht nur, weil Nate sein Vorhaben mit den Worten untermalte, er gab ihm auch noch ein weiteres Versprechen: Er würde wieder kommen. Nate hielt seine Versprechen, das wusste Shinji. Er wusste auch, dass sein Freund das eigentlich nicht versprechen konnte, aber daran wollte er nicht denken.

Im nächsten Moment realisierte er mit Schrecken, was das hieß.

„Das klingt, als würdest du bei mir einziehen.", krächzte er und zuckte im nächsten Moment über seine eigenen Worte zusammen. Okay... nein, das hatte auch niemand gehört. Alle redeten noch... alles gut also.

Er wusste natürlich, dass ein paar gebunkerte Klamotten noch keinen Einzug ausmachten, aber es war doch ein sehr großer Schritt in diese Richtung. Das ging ziemlich schnell, wenn man bedachte, dass Nate ihn immer noch kaum berührte.

Nate fuhr sich mit der Hand durchs Gesicht, verblieb sogar einige lange Sekunden so. Warum? War das eine Stressgeste? Es war Nate nicht zu verübeln...

„Und wenn es so wäre?", fragte der dann, nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte. Shinji fiel erst jetzt auf, dass er gerade saß, als normale Menschen. Ob da die Militärausbildung durch kam? „Ich bin ja ohnehin nicht wirklich da."

Meinte Nate das Ernst?

„Eh...", begann Shinji vollkommen überfordert.

Mussten sie das wirklich hier besprechen? Jetzt? Offenbar schon, auch wenn es ihn wirklich stresste, dass er Nates Gesicht nicht richtig sehen konnte, weil es noch immer halb hinter der Karte lag. Er war sowieso schon schlecht genug darin, anderer Leute Emotionen und Gedanken zu erraten. Man musste es ihm ja nicht noch unnötig viel schwerer machen. Aber damit musste er jetzt leben.

Er sollte das Ganze logisch angehen: Wenn Nate wieder kam, würde er sowieso ständig bei ihm sein. Zumindest, wenn dessen Gefühle für ihn sich nicht änderten und die hatten immerhin schon einmal 15 Jahre überdauert, es war nicht davon auszugehen, dass sie jetzt verschwanden. Es war also nur praktisch, wenn Nate schon ein paar Sachen bei ihm hätte. Eigentlich war es tatsächlich unsinnig, die Tasche wieder mit zu nehmen, wenn sie sowieso wieder in seiner Wohnung landen würde. Trotzdem...

„Ist dir das bei mir denn nicht zu dunkel? Und zu klein?" Er konnte definitiv nicht viel mehr von Nates Zeug aufnehmen. Obwohl er eventuell das Wohnzimmer ein wenig umstellen könnte, dann wäre noch Platz für einen weiteren Schrank. Nicht, dass Nate in der Wohnküche schlafen sollte, dem würde weiterhin Shinjis Bett zur Verfügung stehen, aber im Schlafzimmer war definitiv kein Platz sonst. Er würde seinen Arbeitsplatz nicht ins Wohnzimmer verlegen, das ging nicht. Er brauchte seinen Rückzugsort.

Warum genau plante er eigentlich schon Nates Einzug? Mitten in einem Restaurant?

„Wenn du dabei wärst, würde ich sogar in einer Höhle wohnen."

Es gab sicherlich Menschen, die so eine Aussage romantisch und süß fanden. Shinji fand sie gruselig, weshalb er beschloss sie zu ignorieren. Wahrscheinlich war sie auch nicht ernst gemeint, denn Nate zögerte nicht, das Thema zu wechseln:

„Ist sie dir denn zu klein und zu dunkel?"

„Mir?", stieg Shinji sofort darauf ein. „Nein, natürlich nicht. Sonst würde ich nicht da wohnen."

Er liebte diese Wohnung, wenn er ehrlich zu sich war. Natürlich würden die meisten sie trostlos finden, aber das war Shinji nicht wichtig. Diese Wohnung war sein persönlicher Bunker, der ihn vor dem Krieg beschützte, den er Leben nannte. Niemand konnte in seine Wohnung sehen. Es drang allgemein kaum etwas von der Außenwelt zu ihm durch und er mochte es etwas dunkler. Das gab ihm zusätzliche Sicherheit.

„Aber es geht ja auch nicht um mich.", setzte er noch nach. Er glaubte nämlich zu wissen, dass Nate eher der Typ für eine helle, lebhafte Wohnung war.

„Na eben." Nate sagte das, als wäre es vollkommen offensichtlich. „Du magst sie, warum sollte ich dann etwas dagegen haben? Es ist immerhin etwas, womit du dich wohl fühlst. Mir ist es egal, wo ich schlafe. Du könntest meinetwegen auch in der schäbigsten Behausung der Stadt wohnen. Ich würde dir überall hin folgen."

Langsam konnte Shinji das nicht mehr ignorieren: „Hör doch auf, immer solche peinlichen Sachen zu sagen... Und ich will auch nicht, dass du dich mir so... unterordnest. Solltest du nicht eigentlich der dominante Part in dieser Bez..." Er brach ab, als er bemerkte, was er da beinahe tatsächlich gesagt hätte. Eine Sekunde lang setzte sein Herz aus. Hatte das jemand gehört? Das musste doch jemand gehört haben! Das war so auffällig gewesen. Sprachen die einen Tisch weiter etwa über sie? Bestimmt... doch als Shinji versuchte zu lauschen, musste er feststellen, dass es bei der Geräuschkulisse unmöglich war, auch nur ein Wort klar zu verstehen.

Schnell schüttelte er den Kopf und redete weiter, um dieses drückende Gefühl auf seiner Brust wieder los zu werden: „Du nimmst dich viel zu sehr zurück. Ich weiß, dass du auch anders kannst. Dass du anders bist. Ich hab ständig das Gefühl, dass du es mir möglichst recht machen willst."

Wo sie grundlegend wieder am Anfang dieser Diskussion angekommen waren.

„Außerdem klingt es gruselig, wenn du solche Sachen sagst. Das klingt so nach Stalking."

Das Mienenspiel von Nate war undurchsichtig für Shinji. Er hatte keine Ahnung, was der andere gerade dachte. Das einzige, was Shinji wusste, war, dass Nate gerade nicht traurig oder wütend wirkte.

„Ist das wirklich so gruselig? Du hast keinen Sinn für Romantik..." War die Enttäuschung ernst oder gespielt? Er war sich nicht sicher. Nur die Härchen in seinem Nacken stellten sich auf, wegen der Wortwahl. Langsam wurde ihm das echt zu viel.

„Außerdem ist dir hoffentlich klar, warum ich mir so viel Mühe um dich gebe, oder? Klar kann ich auch anders, aber du würdest schreiend weglaufen, wenn ich dich gleich dominiere."

Shinji presste die Lippen zusammen und nahm einen Schluck von seinem Getränk. Wann zum Teufel war der Kellner wieder gekommen?

„Mir ist bewusst, warum du denkst, dir so viel Mühe geben zu müssen. Aber das bringt doch so nichts. Ich will nicht, dass du dich verstellen musst. Ich pushe mich doch auch ständig, obwohl ich die Konsequenzen kenne. Wenn es zu viel war, kümmern wir uns gemeinsam darum. Ich weiß, dass das anstrengend ist - unnötig anstrengend - und zwar für uns beide. Aber es gibt keine Entwicklung, wenn ich nicht mit den Problemen konfrontiert werde. Mal abgesehen davon, dass es mir auch nicht besser geht, wenn ich bemerkte, dass du dich wieder einmal zurück hältst. Das hält mir nur noch mehr vor Augen, wie unfähig ich bin, mich normal zu benehmen."

Nate nahm einen Schluck von seinem Bier und sah Shinji geduldig und offen an, als er sagte: „Ich gebe zu, ich halte mich zurück. Aber nur, weil mir dein Wohl am Herzen liegt. Du bist gerade dabei, dich wieder an menschliche Nähe zu gewöhnen. Geh es langsam an, wir haben es ja nicht eilig. Übrigens habe ich mich nicht fern gehalten, als ich dich gefragt habe, ob ich meine Sachen bei dir lassen darf. Hast du mir darauf eigentlich schon eine Antwort gegeben?"

Erst bei dem letzten Satz bemerkte Shinji, dass er sich selbst Schachmatt gesetzt hatte. Schon wieder. Alleine, dass er wegen dieser einen Frage so einen Aufstand veranstaltet hatte, zeigte doch schon, dass es wirklich sinnvoll war, dass Nate sich zurück hielt. Das war doch Mist...

Er seufzte geschlagen und zuckte dann die Schultern: „Nein, ich habe nichts dagegen. Ich hab genug Platz um den Kram unter zu bringen..."

Er kam sich irgendwie dumm vor. Wie war es nur dazu gekommen, dass er sich so hochgeschaukelt hatte? Wo kam diese Hektik plötzlich her? Vermutlich hatte er wirklich angst davor, dass das zwischen ihnen nicht schnell genug ging und Nate vielleicht doch das Interesse verlor. Das war vollkommener Unsinn, das wusste er, aber dennoch konnte er diesen merkwürdigen Druck, den er sich selbst machte, nicht abstellen.

„Danke", antwortete Nate sanft, mit einem leichten Unterton, der sich anhörte wie ‚Warum nicht gleich so?'.

Trauma

In Nates Augen lagen all die Gefühle offen, die der für ihn empfand. Gefühle die vielleicht seit 15 Jahren da waren oder sich von neuem in unglaublich kurzer Zeit entwickelt hatten. Es überforderte Shinji in dieser Situation so sehr, dass er nicht wusste, ob er dieses Gespräch noch weiter führen konnte.

Warum schaute Nate so? Er verstand es einfach nicht. Er hatte doch nichts besonderes getan! Im Gegenteil! Alles, was er bisher getan hatte, war, Nate vor den Kopf zu stoßen, ihn auf Abstand zu halten und ihm nichts als Kopfzerbrechen zu bereiten. Was nur wollte man mit jemandem wie ihm?

„Du hast dich also für mich entschieden?“ Die Stimme von Nate war so sanft und glücklich, dass sich Shinji unwillkürlich fragte, ob er ihm gerade versehentlich einen Heiratsantrag gemacht hatte. Er hatte doch nur verlauten lassen, dass er versuchen wollte, etwas Richtiges mit ihm zu haben. Mehr nicht… das war kein Versprechen oder irgendwas in diese Richtung. Nates Worte schnürten ihm schier die Luft ab. Aber wenigstens lächelte Nate jetzt wieder, dann brachte dieses Gespräch ja wenigstens einem von ihnen was.

Als er sich wieder ein wenig zur Ruhe gezwungen hatte, fiel ihm aber noch etwas anderes auf. Nate tat gerade wirklich so, als hätte es von Shinjis Seite aus gar keine Zugeständnisse gegeben. Ja, er hatte Nate auf Abstand gehalten, aber viel weniger als er irgendeine Ex von sich auf Abstand gehalten hatte. Aber das konnte Nate ja nicht wissen. Dennoch führte das dazu, dass Shinji leicht verächtlich schnaubte.

„Keine meiner Exen hat es je auch nur geschafft, mehr als eine Zahnbürste bei mir unter zu bringen.“ Mehr Hinweise konnte er Nate nicht geben, aber so wie der jetzt grinste, verstand er den Wink durchaus.

Das Grinsen bröckelte aber kurz darauf wieder: „Ich kann dich in der Zeit gar nicht unterstützen.“

Hä? Shinji brauchte einen Moment, bis er begriff, was Nate meinte, denn ihm war der Gedanke nicht gekommen, dass sein Freund notwendig für seine Genesung wäre. Zumindest dessen Anwesenheit.

„Du tust ja so, als wäre das schlecht.“

Als Shinji die Verwirrung auf Nates Gesicht sah, fuhr er schnell fort, weil ihm erst hinterher auffiel, dass der Satz unglücklich formuliert gewesen war: „Ich muss das selbst hinbekommen, zumindest in der ersten Zeit. Danach brauche ich dich umso mehr, um weitere Schritte gehen zu können, aber das hat Zeit, bis du wieder da bist. Aber dann hast du genug zum Unterstützen, das kannst du mir glauben. Also keine falsche Hoffnung… du entkommst dem nicht, nur, weil du dich ins Ausland absetzt.“

Hoffentlich brachte der letzte Satz etwas Lockerheit in das Gespräch, denn langsam wurde ihm das wirklich zu viel.

„Ich gebe dir meine andere Nummer, damit du mich erreichen kannst, falls du jemanden zum Reden brauchst oder mir einfach nur von der Therapie erzählen möchtest. Dass ich weg bin, heißt nicht, dass wir absolut keinen Kontakt haben. Okay? Ich bin für dich da.“

Doch statt sich über das Angebot zu freuen und vielleicht endlich die Möglichkeit zum Ausstieg aus diesem Gespräch zu nutzen - er hätte ja einfach nur ‚Danke‘ sagen müssen - schrillten bei Shinji wieder alle Alarmglocken:

„Du hast da drüben für so was doch gar keine Zeit, oder? Ich ruf nicht gerne an, wenn ich mir nicht sicher bin, dass der andere gerade Zeit hat. Und… und… du wirst doch sicherlich sehr eng mit deinen Teamkameraden zusammen leben. Ich denke nicht, dass private Gespräche dann angebracht sind… schon zweimal nicht bei so einem Thema. Das… das gibt doch eine Katastrophe, wenn die anderen rausfinden, was ich für dich bin und worüber wir da reden. Man hört doch ständig wie furchtbar konservativ das Militär noch ist… oder hab ich da ein falsches Bild?“

„Wenn es wirklich wichtig ist, nehme ich mir die Zeit und wenn ich die gar nicht habe, ist das Handy aus“, begann Nate erst einmal nach dem Redeschwall und schnippte Shinji dann wieder einmal leicht gegen die Stirn, was den automatisch dazu brachte, sich ein bisschen zu entspannen. War schon merkwürdig, wie schnell man auf so etwas konditioniert werden konnte. „Mach dir keine Gedanken. Lily hat die Nummer auch. Selbst wenn ich tausende Kilometer weg bin, will ich trotzdem an eurem Leben teilhaben. Verstehst du?“

Nate nahm sich daraufhin wieder ein Stück Pizza in den Mund und kaute fröhlich vor sich hin.

Die Antwort löste nicht wirklich das Problem, das Shinji hatte. Er stellte sich immer noch vor, wie er Nate mitten in einem Bombenhagel anrief und der so abgelenkt war, dass ihn eine davon traf. Oder, wie dessen Handy auf einem Tisch lag und einer seiner Teamkameraden ran ging. Es war allerdings auch schon ein Problem für Shinji, wenn er nur daran dachte, dass Nate abnahm und ihm sagte, dass gerade schlecht war. Telefonieren war einfach komisch… er hatte immer das Gefühl zu stören oder aufdringlich zu sein.

„Ich versuch‘s… aber das ist wirklich ein bisschen schwer für mich, also sei nicht enttäuscht, wenn der erste Anruf etwas dauert, ja? Aber… du kannst mich auch jederzeit anrufen. Durch das Home Office und meine merkwürdigen Schlafenszeiten, sollte selbst der Zeitunterschied kein großes Problem darstellen.“

Wenn Nate ihn anrief, war das alles viel angenehmer. Er konnte sich wirklich fast immer Zeit nehmen und es störte ihn nicht, wenn er angerufen wurde. In diese Richtung war das keine große Sache. Und wenn Nate ihn einmal angerufen hatte und er merkte, dass das wirklich irgendwie in Ordnung war, fiel es ihm selbst vielleicht auch leichter, einen Anruf zu starten.

Als Nate fertig gekaut hatte, kehrte das Spitzbübische Grinsen wieder auf dessen Lippen zurück: „Jederzeit? Du weißt, dass ich das Angebot ernst nehmen werde? Du weißt das?“

„Ja, ich weiß. Ruf an, wann immer du Zeit und Lust hast.“

„Danke“, setzte Nate noch nach und klang wieder viel sanfter.

„Aber zu der anderen Sache, die dich beschäftigt“, lenkte Shinjis Gesprächspartner dann um, „es kommt auf die Person an. Ich bin zwar keiner, der seine sexuelle Ausrichtung geheim hält, aber dort lauf ich auch nicht gerade herum und binde es jedem auf die Nase. Es gibt aber ein oder zwei Personen, mit denen ich mich gut genug verstehe und die es wissen. Genauso gibt es aber auch ein oder zwei Personen in meinem Team, die das gar nichts angeht und denen ich es nie sagen werde. Es kommt auf die Person an und nicht auf die Institution.“

Das beruhigte Shinji nicht wirklich, aber er nickte nur als Antwort. Er hatte angst, sonst etwas dummes zu sagen, indem er Nates Team unschöne Dinge unterstellte. Dafür war ihm das Thema doch zu heikel und er gerade zu aufgekratzt, um das vernünftig formulieren zu können. Stattdessen nahm er auch wieder ein Stück Pizza, das nur noch lau warm war, und kam zurück zum Anfang dieses Gesprächsabschnitts:

„Jetzt wo das geklärt ist, kann ich ja noch einmal fragen: Was würdest du die Woche über gerne machen?“

Nate zögerte gar nicht lange mit einer Antwort: „Ehrlich gesagt würde ich gerne mal wieder ein paar Bälle schlagen. Vielleicht gibt es hier einen Park, in dem man in Ruhe spielen kann?“

Bälle schlagen? Wollte Nate Baseball spielen? Ein bisschen schlecht wurde Shinji ja schon bei dem Gedanken. Essen gehen war eine Sache, aber in einem Park, bei gefühlt hunderten anderen Menschen, Baseball spielen? Da lägen doch alle Augen auf ihnen… und vielleicht würden andere mitspielen wollen? Wenn Nate wirklich Bälle schlagen wollte, brauchen sie einen abgesperrten Bereich dafür, den würde man sicherlich nicht nur zu zweit besetzen dürfen. Das war soziale Interaktion auf einem ganz neuen Level und er war sich wirklich nicht sicher, ob er dazu schon bereit war. Vor allem, weil er ewig keinen Sport mehr gemacht hatte und sich sicherlich vollkommen zu Affen machen würde.

„Wir können‘s ja mal versuchen“, krächzte Shinji mehr, als das er es sagte. Er wollte nicht da nicht abweisen. Nicht nur wegen ihrem Gespräch darüber, dass sein Freund aufhören sollte, so viel Rücksicht auf ihn zu nehmen, sondern auch, weil er ihm den Wunsch wirklich gerne erfüllen wollte. Es war ja eigentlich etwas ganz simples und etwas, was normale Menschen ständig taten. Das sollte doch hinzubekommen sein, oder?

„Ist echt ewig her, dass wir Baseball gespielt haben“, sinnierte Nate. „Du hast teilweise echt unmögliche Bälle geworfen.“

So gut war Shinji gar nicht gewesen. Aber auch er versuchte sich zurück zu erinnern. So unglaublich oft hatten sie nicht gespielt, aber wenn, dann waren sie immer allein gewesen. Das waren Tage, an denen sie genug von ihrer Clique und den Partys gehabt hatten. Es war nicht oft vorgekommen, eigentlich viel zu selten sogar, denn es war immer schön gewesen. Die meiste Zeit hatten sie eigentlich geredet, wenn er so darüber nachdachte. Sie hatten über alles mögliche geredet, was einen als Teenager eben so interessierte: Kinofilme, Lieder der Lieblingsbands und manchmal auch über Zukunftspläne. Eigentlich hatte Nate studieren wollen um dann irgendwas mit Sicherheit machen zu können. Dass er so extrem wäre und gleich zu den SEALs ging, hatte keiner ahnen können. Aber es hatte auch keiner geahnt, dass Shinji Informatiker werden würde. Er hatte zwar schon immer eine Affinität für Technik gehabt und war immer der gewesen, zu dem man wegen solcher Sachen gekommen war, aber damals hatte er eigentlich etwas mit Menschen machen wollen. Vielleicht Integrationshilfe für Japaner oder so etwas. Er war sich nicht sicher gewesen. Nate war mit seiner Hilfsbereitschaft ansteckend gewesen und er hätte das damals wirklich schön gefunden. Heute waren Computer seine besten Freunde und das einzige Medium, mit dem er einigermaßen Angstfrei mit anderen Menschen kommunizieren konnte. Manchmal ging das Leben sehr unerwartete Wege.

„Und du? Was würdest du gerne machen?“

Nates Worte rissen ihn aus den Erinnerungen und er sah sie beide sofort in seiner Wohnung auf der Couch, eng aneinander geschmiegt und den laufenden Fernseher vor sich. Nate wäre die Art der Wochenplanung sicherlich zu langweilig, aber Shinji sehnte sich einfach nach Ruhe, um mit sich selbst und diesen ganzen Gefühlen klar zu kommen, die er überhaupt nicht kannte.

„Ich hab nicht wirklich was im Sinn“, log er und versuchte sich einfach wieder auf die Pizza zu konzentrieren, die mittlerweile kalt war. Als er weiter an Aktivitäten dachte, musste er auch an das denken, was sie gestern Nacht gemacht hatten. Es drehte sich ihm wieder fast der Magen um, während sein Herz gleichzeitig klopfte, als wolle es damit einen Preis gewinnen. Es war schön gewesen, das konnte er nicht leugnen, aber es war auch etwas, was er nicht begehren sollte. Es war schwer zu akzeptieren, dass er es dennoch tat. Die Zeit, in der er das hatte verleugnen können, war aber auch vorbei und nun stand er da und wusste nicht, was er tun sollte. Er konnte nicht vor und nicht zurück, aber diese gemischten Gefühle waren so unangenehm, dass er auch nicht bleiben konnte, wo er war.

Letztenendes wurde es ihm doch zu viel und er entschied, dass er wenigsten physikalisch den Ort für eine Weile wechseln konnte, wenn er es schon psychisch nicht schaffte.

„Bin gleich wieder da“, murmelte er und verschwand dann Richtung der Toiletten.

Vor der Tür blieb er allerdings stehen. Warum nur, hatte es ihn ausgerechnet hierher verschlagen? Er konnte da doch unmöglich rein. Dort wäre er wieder hilflos, wieder angreifbar und wieder viel zu weit von Nate weg.

Sollte er wieder zurück zu seinem Platz?

Aber dann bemerkte er eine Frau, die in der Nähe saß und ihn kritisch beäugte. Er fiel schon auf. Und er würde noch mehr auffallen, wenn er jetzt einfach umdrehte. Er wollte nicht seltsam erscheinen, deshalb trat er automatisch ein. Es war absurd wie viel mehr Angst er vor den Blicken der anderen hatte, als vor möglichen Flashbacks, aber er ertrug das Gefühl einfach nicht, aus der Reihe zu fallen. Da stellte er sich lieber alten Erinnerungen.

Dass der ganze Vorfall mit Chris erst zwei Tage her war, fühlte sich unrealistisch an. Hätten es nicht eher Jahre sein müssen? Jahrzehnte? Der Sonntag fühlte sich unglaublich weit weg an.

Er steuerte das Waschbecken an, das der Tür am nächsten war und lauschte angestrengt nach jedem Geräusch. Als er gerade den Wasserhahn aufdrehte und gleichzeitig die Tür auf ging, zuckte er so heftig, dass er sich selbst ein wenig nass spritzte, aber der Mann bemerkte das glücklicherweise nicht. Der ging Seelenruhig an ihm vorbei an eines der Pissoirs und schien ihn nicht einmal wahr zu nehmen. Shinji tat so als wüsche er sich die Hände, bis der Mann wieder weg war. Dann erst gönnte er sich einen Moment Ruhe und versuchte sich wieder zu sammeln.

Er musste das alles wirklich in den Griff bekommen. Sobald Nate weg war, würde er sich um einen Therapieplatz kümmern. Hoffentlich musste er nicht zu lange auf einen warten.

Als die Tür ein weiteres Mal auf ging, spannte er sich wieder an, doch niemand kam herein. Die Tür fiel nur einfach wieder zu.

„Alles okay?“

Es war Nate und durch den Spiegel konnte er ihn im Türrahmen stehen sehen. So würde so schnell niemand an ihm vorbei kommen. Ob er sich auch Sorgen gemacht hatte? Shinji hatte nie darüber nachgedacht, was das mit Chris für Nate bedeutet hatte. Es musste furchtbar sein, zu bemerken, dass der Kumpel, mit dem man gerade essen war, einfach nicht wieder kam und dann im Nachhinein zu erfahren, dass der angegriffen worden war. Gerade bei dem Beschützerinstinkt von Nate, konnte das komplizierte Gefühle auslösen. Er erinnerte sich noch gut daran, wie Nate war, wenn er das Gefühl hatte, versagt zu haben. Vielleicht war der restliche Sonntag deshalb auch so komisch zwischen ihnen beiden verlaufen. Vielleicht war das auch für Nate nicht so einfach gewesen, wie es gewirkt hatte.

„Ja… tut mir leid. Ich brauchte nur kurz eine Auszeit.“ Er nahm sich ein paar Papierhandtücher um sich seine Hände abzutrocknen.

„Ich hab… ich weiß nicht… ist alles etwas viel.“

Nate blieb, wo er war und sagte nichts, als würde er warten, bis er ihm erklärte, was ihn letztendlich vertrieben hatte. Vielleicht wartete er aber auch nur darauf, dass sich Shinji endlich zusammen riss und die Pizza zu Ende aß. Er war sich nicht sicher. Und er war sich auch nicht sicher, ob es ihm nicht lieber gewesen wäre, wenn Nate näher gekommen wäre. Aber dann hätte er die Tür nicht mehr bewachen können und eigentlich war Shinji dieser Sicherheitsabstand gerade ganz recht. Er schaffte es ja nicht einmal, sich wirklich zu Nate umzudrehen. Er betrachtete ihn nur aus dem Spiegel heraus.

„Ich… ich komme nicht so damit klar…“, gestand er leise, auch wenn es eigentlich kein Geständnis war. Sie beide wussten, dass er mit so ziemlich nichts klar kam.

„Womit kommst du nicht klar, Shinji?“

„Mit diesen… diesen Gedanken…“ Wie sollte er das denn erklären? Wie sollte er Nate sagen, dass er den Gedanken an Sex mit ihm nicht ertrug? Das war doch echt abartig, wenn er ihm das einfach so sagte.

Aber Nate wollte es wissen, das sah er in seinem Blick. So wie er Nate vorhin hatte aufmuntern wollen, wollte sein bester Freund jetzt auch für ihn da sein. Schon wieder.

Shinji wischte sich genervt über die Augen und die Stirn und versuchte wirklich, sich zusammen zu reißen. Ihm war ja klar, dass solche tiefsitzenden Probleme nicht einfach über Nacht verschwanden, nur, weil man beschloss, sich ihrer anzunehmen, aber er war zu allem Überfluss auch noch Perfektionist. Es störte ihn, dass er sich selbst so im Weg stand und sich damit den Fortschritt verbaute. Das war so furchtbar ineffizient. Er hasste Ineffizienz, weil das hieß, dass er schlecht Arbeitete. Ineffizienter Code war schlechte Programmierung und normalerweise ließ sich das einfach fixen. Er kam nur leider nicht an seinen eigenen Code heran. Er wusste nicht, wie er sich selbst umprogrammieren konnte. Aber arbeiten mit einem nicht richtig funktionierenden Programm war mühsam und nervig und er wollte das so nicht haben. Er wollte funktionieren wie er sollte. Aber das konnte er im Privatleben nicht. Noch nicht. Also musste er mit dem arbeiten, was er hatte. Auch wenn es nervig war.

„Ich hab gerade… ich musste… ach verdammt noch mal, ich hab an Sex gedacht, okay? Und… und das sind gruselige Gedanken und ich komme noch nicht damit klar. Ich weiß, ich sollte mich nicht so anstellen und im Prinzip weiß ich auch, dass das alles nichts Verbotenes oder Schmutziges ist, aber es fühlt sich für mich eben so an. Ich kann ja auch nichts dafür. Das ist alles so neu und unbekannt und… und es ist einfach schwer, okay? Es ist schwer… mir einzugestehen… dass ich das eigentlich will und… ich weiß nicht… es ist mir auch irgendwie peinlich, dass ich mitten beim Essen darüber nachdenke. Das… das sollte nicht so sein… nach allem was passiert ist, sollte ich gar nicht an so was denken. Das ist so unlogisch! Ich sollte mit einem Trauma in meinem Zimmer sitzen und Angst vor Berührungen haben. So läuft das doch normalerweise, oder? Vielleicht bin ich doch einfach abnormal… vielleicht stimmt was nicht mit mir. Vielleicht…“ Vielleicht hatte Chris ja recht, wollte er im ersten Moment sagen, brach aber ab. Wie war er denn zu diesen Gedanken gekommen? Er dachte, wenigstens damit abgeschlossen zu haben. Chris hatte nicht recht gehabt. Shinji hatte keinen Gefallen an dem gehabt, was er mit ihm gemacht hatte. Kein Stück.

Aber mit Nate… mit Nate war das etwas anderes. Nate wartete immer, bis er den ersten Schritt machte und das allein war schon so entscheidend, dass er gar nicht auf die Idee gekommen war, ihn mit Chris zu vergleichen.

„Du machst dir Gedanken, nur, weil du anzügliche Gedanken über deinen Partner hast?“, fragte Nate ein wenig verwundert, lächelte dann aber sanft.

„Die Gedanken habe ich auch. Bin ich jetzt auch unnormal?“

Das war doch nicht zu vergleichen. Nate war nie Belästigt worden. Zumindest hoffte Shinji das.

„Jeder reagiert anders auf so etwas und die Vergangenheit hat deutlich gezeigt, dass du stark bist. Du bist ein Kämpfer. Wie viele in deiner Situation hätten es durch ein Studium geschafft? Du hattest nichts und niemanden. Kein Geld, keine Freunde, keine Familie. Und trotzdem stehst du jetzt hier und lässt sogar Stück für Stück wieder jemanden in dein Herz. Wer weiß ob es mit anderen Menschen als mir auch so gut ginge? Niemand verlangt von dir ein Trauma zu haben und niemand verlangt von dir, eines zu haben, das sich ganz unkompliziert äußert. Freu dich, dass es so gut klappt. Freu dich, dass du noch so normal bist, dass du an Sex mit jemandem denkst, den du gern hast. Das gehört dazu. Und wenn du tatsächlich glaubst, ein Trauma zu brauchen, dann sei beruhigt. Denn ich denke nicht, dass das spurlos an dir vorbei gezogen ist. Du hattest vorher schon ein Problem mit Nähe und ich war die Ausnahme, warum sollte sich das ändern? Ich denke, das was sich verschärft hat, ist eher die Art, wie du über dich selbst denkst. Weil das was Chris dir gesagt hat und was du dir in dem Moment eingeredet hast, noch schwerer wiegt, als die Berührungen, die du ja wenigstens nach einem bestimmten Schema aussortieren kannst. Ungute Berührungen sind viel leichter zu kategorisieren als Gefühle, die falsch sind. Hauptsächlich, weil es keine falschen Gefühle gibt. Was du fühlst ist echt und richtig, aber Chris hat da einen sehr Wunden Punkt getroffen, als er dir vorgeworfen hat, es würde die gefallen. Das… ich denke das steht für dich einfach viel mehr im Vordergrund. Und das ist nichts Schlimmes. Jeder reagiert anders. Es gibt kein Skript das vorschreibt, wie du dich nach so etwas zu fühlen hast. Mach dir nicht solche Gedanken.“

Nach dieser Ansprache lächelte Nate unsicher: „Kannst du was damit anfangen?“

Shinji nickte, obwohl er sich nicht sicher war, ob er das wirklich konnte. Nates Worte klangen schön und wie die Ausflucht, die er brauchte, aber es fühlte sich eben genau wie das an: Eine Ausflucht.

„Tut mir leid“, sagte er leise. „Dass ich so kompliziert bin.“

Doch Nate schüttelte nur den Kopf und kam auf ihn zu: „Du brauchst dich nicht entschuldigen.“

Shinji lächelte ein wenig gequält und beobachtete, wie Nate neben ihn kam und auch in den Spiegel sah.

„Ich-“, setzte Nate an, doch er brach ab, als jetzt doch die Tür auf ging und ein älterer Herr hinein kam. Während Shinji so tat, als würde er sich die Hände abtrocknen, drehte sein Begleiter das Wasser auf und wusch sich die Hände. Shinji warf Nate noch einen Blick zu, ehe er sich abwandte und die Toilette wieder verließ. Vielleicht war es besser, das alles so stehen zu lassen.
 

„Ich werd dich echt vermissen“, sagte Nate, als er sich wieder zu ihm setzte. Vielleicht war es die Fortsetzung des Gesprächs, vielleicht hatte es aber auch gar nichts damit zu tun. Da Shinji endlich etwas entspannen wollte, versuchte er es mit einem etwas verspielteren Unterton:

„Das will ich auch hoffen. Du kannst nicht einfach hier auftauchen, mein ganzes Leben umkrempeln und dann erwarten, dass das spurlos an die vorbei geht. So leicht kommst du da nicht mehr raus.“

„Dein ganzes Leben umgekrempelt, ja? Dabei bin ich doch gerade mal ein paar Wochen hier. Warte erst einmal ab, was wird, wenn das hier ein paar Jahre geht.“

Wenn Shinji ganz ehrlich zu sich war, konnte er kaum erwarten, es herauszufinden.

Beschützerinstinkt

Da ihre Pizza bereits kalt war, als sie wieder kehrten und Shinji der Appetit vergangen war, zahlten sie, ließen sich alles einpacken und gingen dann.

Sie sprachen nicht wirklich auf dem Weg zur Bahnstation, aber diesmal fiel Shinji auf, dass Nate tatsächlich näher bei ihm ging. Auf dem Weg her, war er zu abgelenkt gewesen, um es zu bemerken. Diesmal versuchte er abzuschätzen, wie nah sein Kumpel wirklich war. Normalen Menschen wäre es sicherlich nicht unangenehm gewesen, aber für Shinji kratzte es gefährlich an einer der vielen, vielen Grenzen, die er nicht überschreiten wollte. Aber er sagte nichts. Er wollte, dass es irgendwann funktionierte. Dass sie funktionierten. Er musste da durch, irgendwie. Auch wenn er von vorher noch aufgekratzt war.

"Danke fürs bezahlen.", murmelte Shinji, einfach, um irgendwas zu sagen. Mittlerweile waren sie in der U-Bahnstation angekommen.

"Keine Urs-" Nate stoppte, als ein erstickter Aufschrei durch die langen Tunnel hallte und die wenigen Anwesenden aufsehen ließ, wenn auch nur in stumpfer Sensationslust. Anders als Nate, der, als er in einer Ecke den kleinen Menschenauflauf entdeckte, näher hinsah. Shinji wollte eigentlich wegsehen, wie all die anderen, nachdem sie sich überzeugt hatten, dass ihnen keine Gefahr drohte, doch auch er sah hin.

Der kleine Menschenauflauf waren zwei Männer, die sich über einen anderen beugten und auf ihn einschlugen.

Es dauerte keine Sekunde, da setzte Nate sich in Bewegung. Wenn er nicht in eben jener Begleitung gewesen wäre, hätte er den Vorfall wahrscheinlich ignoriert. Das passierte jeden Tag irgendwo, es war ihm in seiner Jugend auch oft genug passiert und irgendwann war er so etwas gegenüber stumpf geworden. Aber jetzt zückte er sein Handy und rief die Polizei. Denn Nate hatte recht, sich einzumischen und Shinji wollte besser sein, als all die, die sich in Ignoranz übten.

Er ließ seinen Partner aber keine Sekunde aus den Augen, denn der wäre wirklich in Gefahr, wenn einer von denen ein Messer zog. Wobei er hoffte, dass dessen Ausbildung auch solche Situationen abdeckte. Dennoch hatte er Angst um ihn. Auch wenn einfach dazustehen und zuzusehen niemandem etwas brachte, er aber nichts anderes tun konnte.

Aber seine Sorge war unbegründet. Mit wenigen Griffen hatte Nate die beiden weg gezogen und einem von ihnen einen Faustschlag ins Gesicht verpasst, der daraufhin zur Seite taumelte.

Um den anderen kümmerte sich Nate genauso effektiv und nur wenige Sekunden, nachdem er von Shinjis Seite verschwunden war, hatte er dem zweiten Übeltäter den Arm auf den Rücken gedreht und ihn zu Boden gedrückt.

Nate ließ das aussehen, als wäre das Nichts und Shinji - so sehr er Gewalt auch verabscheute - kam nicht umhin beeindruckt zu sein. Doch auch sein Kumpel konnte keine Wunder vollbringen, weshalb der Erste, der sich von dem Schlag erholt hatte, die Beine in die Hand nahm und rann. Natürlich hielt ihn niemand auf und auch wenn Shinji gerne wollte, konnte er niemanden dafür verurteilen. Er wusste selbst nicht, ob er ihn aufgehalten hätte, wenn er gekonnt hätte. Wahrscheinlich nicht. Nate war da schon was Besonderes.

"Kannst du mal nach ihm schauen?"

Kurz etwas orientierungslos sah Shinji auf, ehe er Begriff, dass Nate den Mann meinte, der blutverschmiert am Boden lag und sich nicht wirklich rührte. Ja, natürlich, wie dumm von ihm. Er konnte sich wenigstens das Opfer ansehen.

Während er sich zu dem Mann kniete. Der Kerl war ihm eigentlich egal. Keine neue Erkenntnis, aber er wusste, dass es Nate wichtig war, anderen zu helfen, also tat er ihm den Gefallen. Er kramte alles aus seinem Kopf, was er von Erste Hilfe noch kannte.

"Es ist jetzt alles in Ordnung", redete er ruhig auf den Mann ein, der ihn nur vollkommen abwesend anstarrte. "Mein Kumpel kümmert sich um die Kerle und die Polizei ist gleich mit einem Krankenwagen da."

Er hörte, wie Nate zwei Männer im Befehlston anwies, den einen Schläger fest zu halten, danach rannte er dem zweiten hinterher.

Mit einem sauberen Taschentuch tupfte Shinji dem Opfer das Blut etwas weg, vor allem um die Nase und die Mundpartie, in der Hoffnung, ihm das Atmen etwas erleichtern zu können. Er fühlte sich echt nutzlos.

Damit er nicht vollkommen in einen Schockzustand abrutschte, stellte Shinji dem Mann ruhig ein paar Fragen. Wie er heiße, wo er her käme und auch so vollkommen unsinnige Sachen, wie, was sein Lieblingsessen sei. Ihm wurde nur langsam geantwortet, aber Hauptsache war, dass er mit ihm sprach. Hoffentlich war das richtig, was er hier machte.

Nach einigen Minuten kam endlich die Polizei und die Sanitäter, denen er den Mann übergab. Danach beantwortete er ein paar Fragen.

Er war allerdings erleichtert, als er nebenbei bemerkte, wie Nate wieder kam. Ein wenig außer Atem, aber dafür den zweiten Täter fest im Griff. Er musste wirklich gerannt sein, um ihn noch zu erwischen. Er wirkte keinesfalls siegessicher oder irgendwie glücklich. Seine Miene war stoisch und wahrscheinlich darauf gerichtet, den Job zuende zu bringen. Ein Teil davon war, den Kerl der Polizei zu übergeben, der andere Teil bestand darin, auch noch Fragen zu beantworten.

Es muss nicht erwähnt werden, dass sie ihre U-Bahn verpasst hatten. Und auch die nächste... und die nächste und eine ganze Menge weiterer. Als sie endlich saßen, atmete Shinji kurz ein wenig durch. Hatte sich das jetzt wirklich gelohnt? Vielleicht... aber ohne Nate wäre er wirklich im Traum nicht darauf gekommen, jemandem wie diesem Fremden zu helfen. Er versuchte in sich hinein zu fühlen, aber da war kein Stolz darauf, dass er jemandem in Not geholfen hatte. Er fühlte sich nicht heldenhaft oder... irgendwie anders. Er war nur ein bisschen genervt, weil sie das jetzt so viel Zeit gekostet hatte.

"Jetzt hätte ich gerne eine Bier.", murmelte Nate und Shinji musste ein bisschen grinsen.

"Ist dir schon Mal aufgefallen, dass wir fast immer in so was geraten, sobald ich vor die Tür gehe? Entweder ist die Welt und die Menschheit einfach scheiße oder ich ziehe Unglück magisch an."

Es war wirklich nicht das erste Mal, dass ihm so etwas begegnete. Das einzige Mal, wo er mit Nate unterwegs gewesen war, und nichts passiert war, war bei dem Basketballspiel gewesen, aber vielleicht hatte er da auch nicht genug aufgepasst, weil er wirklich gut gelaunt gewesen war. Wer wusste schon, was die Hardcorefans hinterher noch getrieben hatten?

Es gab schon Gründe, warum er so wenig wie möglich vor die Tür ging. Er glaubte nämlich nicht, dass das nur an ihm lag. Die Welt war einfach Mist und er wollte nicht, dass ihm noch einmal passierte, was dieser Mann vorhin hatte erleiden müssen.

"Schade, ich wollte dir gerade vorschlagen, dass wir öfter so was machen sollten." Während Nate das sagte, schüttelte er seine Hand aus. Sein Gesichtsausdruck wirkte immer noch etwas verkniffen und Shinji glaubte nicht, dass das an den Schmerzen in dessen Hand lag, die gerade dabei war anzuwschwellen.

"Alles in Ordnung?" Ohne weiter darüber nachzudenken, griff Shinji vorischtig nach der Hand seines Freundes und betrachtete sie. Selbst Nate war wohl nicht unverwüstlich. "Ich denke, ich habe zu Hause noch Eiswürfel. Hast du dir was gebrochen?"

"Es ist alles in Ordnung." Es schwang ein merkwürdiger Unterton in Nates Stimme mit, aber Shinji wollte nicht nachfragen. "Wenn, dann habe ich dem anderen was gebrochen."

Er bewegte sogar die Finger kurz, um zu beweisen, dass alles gut war.

"Wenn du Alkohol zu Hause hast, mixen wir uns lieber einen "on the rocks". Das ist eine viel bessere Verwendung dafür."

Shinji verdrehte die Augen. Dass Nate so etwas nie ernst nehmen konnte. Das war früher auch immer schon gewesen. Hauptsache immer den Starken markieren.

"Hast du das damals nicht auch gesagt, als du dir den Fuß angebrochen hast? Du bist noch fünf Kilometer oder so mit uns wandern gegangen und kamst dann am nächsten Tag mit einem Gips um den Fuß in die Schule. Tu nicht so, ich sehe, dass du Schmerzen hast." Das war vielleicht ein bisschen geflunkert, denn Nate hatte ein ausgezeichnetes Pokerface. Aber die Farbe konnte nichts Gutes bedeuten.

"Das waren nie im Leben fünf Kilometer.", beschwerte sich Nate sofort. "Das waren mindestens acht und ich habe den Rucksack von Jess getragen, weil er ihr zu schwer geworden war."

Als wäre es eine Todsünde, dass er das vergessen hatte, rollte Nate extra theatralisch mit den Augen. Dass er daraufhin aus dem Fenster sah, verbarg sein spitzbübisches Grinsen auch nicht, das spiegelte sich nämlich in der Scheibe.

Nate hatte damals nicht einmal gehumpelt. Shinji wusste wirklich nicht, wie er das machte, denn er neigte eher dazu, zu jammern. Glücklicherweise war das für seinen Kumpel nie ein Problem gewesen, denn der liebte es, sich um andere und vor allem, um ihn zu kümmern.

"Wir kühlen das, wenn wir bei mir sind. Ende der Diskussion." Nur weil Nate nicht zugeben wollte, dass er Schmerzen hatte, hieß das ja nicht, dass man sich nicht um ihn kümmern konnte.

Gerade als Nate sich geschlagen gab, wurde ihre Station angekündigt und bald darauf, waren sie wieder in seiner Wohnung.

Sofort eilte Shinji in die Küche, wo er einen Gefriebeutel mit Eis füllte und ein Handtuch darum zu wickeln.

"Hier"

"Danke."

Nate ging zum Sofa und ließ sich darauf fallen.

"Ich bin definitiv zu alt für Raufereien.", lachte er, während Shinji im Bad verschwand um noch eine Salbe zu holen. Er ließ sich neben Nate fallen und zog die Hand wieder zu sich, legte den Eisbeutel beiseite und begann die Salbe vorsichtig auf den Knöcheln zu verteilen.

Als er kurz aufsah, nutzte Nate die Gelegenheit und küsste ihn. Im ersten Moment fühlte sich der Kuss unpassend an, aber dann bemerkte Shinji, wie die Anspannung, die er seit dem Restaurant mit sich herum getragen hatte, Stück für Stück von ihm abfiel und er sich endlich wieder etwas entspannen konnte. Er ließ auch zu, dass Nate seine Hand unter sein T-Shirt schob und nach einigen intensiven Küssen, ließ er sich sogar ins Schlafzimmer führen.

Macken

Es war schön gewesen. Wirklich schön. Unglaublich schön. Und wenn er das weiter dachte, wurde das vielleicht auch wahr. Nein, es war nicht gelogen. Es war wirklich schön gewesen. Aber sollte es schön sein? Hatten sie nicht schon wieder Dinge getan, die sie nicht tun sollten?

In seinem Magen machte sich ein merkwürdiges Gefühl breit, das sich auf seine Brust ausbreitete und ihm letztendlich das Atmen schwer machte. Wie hatte er sich schon wieder dazu hinreißen lassen können? Was hatte er die letzten Tage überhaupt getrieben? War er wirklich eine Beziehung eingegangen? Hatte Nate erlaubt ihn zu küssen und zu berühren? Warum? War er vollkommen bescheuert? Genau diese Sachen waren es doch, weshalb man ihn vor die Tür gesetzt hatte, weshalb die Gesellschaft ihn verstoßen hatte.

Es war ein Blick auf Nates geschwollene Hand, der ihn komplett ablenkte. Das hatte er vollkommen vergessen.

"Geht es einigermaßen?", fragte er besorgt und griff sanft nach der Hand um sie sich noch einmal anzusehen.

"Ich habe dich nur mit der Hand eben hochgehoben und auf das Bett geworfen. Glaub mir, es geht mir hervorragend."

Shinji war sich nicht ganz sicher, ob er das glauben konnte, aber er hatte wohl keine Wahl. Die Eiswürfel, die sie im Wohnzimmer zurück gelassen hatten, waren sicher geschmolzen, also hatte er sowieso nichts mehr zum Kühlen da.

Doch ehe er noch weiter darüber nachdenken konnte, zog Nate ihn enger an sich, dass er vollkommen von seinen Armen umfangen war: "Und was ist mit dir? Ist alles in Ordnung?"

Die Frage ließ ihn hart schlucken und es dauerte tatsächlich einen Moment, bis er den Kloß in seinem Hals wieder los war. Er versuchte sich wirklich gegen dieses Gefühl zu wehren, dass er gerade etwas furchtbar falsches getan hatte. Etwas, wofür man ihn hassen sollte, wofür man ihn wieder aus der Stadt jagen würde.

Nein… nein er wollte doch… er wollte, dass es funktionierte, weil er Nate nicht wieder verlieren wollte. Er musste sich zusammen reißen.

"Du hast schon wieder die ganze Zeit in meinen Haaren rumgefummelt währenddessen. Ich finde das ja ganz angenehm, aber es macht mich neugierig, warum du das ständig machst. Fällt das nicht schon unter einen Fetisch?"

Es war sicher nicht der beste Themenwechsel, aber es war der einzige, der ihm einfiel. Er wollte gerade nicht über sich und seine Gefühle sprechen, er hatte die Befürchtung, dass er nicht mehr aufhören würde zu fallen, sobald er es aussprach.

"Ja, vielleicht. Aber eigentlich fahr ich dir durch die Haare, um sie aus deinem Gesicht zu bekommen. Ich möchte das nämlich sehen können."

Wie zur Untermalung dieser Aussage, strich ihm Nate noch einmal durch die Haare: "Aber jetzt gerade dient es mir nur dazu, zur Ruhe zu kommen."

Irgendwas in Shinjis Bewusstsein rebellierte gegen diese Formulierung, weil es sich anhörte, als wäre er ein Hund. Aber dieses Gefühl wallte nur für eine Sekunde auf, ehe er es wieder verdrängte, weil es Schwachsinn war. Nate meinte das nicht abwertend, das wusste er. Was war auch so schlimm daran, dass Nate ruhiger wurde, wenn er ihm durch die Haare streichelte? Er selbst fand es ja sogar angenehm. Ihn machte es auch ruhiger, also war doch alles gut.

Aber irgendwie war die Antwort merkwürdig. Nicht, wegen deren Bedeutung an sich, sondern, weil sie so ernst war. Nate war bei so etwas selten so ernst. War das jetzt ein Zeichen von Sorge oder vom Gegenteil?

"Ich gewöhne mich langsam daran.", gestand Shinji. "Irgendwie ist es auch echt angenehm."

Da Nate ihn so umfing, konnte er den noch immer sehr schnellen Herzschlag von seinem Freund hören und spüren. Das hatte auch etwas sehr angenehmes.

Hmmm… was hatte Nate noch gleich gesagt? Er strich ihm die Haare ständig aus dem Gesicht?

"Sind dir meine Haare etwa zu lang?", fragte er verwirrt, weil er eigentlich schon für sich festgestellt hatte, dass dem nicht so war, wenn Nate ihm da so gerne durchwuschelte. "Also… nicht, dass ich sie abschneiden lassen würde, wenn es so wäre." So weit käme es ja noch. Das kam wirklich nicht in Frage, damit musste Nate leben. Er musste ja auch damit leben, dass dessen Haare nur ein paar Millimeter lang waren und er dadurch aussah, als wäre er gerade frisch aus dem Gefängnis entlassen. "Es interessiert mich nur."

Nate stoppte nicht damit, ihm durchs Haar zu kraulen, wechselte nach der Frage nur dazu, ihm noch einmal eine Haarsträhne hinter die Ohren zu streichen.

"Ich mag deine Haare so, wie sie sind." Das war doch schön zu hören. Dann gab es auch keine Probleme. Sehr gut.

"Ich würde nichts an dir ändern wollen."

Als wollte Nate ihn nach dieser Aussage zusammen halten, zog er ihn noch näher zu sich, aber es half nichts. Sofort waren die Stimmen des Zweifels wieder da, die Erinnerungen an die Ablehnung, nur, weil er war, wie er war. Niemand konnte behaupten, er wäre gut so, wie er war. Das war doch Unsinn.

Plötzlich brannten doch wieder Tränen in seinen Augen: "Das stimmt doch nicht… du kannst mir nicht sagen, dass du meine Psyche nicht gerne anders hättest."

Wo andere darauf bestanden, dass er hetero war, würde sich Nate doch sicher wünschen, dass er nicht jedes Mal, wenn sie miteinander schliefen, danach kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand. Das konnte keiner gut finden. Er glaubte auch nicht, dass es Nate gut fand, dass er ihre Beziehung nie irgendwie öffentlich zugeben würde, oder dass er sie sogar verleugnen würde, würde man ihn direkt danach fragen.

"Wieso?", fragte Nate ganz sanft, strich ihm mit der Hand über die Wange, dann wieder durch die Haare und schließlich beruhigend über den Rücken.

"Weil du plötzlich so schutzbedürftig wirkst, nachdem wir miteinander geschlafen haben? Oder weil du zu verbergen versuchst, was du eigentlich möchtest? Ich will deine Psyche nicht ändern, ich will dir nur helfen, damit umzugehen. Deine wahren Gefühle ausgraben."

Wie konnte das nur okay für Nate sein? Es musste ihn doch nerven und frustrieren und was sonst noch alles. Wenn er nur daran dachte, was sie gerade getan hatten, bekam er das Bedürfnis, sich schon wieder die Haut von den Knochen zu schrubben. Er fühlte sich schmutzig. So unglaublich schmutzig und ekelhaft und falsch.

Wie konnte Nate damit nur so leicht umgehen? Wo war bei Nate das "aber"? Wenn er normalerweise so toll war, musste da doch ein riesiges "aber" sein, oder? Kein Mensch war so gut… das sagten ihm seine Erfahrungen. Warum sollte Nate die Ausnahme sein?

"Ich kann es nicht genau erklären", fuhr Nate fort. "Aber ich kann mit deinen Mankos leben. Kannst du das mit meinen auch?"

Wo kam denn dieser Themenwechsel plötzlich her? Konnte Nate Gedanken lesen? Aber es brachte ihn automatisch zum Lachen, auch wenn es hohl und leer war: "Welche Mankos?", fragte er ehrlich. "Das einzige, was etwas schwierig wird, ist dein Job. Sonst habe ich noch keine gefunden."

"Du kennst meine Mankos, Shinji."

"Ich bin mir nicht sicher", antwortete der aber etwas irritiert. "Ehrlich nicht, was meinst du? Vielleicht nehme ich das nicht als Mankos wahr? Ich brauch wohl ein bisschen Starthilfe."

Was sollte denn da auch sein? Klar, jeder Mensch hatte so seine Eigenheiten und die hatte Nate auch, aber das war normal und nichts Schlimmes. Aber vielleicht suchte er einfach nur zu oberflächlich? Denn im Vergleich zu ihm selbst, wirkten die meisten Menschen gesund und unkompliziert.

Er merkte erst so richtig, dass er zu Nate aufgesehen hatte, als der ihm mit dem Daumen über eine Augenbraue fuhr. "Vielleicht siehst du mich ja einfach nur durch die rosarote Brille? Aber wenn du dich zurück erinnerst… Wie oft sind wir denn damals in eine Schlägerei geraten, weil ich denjenigen scheiße gefunden habe? Und wie oft hast du mir danach die Leviten gelesen? Ich bin nicht gerade geduldig, wenn ich sehe, dass jemand ungerecht behandelt wird."

Shinji musste nicht wirklich lange überlegen, ehe er antwortete.

"Ich hab dir schon mal versucht, zu erklären, dass mich die Schicksale von anderen Menschen nicht wirklich berühren. Nicht mehr… Heißt nicht, dass ich dir nicht wieder die Leviten lesen würde, wenn du dich unnötig in Gefahr bringst oder es übertreibst, aber ansonsten… ja, klar würde ich damit klar kommen. Das bin ich damals schon, daran hat sich nichts geändert."

Trotz der engen Umarmung zuckte er die Schultern. "Weiter?"

Nate lachte leise und eine Weile sahen sie sich einfach nur an. Doch letztendlich fuhr Nate fort: "Was noch? Okay. Du weißt doch, dass es mir bei einer täglichen Routine langweilig wird? Deshalb habe ich früher schon die Schule geschwänzt und das ist mitunter ein Grund, warum ich zum Militär bin. Ich weiß noch nicht, wie das in einer Beziehung wird, aber ich bin noch nicht bereit einen Bürojob anzunehmen und täglich bis fünf zu arbeiten nur um nach Hause zu kommen und mich dort vor den Fernseher zu legen. Nein, danke. Das brauche ich wirklich nicht. Stattdessen will ich dich spontan irgendwo hin mitnehmen, wenn ich dich sehe. Ich weiß du bist ein Planer, aber ich brauche Abwechslung."

Statt das Thema mit sich selbst auszumachen und es zu zerdenken, ließ Shinji sich ausnahmsweise von der Stimmung davon tragen und sprach einfach aus, was er dachte. Vielleicht lag es auch daran, dass er angst hatte, abzustürzen, wenn er zu viel nachdachte.

"Generell ist das nicht unbedingt etwas schlechtes. Ich weiß schließlich, dass ich ein bisschen mehr raus muss. Spontanität macht flexibel. Ich kann nicht gut auf Dinge reagieren, die plötzlich auftreten. Und während du mir hilfst ein wenig spontaner zu werden, kann ich dir helfen, sesshafter zu werden. Stabilität hat auch Vorteile. So können wir uns beide positiv beeinflussen. Aber… das ist Arbeit und kommt erst einmal mit viel Frust, also kann ich dir jetzt nicht versprechen, dass das nicht zu einem Problem wird. Das müssen wir abwarten."

"Hm…", war erst einmal das einzige, was Nate sagte. Shinji gab ihm Zeit. Wenn Nate wirklich dachte, dass die Punkte, die er ihm genannt hatte, so schwerwiegend waren, konnte er verstehen, dass er das erst einmal verarbeiten musste.

"Du bist weitaus unkomplizierter und offener, als du denkst."

Wie zum Teufel kam das denn jetzt? Wie kam Nate jetzt schon wieder von sich selbst auf Shinji? Das musste man nicht verstehen, oder? Und dann auch noch so eine Schlussfolgerung?

"Findest du?", fragte er deshalb verwundert, doch das Lächeln, das Nate ihm zeigte, sagte ihm, dass er es wirklich ernst meinte.

"Warte erst einmal ab, bis du von mir verlangst, spontan zu sein. Dann reden wir noch einmal darüber, ob du denkst, dass ich unkompliziert bin.", grinste Shinji und gab Nate einen sanften Kuss. "Gibt es sonst noch was, worüber du dir Gedanken machst?"

"Im Moment? Nein, nicht wirklich." Und damit schloss Nate dann auch müde die Augen. Shinji ließ ihn und schwieg.

Als es so still wurde und er nichts mehr als den ruhigen Herzschlag seines Freundes hören konnte, begannen sein Körper und sein Geist wieder in die Realität zu rücken. Überall dort, wo Nate ihn berührte oder berührt hatte, begann seine Haut sich merkwürdig anzufühlen. Als hätte man Farbe auf die Stellen gestrichen, die jetzt getrocknet war und sich deshalb unangenehm bemerkbar machte. Es juckte nicht oder so etwas, es fühlte sich einfach nur an, als wäre da etwas, was da nicht hin gehörte. Shinji versuchte dieses Gefühl zu unterdrücken, es zu ignorieren, aber irgendwann wurde es so unerträglich, dass er sich von Nate löste und ins Bad verschwand. Dort angekommen stellte er sich unter die Dusche, drehte das Wasser auf und sank letztendlich erschöpft auf den Boden der Dusche, weil dieses Gefühl einfach nicht weniger wurde.

Er hatte wirklich gedacht, es diesmal geschafft zu haben. Aber es war noch ein weiter Weg bis da hin. Noch ein so unglaublich langer Weg.

Gedanken

Sein Geist schnappte zurück in die Realität, als das Wasser plötzlich nicht mehr da war. Er hatte sich doch gerade nur kurz hin gesetzt, weil er so erschöpft von sich selbst gewesen war.

Als er dann ein Handtuch um die Schultern gelegt bekam, sah er auf. Ihm war warm und seine Haut spannte unangenehm. Er war unendlich müde und es dauerte ein bisschen, bis er Nates Gesicht tatsächlich fixieren konnte. Er hatte das Gefühl, Fieber zu haben.

"Das nächste mal gehen wir japanisch essen."

Hä? Was? Sie waren doch gar nicht essen? Aber japanisch wäre schön. Er hatte nichts japanisches mehr gegessen, seit sein Vater ihn rausgeworfen hatte.

"Klingt gut", murmelte er deshalb, auch wenn er nicht wirklich wusste, wie Nate darauf kam.

"Warum wartest du immer, bis ich schlafe? Wenn es dir nicht gut geht, will ich das wissen. Wie lange wärst du sonst noch hier sitzen geblieben?"

War die Frage nicht eher, wie lange er hier schon saß? Er konnte es nämlich nicht sagen. Es fühlte sich an, als wäre er gerade erst aus dem Zimmer gegangen, aber dann wäre ihm nicht so schwindlig.

Er zuckte etwas hilflos mit den Schultern und wusste nicht recht, was er sagen sollte. Er konnte es ja selbst nicht genau erklären.

"Das Ablenken hat diesmal so gut funktioniert… und als du weggedöst bist… ich weiß nicht… ich hab selbst gedacht, es wäre in Ordnung, aber ich konnte so nicht schlafen. Ich wollte dich nicht wecken, deshalb hab ich gewartet bis du tief genug eingeschlafen warst… Ich wollte nur duschen, aber als ich dann hier war… ich weiß nicht genau…"

Wenn er ehrlich war, waren seine Erinnerungen dann etwas verschwommen. Er hatte sich nicht wohl gefühlt… hatte sich schmutzig gefühlt und als er die Duschkabine betreten hatte… danach verschwamm alles. Er konnte nicht einmal sagen, an was er währenddessen gedacht hatte.

Aber er war jetzt auch noch nicht ganz da. Er bemerkte erst jetzt, dass Nate ihn streichelte. Seine große Hand fuhr langsam seine Wirbelsäule auf und ab. Das war ein schönes Gefühl, weil es ihm zeigte, dass er nicht alleine war.

"Wie viel Uhr ist es?"

"Es ist kurz vor halb vier."

Was? Scheiße, er hatte 4 Stunden hier gesessen? Kein wunder, dass es ihm so mieserabel ging.

"Kannst du aufstehen?"

Um das herauszufinden hielt Nate ihm die Hand hin. Als Shinji sie ergriff, zitterte seine Hand, aber schließlich schaffte er es auf die Beine, er musste sich nur stark an Nate stützen, damit das so blieb.

"Danke, dass du nach mir gesehen hast", murmelte er leise. "Und sorry, dass du nicht mal eine Nacht durchschlafen kannst…"

"Ich brauche nicht viel Schlaf, also ist das okay."

Ob Nate jetzt immer noch dachte, dass er unkompliziert und liebenswert war? So wie er ihn ansah, vermutete er schon, aber wirklich glauben konnte er das nicht.

Schritt für Schritt gingen sie Richtung Schlafzimmer, wo Shinji sich dann endlich wieder setzen konnte. Die Welt drehte sich noch immer, aber es wurde langsam besser.

"Zieh dir erst einmal die Sachen an. Ich hol dir in der Zwischenzeit etwas zu trinken. Möchtest du Tee?"

Wo hatte Nate eigentlich die Kleidung her? Huch… das war sogar die, die er sich mit ins Bad genommen hatte.

"Mir wäre ein Glas Wasser gerade lieber." Etwas warmes wäre ihm jetzt zu viel.

Nate ging und ließ ihn allein, damit er sich anziehen konnte. Er streifte sich gerade Mal die Hose über, dann hielt er inne.

Er fühlte sich wie der letzte Versager, unfähig sein Leben zu leben und unfähig mit seinen Problemen fertig zu werden.

Er hatte gehofft, dass sich einfach abzulenken, der richtige Weg gewesen wäre, aber anscheinend hatte es das nur schlimmer gemacht. Was sollte er denn noch tun?

Die Ratlosigkeit machte ihm angst. Was, wenn das gar nicht mehr weg ging? Wenn er immer so bliebe? Wenn der Schaden einfach zu groß war?

Die Tränen, die er die ganze Nacht zurück gehalten hatte, brachen jetzt aus ihm heraus. Die Verzweiflung und die Angst waren einfach zu groß und er zu schwach um damit fertig zu werden. Dass er schon wieder heulte wie ein kleines Kind, war doch Beweis genug.

Er bemerkte Nate erst, als er sich auf das Bett setzte und ihn einfach an sich zog.

"Weißt du, was noch mein Manko ist?", fragte er in die Stille der Nacht hinein, während er sein Kinn auf seinem Kopf bettete, "Ich bin echt scheiße im Trösten."

"Du solltest das gar nicht tun müssen", er stockte zwischendurch immer wieder ein bisschen, weil er verhindern wollte, zu schluchzen. "Ich sollte mich endlich zusammenreißen. Ich bin 30 Jahre alt! Und statt mich wie ein Mann zu benehmen, sitze ich hier und heule rum! Das löst die Probleme auch nicht."

Und es war vor allem so unglaublich untypisch für ihn. Wo kam das nur ständig her? Er verstand es ja selbst nicht. Er fühlte sich gerade schlichtweg elend und obwohl er wusste, dass das gerade nur ein Anfall war und das Gefühl wieder abklingen würde, fühlte es sich so an, als würde es nie mehr weg gehen.

"Was hat das mit dem Alter zu tun?", fragte Nate sanft. "Oder mit dem Geschlecht? Das ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Du zeigst deine Emotionen eben sehr offen."

Na, eben nicht! Er war sonst keine solche Heulsuse.

"Das muss nichts Schlechtes sein. Und es nur hinunter zu schlucken, als wäre nichts, löst die Probleme genauso wenig."

Nate drückte ihn kurz, ehe er voller Überzeugung weitersprach: "Wir finden schon eine Lösung. Bis dahin werde ich dich weiterhin im Arm halten, wenn dich etwas so fertig macht."

"Und was ist, wenn es keine Lösung gibt?", warf er sofort dazwischen. Es fühlte sich nicht so an, als gäbe es eine Lösung dafür. "Was, wenn es immer so bleibt? Wenn das jedes Mal passiert, wenn wir miteinander schlafen? Wenn ich jedes Mal einen Babysitter danach brauche? Das ist doch kein Zustand!"

Und irgendwann würde das Nate auch leid sein und dann verlor er ihn wieder. Das durfte auf keinen Fall passieren. Er wollte Nate nicht noch einmal aus seinem Leben streichen müssen.

"Wenn es immer so bleibt, werde ich dich eben immer danach im Arm halten. Ich kann mir Schlimmeres vorstellen. Stell dir vor, du wärst nicht homophob, sondern stattdessen Sex besessen und ich müsste mir ständig Gedanken darum machen, ob du mich betrügst."

Nate drückte ihn ein wenig von sich, um ihm ins Gesicht sehen zu können. Shinji hatte nicht die Kraft um ihm in die Augen zu schauen, weshalb Nate sich damit begnügte, ihm einfach nur die Tränen von den Wangen zu wischen. "Ich weiß, es ist alles andere als leicht für dich. Ich weiß das. Aber ich bin ziemlich sicher, dass wir eines Tages eine Lösung dafür finden. Vielleicht brauchst du so etwas wie ein Ritual. Wenn du irgendwann mit einem Therapeuten darüber sprichst, wird er dir bestimmt auch helfen können. Und ich werde dich so oft begleiten, wie es nötig ist, damit er mir erklären kann, was ich besser machen kann. Du bist nicht der Einzige, der an sich arbeiten soll. Ich unterstütze dich mit allem, was ich habe."

Die Hand, die Shinji eine Haarsträhne hinters Ohr strich, war genauso sanft wie die Stimme von Nate.

So wie er das sagte, klang das alles ganz einfach und logisch. Aber es traf auch nicht ganz den Punkt. Was, wenn selbst der Therapeut nicht helfen konnte? Was, wenn das alles wirklich viel zu tief saß?

"Irgendwann wird dir das einfach nur noch furchtbar auf die Nerven gehen.", murmelte er und die Verzweiflung lag mehr als deutlich in seinen Worten. "Und ich kanns verstehen! Mich würde es auch nerven. Stell dir vor, das ist in 10 Jahren immer noch so. Und sowas kommt so schleichend. Irgendwann denkst du dir, dass du eigentlich lieber schlafen würdest, als mich schon wieder zu trösten. Oder, dass du einmal gerne einfach ruhig nach dem Sex neben mir liegen würdest. Und wenn das erst einmal anfängt, dann wird es schlimmer. Dann lehnst du mich irgendwann das erste Mal ab, weil du einen schlechten Tag hast oder dich einfach gestresst fühlst und keine Lust darauf hast, dich auch noch um mich kümmern zu müssen. Das ist menschlich und ganz normal… aber für ein dauerhaftes Zusammenleben tödlich.Das… das kann so auf Dauer nicht funktionieren. Was ist, wenn die Therapie auch nichts bringt?"

Er redete schneller als gewöhnlich und hatte immer mehr Probleme ruhig zu atmen. Er schluchzte eigentlich nur noch und schnappte zwischendurch nach Luft, weil er das Gefühl hatte, viel zu wenig davon zu bekommen. Das einzige, was ihn am vollkommenen Durchdrehen hinderte, war die Hand, die noch immer auf seiner Wange lag und ihn sanft ein wenig streichelte.

"Ich kann mir nicht vorstellen, dass es auch in zehn Jahren noch so ist und ich weiß auch nicht, was ich machen würde, wenn das so wäre. Aber ich weiß, dass ich dich niemals links liegen lassen würde, wenn du weinst. Du wirst auch noch nach zehn Jahren meine oberste Priorität sein, egal ob ich gestresst bin oder einen schlechten Tag habe. Das hat sich immerhin in den letzten fünfzehn Jahren auch nicht geändert."

Nate legte die Hand, die ihn eben noch liebkost hatte, auf eine seiner Hände und drückte dort sanft. "Hab ein bisschen mehr Vertrauen in mich, Shinji. Ich liebe dich, verstehst du das?"

Nein, hätte er beinahe geantwortet. Nein, ich verstehe es nicht. Wie sollte er das auch verstehen? Er konnte akzeptieren, dass es so war, aber ihm wollte nicht in den Kopf, wie man jemanden wie ihn so sehr lieben konnte. Aber er drehte sich im Kreis. Er wollte Nate unbedingt begreiflich machen, warum er angst hatte und woher das kam.

"Ich vertraue dir, Nate. Aber die Logik ist unabstreitbar. Und Liebe…", er machte ein etwas abfälliges Geräusch. "Liebe ist heruntergebrochen doch auch nur ein Hormoncocktail und danach ein Gewöhnungseffekt."

Irgendwann in seinem Leben würde er zurück auf diesen Satz blicken und über sich selbst und seine Dummheit lachen. Aber zu diesem Zeitpunkt war er fest davon überzeugt. "Darauf werde ich mich sicher nicht verlassen."

Er drehte seine Hand um und verschränkte ihre Finger etwas schüchtern miteinander. Sein Blick fiel automatisch nach unten und betrachtete diese Haltung. "Ich verlasse mich viel lieber auf deine Geduld und deine Gutmütigkeit. Aber alles hat eben seine Grenzen. Ich habe nur Angst davor, eines Tages an deine zu stoßen und sie unwiederbringbar zu überschreiten."

Nate lehnte sich etwas vor, so, dass seine Stirn an Shinjis Kopf lag: "Ich weiß, du kannst nicht viel damit anfangen. Du willst alles rational erklären können. Aber irgendwann wirst du auch merken, dass nicht alles logisch ist. Ich kann dir bis dahin nur mein Wort darauf geben, dich zu unterstützen. Aber dafür musst du mich auch helfen lassen, wenn es dir nicht gut geht. Mach das nicht immer nur mit dir alleine aus. Ich bin dazu da, dir deine Last ein wenig abzunehmen."

Shinji atmete kurz durch, kam aber schon sehr bald an eine erneute Grenze, die ihn frustriert und auch sarkastisch aufschnauben ließ. "Was soll ich denn sagen?" Wie stellte Nate sich das auch vor?

"Soll ich dir wirklich beschreiben, wie elend ich mich fühle? Wie widerlich schmutzig und ekelhaft? Dass mir schlecht wird, wenn ich daran denke, was du mit mir gemacht hast? Was ich mit mir habe machen lassen? Wie sehr ich mich dafür schäme, es auch noch genossen zu haben? Soll ich dir erzählen, wie ich jedes Mal wieder die Kommentare der anderen von damals höre? Ganz zu schweigen von dem Gesichtsausdruck von meinem Vater, als er mich rausgeworfen hat und den ich immer wieder vor meinem inneren Auge habe?"

Er merkte, dass er etwas getroffen hatte, tief in Nates Innerem, denn sein Freund spannte sich an. Der konnte ihm wirklich nicht erzählen, dass er das hören wollte.

"Was bringt das denn, außer, dass du dich dann auch noch schlecht fühlst? Es ist nun mal mein Problem. Was bringt es, darüber zu reden? Was willst du denn sagen? Dass es nicht schlimm ist, schwul zu sein? Dass ich mich von der Meinung anderer nicht so fertig machen lassen soll? Dass das alles was ganz natürliches ist und es im Prinzip vollkommen egal ist, auf wen man steht? Das weiß ich! Aber es hilft mir nicht, das zu wissen. In den Momenten nach dem Sex… frage ich mich trotzdem immer und immer wieder, wie ich so schwach gewesen sein konnte, dass ich das zugelassen habe, ja, es sogar initiiert habe. Obwohl ich weiß, dass es eigentlich nicht schlimm ist. Es fühlt sich dann aber nicht so an, als wäre alles in Ordnung."

Nate schwieg nach dieser Ansprache eine ganze Weile, was ihm nicht zu verübeln war und Shinji war auch recht froh darum, er hatte sich ein wenig zu sehr in Rage geredet und musste erst einmal wieder runter kommen.

"Ja", erklang es dann aber schließlich. "Sag mir, wie du dich fühlst und ich werde dir immer eine Antwort geben. Wer gibt dir auch sonst einen Kommentar? Irgendwer muss das doch übernehmen. Wenn du das auch noch machen musst, ist das Energieverschwendung, findest du nicht?"

Langsam lotste Nate ihn so, dass sie kurz darauf wieder auf dem Bett lagen. Nate umschloss ihn fast ganz, ein Vorteil seiner enormen größe. "Und behaupte nicht, es wäre nur dein Problem. Wir sind ein Team. Sperr mich nicht überall aus, nur weil du denkst, es könnte holprig werden. Du würdest doch auch nicht einfach tatenlos dabei zusehen, wie ich leide, oder? Würdest du auch denken, es wäre mein Problem?"

"Nein", hauchte Shinji sofort. Nein, natürlich nicht. Er würde Nate helfen wollen. Egal wie und egal zu welchem Preis.

"Ich will nur nicht… ich will nur das was wir haben… nicht herabwürdigen, verstehst du? Es… es ist schön und wertvoll und… ich will das nicht in den Dreck ziehen, indem ich sage, dass ich es nicht richtig finde."

Es klang wahrscheinlich ein wenig irre, aber er schämte sich wirklich dafür, dass er sich dafür schämte, was er war.

Nate zog ihn noch ein wenig näher, so dass er nun wirklich gänzlich in der Umarmung verschwand.

"Es ist okay, wenn du das sagst, denn obwohl du das denken magst, bist du dennoch hier bei mir und gibst dir Mühe, es nicht zu denken. Solange du das tust, bin ich optimistisch, dass du mir eines Tages sagen kannst, was du für mich empfindest, ohne dich danach schuldig zu fühlen. Bis dahin werde ich auf dich warten."

Nach langem Schweigen, während dem Shinji nicht einmal hätte sagen können, woran er dachte, murmelte er letztendlich: "Danke… danke, dass du da bist… dass du mich gewählt hast und dass du mich nicht aufgibst."

Neuigkeiten

Im Laufe der Nacht hatte Shinji sich halb auf Nate gelegt, der seine Arme um seinen Liebsten geschlungen hatte. Geweckt wurde Shinji von einer Hand, die ihm sanft durchs Haar strich. So aufzuwachen, daran könnte er sich wirklich gewöhnen. Er streckte sich der Hand leicht entgegen und gähnte leise.

"Du bist viel zu früh wach", beschwerte er sich leise. Es war immerhin noch hell draußen. Schlimmer noch, es war gerade erst hell geworden. Normalerweise würde er erst in einigen Stunden das erste Mal aufwachen und sich dann noch einmal verschlafen umdrehen.

Aber dem Problem konnte ja Abhilfe geschafft werden. Also rutschte er ganz auf Nate und rollte sich da zusammen, wie sonst nur Katzen es taten.

"Ich bleib einfach hier", nuschelte er. "Dann kannst du auch nicht weg."

Natürlich überging er den Fakt einfach, dass Nate ihn mit einer Hand heben konnte.

Im nächsten Moment wurde er von einem leisen Lachen durchgeschüttelt und dadurch doch etwas mehr geweckt, als ihm lieb war, was er mit einem Grummeln quittierte.

Direkt danach wurde er auch noch durchgeknuddelt, als wäre er ein Teddy. Doch entgegen seiner eigenen Erwartung, missfiel es ihm nicht. Es tat gut von den starken Armen so fest gehalten zu werden. Nates Geruch war so intensiv, dass er sich vollkommen von seinem Freund umschlossen fühlte.

"Entschuldige. Mein Körper schreit nach zehn Uhr normalerweise immer nach Essen."

War es tatsächlich schon so spät? Das war nicht erst kurz nach Sonnenaufgang, auch wenn es immer noch viel zu früh für ihn war. Die letzte Nacht schien ihn mehr ausgelaugt zu haben, als er zugeben wollte.

Er rutschte etwas hin und her, weil Nates Nähe und Wärme etwas anderes auslöste, was er nicht zugeben wollte.

"Essen wird überbewertet", antwortete er nur. Dass Nate auch nicht wirklich aufstehen wollte, zeigte der feste Griff um ihn. Shinji hätte nicht einmal aufstehen können, wenn er gewollt hätte.

Das verstärkte sein Wohlsein nur noch und er hatte Probleme seine Erektion noch weiter zu verstecken. Klar hätte er einfach die Initiative ergreifen können, aber er wusste, was nach dem Sex käme und er wollte das gerade nicht. Er wollte sich einfach weiterhin so gut fühlen. Jede Berührung von Nate kribbelte ein bisschen, und stellte die verrücktesten Dinge mit seinem Körper an. Für diesen Moment war da nur noch der andere Körper, der andere Herzschlag, das Heben und Senken der anderen Brust. Alles andere war weg. Er wollte das nicht verlieren. Das hier war viel zu schön.

"Shinji?", säuselte Nate plötzlich und er wusste sofort, dass er aufgeflogen war. "Hast du etwa nen Steifen?"

Er griff ihm so plötzlich zwischen die Beine, dass er sehr unmännlich aufquietschte vor Schreck. "Guten Morgen", flötete Nate und Shinji verbarg seine roten Wangen in dessen Halsbeuge. Kurz fühlte er sich noch in Sicherheit, weil Nate sich ausgiebig streckte, aber dann lag er plötzlich unter ihm, ohne, dass er bemerkte, wie er das gemacht hatte.

"Wenn du willst, kann ich mich darum kümmern", knurrte er ihm mit tiefer Stimme ins Ohr, was seinen Magen heftig zum kribbeln brachte und gleich noch etwas mehr Blut nach unten beförderte. Er zog Nate daraufhin in einen innigen Kuss, lächelte ihn danach aber entschuldigend und unsicher an.

"Warum genießen wir nicht einfach, dass meine Aufmerksamkeit gerade zu 300% auf dir liegt und ich damit kein Problem habe, weil meine Hormone gerade Achterbahn fahren?"

Seine eigenen Hände waren nicht seiner Meinung, denn die strichen geistesabwesend über Nates Seiten und er brauchte all seine Selbstbeherrschung, um seine Finger nicht in die Haut zu krallen.

Nate lehnte sich noch einmal zu ihm runter und nippte ihm leicht an der Unterlippe. "Zu genießen, fällt mir wirklich nicht schwer.", hauchte er gegen seine Lippen und richtete sich dann wieder auf, um einen Blick über Shinjis Oberkröper huschen zu lassen.

Shinji hatte das Gefühl, die Spur nachempfinden zu können, die seine Augen zogen. Nate wirkte hungrig auf mehr und Shinji konnte es ihm nicht verdenken.

Als plötzlich Nates Handy klingelte, dachte Shinji schon, dass ihr intensiveres Kuscheln schon vorbei wäre. Doch er irrte sich. Obwohl es ewig klingelte, ging Nate nicht ran, also ignorierte Shinji es auch einfach.

Als Nate ihm wieder näher kam, reckte er den Hals gleich etwas, um möglichst viel Platz zu bieten. Nates Lippen küssten sich zu seinem Ohr hoch, bis er dort sanft hinein biss. Das Handy startete ein zweites Mal. Genüsslich zog Nate sein Ohrläppchen zwischen die Lippen und saugte daran.

Als das Handy ein drittes Mal los ging, löste sich Nate doch von ihm, nahm ab und brüllte: "Alter, ich bin beschäftigt!"

Er warf Shinji noch einen entschuldigenden Blick zu und verschwand dann vor die Tür.

Frustriert wischte sich Shinji über's Gesicht. Es war echt ein ekelhaftes Gefühl, einfach so liegen gelassen zu werden. Aber das schien wichtig zu sein, auch wenn er Nate deutlich durch die Tür fluchen hörte. Aber der veränderte Tonfall sagte ihm, dass es ein Kollege war. Er konnte nicht genau benennen warum, aber Nate klang plötzlich sehr militärisch.

"Oh ich weiß das. Die Wichser glauben, sie wären einschüchternd, sind sie aber nicht.", hörte er Nate plötzlich sagen. Gut, das war wohl eindeutig. Klang ein wenig so, als wäre Nates Gruppe oder das Militär bedroht worden? Von einer Gruppe aus einem Kriegsgebiet? Vielleicht wurde auch die Bevölkerung bedroht. Es klang auf jeden Fall nach Drohungen.

"Mir doch egal. Meinetwegen können sie sich verdreifachen. Es wird immer schlecht für sie ausgehen."

Ob die Gruppe neue Anhänger gefunden hatte und jetzt dachte, sie wären stark genug? Ob es um Terrorsiten ging? Eigentlich wollte Shinji das gar nicht wissen, aber er konnte nicht mehr, als zuhören.

"Hm, das ist unwahrscheinlich. Dafür müssten sie erst einmal wissen, wer wir sind." Klang als wäre Nates Gruppe wirklich direkt bedroht worden. "Aber ich versteh deine Sorge. Du hast Frau und Kind. Hey, Josh, wenn du Bedenken hast, dann geh ich alleine. Ich kann dich nicht gebrauchen, wenn du mit deinem Kopf bei deiner Familie bist."

Ja, das klang nach ziemlich übler Bedrohung. Sollte er sich Sorgen machen? Er war sich nicht sicher. Das ganze war so abstrakt für ihn, dass er bei dem Gespräch gar nichts empfand. Er hatte nur Angst, dass Nate früher weg musste. Er wusste nicht, wie er das ertragen sollte, denn er hatte fest mit Sonntagmorgen als Abschiedsdatum gerechnet. Zwar war er sehr gut im Planen und Organisieren, aber wenn ein fester Termin auf früher verschoben wurde, überforderte ihn das. Wenn er einen festen Plan hatte, wurde er schnell unflexibel.

Nate verabschiedete sich noch und kam dann wieder. Als wäre nichts gewesen, krabbelte er wieder unter die und zog ihn an sich: "Okay, wo waren wir?"

Aber Shinji konnte nicht da weiter machen, wo sie aufgehört hatten. Nicht einfach so.

"Ist alles in Ordnung?" Offensichtlich war es das nicht, sonst hätte Nates Kollege nicht angerufen. Oder Kamerad? Wie nannte man das beim Militär? Egal.

"Äh", sagte Nate überfordert, was Shinji wunderte. Sonst hatte er doch immer einen lockeren Spruch auf den Lippen. War es wirklich so ernst?

"Im Prinzip ja. Es ist nur etwas komplizierter geworden."

Mehr wollte Nate ihm wohl nicht preisgeben, denn er lehnte sich einfach wieder hinunter und begann wieder, sein Ohr zu liebkosen.

Woah, war das furchtbar. Das fühlte sich an, als würde er es mit einer Frau versuchen. Das war alles andere als anregend. Er verstand gerade, wie sich seine Freundinnen gefühlt haben mussten. Kein Wunder, dass die es kaum mehr als ein paar Wochen mit ihm ausgehalten hatten.

Deshalb löste er sich auch von Nate und rückte ein wenig weg. "Willst du darüber reden?"

Er wusste zwar, dass Nate nicht gerne über seine Arbeit sprach, aber er war gerade eindeutig nicht bei der Sache. So hatte das wirklich keinen Zweck.

Aber Nate legte eine Hand auf seine Wange und strich ihm mit dem Daumen darüber.

"Du könntest mich auch einfach ablenken." Der Unterton sollte wohl verführerisch sein, aber das ging gehörig schief. Das Schmunzeln auf Nates Lippen brach aber plötzlich und wirkte nur noch schief.

"Ach scheiße!", stieß Nate aus und drehte sich wieder auf den Rücken. Kurz darauf lag Nates Hand auf Shinjis und drückte sie leicht.

"Entschuldige. Eigentlich solltest du mich nicht ablenken müssen, sondern eher unter mir liegen. Aber… es gibt ein kleines Problem mit einem der SEAL Teams. Gut möglich, dass ich früher rüber muss, als ich vermutet habe."

Also doch. Verdammt. Aber warum mit einem SEAL Team? Das hatte wirklich geklungen, als gäbe es ein Problem mit Terroristen.

"Ist vollkommen in Ordnung", sagte er aber erst einmal und drängte diese unglaubliche Frustration, die er empfand, mit Gewalt beiseite.

"Musst du früher weg bezogen auf diese Woche oder die Zeit danach, die du eigentlich noch gehabt hättest?", fragte er ruhig nach und begann leicht mit dem Daumen über Nates Handrücken zu streicheln.

Nate sah wirklich unzufrieden aus. Ob das jetzt daran lag, dass das Telefonat die Stimmung vollkommen versaut hatte, weil er sich sorgte oder weil er auch frustriert über den verkürzten Aufenthalt war, konnte er nicht sagen.

"Danach. Die richtige Versammlung ist erst am Sonntag, vorher muss ich da nicht hin."

Nate drehte sich wieder auf die Seite und sah ihn an. "Aber wahrscheinlich werde ich danach nicht noch einmal herkommen können, sondern direkt mit meinem Team rüber fliegen."

Auch wenn es etwas unfair war, atmete Shinji auf.

Als Nate wieder einen Arm um seine Tallie legte, rückte er wieder etwas näher. "Ich habe sowieso nie damit gerechnet, dass du noch einmal wieder kommst, wenn ich ehrlich bin. Deshalb hält sich meine Enttäuschung etwas zurück. Lass uns einfach wie geplant diese Woche genießen, so gut wir noch können."

Diesmal drehte er sie beide, so dass er auf Nate lag und er seine Lippen diesmal über den Hals seines Freundes geistern lassen konnte. Er wusste nicht, was in Nates Kopf vorging, aber er wusste, dass er es ihm nicht erzählen würde. Und statt zu bohren und die Stimmung weiter zu versauen, versuchte er lieber, sie wieder anzuheizen.

"Und statt über all das zu grübeln, was du gerade erfahren hast", begann er deshalb und arbeitete sich wie Nate noch zuvor zu dessen Ohr vor, "…will ich, dass du mir erzählst, was du mit mir tun willst, während ich willig und bettelnd vor Lust unter dir liege."

Versprechen

Schwer atmend lag Shinji danach noch in Nates Armen. Irgendwie war das morgens anstrengender als abends, aber vielleicht lag das am fehlenden Frühstück.

"Ich glaube, ich brauch eine Dusche, kommst du mit?"

Nate war schon halb aufgestanden, ehe Shinji realisieren konnte, was er gesagt hatte. Erst als Nate schon nach der Unterhose griff, um für den kurzen Weg nicht nackt zu sein, wandte Shinji sich an ihn und grinste leicht.

"Wenn ich 'ja' sage, wäschst du mir dann wieder die Haare?"

Er wusste natürlich, dass Nate nur wieder versuchte ihn abzulenken, damit er nicht schon wieder in diesem Loch verschwand, das Shinji seine Psyche nannte. "Vielleicht bekommst du dann sogar eine zweite Runde"

Er war stolz darauf, dass er das sagen konnte und sein Verstand warnte ihn auch nur leise davor, dass er sich zu weit wagte.

Nate lachte und hielt ihm die Hand hin: "Du weißt, wie gut ich im Haarewaschen bin. Die zweite Runde ist mir sowas von sicher!"

Und nachdem er ihn aus dem Bett und in eine Umarmung gezogen hatte, grinste er sein so typisches, schalkhaftes Grinsen. "Wir werden heute wohl nicht mehr die Wohnung verlassen, was?"

Das leichte Flattergefühl in Shinjis Magen, war wohl eines der seltenen Beweise dafür, dass er tiefere Gefühle für seinen besten Freund empfand.
 

Eine Weile später standen sie gemeinsam in der Küche, während Shinji Kaffee aufsetzte. Noch hatte Nate sich kein Shirt angezogen, was Shinjis Gedanken nicht wirklich zur Ruhe kommen ließ.

"Meinst du…", begann er zögerlich, weil es ein unangenehmes Thema für ihn war, aber er konnte gerade an nichts anderes mehr denken. "Meinst du, wenn ich mir etwas sicherer mit der ganzen Sachen bin… können wir mal Rollen tauschen? Wenigstens… damit ich es mal ausprobieren kann?"

"Ähm…", antwortete Nate deutlich überfordert. "Dir ist schon klar, dass ich das doppelte wiege und mehr als einen Kopf größer bin, als du?"

Etwas verwirrt über diese Antwort, blinzelte er zu Nate: "Ich bin mir ziemlich sicher, dass es da Positionen gibt, wo das dennoch funktioniert."

Nate schien das irgendwie nervös zu machen, was Shinji gar nicht nachvollziehen konnte. Er schob sich auch eine Zigarette zwischen die Lippen, zündete sie aber noch nicht an.

"Du hast doch schon mit Frauen geschlafen, oder? Ich denke nicht, dass es da einen großen Unterschied gibt. Loch ist Loch…"

Was?

"Ja, klar da hab ich noch gar nicht drüber nachgedacht." Das kam etwas heftiger raus, als Shinji es gewollt hatte. "Redest da sicher aus Erfahrung, was? Du als Top hast ja da die perfekte Auswahl. Ich bin mir sicher, weil es ja das gleiche ist, hast du mindestens genauso viele Frauen wie Männer gevögelt."

Er schüttelte enttäuscht den Kopf und goss sich Kaffee ein. Was ein Schwachsinn. Was war nur mit Nate los? Der redete doch sonst nicht so. Das war doch genau die dumme Scheiße, die er von anderen ständig zu hören bekommen hatte. Er solle sich nicht so anstellen, hatten sie gesagt. Loch wäre doch gleich Loch, wenn er sich nur zusammen reißen würde, würde es mit Frauen genauso gut klappen.

"Sag doch einfach 'Nein', statt mit so einem Scheinargument zu kommen! Ich dachte, auf so dumme Ideen, kommen nur verklemmte Heteros." Oder verklemmte Schwule, so wie er selbst.

"Okay, dann sage ich eben 'nein'", entgegnete Nate mit deutlich genervtem Unterton und tastete seine Hose nach einem Feuerzeug ab. Danach stellte er sich an das Fenster im Raum und zündete die Zigarette an.

"Gut", grummelte Shinji und stand dann etwas ratlos vor dem Kühlschrank. Sollte er jetzt noch Frühstück machen oder nicht? Die Luft zwischen ihnen war gerade so dick, dass man die wahrscheinlich essen könnte. Was war überhaupt passiert? Er hatte doch nur gefragt, wie konnte das so eskaliert sein? Hatte er überreagiert? Hatte er eine Frage gestellt, die man normalerweise nicht stellte? Was hatte er falsch gemacht?

Sein Blick flog automatisch kurz zu Nate, blieb dann aber dort hängen. Nate stand an dem einzigen Tor zur Öffentlichkeit und das mit nacktem Oberkörper. Panik ergriff Shinjis Körper und er hatte alle Mühe, diese zurück zu kämpfen. Wenn er jetzt auch noch durchdrehte und Nate damit nervte, würde der wahrscheinlich gleich wutentbrannt aus der Wohnung stürmen und nicht mehr wieder kommen.

Das schnürte Shinji noch mehr die Kehle zu, als die Gedanken, die durch seinen Kopf rasten.

"Willst du dir nicht was anziehen?", fragte er deshalb nur zaghaft. "Die Morgenluft ist sicher kühl."

Er hatte etwas sagen müssen, aber er hoffte, dass es 'gut gemeint genug' war, dass es Nate nicht entgültig auf 180 trieb.

Noch ehe er aber eine Reaktion bekommen konnte, wandte er sich von dem anderen ab und goss sich Kaffee ein, sich wie gewohnt hilfesuchend an der Tasse festhaltend.

Er hörte wie Nate sich bewegte, spannte sich an, weil er, aus einem nicht vorhandenen Grund heraus, plötzlich angst hatte, dass er zu ihm kam und nahm einen Schluck Kaffee.

Aber Nate ging an ihm vorbei und er hörte ihn in seinem Schlafzimmer verschwinden. Danach stand er wieder vor dem Fenster und eine ewig lange Minute verstrich, in der keiner von ihnen irgendwas sagte. Zumindest ist er noch hier, versuchte Shinji sich Mut zu machen. Die Worte wurden schnell zu einem Mantra.

Was sollte er nur machen? Sich entschuldigen? Was tat man in so einer Situation? Er wusste ja nicht einmal genau, was er getan hatte.

Plötzlich spürte er Arme, die sich um seinen Bauch legten und er erschreckte sich so sehr, dass er fast die wertvolle Flüssigkeit verschüttete.

"Entschuldige", murmelte Nate und hauchte ihm versöhnlich einen Kuss in den Nacken. Entschuldigte er sich gerade dafür, ihn erschreckt zu haben oder dafür, was gerade passiert war? Shinji war sich nicht sicher.

"Hab ich was falsch gemacht?", fragte er kleinlaut und verfluchte sich gleichzeitig dafür, so offensichtlich Angriffsfläche zu bieten.

"Nein, du hast gar nichts falsch gemacht."

Nicht nur die Worte, sondern auch die ruhige Tonlage beruhigten Shinji enorm. Als Nates Kinn sich auf seine Schulter legte, hob er die Hand und streichelte seinen Freund leicht hinter dem Ohr.

"Deine Frage hat mich etwas überfordert, obwohl sie legitim ist. Ich bin zurzeit nur etwas angespannt, aber das hat nichts mit dir zu tun."

Shinji war sich nicht ganz sicher, was Nate meinte. Lag es an dem Anruf gestern?

"Willst du darüber reden?", fragte Shinji vorsichtig. Er wusste nicht, ob es angemessen war, zu fragen, aber ihm fiel keine andere Methode ein, um diese Situation zu lösen. Falls er doch einen Fehler gemacht hatte, wollte er den auf keinen Fall wiederholen. Aber dafür musste er erst einmal wissen, was eigentlich los war.

Als Nate aufseufze, konnte Shinji förmlich heraus hören, dass er gerade die Augen schloss. Es war seltsam, wie gut man sich in so kurzer Zeit erneut kennenlernen konnte. Es fühlte sich an, als wäre Nate nie weg gewesen und als würde er genau dort hin gehören, wo er gerade war. Das war ein gruseliges Gefühl, aber es machte ihm keine große angst, es ging immerhin um Nate. Er hatte das Gefühl, dass, wenn nur Nate bei ihm war, alles machbar war. Das war ein noch viel befremdlicheres Gefühl. Wann war das passiert?

"Ahm…" Es war aber noch so viel komischer, Nate derart herumstottern zu hören. Das war doch sonst sein Part.

"Naja… was willst du da groß hören? Ich bin nicht gerne der Passive beim Sex. Ich hatte das, als ich 16 war und die Erfahrung sagt mir 'nein danke' zu einem zweiten Mal."

Ein Arm löste sich von Shinji, nur, damit Nates Hand über seinen Bauch fahren konnte.

Warum hatte sein Freund ihm das nicht gleich gesagt? … nun ja. Wenn er ehrlich zu sich war, kannte er das Gefühl. Wenn einem etwas unangenehm war, ging man schnell mal in den Angriff über, statt sich einfach zu erklären. Vielleicht hatte Nate angst gehabt, er würde ihn nicht ernst nehmen oder es als Kleinigkeit abtun.

Oder war es etwas anderes? Ihm wurde schlecht, als ihm ein furchtbarer Gedanke kam.

"A… aber es war nur ein ungeschickter Liebhaber… oder?" Es war mit Worten nicht zu beschreiben, wie viel Hoffnung in diesem Satz lag. Der bloße Gedanke, dass jemand Nate dazu gezwungen haben könnte, war abscheulich. Die Bilder, die das in seinen Kopf pflanzte, musste er viel zu lange ertragen, aber schließlich konnte sich Nate zu einer Antwort durchringen:

"Der Typ war sehr von sich überzeugt, aber vielleicht war er wirklich nur etwas ungeschickt. Keine Ahnung… ich will nicht weiter darüber nachdenken."

Shinji entspannte sich wieder, auch wenn das nicht ganz gerechtfertigt war. Die eigene Erfahrung, wie es sich anfühlte, wenn da etwas passierte, was man nicht wollte, war noch frisch und es drehte ihm fast den Magen um, wenn er daran dachte, wie Nate sich damals gefühlt haben musste. Er wusste auch wie es war, wenn man den Sex nicht mochte und ihn dennoch durchzog, weil man den anderen nicht verletzen wollte. Wenn man ausharrte und weiter machte, obwohl sich alles in einem dagegen sträubte. Er wusste, wie es war, wenn Berührungen nichts mehr bedeuteten, wenn jede Sympathie für eine Person plötzlich verschwand, weil es sich einfach nur falsch anfühlte. Er kannte diesen Moment, in dem man kalkulierte, ob man genug tat, ob es lang genug war, ob man eine Stelle zu lang berührte und es deshalb für den anderen zu langweilig wurde. Er kannte den Moment, in dem Intimität zu Arbeit wurde.

Ein kalter Schauer rann seinen Rücken hinab und hinterließ einen bitteren Geschmack auf seiner Zunge. Er konnte verstehen, warum Nate das so strikt ablehnte. Er würde auch niemals wieder mit jemandem schlafen, den er nicht wirklich liebte. Und er erwischte sich in diesem Moment bei dem Gedanken, dass er das vielleicht nie wieder riskieren müsste, wenn Nate nur bei ihm blieb.

Aber es war wirklich kein Wunder, dass Nate so allergisch auf diese Frage reagiert hatte.

"Aber im Moment würde ich wohl auf jede Frage aus dem Gleichgewicht gebracht, die nicht alltäglich ist."

Las Nate seine Gedanken, oder warum hatte er so perfekt anknüpfen können?

Er wurde sanft herum gedreht und konnte in das ungewöhnlich ernste Gesicht seines Freundes sehen.

"Shinji… ich weiß nicht, wie lange ich drüben bin. Ich will dir auch nicht wirklich viel darüber erzählen, weil du dir sonst unnötige Sorgen machen würdest. Aber… ahm…"

Es war also wirklich wegen des Einsatzes. Na ja, das war wohl auch normal. Er sollte die nächsten Tage vielleicht darauf achten, dass er Nate nicht unnötig reizte, der hatte wirklich mehr als genug eigene Sorgen.

Aber warum druckste er denn schon wieder so herum?

"Egal, wo ich auch sein mag, in Gedanken bin ich bei dir."

Oh Mann…

"Du machst mich echt fertig, wenn du so redest.", stieß Shinji eher unfreiwllig aus, aber meinte es durchaus ernst. "Das bist einfach so gar nicht du. Ich mach mir eher Sorgen, wenn du so stotterst und Abschiedsmäßig rumschnulzt. Red lieber über die Zeit da drüben, das macht mir weniger Sorgen…"

Das stimmte wahrscheinlich nicht ganz. Er wollte eigentlich nicht wissen, was da drüben so abging. Er wollte weiter in der Traumwelt leben, in der Nate nur der Scharfschütze war, der hunderte Metere von dem eigentlichen Geschehen weg war und der absolut nicht in Gefahr war. Er brauchte das, sonst würde er wahnsinnig werden, in der Zeit, in der Nate nicht da war.

Aber wenn es seinem Freund half, würde er es in Kauf nehmen, dass seine Welt risse bekam und vielleicht sogar einstürzte.

Letztendlich erntete Shinji das Lachen, auf das er abgezielt hatte. Es war nicht ganz so locker und offen wie sonst, aber es war ein sehr guter Anfang.

"Entschuldige, war nicht beabsichtigt", raunte Nate und lehnte sich zu ihm hinunter, um kurz Shinjis Nase mit seiner anzustupsen. Aber dann war die Ernsthaftigkeit auch schon wieder da:

"Es gibt ein paar Probleme, mit denen ich mich auseinandersetzen muss. Aber nichts, was nicht zu schaffen ist."

"Damit kann ich mehr anfangen, danke."

Auch wenn es ihn so unglaublich neugierig auf mehr machte. Was für Probleme? Nate konnte ihm so etwas doch nicht vor die Nase setzen und dann einfach abbrechen.

Doch, konnte er wohl. Und er schluckte seine Neugierde einfach hinunter. Vielleicht war es besser, wenn er es nicht wusste. Wahrscheinlich durfte Nate auch nicht darüber reden.

"Ich vertraue darauf, dass du wieder kommst. Wann du wieder kommst ist nicht so wichtig. Pass da drüben auf dich auf, ja? Wenn du nicht mehr da bist, habe ich keinen Grund mehr, mich zu ändern."

Er grinste erst schief, ehe er leise lachte: "Aber kein Druck!"

Nate schnippte ihm darauf nur leicht gegen die Stirn: "Pass du auch auf dich auf. Arbeite nicht so viel. Gönn dir Pausen und geh ab und zu vor die Tür."

Das kannte er doch… Shinji wandte kurz den Kopf um einen Blick auf das Korkbrett zu werfen, auf das die kleinen Zettel gepinnt waren.

"Ich hab gestern Nacht die Memos gelesen. Ich hoffe, du hältst dich an deine eigenen Ratschläge. Ich will sicher sein, dass es dir gut geht, solange ich weg bin. Und ich will als erstes dein Lächeln sehen, wenn ich wieder durch diese Tür komme."

Ein kurzes Streicheln durch seine Haare und ein sanfter Kuss unterstrichen die Fürsorge, die schon aus Nates Worten sprach.

"Ich finde, wir sollten uns ein beidseitiges Versprechen geben."

Abschied

"Jetzt redest du wieder so schnulziges Abschiedszeug", murmelte Shinji und seufzte.

Doch Nate grinste darauf nur und schüttelte sanft den Kopf: "Wenn ich mich würde verabschieden wollen, würde ich dir sagen, dass die Zeit zwar kurz, aber wunderschön war und du mein Leben in den wenigen Tagen bereichert hast. Das ist schnulziges Abschiedszeug!"

"Ja, du hast Recht. Das ist noch schlimmer."

Und von wegen wunderschön. Nate hatte mehr Zeit damit verbracht, ihn aus irgendeinem emotionalen Loch wieder heraus zu holen, als sonst irgendetwas. Und eigentlich wollte er auch gar nicht über Abschiede sprechen, sondern die verbleibende Zeit mit Nate lieber genießen. Aber da hatte er sich wohl selbst mal wieder hinein manövriert.

"Was meinst du denn mit einem Versprechen?"

Sanft strich Nate ihm eine Haarsträhne aus dem Gesicht und legte seine Hand dann auf dessen Wange.

"Ich verspreche dir, dass ich wieder zurück komme und du versprichst mir, dass du dich gut um dich selbst kümmerst."

Hatten sie sich das Versprechen nicht irgendwie sowieso schon gegeben? Na ja, vielleicht nicht offiziell, aber irgendwie war das doch impliziert, oder?

Als Nate dann aber spitzbübisch zu grinsen begann, hob Shinji skeptisch eine Augenbraue.

"Und wenn du es brichst, darf ich mit dir machen, was ich will."

Ah, daher wehte der Wind. Also so etwas wie eine Wette? Oder eher eine Strafe, bei Nicht-Einhalten. Das war so typisch Nate.

"Das ist aber unfair. Was mache ich dann, wenn du deins nicht hältst? Dann muss ich ja rüber fliegen, dich irgendwo ausbuddeln und dich dann zur Strafe ausstopfen oder sowas."

"Ich dachte eigentlich, tot sein, ist schon Strafe genug."

Es war schon erstaunlich, dass Nate es tatsächlich schaffte, noch Witze darüber zu machen. Aber wahrscheinlich durfte er das Thema nicht zu ernst nehmen, denn zu viel darüber nachzudenken, würde nur zu Fehlern führen.

Nate verwuschelte ihm das Haar und fuhr einfach fort, wahrscheinlich wollte er das Thema so umgehen und Shinji ließ ihn:

"Du hast dein Versprechen gebrochen, wenn du in der Öffentlichkeit immer noch so tust, als wären wir Fremde. Ich verlange nicht, dass du an mir klebst, aber zumindest will ich mit dir ein normales Gespräch führen können, mit einem normalen Abstand zu einem Gesprächspartner. Ich denke, das ist ein guter Anfang."

Shinji war es immer noch unangenehm, dass Nate das aufgefallen war und er hoffte wirklich, dass er das hinbekam, bis sein Freund wieder kam. Er musste wirklich einen der Therapeuten anrufen.

"Und du musst regelmäßig einkaufen gehen. Nicht online, sondern so richtig in einem Laden."

"Ich gehe so auch schon regelmäßig einkaufen!", protestierte Shinji sofort. Er verschränkte die Arme vor der Brust. "'Regelmäßig' kann halt auch bedeuten 'immer dann, wenn nichts mehr im Kühlschrank ist'", murmelte er ergänzend.

Er wusste ja, dass er da ein kleines Problem hatte, aber es gab so viel Wichtigeres als das. Aber es war wohl tatsächlich ein Teil von 'Sich um sich selbst kümmern'.

"Okay… da es mir mehr als nichts bringt, wenn du dein Versprechen brichst, bestehe ich auf eine Belohnung, wenn ich meines halte. Es steht ja sowieso außer Frage, dass du wieder kommst." Nate hatte immerhin noch nie ein Versprechen gebrochen. Nicht einmal das, dass sie immer Freunde bleiben würden. Er konnte nichts dafür, dass sein Vater die Anrufe nicht weitergeleitet hatte und sogar nach 15 Jahren, war er ihm so lange auf die Nerven gegangen, bis sie wieder an die alte Freundschaft hatten anknüpfen können. Nate würde wieder kommen, da war sich Shinji sicher. Es gab für ihn keine Alternative.

"Aber das zählt alles nur, wenn du mindestens sechs Monate weg bist. Wenn du davor wieder kommst, habe ich die restlichen Wochen noch Zeit, das alles zu erfüllen."

Daraufhin lachte Nate ausgelassen und verwuschelte ihm die Haare, bevor er die verschränkten Arme vor Shinjis Brust löste und die Hände mit seinen umfasste:

"Normalerweise sagt man seinem Freund, dass er so schnell wie möglich wiederkommen soll. Und du schiebst mich gleich für ein ganzes Jahr ab. Ich fühle mich ein bisschen einsam, muss ich sagen."

"Ein halbes", korrigierte Shinji ihn sofort, aber hatte gleichzeitig ein schlechtes Gewissen. Nate wusste, dass er das so nicht gemeint hatte, aber er sah auch die Aufrichtigkeit in seinen Worten und er hatte ihn nicht verletzen wollen. "Ich bin ein wenig zwigespalten… ich will gar nicht erst, dass du gehst, aber das ist unvermeidlich und wenn du wieder kommst, will ich dir Fortschritte zeigen können. Ich will dafür kämpfen, dass das mit uns funktioniert. Wenn du wieder kommst, will ich dir sagen können, was ich für dich empfinde. Aber für das alles brauche ich Zeit. Aber natürlich will ich auch, dass du so schnell wie möglich wieder kommst. Es wird so komisch, wenn du plötzlich nicht mehr da bist."

Zur Untermalung seiner Worte, streckte Shinji sich nach oben und gab Nate einen Kuss, der die Chance nutzte, ihre Hände voneinander löste, seine um Shinjis Hintern legte und ihn hochhob, dass der nur noch die Beine um seine Hüfte schwingen konnte.

"Und ich Wirklichkeit kannst du es kaum erwarten, dass ich wieder weg bin", sagte Nate gespielt entrüstet und lachte auf. "Und währned ich erwartungsvoll vor deiner Tür stehe, eine Kiste Bier in der einen Hand und eine Packung Schokoriegel in der anderen, denkst du dir nur 'Mist! Ich dachte, ich wäre ihn endlich losgeworden'. Aber ich sag dir eins: Das hier ist für die Ewigkeit… ha!… okay, das war wirklich schnulzig."

Shinji war ein wenig überfordert mit dem Positionswechsel, der plötzlich sehr intimen Haltung und Nates vollkommen untypischem Redeschwall.

"Ja, natürlich!", antwortete er erst einmal auf den ersten Teil davon, denn sein Kopf hatte den zweiten noch nicht verarbeiten können. "Wegen dir ist mein Einsiedlerleben immerhin vorbei. Das geht mal gar nicht!"

Erst danach hielt er inne und wurde wieder ruhiger. Legte die Arme um Nates Nacken und sah ihn mit einer ungewohnten, inneren Ruhe an: "Für die Ewigkeit, huh? Das ist eine ganz schön lange Zeit…"

Aber es machte ihm keine Angst. Es sollte ihm doch angst machen, oder? Aber Nate gab ihm so viel Kraft und Mut, dass er es sich ohne ihn schon gar nicht mehr vorstellen konnte. Es nicht einmal wollte. Es war so wenig Zeit vergangen, seit Nate wieder in sein Leben getreten war, aber er wollte wirklich nicht mehr ohne ihn sein. Vollkommen verrückt.

Nates gespielt entschuldigendes Lächeln, das von seinem sarkastischen Blick vollkommen entkräftet wurde, wurde erst vorsichtig und dann ganz sanft: "Lang? Oh, das ist mir bewusst. Ich bin darauf eingestellt. Und du?"

Shinji wusste, dass das hier, genau jetzt, einer der größten Wendepunkte in ihrer Beziehung werden würde, aber konnte er das? Das war wie eine Verlobung, nein, eigentlich schon wie eine Hochzeit und dabei waren sie nicht einmal offiziell zusammen. Dabei sehnte sich gleichzeitig alles in ihm danach, dass es funktionierte. Dass einmal in seinem Leben etwas richtig lief und dass er mit diesem einen Menschen glücklich werden konnte. Er war lange genug einsam gewesen, obwohl er früher so ein Gruppenmensch gewesen war. Wenigstens diesen einen Menschen, wenigstens Nate, wollte er für immer an seiner Seite wissen.

"Versteh mich nicht falsch… ich wünsche mir, dass es für die Ewigkeit ist. Aber wir haben uns erst vor kurzem wieder getroffen. Es ist noch viel zu früh für solche Versprechen. Das kann ich nicht."

Er drückte sich näher an Nate, dass er ihn richtig umarmte und seine Wange nun an der seines Freundes lag:

"Ich will, dass es funktioniert und ich werde dafür arbeiten, dass es das tut. Aber ich kann dir nichts versprechen. Noch nicht. Dafür gibt es für mich noch zu viele Variablen, die noch schief gehen können."

Ein sanftes Lachen vibrierte daraufhin durch Shinjis Körper und Nate legte einen Arm um seinen Rücken, um ihn näher an sich zu drücken.

"Mach dir keinen Kopf. Das hätte mich auch sehr gewundert. Hättest du tatsächlich 'ja' gesagt, wäre ich wohl umgekippt und du hättest eine Bruchlandung hingelegt. Mach dir keinen Stress. Ich hol mir die Antwort ab, wenn du so weit bist."

Danach legte sich eine angenehme Stille über sie, die Shinji in vollen Zügen genoss. Auch wenn sie schon einige Male miteinander geschlafen hatten, war das hier doch der bisher intimste Moment. Es war eine ganz besondere Intimität und wie in einem schnulzigen Liebesfilm, fühlte es sich kurz so an, als würden ihre Herzen im gleichen Takt schlagen.

Das änderte sich aber schnell, als Shinjis Herz für einen Moment aussetzte, als plötzlich der Klingelton von Nates Handy erklang. Hoffentlich ging er nicht ran…

Aber natürlcih war Nate zu gutherzig um jemanden einfach im Regen stehen zu lassen und als er einen regelrechten Aufschrei aus dem Handy hörte, hätte er es seinem Freund am liebsten aus der Hand geschlagen. Das konnte eigentlich nur einer sein.

"Erstmal 'Hallo' und 'Wie geht's', das haben wir doch schon gelernt, Randy."

Natürlich…

Doch er hatte gar keine Zeit sich darüber zu ärgern, da klingelte es schon an seiner Tür. Shinji wurde bleich. Oh bitte nicht…

Sex

Shinji rutschte von Nates Hüfte und entfernte sich etwas von ihm. Seine eben noch gute Laune, war augenblicklich wieder im Keller. Was dachte sich dieser Idiot denn, einfach hier aufzutauchen? Die beiden waren nicht für heute verabredet! Welchen Tag hatten sie eigentlich? Dienstag? Mittwoch? Er war sich nicht sicher.

Dunkel sah er seinen Kumpel an: "Dein Freund, nicht meiner. Geh du mit ihm Gassi."

Das war auch gleichzeitig ein eindeutiges Zeichen, dass er ihn definitiv nicht in dieser Wohnung haben wollte. Hier waren keine Fremden erlaubt.

Um auch ja keinen Kontakt mit dem Neuankömmling zu haben, griff er wieder nach seiner Kaffeetasse und verschwand damit grummelnd im Arbeitszimmer. Was für ein Scheißtag. Lautstark warf er die Tür hinter sich zu.

Er war nicht wirklich sauer auf Nate, aber dieser Randy nahm ihm Zeit mit seinem Freund weg und er wusste, dass Nate nicht 'Nein' zu ihm sagen würde.

Leider war das Zimmer nicht schalldicht, weshalb er einen Großteil der Unterhaltung mit anhören konnte.

"Ha! Wusste ich doch, dass du hier bist!", rief Randy laut und euphorisch. "Du hast dich kein bisschen verändert. Lass dich umarmen, Großer!"

"Wo ist denn dein süßer Freund?"

Shinji schnappte sich seine Kopfhörer und schaltete laute Musik an.

Ob Randy ahnte, was los war?

Die Tasse, die er gerade noch an seine Lippen geführt hatte, wurde im nächsten Moment heftig auf den Schreibtisch zurück gestellt und als Shinji aufsprang, warf er sie fast um.

Auf dem Weg zum Bad traf er niemanden, die Tür schlug er dennoch hinter sich zu, ehe er sich lautstark in die Kloschüssel erbrach. Als er daneben zusammensank, schmeckte er saure Galle. Das war plötzlich gekommen.

Es fühlte sich an, als hätte ihn die Realität mit einem Gummihammer zu Boden geschlagen. Randy war selbst schwul, oder? Er hatte ihn zumindest als 'süß' bezeichnet. Warum machte er sich dann solche Gedanken? Und das so plötzlich? Er hatte sogar einigermaßen normal und ruhig mit Nate reden können, das war keine zehn Minuten her.

Aber die Angst klammerte sich schon wieder um sein Herz, das raste und es machte ihm das Atmen unglaublich schwer. Fuck.

Warum ließ er sich von seiner Vergangenheit so sehr beeindrucken? Es war doch alles gut…

Ja… noch war alles gut. Weil keiner es wusste. Aber es blieb die Möglichkeit, dass man es herausfand. Er wollte das alles wirklich nicht noch einmal durchmachen. Diese Sache mit Nate musste in diesen vier Wänden bleiben und er wusste nicht, ob er das schaffte. Gerade begann er wirklich zu bereuen, dass er Nate überhaupt so nah an sich gelassen hatte. Vielleicht wäre das schon bald sein Untergang.
 

Seine Gedanken drehten sich auch die nächsten Minuten im Kreis. Er sah seinen Chef ihm schon vor die Füße spucken und hörte wie er ihm mitteilte, dass er solche wie ihn nicht gebrauchen konnte. Sein Gesicht war dabei von Hass so verzerrt wie das von seinem Vater damals, als er ihn rausgeworfen hatte. Er sah sich selbst nach Hause kommen, seine Tür mit Müll beschmiert und Graffiti darauf die ihn eine Schwuchtel und Schlimmeres nannten.

Vielleicht hatte er bisher nicht viel gehabt, aber er hatte wenigstens in Ruhe leben können. Seine Nachbarn hatten ihm skeptisch, aber ansonsten neutral zugenickt, wenn er sie mal gesehen hatte. Seine Kollegen respektierten ihn, fragten ihn per Mail um Rat und ließen ihn über ihre Arbeit noch einmal drüber sehen. Sein Chef hatte ihm vor einer Weile sogar den Abteilungsleiter Posten angeboten, den er nur abgelehnt hatte, weil er dann mehr mit Kunden zu tun hätte und weil er dann öfter in der Firma sein müsste und vielleicht nicht mehr abends arbeiten könnte. Es war alles gut im Moment, warum nur musste er das alles aufs Spiel setzen, nur, damit er nicht mehr alleine war?

Das war doch absurd. Vollkommen irrsinnig. Was, wenn nur dadurch alles wieder kaputt ging?
 

Als es plötzlich an der Tür klopfte, übernahm die Panik Shinji ganz. Das musste Nate sein. Was sollte er jetzt tun? Nach allem, was passiert war, nach allem, was er selbst getan und gesagt hatte, konnte er Nate nicht einfach wieder aus seinem Leben werfen.

Er tat instinktiv das, was er auch früher immer getan hatte: Er versteckte sich und tat so, als wäre er nicht da. Es war dämlich, denn Nate wusste, dass er das Haus nicht ohne Grund verlassen würde, aber vielleicht ging er ja einfach. Vielleicht löste sich dieses Problem einfach auf, wenn er es ignorierte.

Aber er hatte das Glück natürlich nicht. Er kauerte sich zusammen, als die Tür auf ging und im nächsten Moment kniete Nate bereits neben ihm.

"Was ist los?"

Die Hand, die sich auf Shinjis Rücken legte, war dem schon fast zu viel. Am liebsten hätte er Nate einfach weg gestoßen, aber das brachte er nicht über sich.

"Nichts", murmelte er, versuchte weiter, einfach alles zu ignorieren. Nathan war in ein paar Tagen sowieso weg, oder? Es musste nur bis dahin alles gut gehen.

"Nach 'nichts' sieht das aber nicht aus. Shinji… bitte rede mit mir."

Als er nach einigen Sekunden immer noch nicht geantwortet hatte, verschwand die Hand langsam wieder von seinem Rücken. "Shinji?"

"Nichts…", war das einzige, was Nathan zu hören bekam, während Shinji das Gefühl bekam, immer weniger Luft zu bekommen. Sein Herz hämmerte so laut in seinen Ohren, dass er das Gefühl hatte, seine Trommelfelle würden jeden Moment reißen.

Was hatte er sich eigentlich gedacht? Dass alles plötzlich gut wurde? Dass die Welt sich plötzlich für ihn änderte, nur, weil Nate wieder da war?

"Lass mich einfach allein…"

Menschen änderten sich nicht. War er nicht der beste Beweis dafür? Die gleichen Ängste, die gleiche Panik, die gleichen Probleme. Tag für Tag aufs Neue. Vielleicht hatte er Nate ein paar süße Nichtigkeiten entgegenbringen können, aber auch nur, weil er sich selbst hatte einlullen lassen. Er hatte kurz in einer Traumwelt gelebt, aus der er jetzt umso härter wieder erwachte.

Menschen änderten sich nicht und bald wäre Nathan wieder nicht da, um ihm dadurch zu helfen. Wenn es wieder raus käme, stünde er abermals alleine da. Er wollte sein Leben nicht wieder verlieren.

Er hörte den Toilettensitz klappern, im nächsten Moment saß er auf der geschlossenen Toilette. Vor ihm kniete Nate, dem er mehr versehentlich kurz ins Gesicht sah.

"Ich lass dich jetzt bestimmt nicht allein. Sag mir einfach, was los ist. Und komm mir nicht mit 'nichts', Shinji. Bist du sauer auf mich? Oder auf Randy? Ich verstehe es nicht… in der einen Minute lässt du kaum die Finger von mir und in der nächsten…"

Nathan brach ab und holte kurz tief Luft: "Du fühlst dich schuldig deswegen, oder? Aber warum? Was ist so falsch daran?"

Shinji konnte die Enttäuschung aus Nathans Stimme hören und auch die Verzweiflung. Beinahe hätte er bitter aufgelacht. Das war doch perfekt. Wenn Nathan jetzt begann, genervt von seinen Ticks zu sein, würde er freiwillig gehen.

Er bemerkte erst jetzt wirklich, dass Nathans Hände auf seinen Oberschenkeln lagen. Selbst wenn er wollte, könnte er nicht weg. Es war nicht das erste Mal, dass er so auf einen Toilettensitz gedrückt wurde.

Er schloss gequält die Augen und versuchte sich klar zu machen, dass das hier nichts mit Chris zu tun hatte, aber es half nichts. Irgendetwas riss in ihm, doch statt einer Welle aus Panik, verschwammen seine Gedanken in weißem Rauschen und seine Ängste begannen sich mit der Realität zu vermischen, bis er beides nicht mehr auseinander halten konnte.

Er beugte sich vor und presste die Ballen seiner Hand gegen seine Schläfen:

"Du bist wieder weg und ich stehe schon wieder vor einem Trümmerhaufen. Ich muss schon wieder von vorne anfangen. Ich muss wieder umziehen. Muss mich wieder verstecken. Es war alles so perfekt hier und jetzt muss ich schon wieder weg. In eine fremde Stadt… in eine fremde Wohnung… in eine fremde Firma… es hat so lange gedauert, bis ich all das hier hatte… bis ich mich wohl gefühl habe… es ist alles wieder kaputt… sie hassen mich…"

"Moment. Warte, warte, warte. Wer hasst dich? Shinji, wieso glaubst du, du musst die Stadt verlassen? Niemand weiß über uns Bescheid und selbst wenn… du bist nicht der einzige Homosexuelle auf dieser Welt. Ja, ich weiß, du hast in der Vergangenheit furchtbare Erfahrungen gesammelt, aber das darfst du nicht als Maßstab sehen. Es gibt immer ein paar Idioten, die das anders sehen, aber im Allgemeinen ist die Welt da draußen viel toleranter, als du glaubst. Was kann ich tun, damit du das verstehst?"

"Aber die Welt ändert sich nicht! Sie hat sich in den letzten 1000 Jahren nicht geändert, es wird nur immer so getan, damit man sich der vorigen Generation überlegen fühlen kann! Die Menschen lernen nichts dazu! Es wiederholt sich alles ständig wieder! Glaubst du, nur weil in jedem zweiten Film irgendein Quotenschwuler vorkommt, ändern die Menschen ihre Meinung? Sieh dir an, was in diesem Land heute noch mit Schwarzen passiert! Wir hatten den ersten afroamerikanischen Präsidenten und wer folgte darauf? Der Kerl ist schlimmer als Bush! Ein Scheiß ändert sich! Und warum sollten sie ihre Meinung bezüglich uns ändern? Homosexualität ist abnormal! Die Natur kann das so nicht vorgesehen haben! Ich kann mich so immerhin schlecht fortpflanzen und selbst wenn es doch so vorgesehen ist, was bedeutet das dann? Das meine Gene so abartig sind, dass es besser ist, wenn ich sie nicht weitergebe? So als Sicherheitsmechanismus? Dann haben sie alle doch genauso Recht! Und was heißt hier 'niemand'? Mein Chef…"

Diesmal brach er ab. Einerseits weil er keine Luft mehr zum Sprechen hatte, andererseits, weil sein Kopf sich weigerte, ihm die Informationen zu geben, die er haben wollte: Die Erinnerung daran, wie sein Chef ihn angerufen und gefeuert hatte.

Seine Finger krallten sich in seine Kopfhaut und ihm wurde schwindlig. Er atmete schneller um mehr Luft zu bekommen, aber erreichte damit nur das Gegenteil.

"… und die anderen…", murmelte er vollkommen entrückt. Irgendetwas stimmte nicht, aber egal wie sehr er versuchte darüber nachzudenken, er kam nicht darauf, was es war.

Nathan sagte etwas, es klang nachdrücklich, angefressen und heftig, aber er verstand kein Wort. Im nächsten Moment spürte er wieder eine Hand auf seinem Rücken, der Druck auf seine Beine war weg und Nates Stimme kam aus einer anderen Richtung.

Ohne darüber nachzudenken, sprang Shinji auf, um von der Toilette weg zu kommen, aber ihm war so schwindlig, dass er weg kippte, gegen eine Wand prallte und dann hart auf dem Boden aufschlug.

Der Schreck und der Schmerz ließen ihn endlich die Luft wieder richtig ausstoßen und er konnte seine Lunge mit frischem Sauerstoff füllen. Orientierungslos blieb er liegen und versuchte die schwazren Punkte vor seinen Augen weg zu blinzeln.

Er wurde hochgehoben, was ihn sich fast wieder übergeben ließ. Schwach versuchte er sich von der Brust wegzudrücken, doch es gelang ihm nicht.

Sofort wurde er auf etwas weiches abgelegt, dann ließen ihn laute Schläge zusammenzucken. Warum schlug Nate mit einem Hammer auf die Arbeitsplatte seiner Küche?

Das Geräusch verstummte und Nates Stimme erklang wieder direkt neben ihm: "Wo genau tut's weh?"

Er blinzelte kurz zu seinem Kumpel und verstand, wo das Geräusch her kam. Er hatte wohl ein paar Eiswürfel zerschlagen, damit er die wunde Stelle kühlen konnte. Warum auch immer Nate annahm, dass es da etwas zu kühlen gab.

Shinji schüttelte einfach nur den Kopf, er hatte nicht das Gefühl, dass er irgendeine Art der Fürsorge verdient hatte. Jetzt wo auch wieder Sauerstoff in seinem Hirn ankam, realisierte er langsam, was da eben eigentlich passiert war. Eigentlich war es nur eine Panikattacke gewesen, aber er hatte ein paar wirklich unschöne Sachen gesagt und er sah Nate an, dass ihm das diesmal ziemlich nahe ging.

Dessen Blick wurde jetzt auch wieder düsterer, was Shinjis Entschlossenheit sofort einknicken ließ.

"Schulter", murmelte er und sah an Nate vorbei, weil er dessen Blick nicht ertrug.

Die Kälte, die daraufhin seine Schulter traf, half ihm zusätzlich seinen Kopf wieder zu klären.

Er wischte sich mit dem gesunden Arm über die verschwitzte Stirn. "Es tut mir leid…"

Seine Stimme war viel zu leise, was nicht nur daran lag, dass sein Atem sich noch immer nicht ganz beruhigt hatte. "Ich hab plötzlich Angst bekommen, als ich daran dachte, dass Randy vielleicht etwas mitbekommen hat. Ich… ich hab das nicht gemeint, was ich gesagt habe…"

Na ja… das war halb gelogen. Er hatte Nate keine Vorwürfe machen wollen, aber der Rest war tatsächlich seine Weltansicht, aber er hatte das nie jemandem ins Gesicht sagen wollen. Er hatte allerdings auch gedacht, dass er damit klar kam, dass Nate weg ging, stattdessen hatte er es ihm vorgeworfen, als wäre eine alte Narbe wegen dessen damaligem Umzug wieder aufgerissen. Das sollte er eigentlich hinter sich gelassen haben… war wohl nicht so.

"Schon okay…"

Er glaubte Nate kein Wort. Es war gar nichts okay, aber er wusste auch nicht, was er dazu noch sagen sollte. Es tat ihm leid, aber er konnte auch nichts ungeschehen machen. Mit diesem Rückfall mussten sie beide jetzt klar kommen, auch wenn es wahrscheinlich etwas Zeit brauchte.

"Vielleicht sollten wir eine Zeit lang auf den Sex verzichten. Und Schritt für Schritt noch einmal von vorne beginnen."

Das hatte er damit aber nicht gemeint. Wie kam Nate denn auf die bescheuerte Idee? Nur wegen eines Rückfalls?

Mit einem Schlag war das schlechte Gewissen vergessen. Shinji nahm den Eisbeutel von seiner Schulter und stand auf.

Leider war das nicht ganz so dramatisch, wie er gerne gehabt hätte, denn seine Knie waren immer noch weich und er schwankte etwas, aber er schaffte er bis zur Küchenzeile, holte sich eine neue Tasse aus dem Schrank und goss sich Kaffee ein.

"Und du hast dich wirklich mal gefragt, warum ich nicht über das rede, was in mir vorgeht? Genau deshalb! Keine Ahnung ob du sauer oder enttäuscht oder beides bist… aber denkst du ehrlich, das wird besser, wenn wir wieder von vorne anfangen? Dachtest du ernsthaft, ich wäre innerhalb von 4 Tagen geheilt?"

Die Enttäuschung, die er empfand, konnte er nicht verstecken. "So viel dann also zu deiner Geduld…"

Wofür hatten sie das Gespräch gestern abend denn gehabt? Wofür hatte er Nate seine Ängste genannt? Wofür hatte er ihn darum gebeten, geduldig mit ihm zu sein? Hatte Nate das alles schon wieder vergessen?

Klar verstand er, dass Nate auch enttäuscht war, aber diese Konstellation, die sie gerade hatten, bestand gerade mal seit vier Tagen! Und es wurde ihm jetzt schon zu viel?!

Das war doch echt scheiße!

"Was erwartest du eigentlich von mir?"

Warum stritten sie eigentlich schon wieder? Hatten sie sich nicht gerade erst wieder versöhnt? Shinji verstand es nicht. Aber vielleicht lagen einfach ihrer beider Nerven zu blank. Vielleicht war das normal.

"Ich bin geduldig! Schlafe ich mit dir, ist es ein Fehler und tue ich es nicht, ist es auch einer! Ich blicke bei dir einfach nicht mehr durch!"

Oh ja… Nate war die Geduld in Person.

"Was ich erwarte ist, dass du der mutige von uns beiden bist und nicht den Schwanz einziehst, wenn es Probleme gibt! Ich hab nicht die Kraft um auch noch dich davon zu überzeugen, dass es gut ist, wie es ist!"

Er hatte genug mit sich selbst zu tun. Was war nur passiert? Hatte er Nate überschätzt? War es das? War er einfach nicht der Fels in der Brandung, den er die ganze Zeit in ihm gesehen hatte?

Am liebsten wäre er einfach gegangen. Irgendwohin, nur weg von dieser Situation. Er war einfach nur enttäuscht, weil das hier genau das war, wovor er die ganze Zeit angst gehabt hatte. Nate hatte ihm versprochen das durchzuhalten… und jetzt so was.

Er konnte leider nicht weg, weshalb er die nächsten Worte von Nate einfach über sich ergehen ließ. Der war mittlerweile an die Küchenzeile getreten, hielt aber Abstand.

"Mag sein, dass ich sauer und frustriert bin. Aber darf ich das denn nicht? In erster Linie bin ich einfach nur verwirrt! Vor einer Stunde war noch alles gut und dann bin ich kurz weg und du stößt mich komplett von dir. Schon klar, keiner hat von dir erwartet, dass du nach vier Tagen deine Probleme in den Griff bekommst und es ist eine Frechheit, dass du mir das unterstellst. Das habe ich weder gesagt, noch angedeutet."

Doch hatte er. Tat er doch gerade schon wieder. Er war sauer wegen etwas, was er noch nicht steuern konnte. Nate war wütend auf ihn, weil Shinji seine Komplexe nicht im Griff hatte. Was war daran denn 'keine Erwartungen haben'?

Aus den Augenwinkel sah Shinji dann aber, wie Nates Schultern sich etwas entspannten. Es war eine so offensichtlich erzwungene Geste, dass es ihm selbst kalt den Rücken runter lief, aber wenigstens war Nates Stimme nicht mehr so laut:

"Du weißt ganz genau, dass dein Wohlergehen bei mir immer oberste Priorität hat. Vielleicht sind wir das ganze einfach zu schnell angegangen. Es muss nciht immer gleich Sex sein. Ich kann dich genauso gut im Arm halten, ohne, dass wir im Bett landen müssen. Du solltest dich zuerst mal an den Gedanken gewöhnen, mit mir zusammen zu sein."

Rational gesehen, wäre das Vorgehen wahrscheinlich am sinnvollsten gewesen. Aber gerade wollte Shinji nicht sinnvoll. Er wollte normal sein. Und er wollte das jetzt sofort. Er bemerkte selbst wie kindisch und unsinnig das war, aber er kam von dem Gefühl nicht los, dass einen Gang zurück zu schalten ein Fehler wäre. Es wäre, als würde er sich eingestehen, gegen sich selbst verloren zu haben und irgendwo hatte er ja auch seinen Stolz. Aber es fiel ihm so unglaublich schwer genau das in Worte zu fassen. Wenn er das gekonnt hätte, hätte er diesen Streit gerade wahrscheinlich sehr schnell beilegen können. Stattdessen begann er irgendwie darum herum zu reden:

"Ich weiß, dass es nicht zwangsweise so laufen muss wie damals, aber allein die Möglichkeit versetzt mich in pure Panik. Das hatte diesmal gar nichts mit dem Sex zu tun. Es war einfach… ich weiß nicht. Was wenn Randy eins und eins zusammen zählt? Was, wenn dich einer der Anwohner hier zu oft gesehen hat? Gesehen hat, dass du mit einer Sporttasche hier angekommen bist und seit vier Tagen hier schläfst? Sowas verbreitet sich viel zu schnell… ich hab einfach Angst, aber das wird ja nicht besser, wenn wir alles wieder zurückschrauben."

Nate kam langsam näher und legte ihm letztendlich eine Hand auf die Schulter. Im ersten Moment spannte er sich an, weil er diese Geste überhaupt nicht einordnen konnte, aber als er bemerkte, dass sie gut gemeint war, eine Brücke zwischen ihnen darstellte, kam er Nate sogar einen Schritt näher und lehnte sich letztendlich sogar an seine Brust. Etwas gequält schloss er die Augen und fuhr dann fort:

"Du bist nur noch 3 einhalb Tage hier. Ich will die Zeit nicht damit verbringen, mir zu überlegen, ob es jetzt richtig ist mit dir zu schlafen oder nicht. Ich will es einfach tun, wenn mir danach ist. Es tut mir leid, dass der Anfall so heftig war und dass ich mich nicht zusammen reißen konnte… aber nimm uns beiden doch nicht die Momente weg, in denen es wenigstens kurz einfach funktioniert. Wenn du zurück bist und ich die ersten Schritte selbst überwunden habe, können wir immer noch darüber reden, wie wir es am Besten angehen."

Nate legte einen Arm um ihn, drückte ihn sogar leicht an sich. Er schien erleichtert. Ob Nate Angst gehabt hatte, er würde ihn von sich schieben?

"Es tut mir leid, wenn ich nicht immer so mutig bin, wie du mich gerne hättest. Aber es macht es verdammt schwer für mich auf dich zu reagieren, wenn ich nicht weiß, was du wirklich denkst. Ich will dich nicht zum Sex animieren müssen, wenn du in Wirklichkeit gar keinen möchtest. Shinji... im Prinzip wissen wir beide nicht, wie wir das richtig angehen können. Nicht, solange du nicht jemanden aufsuchst, der dir helfen kann. Du hast mir von den Therapeuten erzählt. Ich hab die Liste auch an der Korkentafel gesehen. Auch wenn du erst jemanden anrufen wolltest, wenn ich weg bin.... vielleicht sollten wir nicht länger darauf warten. Denn wenn ich dir erzählen würde, dass sich keiner darum kümmert, wen du zu Besuch hast... geschweige denn, ob du Besuch hast, würdest du mir dann glauben? Würdest du mir glauben, wenn ich dir sage, dass es Randy egal ist, ob etwas zwischen uns läuft oder nicht? Denn das ist ihm egal."

Es war schwierig, einen Einstieg hie rzu finden. Es gab so viele Punkte, wo er anknüofen konnte, aber er beeilte sich, damit er nicht in der Hälfte vergaß, wo er gewesen war:

"Was ich wirklich denke? Wirklcih denke ich beides... dass ich mit dir zusammen sein will und dass das ein Fehler ist... ich denke auch das letzterer Gedanke nur meine seelische Störung ist, ich weiß, dass es so ist. Die meiste Zeit gewinnt der erste Gedanke, aber manchmal eben auch der andere. Aber es ist so simpel. Beide Gedanken existieren in mir. Du musst nicht auf mich eingehen, du musst mich nicht trösten. Alles was du tun musst, ist den Anfall mit mir zusammen zu überstehen. Ich weiß, das ist leichter gesagt als getan, aber das ist das einzige, was du tun kannst. So eine Störung ist nichts rationales. So gut deine Argumente auch sein mögen, es bringt nichts, wenn ich sie nicht verarbeiten und annehmen kann."

War das alles gewesen? Nein, da war noch mehr.

"Okay, jetzt weiß ich es", antwortete Nate während der kurzen Pause. "Aber ich hätte dich sicher nicht allein gelassen, Shinji. Da braucht es schon ein bisschen mehr, dass du mich vertreibst."

Sie standen kurz eine Weile so da. Nate streichelte ihm in sanften Kreisen über den Rücken, während Shinji darüber nachdachte, wo er weitermachen wollte. Er entschied sich dazu, dort anzusetzen, wo sie jetzt gerade waren:

"Ich muss wohl lernen, mehr mit dir darüber zu reden. Ich dachte irgendwie… das wäre klar."

"Irgendwo war es klar", murmelte Nate in seine Haare hinein. "Aber ich war mit nie sicher. Vor allem nicht, wenn du mich so ablehnst. Vielleicht musste ich es auch nur einmal von dir hören."

"Dann… dann versuche ich zukünftig mehr zu sagen und du versuchst, mehr zu fragen, okay?"

"Das klingt nach einem Deal."

Okay… das war das Erste. Es war schwer, weil da noch mehr war und er angst hatte, in dem Stress etwas wichtiges zu vergessen. Es half etwas, dass Nate ihn noch einmal an sich drückte und ihn danach weiter streichelte. Langsam fühlte sich das ganze nicht mehr wie ein Streit an, sondern eher wie ein Gespräch. Etwas Gesundes und nichts Destruktives mehr.

"Denkst du wirklich, dass du mich zum Sex 'animieren' musst? Wenn ich das richtig im Kopf habe, bin ich doch eher immer der, der den ersten Schritt macht, oder? Und das würde ich wohl kaum tun, wenn ich das nicht auch wollen würde."

Nate widersprach ihm nicht, aber er antwortete auch nicht wirklich. Shinji verstand nicht wirklich warum, aber er entschied sich, es einfach dabei zu belassen. Auch wenn es wirklich merkwürdig war. Dann also zum letzten Thema:

"Was die Therapie angeht: Man bekommt nicht ienfach von heute auf morgen einen Termin bei ienem Therapeuten. Wenn ich Glück habe, bekomme ich innerhalb der nächsten 3 Monate einen, das wars. Es ändert sich nichts ob ich jetzt anrufe oder wenn du weg bist. Ich bin nicht Selbstmordgefährdet, also komme ich einfach hinten auf die Liste und muss warten."

"Aber je früher du anrufst, desto schneller bekommst du einen Termin, oder?", schritt Nate sofort ein. "Versteh mich nicht falsch, ich will dich nicht unter Druck setzen und es ist allein deine Entscheidung, wann du anrufst. Aber du hättest es hinter dir und ich könnte dich auffangen, falls du dir nicht mehr sicher sein solltest… oder Panik schiebst… oder feiern möchtest… oder was auch immer."

Nate lachte leise. Shinji war sich nicht ganz sicher, warum er lachte, aber es beruhigte ihn. Der Streit war anscheinend wirklich wieder vorbei.

"Bitte nicht heute. Der Anfall und der Streit gerade, haben so viel Kraft gekostet. Vielleicht morgen, aber bitte nicht heute."

Wenn er ehrlich war, wollte er nur schlafen. Lange… sehr lange. Aber das würde er nicht tun, denn er wollte die letzten Stunden mit Nate noch genießen. Er konnte morgen schlafen, wenn er mit Randy unterwegs war.

"Ist okay. Ganz wie du willst und kannst."

Er strich ihm noch einmal über den Hinterkopf: "Und wegen Randy musst du dir wirklich keine Gedanken machen."

Wahrscheinlich sagte Nate das nur, weil er den kleinen Wirbelwind als Auslöser für all das sah und vielleicht stimmte das auch, aber mussten sie jetzt unbedingt über Randy sprechen? "Ich habe ihm nichts von uns erzählt."

Sollte er sich darüber nicht freuen? Warum störte ihn diese Aussage so unglaublich? Das machte ihn noch wahnsinnig!

"Wie liefs eigentlich mit ihm?" Shinji überraschte sich mit dieser Frage selbst. Er wollte wirklich nicht mit Nate über diesen Kerl reden. Warum lenkte er dann das Thema auf ihn?

"Er hat Stress mit einem Typen. Wenn das passiert, kommt er normalerweise zu mir und kotzt sich aus… meistens sogar wortwörtlich, weil er währenddessen nicht selten große Mengen Alkohol trinkt." Nate seufzte gequält und fügte ein "Genauso wie morgen" hinzu.

"Hm…" Für einen Moment dachte Shinji nach, auch wenn er sich nicht genau sicher war, worüber eigentlich. "Dann bist du sowas wie ein großer Bruder für ihn?"

"Ich versuche es zumindest. Hat anfangs nicht wirklich funktioniert, aber seinen großen Bruder werde ich auch nie ersetzen können."

Die Formulierung war dann doch irgendwie seltsam und dieses ungute Gefühl, das er schon hatte, seit er Randy das erste Mal getroffen hatte, wurde stärker: "Was heißt, es hat anfangs nicht gut funktioniert?"

Es dauerte eine halbe Ewigkeit, bis Nate antwortete, was Shinji doch sehr wunderte. War es so schlimm, was passiert war? Schämte Nate sich? Was war es?

"Ich bin mit ihm im Bett gelandet. Und ich glaube nicht, dass das sein Bruder im Sinn hatte, als er meinte, sich solle auf ihn aufpassen"

Kette

Eifersucht, schoss es Shinji plötzlich durch den Kopf und die Erkenntnis traf ihn so hart, dass er sich wohl hätte setzen müssen, wenn Nate ihn nicht gestützt hätte. Gleichzeitig hätte er sich von dem anderen am liebsten weg gestoßen und hätte ihn angeschriien, aber er wollte nicht schon wieder streiten und rief sich deshalb zur Ruhe. Erst einmal abtasten, was das überhaupt für eine Situation war, in der sie sich da gerade befanden. Aber es war schwer, seine Stimme ruhig zu halten.

"Hast du ihn gern? Ich meine… anders als einen kleinen Bruder…"

Er wollte die Antwort gar nicht hören und er fragte normalerweise nichts, worauf er die Wahrheit nicht haben wollte. Außerdem war die Frage unfair. Nate hatte ihm so oft gesagt, dass er ihn liebte, dass er die Liebe seines Lebens sei und er ihn sofort heiraten würde. Warum fragte Shinji das jetzt also? Das war vollkommen absurd!

"Er ist nur ein guter Freund. Das damals hatte auch mehr mit Trauerbewältigung zu tun, als mit tiefergehenden Gefühlen."

Man schlief also mit dem Bruder seines toten Freundes um diesem zu gedenken? Was war das denn für ein Schwachsinn?

Dass sich Nate jetzt von ihm entfernte, half auch nicht. Aber entgegen Shinjis Erwartung ging er nicht, sondern musterte ihn. Wahrscheinlich erwartete er das Donnerwetter, dass sich gerade in Shinji zusammenbraute und das er mit Gewalt zu unterdrücken versuchte. Nate machte hier nichts falsch. Er konnte ihm nicht verbieten, mit Leuten zu verkehren, mit denen er mal geschlafen hatte. Er musste hier echt rational bleiben. Nate liebte ihn und niemand anderes. Die fiese Stimme in seinem Kopf, die ihm versuchte einzureden, dass ein gesunder Mensch viel besser zu Nate passte, musste er ignorieren.

"Tut mir leid", murmelte er deshalb. Er wollte hier keine Szene schieben. Es war ihm peinlich genug, dass er überhaupt so empfand. "Ich bin wohl ein wenig eifersüchtig. Ich hab das Gefühl nicht erkannt, weil ich es nicht kannte, aber es ist da, seit ich Randy kennengelernt hab. Jetzt wo ich weiß, was es ist, kann ich daran arbeiten."

Und das würde er, denn er hieß das selbst nicht gut. Eifersucht war nur fehlendes Vertrauen, nicht mehr, und er wollte Nate vertrauen, er musste. Wenn er begann seine Worte zu hinterfragen, ihnen zu misstrauen, dann hätte ihre Beziehung keinerlei Grundlage mehr. Das durfte nicht passieren.

Nate schmunzelte seltsam, statt sauer zu sein, dass er sich so anstellte. Aber wenigstens stritten sie nicht schon wieder, das war doch etwas. Er musste jetzt nur noch in seinen Kopf bekommen, dass Nate sich nicht plötzlich Randy schnappte, nur, weil der ein paar psychische Probleme weniger hatte.

"Okay", sprach Nate sanft und strich ihm eine Haarsträhne hinters Ohr: "Aber du solltest wissen, dass du nichts zu befürchten hast. Ich habe, was ich will."

Es tat wirklich gut, diese Worte zu hören, aber als Nate sein Kinn leicht hoch drückte und ihn so stumm aufforderte, ihn anzusehen, stockte Shinji der Atem. Wie konnte man nur so viele Gefühle in einen einzigen Blick legen? Wenn er je an Nates Gefühlen gezweifelt hätte, hätte er jetzt damit aufgehört.

"Steht das Angebot noch, dass wir einfach nur kuscheln? Mir ist nach irgendeiner dummen Serie, die uns beide nicht interessiert, nach einer heißen Schokolade und danach, einfach bei dir zu liegen und mal nicht über meine Probleme nachzudenken."

"Klar. Das klingt nach einem perfekten Plan.", stimmte Nate grinsend zu und all die Spannung, die gerade eben noch zwischen ihnen gewesen war, schien verflogen. Zum Glück. Die wenigen Tage, die er noch mit Nate hatte, wollte er ganz sicher nicht mit streiten verbringen.

Nur fünf Minuten später saßen sie aneinander gekuschelt auf dem Sofa und sahen irgendeine Serie.
 

Die nächsten eineinhalb Tage verbrachten sie tatsächlich ohne Sex. Nicht, weil sie absichtlich darauf verzichteten, sondern weil es sich einfach nicht ergab.

Den Abend an dem Nate dann mit Randy weg war, war Shinji recht unruhig. Zu einem Teil war es Eifersucht, aber es war auch, weil er sich schon daran gewöhnt hatte, dass Nate einfach da war.

Deshalb vergrub er sich in einem seiner online Spiele, wo er besorgt von seinen Bekannten begrüßt wurde, weil er so lange nicht online gewesen war. Er sagte ihnen aber nur, dass er wieder in einer Beziehung war, nicht, dass es ein Kerl war. Das ging die auch nichts an, aber sie verstanden, dass er dann seltener online war. Er musste sich dann ein paar Sprüche über Frauen anhören, aber auch das erstarb glücklicherweise bald und sie konnten sich aufs Spielen konzentrieren.

Als er früh morgens seine Wohungstür aufgehen hörte, verabschiedete er sich dann auch schnell und ging nach Nate sehen.

"Hey", begrüßte er ihn plump, und wartete Nates Reaktion ab um zu sehen, wie betrunken der war.

Sein Freund grinste ihn an. Breit. Seine glasigen Augen sprachen ebenfalls Bände.

"Hey Kleiner", grüßte Nate zurück und nuschelte dabei nur ein wenig. Als er sich aber die Schuhe nur ausziehen konnte, weil er sich mit dem Rücken an die Wand lehnte, war klar, dass Nate wirklich dicht war.

Er kam erst danach auf Shinji zu um ihm durch die Haare zu wuscheln. "Ich seh dich irgendwie doppelt", kommentierte er belustigt und machte sich dann auf den Weg Richtung Wohnzimmer.

Shinji richtete sich seine Frisur halbwegs, während er seinem Freund folgte: "Wie liefs?"

Normalerweise wäre das wohl eine auffällige Frage gewesen, aber Shinji musste sich nicht einmal die Mühe geben, seinen etwas kritischen Unterton zu verbergen. Nate fiel das sowieso nicht auf.

Es gefiel ihm nicht, dass Nate derart betrunken war und die kleine, miese Stimme in seinem Kopf, versuchte ihm zuzuflüstern, dass sich Nate in dem Zustand unmöglich unter Kontrolle gehabt haben konnte und dieser Randy das sicher ausgenutzt hatte.

Shinji massierte sich die Nasenwurzel und atmete durch. Bis eben hatte er das wirklich gut im Griff gehabt.

Nate holte sich ein Glas aus dem Küchenschrank und lachte dann vergnügt darüber, dass er es nicht schaffte, es ordentlich mit Wasser zu füllen. Oh Mann…

"Randy wollte eine Kneipentour machen", begann Nate munter zu erzählen und hatte ein wenig Probleme gleichzeitig etwas zu trinken, weshalb er kurz schwieg.

"… und wir haben stündlich das Lokal gewechselt. Wobei wir bei dem letzten vorher rausgeflogen sind und dann im Park weiter getrunken haben."

Er fragte sich, warum Nate sich nicht selbst als zu alt für sowas einschätzte, aber vielleicht war das in der Armee ja noch Gang und Gebe. Natürlich nicht während einem Einsatz, aber wahrscheinlich während deren Äquivalent von einem Freigang.

"Ihr seid rausgeflogen?"

Er fragte sich spontan, ob sie letzte Woche auch so hart gefeiert hatten, aber auch jetzt konnte er sich an nichts mehr erinnern. Diesmal war da aber zum ersten mal irgendein dunkles Gefühl, dass ihm sagte, dass er es sowieso nicht wissen wollte. Merkwürdig, aber da er sich sowieso nicht erinnern konnte, beließ er es einfach dabei.

"Man sollte niemandem, der betrunken ist, Dartpfeile in die Hand drücken. Und schon gar nicht Randy", lachte Nate und trank den Rest Wasser. "Er hat den Pfeil versehentlich jemandem in den Rücken geworfen. Und das war ausgerechnet so ein Bikertyp. Der wollte…"

Nate bekam sich einen Moment nicht mehr ein vor lachen, ehe er mit Tränen in den Augen fortfuhr: "… der wollte ihn verprügeln. Aber bevor ich auch nur dazwischen gehen konnte… hat der Lokalbesitzer Randy gepackt und vor die Tür gesetzt."

Shinji fragte sich, ob es je schon einmal eine Situation gegegeben hatte, in der Nate betrunken und er nüchtern gewesen war, aber zumindest dämmerte ihm langsam, wie es seinem Vater damals ergangen sein musste, wenn er ihn nach so einer Sauftour erwischt hatte. Kein Wunder, dass er danach immer so wütend gewesen war. Für einen Menschen, für den Stolz derart wichtig war, war es natürlich eine Todsünde, wenn sein Sohn sich vor ihm so benahm wie Nate gerade vor Shinji.

"Geht's dir gut? Hast du dich übergeben?", fragte Shinji sicherheitshalber. Er wollte wissen, worauf er sich heute Nacht einließ. Wenn Nate die Nacht durch kotzte, lohnte es sich nicht, sich überhaupt ins Bett zu legen.

"Mir? Mir geht's gut. Ich bin groß genug, dass sich der Alkohol schön verteilt. Aber ich will nicht wissen, wie es Randy jetzt geht."

Wollte Shinji auch nicht, aber bei ihm war das nicht nur eine Redewendung.

"Der hat im Park schon gekotzt. Ich hab ja gesagt… so wird der Abend enden. Ich hab es gesagt…"

Nate zog ein Gesicht, wie ein Wahrsager, dessen Vorhersage, die er vor Jahrzehnten prophezeit hatte, vollkommen selbstverständlich und zuverlässig eingetroffen war. Es fehlte nur noch unheilvolles Donnergrollen im Hintergrund.

Nachdem Nate dann über seinen eigenen Geruch das Gesicht verzogen hatte, kündigte er an zu duschen und machte sich auch prompt auf den Weg ins Bad.

Shinji war sich sicher, dass eine Dusche seinem Freund gut tun würde und er es schon ohne Unfall hinbekommen würde, deshalb ließ er ihn gehen.

Die Ordentlichkeit, die Nate sonst an den Tag legte, schien mit dem Alkoholpegel aber verloren gegangen zu sein, denn er zog sich schon im Flur aus und warf seine Klamotten einfach überall hin. Weil das Zeug liegen bleiben würde, Shinji sowieso nichts besseres zu tun hatte und er nicht wollte, dass sich der Geruch von Zigaretten in der ganzen Wohnung ausbreitete, sammelte er die Sachen zusammen, um sie später in die Waschmaschine zu bugsieren.

Als er bei der Hose ankam, fiel allerdings eine feine Kette heraus, die Shinji verwirrt vom Boden aufhob.

Seit wann trug Nate denn Schmuck? Das wüsste er aber…

Grübelnd sammelte er die restliche Kleidung in einer Ecke und verzog sich dann ins Wohnzimmer. Auf dem Sofa sitzend betrachtete Shinji dann noch einmal die Kette. Es wäre merkwürdig, wenn Nate die zugesteckt bekommen hätte. Man verschenkte nicht einfach Schmuck an einen Wildfremden, nur, um zu flirten. Ob Randy die ihm vielleicht gegeben hatte?

Shinji presste die Lippen missmutig aufeinander. Ob der kleine Giftzwerg wirklich versucht hatte zu flirten? Hatte Nate die Kette nur aus Höflichkeit angenommen, oder weil sie ihm gefiel? Ob es ihm gefiel, dass Randy sie ihm geschenkt hatte?

Nein, stoppte Shinji sich selbst. Keine Vorwürfe, keine Schlussfolgerungen. So war er selbst nicht. Er ließ sich in anderen Bereichen viel zu oft von seinen Emotionen übermannen, das hier würde er so rational klären, wie ein Problem beim Programmieren.

Als Nate eine halbe Ewigkeit später wieder kam, grinste er immer noch vollkommen übertrieben, aber er schien wieder etwas sicherer auf den Beinen zu sein.

Eigentlich hätte Shinji ihn fragen sollen, ob es ihm etwas besser ging, ob er etwas brauchte, aber auf die Idee kam er gar nicht. Stattdessen hielt er Nate die Kette hin:

"Die ist aus deiner Hose gefallen. Ist das deine?"

Nate setzte sich neben ihn und betrachtete die Kette im ersten Moment verwirrt, ehe er die Schultern zuckte: "Die ist von Randy."

Kurz musste Shinji tief durchatmen, um nicht durchzudrehen. Nate liebte ihn. Er hatte ihm noch einmal gesagt, dass er mit ihm allein alles hatte, was er brauchte. Aus Nathans Sicht hatten sie eine feste Beziehung und die war exklusiv, das hieß, es gab für Nate auch niemanden neben ihm. Nate würde niemals fremd gehen.

Warum drehte er dann dennoch fast durch, bei dem Gedanken, dass er von einem anderen Mann Schmuck geschenkt bekommen und diesen sogar angenommen hatte?

"Ein Geschenk?", presste Shinji noch heraus. Er musste es wissen und zwar ganz genau. Eine Szene konnte er immer noch machen, wenn er alle Infos hatte.

"Nah… ich hab sie ihm abgenommen, weil sie mir so gut gefällt."

Das ergab nicht wirklich einen Sinn…

"Er hat zu kotzen begonnen und bevor dabei die Kette im Weg war, hab ich sie abgenommen. Muss wohl vergessen haben, sie ihm wieder zu geben."

Nate hielt ihm die Hand hin, in die er letztendlich die Kette legte. Nates Grinsen wurde schmaler, als er sie betrachtete und sie letztendlich fest umschloss, als wäre es irgendein wertvoller Schatz. Langsam wurde Shinji das echt zu viel. Warum war Nate eine Kette, die Randy gehörte, so wichtig?!

Um die Gefühle irgendwie zu kompensieren, drehte er Nates Gesicht zu sich und küsste ihn tief. Es war vielleicht ein bisschen kindisch, aber diese sanfte Erinnerung, zu wem Nate gehörte, beruhigte Shinji etwas.

"Ich hab dich vermisst", hauchte er danach. Es war nicht gelogen, aber eigentlich nur ein Themenwechsel und Anhänglichkeit war besser als Eifersucht, zumindest in seiner Welt.

"Ooooh", machte Nate und legte die Kette auf den Tisch. Das tat gut.

Er zog Shinji auch sofort zu sich. "Nochmal", forderte er wie ein kleines Kind, das um Süßigkeiten bettelte, ehe er die Augen schloss und darauf wartete, dass Shinji ihn erneut küsste.

Aber so weit kam es gar nicht mehr.

Nate musste plötzlich gähnen und als er erneut um einen Kuss bat, war er schon fast eingeschlafen. Er stupste Shinji noch einmal auffordernd in die Seite, aber dann lehnte er sich nur noch zur Seite, an die Sofalehne und war ganz weg.

Shinji warf noch einen letzten Blick auf die Kette, ließ sie aber letztendlich auf dem Tisch liegen. Er legte Nate ordentlich auf die Couch, deckte ihn zu und verschwand dann wieder in sein Zimmer.

Auch wenn Nate sich letztendlich für ihn entschieden hatte, wurmte ihn diese Kette immer noch, weshalb er sich wieder an seinen PC setzte und sich bei seinen Bekannten zurückmeldete.

Annäherung

Shinji war noch wach, als die Uhrzeit kam, zu der Nate immer aufwachte. Da sein Freund wahrscheinlich einen furchtbaren Kater haben würde, verließ er sein Arbeitszimmer und ging in die Wohnküche, um nach ihm zu sehen.

Nate schlug tatsächlich gerade seine Augen auf, weshalb Shinji ein Glas mit Wasser füllte und sich eine Packung Aspirin schnappte.

"Morgen", sprach er sanft, um die Kopfschmerzen nicht noch schlimmer zu machen. Als Antwort bekam er, wie erwartet, ein gequältes Stöhnen.

Nachdem er Glas und Medizin auf dem Wohnzimmertisch abgestellt hatte, setzte er sich zu seinem neuen Mitbewohner.

"Du hast dich nicht übergeben, das ist schonmal gut. Den Rest regelt die Tablette."

In Zeitlupentempo setzte Nate sich auf und griff nach den bereitgestellten Sachen.

"Hast du mich jemals kotzen sehen?", fragte Nate und grinste schief, danach folgte ein Fluch, der Randy galt.

"Ehrlich gesagt nicht", bestätigte Shinji. "Brauchst du noch was?"

"Ja… kannst du Randy anrufen und ihm sagen, er soll seine Kette abholen? Sonst behalte ich sie."

Nate sprach das mit einem ungewohnt hinterhältigen Unterton aus, stöhnte dann aber wieder leise, weil seine eigene Stimme ihm wohl Kopfschmerzen bereitete.

Am liebsten hätte Shinji 'nein' gesagt, aber er wollte Nate nicht enttäuschen und das Schmuckstück loszuwerden, war ein wirklich netter Nebeneffekt.

"Ist dir die Kette wichtig?" Für Shinji war das eine logische Frage, schließlich hätte Nate auch drohen können, die Kette wegzuwerfen, statt sie zu behalten. Hatte Nate die vielleicht Randy geschenkt? Vielleicht war sie ihm aber auch nur wichtig, eben weil sie Randy gehörte. Er hoffte, dass beides nicht zutraf.

"Nicht so wichtig wie Randy. Deshalb sollte er sie ja auch wieder bekommen."

Shinji seufzte, weil ihn die Antwort auch nicht wirklich weiter brachte, aber noch einmal genauer nachzufragen, wäre dreist und zu aufällig.

"Na gut… aber ich brauche dein Handy dafür und du weißt, ich kann nicht gut mit Menschen."

"Auch gut", murmelte Nate, während er ihm umständlich das Handy reichte. Der Kater musste echt enorm sein. "Dann lernst du was für's Leben."

Shinji suchte die Nummer von Randy raus und ließ es dann Klingeln. Es war ein bisschen schwierig, seine Neugierde im Zaum zu halten, aber er war stolz auf sich, als er es schaffte, wirklich nur die Nummer zu suchen und nicht auch noch WhatsApp zu durchsuchen.

"Ganz wichtig ist, es so lange klingeln zu lassen, bis er abhebt."

Shinji hätte Mitleid mit Randy gehabt, wenn er irgendwelche Sympathien für ihn empfunden hätte. So war das eher ein wenig Genugtuung, dafür, dass Randy ihm einen Abend mit Nate gestohlen hatte. Woah, war er besitzergreifend. Daran musste er auch arbeiten. Nate hatte durchaus das Recht, auch normale Freunde zu haben.

Nach einer halben Ewigkeit verstummte das Tuten in der Leitung und ein zombieähnliches Stöhnen begrüßte ihn.

"Randy? Hier ist Shinji. Nate hat deine Kette versehentlich mitgenommen, du sollst sie abholen kommen."

"Boah… ey…", nuschelte es am anderen Ende der Leitung.

"Shinji? Ah… der Typ, bei dem Nathan abhängt, ja? Ich erinnere mich. Ein alter Schulfreund…"

Randy ächzte und auch wenn er erleichtert war über die Beschreibung von sich, wurde die Bezeichnung 'alter Schulfreund' von einem merkwürdigen Beigeschmack begleitet. Doch bei den nächsten Worten verfinsterte sich Shinjis Miene deutlich: "Eeeeh? Klar, der Kerl hat die Kette doch absichtlich mitgenommen, damit wir uns noch mal sehen, bevor er abreist."

Randy lachte dreckig und stöhnte dann wieder gequält auf. Geschah ihm nur recht.

"Ich… äh… ich komme, wenn ich meine Hose finde… kann etwas dauern."

Shinji verdrehte genervt die Augen: "Ja, was auch immer. Bis später."

Er legte auf ohne auf eine Reaktion zu warten und warf Nate dann das Handy in den Schoß.

"Warum bin ich eifersüchtig, obwohl du mir versichert hast, dass ich alles bin, was du willst? Das ist unlogisch! Was macht man dagegen?"

Es wurmte ihn unglaublich, dass er nicht in der Lage war, dieses Gefühl unter Kontrolle zu bekommen. Für die Aussage von Randy gerade, hätte er ihn am liebsten geschlagen und Shinji war normalerweise ganz sicher nicht der gewalttätige Typ.

"Hä?", bekam er erst einmal nur von Nate, dem die Frage wahrscheinlich gerade zu komplex war. "Warum solltest du überhaupt eifersüchtig sein?"

Nate steckte sein Handy wieder weg und als er zu Shinji sah, sah er anscheinend etwas in dessen Blick, denn er fragte erstaunt: "Oh, du fragst mich das ernsthaft?"

Nate lachte leise, um sich selbst nicht weh zu tun und Shinji wusste nicht wirklich, was er davon halten sollte. War das wirklich so absurd?

Shinji schnaubte, seufzte dann, verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück: "Ich glaube dir, wenn du sagst, dass die Kette aus versehen hier gelandet ist. Aber als Randy gerade behauptet hat, du hättest sie absichtlich mitgenommen, damit ihr euch nochmal seht - ich weiß, dass das Schwachsinn ist, denn Randy ist sofort hier, wenn du ihn anrufst. Du brauchst so einen billigen Trick nicht - hätte ich ihn am liebsten erwürgt."

Aber der Satz war wahrscheinlich noch zu kompliziert für Nates Kopf, also winkte er ab, es war ja sowieso nicht das Problem seines Freundes, sondern sein eigenes: "Ist egal… ruh dich noch aus. Randy kommt demnächst… wenn er seine Hose gefunden hat."

"Randy erzählt viel, wenn der Tag lang ist", antwortete Nate und brach dann in unkontrolliertes Lachen aus, als er den letzten Teil von Shinjis Satz realisierte.

"Das sieht ihm ähnlich", lachte er weiter und setzte sich dann aufrecht hin. Die Schmerztablette schien zu wirken.

"Hör mal… mach dir nicht so viele Gedanken. Ich bin nicht an Randy interessiert und er nicht an mir. Du hast absolut nichts zu befürchten, okay?"

Shinji war erstaunt, dass Nate doch darauf einging. Warum war er überhaupt so eifersüchtig? … Wenn er ehrlich zu sich war, war die Antwort eigentlich ganz einfach. Er konnte sich zwar sicher sein, dass Nate ihm treu blieb, aber sie waren eben in keiner wirklich richtigen Beziehung. Und das fraß irgendwie an ihm, aber das lag einfach nur an ihm. Nur er konnte das ändern.

"Sorry…", sagte er leise, weil Nate heute der war, dem es schlecht ging und er aufhören sollte, sich so anzustellen.

"Leg dich noch etwas hin. Das mache ich nachher auch, wenn Randy da war. Ich hab noch nicht geschlafen."

Als er wieder näher zu Nate rutschte, um vielleicht noch ein wenig mit ihm zu kuscheln, wurden ihm prompt die Haare verwuschelt. Vielleicht sollte er die Sturmfrisur einfach beibehalten, dann musste er sie nicht fünf mal am Tag wieder richten.

"Wenn Randy noch seine Hose sucht, hast du auf jeden Fall noch Zeit, für ein Nickerchen."

Und schon wurde Shinji erst an Nates Brust und dann runter aufs Sofa gezogen, sodass er auf seinem Freund, wie auf einem riesigen Kissen lag.
 

Gefühlt hatten sie gerade erst die Augen geschlossen, als irgendein kranker Idiot plötzlich begann, bei ihnen Sturm zu klingeln. Shinji stöhnte genervt, rollte sich von Nate und ging dann mit einem mörderischen Blick zur Tür. Auf dem Weg vorbei an einer Uhr, bemerkte er, dass mehr als zwei Stunden vergangen waren.

Randy interessierte der finstere Blick offenbar nicht, der strahlte ihm nur entgegen: "Hey Shinji. Sorry, hat etwas länger gedauert. Habt ihr schon gegessen?"

Darauf hielt er eine Plastiktasche hoch: "Wenn nicht, ich hab hier Mexikanisch. Quesadilla und Burritos. Seid ihr dabei?"

Nate schlurfte aus dem Wohnzimmer zu ihnen beiden, wollte ihm aber wohl die Entscheidung überlassen.

Toll… jetzt musste er auch noch mit dem Idioten essen. Zumindest, wenn er nicht selbst kochen wollte und durch den erneuten Schlafentzug, fehlte ihm wirklich die Lust dazu. Außerdem wäre Randy weg zu schicken, wirklich unglaublich unhöflich und seine Erziehung verbot ihm so ein Verhalten.

Also trat er einfach stumm beiseite und ließ ihn ein. Sollte sich Nate um die soziale Interaktion doch kümmern, er sorgte nur dafür, dass der Tisch gedeckt war.
 

"Ist der immer so… ruhig?", hörte er Randy fragen.

"Nur, wenn ihm jemand auf die Nerven geht."

Woah, seit wann war Nate denn so hart? Na ja, der musste wissen, was er seinem Kumpel zumuten konnte.

Er saß schon, als die beiden ankamen und er musste wirklich aufpassen, dass ihm der Magen nicht knurrte, als sie alles auspackten. Als Katerfrühstück war das wahrscheinlich ideal. Vielleicht hätte er auch mal daran denken können, dass Nate etwas in dem Magen bekam. Noch war er es nicht gewohnt, auch die Verantwortung für jemand anderen zu haben.

Sein Freund ging zum Wohnzimmertisch und holte die Kette, die er Randy dann unter die Nase hielt:

"Hier du Honk"

"Aaaah danke!"

Randys Stimme war selbst für Shinji unangenehm laut, aber es war wohl ein Ausdruck davon, wie wichtig ihm das Schmuckstück tatsächlich war. Hoffentlich hatte Nate ihm die nicht geschenkt…

Shinji musste schon die Zähne zusammenbeißen, als er sah, wie sich Randy ganz selbstverständlich umdrehte, damit Nate ihm die Kette umlegen konnte. Grrrrrr…

"Hättest du nicht zu kotzen angefangen…", begann Nate rhetorisch und schaffte es dann nach einer halben Ewigkeit endlich, den winzigen Verschluss zu schließen.

Nach Shinjis Meinung, konnte man Kaffee zu allem trinken, weshalb er schon eine Kanne vorbereitet hatte, die gerade noch durchlief.

"Danke für das Essen.", sagte er kühl an Randy gewandt. Es war allein seine Erziehung, die da aus ihm sprach. "Das war sehr nett von dir."

Er wollte viel lieber mit Nate auf dem Sofa liegen, und den Tag verschlafen.

"Ach, keine Ursache", antowrtete Randy, als hätte er sich nicht vollkommen dreist selbst eingeladen.

Erst jetzt fiel Shinji so richtig auf, dass sein Gegenüber eine Sonnenbrille trug und das auch nur, weil er sie jetzt abnahm. Wenn Nate schon aussah wie ein Zombie, sah Randy aus, als wäre er schon ein paar Tage begraben.

"Ich habe noch nichts gegessen und in Gesellschaft schmeckt es besser."

Das sah Shinji anders, aber jetzt konnte er sowieso nicht mehr zurück. Als Nate den Verschluss endlich zu bekommen hatte, wuschelte er Randy tatsächlich durch die Haare, was Shinji zum Erstarren brachte.

Irgendwie hatte er immer angenommen, dass Nate das nur bei ihm machte, dass das so ein Beziehungsding oder einfach noch von ihrer alten Freundschaft ein Überbleibsel war.

Der Kaffee war durchgelaufen und Shinji nutzte die Gelegenheit, um seinen Todesblick vor Randy zu verbergen.

"Noch wer Kaffee?", fragte er in die Runde und zwang sich, seine Stimme ruhig zu halten. "Oder sonst was zu trinken? Ich hab Cola und Bier da."

"Bah, kein Bier", würgte Randy nur hervor und gerade deshalb hätte Shinji ihm am liebsten eines vor die Nase gesetzt.

"Cola ist gut und Kaffee geht immer.", mischte sich Nate ein, der vielleicht ahnte, dass er kurz davor war, ein Massaker zu veranstalten.

"Nur bitte nicht zusammen, ja?"

"Dir flöß ich beides gleichzeitig ein", hörte er Nate necken, woraufhin er fast eine Tasse zertrümmert hätte.

Er fühlte sich unwohl und etwas überfordert. Er war es nicht gewohnt, dass Nates Aufmerksamkeit nicht voll auf ihm lag und zusätzlich war da auch noch ein anderer Mensch im Raum, mit dem er nichts anfangen konnte. So ganz wusste er deshalb nicht, wie er mit der Situation umgehen sollte, die Eifersucht half ihm da acuh absolut nicht.

Schweigen war wohl die beste Alternative, so sagte er auch nichts dummes. Er hoffte einfach, dass Nate sich genug mit Randy unterhielt, dass er selbst sich nicht gezwungen fühlte, ein Gespräch anzufangen.

Er war einfach zu müde für so komplizierte Sachen.

Er setzte sich wieder, als Cola und Kaffeekanne auf dem Tisch standen und jeder ein Glas und eine Tasse vor sich hatten.

Wenn er nervös war, fiel er oft zurück auf seine traditionelle Erziehung, auch wenn er das normalerwiese zu vermeiden versuchte. Er dachte nicht wirklich nach, als er kurz seine Hände faltete und ein leises 'itadakimasu' mit einer leichten Verneigung aussprach. Es fiel ihm erst hinterher auf.

Vor Fremden waren ihm diese Rituale immer etwas unangenehm. Sein Vater hatte fest darauf bestanden, aber schon in der Schule hatte er es sich wieder zwanghaft abgewöhnt.

Jetzt war es allerdings zu spät und er konnte nur hoffen, dass vor allem Randy es nicht mitbekommen hatte.

Nach dem glubschäugigen Blick von Randy zu urteilen, hatte er das Glück aber nicht und auch Nate war in seiner Bewegung erstarrt.

"Ita… was? Ist das Japanisch? Das klingt cool, was heißt das? Und die Verbeugung? Das ist auch so ein Japan-Ding, oder?"

Die reine Flut an Fragen überforderte Shinji so sehr, dass er erst einmal nur ein "Ehm" rausbrachte.

Er kratzte sich unbeholfen an der Wange und musste kurz überlegen, wie er das am Besten erklärte.

"Itadakimasu heißt sehr lose übersetzt 'Guten Appetit' und die Verbeugung ist sowas wie eine Respektsbekundung. Die gehört dazu… meistens…"

Er wollte nicht zu sehr ins Detail gehen, das interessierte keinen und er käme sehr schnell an seine Grenzen. Dennoch hatte er irgendwie das Gefühl, noch etwas nachschieben zu müssen: "Hier in Amerika wird das oft mit der christlichen Danksagung verglichen. Nur das wir keinem Gott danken… sondern… eh… sorry… ich bin nicht so unglaublich gut darin, das zu erklären. Es ist lange her, dass ich mich mit der japanischen Kultur näher befasst habe. Mein Vater hat sehr auf Tradition bestanden… und ab und zu kommt das noch etwas durch."

Das war irgendwie peinlich. Er wusste im Prinzip ganz genau, wo dieses Ritual her kam und was es bedeutete und konnte es trotzdem nicht recht ausdrücken. Seit sein Vater ihn vor die Tür gesetzt hatte, hatte er auch den Kontakt zu seinen Wurzeln verloren und hatte unbewusst mehr darauf geachtet, sich 'amerikanischer' zu verhalten.

"Ita… itadi… wie heißt das?", fragte Randy noch einmal nach, der anscheinend fest entschlossen war, das Wort zu lernen. Warum auch immer… "Idari… ikimas? Hä?"

"Itadakimasu, du Hornochse.", warf Nate ihm an den Kopf, ehe die Serviette folgte. Sein amerikanischer Akzent klang dabei niedlicher, als wahrscheinlich gewollt.

Shinji war ziemlich verwundert und sein Herz schlug ungewöhnlich schnell. Nate wusste das noch? Oh Mann… das… das berührte etwas ganz tief in ihm. Wäre er der Typ dafür gewesen, wäre er jetzt rot geworden, da war er sich sicher. Wie in so einem kitschigen Romance Anime.

"Oh, verzeihen Sie, Herr Oberlehrer. Aber ich habe Shinji gefragt."

Natürlich musste Randy den Moment vollkommen kaputt machen, was ihn für ihn noch unsympathischer machte.

"Wenn ihr 'Danke' sagt, verbeugt ihr euch auch, oder? Und bei 'Entschuldigung'? Beim 'Hallo' und 'Auf Wiedersehen'? Vor oder nach dem Sex? Wie sieht es da aus?"

Nate klinkte sich aus dem Gespräch aus und aß einfach weiter, was Shinji vollkommen überfordert zurückließ. Ihm gefiel ganz und gar nicht, wo dieses Gespräch hin lief und es gefiel ihm auch nicht, dass so dermaßen viel Aufmerksamkeit auf ihm lag.

Wie kam er da jetzt am Besten wieder raus? Er wollte nicht so unhöflich sein und es einfach ignorieren. Manchmal fiel es ihm schwer, so unsozial zu sein, wie er gerne wäre.

"'Ihr' ist nicht ganz richtig. Ich bin Amerikaner."

Das war ihm wichtig, sehr wichtig. Es verband ihn nichts mehr mit seinen japanischen Wurzeln.

"Ansonsten… ja, bis auf Letzteres ist das in Japan so. Es kommt aber auch sehr auf die Beziehung zwischen den Beteiligten an. Wenn man sich mit Freunden trifft, ist das was anderes, als seinen Chef zu begrüßen."

Randy schien endlich genug zu haben, weshalb sich Shinji auch endlich seinem Essen widmen konnte. Es war mittlerweile fast kalt, aber schmeckte immer noch gut. Er musste sich den Laden merken.

"Aber du sprichst auch Japanisch, oder? Und lebst nach japanischen Traditionen, wie man sieht. Siehst du dich kein bisschen als Japaner?"

Bitte was? Was war das denn plötzlich für eine saudumme Frage? Nur, weil er eine alte Gewohnheit nicht ablegen konnte, lebte er plötzlich traditionell? Standen vor seinem Badezimmer etwa Besucherpantoffeln?

"Wie man sieht? Das war eine kleine Angewohnheit, mehr nicht. Traditionelles Leben geht etwas über ein 'Itadakimasu' hinaus. Und ja… ich sehe mich als Amerikaner."

Doch der angefressene Tonfall hinderte Randy nicht daran, weiter zu quatschen.

"Mann, ich bekomme echt gerade Lust auf einen kleinen, verrückten Urlaub in Japan, um mir das alles selber anzusehen. Nathan, was sagst du? Fliegen wir rüber und schauen uns dort das Nachtleben an? Shinji ist bestimmt auch dabei, oder?"

Waren normale Menschen so? Da erfuhren sie eine Kleinigkeit und waren plötzlich Feuer und Flamme für eine ganze Kultur? Das war doch unmöglich tiefgreifendes Interesse, sondern einfach nur oberflächliches Geheuchel. Woah, ging ihm das auf die Nerven.

"In diesem Jahr habe ich keinen Urlaub mehr", warf Nate trocken ein. Anscheinend war der auch nicht wirklich begeistert oder wollte sich da einfach raushalten.

"Moaaah, das weiß ich doch! Aber wenn du wieder da bist."

"Macht was ihr wollt", grummelte Shinji deutlich schlecht gelaunt. "Aber lasst mich da raus."

Er hatte besseres zu tun, als das Herkunftsland seines Vaters zu besuchen.

"Dann hast du gar keine Verbindung zu Japan? Warst du schonmal da?"

Konnten sie nicht endlich das scheiß Thema wechseln? Konnte Randy nicht mit Nate reden? Oder wenigstens umgekehrt?

Tatsächlich schien sein Freund eingreifen zu wollen. Wahrscheinlich weil er ein Blutbad verhindern wollte. Besser so, er hatte wirklich schon damit geliebäugelt, Randy einfach die Zunge heraus zu schneiden.

Nate nahm diesmal Shinjis Serviette und bewarf ihren Gast abermals damit, der sich lautstark darüber beschwerte.

"Sei froh, dass ich dir damit nicht den Mund gestopft habe." Nur sein Freund schaffte es, bei so einem Satz vollkommen unschuldig drein zu blicken. "Wie kann man so früh schon so viele Fragen stellen?"

Eine Weile lang lag Shinjis Blick misstrauisch auf Randy, doch der grummelte ein bisschen beleidigt vor sich hin, ehe er in seinen Burrito biss, aus dessen anderem Ende die Soße heraus quoll.

Shinji aß auch weiter, doch er kam nicht weit.

"Also warst du schon mal in Japan oder nicht?"

Konnte er ihn nicht einfach vor die Tür setzen? Bitte?

Wenn er nicht ein Kumpel von Nate gewesen wäre und Shinji sich deshalb wenigstens einigermaßen benehmen wollte, hätte er ihm längst ein paar unschöne Worte an den Kopf geworfen. So kaute er nur auffällig lang, ehe er sich dazu herabließ zu antworten:

"Nein. Ich habe auch kein Bedürfnis da hin zu reisen. Es interessiert mich wirklich nicht."

Nicht mehr, wäre die ehrlichere Antwort gewesen, aber das ging Randy nichts an. Früher hatte er der Kultur wirklich nachgeeifert. Nicht zuletzt auch, um seinen Vater glücklich und stolz zu machen.

Er schweifte kurz in die Vergangenheit ab, doch wenige Minuten später war es Nates Handy, dass die endlich eingekehrte Stille wieder unterbrach. Sein Freund stand auf und verließ den Raum. Hoffentlich war es nicht schon wieder Arbeit. Wenn Nate doch früher weg musste, bekäme er die Krise. Er war mental nicht so flexibel… er brauchte die Zeit bis Sonntag noch, dringend.

Dann war es aber wieder still im Raum. Zu still. Sie hatten fertig gegessen und tranken jetzt nur noch Kaffee vor sich hin. Der Drang, etwas zu sagen, wurde übermächtig, bis er es nicht mehr aushielt:

"Nimm's nicht persönlich… ich kann nicht gut mit Menschen."

Warum? Warum konnte er nicht einmal die Klappe halten? Und dann auch noch das? Das war, als würde er zugeben, ein Totalversager zu sein. Zumindest fühlte es sich so an.

Doch Randy nutzte sein Geständnis nicht aus, stattdessen nickte er verstehend. "Kein Problem. Ich eigentlich auch nicht. Aber Nathan scheint trotzdem mit uns beiden gut auszukommen. Dann sollte es zwischen uns wohl funktionieren."

Randy kam nicht gut mit Menschen klar? Waren nicht eigentlich solche Typen wie er, die, die am meisten Freunde hatten? Typen, die eben einfach redeten, ohne nachzudenken und offen und ehrlich waren?

"Warum hat jemand wie du Probleme mit Menschen?", platzte es auch jäh aus ihm heraus. Arg… er sollte bei anderen nicht so direkt sein.

"Viele kommen mit meiner Art nicht klar", berichtete Randy in vollkommen gleichgültigem Tonfall. War das gespielt oder machte es ihm tatsächlich nichts, dass er so sehr aneckte? Und warum kam man mit seinem Charakter nicht klar? Randy schien ihm das exakte Gegenteil von sich selbst, wie konnte da keinen Erfolg bei anderen haben?

"Kann ich gar nicht nachvollziehen", rutschte ihm unabsichtlich, aber deutlich sarkastisch heraus. Ihm ging Randy ja auch auf die Nerven. Dennoch begleitete diesen Satz ein leichtes Lächeln, das daher rührte, dass er Randy verstehen konnte. Sie waren beide zwei Extreme, aber damit verschreckten sie andere Menschen schnell. Randy grinste zurück, was ihm zeigte, dass er ihm den Spruch tatsächlich nicht übel genommen hatte. Er war, so fies er auch geklungen hatte, nicht böse gemeint gewesen.

Aber er konnte nicht weiter darüber nachdenken, denn die nächsten Worte hauten ihn um:

"Das mag jetzt vielleicht etwas direkt sein, aber… läuft da was zwischen dir und Nathan?"

Shinjis Blick gefror auf der Stelle.

"Schließ' gefälligst nicht von dir auf andere!" Er konnte sich gerade noch ein 'Schwuchtel' verkneifen. Fuck, das hatte ihn wirklich erschreckt. Wie kam Randy ausgerechnet jetzt darauf? Warum überhaupt? Sie hatten sich kein bisschen auffällig verhalten. Nate hatte auch einen anständigen Abstand zu ihm gehalten und es war Randy gewesen, dem er durch die Haare gewuschelt hatte, nicht Shinji!

"Oh… hat er etwa von uns erzählt? Sieht ihm gar nicht ähnlich. Wenn es um solche Dinge geht, bekommt man normalerweise so gut wie gar nichts aus ihm raus."

Geständnis

Irgendwo in Shinjis Kopf ging ein roter Alarm los, aber er war für den Moment zu verwirrt, um ihn wirklich zu bemerken.

"Warum bist du nach so einem Kommentar nicht sauer? Warum reagierst du so, als hätte ich ganz normal mit dir geredet?"

Jeder andere wäre doch ausgeflippt, wenn man so herablassend mit ihm sprach. Er verstand beim besten Willen nicht, wie Randy ihm so ruhig hatte antworten können. Der Ausspruch war wirklich gemein gewesen.

"Welcher von deinen Kommentaren hätte mich denn beleidigen sollen?", statt angefressen klang Randy ehrlich neugierig. Aber war die Frage nicht eher, welcher ihn nicht beleidigt haben sollte? Wenn er genauer darüber nachdachte, hatte er Randy eigentlich von Anfang an nicht gut behandelt und den schien das nicht eine Sekunde gestört zu haben. Das war schon ziemlich merkwürdig…

"Alleine der Tonfall gerade, hätte bei normalen Menschen dafür gesorgt, dass sie richtig angepisst sind."

"Normale Menschen", wiederholte Randy leicht spöttisch. "Dann bin ich halt nicht normal."

Ja, den Eindruck bekam Shinji auch allmählich.

Dann aber kratzte sich Randy etwas unbeholfen am Hinterkopf:

"Aber entschuldige. Es war wohl wirklich unangebracht zu fragen. Ich möchte nur jede Chance nutzen, bei dem ganzen Chaos, in dem Nathan gerade steckt."

"Chaos?", sprang Shinji sofort wieder ein. "Und was meinst du mit Chance?"

Chance an Nate heran zu kommen? Eine andere Übersetzung schien sein Hirn nicht produzieren zu wollen. War Randy doch hier, um mit Nate was anzufangen? Hatte er deshalb gefragt, ob sie zusammen waren?

Randy aber sah ihn nur fassungslos und unverständlich an, ehe er aufgeregt zu erklären begann:

"Na, das mit dieser verrückten Prämie. Das stand doch in der Zeitung. Okay… es sind keine Namen erwähnt worden, aber wenn man mit Nathan zu tun hat, kann man eins und eins zusammen zählen."

Dabei gestikulierte der kleine Amerikaner wie ein großer Italiener, was es Shinji schwer machte, sich auf die Worte zu konzentrieren. "Hat er die denn gar nicht gesagt, warum er so abrupt wieder zurück muss?"

Hatte er Randy das etwa erzählt!? Sprach er mit ihm über seine Arbeit?

"Oh Mann", kam es noch von Randy, der sich danach wieder zurücklehnte.

Shinji presste kurz die Lippen aufeinander. Gerade hatte er angefangen Randy tatsächlich ein wenig sympathisch zu finden, aber da war die Eifersucht wieder und mit ihr kamen neue Bedenken. Lag es etwa an ihm, dass Nate nicht über seine Arbeit sprechen wollte? Fiel es ihm mit Randy einfacher, weil der das schon von seinem Bruder kannte? Hatte Shinji in den vergangenen Gesprächen zu viel falsch gemacht?

Stop, rief er sich selbst zur Raison. Er musste sich konzentrieren. Es gab jetzt Wichtigeres:

"Was für eine Prämie? Ich halte mich von Nachrichten fern und Nate denkt nur, er würde mich belasten, wenn er mir zu viel sagt. Außerdem redet er sowieso nicht gern darüber, deshalb überlasse ich es ihm, wie viel er mir erzählt."

Er wollte nicht, dass Randy dachte, Nate würde ihm nicht vertrauen oder was auch immer. Solche dummen Gedanken sollten dem gar nicht kommen, sonst nahm der noch an, er hätte leichtes Spiel damit, Nate für sich zu gewinnen.

"Vielleicht sollte ich es dir nicht erzählen, aber… es steht sowieso in den Zeitungen, also… Es gab ein öffentliches Rundschreiben von einigen Personen aus dem terroristischen Lager, so etwas wie ein Kopfgeld. Sie haben explizit Nathans Gruppe erwähnt. Nicht mit einzelnen Namen, aber dennoch. Scheinbar hat er bei seinem letzten Job die Arbeit besser gemacht, als gedacht. Die wollen ihn und sein Team jetzt nur noch beseitigen."

Und dann schickten sie Nate wieder da hin? Und sein Team gleich mit? Was war das denn für ein Unsinn? Hatten die vom Militär Angst, dass es sonst hier zu Terroranschlägen kam?

Aber Randy gingen seine Sorgen und Ängste nichts an, deshalb bekam er nur ein Nicken von ihm: "Gut, dann weiß ich es jetzt eben."

Wenn überhaupt würde er das mit Nate besprechen, aber selbst da war er sich noch nicht ganz sicher.

"Was meintest du jetzt mit Chance?"

"Sag Nathan nicht, dass du es von mir hast, ja?"

Er antwortete schon wieder nicht auf die Frage! Und noch einmal konnte er nicht nachbohren, denn Nate trat wieder an den Tisch heran. Schlechtes Timing…

"Alles klar?" Shinji wusste, dass ihn das Telefongespräch an sich nichts anging, aber sich nach dem Befinden seines Partners zu erkunden, war ihm ein Bedürfnis.

"Meine Schwester. Sie muss wohl heute eine Doppelschicht schieben und braucht jemanden, der auf Hana aufpasst. Wird wohl heute 23 Uhr."

Was? Das hieße ja, sie würden den gesamten Tag verlieren. Damit bliebe ihnen nur noch morgen und vielleicht ein Teil vom Sonntag.

Wut kochte so abrupt in ihm hoch, dass er sich wirklich zusammen reißen musste, seine Kaffeetasse nicht einfach gegen die Wand zu werfen.

Nates Schwester konnte nichts dafür, dass die Bedingungen in ihrem Job so scheiße waren und natürlich fragte sie ihren Bruder, ob der half und Nate war nun einmal wie er war, der würde seine Schwester niemals im Stich lassen.

Und während er in seinem Kopf noch versuchte das Chaos zu ordnen, schien sein Mund ganz von alleine zu arbeiten: "Und wenn ich einfach mit komme?"

Dass er dann auch mit verantwortlich war, auf ein Kind aufzupassen, wurde ihm erst danach richtig bewusst. Aber er würde das Angebot nicht zurücknehmen. Wenn es bedeutete noch länger bei Nate sein zu können, war es ihm das wert.

Nur ein kurzer Blick auf Randy ließ ihn diesen Satz bereuen. Scheiße, der konnte doch jetzt sicher eins und eins zusammenzählen.

"Klar, jemand muss ihr ja die richtige Zierleiste zeigen."

Hä? Was war das denn für eine komische Antwort? Wollte Nate ihn etwa aus der Situation retten?

Doch als Shinji einen erneuten Blick auf Randy warf, der ihn immer noch ansah, als würde er seine vorige Aussage in Einzelteile zerlegen und analysieren, musste Shinji feststellen, dass er weniger Angst davor hatte, sich vor Randy zu outen, als davor, was der mit 'Chance' gemeint hatte. Wann war das passiert? Er hatte wirklich mehr Angst davor, dass er versuchen würde, ihm Nate auszuspannen - was vollkommen dämlich war, wenn man bedachte, dass Nate in zwei Tagen weg wäre. Trotzdem, er konnte dieses drängende Gefühl nicht abstellen, das ihm immer wieder zuflüsterte, dass er Nate verlieren würde, wenn er nicht zu ihm stehen konnte.

"Randy…", begann er deshalb, "Was hast du mit 'Chance' gemeint?"

Der Nachdruck in seiner Stimme war deutlich, denn Nate hatte keine Zeit für Spielchen, was bedeutete, dass er das hier und jetzt klären musste. Er konnte die nächsten Monate nicht damit leben, sich ständig zu fragen, ob Nate tatsächlich zu ihm zurück käme.

"Wieso bist du da so hartnäckig?" Das Lachen, das Randy nachschickte, wirkte in seinen Ohren hämisch und herausfordern. "Was denkst du denn, welche Chance ich würde nutzen wollen?"

Nate sah etwas verwirrt zwischen den beiden hin und her, offensichtlich vollkommen überfragt. War ja auch kein Wunder, der hatte das vorher nicht mitbekommen.

"Könnt ihr das auch später austragen? Ich muss wirklich los."

"Nein", war die gepresste Antwort von Shinji. Er nahm den Blick nicht von Randy. Er musste es wissen, aber der Zwerg schien ihm nichts preisgeben zu wollen. Er musste das klären.

Er stemmte die Handflächen auf den Tisch und stand auf, lehnte sich zu Randy herunter. Sein Herz raste. Es war das erste Mal… aber er musste… er musste… er konnte Nate nicht verlieren.

"Lass die Finger von ihm, wenn du sie nicht verlieren willst und wenn du deine Zunge behalten willst, rate ich dir, niemandem hiervon zu erzählen."

Er knurrte die Worte förmlich, während er innerlich zitterte, aber er musste jetzt stark sein und irgendwie tat es gut. Seit er Randy kennengelernt hatte, war da diese unbestimmte Angst, egal was Nate ihm gesagt hatte, jetzt begriff er, dass nur er selbst sich von dieser Last befreien konnte.

"Würdest du dir also endlich den Rest deines Frühstücks einpacken, damit ich mit meinem Freund zu seiner Schwester kann?"

Und während er mit seiner Angst kämpfte und Randy ihn nur vollkommen perplex anstarrte, legte sich plötzlich eine Hand auf die von Shinji. Ganz behutsam und ihre Wärme durchströmte seinen ganzen Körper, kämpfte diese eisige Kälte zurück, die seine Angst auslöste.

"Schon okay", wurde ihm sanft zugeraunt, aber es war nicht genug, um diese Anspannung zu vertreiben. Er wartete noch immer auf die Reaktion seines Gegenübers, die erst einige Sekunden später kam:

"Oh… ooooh! Ihr seid zusammen?"

Immer noch verwirrt, zeigte er abwechselnd auf ihn und auf Nate. "Mann, wieso sagst du das nicht gleich? Woher soll ich das denn schmecken?"

Beleidigt sah Randy zu Nate. "Boah ist das peinlich."

Also doch? Hatte Randy doch etwas von Nate gewollt? Würde er jetzt aufgeben?

Kopfschüttelnd sah er dann aber zu Shinji und schenkte ihm einen kampfeslüsternen Blick: "Und nur damit du es weißt, Shinji: Wenn es mal nicht gut zwischen euch läuft, schnapp' ich ihn dir weg. Also streng dich lieber an."

"Du wirst keine Chance haben."

Und das meinte er so. Er wollte Nate nicht wieder her geben. Er hatte fünfzehn Jahre auf ihn verzichten müssen, er würde ihn den Rest seines Lebens nicht mehr loslassen. Und wenn er dafür gegen Randy ankämpfen musste, dann war das eben so.

Als Randy endlich zusammen packte, konnte er sich etwas entspannen. Die Schlacht hatte er gewonnen.

"Nate bringt dich sicherlich zur Tür, ich muss mich kurz umziehen."

Damit löste er jetzt sogar ihre Hände voneinander, aber er sah Nate nicht an. Schließlich hatte er gerade einen Freund von ihm angegiftet und ihn vor die Tür gesetzt.

Auf dem Flur sprachen die anderen beiden zu leise, als dass er es durch das Rauschen in seinen Ohren hören könnte, deshalb zog er sich einfach nur um.

Es dauerte nicht lange, da öffnete Nate vorsichtig die Tür und fragte, ob er fertig sei. Noch stand Shinji mit dem Rücken zu ihm, er hatte wirklich etwas Angst, dass Nate sauer wäre. Sie hatten so oft gestritten die letzte Zeit, er wollte die letzten beiden Tage nicht auch noch damit zubringen. Aber das hatte er sich wohl selbst zuzuschreiben.

"Sorry…", murmelte er. "Das hab ich nicht gewollt."

Das hätte man sicher auch anders regeln können, aber mit ihm war einfach sein Temperament durchgegangen, dass er aus der realen Welt gar nicht kannte. Das zeigte sich normalerweise nur beim Spielen, aber das konnte man wohl nicht trennen.

Zwei starke Hände legten sich auf seine Schultern und drehten ihn langsam um. Es kostete ihn einiges an Überwindung, aber als er seinen Freund ansah, war er erleichtert. Er war nicht sauer, im Gegenteil. Nate wirkte gerade wirklich glücklich.

"Du warst ja richtig besitzergreifend.", sagte er und küsste ihn auf die Nasenspitze. "Und ein wenig barsch. Aber du weißt gar nicht, wie sehr ich mich darüber gefreut habe."

Nate grinste ihn strahlend an und zog ihn dann in seine Arme. Erst jetzt bemerkte Shinji, dass er noch immer etwas zitterte. Aber wenn er in sich hinein horchte, lag das eher an der Aufregung, als an seiner Psychose. Irgendwas sagte ihm, dass Randy ihn nicht verraten würde, auch wenn er wirklich nicht sagen konnte, warum. Vielleicht, weil sie sich im Grunde gar nicht so unähnlich waren.

Als er sein Gesicht in Nates Brust vergrub, machte seinen Herz einen heftigen Sprung, doch das schlechte Gewissen blieb. Nicht einmal Randy gegenüber, sondern sich selbst gegenüber.

"Ich verstehe, warum du dich freust, aber das solltest du nicht, wenn ich mich so benehme. Ich hab wirklich versucht mich zusammen zu reißen… aber das war einfach nur… nur pubertäres Alphatier-Gehbabe. Das ist doch furchtbar!"

Er wollte so nicht sein. So… so… menschlich. Er hasste Menschen, die sich so benahmen und jetzt war er selbst nicht besser.

Doch Nate lachte nur und knuddelte ihn, als wäre er ein Stofftier. "So furchtbar ist das nicht. In Maßen ist Eifersucht nur ein anderer Ausdruck von Zuneigung. Du hast Randy ja nicht zur Sau gemacht. Im Prinzip warst du bei deinem Rauswurf sogar noch ziemlich höflich."

Shinji war sich nicht sicher, ob er es gut fand, dass Nate das so herunter spielte.

"Ich werde trotzdem versuchen, daran zu arbeiten. Ich mag das so nicht…"

Vielleicht würde er irgendwann einsehen müssen, dass das einfach ein Teil von ihm war, aber bis dahin würde er versuchen, das zu ändern.

"Ich bin was dich betrifft, auch ziemlich besitzergreifend. Mach dir nicht zu viele Gedanken darum."

Nate löste sich leicht von ihm und verwuschelte ihm die Haare, was Shinji diesmal durchaus genoss. Doch gerade als er ihn fragen wollte, ob Nate das bei mehreren Leuten machte, fragte der, ob sie los könnten.

"Ja, sicher. Sorry. Ich hab die Zeit ganz vergessen. Ich hoffe für deine Schwester ist es in Ordnung, dass ich mitkomme?"

Ihm kam kurz in den Sinn, dass Lily solche wie ihn nicht bei ihrer Tochter haben wollen könnte. Klar, Nate gehörte auch dazu, aber er war ihr Bruder und es war ja doch was anderes, wenn ein schwules Pärchen bei ihrer Tochter war und nicht nur ein einzelner Schwuler.

"Du denkst schon wieder zu viel." Nate tippte ihm auf die Stirn, genau da, wo sich immer diese kleine Falte bildete, wenn er zu düster dachte. "Warum sollte das nicht für sie in Ordnung sein?"

Doch Shinji konnte darauf nur die Schultern zucken. Er wollte Nates Euphorie nicht wieder zunichte machen, indem sie wieder über seine Phobien sprachen. Also hielt er ausnahmsweise mal die Klappe.

Hana

Hana - Nates Nichte - saß schon auf der untersten Treppe des Hauses, in dem Lily wohnte und sprang mit einem fröhlichen "Naaaate" auf, als sie sie beide entdeckte.

Sie bremste allerdings, als sie Shinji richtig wahrnahm. "Wer ist das?"

Nate schien die Frage ihm überlassen zu wollen, denn auch nach einem hilfesuchenden Blick, machte der den Mund nicht auf.

Mist, wie sprach man denn mit einem Kind?

"Eh… hi… Ich bin Shinji. Ein Kumpel von Nate."

Das klang ziemlich steif, aber wenigstens hatte er überhaupt was raus gebracht. Er konnte einfach nicht mit Kindern.

War es wirklich so eine gute Idee gewesen, dass er mitkam?

"Shinji", wiederholte Hana mit überdeutlichem amerikanischen Akzent. Während sie mit ihm sprach, griff sie Nates Hand und wickelte dessen Arm um sich.

"Wie alt bist du, Shinji? Was ist denn dein Lieblingsessen? Ich liebe Pancakes! Und Pudding."

Das Leben, das aus Hanas Augen sprach, war atemberaubend. Er hatte noch nie einen Menschen mit so viel positiver Energie gesehen.

Nate stupste ihr leicht in die Wange: "Lass das bloß nicht deine Mama hören."

Hana kicherte darauf, war aber weiter auf Shinji fixiert, der etwas perplex versuchte, den Redestrom zu verstehen. "Pudding ist total lecker! Magst du sehen, welcher Pudding mein Lieblingspudding ist? Onkel Nate kauft ihn mir immer. Komm, komm"

Er hatte wohl keine Wahl, denn das kleine Mädchen zog Nate schon eifrig die Treppe hoch. Wie alt die Kleine wohl war? Bestimmt hatte Nate ihm das schon einmal gesagt, aber er hatte es vergessen. Er würde sie auf 7 schätzen, vielleicht ein wenig jünger.
 

"Nate, bist du schon da?", rief eine Frauenstimme, als sie die Wohnung durch eine weit geöffnete Tür betraten. Sie zogen sich gerade die Schuhe aus, als Schritte näher kamen. "Diese Arbeit macht mi-… Oh, halle Shinji."

Die gestressten Gesichtszüge von ihr wurden weicher, statt härter und sie setzte zu einem Lächeln an. "Hat Nate Verstärkung mitgebracht?", lachte sie und hielt ihm die Hand hin.

Kurz sah Shinji perplex auf die Hand, als hätte er vergessen, dass es normal war, jemandem zur Begrüßung die eben jene zu schütteln, ging aber dann auf die Geste ein.

"Sieht wohl so aus. Hi. Ich hoffe, es ist in Ordnung, dass ich mitgekommen bin."

Das schiefe Lächeln, das er zustande bekam, fühlte sich deutlich gezwungen an, weshalb er es schnell wieder fallen ließ. Er war jetzt schon froh, wenn er wieder mit Nate und dem Kind allein war. Zwei fremde Personen auf einmal waren doch etwas viel für ihn. "Und entschuldige bitte die Verspätung, das war meine Schuld."

"Ach", winkte Lily sofort ab, "Das ist kein Problem. Jetzt seid ihr ja da. Ich frage mich nur, wie ich das schaffen soll, wenn Nate wieder weg ist. Hana war vorher oft im Hort aber… na ja."

"Ich hasse den Hort", mischte sich das Mädchen sofort ein. "Kann Nate nicht hier bleiben?"

Hanas Augen wurden tellergroß und traurig und sie sah hoffnungsvoll zwischen Lily und Nate hin und her.

"Wenn ich nicht hierbleibe, kann ich dir nichts tolles mitbringen", erklärte Nate und grinste extra geheimnisvoll. Doch entgegen von Shinjis Vermutung funktionierte das nicht. Anscheinend wollte Hana wirklich, dass ihr Onkel da blieb. Shinji konnte das Gefühl gut nachvollzeihen, vor allem, wenn er mit einberechnete, dass der Hort keine Option war, aber er vermutete, dass das nicht der Hauptgrund war.

"Wolltest du nicht deinen speziellen Pudding herzeigen?", versuchte Nate das nächste Manöver und zog Shinji zu sich. "Der Kerl hier wartet schon darauf."

Na danke, Nate. Aber diesmal schien es wenigstens zu funktionieren und Hana begann wieder zu strahlen. "Stimmt ja!"

Damit wurde er auch sofort in Beschlag genommen und an den Küchentisch gezogen. Hana holte den Pudding aus dem Kühlschrank und er musste ihr einen gewissen guten Geschmack attestieren. Es war eine Mischung aus Schoko und Vanille mit untergemischten Schokobällchen.

Hana riss die Verpackung auf und hielt ihm die Süßspeise zusammen mit einem Löffel hin.

"Du darfst kosten", sagte sie großzügig und er sah in ihren Augen, dass er da kein Entscheidungsrecht hatte. Aber zu Süßkram konnte er sowieso nur schwer 'nein' sagen, weshalb ihn das gar nicht störte.

Im Hintergrund hörte er noch, wie Lily sich verabschiedete und die Tür zufiel.

"Der ist lecker", sagte er ehrlich, aber sonst nichts, in der Hoffnung, dass er danach wieder frei war.

Aber diesmal kam ihm sogar Nate zur Hilfe, der sich mit an den Tisch setzte und Hana auf seinen Schoß zog. Sie kicherte vergnügt und sah dann begeistert zu ihrem Onkel auf: "Ich mag ihn!"

Das wiederum ließ Nate lachen und ihr zustimmen. Er zwinkerte Shinji kurz verschwörerisch zu, ehe er sich wieder seiner Nichte zuwandte. "Hast du schon deine Hausübungen gemacht?"

Das Mädchen erstarrte sofort, hielt anscheinend auch die Luft an und klimperte unschuldig mit den Wimpern: "Aber es ist Freitaaaag."

"Na und?"

"Ich kann sie morgen auch machen. Oder am Sonntag."

"Ich hab Hausaufgaben nie am Wochenende gemacht."

Oh ja, das konnte Shinji bestätigen, denn Nate hatte fast nie was für die Schule getan. Aber natürlich versuchte man der nächsten Generation beizubringen, es besser zu machen, als man selbst.

Wobei… ihm wäre es recht egal, was sein Kind tat, solange die Noten stimmten. Aber vielleicht kam das einfach daher, dass er immer intelligent genug gewesen war, auch ohne groß zu üben, gute Noten zu schreiben und der Druck, den er von seinem Vater bekommen hatte, alles schwerer statt leichter gemacht hatte.

"Es ist immer besser, wenn man sie gleich erledigt. Shinji hat sie auch immer sofort gemacht, nicht wahr?"

Er wusste, dass seine eigene Meinung hier nicht gefragt war. Deshalb antwortete er ganz brav das, was Nate von ihm hören wollte:

"Ja, hab ich. Und ich war am Wochenende immer froh, dass ich mir keine Gedanken mehr darum machten musste."

Selbst als er rausgeworfen worden war, hatte er das noch beibehalten, aber eher, weil er keine Wahl gehabt hatte. In der Zeit, in der er obdachlos gewesen war, war er immer so lange wie möglich in der Schule geblieben und im College hatte er am Wochenende durchgearbeitet, um sich die Gebühren leisten zu können.

"Siehst du?" Nate sah Hana an und setzte ein unschuldiges Grinsen auf. "Wir sprechen nur aus Erfahrung. Du wirst es mir danken, wenn du den ganzen Sonntag vertrödeln kannst."

Na, jetzt trug sein Freund aber doch etwas dick auf. Aber Hana seufzte ergeben und rutschte von seinem Schoß, um in ihrem Zimmer zu verschwinden.

Nate schmunzelte zu ihm und griff seine Hand: "Hättest du mich abschreiben lassen, wenn wir in einer Klasse gewesen wären?"

"Sicher, aber ich hab erst angefangen gute Noten zu schreiben, als ich schon im College war." Und selbst da war er nicht über den guten Durchschnitt hinaus gekommen. Heute wäre das anders, aber damals hatte er zu viel um die Ohren gehabt. Es hatte nur eine sehr kurze Zeit während seiner Schule gegeben, in denen er besser gewesen war als das. Diese kurze Zeitspanne, als alles gut gewesen war. Als er sich heimlich gegen seinen Vater aufgelehnt und begonnen hatte, mit Nate und den anderen feiern zu gehen.

Als Hana wieder kam, versuchte er die Hand, die Nate noch immer hielt, wieder zu sich zu ziehen, doch Nate ließ ihn nicht weg. In der Zeit verteilte das Mädchen unzählige Bücher und Hefte über den ganzen Tisch und atmete dann erst einmal durch. Letztendlich musste Nate seine Hand doch loslassen, um ein paar Hefte davon abzuhalten, vom Tisch zu rutschen.

"Du bist eine kleine Chaotin.", schnaubte sein Freund nur und grinste, während Hana sich auf den Stuhl zwischen ihnen beiden setzte.

"Bist du sicher, dass du in der ersten Klasse bist? Das sieht so aus, als würdest du gerade dein Abschlussarbeit schreiben."

Die Kleine ließ sich davon aber nicht abbringen und begann, konzentriert ein paar Zahlen und einfache Rechenzeichen aufzuschreiben.

"Möchtest du was trinken?", die Frage ging jetzt von Nate an Shinji, der immer noch mit seinem Herzklopfen zu kämpfen hatte.

"Kaffee, wenns geht. Aber wenn du mir zeigst, wo alles ist, kann ich mir auch selbst einen machen."

Aber Nate winkte nur ab und stand auf. Kurz darauf hörte er das gluckern der Kaffeemaschine.

"Ist das richtig?", kam es plötzlich von Hana, was Shinji sich automatisch vorbeugen ließ.

"Da solltest du noch einmal drüber schauen.",wies Shinji die kleine sanft an. "Aber der Rest sie sehr gut aus."

Er war es nicht ganz gewohnt, sich auch auf positive Dinge zu konzentrieren, wenn er etwas überprüfte. Für gewöhnlich bekam er nur Programmcode, den er verbessern oder reparieren sollte und da konzentrierte man sich nur auf das Negative.

"Hmmm", machte Hana und zog prüfend die Augenbrauen zusammen, als sie sich die Aufgabe noch einmal ansah. "Ach!", gab sie kurz darauf von sich und korrigierte das Ergebnis.

"Jetzt richtig?"

Shinji lächelte ihr zu und nickte, was sie glücklich jubeln ließ. Das war echt niedlich. Hana war wirklich ein Sonnenschein.

Hobbies

“Wenn du die Aufgaben gemacht hast, hol ich dir ein Eis.”, kam es ein paar Minuten später von Nate, nachdem er Shinji eine Tasse hingestellt hatte, mit Kaffee, der genau so war, wie er ihn immer trank.

Hana jubelte noch einmal und begann vor sich hin zu summen, während das Wort ‘Eis’ ziemlich oft dazwischen rutschte.

Er schenkte Nate einen warmen Blick und machte sich dann über sein Lebenselexier her.

Die restliche Zeit verging recht schnell. Hana war ein angenehmes Kind und intelligent. Eine Mischung, mit der Shinji ziemlich gut klar kam.

Plötzlich flog der Bleistift einfach über Hanas Schulter und sie streckte die Arme in die Luft. Das war wohl das Zeichen, dass sie fertig war.

“Und jetzt Eiiiis!”, forderte sie strahlend und ließ Nate nicken.

“Ja, versprochen ist versprochen.”

Bevor Nate jedoch aufstehen konnte, äußerte Hana noch eine weitere Forderung: “Aber er kriegt auch eins!”

Und damit deutete sie auf Shinji.

“Du bist ja heute sehr spendabel”, lachte Nate. “Irgendwelche Wünsche?”

Aber Shinji war von den Ereignissen nicht wirklich begeistert. Ihm war gerade aufgefallen, dass er allein mit dem Mädchen sein würde, wenn Nate jetzt einkaufen würde.

“Soll ich nicht lieber gehen?”

Schließlich hatte Hana jetzt keine Hausaufgaben mehr und er hatte keine Ahnung, wie man ein kleines Kind bespaßte.

Aber Nate war nicht so gnädig, was Shinji wehleidig aufstöhnen ließ. So ein Mist.

“Ich mag ein M&M’s Eis!”, quatschte Hana dazwischen und vernichtete die Letzte Chance für ihn, Einspruch zu erheben.

“Und der werte Herr?”

Die Frage erwiderte er nur mit einem Bösen, protestierte aber nicht weiter. Er kannte Nate und er wollte heute nicht ausprobieren, wer von ihnen in einem Sturheitstest gewann.

“Ben&Jerry’s Chocolate Fudge Brownie”, grummelte er. Wenn sein Freund ihm das schon antat, wollte er dafür eine anständige Belohnung.

Nate sah ein wenig geschockt aus. Ob es an der Extraportion Schokolade lag oder an der teuren Marke, konnte er nicht wirklich sagen, die Hauptsache war, er würde kriegen, was er wollte.

Nate stimmte auch zu und dann war er weg.

Eine Weile lang war es unangenehm still im Raum, doch während Shinji noch fieberhaft überlegte, was er sagen sollte, begann Hana einfach zu reden:

“Kannst du malen?”

“Nicht wirklich”, lachte er verhalten. Er konnte nichts, außer programmieren, um genau zu sein. Na ja… spielen konnte er auch noch ganz gut, aber das war es dann wirklich. Dennoch witterte er hier eine Möglichkeit, die Kleine beschäftigen zu können:

“Und du? Du kannst bestimmt toll malen. Willst du mir das nicht zeigen?”

Die Reaktion war aber unerwartet. Heftig schüttelte Hana den Kopf. “Ich kann nicht malen. Das sagen die anderen immer…”

Sie sah nachdenklich auf die Tischplatte und auf ihrer Stirn bildeten sich tiefe Sorgenfalten:

“Die lachen immer, wenn ich was male und nehmen mit die Stifte weg.”

Sie sah wieder auf und lächelte tapfer, auch wenn selbst Shinji sehen konnte, dass es unecht war.

“Nate hat es mir mal gezeigt, aber sein Vogel sah aus, wie eine Banane.”

Bei der Erinnerung wurde Hanas Lächeln doch wieder echter, doch es hielt nicht lange. Es brach und sie schaute wieder betrübt vor sich.

Shinji brach es das Herz. Was sagte man da? Irgendwie musste er die kleine doch aufmuntern, aber alles was ihm einfiel, war die Zeit, in der er gemobbt worden war. Das konnte er ihr aber unmöglich erzählen, mal abgesehen davon, dass Welten dazwischen lagen. Aber er sah, dass es sie fertig machte, deshalb konnte er nicht schweigen.

“Weißt du…”, begann er vorsichtig. “Mich haben sie damals auch für was ausgelacht, was ich gemacht habe.”

Was das gut so? Er war furchtbar nervös. Wie lange war Nate schon weg? Wahrscheinlich gerade erst zwei Minuten oder so.

“Und weil ich Angst davor hatte, dass sie das wieder tun, hab ich es nicht mehr gemacht.”

Wie zum Teufel konnte er Schwulsein mit Malen vergleichen? Das war doch echt lächerlich. Aber er konnte jetzt auch nicht aufhören zu reden.

“Ich hab es sehr, sehr lange nicht gemacht. Obwohl es mir Spaß gemacht hat und ich glücklich damit war. Und ich habe es ganz furchtbar vermisst…”

Er versuchte ihr ein aufmunterndes Lächeln zu schenken, aber es wollte nicht so recht.

“Ich hab jetzt vor kurzem wieder damit angefangen und auch, wenn ich immer noch Angst habe, dass mich andere auslachen, geht es mir viel besser. Ich denke, man sollte im Leben das tun, was einem Spaß macht, egal was andere dazu sagen. Dann geht es einem letztendlich besser.”

Hana sah ihn ganz ungläubig an. Aber mit jedem Wort, das er sprach, schien sie mehr zu verstehen.

“Hast du denn auch geweint?”

Plötzlich schien sie wieder furchtbar traurig und Shinji hatte schon Panik, genau das falsche gesagt zu haben.

“Früher hab ich oft geweint, wenn sie mich ausgelacht haben. Aber Mama hat mir gesagt, dass ich einfach an was Lustiges denken und sie ignorieren soll. Und wenn sie jetzt lachen, denke ich einfach an Nate, wie wir mal heimlich vor dem Mittagessen einen Schokoriegel gegessen haben. Aber dann ist Mama gekommen und hat mit ihm geschimpft und er ist auf die Knie gefallen und hat immer wieder ‘Gnade! Gnade!’ gerufen. Da musste ich so lachen.”

Zu dieser kleinen Erzählung ahmte Hana natürlich die Gestik und Nates Stimme nach und tatsächlich begann sie danach wieder leicht zu lächeln. Shinji brachte das leise zum Lachen, weil er es sich wirklich bildlich vorstellen konnte.

“Das ist wirklich eine lustige Geschichte”, stimmte er zu, aber das klärte doch das Problem immer noch nicht.

Eigentlich gab es da doch nur eins, was sie machen konnte: üben. Wenn sie selbstbewusst genug wurde, konnte sie sich sicherlich gegen ihre Klassenkameraden wehren. Ob das auch der Grund war, warum sie den Hort nicht mochte?

“Du malst also gern und willst besser werden? Du kannst doch bestimmt schon lesen, oder?”

Hana nickte, war sich aber deutlich unsicher, worauf er hinaus wollte.

“Hat dir deine Mama denn schon Mal ein Malbuch gekauft? Eines wo erklärt wird, wie man besser malt?”

Sie schüttelte wieder energisch den Kopf und sah ihn dann mit großen Augen an: “Wo kann ich sowas denn kaufen?”

Nun ja, sie wahrscheinlich nicht. Die Bücher kosteten meistens etwas mehr, das würde sie mit ihrem Taschengeld kaum hinbekommen.

“Ich hab schon ganz doll geübt, aber…”

Sie brauchte gar nicht weiter sprechen. Klar, wenn man keine Ahnung hatte, was man da eigentlich tat, war es schwer, besser zu werden. Doch ehe er antworten konnte, sah sie wieder zu ihm und es lag die gewohnte Entschlossenheit in ihrem Blick:

“Ich möchte einen ganz großen, bunten Vogel malen!”

Meine Güte, dachte Shinji. Dieses Kind musste man einfach gern haben.

Er lächelte verschwörerisch und nahm sein Handy zur Hand: “Ich hab eine Idee, wo wir eins her bekommen.”

Er hoffte wirklich, dass das nicht falsch war, aber es schadete ja auch nicht, oder? Er würde die Kosten einfach übernehmen, das konnte doch nicht falsch sein.

Es dauerte kurz bis Nate abhob: “Hi, bist du noch im Supermarkt?”

“Öh, ja. Ich steh gerade an der Kasse. Hast du es dir anders überlegt und möchtest doch lieber Cookie Dough?”

Während Nate lachte, stieg Hana von ihrem Stuhl und kam zu ihm, wahrscheinlich um auch ja nichts zu verpassen.

“Nein, das nicht. Der Laden hat doch eine kleine Buchecke irgendwo, nicht? Tust du mir den Gefallen und schaust mal nach einem Buch ‘Zeichnen für Anfänger’ oder sowas? Am Besten was mit Tieren oder Vögeln.”

Er stellte nicht auf Lautsprecher, weil er Angst hatte, dass Nate nicht gut reagierte. Wenn er absagte, konnte Shinji immer noch behaupten, dass der Supermarkt so etwas nicht führte. Er wollte die Kleine nicht unnötig enttäuschen.

“Hö?” Na ja, es war wohl normal, dass Nate überrascht war. “Klar, nehm ich mit.”

“Super”, stieß Shinji erleichtert aus. “Das geht auch auf mich.”

Doch Nate schnaubte nur belustigt in den Hörer. “Untersteh dich, mir Geld dafür zu geben. Ich kann mir schon denken, für wen das ist.”

Nates Stimme war ganz sanft, weshalb die etwas harrsch gewählten Worte, vollkommen an Druck verloren. Hätte er sich ja auch denken können. Nate kannte seine Nichte eben.

Sie verabschiedeten sich und noch ehe er aufgelegt hatte, hörte er die Kleine schon Luftholen: “Was hat er denn gesagt?”

Hana war wirklich zuckersüß, das konnte man nicht anders sagen.

“Er schaut nach und bringt dann was mit”, verkündete er die gute Nachricht.

“Ja wirklich??? Ich wusste es!!! Hurraaaa!”

Hana hüpfte aufgeregt im Kreis, ehe sie wieder auf ihren Stuhl kletterte und mit den Beinen schaukelte. Die trüben Wolken in ihrem Blick waren verschwunden.

“Ich werde gaaanz viel üben!”, sprach sie zu sich. “Und wenn Nate wieder kommt, kann ich ganz toll malen! Und keiner lacht mich mehr aus!”

Damit war es Beschlossene Sache und Shinji hoffte wirklich, dass es etwas brachte. Es war eben das, wie er sein Leben anging: Wenn man nicht selbst dafür sorgte, dass es besser wurde, würde es auch nie besser. Auch wenn er sich gerade sehr viel von Nate helfen ließ, war er trotzdem nie der Typ gewesen, der gehofft hatte, dass jemand anderes seine Schlachten für ihn kämpfte.

Kinder

Nate kam nur wenige Minuten später wieder und als Hana aufsprang, erwartete Shinji, dass sie ihm die Tasche weg nahm und nach dem Eis und dem Buch kramte, doch stattdessen half sie ihm brav alles hinein zu tragen. Die Kleine war wirklich gut erzogen.

Das Eis hatte sie dennoch schnell in der Hand.

Sie alle versammelten sich um den Tisch und aßen in Ruhe beisammen. Er warf kurz einen Blick auf die Uhr, doch bis Lily wieder kam, dauerte es noch eine ganze Weile, obwohl es später war, als er erwartet hatte.

Ein Gähnen entkam ihm und langsam spürte er, dass er die Nacht nicht geschlafen hatte. Aber er wollte wach bleiben, schließlich würde Nate Sonntag schon weg sein, also hatten sie prinzipiell nur noch heute und morgen.

“Leg dich etwas hin.”, riet Nate ihm leise, schielte dann aber in seinen Eisbecher, in dem auch prompt dessen Löffel landete und ihm Eis klaute. Das Besteckteil landete in Nates Mund, der ihn darauf treuherzig ansah und mit dem Kopf in Richtung eines Raumes nickte. Wahrscheinlich war das sein Raum.

Aber Shinji wollte nicht schlafen.

“Und mir von dir mein Eis wegfuttern lassen? Pfff.”

Damit verschwand sein Löffel in Nates Becher - der hatte auch Ben&Jerry’s aber mit Karamel - und er klaute ihm wiederum etwas Eis.

“Oi!”, protestierte Nate und versuchte ihn noch aufzuhalten, doch es gelang ihm nicht.

“Geht schon”, sagte Shinji dann aber sanfter, schließlich meinte sein Freund es ja nur gut. Den Protest überging er geflissentlich, es war immerhin ausgleichende Gerechtigkeit.

“Lass uns lieber nachher zusammen schlafen.”

“Schlaft ihr heute hier?”, hörte er dann aber plötzlich Hanas hoffnungsvolle Stimme und ehe er ‘Nein’ sagen konnte, lehnte sich Hana plötzlich über den Tisch und ergriff ihrer beider Hände.

Hilflos sah er zu Nate. So sehr er Hana heute auch in sein Herz geschlossen hatte, er wollte Zeit allein mit Nate haben und das ganz sicher nicht hier.

“Wir haben ja gar nicht so viel Platz, Hana.”, sprang Nate zum Glück ein und wischte dabei auch gleich etwas von dem Schokoeis von Hanas Wange.

“Aber… er kann in meinem Bett schlafen!”

“Mit all den Stofftieren? Nein, Maus. Wir schlafen bei ihm.”

“Aber… aber warum bleibst du denn nicht hier? Du hast doch Platz hier!”

Oh weh… Wahrscheinlich wollte auch Hana so viel Zeit wie möglich mit Nate verbringen.

“Das war so abgemacht. Und Versprechen werden nicht gebrochen.”, erwiderte Nate und strich ihr durchs Haar. Obwohl seine Stimme sanft war, wussten sie alle, dass er keine weiteren Wiederworte dulden würde.

“Ach menno…”, schmollte die Kleine, aber fing sich zum Glück schnell wieder. Andere Kinder hätten jetzt wahrscheinlich eine Trotzattacke gehabt, aber offenbar verstand sie wirklich, dass Versprechen nicht gebrochen werden sollten.

Damit es so friedlich blieb, wollte er versuchen, sie abzulenken: “Sag mal, Hana. Weißt du eigentlich, wie dein Name geschrieben wird?”

Darauf sprang die Kleine sofort an und Buchstabierte ihn. Shinji war etwas erstaunt, er hatte gedacht, er würde eher ‘Hannah’ oder so ähnlich geschrieben. Diese Schreibform war wahrlich selten, aber das passte noch besser.

“Soll ich dir ein Geheimnis verraten?”, fragte er dann verschwörerisch und hatte natürlich sofort die volle Aufmerksamkeit der Kleinen.

“Au ja! Sag schon! Ich liebe Geheimnisse!”

Um das ganze noch eindrucksvoller zu machen, lehnte er sich zu ihr vor und flüsterte ihr halblaut zu:

“In Japan bedeutet dein Name ‘Blume’”

“Waaaas? Wirklich???”

Das hatte wirklich mitten ins Schwarze getroffen, denn die Kleine strahlte übers ganze Gesicht. Es war echt einfach, Kinder zu begeistern. Oder Hana war wirklich etwas ganz besonderes.

“Ich bin eine Blume!”

Sie hüpfte wieder durchs Zimmer, ehe sie an Nates Stuhl hochsprang und auf dessen Rücken kletterte. “Hast du gehört Nate? Ich bin eine japanische Blume!”

Weil Nate Mühe hatte sie ordentlich fest zu halten, zog er sie letztendlich hoch, so dass er sie Huckepack nehmen konnte.

Für die nächsten Worte, nahm er die Augen keine Sekunde von Shinji, wodurch es wirklich kitschig wirkte, als er sagte: “Für mich warst du schon immer was Besonderes.”

Dennoch pochte Shinjis Herz eine Takte schneller und ein warmes Gefühl, schlich sich in seine Brust. Zumindest mit Hana konnte er wohl ganz gut umgehen, denn auch wenn das gerade wieder eines von Nates Liebesgeständnissen war, nahm Shinji es doch auch als Lob. Das machte ihn wirklich glücklich.

Dann wandte er sich aber wieder an Hana, die ihren Kopf auf Nates Schulter abgelegt hatte. “Mach’s dir nicht zu bequem hier, hallo?”

Er lachte leise und stand dann umständlich vom Stuhl auf, ehe er Richtung Sofa ging und die Kleine dort absetzte.

“Mein Malbuuuch!”, beschwerte sie sich sofort und streckte ihren Arm in Richtung Shinji aus.

Aber so lief das nicht, schließlich war er nicht ihr Bediensteter. “Wie heißt das?”

Es war so ein typischer Elternspruch, aber er empfand ihn als wichtig. Wenn sie etwas haben wollte, war es das Mindeste, ihn darum zu bitten.

Als er das magische Wort von ihr hörte, kam er dann aber zu ihr und übergab ihr das Buch.

“Hmm… ich weiß, das ist unmöglich, aber vielleicht kannst du mir ja irgendwann eine Blume malen, die genauso hübsch ist wie du.”

Uah, wo hatte er das denn jetzt her genommen? Aber es schien zu klappen, denn Hana lachte glücklich.

“Das mach ich! Aber die musst du dann an den Kühlschrank kleben und für immer behalten!”

Shinji versprach ihr, das zu tun und war zufrieden damit, dass sie jetzt noch mehr Motivation hatte, Malen zu lernen.

Danach versank sie vollkommen in ihrer eigenen Welt.

“Du hast gerade einen kleinen Fan dazu gewonnen.”, grinste Nate und wuschelte ihm durch die Haare.

Gemeinsam räumten sie dann den Tisch ab, während im Hintergrund irgendeine Fernsehserie lief.

Als der Tag langsam dem Ende zuging, war es erstaunlich einfach, Hana bettfertig zu machen. So lag der kleine Wirbelwind um neun Uhr friedlich schlummernd in ihrem Bett.

Nate und er kuschelten gemütlich auf der Couch, selbst vollkommen erledigt, aber irgendwie glücklich. Es war doch ein ziemlich schöner Tag geworden. Da es noch ewig war, bis Nates Schwester kam, legte sich Shinji um und damit mit dem Kopf auf Nates Schoß, von wo aus er einfach nur in die Ferne starrte.

“Hana ist ein interessantes Kind.”, murmelte er, nach einer Weile.

Nachdem er Nate so mit seine Nichte hatte umgehen sehen, kreiste ihm nun eine ganz besondere Frage durch den Kopf, weshalb er Nate auch nachdenklich fixierte: “Wie stehst du zu Kindern? Willst du irgendwann adoptieren?”

Nate hielt inne und hörte damit auf, ihm durch die Haare zu streicheln. Etwas verwirrt sah er zu Shinji hinunter:

“Ich glaube nicht, dass ich das Zeug zum Vater hätte.”

Er nahm das Streicheln wieder auf. “Weißt du… Noch vor ein paar Jahren hätte ich mir nie vorstellen können, für ein Kind da zu sein. Ich dachte eigentlich immer, ich gehöre zu der Sorte Mensch, die mit Kindern nichts anfangen kann. Aber seit Hana auf der Welt ist… sie hat etwas in mir geweckt, von dem ich gar nicht wusste, dass ich es habe. Und irgendwo… ja, da gibt es den Gedanken, wie es wohl wäre, ein Kind zu Hause zu haben. Aber letztendlich bleibt es nur ein Gedanke.”

Nate lächelte sanft und fuhr mit einem Finger über seine Stirn. “Warum fragst du?”

Shinji hatte sich das in Ruhe angehört. Er war der Meinung, dass Nate ein hervorragender Vater wäre. Er war der Typ, der alles für seine Familie tat und er ging so unglaublich natürlich mit Hana um. Gut, dass sie ihn anhimmelte war weniger ein Indiz, immerhin war er der coole Onkel, aber trotzdem.

“Wenn ich dich so mit Hana sehe, hab ich das Gefühl, es wäre Verschwendung, wenn du kein Kind hättest. Deshalb frage ich. Andererseits… auch wenn ich Hana lieb gewonnen habe, ich glaube nicht, dass ich Kinder… oder auch nur ein Kind haben will. Aber ich bin ehrlich am überlegen, ob ich deiner Schwester nicht vielleicht anbieten soll, dass ich Hana nehme, wenn es dringend notwendig ist.”

Eh… irgendwie war er etwas vom Thema abgekommen und wenn man gemein wäre, könnte man denken, er habe gerade vorgeschlagen Hana auf lange Sicht zu adoptieren. Brrr, nein.

“Deine Schwester tut mir irgendwie leid… und Hana war so gegen den Hort. Ich arbeite ja sowieso von zu Hause aus. Das sollte also kein Problem sein, solange es nicht öfter als ein oder zweimal die Woche ist.”

Andernfalls wäre er nämlich ein Zombie, weil er dann garantiert nicht genug Schlaf bekäme.

“Ich bin sicher, dass Lily dein Angebot sofort annehmen würde und dass Hana lieber bei dir wäre, als im Hort und dass ich beruhigter abfliegen könnte, wenn ich wüsste, dass sie gut aufgehoben ist.”

Nates Finger fuhr seine Konturen nach, bis schließlich die ganze Hand auf seiner Wange lag und nur noch der Daumen über seine Haut strich. Shinji konnte nicht anders, als entspannte die Augen zu schließen und sich an die wunderbar warme Hand zu schmiegen.

“Ich schlaf noch mal drüber, aber ich denke, es würde mir auch gut tun, nicht ständig allein in der Wohnung zu sein, während du weg bist.”

Er wollte seine neu gewonnenen sozialen Fähigkeiten - so gering sie auch sein mochten - nicht wieder verlieren, beziehungsweise sogar ausbauen.

“Wenn Hana dann noch etwas älter ist, kann ich mit ihr zocken, dann ziehen wir dich beide ab.”

“Hey, ich nehme es auch mit euch beiden auf!”

Shinji musste lachen, weil er sich vorstellte, wie Nate schmollend auf dem Sofa saß, weil er gleich gegen sie beide verloren hatte.

“Was würdest du machen, wenn ich dir eines Tages sagen würde, dass ich tatsächlich gerne ein Kind hätte? … Nein, die Diskussion will ich mir gar nicht erst antun, deshalb denk ich gar nicht erst an Kinder.”

Shinji öffnete die Augen wieder und sah Nate nachdenklich an. Das war so gar nicht seine Art. Oder war das sein Versuch, ihn indirekt darauf vorzubereiten? Wäre untypisch, aber das Thema war ja auch irgendwie heikel.

“Deshalb frage ich dich ja jetzt, damit ich mich darauf vorbereiten kann, dass diese Diskussion irgendwann mal kommt und ich dann einen klaren Standpunkt zu der Thematik habe.”

“Verstehe…”, murmelte Nate und schwieg kurz. Ein bisschen sah es aus, als würde er Mut sammeln. “Dann sag ich dir… eventuell… in ferner Zukunft, wenn ich nicht mehr bei den SEALs bin und wenn du deine Angst überwundern has… kann es sein, dass ich dich fragen werde.”

Gut. Das war doch wenigstens mal eine Ansage, damit konnte er arbeiten und so wie das Gespräch zum Thema ‘SEALs’ verlaufen war, war das wirklich noch eine lange Zeitspanne. Aber er würde bereit sein.

Rekapitulation und Planung

“Randy hält den Mund, oder? Er wirkt so geschwätzig, dass ich nicht einschätzen kann, ob er sowas für sich behält.”

Sie lagen noch immer auf dem Sofa in der Wohnung von Nates Schwester. Shinji konnte nicht sagen, warum er ausgerechnet jetzt darüber nachdachte. Gerade hatten sie noch über Kinder gesprochen.

Dennoch war die Angst, dass Randy sich verplapperte, durchaus real. Die Angst, dass er ihm Nate wegschnappen konnte, war zu einem erträglichen Maß zusammen geschrumpft. Sie war nicht ganz weg, aber es war eine sehr, sehr leise Stimme, ein seichtes Flüstern, das kein Gewicht mehr hatte. Nate würde niemals mit jemandem zusammen kommen, wenn derjenige aktiv versuchte ihn jemandem auszuspannen. Dafür war Nates Gerechtigkeitssinn zu stark ausgeprägt. Jetzt wo Randy wusste, dass sie zusammen waren, würde er sich mit jedem Überzeugungsversuch selbst ins Fleisch schneiden.

Dennoch war es nicht von der Hand zu weisen, dass es innerhalb von einer Woche schon zwei Leute wussten. Das eskalierte langsam, oder… zumindest fühlte es sich so an.

“Mach dir darüber keine Sorgen. Du warst deutlich genug.”

Nate fuhr seine Augenbrauen mit einem Finger nach, während er leise lachte. Fand Nate solche Drohungen etwa witzig? Oder fand er es witzig, dass er die Drohungen ausgesprochen hatte? Randy hatte nicht gerade eingeschüchtert gewirkt. Aber Randy würde wahrscheinlich auch noch vergnügt Grinsen, wenn man gerade dabei war, ihm die Fingernägel auszureißen.

“Und es gibt auch niemanden, den es interessieren würde, wenn Randy jemanden kennt, der in einer Beziehung mit einem anderen Mann steckt. Erstens, weil Randy viele solche Leute kennt” In Shinji stieg kurz Ekel auf, den er augenblicklich niederkämpfte. Er fragte sich, wie lange es dauerte, bis er diese antrainierte Abneigung wieder los wurde. “Und zweitens, weil keiner aus seinem Bekanntenkreis mit der Information etwas anfangen könnte. Das wäre so ähnlich, als wenn ich dir sagen würde, dass Cohen sein Butterbrot mit Salz isst. Na ja… wie gesagt… so ähnlich.”

Der Vergleich hinkte tatsächlich ein wenig, aber er verstand.

“Ja… aber wenn du mir jetzt einen Cohen vorstellst, denke ich ‘ah, das ist der mit dem Salz auf dem Butterbrot’.”

Auch wenn es wirklich nicht wahrscheinlich war, dass er irgendwelche Bekannte von Randy je kennenlernte. Und er hielt es auch für ungewöhnlich, dass jemand jemand drittem von einem Shinji erzählen würde, wenn beide Parteien keinen kannten und mit seinen Arbeitskollegen hatte er so wenig zu tun, dass sie nichts über ihn erzählen würden. Sie würden auch wahrscheinlich eher seinen Nachnamen benutzen. Trotzdem blieb eine geringe Chance, dass das schief ging.

Er seufzte schwer: “Sich darüber den Kopf zu zerbrechen, macht wohl wenig Sinn… es ist eh zu spät…”

Er nahm Nates Hand, verschränkte ihre Finger miteinander und ließ beide auf seinem Bauch ruhen. Es war schön, Nate so bei sich zu spüren. Es grauste ihm davor, wenn dem nicht mehr so war.

“Aber es hat gut getan, das vor ihm auszusprechen”, gestand er dann. “Seitdem ist die Eifersucht weg… oder zumindest ertragbar.”

Nate lachte ausgelassen und verwuschelte ihm abermals die Haare: “Sein Gesicht werde ich nie vergessen.”

Shinji grinste amüsiert, als er an das komplett baffe Gesicht zurück dachte. Ja, es hatte wirklich unheimlich gut getan.

Aber dann trübten sich seine Gedanken wieder, als er abermals daran dachte, dass das hier die letzten Stunden waren, die er mit Nate verbrachte. Es waren keine 24 Stunden mehr…

“Morgen ist schon Samstag… was machen wir den Tag über? Und nach dem Film?”

“Nah… sag das nicht. Die letzten Tage vergingen viel zu schnell.” Nate schwieg kurz, als wolle er der kurzen Zeit gedenken, die sie miteinander gehabt hatten. “Morgen sollte ich früh schlafen gehen. Ich muss am nächsten Tag zeitig los. Aber vor dem Film hast du freie Wahl. Ich richte mich da nach dir.”

“Nichts da. Wir haben uns fast die ganze Woche nach mir gerichtet. Du wolltest doch in den Park und Baseball spielen, oder? Wie wär’s damit?”

Nate lächelte warm zu ihm herunter: “Hast du nicht vergessen, was? Ja, das wäre schon sehr cool.”

Damit war das wohl beschlossen.

“Wenn du so früh weg musst, schläfst du sicher hier, oder?”

Immerhin wohnte Nate eigentlich hier. Hier war sein Zeug, es war nur logisch. Dennoch tat der Gedanke weh, dass das heute ihre letzte gemeinsame Nacht war.

“Ich denke, es wäre einfacher für mich, wenn ich hier schlafen würde. Denn wenn ich neben dir liegen würde, würde ich wahrscheinlich nicht von dir loskommen.”

War doch eigentlich gar keine schlechte Option, oder? Klar war es praktisch, wenn er Zeit hatte, sein Leben auf die Reihe zu kriegen, aber allmählich wurde ihm erst so richtig bewusst, was es hieß, ohne Nate zu sein.

Sein Freund beugte sich auch zu ihm herunter. Es sah schmerzhaft aus, denn er musste sich ein wenig verrenken, damit ihrer beider Stirn aneinander lagen.

“Andererseits weiß ich jetzt schon, dass mir auch der Abschied nach dem Kino schwer fallen würde. Ich bin nicht gut im Abschiednehmen. Können wir das nicht einfach überspringen?”

Nates Lachen schüttelte ihn ein wenig durch und er musste sanft lächeln. Er wollte den Abschied und die ersten Wochen auch am liebsten überspringen.

“Dann lass uns das versuchen.”

Dann aber hörte er, wie der Schlüssel im Schloss umgedreht wurde. Vollkommen erschrocken wollte er sich aufsetzen, war dabei aber so hastig, dass er um ein Haar mit Nate zusammen gestoßen wäre und aus Schreck sich von ihm abstoßen wollte, um ‘auszuweichen’, was darin resultierte, dass er polternd auf dem Boden landete und sich den Arm, mit der er immer noch Nates Hand hielt, fast auskugelte.

“Au, fuck!”, fluchte er wütend auf sich selbst.

Nate sah ihn nur überrascht an und an dem Zucken seiner Mundwinkel sah man genau, dass er sich gerade ein Lachen verkniff. “Hast du dir weh getan?”

“Guck nicht so blöd”, grummelte Shinji halb beleidigt, sah dann aber zu Nates Schwester, die im Wohnzimmer erschien.

“Was ist denn hier passiert?”

Sie sah sich die Szenerie kurz an, ehe für sie vollkommen klar war, was passiert war: “Hat der Typ da dich geärgert?”

Sie grinste müde und zeigte auf Nate, der unschuldig die Hände hob: “Wieso sollte ich ihn vom Sofa schubsen?”

“Keine Ahnung. Weil dir langweilig ist?”

Während Shinji sich langsam aufrappelte, kam sie näher und setzte sich auf die Sofalehne.

Zum ersten Mal in seinem Leben, hatte Shinji wirklich das Gefühl rot zu werden. Sein Kopf fühlte sich furchtbar heiß an. Er setzte sich auch möglichst weit von den beiden weg. “Eh… nein… ich… uhm…” Das war so peinlich. “Ich hab mich nur erschreckt…”

“Verstehe”, trällerte Lily, nachdem sie einen vielsagenden Blick auf Nate geworfen hatte, stand dann aber auf und verschwand kurz in der Küche.

Sein Freund schenkte ihm ein unschuldiges Grinsen und rückte dann rüber, damit er sich wieder zu ihm setzen konnte. Shinji schwieg einfach, ihm war das zu peinlich.

“Bist ja früher heimgekommen, als gedacht”, sagte Nate mit erhobener Stimme in Richtung Küche, was seine Schwester dazu veranlasste, mit dem Glas Wasser, dass sie sich eingeschenkt hatte, wieder zurück zu ihnen zu kommen.

“War alles okay mit Hana?”

Shinji nickte automatisch, ehe ihm sein Geschenk wieder einfiel: “Sie hat jetzt ein Malbuch für Anfänger… ich hoffe, das ist okay.”

Immerhin war sie die Erziehungsberechtigte und er wusste nicht, ob ihr so etwas Recht war.

“Sie malt wohl gerne, wird aber dafür ausgelacht. Ich dachte es hilft, wenn sie besser werden kann. Wenn nicht gegen das Lachen, dann doch vielleicht für ihr Selbstbewusstsein.”

Das klang in Retrospektive irgendwie nach einem dummen Plan und weil er seine Unsicherheit irgendwie überspielen wollte, setzte er noch nach: “Aber ansonsten war alles in Ordnung. Sie hat auch ihre Hausaufgaben schon gemacht.”

Doch entgegen seiner Befürchtung strahlte Nates Schwester förmlich: “Oooh, kann ich dich engagieren?”

Er musste den Drang unterdrücken, die Hand, die gerade seine Schulter tätschelte, weg zu schlagen. Auch wenn er sich bei Nate mittlerweile gut daran gewöhnt hatte und es sogar mochte, hatte er immer noch etwas Probleme mit der Nähe zu anderen Menschen.

Aber alles in Allem war doch alles perfekt. Sie war zufrieden und wenn er sich dazu entschied, ihr zu helfen, würde sie wirklich sofort annehmen. Alles richtig gemacht. Puh.

Lily entdeckte auch prompt das Malbuch, das noch auf dem Wohnzimmertisch lag und nahm es in die Hand, blätterte es durch und schmunzelte zufrieden.

Nate hingegen war plötzlich voll in Aufbruchsstimmung und stand sogar schon auf. Eigentlich hatte Shinji damit gerechnet, dass sie noch kurz der Höflichkeit halber, etwas plauderten. Nicht, dass es ihn stören würde, wenn sie schon gingen, aber es war immerhin Nates Schwester.

Die stellte ihr Glas abrupt ab und sah Nate treuherzig an: “Das ist jetzt nicht der Abschied, oder? Du kommst morgen doch noch mal vorbei. Ich bin nicht darauf vorbereitet.”

Sein Freund lachte über den leicht anklagenden Tonfall und nahm sie in die Arme.

“Das bist du morgen auch nicht, Lily.”, sagte er sanft. “Ich erwarte mir morgen aber wenigstens ein paar Abschiedskekse.”

Wenn Shinji ehrlich war, hatte er eher ‘Tränen’ als ‘Kekse’ erwartet, aber das war definitiv die entspanntere Forderung und sah Nate viel ähnlicher.

Lily sagte gar nichts mehr, gluckste nur leise und brachte sie dann noch an die Tür.

“Ich bring ihn morgen pünktlich zurück, versprochen.”, witzelte Shinji noch, was Lily müde zum Grinsen brachte und einen Moment später waren sie auf der Straße.

Er gähnte herzhaft und rieb sich die schweren Augen: “Gott bin ich froh, wenn ich im Bett bin. Kinder hüten ist echt anstrengend.”

Als Antwort bekam er ein Lachen und mal wieder verwuschelte Haare. Während er beschäftigt damit war, sie sich wieder zu richten, strich Nate ihm - mitten auf der Straße - plötzlich über die Wange. Es war nur ein sehr kurzer Moment, aber er reichte, dass sein Herz wieder panisch zu schlagen begann.

Er ging steif neben Nate her, während der sich eine Zigarette aus der Jackentasche holte und sie sich anzündete. Sie sprachen nicht, bis sie wieder in Shinjis Wohnung waren und da wurde er sofort an die starke Brust seines Freundes gezogen.

Die feste Umarmung fühlte sich so sehr nach Abschied an, dass ihm ganz flau im Magen wurde. Sie hatte etwas Trauriges, Sehnsüchtiges und Schweres. Es war ein sehr seltener Moment der Empathie, der ihn aber gleich mit fortzuschwemmen drohte. Der halbe Abschied von Lily, musste Nate schwer zugesetzt haben.

“Lass uns schlafen gehen.” Die Worte klangen hohl und ließen Shinji schlucken. Er nickte nur, löste sich vorsichtig und zog Nate dann mit ins Schlafzimmer.

Er wusste nicht, wie man in so einer Situation für jemanden da war, aber er würde versuchen, was er konnte.
 

Fertig umgezogen ließ Nate sich rücklings aufs Bett fallen und streckte alle Gliedmaßen von sich.

“Das ist wirklich komisch”, sagte er nachdenklich, den Blick auf die Zimmerdecke gerichtet. “Es ist gar nicht viel Zeit vergangen, seit wir uns wieder begegnet sind, aber mir kommt es vor, als wäre es eine halbe Ewigkeit.”

Wahrscheinlich lag das daran, dass sie so viel zusammen gewesen und gemeinsam erlebt hatten. Er legte sich zu Nate und kuschelte sich an ihn.

“Frag mich mal… ich hab innerhalb von den zwei Wochen mehr Entwicklung durch gemacht, als in den letzten fünf Jahren.”

Er strich Nate über die Brust und schloss die Augen.

Sie beide waren innerhalb von wenigen Augenblicken eingeschlafen.

Abschied

Keiner von ihnen sprach den immer näher rückenden Abschied an. Stattdessen genossen sie die Zeit zu zweit und lenkten sich mit kleinen Kuscheleinheiten ab, solange sie in der Wohnung waren.

Kaum waren sie in der Öffentlichkeit, hielt sich Shinji wieder von Nate fern. Er schaffte es nicht, den viel zu großen Abstand zu verringern, aber zum Glück beschwerte sich sein Freund nicht. Er wollte in den letzten Stunden, die sie zusammen hatten, nicht streiten.

Sie gingen in einen Park, der gar nicht so weit weg war und suchten sich einen abgelegenen Teil am Rande, wo sie fast allein waren. Es war nur eine kleine Familie da, deren Kinder lärmend um die Picknickdecke liefen und zwei Studentinnen, die hinter ihren Büchern versanken.

“Bist du bereit, Kleiner?” Nate hob provozierend eine Augenbraue, ehe er versuchte, Shinjis ersten Wurf zu fangen.

Dass sie letztendlich wirklich viel Spaß hatten, lag daran, dass keiner von ihnen die Bälle richtig fangen oder werfen konnte. Nate warf zu hoch oder zu fest und Shinjis Bälle waren einfach unberechenbar.

Später im Kino hatten sie sich in der letzten Reihe verschanzt und während die Filmvorstellung lief, nutzte Nate die Chance, Shinji immer wieder zu ärgern, indem er ihn mit Popcorn bewarf.

Der Film war letzten Endes der Abschluss eines entspannten Tages und als sie aus dem Saal kamen, mussten sich beide der Tatsache bewusst werden, dass es Zeit wurde.

Es war Nate, der zuerst das Wort ergriff:

“Okay…” Dann stoppte er wieder und setzte noch einmal an: “Kommst du noch mit zu meiner Schwester?”

Shinji verneinte. Er hatte noch immer die Szene von gestern Abend im Kopf. “Du warst die ganze Woche bei mir, die beiden haben es verdient, den letzten Abend allein mit dir zu haben.”

Diese Worte fielen ihm unsagbar schwer, aber es war nur richtig so. Hätte man ihm vor zwei Wochen gesagt, dass er seine Bedürfnisse dermaßen hinter die von anderen stellte, hätte er nur dunkel gelacht. Aber er mochte Hana und Lily irgendwie und er wollte ihnen wenigstens dieses Geschenk machen.

“Hast du noch Sachen bei mir, die du mitnehmen willst?”

“Nicht wirklich. Vielleicht findest du zwischen den Klamotten noch eine Packung Zigaretten, aber die kannst du einfach in die Tasche in deinem Schrank stecken.”

Nate atmete noch einmal durch und grinste schief.

“Na gut. Das war’s dann wohl für’s Erste. Vergiss nicht, einen Termin beim Therapeuten zu machen, ja?”

Shinji nickte und ließ sich noch einmal die Haare verwuscheln. Mehr aus Gewohnheit schenkte er Nate einen trotzigen Blick und freute sich über den zufriedenen Glanz in dessen Augen.

“Ich melde mich, sobald ich kann.”

Shinji wurde noch einmal in eine freundschaftliche Umarmung gezogen, dann drehte sich Nate einfach um und ging.

Shinji hob noch die Hand um ihn aufzuhalten, aber da war es schon zu spät.

Vollkommen verdutzt und auch etwas vor den Kopf gestoßen, blieb er zurück, nur mit einem Kloß im Hals.

Er dachte darüber nach Nate nach zu laufen, aber der hatte ihm gesagt wie sehr er Abschiede hasste, deshalb blieb er stehen.

Das hatte er sich anders vorgestellt. Er hatte so viel sagen wollen und vor allem, so wichtige Dinge. Er hatte versuchen wollen ihm seine Gefühle zu gestehen, hatte sich auch fest vorgenommen gehabt es zu schaffen. Aber das war so unerwartet gekommen, dass er zu spät reagiert hatte.

“Pass auf dich auf...”, wisperte er in die Nacht und ließ die Worte vom Wind ungehört hinfort tragen.

War das nicht enttäuschend für Nate? Dass er gar nichts gesagt hatte? Aber wahrscheinlich hatte er genau auf das gehofft. Kurz und schmerzlos... so war er eben.

Er seufzte leise und mit Tränen in den Augen, immer noch auf den Punkt starrend, an dem Nate in die Nacht verschwunden war. Für einen kurzen Moment fragte er sich, ob er die letzte Woche überhaupt erlebt hatte. Die Leere in ihm war so allumfassend, dass er sich nicht vorstellen konnte, dass es jemals anders gewesen war. Aber es war so gewesen... er hatte sich verliebt... in einen Mann... und er hatte ihm ein Versprechen gegeben. Wenn er wiederkehrte würde es ihm besser gehen.

Mit dieser Aufgabe im Blick drehte er sich letztendlich um und ging in Richtung seiner Wohnung.

Die Zeit ohne dich

Für Shinji waren die ersten Tage grausam. Jetzt, wo Nate nicht mehr da war, kamen all die Ängste zurück und sie stürzten auf ihn ein, wie eine Lawine. Die einzige Möglichkeit die Shinji gehabt hatte, war, sich wieder voll in seine Arbeit zu stürzen.

Die ersten zwei Wochen lang war sein Zustand schlimmer, als vor Nate, was auch daran lag, dass er nachts kaum schlafen konnte, weil ihn Alpträume von Chris und Nates Tod quälten. Da half es auch nichts, dass Nate ihn schon ein paar Tage nach seinem Aufbruch anrief und ihm davon erzählte, dass er nur noch auf sein Team warte und sie sich dann auf den Weg in den fernen Osten machen würden.

Was Nate niemals erfuhr, war, dass Lily ihn eines Tages ohnmächtig in seiner Wohnung vorgefunden hatte. Er wusste nicht genau was passiert war, nur, dass er beim Einkaufen kurz vorher gedacht hatte, Chris gesehen zu haben. Er hatte es noch bis nach Hause geschafft, aber dann war ihm schwarz vor Augen geworden.

Lily hatte ihn daraufhin zum Arzt geschleppt, der ihm Notfalltropfen für akute Stresssituationen und ein leichtes, angstlösendes Antidepressivum gegeben hatte. Das half. Nur einen Tag später hatte er es dann endlich geschafft, die Liste an Therapeuten durchzuklingeln. Auch das half.

Hana war regelmäßig bei ihm, als Gegenleistung brachte Lily ihm öfter Essen vorbei, manchmal kochten sie sogar gemeinsam. Es half ihm, sich nicht wieder vollständig zurück zu ziehen und wenigstens einen einigermaßen geregelten Tagesablauf zu haben.

Er freute sich immer über Nates anrufe, versuchte aber, ihm nicht zu viel Negatives zu erzählen. Sein Freund sollte sich keine Sorgen machen, der hatte mehr als genug um die Ohren.

Er fragte absichtlich nicht, was bei Nate los war. Zum einen, weil der sicher nicht darüber reden durfte und zweitens, weil Shinji es auch einfach nicht wissen wollte. Er verging so schon fast vor Sorge und verfluchte sich fast täglich dafür, dass er sich seinem Freund so sehr geöffnet hatte, dass er jetzt dermaßen fertig war.

Aber irgendwie wollte er dieses Gefühl auch nicht missen. Es zeigte ihm, wie sehr er sich bereits verändert hatte. Es lag noch ein unglaublich langer Weg vor ihm, aber allein dieses Gefühl gab ihm die Zuversicht, dass er das auch tatsächlich schaffen konnte.
 

Ein paar Wochen später, an Shinjis Geburtstag, klingelte um Punkt null Uhr eins, sein Handy.

“Hey, Kleiner”, begrüßte Nate ihn leise. Er klang müde, aber Shinij konnte auch das Lächeln aus seiner Stimme hören.

“Alles Gute zum Geburtstag.”

“Danke”, erwiderte Shinji und war sich nicht sicher, ob er die Freude über diesen Anruf tatsächlich akkurat ausdrücken konnte. Wahrscheinlich nicht. Er war nicht so gut darin, Freude zu zeigen. Er musste darauf vertrauen, dass Nate wusste, wie viel ihm das bedeutete.

“Du bist echt pünktlich, Respekt.” Und weil er diese peinliche Stille nach einem Glückwunsch hasste, sprach er gleich weiter und lenkte so vom Thema ab: “Es gibt gute Neuigkeiten. Ich habe heute meinen ersten Termin beim Psychologen bekommen. In drei Wochen geht die Therapie los.”

“Das ist großartig!” Plötzlich klang Nate gar nicht mehr müde, sondern ehrlich begeistert. Wow, in puncto Ausdruck lagen sie beide wirklich Welten auseinander. “Du musst mir dann unbedingt davon berichten. Lass es bei mir durchklingeln, wenn du da warst. Wenn ich Zeit habe, hebe ich ab, okay?”

Oh je, das wäre das erste Mal, dass er von sich aus anrief. Aber wenigstens war es eine Einladung von Nate, dann war es nicht ganz so schlimm.

“Ist das nicht bei dir mitten in der Nacht? Es ist auch erst das Erste Gespräch, das ist noch nicht so wild.”

Doch Nate lachte nur und Shinji konnte förmlich vor sich sehen, wie er eine wegwerfende Handbewegung machte. “Ach, die Zeitverschiebung kann mich mal. Versprich mir, dass du anrufst.”

Shinji war nicht ganz wohl dabei, aber letztendlich versprach er es.

“Sonst alles okay bei dir?”

“Ja, alles gut.”

“Gut… ahm… Wundere dich nicht, wenn heute Lily und Hana vor deiner Tür stehen. Ich habe ihnen eventuell gesagt, dass du Geburtstag hast.”

“Nate!”, schimpfte Shinji sofort und stöhnte dann auf. War das sein Ernst?

“Das kriegst du zurück, sobald du wieder hier bist!”, drohte er. Das war wirklich nicht das, was er geplant hatte. Aber er konnte Lily und Hana schlecht vor die Tür setzen. Hervorragende Situation, in die Nate ihn da gebracht hatte.
 

Der Tag verging dann trotz allem angenehm ruhig. Lily wusste, dass er eher zum späten Aufstehen neigte und erwies ihm die Gnade, erst am späten Nachmittag vorbei zu kommen.

Er war nicht wirklich in Feierlaune, war er nie. An seinem Geburtstag hoffte er immer, dass sein Vater doch noch versuchte, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Aber er tat es nie.

Eigentlich war es lächerlich, denn er wollte mit ihm nichts zu tun haben. Er würde ihm nie verzeihen, dass er ihn ohne jegliche Vorwarnung auf die Straße gesetzt hatte, nachdem er alles versucht hatte, um ihm ein anständiger Sohn zu sein. Aber, dass er nicht einmal wusste, ob sein Vater noch lebte, störte ihn des Öfteren. An anderen Tagen konnte er das nur gut ignorieren.

Er musste zum Glück nicht feiern. Seine beiden Gäste brachten einfach nur Kuchen mit und sie verbrachten einen angenehmen Nachmittag zusammen. Hana schenkte ihm ein Bild mit einer etwas krakeligen Blume drauf. Sein Lächeln war ein wenig verkrampft, als er sich bedankte, doch Hana schien das nicht zu merken.
 

Am Tag seiner ersten Sitzung, erreichte er Nate tatsächlich und er berichtete, dass er seinen Therapeuten sympathisch fand und sie sich darauf geeinigt hatten, zusammen zu arbeiten. Mehr war in dieser Sitzung nicht wirklich passiert. Ansonsten hatte er nur kurz seine Probleme umrissen und sein Therapeut hatte ihm versprochen, dass er ihm helfen könne.

Die Wochen darauf berichtete er immer kurz von den Sitzungen, wenn er Nate erreichte, aber es blieb ansonsten weiterhin bei Oberflächlichkeiten.

Doch eines Tages, sicher ein halbes Jahr, nachdem Nate abgereist war, hatte er zum ersten Mal etwas wirklich wichtiges zu sagen. Er hatte an diesem Tag wieder eine Therapiesitzung hinter sich und ein Teil von ihm wünschte sich, dass Nate nicht abheben würde.

“Hey!”, begrüßte er Nate dennoch so euphorisch wie möglich, auch, wenn es nicht viel war.

“Ich hab heute meine erste Aufgabe bekommen, für die ich die brauche. Uhm… hast du ein bisschen Zeit und bist einigermaßen allein?”

In seiner Therapie bekam er oft kleine Aufgaben. Manchmal waren es nur Dinge, die er ausprobieren sollte, manchmal waren es Ängste, denen er sich stellen musste. Heute war es letzteres, aber er wusste, dass er es nicht tun würde, wenn er das hier verschob.

“Warte kurz”, antwortete Nate und Shinji konnte wahrnehmen, dass die Hintergrundgeräusche abnahmen. “Okay, ich gehöre ganz dir.”

“Du weißt ja, dass ich immer mehr versuchen soll, ganz normal damit umzugehen und mich immer ein bisschen mehr zu offenbaren und so was. Letztes Mal hab ich meinem engsten Vertrauten außerhalb unserer… ehm… Beziehung… gesagt, dass ich … schwul bin. Aber… das ist ja nur die Vorstufe.”

Eigentlich redete er gerade nur um den heißen Brei herum, aber er brauchte ein wenig Anlauf, auch wenn er immer den Zeitdruck im Nacken hatte. Nate konnte nicht ewig am Telefon bleiben.

“Mein Therapeut meinte, ich solle das erstmal per SMS machen… damit es einfacher ist. Aber… das ist so unpersönlich und ich dachte, ich versuche mal etwas die Initiative zu ergreifen. Ich hab auch morgen direkt wieder einen Termin, um darüber reden zu können… falls ich aufgefangen werden muss… du weißt schon.”

Nate hielt zum Glück den Mund. Shinji hätte nicht gewusst, ob er das hätte durchziehen können, wenn er ihn unterbrochen hätte.

Sein Herz raste so sehr, dass es weh tat, dabei konnte er nicht einmal genau sagen, wovor er eigentlich angst hatte. Es war so ein unbestimmtes Gefühl, dass es eine Katastrophe geben würde, wenn er das durchziehen würde. Als hätte er Angst, dass Nate dann starb, oder er doch plötzlich auf der Stirn geschrieben hatte, dass er vom anderen Ufer war.

Er wusste genau, dass letzteres nicht möglich war und ersteres auch passieren könnte, wenn er nichts täte. Dennoch war ihm jetzt schon schwindlig, weil sein Herz nicht mehr genug Sauerstoff durch seinen Körper pumpte.

“Ich… uhm…”

Er schluckte heftig.

“Ich wollte dir das eigentlich schon bei unserem Abschied sagen…”

Komm endlich zum Punkt!, schrie er sich selbst in seinem Kopf an. Wenn Nate jetzt plötzlich weg müsste, würde er wahrscheinlich irgendetwas kaputtmachen müssen.

“Ich… ich…”

Er wollte das schaffen. Nur ein bisschen mehr. Nur zwei Worte mehr.

“Nate… ich… ich…” Komm schon! “Ich… liebe dich.”

Tränen rannen seine Wangen hinab. Er wusste nicht wie lange schon. Sein Herz hämmerte so laut in seinen Ohren, dass er angst hatte, Nates Reaktion zu verpassen.

Es war lange still und kurz kam in ihm die Angst auf, dass die Leitung abgerissen war. Das wäre so typisch!

Doch dann hörte er endlich die erlösenden Worte: “Ich liebe dich auch, Shinji.”

Es lag so viel Gefühl in den Worten, dass nur ein Wort gereicht hätte und Shinji hätte verstanden.

“Ich bin so stolz auf dich.”

“Danke”

Ohne, dass sein Gesprächspartner es mitbekam, machte er sich auf in die Küche. Da gab es eine bestimmte Schublade, in der seine Notfalltropfen verstaut waren. Er bekam echt schwer Luft.

“Weinst du?”

“Nein”, stritt er sofort ab, musste aber gleich darauf schniefen, was ihn deutlich verriet.

“Mach dir keine Gedanken, okay? Das ist eine ganz normale Reaktion auf derart starke Emotionen. Das heißt nicht gleich, dass er mir gerade schlecht geht. Ich bin mehr erleichtert, dass es raus ist und glücklich darüber, dass ich es geschafft habe. Das bisschen negative Gefühle, das da mitschwingt, ist nicht so wichtig.”

Das war die Untertreibung des Jahrhunderts und er hatte sofort ein schlechtes Gewissen, weil er Nate gerade anlog. “Okay, ich geb’s zu”, murmelte er deshalb, ohne, dass Nate auch nur ein Wort sagen musste. “Ich hab gleich wahrscheinlich ne ausgewachsene Panikattacke… tut mir leid. Ich wollte das Geständnis nicht mit so was untergraben… wenn du wieder zurück bist, sag ich es nochmal, damit du es dann auch ganz genießen kannst. Aber gerade ist sowieso nur wichtig, dass ich es raus bekommen hab.”

“Ich liebe dich auch mit Panikattacken, Shinji”, war die schlichte, aber überaus effektive Antwort von seinem Freund. Shinji verschüttete fast etwas von den Tropfen, weil ein Glucksen seine sowieso zitternde Hand weiter erbeben ließ.

“Danke”, hauchte er liebevoll zurück, das schwanken seiner Stimme somit verbergend. Er trank das Glas in einem Zug leer und verzog danach angewidert das Gesicht. Wenn die Tropfen nicht so gut helfen würden, würde er sie wegen des Geschmacks definitiv verabscheuen.

“Wenn ich wieder zurück bin, werde ich es mir nochmal anhören.”, setzte Nate nach. “Danke, dass du es mir gesagt hast.”

Sie schwiegen kurz, um den Moment auszukosten, denn auch wenn Shinji noch immer zitterte wie ein Baum bei Sturm, war er stolz auf sich und irgendwie glücklich. Es war eine verwirrende Mischung aus viel zu vielen Gefühlen und er war froh, wenn das Medikament endlich wirkte und er in diesen entspannten, leicht schläfrigen Zustand verfiel.

“Shinji?”, hörte er Nate dann wieder leise, aber bestimmt. “Ich komme auf jeden Fall zurück und hole die drei Worte persönlich ab.”

Shinjis Herz blieb kurz vor Schreck stehen.

“Ist was passiert?”, fragte er alarmiert. Er hatte absichtlich nie nachgefragt, wie es lief, weil er niemals noch mehr angst haben wollte. Aber diese Worte klangen, wie jene, die ein Held in einem Film sagte, der eine viertel Stunde später tot war.

Es war lange still zwischen ihnen, was Shinji bestätigte, dass irgendetwas los war. Fuck. Nein… nein nein nein. Nate durfte nichts passieren. Er durfte nicht in akuter Gefahr sein. Er wusste ja, dass der Einsatz gefährlich war, aber er wollte diese Realität nicht verarbeiten müssen. Das war doch zum Kotzen.

“Ich sag es dir nur, damit du weißt, dass du dir keinen anderen anzulachen brauchst, während ich hier vergammle.”

Das kam so locker, dass Shinji es ihm normalerweise geglaubt hätte, aber mit der ewigen Stille vorher, war es eindeutig, dass das ein Ablenkungsmanöver war.

Shinji hätte es gerne auf die Tropfen geschoben, aber die konnten noch nicht wirken. Dennoch nahm sein Hirn diese Ausrede von Nate einfach an und er entspannte sich wieder. Das Gefühl, dass Nate in akuter Gefahr war, verschwand wieder in den Hintergrund. Er hätte es analysieren können, aber er war zu dankbar, um sich das selbst kaputt zu machen.

Also schnaubte er amüsiert: “Zu schade, jetzt wo ich solche Fortschritte mache, dachte ich eigentlich, dass ich mir noch einen zweiten Lover anschaffe.”

“Spinner”, kommentierte sein Gesprächspartner. “Einen zweiten Lover kannst du dir anschaffen, wenn er Nathan heißt, zwei Meter groß und braunhaarig ist. Außerdem muss er unglaublich begabt im Billard sein und einen wahnsinnig geilen Humor haben. Aber so was wirst du nicht finden, ich bin einzigartig.”

Nates Lachen zu hören, tat wirklich gut und Shinji sog jede Sekunde davon in sich auf.

“Challange accepted”, stichelte er zurück.

“Aber ich nehm dich beim Wort”, fuhr er sanft fort.

“Tu das, in solchen Dingen bin ich sehr zuverlässig.”

Ja, das stimmte. Nate hatte noch niemals ein Versprechen gebrochen.

Hätten sie beide gewusst, was in den nächsten Tagen passierte, hätten sie das Gespräch so lange wie möglich gezogen. So gähnte Shinji nur etwas langgezogen in sein Handy: “Du, ich denke, ich leg mich hin. Die Notfalltropfen für die Panikattacken machen immer so müde… und ich hab die Nacht mal wieder durchgemacht. Du musst sicherlich auch zurück zu deinem Team.”

Nate stimmte ihm zu und so verabschiedeten sie sich mit einem gegenseitigen ‘Pass auf dich auf.’.

Als Shinji auflegte, war ihm merkwürdig Flau im Magen.

Abholen

Wochen später warf Shinji sein Handy gegen die Wand. Er achtete darauf, dass es nicht kaputt ging. Nicht noch einmal. Das war ihm letzte Woche erst passiert, seitdem hatte er kein Smartphone mehr, sondern ein normales Handy.

Mittlerweile versuchte er mehrmals am Tag, fast schon jede Stunde, Nate zu erreichen.

Die Angst, dass seinem Freund etwas passiert sein könnte, zerfraß ihn. Schlafen konnte er nur noch mithilfe von Tabletten, die er nicht nahm, weil er Angst hatte, den Anruf zu verpassen.

Mittlerweile war er in einem Stadium, in dem er kaum noch in der Lage war zu Arbeiten und damit fehlte ihm die wichtigste Ablenkungsmöglichkeit, die er hatte. Warum nur meldete sich Nate nicht?
 

Das Handy klingelte nur ein mal, da hatte er schon abgehoben. Doch die Stimme am anderen Ende war nicht die, die er hören wollte.

“Shinji? Nate kommt zurück.”

Lilys Stimme war bar jeder Euphorie. Shinji rutschte das Herz in die Hose.

“Was ist passiert? Er lebt noch, oder?”

War er Querschnittsgelähmt? Lag er im Koma? Fehlten ihm Gliedmaßen?

“Ich weiß nicht, was genau passiert ist. Er ist noch am Leben, aber…”

Lilys Stimme zitterte unter Tränen, doch Shinji musste sich zusammenreißen, sie nicht anzuschreien. Die Spannung, die Sorge, die Angst… es war unerträglich für ihn.

“Einer der Offiziere hat mich kontaktiert und gemeint, er sei stabil genug, um nach Hause zu fliegen. Aber scheinbar hat er Probleme, sich zu erinnern.”

“Was heißt, er hat Probleme sich zu erinnern?”

Sich an was zu erinnern? An einen Unfall? An den Einsatz? An sein ganzes Leben? Warum zum Teufel war Lily nicht präziser?

“Ich weiß es nicht genau. Ich werde ihn morgen abholen, aber könntest du… könntest du mich begleiten? Ich habe…” Lily wurde so leise, dass er sie kaum noch verstand. “… Angst vor dem Wiedersehen.”

Und ihm sollte es da besser gehen? Was, wenn er ihre Beziehung vergessen hatte? Wie sollte er ihm dann gegenübertreten? Als bester Freund?

Aber diese Fragen konnte er sich auch unterwegs noch stellen. Er wollte unbedingt mit. Egal was war, er musste Nate sehen. Er musste einfach.

“Ja… natürlich komme ich mit. Aber was machst du mit Hana? Wir können sie unmöglich mitnehmen.”

Ihren geliebten Onkel wieder zu sehen und dann zu bemerken, dass er sich nicht an sie erinnerte, wäre zu grausam für ein Kind. Oder sie könnte es nicht verstehen, was auch seine eigenen Probleme mit sich brachte.

“Hana bringe ich zu einer Freundin.”

“Das ist gut…”

“Kann ich dich dann morgen abholen? Es wird eine lange Autofahrt, wir müssen zum nächsten Militärflughafen. Danke, Shinji.”

Sie sprachen noch miteinander ab, wann sie los fuhren, dann legte er auf.

Während Lily gegen Ende wieder ruhiger gewirkt hatte, klopfte sein Herz immer schneller.

Was, wenn sie ganz von vorne anfangen mussten? Er konnte Nate doch schlecht sagen, dass sie zusammen waren, sich sogar sicher waren, dass sie ihr Leben zusammen verbringen wollten.

Er war noch lange nicht so weit einem ‘vollkommen Fremdem’ von seiner Ausrichtung zu erzählen und schon gar nicht, war er so weit, jemanden zu bezirzen, von dem er nicht einmal wusste, ob er schwul war.

Das war eine Katastrophe.
 

Es ging morgens um halb Acht los. Shinji konnte sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal geschlafen hatte, aber so schlimm wie diese Nacht, war es noch nie gewesen. Er konnte auch nicht sagen, wie viele Notfalltropfen er intus hatte. Es waren eigentlich zu viele, aber sie halfen dennoch nicht. Ihm war nur schlecht. Einmal hatte er sich in der Nacht sogar übergeben vor Stress, das war ihm lange nicht mehr passiert.

Wie gerne hätte er jetzt mit seinem Therapeuten gesprochen, aber es ging nicht. Es gab wichtigeres. Diesmal musste er das ganz allein auf die Reihe kriegen.

Er hatte auch gar keine Wahl mehr, denn er saß bereits im Auto und starrte aus dem Fenster.

“Ich weiß nicht, was ich ihm sagen soll. Ich habe die ganze Nacht darüber nachgedacht… Was ist, wenn es ihn zu sehr schockt, dass er schwul ist? Ich habe Angst ihn zu verlieren… er hat es geschafft mich davon zu überzeugen, dass das nicht Schlimmes ist, aber wenn er das jetzt anders sieht? Ich weiß nicht, ob ich schon so weit bin, dass ich wem anderes vorleben kann, dass das alles kein Problem ist.”

Doch Lily lachte nur, was Shinji mehr als irritiert zu ihr sehen ließ. Was bitte war daran denn witzig?

“Entschuldige”, stieg sie dann auch sofort darauf ein. “Es ist nur… kann man so was denn vergessen? Nate hat sich ziemlich früh vor uns geoutet. Da war er dreizehn oder vierzehn. Eines Tages ist er in die Küche gekommen und hat gesagt ‘nur damit ihr es wisst, ich bring euch kein Mädel nach Hause. Aber vermutlich nen Jungen. Lebt damit.”

Jetzt musste er auch lachen. Das war so typisch für Nate. Er konnte sich das wirklich bildlich vorstellen. Oh, wie sehr wünschte er sich, damals genug Courage gehabt zu haben, um es ihm früher zu sagen. Obwohl es weniger an dem Mut gelegen hatte. Er hatte es nur extrem spät bemerkt, weil er davor einfach kein Interesse an irgendwem gehabt hatte.

“Egal wie viel er vergessen hat, es ist immer noch Nate.”

Ja, es war noch immer Nate, dennoch. “Ich will ihn nicht überfordern… ich weiß nicht… ich hab Angst vor seiner Reaktion. Wie soll ich das überhaupt machen? ‘Hi, ich bin Shinji, dein Lebensgefährte’? Das klingt irgendwie echt dumm… ich will nicht, dass er sich unter Druck gesetzt fühlt oder denkt, ich hätte die Erwartung, dass er sich am Besten in dem Moment schon wieder erinnert. Natürlich will ich ihn zurück haben… aber gerade will ich einfach nur für ihn da sein können. Ich habe Angst, dass er mich nicht lässt…”

Lily schwieg lange und er konnte sehen, dass sie ihm ständig wieder Blicke von der Seite zu warf.

“Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er seine große Liebe so einfach vergisst. Hast du eine Ahnung, wie oft er von dir erzählt hat? Er ist total vernarrt in dich.”

Lily sagte das, als wäre es die einzige zulässige Antwort. Nach diesem Statement war es wieder etwas stiller im Auto, unter anderem deshalb, weil Shinji sich zusammenreißen musste, nicht wieder darüber nachzudenken, warum Nate ihn eigentlich liebte. Er hatte nichts besonderes getan… zumindest nicht aus seiner Sicht.

Er sah wieder aus dem Fenster und lauschte der leisen Musik.
 

Als sie schließlich das Auto auf den vorgeschriebenen Parkplatz lenkten und ausstiegen, bewegten sie sich erst einmal nicht.

Der Flughafen war kleiner, als ein normaler, dennoch besser überwacht.

Shinjis Hände zitterten leicht und sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Er hatte die Notfalltropfen nicht dabei, weil er schon viel zu viele davon genommen hatte und angst hatte, bei noch mehr, einfach einzuschlafen. Sein Körper schrie nach Schlaf, das musste er nicht auch noch unterstützen.

Als Lily vorschlug zu gehen, nickte er nur und versuchte ihr ein Lächeln zu schenken. Es misslang kläglich. Dann setzte er sich in Bewegung.

“Und du weißt wirklich nicht, was genau passiert ist?” Es war der klägliche Versuch, die Stille zwischen ihnen endlich zu durchbrechen.

“Ich weiß nur, dass ein Manöver schief gelaufen ist und er versucht hat, noch etwas zu retten. Ich habe auch nicht alles verstanden, ich war ziemlich durch den Wind. Ich habe nur gehört ‘Conners’, ‘Ist stabil’ und ‘kommt nach Hause’. Dazwischen hat er auch noch etwas gesagt, aber das ist da wieder raus gekommen.” Lily deutete auf ihr Ohr und lächelte schief.
 

Kurz vor dem Gebäude, wurden sie von einem Soldaten abgefangen, der ihre Ausweise sehen wollte. Es war komisch, einen Soldaten live zu sehen. Der Mann wirkte sehr geschäftsmäßig und abgebrüht, so, wie er sich jemanden vom Militär immer vorgestellt hatte.

Genau so, nur noch etwas strenger wirkend, war auch der Mann, der sie letztendlich begrüßte.

“Sie müssen Conners’ Schwester sein, richtig?” Er hielt Lily kurz die Hand hin und schien ihn nicht weiter zu beachten. War ihm nur recht so, er brauchte vom Militär keine Aufmerksamkeit, er fühlte sich auch so schon unwohl genug.

“Kommen Sie. Wir sind vor einer Stunde hier angekommen. Ich bringe Sie zu ihm.”

Eigentlich hatte er den Mann fragen wollen, wie es Nate ging, aber als er nur noch den Rücken sah, traute er sich nicht so recht.

Sie wurden in eine Art Warteraum geführt, wo Nate anscheinend auf sie wartete. In der Uniform, die er trug, erkannte Shinji ihn erst gar nicht.

Er suchte kurz den Blick seines Freundes, konnte aber nichts darin erkennen.

Lily neben ihm war wie erstarrt, weshalb er versuchte das Schweigen, das entstanden war, zu brechen.

“Hi, Nate”, grüßte er steif. “Wie… wie geht es dir?”

Es war schwer zu sprechen. Diese ganze Umgebung hier machte ihn nervös, schüchterte ihn ein und er wusste beim besten Willen nicht, wie Nate reagieren würde. Er hatte Angst… und er wünschte sich nichts sehnlicher, als dass Nates Blick sich lichtete und er ihn in seine Arme schloss und ihm zuflüsterte, wie sehr er ihn vermisst hatte.

Aber sein Blick blieb verschlossen.

Nate kam langsam näher. Er humpelte… und als das Licht günstiger auf ihn fiel, konnte Shinji viele kleine Schnittwunden erkennen.

“Nate…”, wisperte Lily schockiert.

Kennenlernen

Als Nate vor ihnen stand, musterte er sie beide, doch in seinen Augen lag keine Erkenntnis. Er stand auch noch immer in typischer Militärmanier vor ihnen - steif und viel zu gerade.

“Nate, ich bin’s, Lily. Deine Schwester. Erkennst du mich denn gar nicht mehr? Oder ihn? Shinji?”

Shinji war sich nicht sicher, ob das die richtige Herangehensweise war. Aber er verstand, dass es Gefühle gab, die man nicht unterdrücken konnte und die einfach raus mussten. Genauso wie seine gerade: “So viel dann also zu ‘ich bin ein Sniper, ich halte mich sowieso von dem Gröbsten fern’”

Es war auch ein wenig seine Art zu überspielen, dass Nate ihn nicht erkannte. Andererseits musste er etwas sagen, um diese furchtbare Stille zwischen ihnen zu überbrücken.

Er wollte anders sein als Lily, die Nate wahrscheinlich gerade nur unter Druck setzte, aber er war sich nicht sicher, wie er da anstellen sollte.

Zuerst einmal unterdrückte er alle Fragen, die ihm auf der Zunge lagen und Nate sowieso nicht beantworten konnte, und stieß ein Seufzen aus, um den angehaltenen Atem wieder los zu werden.

Danach atmete er noch einmal durch und streckte Nate die Hand hin.

“Hi, mein Name ist Shinji.” Er lächelte Nate nicht an, sondern versuchte, ihn nur neutral anzusehen. Sein blutendes Herz und seine Angst vor der kommenden Zeit versteckte er wohlweislich hinter seiner Maske. Wenn Nate fragen würde, wie sie zueinander gestanden hatten, würde er ihn nicht anlügen, das brachte er nicht über sich und das wusste er jetzt. Aber solange er nicht fragte, würde er ihm auch nichts näheres sagen. Das einzige was gerade für ihn zählte, war bei ihm sein zu dürfen. Hauptsache Nate lebte noch. Alles andere konnte die Zeit hoffentlich wieder richten.

Nate sah nur ratlos zwischen ihnen beiden hin und her, ergriff aber Shinjis ausgestreckte Hand.

Doch statt mit einem von ihnen zu reden, wandte er sich an den anderen Militärkerl: “Und jetzt? Soll ich einen Geistesblitz bekommen?”

Nate klang so genervt, dass Shinji automatisch einen halben Schritt zurückwich.

“Das braucht nur etwas Zeit. Du weißt, was der Arzt gesagt hat.”

Nate gab ein abfälliges Geräusch von sich: “Der Typ hat auch gesagt, dass mir die Gesichter familiär vorkommen… aber das tun sie nicht.”

Als Nate versuchte sich von ihnen weg zu drehen, stöhnte er kurz vor Schmerzen, wahrscheinlich waren unter der Uniform noch wesentlich mehr Verletzungen. Der Drang, zu ihm zu eilen und ihm zu helfen, war für Shinji fast nicht zu ertragen, aber so wie sein Freund reagiert hatte, würde er sich nicht berühren lassen.

War er überhaupt noch sein Freund? Für Nate war er gerade nur noch ein Fremder.

Nate taumelte gegen die Wand, stützte sich daran ab und knurrte frustriert. Angepisst von der allgemeinen Situation, hatte er sich anscheinend entschieden, ihr einfach aus dem Weg zu gehen, denn ohne ein weiteres Wort verließ er einfach den Raum.

Das war nicht typisch für Nate, aber das hier war auch eher eine Ausnahmesituation. Hoffentlich hieß das nicht, dass er sich maßgeblich verändert hatte.
 

Lily wandte sich hilflos an Shinji, sagte aber nichts. Nur ihr Blick fragte stumm, ob er ginge oder sie ihrem Bruder hinterher müsse. Er ging, denn Lily war gerade definitiv nicht in der Verfassung, irgendetwas zu tun. Eigentlich ließ er sie nur ungern allein, aber sie war eine erwachsene Frau, sie würde schon auf sich aufpassen können, er wäre ja gleich wieder bei ihr.

Er fand Nate tatsächlich ein Stück den Gang runter, wo er bei ihm stehen blieb. Die Zeit war nicht lange genug gewesen, dass er sich einen Schlachtplan hätte zurecht legen können. Es gab nur noch eines, worauf er zurückgreifen konnte und das war seine kühle Nüchternheit. Wahrscheinlich war das nicht die beste Umgangsweise, aber alles andere wäre so mit Gefühlen überschüttet, dass das noch schlechter gewesen wäre.

“Ich hab null Ahnung, wie du dich fühlst und genauso wenig Ahnung davon, was du gerade brauchst, was dir gut tut, was dich aufregt oder was in dir welche Reaktion hervorruft.” Die Worte klangen kalt und distanziert, für Shinji waren es reine Informationen. “Ich habe schlicht keine Ahnung, wie ich mit dir umgehen soll. Das sage ich nicht, damit du dich schlecht fühlst… ich sage dir das nur, damit du es weißt und verstehst, warum ich dir jetzt ein paar vielleicht sehr merkwürdige Fragen stelle. Aber durch die Situation müssen wir jetzt beide durch.”

Er sah wie Nate noch einmal sein Gesicht musterte, aber Erkenntnis blieb abermals aus. Er ging aber wenigstens nicht wieder weg, das war wenigstens etwas.

Shinji schob seine Hände in die Hosentasche, damit sein Gegenüber nicht sehen konnte, wie sehr sie zitterten. Sein Herz hämmerte und er hatte Probleme zu atmen, aber er konnte sich jetzt nicht verkriechen. Innerlich ging er das Mantra durch, das er von seinem Therapeuten empfohlen bekommen hatte. Er war Shinji. 31 Jahre alt. Er kümmerte sich um sich selbst. Sie schrieben das Jahr 2019. Er war kein kleiner Junge mehr, der auf den Schutz von Erwachsenen angewiesen war. Er konnte für sich selbst Sorgen.

“Ist es für dich angenehmer, wenn wir uns siezen?”, begann er dann mit den Fragen, doch er wollte auch, dass Nate den Grund dahinter verstand. “Ich will nicht, dass du dich gezwungen fühlst, irgendeine Form von Vertrautheit zu simulieren.”

Eine Weile sah Nate ihn nur an, es dauerte etwas, bis er antwortete: “Siezen? Nein, das wäre wohl noch seltsamer, als es ohnehin schon ist.”

Er seufzte und rieb sich am Kinn, musterte Shinji wieder: “Shinji, ja? Es tut mir leid, ich weiß, dass es für dich und deine Frau… Das ist meine Schwester, oder?”

In Shinjis Kopf erschienen Bilder von einer Kaffeetasse, die mit Lippenstift beschmiert war und auch wenn es schmerzte, dass sein Freund vermutete, dass er mit jemand anderem verheiratet war, musste er Lachen.

“Entschuldige”, schob er sofort ein, weil er nicht wollte, dass Nate sich verarscht fühlte. “Es ist nur… ich hab Lily schon mal für deine Frau gehalten. Es ist irgendwie ironisch, dass du jetzt das selbe bei mir vermutest. Nein… ich bin nicht mit Lily zusammen. Wir sind nur Freunde.”

Das Lachen hatte irgendwie gut getan und er sah sogar, dass Nate etwas schief zurücklächelte.

“Sorry”, entschuldigte der sich, aber Shinji winkte nur ab. “Aber was ich sagen wollte… Es ist bestimmt alles andere als einfach für euch, das ist mir klar. Aber wenn du nicht einmal weißt, wie du mit mir umgehen sollst, wie soll ich das dann wissen?”

Leider hatte er sich das Rauchen durch die Amnesie nicht abgewöhnt, denn er griff in seine Hosentasche und zog eine Zigarette heraus. Als Shinji einen Blick auf die Verpackung erhaschen konnte, sah er sogar, dass es die gleiche Marke war. Die schlimmste seiner Angewohnheiten war geblieben, aber an ihn erinnerte er sich nicht mehr? Shinji biss sich auf die Zunge, weil er sonst vor Frust geschrien oder geheult hätte - vielleicht auch beides gleichzeitig.

“Bleibst du hier oder kommst du mit?”

Er war so in Gedanken gewesen, dass er nicht bemerkt hatte, wie Nate sich weg gedreht hatte. Klar, in diesem Gebäude herrschte sicherlich Rauchverbot.

Nickend schloss er zu ihm auf und langsam gingen sie Richtung Ausgang.

“Mach dir um uns keine Sorgen, okay? Es ist wichtig, dass du wieder auf die Beine kommst. Alles andere kann man hinten an stellen. Keiner erwartet was von dir…” Das war ein bisschen gelogen, aber er wollte nicht, dass Nate sich unter Druck gesetzt fühlte. Das würde nichts besser machen. “Ich geb mir Mühe, dir nicht allzu sehr auf die Nerven zu gehen, aber ich bin nicht gerade der empathischste Mensch auf dieser Welt. Red also einfach mit mir, wenn dich was stört oder auch freut. Ich denke, das ist die beste Methode, um mit der Situation umgehen zu können. So können wir uns noch einmal neu kennenlernen.”

Während er Nate so vor sich hin humpeln sah, begann er abzuwägen, ob es in Ordnung war, ihn danach zu fragen, was passiert war. Aber er entschied, das aufzuschieben. Wahrscheinlich konnte Nate sich sowieso nicht erinnern.

Der hatte zu seinem Vorschlag auch einfach nur genickt und fixierte stoisch den Ausgang, der für sein empfinden, wahrscheinlich viel zu langsam näher kam. “Eigentlich haben sie mir Krücken gegeben, damit ich es entlasten kann… Damit wäre es vermutlich schneller gegangen. Aber es sind Krücken…”

Shinji musste grinsen. “Typisch du”, kommentierte er das nur und war doch froh, dass ein Teil von Nates Persönlichkeit auf jedenfall noch da war. Er war stur wie eh und je und hasste es Schwäche zu zeigen. Wie damals, als er mit einem angebrochenen Fuß gewandert war.

Als sie draußen waren atmete er kurz durch, zumindest solange die Luft noch nicht mit Zigarettenrauch verunreinigt war.

“Erzähl mir was”, forderte Nate nach einem tiefen Zug. “Wie lange kennen wir uns schon?”

Shinji sah geradeaus und lehnte sich gegen die Wand hinter ihm, die Hände noch immer in den Taschen, auch wenn er sich wieder ein wenig ruhiger fühlte.

“Theoretisch seit der High School. Aber du bist damals weg gezogen und wir haben den Kontakt verloren. Wir haben uns erst letztes Jahr wieder getroffen - zwei Wochen bevor du weg musstest. Ich bin es also gewohnt, dich neu kennenzulernen.”

“So gute Freunde können wir ja dann nicht gewesen sein, wenn man durch einen Umzug den Kontakt verliert.”

Shinji seufzte bitter, als er an die Umstände dachte, die dazu geführt haben. “Wenn du willst, erzähl ich dir, wie es dazu gekommen ist. Aber es ist eine etwas längere Geschichte. Es hatte aber nichts damit zu tun, dass wir nicht gut genug befreundet gewesen sind.”

“Erzähl mir lieber was über dich. Was machst du beruflich? Hobbies? Gib mir ein paar Infos.”

Er kratzt sich am Hinterkopf: “Ich bin nicht gut darin, von mir zu reden. Aber ich versuche es mal. Mein Name ist Shinji Yamato, ich bin 31 und arbeite als Freelancer in der Softwareentwicklung. Ich bin ein ziemlicher Eigenbrödler, etwas unordentlich und sensibler als es mir lieb ist. Ich zocke viel, bin ein Serienjunkie und hab eine Schwäche für Technik. Außerdem bin ich eine Nachteule. Normalerweise schlaf ich um diese Uhrzeit noch. Ich glaube, das ist so das meiste, was man über mich wissen sollte.”

Er brachte es nicht über sich, zuzugeben, dass er schwul war. Aber wenigstens log er nicht, auch wenn es sich so anfühlte.

Nate schwieg schon wieder. Er schnippte die Zigarette beiseite und nahm sich die nächste. Irgendwie verständlich, wenn man bedachte, dass er ein Stressraucher war.

“Warum ist es zu dem Kontaktabbruch gekommen?”

Jetzt sah er Shinji eindringlich an, als würde er ihn gerade verhören. Ob er ahnte, dass er ihm etwas verschwieg?

Doch ehe er antworten konnte, ging die Tür auf und Lily kam mit dem Militärkerl heraus. Der Mann hatte einen Rucksack in der Hand, wahrscheinlich waren das Nates Habseligkeiten.

“Ich denke, wir sollten langsam los. Sonst wird es zu spät, bis wir zu Hause sind.”, merkte Lily an und lächelte unsicher zu Nate.

“Wohn ich etwa mit dir zusammen?” Die Irritation war überdeutlich zu hören.

“Äh… nein. Normalerweise nicht. Aber…”

“Nimms mir nicht übel, aber ich wäre gerne dort, wo ich zu Hause bin.”

“Nate… du solltest jetzt wirklich nicht alleine sein. Es ist besser so.”

“… Ich habe vielleicht mein Gedächtnis verloren, aber ich bin bestimmt nicht behindert. Ich brauche keine Aufpasserin.”

Lily sah hilfesuchend zu Shinji und dem Militärkerl, wobei letzterer sich hütete, etwas dazu zu sagen.

Shinji warf einen Blick auf den Fremden in der Runde. Er konnte unmöglich hier preisgeben, dass ein erwachsener Mann bei einem anderen lebte. Er wollte Nate keinen Ärger machen.

“Komm am Besten erst einmal mit zum Auto, ich erklär dir deine Wohnsituation auf dem Weg. Das ist etwas komplexer…”

“Was ist daran komplex? Wohn ich etwa unter einer Brücke oder was?”

Offensichtlich hatte Nates Geduld gelitten, aber es war ihm kaum zu verdenken. Doch ehe er explodieren konnte, drückte ihm der Militärtyp den Rucksack in die Hand. “Wir bleiben in Verbindung, Connors. Und vergessen Sie ihre Rehastunden nicht.”

Bei dem Wort ‘vergessen’, traf den Kerl ein vernichtender Blick, der letztlich auch dafür sorgte, dass er eilig abzog.

Sie setzten sich in Bewegung, während Nate mit einem weiteren Blick zu verstehen gab, dass er jetzt eine Erklärung wollte.

“Du hast zwar eine eigene Wohnung, aber bevor du weg bist, bist du bei mir eingezogen und ich weiß, dass du meine Wohnung definitiv mehr als ‘dein zu Hause’ angesehen hast, als deine eigene.”

Er ratterte das etwas schnell herunter, aber er war auch unglaublich nervös. Entweder würde Nate jetzt darauf plädieren, trotzdem in seine eigene Wohnung zu gehen oder würde fragen, warum er mit jemandem zusammen gezogen war, den er erst zwei Wochen zuvor wieder gesehen hatte.

Shinji wusste, dass er da nicht mehr raus kam, auch wenn er das Gespräch nicht führen wollte, aber es würde sowieso irgendwann raus kommen und dann könnte man ihm wirklich vorwerfen, gelogen zu haben. Oder - und das war sogar noch schlimmer - Nate würde sich an jemand anderen heran machen.

“Warum? Ist deine Wohnung etwa so cool?”

Lily schloss das Auto auf, was Shinji kurz einen Moment gab, um sich eine Antwort zurecht zu legen.

Er wusste, dass genau jetzt der Moment war. Jetzt… genau jetzt. Aber er schaffte es nicht. Ihm blieben die Worte im Hals stecken. Er war ein elendiger Feigling.

“Du fühlst dich da einfach sehr wohl…”, er murmelte das so undeutlich, dass eigentlich klar sein musste, dass er etwas verschwieg. Dass Nate das begriff, sah man an dessen skeptischem Blick. Aber er grummelte nur, lud seinen Rucksack ein und setzte sich dann auf die Rückbank, wo er sein Bein ausstrecken konnte. Damit ersparte er Shinji die schwere Entscheidung, wo er platznehmen sollte. Er setzte sich auf den Beifahrersitz.

Für einige Zeit hingen alle ihren eigenen Gedanken nach, doch erstaunlicherweise war es Nate, der die Stille durchbrach.

“Hey.”

Shinji sah nach hinten und beobachtete, wie Nate das Bein von der Rückbank nahm und sich zu ihnen vorlehnte. “Gibt es da draußen eigentlich jemanden, der auf mich wartet? Wo ist denn die Person, der ich das hier schreiben wollte?”

Vollkommen schockiert las Shinji die Worte auf dem Handydisplay.

Offenbarung

Es war eine Reaktion, die er nicht unterdrücken konnte, auch wenn er wollte. Eine Hand presste sich auf seinen Mund um ein Schluchzen zu verhindern, während sich seine Augen sofort mit Tränen füllten.

Für einen kurzen Augenblick, fühlte es sich an, als wäre Nate gestorben. Dieses Gefühl überwältigte ihn so sehr, dass er eine Weile nur die Worte anstarrte, und stumme weinte.

‘Ich hoffe, dir ist klar, dass du mich jetzt wirklich nicht mehr los wirst. Ich will mit dir alt werden. Ich hoffe, du weißt das. Ich lie ‘

Ob Nate das kurz nach ihrem letzten Telefonat geschrieben hatte? Warum nur hatten sie beide so viel Pech? Erst der Umzug und das Video, jetzt die Amnesie. Manchmal fühlte es sich an, als würde jemand sie dafür bestrafen, dass sie sich liebten.
 

“Sorry”, murmelte Shinji, als er sich einigermaßen gefangen hatte und wischte sich schnell die Tränen weg. Es war eigentlich sowieso zu spät. Der Schaden war da. Nate konnte sich auch ohne seine nächsten Worte denken, was los war. Aber er wollte es ihm dennoch sagen.

“Die Nachricht wird für mich gewesen sein… du wohnst bei mir, weil wir zusammen sind.”

Er starrte in seinen Schoß, wo seine Hände sich umeinander krampften. Jetzt war es raus. Klar besser früher als später, aber er hatte so unglaubliche Angst vor Nates Reaktion. “Es tut mir leid” Es war schwer nicht doch noch zu schluchzen. “Du hast sicherlich eine Frau erwartet.”

“Hm…”

Shinji saß vollkommen verkrampft da, während Nate einfach schwieg. Er hasste Stille, doch der Drang etwas sagen zu müssen, war nicht groß genug, um die Angst zu besiegen, jetzt etwas falsches zu sagen.
 

“Lily, kannst du kurz rechts ran fahren?”

Nates Stimme durchschnitt die Stille, wie ein Peitschenschlag und sie klang auch genauso scharf. Nate klang wütend. Natürlich klang er wütend, wer würde das nicht?

Da sie gerade auf einer Landstraße waren, konnte Lily das Auto leicht an die Seite lenken, wo Nate dann auch ausstieg.

Shinji erwartete, dass er eine Rauchen wollte oder vielleicht sogar weglief, stattdessen kam Nate an seine Seite heran und riss die Beifahrertür auf.

“Nate? Was wird das?”, hörte er Lily fragen und irgendwie erwartete er, dass Nate ihn einfach aus dem Sitz riss, was nicht geschah. Bewegen konnte er sich dennoch nicht.

“Nur ein kleines Gespräch unter vier Augen”, wurde der Fahrerin geantwortet, dann richtete sich Nate direkt an ihn. “Kommst du? Es dauert auch nicht lange.”

Steif löste er den Gurt aus der Befestigung, dann stieg er aus. Er konnte Nate nicht ansehen, der sich jetzt einige Meter vom Auto entfernte. Als er ihm folgte, fühlte es sich an, als würde er zur Schlachtbank geführt.

Als Nate stehen blieb, war er so panisch, dass er nichts anderes konnte, als zu reden. Er musste reden, er musste das wieder richtig stellen, bevor Nate ganz aus seinem Leben verschwand. Er würde es nicht ertragen, wenn Nate einfach ging und er ihn nie wieder sah. Das musste er verhindern.

“Es tut mir leid! Ich weiß, du hast eine Frau erwartet und es tut mir leid, dass ich dich da enttäuschen muss. Aber bitte geh nicht! Ich will dir nur auf die Beine helfen. Wenn du mit zurück in die Wohnung kommst, schlafe ich selbstverständlich auf dem Sofa. Du brauchst nichts zu befürchten. Ich fasse dich nicht an oder bin sonst irgendwie aufdringlich. Nur lass mich dir bitte beistehen. Nur bis deine Verletzungen wieder verheilt sind und du dich wieder eingewöhnt hast.”

“Warte, warte, warte…”

Shinji zuckte automatisch etwas zurück, als Nate die Hände hob, doch es war keine bedrohliche, eher eine beschwichtigende Geste. “Um das mal vorweg zu nehmen: Ich weiß nicht, wofür du dich entschuldigst. Ich habe kein Problem damit, dass du ein Kerl bist. Ich habe eher ein Problem damit, dass ich mit jemandem zusammen wohnen soll, mit dem ich offensichtlich in einer Beziehung war - oder bin, keine Ahnung - und von dem ich bis jetzt nicht einmal wusste, dass es ihn gibt. Ich weiß, du hast gesagt, dass nichts von mir erwartet wird und dass du mir nur helfen willst, aber tief in dir hoffst du doch, wieder zu dem alten Zustand zurückzukehren, oder etwa nicht? Dir muss klar sein, dass ich wahrscheinlich nicht mehr derselbe bin, der ich einmal war. Bist du dir wirklich sicher, dass du mich so in deiner Nähe haben willst? Ich kenne dich nicht mehr. Die gemeinsamen Tage, die wir miteinander verbracht haben, existieren für mich nicht. Ich gebe dir also hier und jetzt die Möglichkeit, einen Schlussstrich zu ziehen. Wenn du trotzdem der Meinung bist, dass du mir helfen willst, indem ich bei dir wohne, dann sage ich natürlich ‘Danke’, auch wenn ich nach wie vor davon überzeugt bin, dass dir das nicht gut tun wird.”

Für die meisten Menschen wäre diese Ansprache hart gewesen, aber Shinji war so erleichtert, dass ihm kurz schwindlig wurde.

“Was ein Glück…”, stieß er aus und wischte sich kurz durchs Gesicht, um Zeit zu haben, sich wieder ein wenig zu sammeln.

“Ich weiß das”, betonte er mit fester Stimme und sah dann zu Nate auf. “Das Ankommen in der Realität mag noch ein wenig auf sich warten, das gebe ich zu, aber ich weiß das. Und natürlich hoffe ich, dass wir irgendwann dort wieder weitermachen können, wo wir aufgehört haben. Und mir ist bewusst, dass das in der ersten Zeit hart wird und danach auch hart bleibt und ich habe Angst vor dieser Zeit und wie es laufen wird und ich habe Angst, dass du eines Tages wieder ausziehen wirst. Ich fühle mich unsicher und verwirrt und traurig… aber selbst wenn ich jetzt bereits wüsste, dass du irgendwann fort gehst, würde das nichts daran ändern, dass ich dir helfen möchte. Meine Türen stehen dir offen. Jederzeit. Da muss schon mehr passieren, als eine Amnesie, damit sich das ändert. So schwer es auch werden mag und so wenig es mir gut tun wird… ich unterstütze dich und bin für dich da, bis zu dem Zeitpunkt, an dem du mich vollkommen von dir schiebst und kein Sekunde früher.”

Nate schien für einen Moment sprachlos. Es flackerten verschiedene Emotionen durch sein Gesicht, die Shinji alle nicht deuten konnte.

“Dass du das alles in Kauf nimmst…”, murmelte er dann, “Ich muss ja echt ein Held gewesen sein.”

Sein Blick war auf den Boden gerichtet und er verlagerte sein Gewicht auf das andere Bein. Shinji ließ ihm die Zeit, alles abzuwägen.

“Okay”, war schließlich die Antwort. “Wir können es ja versuchen. Diese Frau da im Auto wird mich ohnehin nicht alleine wohnen lassen.”

Es war ein traurig, dass Nate seine eigene Schwester, die er wirklich liebte, als ‘diese Frau’ betitelte. Aber sie mussten wohl alle in Kauf nehmen, dass es eben so war.

“Ja”, bestätigte Shinji deshalb nur und grinste leicht schief, “Sie zieht eher mit in deine Wohnung, als dich allein zu lassen.”

Wenn er so darüber nachdachte, hatte er keine wirkliche Ahnung, wo Nates Wohnung eigentlich war. Er hoffte, dass sich das Militär um das Finanzielle gekümmert hatte.

Nate deutete ihm an, dass er zum Auto zurück sollte, doch er blieb noch kurz stehen. Da war noch etwas, auf das er Nate vorbereiten sollte: “Ehm… ich will nicht, dass du zu sehr überrumpelt wirst, auch wenn die ganzen Infos für dich wahrscheinlich ziemlich überwältigend sind und dann kannst du dich während der Fahrt schon einmal vorbereiten… du hast eine Nichte, noch recht jung, die dich absolut vergöttert. Das könnte schwierig werden, wenn ihr das erste Mal aufeinandertrefft. Noch weiß sie nicht, dass du zurück bist und ich denke auch nicht, dass ihr euch heute noch begegnen werdet, aber falls dir mal ein Mädchen freudestrahlend um den Hals fällt, weißt du, dass es Hana ist.”

Da ihn Nate eben schon aufgefordert hatte, zum Auto zu gehen und er jetzt akut keine Fragen zu haben schien, wollte er ihm den Freiraum lassen, sich alles durch den Kopf gehen zu lassen. Als er sich wieder ins Auto setzte, lächelte er Lily kurz zu und nickte.

Jetzt, wo das alles erst einmal geklärt war, fiel ihm ein riesiger Stein vom Herzen. Er hatte das Gefühl endlich wieder atmen zu können und das machte alles ein klein wenig leichter. Jetzt hatte er etwas, womit er arbeiten konnte und er würde alles daran setzen, Nate bei sich behalten zu können. Den Rest konnte nur die Zeit zeigen.
 

“Ich würde dich gerne zusammen mit Shinji zum Essen einladen. Vielleicht nächstes Wochenende? Was meinst du?”

Sie standen gerade vor Shinjis Wohnung und er stellte zufrieden fest, dass er nicht panisch darüber nachdachte, was seine Nachbarn wohl dachten, wenn erneut ein Mann bei ihm wohnte. Er machte wirklich Fortschritte.

“Klar”, antwortete Nate, aber niemand hätte wohl erwartet, dass er zu solch einer Einladung tatsächlich ‘nein’ sagte. Taktgefühl war eine Charaktereigenschaft, die wohl selbst eine Anmesie überdauerte - oder Nate wollte tatsächlich seine Schwester neu kennenlernen.

Als die sich dann abwenden wollte, wurde sie tatsächlich aufgehalten.

“Danke, Lily… wirklich.”

Da war wohl doch mehr von dem sanftmütigen Riesen übrig geblieben, als gedacht. Nate wusste immer noch hervorragend mit Menschen umzugehen. Das hier war ein wichtiger Schritt.

“Du brauchst dich nicht bedanken, Nate. Ich bin nur froh, dass du wieder hier bist.”

Lilys Lächeln wirkte ein wenig traurig. Shinji konnte das verstehen. Denn eigentlich war ein riesiger Teil von Nate noch nicht angekommen. Hoffentlich verspätete er sich einfach nur.

“Da waren es nur noch zwei.”

Vollkommen aus den Gedanken gerissen, sah er Lilys Wagen nur noch davonfahren. Oh, jetzt hatte er sich gar nicht verabschiedet.

Es war ein merkwürdiges Gefühl, jetzt allein mit Nate zu sein. Auch wenn Lily bisher kaum etwas gesagt hatte, fühlte er sich doch ein wenig allein gelassen. Es war Blödsinn, das wusste er, aber dennoch verschwand das leicht beklemmende Gefühl nicht. Er würde gleich erst einmal die nächste Dosis der Tropfen nehmen, sonst würde er gar nichts auf die Reihe kriegen. Ab morgen müsste er die aber drastisch reduzieren. Er wollte nicht abhängig von dem Zeug werden. Er musste sich immer wieder vor Augen halten, dass sie nicht die Lösung zu allem waren. Aber darum würde er sich morgen kümmern. Heute durfte er das. Heute war eine Ausnahmesituation.

Als er die Stufen zu der Eingangstür hinunter ging, warnte er Nate aber vor: “Ich hoffe du kommst mit meiner Wohnung zurecht. Es isst Souterrain, mit nur zwei Zimmern, einer Wohnküche und einem Bad. Und das einzige Fenster ist in der Wohnzimmerhälfte.”

Er schloss die Tür auf und schaltete das Licht ein.

“Das Schlafzimmer ist gleich gerade aus. Im Schrank sind deine Sachen. Im Bad rechts daneben findest du einen Wäschekorb für deine Schmutzwäsche. Kann ich dir was anbieten? Wasser? Cola? Kaffee? Was zu essen?”

“Du hast gesagt, ich hätte mich hier wie zu Hause gefühlt, oder? Ich wüsste nicht, warum sich das plötzlich ändern sollte.”, sagte Nate, während er im Schlafzimmer verschwand um sich dort umzusehen. Shinji bewegte sich Richtung Küche. Wenn alle Türen offen waren, konnte man auch recht leicht durch die gesamte Wohnung kommunizieren.

Er wies Nate nicht extra darauf hin, dass er sich hauptsächlich so wohl hier gefühlt hatte, weil er mit ihm zusammen gewohnt hatte. Nicht, weil er die Wohnung so toll fand.

“Essen wäre nicht schlecht”, hörte er die Stimme aus dem Schlafzimmer. Sofort sah er in den Kühlschrank um zu schauen, was er da hatte. Vor lauter Aufregung hatte er nicht eingekauft, aber es war auch eigentlich nicht sein Einkaufstag gewesen. Es fiel ihm momentan schwer etwas anderes zu tun, als das, was seine Routine vorschrieb, deshalb vergaß er Dinge oft, wenn sie zum falschen Zeitpunkt eintraten.

“Hast du auf was bestimmtes Lust?”, fragte er zurück. Mittlerweile hatte er sich das Kochen weiter selbst beigebracht. Dadurch, dass Hana oft bei ihm war, war das auch notwendig geworden und es machte ihm wirklich Spaß. Es war wie ein neues Hobby und sogar Lily lobte ihn oft dafür, für die er oft mitkochte, wenn sie eine Spätschicht hatte. Er hatte Nate damit überraschen wollen, aber dann musste es jetzt eben so gehen. Man konnte nicht alles im Leben haben. Auch wenn die Enttäuschung bitter schmeckte.

“Du bist wahrscheinlich auf Schmerzmitteln, aber ich kann dir auch Bier anbieten, wenn du willst.”

Er bemerkte erst, nachdem er das ausgesprochen hatte, wie falsch der Zeitpunkt war. Das klang, als wolle er ihm Bier als Essensersatz andrehen.

Er grinste über seine eigene Schusseligkeit.

“Dazu sag ich nicht nein”

Er zuckte erschrocken zusammen, als die Stimme plötzlich viel zu nah bei ihm war. Nate hatte sich zum Glück umgezogen und stand wieder in Jeans und Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln im Türrahmen. Das war so viel besser.

“Und ich esse alles. Mach dir bloß keine Umstände beim Kochen.”

Shinji wandte sich wieder dem Kühlschrank zu und kramte ein paar Sachen heraus.

“Okay, wenn ich eine rauche? Ich stell mich auch ans Fenster.”

Shinji schmunzelte, weil es exakt die gleiche Frage wie damals war. Deshalb gab er ihm auch die gleiche Antwort: “Solange du es wirklich am Fenster machst, ist das kein Problem.”

Er stellte eine Flasche Bier auf die Küchenzeile, auch wenn er das Fenster schon hörte und verteilte dann die Zutaten.

Als er sich kurz zu seinem Mitbewohner umwandte, hielt er inne. Der stand so friedlich und normal am Fenster, dass es für einen Moment schien, als wäre alles beim Alten. Er gab sich diesem Augenblick ganz hin, wandte sich erst ab, als er spürte, wie sich wieder Tränen in seinen Augen sammelten.

Mit einem geübten Griff, nahm er sich seine Notfalltropfen und spülte sie mit etwas Wasser hinunter.

Dann begann er zu kochen und bemerkte nach ein paar Minuten erleichtert, wie er sich zu entspannen begann. Leider nahm auch die Müdigkeit deutlich zu, aber die konnte er bekämpfen.

Als Nate plötzlich hinter ihn trat, um ihm über die Schulter zu schauen, hätte er sich beinahe aus alter Gewohnheit an ihn gelehnt, aber er bekam gerade noch so die Kurve.

Nate nahm sich das Bier und trank einen Schluck, ehe er sich neben ihn an die Küchenzeile lehnte. “Und jetzt verrate mir mal, wie es zu dem Kontaktabbruch gekommen ist. War ich nicht treu? Warst du nicht treu?”

Das war das, was Nate vermutete? Ob er jetzt die ganze Fahrt darüber nachgedacht hatte, was er damals falsch gemacht hatte? Oder was Shinji falsch gemacht hatte? Er hätte die Frage gleich beantworten sollen… aber er hatte es wirklich bei all der Aufregung vergessen.

“Wir sind beide nicht die Typen zum Fremdgehen”, informierte er ihn deshalb sofort. Es war etwas schwierig darüber zu reden, aber die Tropfen halfen ihm, einfach weiter zu sprechen:

“Du wusstest schon recht lange, dass du schwul warst, aber mir ist das erst mit fünfzehn langsam klar geworden. Ich hab es versteckt, weil mein Vater sehr konservativ ist und ich anfangs gar nichts damit anfangen konnte. Nach einer ganzen Menge Alkohol auf einer Party, hab ich dann mit dir, meinem damals besten Freund, darüber gesprochen. Hab dir erzählt, dass ich merkwürdige Träume hätte… meistens von dir… und nachdem du lang genug gestochert hast, hab ich dir dann auch erzählt, dass es häufig um Sex ging und dass ich dachte, Gefühle für dich zu haben… wir haben in der Nacht zum ersten Mal miteinander geschlafen. Aber falls es dich beruhigt… du hast dich auch vorher schon nicht daran erinnern können. Du bist kurz danach weg gezogen… wir haben nie darüber gesprochen gehabt, was passiert war, weil du dich nicht erinnern konntest. Von dieser einen Nacht exisitert ein Video, das in der Schule rum ging. Damals haben die Leute ganz und gar nicht gut darauf reagiert, dass ich schwul bin und zu allem Überfluss hat mein Vater mich mit achtzehn dann rausgworfen.Er hat mir nie gesagt, dass du angerufen hattest und ich hab meine ganze Wut und den Frust über die Situation auf dich projiziert. Hab gedacht, du hättest mich absichtlich allein gelassen… hättest mich im Stich gelassen. Manchmal hab ich sogar gedacht, das ganze wäre mit dir zusammen inszeniert worden. Das war natürlcih dumm und das wurde mir auch schnell klar, als wir uns dann fünfzehn Jahre später wieder gesehen haben. Aber… das ist die Geschichte, warum der Kontakt abgebrochen ist.”

Als er noch einmal zu Nate sah, starrte der einfach ins Leere. Er ließ ihn und kümmerte sich stattdessen weiter um das Essen.

“Ich schätze mal, dein Vater und ich waren keine guten Freunde?”

Nate trank die Flasche in einem Zug aus und stellte sie dann ein wenig geräuschvoller, als vielleicht notwendig, wieder ab.

Shinji musste aber leise lachen: “Nein, ich musste dich damals ständig davon abhalten, dich mit ihm anzulegen. Und umgekehrt hab ich sehr oft wegen dir Ärgen bekommen.”

Jetzt so darüber nachzudenken, weckte Glücksgefühle in ihm, aber damals war das gar nicht witzig gewesen. Nur wenn Nate mal wieder gedroht hatte, seinem Vater die Meinung mal ordentlich zu geigen, hatte die Angst auch ein warmes Gefühl begleitet. Nate war immer nur ausgeflippt, wenn sein Vater, nach der Meinung seines Freundes, mal wieder vollkommen übertrieben hatte.

Nate nickte nur und musterte ihn dann von der Seite: “Ich würde mich übrigens freuen, wenn du von mir nicht in der Vergangenheit sprechen würdest. Ernsthaft. Sonst fühle ich mich wie ein Eindringling, der in die Fußstapfen eines Verstorbenen tritt. Ich weiß, ich hab dir gesagt, dass ich nicht mehr der bin, der ich einmal war, aber das macht es nicht gerade einfach, zu mir zurück zu finden, wenn du mich als zwei verschiedene Personen betrachtest…… Ich hoffe, du verstehst, was ich meine. Denn ich hab keine Ahnung, wie ich es dir erklären soll.”

Nate sah frustriert aus oder eher noch frustrierter als sowieso die ganze Zeit schon. Aber Shinji fragte sich wirklich, wann er von ihm gesprochen hatte, als wäre er verstorben.

“Du kannst also davon ausgehen, dass ich noch immer schwul bin. Ich glaube nicht, dass sich das durch die Anmesie geändert hat.”, spezifizierte Nate noch einmal und das machte es tatsächlich klarer.

“Oh, nein, so war das nicht gemeint. Das war eher ein ‘zu dem Zeitpunkt, als ich mich dir offenbart habe, wusstest du schon länger…’. Ich hab’s nur falsch Ausgedrückt. Aber ich achte künftig darauf, tut mir leid.”

“Okay”, antwortete sein Gegenüber nur und schien zufrieden.

Irgendwie war es ja merkwürdig. Er hatte zu eigentlich gar nichts eine emotionale Reaktion von Nate bekommen. Das einzige Mal war gewesen, als er vor Frust den Raum verlassen hatte. Es schien so, als ob er einfach nur Informationen sammelte und diese nur rational verwertete. Er verhielt sich jetzt wie Shinji sonst, wenn er überfordert war. Dann war er auch oft nicht in der Lage, Informationen die er bekam, mit Emotionen zu verbinden, sondern nahm sie einfach hin und wunderte sich dann, warum man ihn abwartend ansah. Es war ehrlich merkwürdig mal auf der anderen Seite zu stehen.

Stur

Nate warf einen Blick auf die Korktafel, an der noch immer alltägliche Hinweise hingen. Sie waren ein wenig anders, als noch vor etwa einem Jahr. Statt 'geh vor die Tür' oder 'Mach auch mal Pause' hingen da jetzt Hinweise wie 'Geh liebevoll mit dir um' oder 'Erden'.

Ersteres bedeutete ganz allgemein, dass er auf sich selbst achten sollte. Dazu gehörte ein ruhiges Frühstück, ein Kühlschrank, der immer hatte, was er brauchte und der ordentliche Umgang damit, wenn er einmal etwas nicht hin bekam. Die Erdung war das, was er vor einigen Stunden getan hatte. Das innerliche Mantra, dass sie das Jahr 2019 schrieben, er 31 Jahre alt war, für sich selbst sorgte und nicht mehr abhängig von irgendwelchen Erwachsenen war.

Die Erdung war gut, um alte Traumata zu bewältigen, weil sie daran erinnerte, dass diese Zeit vorbei war.

Es hing noch mehr von diesem Psychokram dort und es half. Auch wenn er nicht genau sagen konnte warum, aber es half.

Dort hing auch eine krakelige Blume, die mit dem Namen 'Hana' unterschrieben war. Die Kleine übte fleißig, aber das war ihr erstes Bild, das sie für ihn gemalt hatte und auch wenn er es unsagbar hässlich fand, brachte er es nicht übers Herz, es weg zu werfen. Das war wohl der Charme von Kindern. Er hätte sich nie träumen lassen, einmal mit einem wirklich klar zu kommen. Dennoch waren ihm Teenager lieber. Die waren zwar trotziger und aufmüpfiger, aber wenigstens hatte er das Gefühl, sich mit denen auf einem Level unterhalten zu können.

"Und obwohl du sauer warst, sind wir innerhalb von zwei Wochen ein Paar geworden?"

Die Stimme kam unvermittelt und riss ihn schon wieder aus seinen Gedanken. Er war es nicht mehr gewohnt, jemanden ständig um sich zu haben und er war müde und ausgelaugt, das trug viel dazu bei.

Aber ehe er antworten konnte, winkte Nate schon wieder ab. Warum, wusste Shinji nicht genau, aber er respektierte den Wunsch.

"Erzähl mir was, was ich noch nicht wissen sollte. Was hast du gestern gemacht?"

Anscheinend tat Nate sich selbst das an, wovor er angst gehabt hatte, dass er es ihm antun würde: Nate überforderte sich.

Wäre es nicht vielleicht doch besser, er würde erst einmal etwas Abstand von allem bekommen?

Nein, das klang nicht wirklich danach, als könne es funktionieren.

"Nichts besonderes", murmelte Shinji nachdenklich und achtete darauf, dass nichts anbrannte. "Ich bin gegen drei Uhr nachmittags aufgestanden, um gemütlich in den Tag starten zu können. Weil ich nachts am besten Arbeiten kann, habe ich mich nach dem Frühstück im Internet vergraben, um Zeit totzuschlagen. Ich habe mit Bekannten gezockt und irgendwann gegen Abend kam der Anruf von Lily. Danach… puh… ich kann's dir gar nicht so genau sagen. Ist alles ein bisschen verschwommen. Ich denke, ich bin hauptsächlich nervös durch die Wohnung getigert und hab Panik geschoben und mir Sorgen gemacht."

Es war wieder still zwischen ihnen. Wahrscheinlich verarbeitete Nate nur wieder die Daten. Shinji hatte auch versucht sachlich zu bleiben, aber es fiel ihm schwer, denn der Drang, sich an seinen Freund zu schmiegen und einfach nur zu genießen, dass er da war, war groß. Sehr groß.

"Du solltest dir keine Sorgen machen, Kleiner."

Er ließ fast das Kochbesteck fallen und riss den Kopf herum, erwartete, dass Nate da stand, lächelte und ihn wieder voller Liebe anblickte.

Aber als er wieder nur in das ausdruckslose Gesicht sah, wusste er, dass es nur Zufall gewesen war.

Er lachte bitter. Es blieb ihm fast im Hals stecken.

"Jetzt hast du schon alles vergessen und ich bin den Spitznamen immer noch nicht los? Verdammt, ich hab aber auch gar kein Glück."

Er gluckste freudlos und versuchte sein deprimiertes Gesicht vor seinem Mitbewohner zu verbergen, indem er sich wieder aufs Kochen konzentrierte.

Er fühlte sich mieserabel, versuchte aber, es zu verstecken, weil er Nate das nicht antun wollte. Er wollte keine Ansprüche stellen und ihm nicht ständig zeigen, dass er immer noch hoffte, dass Nate sich einfach plötzlich wieder erinnerte. Er wollte ihm wirklich nur beistehen, aber das war schwer.

Und er machte seinen Job nicht besonders gut. Nate ging plötzlich in die Mitte des Raumes, sah sich kurz um, schnaubte frustriert, zog eine düstere Miene und marschierte in den Flur. Ein paar Sekunden später, fiel die Haustür geräuschvoll ins Schloss.

Stumm stellte Shinji den Herd aus und ließ sich einfach zu Boden sinken. Er schluchzte laut, weil er sich sicher war, dass ihn sowieso niemand hörte.

Er war so verzweifelt und verunsichert und so unglaublich wütend. Wütend auf Nate und auf das Schicksal und diesen verdammten Krieg und auf den Rest der Welt.

Womit hatten sie beide das verdient? Hatten sie nicht schon genug Schwierigkeiten? Warum das jetzt auch nocht?

Das war doch einfach nur zum Kotzen!

So saß er da und weinte endlich die Tränen, die er die ganze Zeit zurückgehalten hatte.

Er lauschte ständig, denn Nate sollte das auf keinen Fall mitbekommen, es würde ihn nur weiter von ihm weg treiben.

Irgendwie mussten sie einen Weg finden, mit der Situation klar zu kommen. Aber er sah einfach keinen.
 

"Sorry, dass du warten musstest."

Zum Glück bewegte sich Nate nur langsam, deshalb hatte er genug Zeit gehabt, um aufzuspringen und sich kurz das Gesicht an der Spüle zu waschen. Zumindest hatte er das vor gehabt.

Aber wie immer, wenn er versuchte, irgendetwas schnell zu tun, ging das schief.

Mit viel zu viel Schwung war er aufgesprungen und wollte gleichzeitig zur Spüle hin, die einen guten Schritt neben ihm war. Das Resultat war ein Gleichgewichtsverlust, der ihn zur Seite kippen ließ. Der Versuch, sich noch abzufangen, endete darin, dass er den Ellbogen auf die Arbeitsplatte donnerte und mit einem lauten Schlag wieder zu Boden ging. Dort hielt er sich wimmernd den Ellbogen.

"Fuck!"

Als Nate also die Küche betrat, lag er noch immer da und wartete darauf, dass dieser ekelhafte Schmerz nachließ. Wenigstens konnte er die geröteten Augen jetzt den Schmerzenstränen zuordnen, auch wenn er vor Nate dann wohl als totaler Weichling dastand.

"Kein Problem", ächzte er. "Ich muss das Essen nur wieder warm machen."

Nate beugte sich verwundert über ihn.

"Wie hast du das denn geschafft? Hat dich die Küche attackiert?"

"Nein, viel gewaltiger. Die ganze Erde ist plötzlich nach rechts gekippt und ich konnte mich nicht mehr schnell genug festhalten."

Er grinste etwas verlegen, doch das fiel wieder, als er Nates ernste Miene sah.

"Shinji… ich…"

Was? Nein! Nein, nein, nein, nein! Nate war noch keine Stunde hier und da kam er mit diesem 'wir müssen reden' Tonfall? Nein!

"Kann ich dir helfen?"

Es brauchte einige Sekunden, bis er die neue Situation erfassen konnte. Das ging seinem müden Hirn viel zu schnell.

Automatisch hielt Shinji ihm die Hand hin, damit er ihm aufhelfen konnte. Nicht, weil er unbedingt Hilfe brauchte, sondern einfach nur, damit er ihn endlich berühren konnte. Der kurze Handschlag zuvor, war viel zu kurz gewesen.

Doch noch während er hoch gezogen wurde, wurde ihm bewusst, dass die Situation von gerade nur kurzfristig vorbei war. Wenn sie jetzt nicht darüber sprachen, würde ihr ganzes Konstrukt eher früher als später implodieren.

"Ich hab auch darüber nachgedacht, dir vorzuschlagen, dass du erst einmal in ein Hotel zeihst und wir das einfach vor Lily verheimlich. Aber das werde ich dir nicht vorschlagen. Ich könnte dir natürlich tausend Gründe nennen, warum es für dich besser ist, wenn du hier bleibst… aber das sind alles nicht die Gründe, warum ich will, dass du bleibst. Ich kann dich nicht weggehen lassen… denn wenn du dich von mir fern hältst, verliere ich dich ganz. Und das lasse ich nicht zu. Es tut mir leid, dass du mich am Bein hast. Uns geht es beiden mit der Situation beschissen, aber da müssen wir jetzt eben durch. Ich lass dich nicht weglaufen, egal wie wahnsinnig ich dich mache. Du wirst mich nicht mehr los… schon gar nicht nach nur ein paar Stunden. Also… statt den einfach Weg zu gehen, musst du wohl den schwereren nehmen und einfach mit mir darüber reden, was dich ankotzt. Leb damit… du hast wirklich keine andere Wahl."

Er würde Nate nicht aufgeben. Er konnte nicht. Auch wenn die Worte hart klangen, aber Nate sollte nie wieder, auch nur kurz darüber nachdenken, zu gehen. Er würde das nicht zulassen.

Statt einer Antwort, wurde er von Nate ungläubig angestarrt, aber das machte nichts. Er starrte zurück. Er wollte ihm klar machen, dass er dieses Gespräch, wenn es sein musste, auch jede neue Stunde noch einmal mit ihm führen würde, bis es in seinem Schädel angekommen war, dass er ihn nicht aufgeben würde.

Dann wurde er an den großen Körper gezogen. Viel zu vertraut, wurde ihm durchs Haar gewuschelt, dann legte Nate sein Kinn auf seinen Schopf und schloss zögerlich die Arme um ihn.

Er hätte gleich wieder anfangen können zu heulen, aber er zwang sich zur Ruhe, erwiderte nur die Umarmung und schmiegte sich vorsichtig an ihn. Er war sich nicht sicher, ob er sich je in seinem Leben so euphorisch gefühlt hatte.

Das war einfach nur der Wahnsinn.

Er war so mit seinen überschwänglichen Gefühlen beschäftigt, dass er Nate fast nicht gehört hätte: "Warum hängst du nur so an mir? Im Prinzip könntest du jeden haben."

Shinji konnte nicht anders als zu schmunzeln.

"Weil du mich immer so genommen hast, wie ich bin.", antwortete er sanft undv vergrub sein Gesicht leicht in Nates Brust. "Egal, was ich angebracht habe, egal, wie hoch ich meine Mauern gezogen habe, du hast mich nie ändern wollen. Du hast mich nur unterstützt, mir geholfen. Es war egal, welche Fehler ich dir von mir gezeigt habe… ob es nun meine Antisozialität war oder meine Homophobie… und während ich vor Selbstzweifel fast vergangen bin, weil du so perfekt und ich so kaputt bin, hast du mir gezeigt, dass du mich für genauso perfekt hältst, wie ich dich. Du hast so viel auf dich genommen, damit es mir besser geht, hattest so unglaublich viel Geduld mit mir und hast mich niemals aufgegeben. Und obwohl du dich damals in den 17 jährigen Partylöwen verliebt hattest, hast du nicht eine Sekunde lang den Eindruck erweckt, als würdest du dir den zurück wünschen. Du hast mich neu kennengelernt und dich neu in mich verliebt und… und… ich weiß nicht… alles das und noch tausend Sachen mehr. Ich will niemand anderen als dich und ich bin mir sicher, schon nach diesen paar Stunden, dass ich mit dem neuen 'du' so empfinden werde. Ich werde dich auch ganz neu kennenlernen und wir werden zusammen neue Erinnerungen schaffen. Du wirst sehne… mit mir hast du nur zwei Wochen und ein paar Telefonate verloren. Das kriegen wir schnell wieder aufgeholt. Wir haben dann auf jedenfall genug Beschäftigung, findest du nicht? Schließlich müssen wir zusammen rausfinden, was du magst und nicht magst. Ich glaube, das kann auch ziemlich viel Spaß machen."
 

Okay, er sah selbst ein, dass er es damit etwas übertrieben hatte und er hatte auch zwischendurch mehrmals den Faden verloren und das Thema gewechselt. Aber er hatte sich einfach nicht zurückhalten können. Es war aus ihm herausgesprudelt, weil er gerade einfach so glücklich war. Konnte man ihm das verdenken? Schließlich lag er endlich wieder in Nates Armen, es gab kein schöneres Gefühl.

Zum Glück schien Nate sich nicht unterkriegen zu lassen: "Spaß, was? Du hast eine seltsame Definition von Spaß" Der neckende Tonfall beflügelte Shinji noch weiter, obwohl Nate ihn jetzt ein wenig von sich weg drückte. "Aber das klingt nach nem guten Plan."

Shinji grinste schief und zuckte etwas die Schultern: "Ich hab eine ziemlich seltsame Definition von so gut wie allem…"

Er sah Nate in die Augen, die jetzt wesentlich offener wirkten. Der harte Zug um seine Mundwinkel war verschwunden, die Haltung wirkte entspannter.

"Nur red mit mir, ja? Ich weiß, es fällt schwer, jemand Fremden offen seine Gedanken und Gefühle mitzuteilen. Aber es ist notwendig, damit es dir besser geht. Denn wenn ich nicht weiß, wie es dir geht, kann ich dir nicht helfen. Wenn dir Dinge auf die Nerven ehen oder du frustriert bist, dann sag mir das, das ist vollkommen in Ordnung. Aber umgekehrt solltest du mir auch sagen, wenn du was gut fandest. Ich bin nicht besonders empathisch. Ich sehe zum Beispiel, dass deine Körperhaltung etwas entspannter ist, aber dennoch hab ich keine Ahnung, ob du mich umarmt hast, weil dir selbst danach war oder weil du dachtest, du müsstest das machen. Und ich kann auch nicht sagen, ob für dich die Umarmung wirklich etwas positives hatte."

"Das ist wirklich bemerkenswert", erwiderte Nate mit einem verhaltenen Grinsen. "Du kannst gleichzeitig süß und nervig sein."

Es dauerte einige Sekunden, bis in seinem Hirn angekommen war, dass Nate ihn nicht nur als süß bezeichnet hatte. Oh Mann… gut… er hatte es wirklich übertrieben.

"Ich habe nach Reflex gehandelt. Aber ich muss zugeben… du hast irgendwas Beruhigendes."

Nate schien ihm nicht böse zu sein, aber er beschloss, vorsichtiger mit seinen Redeschwällen zu sein.

"Sorry", sagte er aber dennoch. "Ich hab das Bedürfnis, Leuten, die ich mag, eine Gebrauchsanweisung von mir in die Hand zu drücken, damit sie wissen, woran sie sind…"

Er löste sich jetzt auch ganz von Nate, damit er nicht als aufdringlich rüber kam.

"Ich lese keine Gebrauchsanweisungen", erwiderte Nate nur und grinste ein wenig dunkel.

"Mein Therapeut meint, dass es sowieso eher eine Abwehrreaktion gegen sozialen Kontakt ist. Ich werfe Leuten die mir emotional näher kommen, so lange Unzulänglichkeiten von mir an den Kopf, bis ich sie damit verschrecke. Es ist also sowieso besser, wenn du gar nicht erst genauer zuhörst", erklärte er eine weitere Unzulänglichkeit von sich.

Nate antwortete nicht mehr und weil er angst hatte, dass wieder unangenehme Stille zwischen ihnen entstehen könnte, wies er zu dem Tisch: "Setz dich schon mal, ich mache das Essen wieder warm. Das dauert ein paar Minuten."

Das würde jetzt wahrscheinlich nicht halb so gut wie sonst schmecken, aber das war nicht mehr zu ändern. Hätte er den Herd an gelassen, wäre es ihm nur verbrannt.

"Noch ein Bier dazu? Oder was anderes?"

"Bier ist immer gut." Zumindest hatte sich das nicht geändert, auch wenn er ihm nur noch das eine geben würde. Die Gefahr, dass er zu viel trank und das durch die Schmerzmittel verstärkt würde, war ihm zu groß.
 

Nate war letztendlich so begeistert von dem Essen, dass sie abmachten, jeden Tag eine andere Landesküche auszuprobieren, um zu sehen, welche Gewürzpaletten Nate mochte. Sie waren sich beide einig, dass das eine gute Beschäftigung war und ziemlichen Spaß bringen würde. Es war etwas, das sie beide etwas freudiger in die Zukunft blicken ließ.

Fortschritt

Sie hatten sich dazu entschlossen, noch einen Film anzusehen und Shinji dachte noch, dass, wenn es so bliebe, sie das hinbekommen würden.

Als sie allerdings aufstanden, bemerkte er, wie Nate plötzlich zusammen zuckte und sich dann mit verkniffenem Gesichtsausdruck an der Tischplatte aufstützte.

Aus Reflex wäre er beinahe zu ihm gekommen, hätte ihn gestützt oder ihm gesagt, dass er sich wieder setzen solle, aber er wusste, dass das Nates Stolz verletzen und eher zu dem Gegenteil führen würde.

"Wenn ich dir zeige, wie es geht, traust du dir zu, einen Laptop zu bedienen? Dann könntest du schon Mal einen Film raus suchen, der dich irgendwie anspricht, während ich hier schnell Klarschiff mache."

Dass es ein Angebot war, um einfach sitzen bleiben zu können, war wahrscheinlich ihnen beiden klar, aber er fand keinen anderen Weg, Nate das möglichst angenehm zu machen. Das einzige, was er tun konnte, war zu hoffen, dass Nate sich mit einer Aufgabe wohler fühlte und deshalb auf das Angebot einging.

Nate brummte etwas unwillig und sah ihn mit diesem 'ich weiß, was du vorhast' - Blick an, doch letztendlich grinste er leicht und nickte.

Erleichtert holte Shinji seinen Laptop und brachte ihn zu Nate, der bereits auf dem Sofa saß. Er öffnete Netflix und zeigte ihm die Grundfunktionalität.

So schlecht wie Nate im Spielen war, war er zum Glück nicht mit Technik, weshalb es recht zügig funktionierte.

Es war ein wenig schwierig, sich nicht an seinen Freund zu lehnen, der so dicht bei ihm saß, dass er seine Körperwärme spüren konnte, aber er schaffte es, sich zusammen zu reißen.
 

Sie entschieden sich letztendlich für 'Death at a Funeral' und während Nate sein Bein ausstreckte, setzte sich Shinji so, dass er ihn nicht berührte. Er wollte ihn wirklich nicht überfordern.

Der Film war witzig und trug sehr zu der eher lockeren Stimmung zwischen ihnen bei, weshalb sich Shinji am Ende ein wenig aufgekratzt fühlte.

"Ah, mist! Ich hab vollkommen vergessen, das Bett neu zu beziehen."

Und er musste auch noch Zeug raussuchen, damit er auf dem Sofa schlafen konnte. "Wenn du willst, kannst du in der Zwischenzeit duschen oder so."

"Ahm, hey… du musst dein Bett nicht frisch beziehen, ich werde auf dem Sofa schlafen."

Das war so klar gewesen! Der Kerl konnte auch nicht einmal ein gut gemeintes Angebot annehmen.

"Aber duschen klingt trotzdem nicht schlecht", setzte Nate nach und stand bereits auf. Shinji musste indes die Situation abwägen. Sollte er dagegen sprechen oder war das nur verschwendete Kraft? Nach kurzem Überlegen musste er einsehen, dass es letzteres war. Nach allem, was heute passiert war, würde sich sein Freund da nicht mehr reinreden lassen. Also ließ er ihm seinen Willen, auch, wenn ihm wohler dabei gewesen wäre, wenn er im Bett geschlafen hätte.

Dennoch konterte er den Sturschädel mit seinem eigenen, weshalb er schnell verschwand, um aus seinem Kleiderschrank Ersatzhandtücher zu holen, noch bevor Nate am Badezimmer angekommen war.

Mit den Worten 'Dein Pech, mein Bett ist nämlich echt bequem', drückte er ihm alles in die Hand und ließ ihn dann duschen.
 

Als Nate wieder kam, saß er noch auf dem Sofa und sah sich 'The Big Bang Theory' zum hundert tausendsten Mal an. Auf der Sitzgelegenheit lag bereits Bettzeug bereit.

Er sah auf als sein neuer, alter Mitbewohner wieder zurück kam und konnte für einen Augenblick nichts anderes als Starren. Nate trug sein T-Shirt, sondern hatte es, wie früher auch oft, noch über der Schulter liegen. Es vergingen einige unendlich lange Sekunden, die viel zu schnell vorbei war, ehe er sich zusammenreißen und seinen Blick abwenden konnte.

Fast fühlte er sich wie damals, als er sich das erste Mal seiner Homosexualität bewusst geworden und Nate ebenso aus der Dusche heraus gekommen war.

Er schielte noch einmal zu ihm und beobachtete, wie ein Wassertropfen langsam seine Brust hinunter perlte. Früher hatte es ihm nichts ausgemacht, lange abstinent zu sein, aber das Jahr jetzt, war manchmal ziemlich hart gewesen. Nate jetzt hier zu haben und ihn nicht berühren zu dürfen, war allerdings eine hundertfache Potenzierung von seinem schlimmsten Tag.

Dass Nate sich direkt neben ihn setzte, machte es nicht besser. Er war so unglaublich nah, er konnte das Duschgel noch an ihm riechen und es kostete ihn viel Selbstbeherrschung, sich nicht vorzustellen, wie er sich gerade noch unter der Dusche damit eingeseift hatte.

Erst als Nate sich das T-Shirt endlich anzog, wurde es ein wenig besser.

"Musst du die Woche arbeiten?"

Das war eine nicht leicht zu beantwortende Frage und es dauerte kurz, bis er sich genug gesammelt hatte, dass er etwas sinnvolles erwidern konnte:

"Das liegt bei dir. Ich arbeite ja hauptsächlich nachts und schlafe tagsüber. Wenn du den Tag über lieber deine Ruhe haben willst, arbeite ich weiterhin, wenn du lieber Gesellschaft willst, kann ich auch Urlaub nehmen. Mit meinem Chef ist das alles schon durchgesprochen."

Er sah etwas unsicher zu seinem Freund und lächelte schief: "Aber ich fürchte, wenn du lieber Zeit mit mir verbringen willst, könnte ich ein wenig kletten, dann hättest du wirklich nur deine Ruhe, wenn ich morgens schlafe. Vor 10 Uhr kriegst du mich so oder so nicht aus dem Bett."

Er wollte ehrlich sein, Nate musste schließlich wissen, worauf er sich einließ.

"Mir reicht der freie Morgen."

Es war etwas kompliziert ausgedrückt, aber Shinji verstand dennoch und musste deshalb einen Jubelschrei unterdrücken. Das war nicht schwer, Jubeln lag ihm nicht, aber darum ging es ja auch gar nicht. Er war einfach nur wirklich glücklich.

"Dann sag ich meinem Chef, dass ich diese Woche auf jeden Fall Urlaub nehme, mit Option darauf, den vielleicht noch zu erweitern. Wir können ja sehen, wie es läuft."

Er stand dann auch auf. Nate hatte zuvor schon gegähnt und auch wenn er eigentlich noch nicht von ihm weg wollte, war jetzt wohl der Zeitpunkt, an dem er verschwinden sollte.

"Ich lass dich dann mal schlafen. Sollte irgendwas sein, zöger nicht, in mein Zimmer beziehungsweise Arbeitszimmer zu kommen, ich bin normalerweise bis in die frühen Morgenstunden wach. Und selbst, wenn ich schon schlafen sollte, ist das auch kein Problem. Und jaaa… ich weiß… wir wissen beide, dass du das Angebot nicht annimmst, selbst, wenn die Welt untergehen würde. Trotzdem steht das Angebot und ich meine es ernst."

Nates leises Lachen begleitete ihn noch bis ins Arbeitszimmer.

Doch als er die Zimmertür hinter sich schloss, war die Stille und Leere im Raum nahezu unerträglich. Er blieb stehen, stoppte förmlich in all seinem Tun und das gute Gefühl, das er bis eben gehabt hatte, war sofort verschwunden.

Die Ängste und Sorgen kamen zurück und vor allem das Vermissen seines Partners kehrte wieder. So sehr Nate sich auch wie Nate benahm, das im Wohnzimmer war nicht der Mann, den er liebte. Das Gefühl, dass er gestorben war, ergriff von ihm Besitz und ehe es ihn zu überwältigen drohte, eilte er zu seinem PC. Er wollte nicht darüber nachdenken. Er wollte nicht, denn dann würde er seinen Optimismus nicht mehr aufrecht erhalten können und genau den brauchte Nate jetzt… diesmal musste er der Starke sein. Er musste der sein, an den Nate sich lehnen konnte, auch wenn er gare nichts lieber wollte, als sich in den Armen des anderen zu verkriechen und so lange zu weinen, bis alles wieder gut war.

Nein… er musste sich zusammen reißen.

Als er sich einloggte und über sein Headset Bekannte begrüßte, war seine Stimme dennoch dünn und brüchig. Sie fragte nicht, lenkten ihn einfach nur ab. Und so spielte er tatsächlich bis in die frühen Morgenstunden… bis er so müde war, dass er einfach an seinem Schreibtisch einschlief.

Tagesplanung

    Er wachte früher als sonst auf, weil ihm alles weh tat. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es gerade mal 12 Uhr war. Er hatte keine fünf Stunden geschlafen, was bei der Dosis Beruhigungsmittel wirklich erstaunlich war. Zumindest war es mal besser als nichts.

    Nachdem er es in eine aufrechte Position geschafft hatte, schlurfte er aus dem Zimmer, noch immer die Kleidung von gestern tragend und in Richtung Küche. Er brauchte jetzt dringend Kaffee…

    "Woah…", vollkommen verdattert blieb er im Türrahmen stehen. Auf dem Tisch standen gekochte Eier, gebratener Speck, Gebäck, Brötchen und ganz ganz viel Kaffee.

    Verwundert sah er Nate an, der gerade die Butter auf den Tisch stellte und wollte ihm schon sagen, dass er verrückt sei, sich so viel Mühe zu geben. Dass es das nicht machen müsste…

    Aber das wäre undankbar gewesen, deshalb ließ er es.

    "Du hast deinen freien Morgen kreativ genutzt, wie ich sehe." Mehr brachte sein verschlafenes Hirn nicht wirklich zustande.

    Als geübter Morgenmuffel, ließ er sich erst einmal auf einen Stuhl fallen und griff nach dem Kaffee, den er in seine Tasse goss. "Ach ja… morgen… sorry, ich bin noch nicht ganz wach. Gib mit zwei, drei Kaffee, dann bin ich auch wieder sozialfähig."

    "Morgen", erwiderte Nate belustigt. Während sich Shinji früher in einer innigen Umarmung wiedergefunden hätte, wandte sich Nate jetzt einfach um und holte noch die Brotmesser. Glücklciherweise war Shinji noch nicht wach genug, um das zu bemerken.

    Die Stille zwischen ihnen jedoch, wurde so schnell unerträglich, dass er schon nach wenigen Schlucken wieder zu sprechen begann, obwohl er eigentlich noch gar kein Gespräch führen wollte: "Ich hoffe, du hast gut geschlafen und alles soweit gefunden."

    Letzteres war eigentlich überflüssig, denn offenbar war Nate sogar einkaufen gewesen, er konnte sich nämlich nicht daran erinnern, noch Speck im Kühlschrank gehabt zu haben.

    Er würde sich ja Musik ins Wohnzimmer legen, aber das brachte nichts und er fand zu viel Musik auf Dauer nervig. Eigentlich mochte er ja Stille… nur nicht, wenn jemand anderes dabei war.

    "Gibt es was, was du heute erledigen musst, oder haben wir den Tag für uns?"

    "Ich muss nur ein paar Anrufe erledigen, aber ansonsten…"

    Shinji nickte und dann war das Gespräch auch erst einmal wieder vorbei. Das war echt mühsam, erinnerte ihn aber nur noch mehr an ihre damalige Anfangszeit. Nate war meistens der gewesen, der das Gespräch am Laufen gehalten hatte, aber jetzt mussten sie beide dafür sorgen und das war irgendwie schwierig.

    "Gibt es etwas, was du heute gerne machen würdest?"

    Shinji überlegte und ihm fielen spontan sehr viele Dinge ein, die er gerne getan hätte, aber das ging über ihren momentanen Status weit hinaus.

    "Zeit mit dir verbringen…", murmelte er in seine Tasse. Es war nicht gerade ein Vorschlag, aber aussagekräftiger, als man vielleicht ahnte. "Wir können ja mal brainstormen was man so ausprobieren kann, damit wir beide dich etwas kennenlernen. Oder, falls du spontan auf irgendwas Lust hast, können wir auch das machen."

    Nate lachte leise, was Shinji gar nicht einordnen konnte, aber er wollte auch nicht fragen, das kam ihm irgendwie komisch vor.

    "Körperliche Anstrengungen fallen fürs erste aus."

    "Zu schade" Shinji spürte, wie seine Wangen heiß wurden, weil ihm das wirklich nur so rausgerutscht war.

    "Sorry…", murmelte er und räusperte sich pikiert.

    "Du hast übrigens einen Kumpel, der hier in der Stadt wohnt…" Was zum Teufel tat er da? Warum fing er jetzt von Randy an? Wirklich? Scheiße, wenn Nate sich in den verliebte, war er echt geliefert. Er hätte den Mund über den Blondschopf halten sollen, aber jetzt war es zu spät. Dann konnte er auch mit der ganzen Wahrheit raus rücken. "Einen sehr, sehr guten Kumpel. Ich dachte, ich sag dir das, damit du selbst entscheiden kannst, wann du ihn kontaktierst. Ich hab seine Nummer. Der Kerl war so oft hier und hat nach dir gefragt, dass ich ihm versprochen habe, ihn anzurufen, sobald ich was weiß."

    "Das 'sehr, sehr gut' irritiert mich etwas.", sagte Nate und grinste schief.

    Ja, das war vielleicht auch nicht die beste Wortwahl gewesen. Aber irgendwie stimmte es ja. Schließlich hatte Randy ihm sogar seinen Partner streitig machen wollen, bis er erfahren hatte, dass er vergeben war. Das war eben mehr als ein normaler Kumpel.

    Plötzlich hatte er ein Handy vor der Nase, das einen Nachrichten Ordner voller Nummer zeigte.

    "Ich hab aus Panik nach dem Aufwachen alle Namen gelöscht… Welche von den Nummern ist denn deine und welche die von meiner Schwester? Und welche ist von… wie heißt der Typ denn eigentlich?"

    Er nahm das Gerät vorsichtig entgegen, aber nicht ohne noch einmal einen prüfenden Blick zu Nate zu werfen. Schließlich war das ein ziemlicher Vorstoß in dessen Privatsphäre. Aber der schien damit einverstanden zu sein.

    Er kramte dann sein eigenes Handy, um die Nummern abzugleichen.

    "Sein Name ist Randy", murmelte er, konnte diesmal den missmutigen Ton nicht verbergen. "Ich bin mir nicht sicher, ob ich ihn leiden kann, oder nicht. Er ist dein Kumpel, also sollte ich eigentlich mit ihm klar kommen und eigentlich ist er auch in Ordnung… das ändert aber nichts daran, dass er ein Mensch ist und ich mag Menschen nicht. Lass dich also bitte nicht von mir beeinflussen."

    Das war wohl wieder etwas, was Nate einfach hin nahm, denn er sagte nichts dazu, weshalb er auch weiter die Nachrichten durchscrollte.

    Er hatte ihm absichtlich nicht gesagt, dass Randy verknallt in ihn war. Es war nicht an ihm, seinem Freund das mitzuteilen und er hatte kein Recht, sich da einzumischen.

    "Die hier ist von mir und die von deiner Schwester." Sie hatten ihm beide ungefähr eine Millionen Nachrichten geschrieben, weshalb es schwer war, darunter die von Randy zu finden.

    "Das ist die von Randy."

    Er verkniff es sich, den Nachrichtenanfang zu lesen. Das ging ihn nichts an. Deshalb gab er auch Nate lieber das Handy wieder.

    "Mehr deiner Kontakte kenne ich nicht. In meiner Anwesenheit hast du auch nie mit wem anderes außer Lily, Randy oder Kollegen telefoniert."

    Nate speicherte die Namen zu den Nummern und steckte dann das Handy wieder weg. "Ich werde mich irgendwann bei ihm melden…"

    Damit meinte er wohl Randy und Shinji schimpfte innerlich über sich selbst, weil er sich wirklich über diese Aussage freute. Zu seiner Verteidigung: Er hatte auch wirklich angst gehabt, er würde sich vielleicht an Randy erinnern.

    "Aber zurück zur Tagesplanung", lenkte er ab, bevor er doch noch was dummes sagte. "Wir könnten ein Restaurant suchen, um weiter unseren Kulinarik-Plan umzusetzen und ansonsten… ist dir nach drin bleiben oder nach raus gehen?"

    "Restaurant klingt gut und rausgehen auch, aber das Bein wird nicht so lange durchhalten, wenn du mit mir Wandern gehen willst."

    Dass Nate überhaupt zugab, dass er das nicht konnte, bedeutete schon einiges und er musste das Bein ja auch heute schon etwas länger belastet haben, wenn man bedachte, dass er schon einkaufen gewesen war.

    "Ich geh auch nur mit dir raus, wenn du mir versprichst, dass du mir rechtzeitig Bescheid gibst, wenn dein Bein allmählich nachgibt. Wenn du zu spät Bescheid gibst, muss ich dich zukünftig an Krücken ketten."

    "Krücken" Nate verzog angewidert das Gesicht, was Shinji nur dunkel Grinsen ließ.

    "Ich muss dir ja mit was drohen, was dir unangenehm ist, sonst zieht es ja nicht."

    Er goss sich eine neue Tasse Kaffee ein und nahm sich ein Ei und etwas von dem Bacon. Beides war kalt, aber das war wohl kaum ein Wunder, denn Nate hatte unmöglich wissen können, wann er aufstand. Wirklich schade, aber es war immer noch ein hammermäßiges Frühstück.

    "Ah!", machte er als ihm etwas einfiel, doch dann sackte er wieder zurück, als ihm bewusst wurde, was das war. "Uhm…" Er traktierte seinen Teller mit einem unsicheren Blick. "Also… wenn wir nachher draußen sind… und auch in dem Restaurant… ich… ich wäre dir sehr dankbar wenn wir da nicht über… uns… reden würden oder irgendwas tun was… andere auf komische Gedanken bringen könnte…"

    Klar, sie waren gerade nicht zusammen und klar, Nate hatte keine Gefühle für ihn, dennoch hatte er ihn gestern umarmt und er würde einen Anfall kriegen, wenn er das plötzlich mitten auf der Straße machen würde. Oder wenn er plötzlich seine Hand nahm oder so etwas.

    "Was?", fragte Nate deutlich verwirrt und Shinji befürchtete schon, dass er näher erklären müsste. Aber dann entkam seinem Gegenüber ein leises 'achso'.

    "Wie haben wir das normalerweise gehandhabt?"

    Shinji seufzte leise bei der Frage, weil er nicht wusste, wie Nate reagieren würde. Irgendwann mussten sich doch Unterschiede in seinem neuen Verhalten zeigen, oder? Schließlich setzte sich ein Mensch aus der Summe seiner Erfahrungen zusammen. Auch wenn er es sich wünschte, irgendwo musste dieser Nate anders sein, als 'sein' Nate. Und er hatte unglaubliche Angst davor, dass es bei solchen Sachen war.

    Deshalb sah er ihn auch nicht an, als er erklärte:

    "Ich hab Abstand gehalten und du hast versucht den vorsichtig zu verringern. Und mit 'Abstand' meine ich sowohl emotionalen, als auch physischen. Ich hatte immer gehofft, dass dir das nicht so auffällt, aber du hast mal von 'meilenweit' gesprochen, also ist es wohl ziemlich offensichtlich."

    "Bist du etwa auf der anderen Straßenseite gegangen?"

    Shinjis Mundwinkel zuckten, aber zu einem Grinsen reichte es nicht: "Nein… aber eine gute Armlänge ist es schon… denke ich. Ich weiß nicht. Ist immer so eine Gefühlssache, ich hab da kein Maß für."

    "Hat das etwas mit deiner Homophobie zu tun? Oder ist dir das einfach peinlich?"

    Shinji war beruhigt, dass Nate weiterhin einfach neugierig war und gar nicht richtig auf Gesagtes reagierte. Das war fast so, wie die Gespräche mit seinem Therapeuten. Er hätte niemals zuvor gedacht, dass wertungsfreie Gespräche so gut tun konnten. Deshalb konnte er auch relativ frei sprechen:

    "Ersteres, ja. Ich bin auch in Therapie deswegen. Ich hab unglaubliche Angst davor, dass jemand mitbekommt, was ich bin. Es hat sich schon gebessert, aber bisher konnte ich noch nicht aktiv üben, weil mir dazu der Partner gefehlt hat. Ich konnte nur üben, vor nahen Bekannten und Vertrauten dazu zu stehen. Das ist… ein ziemlich langwieriger Prozess, aber es wird."

    Er hatte wirklich gehofft, mit Nate weitere Fortschritte machen zu können.

    "Es tut mir leid. Ich bin sicher, dass ich so schnell wie möglich zurück kommen wollte."

    "Ich wusste, worauf ich mich einlasse, Nate." Zum ersten Mal sah er wieder auf und lächelte vorsichtig. "Es gibt keinen Grund, dich zu entschuldigen. Keiner von uns beiden hat so was hier kommen sehen… und beim besten Willen, es hätte auch schlimmeres passieren können."

    Aber Nate schien das nicht zu helfen. Er sah noch deprimierter aus, auch wenn Shinji das nur sah, weil er seinen Freund so gut kannte. Auch seine Mimik und Gestik war zum großen Teil gleich geblieben.

    "Wollen wir uns ein Restaurant im Internet raussuchen?"

    Auffälliger ging es wohl nicht, aber Shinji nickte. Wenn Nate nicht mehr darüber reden wollte, würde er ihn sicherlich nicht dazu zwingen.

    Also stand er auf und holte sein Tablet, mit dem er sich neben Nate setzte. Sein Laptop hätte zu lange zum hochfahren gebraucht.

    "Hast du auf einen bestimmten Geschmack lust? Süß? Pikant? Scharf? Mild? Außergewöhnlich? Normal?"

    Er rief schon einmal eine Karte mit Restaurants in der Umgebung auf, während Nate einen Arm um seine Stuhllehne legte, um einen besseren Blick zu haben.

    "Außergewöhnlich? Was heißt das?"

    "Zum Beispiel Fusionsküche. Da werden zwei oder mehrere kulinarische Länder zusammen gelegt. Zum Beispiel Mexikanisch und Irisch, wobei das ein extremes Beispiel ist. Oder Molekularküche, das war mal ein Hype, der aber wieder abgeflaut ist, deshalb weiß ich nicht, ob es so was in der Gegend noch gibt."

    Er versuchte zu ignorieren, dass Nate ihm so nah war, schließlich wollte er beweisen, dass er normal mit der Situation umgehen konnte und keine unrealistischen Erwartungen hatte.

    Nate nickte, nachdem er ihm ein paar Bilder von den jeweiligen Gerichtearten gezeigt hatte.

    "Süß wäre auch eine Option", ließ Nate überraschend verlauten. "Oder scharf?"

    Shinji verkniff sich den Kommentar, dass er früher Süßes nicht gemocht hatte. Sie wollten schließlich herum probieren.

    "Scharf… wie wäre es mit Thailändisch? Und zum Nachtisch dann noch in ein schönes Eiscafe oder so. Das mildert dann auch hinter die Schärfe angenehm."

    Er zeigte ihm auch dazu einige Bilder. Letztendlich konnte er aber doch nicht verhindern, dass er Nähe suchte. Er versuchte es als zufällige Berührung zu tarnen, indem er sich etwas umsetzte und dabei mit der Schulter Nates Hand streifte.

    "Dann gehen wir doch ein wenig experimentieren. Eine Fusionsküche mit Thailändisch und danach irgendwohin für den Nachtisch."

    Lächelnd wandte Shinji den Kopf zu Nate um zu bestätigen, stoppte dann aber, als er merkte, wie nah Nates Gesicht ihm plötzlich war.

    Sie sahen sich direkt in die Augen und er wartete unsicher darauf, dass sich Nate wieder zurückzog, doch den Gefallen tat er ihm nicht. Shinji schluckte trocken.

    Er wollte sich ja zurückhalten… er wollte wirklich… aber letztendlich war er auch nur ein schwacher Mensch, der seine eigenen Impulse nicht kontrollieren konnte.

    Statt sich zurück zu ziehen, lehnte er sich vor. Ganz langsam, damit Nate zurückweichen konnte. Aber es passierte nichts. Stattdessen konnte er seine Lippen auf Nates legen. Ganz behutsam, ganz vorsichtig und schüchtern. Innerlich flehte er zu allen Göttern die er kannte, dass er hiermit keinen Fehler beging.

    Es verging nur ein kurzer Moment, in denen sie beide einfach verharrten, doch dann erwiderte Nate den Kuss. Erst zaghaft, dann intensivierte er ihn sogar von sich aus.

    Von Shinjis Lippen ausgehend, begann sein ganzer Körper aufgeregt zu kribbeln und es breitete sich eine Wärme in ihm aus, von der er nicht gewusst hatte, dass er sie vermisste. Als Nate sogar seine Arme um ihn schlang und ihn näher zu sich zog, war er auf Wolke Sieben.

    Es störte ihn auch nicht, dass es dem Kuss an ehrlicher Zuneigung fehlte, denn es war ein Anfang. Ein grandioser Anfang, der viel schneller gekommen war, als er sich je erträumt hätte.

    Als sie sich wieder voneinander lösten, beide ein wenig atemlos, vergrub er sein Gesicht in Nates Halsbeuge. Er konnte nicht anders, als zu grinsen, aber das sah Nate zum Glück nicht.

    "Das… das ging schnell. Ich hoffe, ich hab dich nicht überfordert…"

    Sein Freund wich nicht zurück, stieß ihn nicht von sich, im Gegenteil. Er zog ihn noch näher an sich, doch die Umarmung hatte plötzlich etwas sehr verzweifeltes. Ob Nate sich mehr hiervon erwartet hatte? Erinnerungen? Oder etwas anderes?

    Plötzlich fragte sich Shinji, warum Nate ihn überhaupt geküsst hatte. War es nur ein Experiment gewesen?

    Aber das war jetzt eigentlich nebensächlich, denn Nate wirkte gerade wirklich nicht gut.

    "Ich verrate dir etwas, was du noch nie gewusst hast", hauchte er leise. Vielleicht, um Nate abzulenken, vielleicht um ihm ein wenig die Richtung zu weisen. Er wusste es selbst nicht genau, ihm war nur klar, dass er etwas sagen musste. "Fünfzehn Jahre lang, habe ich regelrecht dafür geackert, dass der Körper einer Frau so auf mich reagiert, wie deiner. Immer, wenn ich es dann doch mal geschafft habe, habe ich dabei aber nichts gefühlt. Es war mir egal, ich war nur erleichtert, dass es funktioniert hat. Und dann kamst du… ein Kerl, den ich eigentlich gar nicht berühren wollte… aber als ich es dann tat, hat es mich mitgerissen und fasziniert. Wenn ich spüre, wie deine Härchen sich aufstellen, erschauere ich mit dir. Wenn ich deinen Herzschlag spüre, hüpft auch mein Herz. Und ich bin unglaublich stolz darauf, dass ich diese Dinge bei dir auslöse."

    Er wusste nicht, ob es richtig war, Nate das zu erzählen. Vielleicht nicht, aber es war jetzt sowieso zu spät. "Und du hast die gleiche Macht über meinen Körper… der erhöhte Puls, das beschleunigte Atmen und das sachte zittern meines Körpers… das warst alles du… mit nur einem Kuss."

    Er war in diesem Moment wirklich froh, keine tickende Uhr im Raum zu haben, denn die Stille zwischen ihnen, war so schon präsent genug. Es war schlichtweg furchtbar. Aber Nate ließ ihn auch nicht los. Wie gerne hätte er gewusst, was der andere dachte.

    "Shinji", murmelte Nate plötzlich leise. "Es tut mir leid."

Besser für dich

    Für einen Moment gefror ihm das Blut in den Adern und mit angehaltenem Atem, wartete er darauf, dass da noch etwas nach kam. Aber es kam nichts. Nate schwieg und hielt ihn einfach weiter. Das half ihm auch nicht dabei sich zu entspannen, schließlich hatte Nate sich für irgendwas entschuldigt. Die Frage war nur, für was.

    "Red bitte mit mir, Nate", flehte er leise und deutlich unsicher. "Wenn ich die Entschuldigung interpretieren muss, bekomme ich Angst, dass du gerade versuchst, endgültig mit mir Schluss zu machen und es dich nicht traust."

    Das war auch irgendwie die logischste Erklärung, oder? Sie hatten sich gerade geküsst, Nate hatte bemerkt, dass er rein gar nichts für ihn empfand und sah jetzt keinen Sinn mehr darin, ein Konstrukt aufrecht zu halten, dass es für ihn sowieso nie gegeben hatte.

    "Was geht in deinem Kopf vor? Egal was es ist… du kannst es mir sagen. Ich bin nicht so fragil wie ich wirke."

    Es wurde schon wieder still zwischen ihnen. Allmäliche zehrte das wirklich an seinen Nerven. Er wusste, er musste geduldig sein, Nate kannte ihn immerhin nicht, da war es doppelt so schwer, offen zu reden. Trotzdem machte es das für ihn kein Stück einfacher.

    "Ich mache nicht mit dir Schluss… aber wäre es nicht besser für dich, wenn du dein normales Leben zurückbekommen würdest?"

    "Besser für mich?", fragte Shinji ehrlich verwirrt zurück und hätte beinahe geseufzt. Nate war eben immer noch Nate. Er machte sich um andere zuerst Sorgen und dann um sich selbst. "Mein normales Leben besteht aus Arbeiten, online Spielen und Koffein. Es ist einfacher und ruhiger, ja, aber auch langweiliger und unausgefüllter. Ich brauche jemanden, der mich ein wenig auf Trap hält, sonst mauere ich mich wieder nur ein. Also keine Sorge um mich, das ist nicht nötig. Außerdem finde ich es sehr spannend, dich mit dir zusammen, neu kennen zu lernen. Mir ginge es ohne dich schlechter."

    Er stoppte etwas erschrocken und biss sich kurz auf die Lippe, was Nate dank ihrer Position nicht bemerkte: "Sorry… will dich mit solchen Aussagen nicht unter Druck setzen. Wenn du nicht bei mir bleiben möchtest, werde ich das natürlich überleben und akzeptieren."

    "Wer mich unter Druck setzt, bin ich selbst, aber bestimmt nicht du", antwortete Nate so leise, dass man es kaum noch verstand.

    Lag da das Problem begraben? Verlangte Nate von sich selbst zu viel?

    "Ich würde ja gerne sagen, dass mich das beruhigt, aber das würde falsch rüber kommen, schätze ich."

    Sein Ton war heiter, wahrscheinlich zu heiter für die Sitation, aber er lag in Nates Armen und es war sein Freund, der partout nicht loslassen wollte. Er war einfach glücklich, obwohl er sich sorgte.

    Aus einem inneren Impuls heraus, knabberte er Nate ganz leicht am Hals, nur kurz, aber es reichte, dass der andere ein bisschen zuckte und erschauerte.

    "Was kann ich machen, dass der Druck ein wenig verschwindet? Dich ablenken? Ich bin zwar nicht der größte Redner, aber ich bin sicher, wenn es sein muss, kann ich dich den ganzen Tag mit irgendeinem Nonsense zuschwallen. Dann bist du zu genervt von mir, um dich noch unter Druck zu setzen und froh, dass du dich nicht erinnern kannst."

    Nate schnaubte sogar amüsiert: "Mich ablenken? Ja, das wäre mal eine Idee. Ich denke, ich eigne mich gut als Zuhörer."

    Während Shinji noch überlegte, mit was er anfangen sollte, sprach Nate aber schon weiter: "Ich glaube ich verstehe langsam, warum ich mich in dich verliebt habe."

    Da wurde Shinji dann doch hellhörig: "Ach ja? Schieß los, was ist deine Theorie?"

    Er hatte von Nate sonst immer nur die langzeit Gründe gehört. Dass er loyal wäre und etwas Besonderes, aber sie hatten nie über die Anfänge gesprochen. Nie über die erste Eigenschaft, die ihm positiv aufgefallen war.

    "Du bist stur genug, dass du auf dem Weg bleibst, den du dir zurecht gelegt hast. Das gefällt mir. Deine kleine Rede gestern am Straßenrand hat mich… ja, beeindruckt. Ich wäre vermutlich gar nicht hier, wen du mir freie Wahl gegeben hättest. Du scheinst zu wissen, was du möchtest. Und da steckst du dein ganzes Herzblut hinein. Zumindest ist das mein Eindruck, den ich von dir habe."

    Diesmal war es an ihm, wohlig zu erschauern. "Klingt nach mir, zumindest der Part, mit dem stur sein."

    Er musste Grinsen und fuhr mit der Nasenspitze leicht Nates Hals entlang. Es fühlte sich so sehr danach an, als wäre alles gut und normal, dass er sich von diesem Gefühl hinforttragen ließ ohne es wirklich zu bemerken. Er fuhr mit den Lippen sanft Nates Schlagader entlang: "Weißt du… ich könnte auch den ganzen Tag mit dir flirten und versuchen, dich ins Bett zu kriegen. Das wäre sicherlich auch Ablenkung genug."

    Nate ließ ihn gewähren, schien sich sogar sichtlich zu entspannen, die Arme immer noch um ihn gelegt. Er lehnte den Kopf sogar extra zur Seite, um ihm mehr Spielraum zu gewähren.

    Doch gerade, als er etwas weiter gehen wollte, löste Nate die Umarmung plötzlich und schob ihn leicht von sich. Ein stechender Schmerz in seinem Rücken zeigte Shinji, dass die Position eben, nicht die gemütlichste gewesen war, aber das trat schnell in den Hintergrund, als er Nates schuldbewusste Miene sah. Der biss sich erst auf die Unterlippe, zerzauste ihm dann aber schief grinsend die Haare.

    "Irgendwas sagt mir, dass das keine gute Idee wäre."

    Hart auf dem Boden der Realität aufschlagend, sah Shinji seinen Freund selbst ein wenig schockiert an. Was war da nur gerade in ihn gefahren? Er war doch sonst nicht so!

    "Sorry", die Entschuldigung war ernst gemeint, auch wenn sie vielleicht ein wenig flapsig formuliert war. "Da hab ichs wohl doch übertrieben. Aber du hast Recht."

    Das hatte Nate wirklich. Jetzt miteinander zu schlafen, wäre einer der größten Fehler, den sie machen könnten. "Ich hab immer noch Probleme mit Sex… das 'danach' will ich dir in dem aktuellen Zustand nicht antun."

    Warum er das sagte wusste er nicht, denn eigentlich lag es ja an einem ganz anderen Grund, dass sie das nicht tun sollten. Klar, wollte er Nate das noch nicht zumuten, aber da gab es noch viel, viel grundlegendere Probleme.

    Peinlich berührt sah er auf sein Tablet und stand dann auf: "Ich reservier mal das Restaurant."

    Natürlich kam die Rückfrage, was er mit Problemen meine und die Reservierung gab ihm die perfekte Ausrede, um physisch Abstand zu nehmen. Er konnte nicht genau erklären warum, aber wenn ihm etwas wirklich unangenehm war, war er gerne etwas weiter von anderen Personen weg.

    Vielleicht hätte er sich geweigert, darüber zu sprechen, wenn es nicht gerade schon fast eskaliert wäre. Aber Nate musste wissen, worauf er sich im schlimmsten Fall einließ.

    Dennoch stand er jetzt bei der Küchenzeile, auf der sein Handy seit gestern Abend lag und spielte nervös an dem Kommunikationsgerät herum.

    "Probleme heißt… zittern…", begann er irgendwann. "… meistens heulen… mich mieserabel fühlen… mich vor mir selbst ekeln…" Er seufzte bitter, bevor er den letzten Punkt ansprach. "… meistens auch… mich übergeben…"

    Er sah Nate nicht an, sondern starrte auf seine Hand, die nervös an dem Handy herumfingerte. "Sowas…"

    Er wusste nicht, warum er es schaffte, so offen zu sein. Vielleicht, weil der Kerl da aussah, wie sein Lebenspartner. Vielleicht, weil er hoffte, dass er Erinnerungen damit wecken konnte… vielleicht aber auch einfach, weil er tatsächlich versuchte, Nate doch noch zu vergraulen. Er hatte es mit dem alten Nate auch versucht, nur wesentlich offensichtlicher. Sein Therapeut hatte es als Test bezeichnet. Nur die, die sich gegen diese Widrigkeiten stellten, waren würdig, dass er Zeit mit ihnen verbrachte und sich ihnen wirklich öffnete. Denn was er anderen verschwieg, waren nicht seine Fehler, sondern das, was dahinter stand. Die Ängste, die Sorgen, seine wahre Schwäche. Nate hatte zwar nur zwei Wochen gebraucht, damit er begann, über all das zu reden, aber das waren intensive Tage gewesen, in denen er sich fast stündlich bewiesen hatte.

    Der Nate damals hatte sich durch seine Mauern kämpfen müssen, der Nate jetzt musste sich durch sein Lächeln kämpfen. Denn auch, wenn er wirklich glücklich war, Nate hier zu haben, ihm nah sein zu können, überhaupt mit ihm sprechen zu können… auch wenn all dieses Glück da war, sollte eigeneltich die Angst und Verzweiflung überwiegen, die er immer erst dann zum Vorschein kommen ließ, wenn Nate nicht da war. Wie letzte Nacht…

    Das vibrieren seines Handys riss ihn vollkommen aus seinen Gedanken und als er den Namen des Absenders der SMS las, hätte er es fast fallen lassen. Für einen Augenblick war ihm nicht bewusst, dass Nate mit ihm im selben Raum saß. Es fühlte sich an, als hätte ein Geist ihm geschrieben. Es war das gleiche Gefühl, wie gestern im Auto, als er die unversendete Nachricht gelesen hatte.

    Im nächsten Moment wusste er natürlich wieder, dass das Unsinn war, aber dennoch hatte er ein mulmiges Gefühl, als er die SMS öffnete:

    'Wenn du mit meinen Macken umgehen kannst, kann ich auch mit deinen umgehen.'

    Es trieb ihm fast die Tränen in die Augen. Nate hatte sich wirklich kein bisschen verändert.

    "Sag das nicht", murmelte er leise, ohne Nate anzusehen. "Du hast es noch nicht miterlebt."

    "Das ist richtig, aber habe ich es nicht früher schon mal miterlebt? Da bin ich auch irgendwie mit klar gekommen. Oder etwa nicht?"

    Shinji wandte sich um und werkelte an der Kaffeemaschine. Nicht, weil er unbedingt noch Kaffee wollte, eher, weil er was zu tun brauchte.

    "Ich weiß, ich habe dich im Prinzip erst gestern kennengelernt und vielleicht ist es unlogisch, so zu denken. Aber irgendwo in mir ist die Erinnerung an dich. Und allein die Nachricht, die ich dir schicken wollte, zeigt mir, dass ich dich unglaublich geliebt haben muss. Deshalb erschreckt mich das nicht. Ich werde mich damit arrangieren. Ich will nicht eines Tages wieder mit den Erinnerungen aufwachen und dann registrieren, dass du nicht mehr da bist, weil ich zu bequem war, um mich mit deinen Problemen auseinander zu setzen."

    Shinji konnte kurz nur den Kopf schütteln, wandte sich nicht wieder um. Nate sollte es nicht sehen. Die Angst… die Verzweiflung… die Sehnsucht… Er sollte für Nate da sein, nicht umgekehrt. Er musste jetzt stark sein.

    "Wir wissen nicht ob und inwieweit du dich verändert hast. Das ist doch das dumme an Amnesien. Dir fehlen prägende Erinnerungen. Wir sind doch alle nur die Summe unserer Erfahrungen. Wie kannst du all dieses Vertrauen in nur eine SMS setzen? Du kannst keine Beziehung auf einer Wunschvorstellung aufbauen, Nate. Das funktioniert nicht. Du weißt nicht, ob du die Erinnerungen je wieder bekommst und selbst wenn, ist nicht klar, ob die Erinnerungen sich wieder so einfügen, wie vorher. Wir wissen nicht, was passiert. Mach nicht jetzt schon Pläne, warte es in Ruhe ab. Ich will nicht, dass du am Ende enttäuscht oder überfordert bist. Sich mit meinen Problemen auseinander zu setzen ist nicht nur unbequem. Es ist psychisch belastend und noch ein unglaublich langer Weg. Du solltest dir wirklich gut überlegen, auf was du dich da einlassen willst."

    "Diese SMS war das Einzige, das ich hatte", antwortete Nate leise.

    "Als ich im Krankenhaus aufgewacht bin und ich keine Ahnung hatte, wo ich war oder wer ich war, hat mich wirklich Panik ergriffen. Ich kann mich kaum an den ersten Tag erinnern, aber ich befürchte, ich habe ein paar Leute ziemlich unfreundlich behandelt. Und wenn ich so darüber nachdenke, glaube ich auch, dass ich jemandem das Essen nachgeworfen habe."

    Das konnte sich Shinji gar nicht vorstellen, dass Nate so etwas tat. Das sah ihm gar nicht ähnlich, aber er schien es auch zu bereuen. Es war vielleicht wirklich nur eine Ausnahmesituation.

    "Ich weiß nicht mehr genau, wie viele Tage dann vergangen sind, bis ich das Handy entdeckt habe. Aber als ich die Kontaktliste durchgegangen bin und gesehen habe, dass mir keiner der Namen etwas sagt, habe ich sie aus einem Impuls heraus gelöscht. Und die Namen sind zu Telefonnummern geworden. Es hat sowieso keinen Unterschied für mich gemacht. Doch die eine Nachricht ohne Empfänger. Die eine Nachricht habe ich geschrieben. Das war der einzige Fakt, den ich mit Sicherheit bestimmen konnte. Ich habe sie jemandem geschrieben, der mir wichtig war. Und ab diesem Moment wollte ich diese Person mehr als alles andere kennenlernen. .... Ich weiß, dass meine Erinnerungen nicht zwangszweise zurückkommen müssen. Ja, vielleicht bleibe ich auch immer so, wie ich jetzt bin. Aber darüber nachdenken will ich nicht. Ich bin im Krankenhaus zu einem einzigen Entschluss gekommen. Shinji, wenn ich mich nicht an dich erinnern kann, dann werde ich mich nie erinnern können."

    Er hörte ruhig zu, nahm die Worte einfach auf. Nate redete endlich mit ihm über seine Gefühle, das war ein großer Fortschritt, doch er konnte ihn noch immer nicht ansehen, denn es schwammen mittlerweile Tränen in seinen Augen.

    "Ich gebe zu, ich war gestern wirklich enttäuscht von unserem ersten Aufeinandertreffen. Aber nicht weil du etwa ein Mann bist. Sondern weil ich einfach nichts dabei gefühlt habe. Aber es sind nicht einmal vierundzwanzig Stunden vergangen und ich habe das Gefühl, dass sich doch irgendetwas in mir an dich erinnert. Nicht an dich als Person. Aber an deine Präsenz. Mag sein, dass es nur eine Wunschvorstellung ist. Aber warum nicht? Warum sollte ich nicht so lange daran festhalten? Ich denke, ich bin an einem Punkt angelangt, an dem ich nicht noch tiefer sinken kann. Ich scheiß also auf die nächsten Enttäuschungen. Wie sieht es bei dir aus?"

    Shinji musste erst einmal durchatmen um seine Stimme unter Kontrolle zu bekommen, aber es war schwer, besonders jetzt, wo schon die ersten Tränen auf die Arbeitsplatte tropften.

    "Wenn du so bleibst, wie ich dich seit gestern kennengelernt habe, wäre es gar nicht so schlimm, wenn deine Erinnerungen nicht wieder kämen. Es wäre schade, weil wir in der Schule echt viel Blödsinn zusammen angestellt haben, aber dann erzähle ich dir die Anekdoten eben so oft, bis du denkst, dass es deine eigenen wären."

    Obwohl seine Stimme leicht zitterte, hörte man den scherzenden Unterton doch deutlich.

    Sollte er nicht auch offener sein, wenn Nate ihm schon so entgegenkam? Vielleicht konnte er es versuchen, indem er damit begann, seine Wünsche offen auszusprechen.

    "Hey… meinst du… meinst du es ist in Ordnung, wenn ich dich darum bitte, her zu kommen und mich in den Arm zu nehmen?"

    Er hatte kaum die letzten Worte gesprochen, da wurde er bereits in eine feste Umarmung gezogen. Nate schnaubte leise über seinen Kopf hinweg.

    "Willst du damit sagen, dass ich so, wie ich jetzt bin, auch in Ordnung wäre?"

    Die Frage verwirrte Shinji ein wenig. Hatte er sich denn nicht klar genug ausgedrückt? Aber der Unterton ließ ihn vermuten, dass sie rhetorischer Natur war.

    Aber jetzt drehte er sich erst einmal um und vergrub sein Gesicht in Nates Brust. Er brauchte das gerade. Er konnte nicht sagen, was genau diesen Gefühlsausbruch verursacht hatte, aber er war da und er war scheiße. Gerade konnte Shinji die Verzweiflung nicht zurück drängen.

    "Ich habe fest vor, mich zu erinnern. Zumindest an das Wichtigste. Und dann schreibe ich diese Nachricht zu Ende und schicke sie dir."

    "Ich freue mich schon darauf." Mehr Ehrlichkeit, würde er wohl nie wieder in einen Satz legen können.

    Er schniefte leise, aber die Umarmung und die Hand, die jetzt begann durch sein Haar zu fahren, halfen, die Tränen versiegen zu lassen.

    Langsam bekam er das Gefühl, wieder aus dem Loch empor zu steigen, in das er wieder gefallen war und deshalb nahm er auch allen Mut zusammen, um Nate eine Frage zu stellen, die ihm seit gestern Abend auf der Zunge lag:

    "Willst du nicht vielleicht heute Nacht mit im Bett schlafen? Ich kann besser schlafen, wenn du da bist und ich hab ein echt schlechtes Gewissen, dich auf das Sofa auszulagern."

    "Okay", sagte Nate leise. "Das Sofa ist ohnehin zu klein für mich."

    Shinji verdrehte die Augen, obwohl Nate es nicht sehen konnte. Da war sein Freund wirklich selbst Schuld.

    "Du musst nicht, das weißt du", bot er Nate noch einmal einen Ausstieg an.

    "Das weiß ich, mach dir keinen Kopf. Ich hätte nicht zugestimmt, wenn es für mich nicht in Ordnung wäre."

    Shinji nickte ehe er sich so wenig wie möglich von ihm entfernte, um sich die Tränen weg zu wischen. Doch seine Hand wurde aufgehalten und leicht weg gedrückt.

    "Du siehst sogar verheult noch süß aus, das ist fast schon etwas ungerecht."

    "Was?", fragte Shinji perplex und sah zu Nate auf, der mit dem Daumen über eine seiner Wangen fuhr, um die Tränenspuren fort zu wischen.

    "Sag bloß, du flirtest gerade mit mir."

    Das war neu. Das hatte Nate früher nicht wirklich gemacht, aber das lag wahrscheinlich mehr an Shinji als an seinem Freund. Spielerisch abwehrend, verschränkte er die Arme vor der Brust: "So bekommst du mich heute Abend aber nicht ins Bett."

    Sein Herz pochte ganz aufgeregt. Ausnahmsweise fühlte er sich wie ein normaler Mensch, der dabei war, mit jemandem zusammen zu kommen, den er mochte. Es war, als hätte man ihnen beiden noch einmal eine zweite Chance für die Anfangsphase geschenkt. Das hatte irgendwie was, auch wenn es ihm den Preis nicht wert gewesen war.

    "Das war nur eine Feststellung, kein Versuch zu flirten", stellte Nate mit einem arroganten Grinsen klar, das offensichtlich gespielt war. "Und wenn du nicht willst, habe ich eben das ganze Bett für mich allein."

    Doch diesmal hielt das Pokerface nicht lange genug. Nate begann zu lachen und zog Shinji wieder an sich, der darauf seine Haltung lockerte. "Du schläfst heute Nacht am Besten da, wo du jetzt bist.", flüsterte Nate ihm ins Ohr und jagte Shinji damit einen Schauer nach dem nächsten über den Rücken.

    Nate war wirklich der einzige Mensch, der es schaffte, ihn innerhalb von wenigen Minuten erst zum Weinen und dann zum Lachen zu bringen.

    "Als würdest du mich auf dem Sofa schlafen lassen. Eher wirfst du dich selbst aus dem Bett."

    Das war ein wirklich witziges Bild in seinem Kopf, wie Nate sich verrenkend versuchte sich selbst aus dem Bett zu treten.

    "Ich hab dich so sehr vermisst…", hauchte Shinji und fand es gar nicht schlimm, dass er keine Antwort bekam. Na ja… fast nicht. Es tat nur ein bisschen weh.

 

Ich dachte mir, ihr freut euch über updates, auch wenn die Kapitel keine Titel haben. Ich hab jetzt so lange damit gekämpft, dem ganzen hier einen titel zu geben, ich geb's jetzt einfach auf. Enjoy!

 

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    Nate löste sich nach einigen Augenblicken vorsichtig von ihm und musterte prüfend sein Gesicht. Um ihm zu zeigen, dass alles wieder gut war, lächelte er ihn an. Nate erwiderte es, ließ sich aber nicht nehmen, noch einmal über seine Wange zu streichen.

    "Wollten wir nicht einen Tisch reservieren?"

    Das hatte er vollkommen vergessen.

    Doch er kam nicht einmal dazu, Nate zu fragen, wie viel Uhr ihm Recht wäre, da vibrierte sein Handy, das Nate ihm irgendwann abgenommen hatte. Verwirrt sahen sie beide auf das Display. Es war Nates Schwester.

    Sein Freund gab ihm das Gerät zurück und verzog sich in den hinteren Teil der Wohnküche, wo er begann, Salbe auf seinem Bein zu verteilen.

    

    "Hi Lily, was gibt's?"

    Mit den Augen folgte er seinem Mitbewohner, während er überlegte, was Lily wollen könnte. Eigentlich war das nicht schwer, weshalb er auch in der Küche stehen blieb und nicht aus dem Raum ging, damit Nate wusste, dass er nicht hinter dessen Rücken über ihn sprach.

    "Hey, Shinij. Äh… ich wollte nur wissen, wie es läuft. Hat er sich schon an irgendetwas erinnern können?"

    Er war wirklich froh, dass Nate bei ihm war, nicht bei seiner Schwester. Dieses Umfeld von Hoffnung und Ungeduld wäre wahrscheinlich toxisch. Da schlug er sich doch etwas besser und es hieß schon was, wenn er das tatsächlich von sich selbst dachte.

    "Nein, bisher noch nicht", antwortete er so sachlich wie möglich. "Aber er lebt sich langsam ein. Es läuft insgesamt ganz gut, denke ich."

    Er sagte absichtlich nicht, dass sie sich sehr schnell wieder näher gekommen waren. Wenn das bei ihr nicht der Fall wäre, wäre sie nur enttäuscht und verletzt.

    Es entstand eine kurze, wirklich unangenehme Pause, ehe sie endlich mit dem raus rückte, weshalb sie eigentlich angerufen hatte:

    "Übrigens… ich habe es Hana gestern Abend erzählt. Dass ihr Onkel wieder da ist. Auch, dass er Probleme hat, sich zu erinnern. Sie will ihn trotzdem unbedingt sehen. Ich weiß, ich wollte euch erst am Wochenende einladen und das steht auch noch, aber… glaubst du, es wäre eine gute Idee, wenn ihr heute kurz vorbeikommt? Nur auf ein 'Hallo'? Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich machen soll. Ich will nicht, dass Hana durch Nates Art verschreckt wird. Aber sie kann wirklich sehr stur sein, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat."

    Er kannte Hanas Sturheit, aber irgendwie konnte er Lily nicht ganz glauben, dass es nur daran lag. Sie gab für gewöhnlich nicht so leicht nach, aber irgendwie konnte er es verstehen. Wenn Nate bei Lily wohnen würde, hätte er auch jede Ausrede gesucht, damit er bei ihm sein konnte.

    "Schwierige Frage… willst du nicht lieber mit ihm darüber reden? Ich will keine Entscheidungen über seinen Kopf hinweg treffen."

    "Äh… okay."

    Sie klang unsicher, aber sie musste genauso wie er lernen, mit dem neuen Nate klar zu kommen. Und er vertraute mindestens seinem Freund, dass der es möglich machte, dass das funktionierte.

    So ging er zu Nate und übergab ihm das Handy.

    "Was gibt's, Lily?"

    Er konnte nicht verstehen, was auf der anderen Seite gesagt wurde, aber er konnte Nate nicht überhören, obwohl er sich wieder etwas zurückzog.

    "Du bist wirklich leicht zur Verzweiflung zu bringen."

    Das klang belustigt und er war froh, dass sein Freund heute schon wesentlich lockerer mit seiner Schwester umging. Hoffentlich schaffte der das auch später mit Hana.

    Eigentlich war die Situation an sich ziemlich traurig. Keiner wusste so recht, wie er mit dem anderen umgehen sollte. Alle waren verletzt und voller Hoffnung und Erwartungen. Das war für niemanden von ihnen leicht.

    "Ist okay, wir kommen vorbei."

    Damit war es wohl beschlossene Sache, aber das war ein erwartetes Ergebnis gewesen.

    Das Gespräch dauerte dann nicht mehr lange und Nate legte schließlich auf.

    "Dann steht wohl der Tagesplan für heute. Ich reserviere einen Tisch zu siebzehn Uhr fünfzehn. Das ist ungefähr 15 Minuten zu Fuß von hier, wenn das für dein Bein in Ordnung ist. Wenn wir um sechzehn Uhr dreißig zu deiner Schwester gehen, haben wir einen guten Exit-Plan und falls du länger bleiben möchtest, verschieben wir einfach die Reservierung."

    "Klingt gut", stimmt Nate zu. Er sagte nichts zu der Gehentfernung, deshalb hoffte Shinji, dass das wirklich in Ordnung war. Aber im schlimmsten Fall, würde er sich das Auto von Lily leihen.

    "Ist das denn auch okay für dich?"

    Er hätte beinahe automatisch mit ja geantwortet, doch Nate ermahnte ihn, er solle ehrlich sein. Also hielt er inne und dachte über seine Worte genauer nach.

    Nach einem Moment zuckte er die Schultern: "Ich bin eher ein Freund davon, spät zu essen, aber das geht wegen Hana nicht. Aber ansonsten? Ich bin mit Lily befreundet und habe schon oft auf Hana aufgepasst, also das ist wirklich kein Problem."

    Er kam jetzt zu ihm und setzte sich dazu, konnte sich nicht verkneifen, ein Blick auf das Bein zu werfen. Er hätte gerne gewusst, was genau passiert war, aber das konnte er nicht fragen beziehungsweise würde ihm Nate sowieso keine wirkliche Antwort geben können.

    "Das nächste Mal, gehen wir später essen.", versprach Nate sofort und Shinji schüttelte schmunzelnd den Kopf. Das würde sich wohl nie ändern.

    Er stieß Nate leicht mit dem Ellbogen an: "Deshalb sag ich die Wahrheit manchmal nicht gerne. Dann denken andere zu schnell, sie müssten sich nach mir richten."

    "Aber mir ist es egal, wann wir essen gehen und wenn du eine gewohnte Essenszeit hast, dann ist das okay für mich."

    Als hätte Nate keine gewohnten Essenszeiten oder allgemein einen sehr strikten Tagesplan. Es kam ja nicht von irgendwoher, dass er wesentlich früher wach war als er uns es nach zehn Uhr nicht mehr im Bett aushielt.

    Als Rache piekste Nate ihm in die Seite, was Shinji überrascht quieken ließ. Sehr männlich…

    Er ließ das Thema fallen und glücklicherweise nahm Nate ein anderes Thema auf:

    "Die Blume an dem Korkbrett, ist die von Hana?"

    Shinji hatte keine Ahnung, wie Nate darauf kam, aber er spielte mal mit.

    "Ja, ich hab ihr mal gesagt, dass Hana auf Japanisch 'Blume' heißt. Als ich ihr ein Malbuch geschenkt habe, habe ich sie aufgefordert, mir mal eine Blume zu malen, die genauso hübsch ist, wie sie."

    Er fragte sich bis heute, ob Hana der Überzeugung gewesen war, dass die Blume hübsch war oder, ob sie einfach ein unglaublich geringes Selbstbewusstsein hatte. Er tippte auf ersteres, aber er hätte ihr eigentlich besseren Geschmack zugetraut.

    "Was ist mit ihrem Vater? Von dem hat noch keiner was erzählt."

    Ob Nate ahnte, dass da was nicht stimmte? Es war ja schon auffällig, dass der Familienvater nicht auch dabei gewesen war, ihn abholen. Andererseits könnte man auch vermuten, dass der Vater Nate einfach nicht mochte. In dem Fall, wäre das aber auch eine erwähnenswerte Information gewesen.

    "Ich kenn die Geschichte nicht wirklich. Ich glaube, er ist abgehauen. Du bist für Hana so etwas wie der Vaterersatz… und ich bin mittlerweile ihr Nate-Ersatz."

    "Dann ist Hana so etwas wie eine Tochter für mich?"

    Das war eine durchaus berechtigte Gegenfrage, musste Shinji feststellen. Klar, nur weil Hana ihn als Vaterfigur sah, hieß das nicht automatisch, dass Nate solch eine Verbindung zu ihr hatte.

    "Ich denke schon, aber wirklich darüber gesprochen, haben wir nie."

    Tochter war auch irgendwie der falsche Begriff… "Vielleicht aber eher so etwas wie ein großer Bruder."

    "Gut zu wissen, ich habe nämlich keine Ahnung, wie ich zu Kindern stehe."

    Das würde sich wahrscheinlich ebenfalls nicht geändert haben, aber das war abzuwarten.

    "Wir werden ja sehen wie es läuft. Im schlimmsten Fall haben wir einen sehr guten Fluchtplan. Aber Hana ist allgemein ein sehr angenehmes Kind. Anstrengend, ja, aber das sind alle Kinder auf ihre Weise. Sie ist intelligent und aufgeweckt und einfach nur niedlich. Selbst ich komme mit ihr klar, also sollte das für dich kein Problem sein."

    Und davon war er wirklich überzeugt.

    Nate war fertig mit seinem Bein und die Salbe schien eingezogen, denn er rollte das Hosenbein wieder herunter.

    "Wenn du das sagst."

    

    Die restliche Zeit bis zum Nachmittag verbrachten sie gemeinsam vor dem Fernseher. Zwischendurch wurde nur der Frühstückstisch abgedeckt und bei dem kritischen Blick, den Nate seinem immer noch gefüllten Teller zuwarf, war sich Shinji sicher, dass der ihm nicht nur eine zusätzliche Kugel Eis nachher aufschwatzen würde. Er nahm aber lieber mit einer Tasse Kaffee und noch der ein oder anderen Serienfolge Vorlieb.

    Als sie sich auf den Weg zu Lilys Wohnung machten, achtete er auf Nates Gang. Es musste abschätzen, wie realistisch es war, dass Nate nachher die fünfzehn Minuten am Stück gehen konnte.

    "Hast du noch Fragen?", erkundigte er sich zwischendurch, denn jetzt war die letzte Möglichkeit, noch etwas abzuklären.

    Der Gang schien normal, nicht angestrengt, also machte er sich fürs erste keine weiteren Gedanken darum.

    Nate schüttelte den Kopf.

    "Kann ich dir sonst irgendwie helfen?" Ob er zu aufdringlich war?

    Das kurz angebundene 'Nein' schien die Befürchtung zu bestätigen. Nate war nicht der Typ, der sich gerne bemuttern ließ. Vielleicht war er aber auch nervös, weil das Treffen mit seiner Nichte unmittelbar bevor stand.

    Was ihn aber erstaunte war, dass Nate ganz natürlich vor dem Haus hielt, in dem Lilys Wohnung war und in seine Hosentasche griff, aus der er die leere Hand verwirrt wieder zurückzog.

    Oh, da waren doch noch einige alte Gewohnheiten und unterbewusste Erinnerungen. Er lächelte leicht, ehe er zu Nate kam und seinerseits die Haustür aufschloss. Freundschaftlich klopfte er Nate auf die Schulter, ehe er die Treppe zu der Wohnungstür mit ihm hoch ging und dort ebenfalls aufschloss.

    "Wir sind's", rief er in die Wohnung, ehe er zur Seite trat um Nate vor zu lassen.

    Sie waren keine zwei Sekunden alleine, da stand Hana schon vor ihnen und strahlte sie an. Sie war ein gutes Stück im vergangenen Jahr gewachsen, aber das würde Nate nicht wissen.

    "Shinjiii!", rief sie und hüpfte zu ihm um ihn zu umarmen.

    Dann sah sie zögerlcih zu Nate, offensichtlich unsicher, was sie tun sollte. Ihr Augen strahlten dafür mit der Sonne um die Wette.

    Am liebsten wäre sie Nate wohl auch um den Hals gefallen, aber stattdessen hielt sie sogar Shinjis Hand, während sie ihren Onkel anstarrte, als wäre er der Weihnachtsmann persönlich.

    Lily erschien im Vorraum und begrüßte Shinji. Sie wusste, dass er es nicht so mit Umarmungen hatte und verschonte ihn deshalb. Dann wandte sie sich an Nate und umarmte den vorsichtig und äußerst zögerlich: "Schön, dass ihr gekommen seid."

    Steifer ging es kaum, aber so hatte er sich gestern auch noch verhalten. Das kam ihm vor, als wäre es Wochen her.

    Statt sich mit seiner Schwester näher zu beschäftigen, beugte sich Nate zu Hana herunter und musterte sie leicht: "Du bist ja groß geworden."

    Auf den Kopf gefallen war sein Freund nicht, das musste man ihm lassen. Hana verstand natürlich nicht, dass er sich trotzdem nicht an sie erinnerte und das jedes Kind eben innerhalb eines Jahres wuchs, deshalb schmiss sie sich jetzt einfach überglücklich an seinen Hals und zwar so plötzlich, dass er ein wenig Schwierigkeiten hatte, nicht sein Gleichgewicht zu verlieren.

    Lily schien es auch nicht zu verstehen, denn in ihren Augen lag Unglauben und Hoffnung. 'Kannst du dich etwa wieder erinnern?' stand ihr förmlich ins Gesicht geschrieben, was Nate mit einem unauffälligen Kopfschütteln beantwortete.

    Er schloss erst einmal die Tür und kam dann wieder zu den anderen.

    "Wir sind aber wirklich nur kurz da", warnte er die beiden schon einmal vor. Planänderungen konnten ja immer noch stattfinden, aber er wollte Lily davon abhalten, sie irgendwie hier fest zu nageln.

    Da Hana noch immer an Nate klammerte, der sich mittlerweile aufgerichtet hatte und Lily da stand wie vom Donner gerührt, übernahm er ihren Part ein wenig mit: "Wollen wir nicht ins Wohnzimmer? Oder ins Esszimmer? Irgendwo, wo wir gemütlich zusammen sitzen können?"

    Lily nickte und machte Platz, damit sie vor gehen konnte. Auch ein wenig unsinnig, wenn man bedachte, dass Nate nicht wusste, wo hin, aber dann übernahm er eben auch hier die Führung.

    "Wollt ihr was trinken?"

    Irgendwie hatte Shinji das Gefühl, dass sie damit hauptsächlich ihn ansprach, aber er konnte sich auch täuschen. Hoffentlich würde sie im laufe des abends lockerer.

    "Kaffee, wenn du da hast."

    "Schau mal, Nate, schau mal!" Hana hopste von ihrem Reittier herunter und zog ihn zu einem Wandregal, das er aufgebaut hatte. "Mama und ich haben es himmelblau angemalt!"

    "Cool", antwortete Nate und schaffte es, wirklich beeindruckt zu klingen. "Ich mag die Farbe."

    Unauffällig warf er Shinji einen vollkommen irritierten Blick zu. Das hier würde ein wenig anstrengender als erwartet.

    Dennoch trat er zu den beiden und lächelte: "Die Farbe war Hanas Idee, weil sie doch so gut zu deinen Augen passt und wir fanden alle, dass das am Besten die Mühen des Erbauers belohnt. Sozusagen dein persönliches Monument als Dankeschön dafür, dass du hier immer so viel handwerklich geholfen hast."

    Damit hatte er die Wahrheit etwas sehr weit ausgelegt, aber man konnte das durchaus genau so interpretieren. Außerdem konnte er so Nate alle Infos geben, die er brauchte. Hana schien das nicht zu bemerken.

    "Schade, ich hatte gehofft, es würde eine Statue werden."

    "Wo sollen wir denn bitte eine Statue hinstellen?", lachte Hana aber in einem so vorwurfsvollen Ton, als wollte sie noch ein 'du Dummie' hinten anhängen.

    "Oh, ich bin sicher, den Platz hättet ihr gefunden, wenn ihr nur gewollt hättet.", neckte Nate Hana weiter, die darauf lachen und mit einem langgezogenen 'Mamaaaa' zu Lily in die Küche lief, die gerade Kaffee kochte. Man konnte hören, wie sie Nates Vorschlag direkt weitergab.

    Der wuschelte ihm jetzt durchs Haar und lächelte dankbar, was Shinji schon abwinken ließ, noch ehe er irgendwelche Worte dazu gehört hatte.

    "Ich glaube, du erinnerst dich langsam wieder", murmelte er leise, damit Lily ihn bloß nicht hörte. "Nicht aktiv, aber du nimmst immer mehr alte Gewohnheiten und Verhaltensweisen wieder an."

    Er nutzte den kurzen Moment, den sie allein hatten, um Nates Hand zu nehmen und sie leicht zu drücken. Das half aber auch nicht dabei, die skeptisch krausgezogene Stirn wieder zu glätten.

    "Weißt du… als wir uns heute geküsst haben, hatte ich für einen kurzen Moment das Gefühl, das alles zu kennen. Das war etwas seltsam. Aber das kann nur etwas Gutes bedeuten. Irgendwann muss das Schloss ja zu knacken sein."

    "Ich halte gerne weiter als Versuchskaninchen her."

    Klar, es war gleichzeitig scheiße und schön, aber war er das Nate nicht sowieso noch schuldig? Schließlich hatte er ihm damals zum Test einen runter geholt.

    Nate verzog etwas unwillig das Gesicht, weshalb er das Thema schnell wieder fallen ließ und ihn dann zum Sofa führte.

    "Ich dachte, ich frage Lily nachher, ob ich ihr Auto haben darf, um zum Restaurant zu fahren."

    Er musterte Nate aufmerksam, denn zusagen würde er nicht. Das würde ja bedeuten, dass er Schwäche zeigte.

    "Ja, wenn sie es uns leihen kann… warum nicht?"

    Was? Das kam überraschend. Wie schlimm war das Bein, dass Nate tatsächlich vernünftig war?

    Aber er konnte nicht weiter darüber nachdenken, denn Lily und Hana kamen wieder. Die Kleine setzte sich ihnen gegenüber und berichtete schmollend, dass eine Statue doch zu groß für die Wohnung wäre, versprach Nate aber, ganz viele Bilder für ihn zu malen.

    Um gleich Nägel mit Köpfen zu machen, wandte er sich an Lily, sie hatten ja sowieso nicht viel Zeit und er hatte Angst, dass wieder unangenehme Stille entstand:

    "Hey, wär's vielleicht möglich, dass wir uns dein Auto für ein oder zwei Stunden leihen? Wir wollen gleich noch essen gehen."

    Hana sprang jetzt auf, scheinbar zu weit weg für ihren Geschmack und setzte sich zwischen ihn und Nate, der einen Arm um sie legte.

    "Klar, das ist kein Problem. Ich habe diese Woche ohnehin Urlaub und werde es nicht wirklich brauchen."

    Das war gut zu wissen, dann konnte er es sich vielleicht öfter leihen, wenn sie weg wollten.

    "Danke" Er nahm den Kaffee entgegen, den Lily ihm reichte und nahm einen Schluck. Nate bekam auch eine Tasse. "Wann sollen wir am Wochenende denn vorbei kommen? Oder treffen wir uns extern irgendwo?"

    Vielleicht wäre letzteres gar nicht so schlecht. Dann hätte Nate eventuell nicht ständig den Druck, sich erinnern zu müssen oder zu wollen und Lily konnte sich auf neutralem Boden vielleicht auch ein wenig entspannen.

    "Gut, gehen wir essen"

    Eh? Das war keine Forderung gewesen, aber gut, wenn Lily das wollte, er fand die Idee ja auch nicht schlecht.

    Nate hatte sich aus dem Gespräch ganz ausgeklinkt. Der rührte gerade seinen Kaffee schwindelig.

    "Hast du spontan was im Kopf?"

    "Wie wäre es mit Italienisch?"

    Das war irgendwie logisch, denn er wusste, dass Hana gerne Spaghetti aß und Nate zumindest früher Pizza geliebt hatte. Und für Lily gab es ausgefallene Salate. WinWin.

    Deshalb stimmte er auch zu und ehe Stille entstehen konnte, schaltete sich Hana ein. Wahrscheinlich, weil Nate ihr zu ruhig war.

    "Seit wann bist du wieder da? Hast du mir was mitgebracht? Du hast gesagt, du würdest mir was tollen mitbringen, wenn du wieder kommst, schon vergessen?"

    "Oh… nein. Das hab ich natürlich nicht vergessen. Ich nehme es dir am Wochenende mit, ja?"

    Hana jubelte freudig, aber Shinji machte sich Sorgen. Nate war viel zu ruhig und schien verkrampft. Sie sollten das nicht überstrapazieren.

    "Ich fürchte, wir müssen jetzt auch los, sorry. Aber am Wochenende haben wir ja ausgiebig Zeit. Sagst du Bescheid, sobald du reserviert hast, wegen der Uhrzeit?"

    "Oh, klar, mache ich."

    Als Shinji dann aufstand, tat Lily es ihm gleich und lotste Hana etwas von Nate weg. "Komm, Schatz. Lass deinen Onkel seinen Kaffee austrinken."

Kapitel 54

    Es dauerte keine halbe Minute, dann standen sie vor Lilys Wagen.

    "Lief doch gar nicht mal so schlecht."

    Eigentlich wäre das Shinjis Satz gewesen und er wusste nicht so genau, wie er darauf reagieren sollte. Es war gut gelaufen, ja, aber Nate schien sich nicht wohl gefühlt zu haben. Aber sie sollten sich wohl auf die guten Dinge konzentrieren.

    "Ja, es lief ganz gut. Jetzt müssen wir nur noch hoffen, dass Lily irgendwann bemerkt, dass du nicht beißt, wenn sie was ungeschicktes sagt."

    "Um ehrlich zu sein, warte ich nur darauf, dass sie überhaupt erst mal etwas sagt."

    War das vielleicht das Problem gewesen? Hatte Nate sich zu sehr ignoriert gefühlt?

    Er machte die Tür auf und setzte sich ins Auto.

    "Nun ja, jetzt bin ich erst einmal froh, dass ausnahmsweise ich dich mal durch die Gegend fahren kann."

    Als Nate ordentlich saß, startete er den Wagen. Den fragenden Blick erwiderte er mit einem Grinsen und fuhr dann los.

    "Ich bin der passive Part in unserer Beziehung, was mir gesellschaftlich das letzte bisschen Männlichkeit nimmt, das noch übrig bleibt, wenn man rausfindet, dass ich schwul bin. Es schmeichelt einfach meine Ego, wenn ich ab und zu mal die Führung übernehmen kann."

    Es dauerte nur zwei Minuten, bis sie da waren und noch einmal drei, bis er einen Parkplatz gefunden hatte. Sie waren ein bisschen zu früh, aber das würde wahrscheinlich kein Problem sein.

    Es war ein Hipster Laden, was auch immer das genau hieß. Es war nur das erste, was ihm auffiel. Die Inneneinrichtung war aufdringlich modern und cool.

    "Ich bin wirklich gespannt", murmelte er, ehe sie sich zu ihrem Tisch führen ließ. Er lag am Rand, aber nicht in einer Ecke. Privatsphäre hatten sie dennoch.

    "Was ist das alles? Für das meiste brauch ich ein Wörterbuch."

    "Ja, echt abgefahrenes Zeug."

    Da es asiatische Fusionsküche war, kannte er ein paar der Begriffe, aber wirklich schlau wurde selbst er nicht aus den komischen Mischungen. Letztendlich wählten sie beide wahrscheinlich eher blind. Er warnte Nate nur davor, dass 'scharf' wirklich scharf hieß und das was als 'mild' bezeichnet wurde, die meisten Amerikaner schon umhaute.

    "Ich nehme Khanom Chin Nam Ya", teilte Nate ihm mit und seine eigene holprige Aussprache, ließ ihn lachen. "Das klingt in meinen Ohren ziemlich erotisch. Khanom Chin Nam Ya… Khanom Chin Nam Ya…"

    Er vergrub sich förmlich in der Speisekarte und amüsierte sich königlich über die merkwürdigen Namen.

    "Hey, Shinji… Som tam, Kai Yang.", wisperte ihm entgegen, als wäre es was verbotenes und das schmutzige Grinsen brachte ihn letztendlich auch zum Lachen, obwohl er das Verhalten eigentlich peinlich finden sollte. Aber Nate war schon immer ein wenig albern gewesen. Man durfte sich auch ab und an mal nicht so ernst nehmen.

    Da er nicht unnötig Aufmerksamkeit erregen wollte, verstummte sein Lachen schnell wieder und er schüttelte den Kopf: "Spinner."

    Er besah sich die beiden Sachen aber auf der Karte und musste zugeben, dass das wirklich nicht schlecht klang. "Aber ich glaube, das nehme ich auch."

    Er konnte nicht genau sagen warum, aber Kellner hatten die dumme Angewohnheit, ihn immer zu übersehen. Auch diesmal, weshalb er sich nach einem vergeblichen Versuch Blickkontakt herzustellen, an Nate wandte:

    "Magst du den Kellner rufen?"

    Nate fiel mit seiner Größe sofort auf, weshalb nur wenige Sekunden eine Bedienung zu ihnen kam.

    "Bitte schön, die Herren. Was darf es sein?"

    Offenbar waren Schreibblöcke hier zu altbacken, denn der Kerl zog etwas hervor, das aussah, wie ein Handy. Ihm war durchaus bewusst, dass das für die Küche viel einfacher war, dennoch sprang einem der moderne Touch ständig ins Gesicht. Für ihn hatte das hier nichts gemütliches mehr. Wahrscheinlich würde er hier nicht mehr her kommen. Das war mitunter ein Grund, warum er es sich nicht verkneifen konnte, das Gericht mit leicht verruchter Stimme zu bestellen:

    "Som tam, Kai Yang… bitte"

    Was tat er hier eigentlich? Seine Therapie musste doch schon ein wenig besser gewirkt haben, als er angenommen hatte. Es kamen wieder Züge von ihm zum Vorschein, die er das letzte Mal als Teenager gehabt hatte. Und auch wenn es ihm irgendwie peinlich war, konnte er das Grinsen nicht aufhalten, als der Kellner ihn etwas verdutzt ansah.

    Nates Schultern bebten, vor unterdrücktem Lachen. Er versuchte es ihm gleich zu tun, doch schon nach der zweiten Silbe brach er in schallendes Gelächter aus.

    Der arme Kellner verstand wahrscheinlich die Welt nicht mehr.

    "Und zu trinken?", fragte der Kellner mit verbissener Ruhe, nachdem er Nates halb hervor gewürgte Bestellung aufgenommen hatte.

    "Welches Bier würden Sie empfehlen?"

    Nate zeigte ihm sogar die Karte, was wohl auch notwendig war, denn der Kerl studierte sie eingehend. "Chang ist sehr beliebt."

    Das war das Bier mit dem höchsten Alkoholgehalt auf der Karte. Wollte der ihnen etwa eins reinwürgen? Konnte er sich kaum vorstellen, denn Alkohol machte ja bekanntlich noch alberner. Komischer Laden.

    Andererseits hatte er wirklich angst, dass der Kellner ihm noch ins Essen spuckte, weil er sich so verarscht vorkam.

    Er winkte den Kerl deshalb zu sich und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Danach bestellte er eine Cola.

    "Was hast du ihm da eben gesagt? Ich hoffe, der Typ spuckt uns nicht ins Essen."

    Da hatten sie beide eindeutig den gleichen Gedanken gehabt.

    Aufgedreht und ermutigt, durch den Spaß den sie bisher gehabt hatten, konnte er einfach nicht aufhören:

    "Ich hab ihm gesagt, dass ich ihn gleich auf dem Klo haben will."

    Ausnahmsweise war er froh, dass Nate sich nicht erinnern konnte, denn erst, als er das ausgesprochen hatte, fiel ihm auf, dass das zu nah an dem Vorfall mit Chris damals heran kam. Es brachte ihn selbst etwas zum erschauern und hätte Nate wahrscheinlich die Stimmung verdorben.

    So schnalzte der aber nur mit der Zunge: "Ich hab es doch gewusst. Du betrügst mich und das auch noch direkt vor meiner Nase."

    "Ich brauche eben meinen Nachtisch."

    "Oh ha, wir haben Nachtisch bestellt?"

    Auch wenn es ein wenig gemein war, musste Shinji wirklich lachen. War er wirklich so mies in solchen Sachen?

    "Ich bin echt schlecht im Witzig-Sein. Meine Anspielungen versteht keiner."

    Er winkte ab, damit Nate nicht weiter darauf herumritt: "Ich hab nur dafür gesorgt, dass wir hier auch weiter bedient werden, mehr nicht."

    Er hatte ihm gesagt, dass das eine Wette gewesen wäre und hoffte, dass das reichte, um ihn zu beruhigen. Aber er hatte danach wieder etwas entspannter ausgesehen.

    Als Nate das Bier bekam, erinnerte er sich an die Prozentangabe und er war sich nicht sicher, ob sein Freund etwas von Kreuzwirkungen verstand: "Sei vorsichtig damit, ja? Das Zeug ist nicht ohne und deine Schmerzmittel können die Wirkung von Alkohol verstärken."

    Es war ein gut gemeinter Ratschlag, aber er wusste nicht recht, was er von Nates übertrieben unschuldigem Grinsen halten sollte.

    

    Sie hatten noch nicht einmal ihr Essen, da bestellte Nate bereits die zweite Flasche. Das stieß ihm dann doch etwas sauer auf. Er wollte seinen Freund nicht bemuttern, aber er war sich auch nicht sicher, ob Nate schon wieder wusste, wie mit Alkohol umgegangen werden musste und er hatte keine große Lust, dass dieses Abendessen in einem Besäufnis endete.

    "Nate, ernsthaft. Mach langsam."

    "Okay, okay."

    Gerade fühlte er sich wirklich wie der Vater von einem Teenager und er verstand die Situation ganz und gar nicht. Nachdem die Stimmung so gut gewesen war, war Nate jetzt deutlich angefressen. Aber wenigstens stellte er die Flasche ab und rührte sie erst einmal nicht an.

    Das Essen kam und so versuchten den ersten Happen. Wirklich nicht schlecht, das musste er sagen.

    "Das ist wirklich gut. Willst du kosten?"

    Shinjis Blick lag nachdenklich auf Nates Teller. Die fehlende Lockerheit, die vorhin noch da gewesen war, sorgte jetzt dafür, dass er wieder zu denken begann. Teilte man essen unter Freunden einfach so? Machten das nicht nur Pärchen? Er hätte wirklich gerne probiert, aber was, wenn die Leute das mitbekamen?

    Sie hatten sich vorhin schon so auffällig benommen, sicherlich redete der ein oder andere noch augenrollend über sie und schaute hin und wieder zu ihnen. Es war schon ungewöhnlich genug, dass zwei Kerle alleine in einem Restaurant saßen, wenn sie noch begannen Essen zu tauschen, würden die doch eins und eins zusammen zählen können. Das war ihm zu riskant.

    "Nein, danke.", antwortete er deshalb und versuchte Nate ein beruhigendes Lächeln zu schenken, damit der nicht das Gefühl bekam, plötzlich abgewiesen zu werden.

    Er fühlte sich komisch, während er sich seinem Teller widmete und langsam aß. Fast so, als würde er jeden Moment eine Panikattacke bekomen, aber er konnte nicht einmal sagen, warum. Es kam ja auch unglaublich plötzlich. Was hatte ihn so aus der Bahn geworfen?

    "Bleibt mehr für mich."

    

    Das Essen verlief still. Viel zu still, aber er hatte solche Angst, wieder irgendwie bissig oder bevormundend zu werden, dass er lieber schwieg.

    Erst als der Kellner abräumte, war es Nate, der wieder das Wort ergriff: "Alles okay?"

    Er öffnete schon den Mund, halb lächelnd, um ihm zu bestätigen, dass alles gut wäre, hielt dann aber inne. Das wäre unfair. Er konnte nicht von Nate verlangen, mit ihm zu reden, wenn er selbst nicht offen war. Deshalb klappte er den Mund erst einmal wieder zu und sah Nate unsicher an, ehe er den Blick leicht senkte:

    "Ich glaub ich bin ein wenig fertig… wärst du böse, wenn wir den Nachtisch ausfallen lassen? Wenn du Lust auf was süßes hast, findet sich bei mir in der Wohnung sicher was geeignetes."

    Eigentlich hatte er schon damit gerechnet, dass Nate ihn nach dem 'warum' fragte. Stattdessen stimmte er zu und rief sofort den Kellner.

    Als Nate ohne fragen die Rechnung übernahm, begann sein Herz zu pumpen und leicht panisch sah er sich danach um, ob irgendwer zu ihnen herüber sah. Dass dem nicht der Fall war, half nur leider nicht dabei, sich zu beruhigen.

    Etwas neben sich ging er mit Nate zum Auto, einen noch größeren Abstand haltend, als sowieso schon. Ihm fiel nicht einmal auf, dass Nate humpelte.

    "Sag, hast du mal irgendwelche schlechten Erfahrungen mit Alkohol gemacht?"

    "Was?"

    Er war gerade dabei das Auto aufzuschließen, als Nates Frage ihn innehalten ließ. Wie kam er jetzt darauf? Nicht einmal der alte Nate hatte ihn je gefragt, warum er nur noch unfreiwillig trank. Das höchste der Gefühle war mal ein Bier.

    "Ehm… ja… aber das ist schon lange her…"

    Nate hatte die Arme lässig über dem Autodach verschränkt und sah ihn darüber durchdringend an: "Weil du echt penibel darauf geachtet hast, dass ich nicht zu viel trinke. Irgendwie war danach die Stimmung im Eimer. Deshalb dachte ich, dass du vielleicht mal schlechte Erfahrungen mit Alkohol gemacht hast. Was ist denn damals passiert?"

    "Oh… sorry, nein. Das war nicht der Grund. Nicht direkt… ich hab mir nur Sorgen gemacht… mit deinem Bein und allem. Ich hätte nciht gewusst, wie ich dich heim bekomme, wenn du wirklich richtig angetrunken gewesen wärst. Tut mir leid, ich hab überreagiert."

    Aber jetzt hatten sie das Thema schon angeschnitten und er war Nate noch eine Antwort schuldig. Es war nicht schlimm… das war nichts, was er absichtlich geheim gehalten hatte.

    "Nichts großartiges… Als mein Vater mich damals vor die Tür gesetzt hat, hab ich ein paar Monate auf der Straße gelebt und es da mit dem Alkohol übertrieben. Es ist nie eine Sucht geworden oder so… aber seitdem trinke ich nur noch gelegentlich und nur in absoluten Ausnahmefällen so viel, dass ich wirklich betrunken werde."

    Wie meistens berichtete er mehr nüchtern, als irgendwelche Emotionen in die Erzählung zu legen. Er wollte nicht jammern und das würde er, sobald er tiefer graben würde. Er wollte gar nicht mehr an die Zeit damals denken.

    "Erstmal: Mach dir nicht immer solche Gedanken um mich. Ich kann auf mich selbst aufpassen. Und Zweitens: Hast du dich wirklich kein einziges Mal bei mir gemeldet? Ich hätte dir doch bestimmt geholfen."

    "Das passiert nicht wieder, tut mir leid."

    Er fühlte sich wirklich schlecht deshalb. Das war nicht seine Art und er wusste immer noch nicht genau, was sein Verhalten eigentlich ausgelöst hatte.

    "Und zu dem anderen: Selbst wenn ich damals Kontaktdaten gehabt hätte, hätte ich dich vermutlich nicht angerufen, weil ich dachte, du würdest in dieser ganzen Videosache mit drin hängen."

    "Wie bist du dann wieder auf die Beine gekommen?"

    Ein vorbeifahrendes Auto erinnerte Shinji daran, dass sie noch immer auf der Straße standen, weshalb er nach kurzem Prüfen der Straße endlich die Tür öffnete und einstieg. Nate tat es ihm gleich.

    "Eines Tages hat mich einer der Lehrer angesprochen… ich bin immer weiter zur Schule gegangen. Er hat mich dann aufgenommen. Als ich ihn eines Tages masturbierendvor dem Video erwischt habe, hab ich mir schnellstmöglich einen Job gesucht und bin da weg. Ab da ging es langsam wieder bergauf."

    "Er hat…?"

    Nate sagte daraufhin nichts mehr, aber die angespannte Haltung sagte Shinji deutlich, dass er sich zurückhalten musste, nichts Ausfallendes zu sagen.

    Als Shinji das Auto auf Lilys Parklücke stellte, wandte er sich noch einmal an seinen Freund, bevor der doch noch ausflippte: "Es ist nie etwas passiert. Er hat mich manchmal komisch angesehen, aber er hat mich nie angefasst oder so. Es war nur ein Schock für mich. Schon wieder ein Erwachsener, auf den ich mich nicht verlassen konnte. Das war aber alles."

    Plötzlich lag Nates Hand auf seiner, bedeckte sie damit vollständig. Als er zu ihm sah, sah er die unterdrückte Wut in dessen Augen. Er zog die Hand dennoch von ihm fort, das hier war ihm gerade wirklich noch zu öffentlich.

    "Ich bin froh, dass nichts passiert ist."

    Er konnte nichts anderes als nicken. Er war gerade wirklich ziemlich fertig.

    Er stieg aus und ging in Richtung seiner Wohnung. Diesmal fiel ihm das Humpeln deutlich auf, hätte er ihn besser direkt vor die Haustür gefahren? Er konnte einfach nicht einschätzen, wie schlimm es war. Aber Nate sagte auch jetzt nichts, ging einfach stoisch neben ihm her, zündete sich eine Zigarette an und zog einmal daran.

    Ein bisschen hatte er wirklich ein schlechtes Gewissen, dass er den Abend früher beendet hatte. Nate hätte nur eine kurze Strecke zu dem Cafe gehabt und hätte sich dann noch eine ganze Weile länger ausruhen können.

    "Es tut mir leid…", murmelte er. Nate wusste nicht, warum genau er sich entschudligte, aber es war ihm dennoch wichtig, es zu tun. "Ich kann selbst nicht genau sagen, was los ist… mir ist einfach nicht gut."

    Er konnte es kaum erwarten, zu Hause anzukommen. Hier draußen fühlte er sich gerade furchtbar angreifbar. Er sehnte sich nach den dicken Wänden, die ihn vor allem anderen beschützten.

    "Du musst dich nicht dauernd entschuldigen. Wenn du dich nicht gut fühlst, ist es klar, dass wir Heim gehen."

    Dann war es wieder still zwischen ihnen. Was sollte er auch dazu noch sagen? Er würde sicherlich keine Diskussion mit Nate anfangen, dazu hatte er jetzt nicht die Kraft.

    Als sie vor seiner Wohnungstür ankamen, schnippte Nate die Zigarette auf den Boden, doch als er sie austreten wollte, verdrehte er das Bein wohl falsch, denn er stöhnte kurz unterdrückt. Shinji verkniff sich einen Kommentar, zumindest für jetzt.

    Er beeilte sich stattdessen rein zu kommen, ließ die Tür für Nate auf und eilte in die Küche. Automatisch öffnete er die Schublade, in der die Notfalltropfen waren und wollte schon danach greifen. Er stoppte.

    War das wirklich ein Notfall? Eigentlich nicht. Er hatte keine Panikattacke, es ging ihm einfach nur schlecht. Er wusste, dass die Tropfen ihn beruhigen würden und das war das verführerische daran, aber er musste aufpassen. Er konnte die nicht für jede Kleinigkeit nehmen. Vor allem nicht nur, weil er einen schlechten Abend hatte.

    Er hörte wie Nate ankam, schob die Schublade wieder zu und ging in den Flur. Er seufzte leise.

    Nate war blass, wahrscheinlich, weil er Schmerzen hatte.

    "Was muss ich tun, damit du dir wenigstens einen Gehstock besorgst?"

    "Den Gehstock würde ich nur als Türstopper verwenden.", murrte sein Freund leise und schlrufte zum Sofa, auf das er sich fallen ließ.

    Sein Bein zitterte und er musste die Hand auf sein Knie legen, damit es langsam nachließ.

    Shinji hatte wirklich nicht vermutet, dass es so schlimm war. Nate war immer noch ein Meister darin, so etwas runter zu spielen.

    "Es würde dir aber schneller besser gehen, wenn du einen hättest. Wäre es dir nicht leiber, du würdest die Schmerzen schneller loswerden, statt jetzt ständig zu versuchen, es zu verstecken und dafür die Heilung heraus zu zögern?"

    Langsam kehrte Ruhe in seinen Körper ein. Er fühlte sich nicht mehr so angespannt, hatte nicht mehr das Bedürfnis weg zu laufen. Hier in seiner Wohnung konnte er wieder entspannen, was das Problem wohl auf einen einzigen Faktor zurück führte.

    "Nah", antwortete Nate und winkte ab. "Im Vergleich zu letzter Woche ist das Bein schon so gut wie in Ordnung."

    Wenn Shinji an die riesige Narbe dachte, die er gesehen hatte, war das wohl sogar eine ziemlich akkurate Beschreibung, dennoch machte es die allgemeine Situation ja nicht besser.

    Er hätte weiter mit Nate darüber diskutieren müssen, das wusste er… aber ihm ging die Kraft aus. Ihm war sowieso klar, dass sein Freund sich nicht zu Krücken überreden lassen würde und auch nicht zu einem Gehstock oder irgendetwas anderem, was darauf hinweisen würde, dass er gerade körperlich nicht voll einsatzfähig war. Es war etwas ironisch, denn das Humpeln war wirklich kein Stück besser, aber wenn einer wusste, wie unlogisch Ticks und Gewohnheiten sein konnten, dann war er das.

    Deshalb gab er einfach auf. Er war zu müde, zu fertig dafür und die Erkenntnis die er gerade eben über sich selbst gehabt hatte, war so niederschmetternd, dass er die Kapazitäten gar nicht aufbringen konnte, um sich um die Probleme von jemand anderem zu kümmern. Vor allem, wenn der gar keine Hilfe wollte und überzeugt davon war, keine zu brauchen.

    Er tappste langsam zu Nate ans Sofa, setzte sich neben ihn und ließ seinen Kopf auf dessen gesundem Bein nieder.

    "Was für ein Tag, was?", murmelte Nate und strich ihm leicht durchs Haar.

    Es war eine vollkommen unverfängliche Bemerkung und eine freundliche, angenehme Geste. Dennoch trieben ihm beide die Tränen in und aus den Augen.

    Er fühlte sich mit einem Mal so elend, dass er das Gefühl hatte, seine Probleme würden niemals verschwinden. Vorhin hatte er noch gedacht, dass er unglaubliche Fortschritte gemacht hatte, aber gerade fühlte es sich so an, als stünde er noch immer ganz am Anfang. Es war ein scheiß Gefühl und er wusste nicht, wie er es loswerden sollte.

    Im ganzen letzten Jahr, hatte er keinen so heftigen Rückfall gehabt und er hatte keinerlei Ahnung, wie er damit umgehen sollte. Mental notierte er sich, dass er darüber unbedingt mit seinem Therapeuten sprechen musste, aber das nutzte ihm jetzt auch nichts. Jetzt blieb ihm nichts anderes, als stumm vor sich hin zu weinen.

Kapitel 55

    "Heute war der erste Tag seit über einem Jahr, an dem ich mit meinem Partner in die Öffentlichkeit bin…"

    Und das war das ganze Problem gewesen. Er hatte es bemerkt, genau in dem Moment, in dem er die Sicherheit seiner eigenen vier Wände wieder wahrgenommen hatte. Es war alles wieder das alte Problem gewesen. Und der Auslöser, war die unbewusste Angst gewesen, dass Nate übermütig werden könnte, wenn er angetrunken war und etwas tat, dass sie verraten würde. Das war alles gewesen. Ein kleiner Funke Angst, ein kleiner Augenblick und alles lag in Asche.

    "War es so schlimm?"

    "Eigentlich gar nicht." Und das war die Wahrheit. Es war schön gewesen. Wirklich schön. Am Anfang hatte er wirklich Spaß gehabt und das war das Schlimmste daran. Er hatte einen Rückfall gehabt, kurz nachdem es ihm wirklich gut gegangen war und das ohne irgendeinen Grund. Es war nichts passiert. Nichts war komisch gewesen. Niemand hatte irgendwas gesagt oder sie komisch angesehen, obwohl sie sich wirklich etwas daneben benommen hatten. Und dennoch lag er jetzt hier und fühlte sich, als würde alles wieder von vorne anfangen.

    "Ich weiß nicht was los ist. Vor einem Jahr sind wir auch weg gegangen… da habe ich mich auch unwohl gefühlt, aber es war nie so wie jetzt. Ich dachte mit der Therapie wird es besser, nicht noch schlimmer."

    Vorher hatte er wenigstens gewusst, warum er so durchdrehte. Diesmal war alles in Ordnung gewesen!

    "Vielleicht liegt es daran, weil du denkst, dass es nicht mehr dasselbe ist? Es ist für dich viel Zeit vergangen. Ich bin nicht der einzige, der sich an das hier gewöhnen muss. Du musst dich genauso wieder an mich gewöhnen."

    Er schloss die Augen und versuchte sich ganz auf die sanften Finger in seinen Haaren zu konzentrieren. Er schniefte leise.

    "Es ist schwer…", gestand er. Noch vor einigen Stunden hatte er das alles vor Nate verbergen wollen. Aber er konnte nicht. Das funktionierte nicht. Das einzige, was das brachte, war, dass es ihn fertig machte. Er war nicht stark. War er nie gewesen. Und als er weiter erklärte, quollen mehr und mehr Tränen unter seinen Augenlidern hervor:

    "Du gibst mir keinerlei Grund dafür, aber ich hab dennoch angst, dass sich irgendwas drastisch geändert hat. Ich hatte schon solches Glück, dass du leben heim gekehrt bist. Körperlich einigermaßen unversehrt. Was, wenn mein Glück da aufhört und ich dich dennoch verliere? Mein Leben hat sich bisher nicht wirklich als glückbehaftet heraus gestellt…"

    Er hörte Nate tief durchatmen. Ob er genervt war? Sich Sorgen machte? Ob er Schmerzen hatte?

    Hätte Nate nicht versucht, ihm sanft die Tränen weg zu wischen, wäre er in diesem Moment vielleicht aufgestanden und hätte versucht, sich zusammen zu reißen. Aber so hoffte er, dass er seinen Freund nicht nervte und der genug Kapazitäten frei hatte, um sich um ihn zu kümmern.

    Diese Gedanken ließen ihn sich nur noch schlechter fühlen. Er war so ein Jammerlappen. Nicht einmal zwei Tage hatte er durchgehalten. Nicht einmal zwei…

    "Hast du Angst, dass ich dich letztendlich alleine lasse? Oder dass ich doch nicht der bin, auf den du gewartet hast?"

    "Beides…", murmelte er.

    Obwohl Nate immer wieder versuchte, ihm die Wange trocken zu wischen, blieb es nicht lange dabei. Er konnte nicht aufhören, dieses Gefühl verschwand nicht.

    "Ich kann dir nicht versprechen, dass ich der bin, der ich damals war. Aber ich kann dir versichern, dass ich mich wohl bei dir fühle. Mag sein, dass sich etwas zwischen uns verändert hat, aber das hier nicht. Und es ist irrational, weil ich dich eigentlich erst kennengelernt habe. Aber ich vertraue dir. Und ich bin sicher, dass ich irgendwann wieder weiß, wen ich da eigentlich vor mir habe. Hab nur noch ein wenig Geduld…", Nate war immer leise gegen Ende geworden, bis es nur mehr ein leises Flüstern war.

    Machte er sich etwa Sorgen, dass er ihn verlassen würde, wenn er sich nicht erinnerte? Schnell schüttelte Shinji den Kopf, rollte sich etwas ein und krallte sich in die Jeans von Nate. Ob nun, weil er Angst hatte, dass Nate weglief oder um ihm zu zeigen, dass er bei ihm blieb, wusste er selbst nicht so genau.

    "Nein… nein, das solltest du nicht denken. Ich will nicht, dass du denkst, dass du dich erinnern musst. Ich mag dich… wirklich. Ich mag dich auch so wie du jetzt bist. Es ist nur… so wei du selbst sagst… es ist irrational… du weißt nicht einmal warum du mich magst und mir vertraust… und ich hab angst, dass die Gefühle irgendwann doch weg gehen… besonders wenn du bemerkst, wie kaputt ich eigentlich bin… wir kompliziert und anstrengend eine Beziehung mit mir ist…"

    Er merkte selbst, dass er sich gedanklich im Kreis drehte. Das Thema hatten sie heute morgen erst gehabt. Er schniefte wieder und schluchzte leise.

    "Und statt mich zusammen zu reißen und ausnahmsweise stark zu sein, liege ich jetzt hier und zeige dir genau das… und es tut mir leid, dass das so ist… du solltest dich dafür nicht verantwortlich fühlen müssen… jetzt musst du dich um einen Fremden kümmern, während du selbst mehr als genug eigene Probleme hast…"

    Plötzlich löste sich die Hand aus seinen Haaren und Nate beugte sich leicht vor, legte seine Hand auf Shinjis, die sich in die Jeans gekrallt hatte.

    "Es ist nicht wichtig, warum ich dich mag… Oder dir vertraue. Wichtig ist doch, dass ich es tue. Natürlich kann sich das alles irgendwann ändern, aber es muss nicht zwangsläufig ich sein. Was ist, wenn deine Gefühle sich irgendwann ändern und DU eines Tages sagst, du würdest das hier beenden wollen, weil ich es immer noch nicht geschafft habe, mich zu erinnern? Wir wissen beide nicht, was die Zukunft noch bringen wird. Warum lassen wir es nicht einfach auf uns zukommen?"

    Er verkroch sich so gut er konnte in der halben Umarmung. Ganz langsam nur versiegten seine Tränen.

    "Du brauchst keine Erinnerungen, damit es für mich funktioniert, Nate. Wirklich nicht. Das ist nichts, wovor du dich fürchten musst, bitte. Ich habe nur Angst davor, dir wieder alles von mir zu zeigen. Das war das erste Mal schon so unglaublich schwer… darum geht es mir. Ich…"

    Doch er kam nicht weiter, denn Nate beugte sich noch weiter zu ihm herunter, bis er dessen Atem an seinem Ohr spürte:

    "Ich mag dich, Shinji. Deshalb kümmere ich mich gerne um dich. Du würdest auch dasselbe für mich tun, oder?"

    Er war wirklich gerührt. Nate hatte sich wirklich nicht verändert. Wie oft musste er das noch feststellen, um es endlich zu begreifen?

    Er wandte sich um und überbrückte den Abstand zwischen ihnen um Nate einen verzweifelten Kuss zu geben. Als er sich wieder löste, sah er Nate aus verweinten Augen an: "Natürlich würde ich das."

    Auch wenn er vielleicht gerade doch zu sehr mit sich beschäftigt war, aber er würde jederzeit alles stehen und liegen lassen, wenn Nate wirklich Hilfe bräuchte. Dann wäre ihm sein aktueller seelischer Zustand auch vollkommen egal.

    "Wie… wie ist das eigentlich…?" Er sollte diese Frage nicht stellen. Er sollte nicht… musste er sich denn immer selbst weh tun? Er sollte das nicht tun… er sollte nicht… er sollte nicht… fuck, er sollte wirklich nicht…

    "Würdest du… wärst du gern mit mir zusammen? Ich meine… so offiziell? Wir haben noch gar nicht darüber gesprochen."

    Und er tat es trotzdem. Warum eigentlich? Es lief doch alles ganz hervorragend. Warum sabotierte er sich selbst so dermaßen? Das durfte wirklich nicht wahr sein!

    "Ahm…"

    Ja, was sollte Nate auch schon groß dazu sagen? Der hatte ihn gestern erst kennengelernt. Gestern! So viel dann also zu 'nicht unter Druck setzen'!

    "Um ehrlich zu sein"

    Shinji wollte schon einspringen und sagen, dass er es einfach vergessen sollte. Aber es war zu spät. Nate hatte sich schon eine Meinung gebildet, da würde er nicht mehr heraus kommen.

    "Habe ich noch nicht direkt darüber nachgedacht. Ab dem Zeitpunkt, an dem du mir gesagt hast, dass wir zusammen seien… beziehungsweise, dass du die Person seist, der ich schreiben wollte, war ich neugierig darauf, wie sich das entwickeln könnte, wenn wir einfach dort weitermachen würden, wo wir aufgehört haben. Ich bin nicht sicher, was es heißt, in einer Beziehung zu sein. Aber wenn es heißt, mit dir zusammen zu sein, dann würde ich sagen: Ja."

    Shinjis Herz sprang ihm fast aus der Brust vor Freude. Nur für einen Moment. Dann dachte er wieder daran, dass Nate ihn immer noch nicht kannte und die ganze Tragweite dieser Worte gar nicht verstand und noch tausend weitere Dinge, die seine gute Laune bremste. Zurück blieb ein zufriedenes Gefühl und der Gedanke, dass das eine wesentlich schönere Antwort war, als er erwartet hatte.

    Er nickte und schmiegte sein verweintes Gesicht an den Bauch seines Freundes und seufzte leise, aber trotz allem irgendwie zufrieden.

    "Manchmal frage ich mich, ob uns ständig so ein Mist passiert, weil irgendwer nicht will, dass wir zusammen sind… dass zwei Männer zusammen sind. Als ich meinem Therapeuten das erzählt habe, hat er mich gefragt, ob ich an höhere Mächte glaube - was ich nicht tue. Er hat mich gefragt, wem ich es denn dann unterstellen würde… darauf habe ich bis heute keine Antwort. Er hat mir dann vorgeschlagen, dass ich mir einen der Götter aussuche, denen die sexuelle Ausrichtung egal ist. Eine ziemlich verrückte Vorstellung, ehrlich gesagt. Aber ich hab es nicht gemacht, weil mir die Vorstellung, einen Glauben anzunehmen, nicht gefällt. … … irgendwie komme ich vom Thema ab… worauf wollte ich hinaus?"

    Nate lachte und strich ihm über den Hinterkopf, richtete sich auch jetzt erst wieder auf. Wahrscheinlich weil er jetzt wusste, dass alles wieder einigermaßen okay war.

    "Ich habe keine Ahnung. Willst du wissen, was meine Meinung dazu ist? - Ich glaube nicht, dass uns so etwas passiert, weil man uns auseinander bringen möchte. Denn dann wäre das ein Schuss in den Ofen. Wenn überhaupt denke ich viel mehr, dass es ein Test ist. Meinen wir es wirklich ernst? Denn wenn ja, dann sollte das alles kein Problem sein."

    Shinji drehte sich auf den Rücken, damit er Nate leicht anlächeln konnte und er wollte auch schon etwas antworten, als er bemerkte, wir Nates Lächeln langsam schwand. Sein Blick glitt kurz in die Ferne, ehe er sich wieder fokussierte. Dennoch klang Nates Stimme abwesend, als er fragte:

    "Shinji… kann es sein, dass ich dich im Supermarkt gesehen habe?"

    "Im Supermarkt? Wie meinst du… … oh… OH!"

    Seine Augen wurden groß, als er begriff, dass Nate sich an ihr erstes Treffen erinnerte:

    "Ja… ja! Wir haben uns das erste Mal hier im Supermarkt wieder getroffen. Der gegenüber von dem Wohngebäude deiner Schwester. An was kannst du dich erinnern?"

    "An den Supermarkt…", sagte Nate und schnaubte, wahrscheinlich selbst etwas frustriert über die spärlichen Informationen. "Ich glaube, ich bin gegen dich gedonnert… mit dem Wagen, oder?"

    Aufgeregt nickte er viel zu oft: "Ja! Wir sind zusammen gestoßen. Als ich dich erkannt habe, hab ich geflucht und versucht mich aus dem Staub zu machen. Aber du hast nicht locker gelassen."

    Nate schien noch weiter graben zu wollen, schaffte es aber nicht. "Entschuldige… davor und danach ist alles schwarz."

    Doch Shinji lächelte nur kopfschüttelnd und strich ihm mit einer Hand über die Wange: "Kein Grund dich zu entschuldigen. Im Gegenteil. Das ist großartig! Ein erster Schritt und das schon am zweiten Tag. Ich bin sicher, mit etwas mehr Zeit erinnerst du dich auch an mehr."

    Das gab wirklich Kraft, weiter zu machen.

Kapitel 56

    Die nächsten Tage vergingen mehr oder minder harmonisch. Sie verbrachten fast den ganzen Tag zusammen, schliefen im selben Bett und verstanden sich besser und besser. Aber während Shinji sich zunehmend an den neuen Nate gewöhnte, schien der von Tag zu Tag gereizter zu werden.

    Als er Nate am Sonntag schließlich im Bad entdeckte, wie er finster in den Spiegel sah, während er sich die Zähne putzte, konnte er nicht mehr anders als zu fragen:

    "Willst du darüber reden?"

    Er war sich nicht sicher was los war. Ob es das Bein war, das nicht schnell genug verheilte oder die ausbleibenden Erinnerungen - denn nach der einen über den Supermarkt, hatte es keine neuen Entwicklungen gegeben - oder dass er langsam der Beziehung überdrüssig wurde, weil die auch nicht wirklich vorwärts ging. Bisher hatten sie nicht miteinander geschlafen, weil es sich nicht wirklich ergeben hatte und Shinji doch immer wieder zurückgezuckt war, wenn es doch etwas ernster wurde. Er hatte noch immer angst davor, Nate das volle Ausmaß seiner Phobie zu zeigen und er befürchtete, dass dem das allmählich auf die Nerven ging.

    Es war ja auch verständlich, oder nicht? Es war als ob Shinji ihm nicht genug vertrauen würde, ganz abgesehen davon, dass Männer eben ihre Bedürfnisse hatten. Shinji war schon immer eine Ausnahme gewesen, aber das Internet war voll davon, dass Männer nun mal Zuwendung brauchten, ihre Triebe befriedigen mussten. Und Nate war vor ihrer Beziehung nicht gerade ein Kind von Traurigkeit gewesen, wie man so schön sagte. Auch während ihrer ersten Woche in der Beziehung waren sie sehr aktiv gewesen. Vielleicht hätte er sich einfach überwinden sollen, dann ginge es Nate jetzt vielleicht besser.

    "Nicht wirklich", grummelte Nate nur als Antwort und nahm Shinji ziemlich den Wind aus den Segeln. Vertraute Nate ihm so wenig, dass er nicht einmal mit ihm darüber reden wollte, was ihn bedrückte? Er verstand wirklich nicht, was los war. Aber vielleicht war es wirklich nur sexuelle Frustration und Nate wollte ihn nicht bedrängen. Das wäre typisch für den anderen.

    Shinji wartete, bis sein Freund fertig mit Zähneputzen war und trat dann an ihn heran, bevor er noch aus dem Raum verschwand.

    "Ich muss noch duschen. Wie wär's, wenn du mir dabei Gesellschaft leistest?"

    Der Blick der ihn jetzt traf, ließ ihn an seinem eigenen Verstand zweifeln. Nate sah ihn an, als hätte er ihm vorgeschlagen, Fischstäbchen zukünftig nur noch zusammen mit Vanillesoße zu essen.

    Waren sie denn nicht zusammen? Und war es für ein Paar nicht normal, dass sie miteinander duschten? Hatte Nate Angst, sich nicht zusammen reißen zu können? War die Einladung zum Sex nicht deutlich genug gewesen? War er wirklich so unfähig?

    "Ich habe gestern abend schon geduscht.", murmelte Nate nur und drängte sich dann an ihm vorbei. Shinji konnte noch sehen, wie er nach der Zigarettenschachtel griff. Nates Konsum war die letzten Tage auch überproportional gestiegen.

    Langsam war er mit seinem Latein am Ende. Er hatte seinen Freund noch nie so erlebt. So verschlossen, ausweichend und schlecht gelaunt.

    Es stand nur eines fest: So konnten sie nicht zu Lily. Die war schon so unsicher, wenn Nate ihr so gegenübetreten würde, würde sie nie wieder ein Wort ihm gegenüber vorbringen.

    Egal was es war, sie mussten das jetzt klären, weshalb Shinji seinem Freund direkt nachging.

    "Liegt es an mir?", stocherte er dann einfach weiter. Er schlug jetzt den gleichen Ton an, wie sonst nur mit anderen: Forsch und kühl und gefühlsmäßig distanziert. "Ist dir das Ganze mit mir doch zu viel?"

    "Es liegt nicht an dir", kam die vollkommen genervte Antwort. Nicht sehr überzeugend.

    Nate sah ihn nicht einmal an. Er stand nur da und zog an der Zigarette, als handele es sich um seinen letzten Atemzug, seine Körperhaltung so angespannt, als würde er jeden Moment explodieren.

    Einen Augenblick später, wurde die Zigarette ausgedrückt, obwohl sie gerade einmal halb geraucht war. Allmählich ergab Nates Verhalten gar keinen Sinn mehr.

    "Und das soll ich dir glauben?", stocherte Shinji weiter. Normalerweise war er nicht so hartnäckig und würde Nate auch nie unterstellen zu lügen, aber wenn er die Dramaqueen spielen musste, damit Nate endlich mit der Sprache rausrückte, würde er das tun. Sie mussten das klären. "Wo du mich seit Tagen kaum anfasst? Welcher Mann schlägt eine Dusche mit seinem Partner aus?"

    Eigentlich war ihm das egal. Wenn Nate nicht danach war, sollte er sich auch nicht dazu zwingen, aber sie brauchten irgendeinen Aufhänger für einen handfesten Streit.

    "Denkst du ich merke nicht, wie stumm du geworden bist? Wenn du keinen Bock mehr auf mich hast, dann sei wenigstens so fair und sags mir und warte nicht darauf, dass es mir irgendwann zu viel wird!"

    So ein Gespräch hatte er mit einer seiner Exfreundinnen schonmal gehabt. Oder mit mehreren. Vielleicht auch mit allen.

    Nate rang sichtlich um Fassung, atmete angestrengt durch, schloss die Augen und schien innerlich bis zehn zu zählen.

    "Shinji… ich hab dir bereits gesagt… es liegt nicht an dir.", sagte er in gefährlich ruhigem Ton. Doch statt doch noch in die Luft zu gehen, zog er sein Handy aus der Hosentasche und überprüfte die Uhrzeit, während er sich langsam, fast drohend, in Shinjis Richtung drehte: "Wir müssen los. Lass uns später darüber reden."

    Langsam fragte Shinji sich, wie viel Selbstbeherrschung sein Freund tatsächlich hatte und ob man sie überhaupt überwinden konnte. Kein anderer Mensch wäre jetzt noch so ruhig. Also musste er wohl noch einen Gang zulegen und die Diva spielen: "Weißt du was? Vergiss es! Geh allein zu Lily, ich hab keinen Bock mehr auf den Scheiß! Offenbar leben wir beide in verschiedenen Beziehungen!"

    Das hatte er auch schon oft gehört und er ließ auch den dramatischen Abgang nicht aus. Ein großer Teil von ihm hatte Angst, es zu übertreiben, aber er wusste sich einfach nicht anders zu helfen.

    Mit einem lauten Krachen fiel die Schlafzimmertür hinter ihm zu und um die Illusion perfekt zu machen, startete er seinen Computer. Innerlich allerdings zählte er langsam bis zehn. Wenn Nate dann immer noch nicht im Zimmer stand, hatte er ein Problem…

    Er hörte Nate fluchen und kurze Zeit später fiel die Eingangstür ins Schloss.

    Fuck…

Kapitel 57

    Hatte er es jetzt doch übertrieben? War Nate jetzt weg?

    Doch ehe er überlegen konnte, was er jetzt tun sollte - er hatte schon sein Handy in der Hand um anzurufen und sich zu entschuldigen - wurde plötzlich seine Tür aufgerissen.

    "Ich geh bestimmt noch ohne dich. Entweder wir gehen beide oder gar nicht."

    Er hätte fast erleichtert ausgeatmet, doch er musste in der Rolle bleiben. Nate war immer noch viel zu gefasst… das durfte echt nicht wahr sein.

    "Ach, jetzt plötzlich brauchst du mich?", fragte er bissig und drehte sich nicht einmal zu seinem Freund um. Stattdessen begann er ziellos auf seinem Bildschirm herum zu klicken, um so zu wirken, als wäre er beschäftigt.

    Im nächsten Moment hatte er jeweils einen Arm neben sich auf dem Tisch und wurde leicht in den Schreibtisch gedrückt.

    "Shinji, hör auf mich zu reizen. Heute ist echt kein guter Tag dafür."

    Falsch, heute war genau der richtige Tag dafür, aber irgendwie beruhigte es ihn, dass Nate sah, dass er sich untypisch verhielt und das absichtlich tat. Hieß aber nicht, dass er nicht weiter im Bienenstock stochern würde.

    "Muss ich jetzt also auf deine Stimmung achten, um sagen zu dürfen, was ich will? Was kommt als nächstes? Ich darf nur noch dann reden, wenn du es mir erlaubst?"

    Woah, war er unfair. Ein wenig hasste er selbst sich für diese Worte. Er würde so etwas niemals sagen, seinem Freund niemals unterstellen, aber irgendwie musste er den Knoten doch lösen! Irgendwie musste er Nate dazu bringen, ihm endlich entgegen zu schreien, was eigentlich los war.

    Er zuckte heftig zusammen, als Nate neben ihm auf die Tischplatte schlug. Langsam kamen sie an das Limit seiner Beherrschung, auch wenn Shinji ein kleines bisschen Angst davor hatte, wie es hinter dieser Grenze aussah. Er hatte Nate noch nie ausflippen sehen, aber er würde es wohl gleich erleben.

    "Was willst du denn von mir? Wissen, was los ist? Wenn ich es weiß, geb ich dir Bescheid. Aber im Moment weiß ich gar nichts, okay? Ich hab verdammt noch mal keine Ahnung, wer du bist oder wer ich bin oder was wir hier überhaupt machen. Ich hab keine Ahnung, wer meine Familie ist. Ich hab keine Ahnung, wer deine Familie ist. Das einzige, was ich mache, ist warten. Ich habe echt absolut keine Lust mehr auf diese Scheiße!"

    Nates Stimme donnerte durch den Raum und ließ Shinjis Nackenhaare zu berge stehen. Zum Glück wusste er, dass Nate seine Hand niemals gegen ihn erheben würde, was ihn aber nicht daran hinderte, doch etwas von Nate weg zu rollen, als er es zuließ. Da er selbst nicht emotional involviert war, konnte er ruhig blieben um die richtigen Fragen zu stellen. Es fiel ihm schwer die Worte zu finden, aber er sprach sie energisch:

    "Und was willst du jetzt machen? Dich den Rest deines Lebens von jedem fern halten, den du mal gekannt haben könntest? Und was heißt, du weißt nicht, wer ich bin? Wir leben seit über einer Woche zusammen, verbringen jede Minute des Tages zusammen. Du kannst mir nicht sagen, dass du nicht weißt, wer ich bin! Und dass du nichts weiter tust, als zu warten, liegt allein an dir, an sonst nichts. Willst du wirklich dein altes Leben wegwerfen, nur, weil es etwas schwierig ist, es wieder kennen zu lernen? Du verweigerst immer noch die Krücken, weil du zu stolz bist, um Hilfe anzunehmen, aber plötzlich brauchst du Erinnerungen, um dich auf dein eigenes Leben einzulassen? Ich bitte dich!"

    "Wie soll ich dich innerhalb von einer Woche kennenlernen, wenn ich mich selbst nicht einmal innerhalb eines Monats kennenlernen kann? Ich bin mir selbst fremd! Manchmal wache ich auf und bin mir nicht einmal sicher, ob das mein eigener Körper ist. Aber ich seh es langsam ein… Ich werde mich nie wieder erinnern können. Den, den du geliebt hast, den gibt es nicht mehr. Der ist irgendwo zwischen Afghanistan und Amerika gestorben und ich weiß auch nicht einmal, wo oder wie. Ich dachte, ich müsste nur sein Leben weiterleben und irgendann wäre es meines. Aber das fühlt sich nicht nach meinem Leben an. Und scheiße noch mal, seit wann rede ich von mir in der dritten Person?"

    Nate stieß sich vom Schreibtisch ab und ließ sich frustriert stöhnend auf der Bettkante nieder, bevor er seinen Kopf in seine offene Handfläche legte.

    Wirklich hilfreich fühlte sich Shinji jetzt nicht, aber wenigstens hatte Nate etwas Luft abgelassen und hatte angefangen mit ihm zu reden. Er stand selbst auf und kniete sich dann vor Nate hin, legte sanft seine Hände auf dessen Knie, um sich bemerkbar zu machen.

    "Und warum muss ich mich erst aufführen wie die letzte Zicke, damit du mir das sagst?", fragte er sanft und lächelte entschuldigend. Er versuchte so wenig Vorwurf wie möglich in diesen Satz zu legen, er meinte es auch nicht anklagend, er wünschte sich nur, dass Nate über so etwas mit ihm sprach.

    "Es fühlt sich nicht an, wie dein Leben, weil du es nicht zulässt, Nate. Während ich längst aufgehört habe, nach deinem früheren Ich zu suchen, versuchst du Erinnerungen herbei zu zwingen und schottest dich davor ab, eigene Erfahrungen zu sammeln. Es gibt keinen einfachen Weg im Leben und auch wenn das ziemlich abgedroschen klingt, ist es leider so. Du wirst nicht eines Tages aufwachen und dich erinnern und selbst wenn… wer sagt, dass es sich dann anfühlt, wie Erinnerungen und nicht einfach wie ein Film, den du mal gesehen hast? Entspann dich, lass dich drauf ein und beginne noch einmal von vorne. Ich weiß, das ist scheiße und nervt… aber ich gehe mit dir mit. Ich bin da. Den ganzen Weg bis zum Ende, wo immer das auch liegen mag."

    Nate saß da wie eine Puppe, der man die Stränge durchgeschnitten hatte. Er wirkte vollkommen in sich zusammen gesunken und niedergeschlagen. Shinji hatte ihn noch nie so gesehen und er wollte, dass das aufhörte.

    "Ich versteh das nicht", murmelte Nate, vollkommen kraftlos. "Wie konntest du so einfach darüber hinwegsehen und… bist du sicher, dass du in Wahrheit nicht danach suchst, auf Gemeinsamkeiten zu stoßen? Ich habe das Gefühl, ich würde dir die Beziehung wegnehmen, die du dir eigentlich wünschst."

    Irgendwie hatte Shinji das Gefühl, dass sie dieses Gespräch schon einmal geführt hatten und er auf Nates Position gewesen war. Natürlich nicht mit dem gleichen Thema, aber mit einem sehr ähnlichen Wortlaut. Ob Nate ihn damals auch am liebsten durchgeschüttelt hätte und ihm einhämmern wollte, dass alles okay so war, wie es nun einmal war? Dass er niemand anderen suchte, sondern alles so war, wie er es wollte? Wahrscheinlich…

    "Weil du im Grunde immer noch der selbe bist. Ich habe am Anfang abgecheckt, ob du die wichtigsten Grundeigenschaften behalten hast und das hat mir gereicht. Und da war noch so viel mehr, was geblieben ist. Ob du jetzt neuerdings Süßkram magst oder einen Film den du früher mochtest jetzt scheiße findest, ist doch egal. Du bist immer noch der geduldige, loyale, wundervolle Mensch, in den ich mich auch beim ersten Mal schon verliebt habe. Sicher vergleiche ich noch, aber das würde ich bei einem neuen Partner auch. 'Welche Dinge hat er auch, die mir wichtig sind?', 'Welche neuen Dinge sind da, die ich mir merken muss?'… diese Fragen stellt man sich immer, wenn man einen neuen Partner hat, das ist normal. Und du bist glücklicherweise in fast allen Punkten der Selbe geblieben, weshalb du mir auch keine Beziehung weg nimmst. Ich habe die Beziehung die ich mir wünsche."

    Er ließ Nate Zeit, die Worte zu verarbeiten und sie sacken zu lassen. Es schien zu funktionieren. Die Hand verschwand aus dem Gesicht, die Haltung wurde wieder natürlicher und entspannter.

    "Woher nimmst du nur diese Zuversicht? Du solltest eigentlich enttäuscht sein. Aber stattdessen versuchst du mich immer wieder aufzubauen."

    Es wurde Zeit, Nate die Worte zu schenken, die er ihm vor einigen Tagen schon geschenkt hatte:

    "Ich mag dich, Nate. Deshalb kümmere ich mich gerne um dich. Du würdest auch dasselbe für mich tun, oder?"

    Nate kam ihm langsam entgegen, legte eine Hand in seinen Nacken und zog ihn dann in einen sanften Kuss. So ruhig und sanft war er seit Tagen nicht gewesen. Endlich konnte auch Shinji sich entspannen.

    "Ja, das würde ich", flüsterte Nate ihm gegen die Lippen und sah ihm tief in die Augen, "aber wenn ich dir so nahe bin wie jetzt, will ich einfach nur noch die Vergangenheit mit dir wieder haben. Obwohl ich weiß, dass die Zukunft mit dir reichen sollte… Ich werde aber ab jetzt versuchen, mich nicht mehr so auf die Vergangenheit zu fixieren."

    Das war doch schon ein großer Fortschritt. Hoffentlich konnte Nate sich an seine eigenen Worte halten. Statt sich von ihm zu lösen, stand Shinji jetzt auf und drückte Nate nach hinten aufs Bett, gab ihm einen kurzen, aber tiefen Kuss.

    "Du musst nicht allein damit fertig werden. Ich bin dein Partner, ich trage gerne einen Teil deiner Last."

    Er hielt kurz inne, strich seinem Partner sanft über die Brust und ließ sie direkt über dessen Herz liegen.

    Er war sich nicht ganz sicher, ob das, was er vor hatte, jetzt das richtige war, aber er wollte es versuchen.

    "Denn nur wenn du mich einbeziehst, kann ich dir die kleinen Geheimwaffen des Lebens zeigen, die es uns erlauben, für ein paar, wenige Momente an gar nichts denken zu müssen."

    Mit geschickten Fingern begann er das Hemd, das Nate trug, aufzuknöpfen, ehe er mit sanften Bewegungen die Haut darunter verwöhnte.

    "Schließ die Augen und entspann dich. Ich helfe dir den Stress der letzten Tage etwas abzubauen."

    Denn egal, ob ein Mann es nun brauchte, oder nicht: Guter Sex war eine hervorragende Methode, um ein paar Glückshormone zu produzieren. Und da sie nicht viel Zeit hatten, musste es ein Blowjob tun.

Kapitel 58

    Es dauerte nicht lange, bis er Nate zum Kommen gebracht hatte und bis auf ein paar Tropfen, schaffte er es diesmal auch, alles zu schlucken.

    Auch beim Verhalten während des Geschlechtsverkehrs hatte sich Nate nicht wirklich verändert. Er mochte es nicht, Geräusche dabei zu machen, rang immer noch um Fassung und knebelte sich lieber mit der eigenen Hand, als laut zu stöhnen. Shinji liebte es, wenn er ihm - wie diesmal auch - dennoch kleine Geräusche entlocken konnte.

    Um seinen Freund nicht einfach allein mit den Nachwirkungen seines Orgasmus zu lassen, küsste er sich nach oben, bis zu dessen Wange. Einen Kuss wollte er ihm nicht geben, damit Nate sein eigenes Sperma nicht schmecken musste.

    Aber lange Zeit hatten sie nicht, um danach noch zu kuscheln, weshalb er sich doch fast sofort wieder aufrichtete.

    Nate war deutlich noch dabei, seine Gefühle zu sortieren, vielleicht war es also sogar besser, wenn er ihn ein wenig allein ließ.

    "Ruh dich kurz aus", hauchte er sanft. "Ich geh kurz ins Bad, dann können wir los."

    Die Aktion war selbst nicht spurlos an ihm vorbei gegangen und er hätte nichts lieber getan, als weiter zu machen, aber genau deshalb löste er sich jetzt von seinem Partner. Sie waren so schon spät dran und er sollte seine Notfalltropfen präventiv nehmen, damit er keine Panikattacke während des Essens riskierte. Obwohl sein Kopf sich noch immer leicht von all den Hormonen an fühlte, lag ihm das Sperma wie Steine im Magen und er fühlte sich unruhig. Das würde nicht besser werden und gerade heute sollte er sich zusammenreißen können.

    

    Das Zähneputzen dauerte etwas länger als erwartet. Es war weniger der Geschmack, als vielmehr das Gefühl der zähen Flüssigkeit auf seiner Zunge, das er nicht los wurde. Nach mehreren Minuten Schrubben und mehreren Runden Mundwasser, wusch er sich noch das Gesicht und fühlte sich endlich wieder einigermaßen sauber.

    Als er das Bad wieder verlassen wollte, rannte er fast gegen Nate, der im Türrahmen stand.

    "Oh, sag doch was", murmelte er peinlich berührt. Er hatte nicht gewollt, dass Nate dabei zusah, wie er sich so gründlich wusch, nachdem, was sie gerade getan hatten.

    Es fiel ihm plötzlich schwer, seinem Partner in die Augen zu sehen, weshalb er einfach an ihm vorbei schlüpfte, ohne ihn mehr als notwendig zu berühren. Er eilte ein bisschen zu schnell in die Küche, obwohl er wusste, dass die Tropfen nicht sofort helfen würden. Der Druck auf seiner Brust würde er in einigen Minuten verschwinden, aber er würde wenigstens verschwinden.

    Fuck, es war doch nur ein kleiner Blowjob gewesen. Er hatte wirklich angenommen, das würde nicht mehr so schlimm. Vielleicht steigerte er sich da aber auch nur in etwas rein, weil er erwartete, dass es so sein musste. Er war sich nicht sicher.

    Jedenfalls fühlte er sich schon ruhiger, als er das Wasser mit dem Medikament darin geschluckt hatte.

    Nate war ihm gefolgt, er hatte ihn gehört.

    "Sorry", murmelte er kleinlaut. "Das hat nichts mit dir zu tun."

    Ob er ihm das abnahm, wusste er nicht, aber er hoffte es. Hoffentlich stritten sie nicht nochmal. Das von vorhin saß ihm immer noch tief in den Knochen. Das war es ihm wert gewesen, aber es trug nicht zu seiner psychischen Stabilität bei.

    Er konnte Nate noch immer nicht ansehen. Es war weniger die Phobie, als die Scham über seinen Zustand. Er sollte sich wirklich nicht so anstellen, das war doch lächerlich.

    "Mach dir keinen Kopf, ich weiß das", hörte er Nate sagen und er entspannte sich etwas.

    "Ich kann Lily anrufen und sagen, dass wir später kommen."

    So richtig wusste Shinji nichts mit sich anzufangen. Er war unruhig und innerlich zittrig. Er wollte aus dieser Situation raus, aber wusste nicht wie oder wohin.

    Für's Erste schüttelte er aber den Kopf: "Nein… nein… gib mir nur einen Moment. Das geht sicher gleich wieder."

    Als er Nate das letzte Mal einen geblasen hatte, war es nicht so schlimm gewesen, oder? Aber selbst wenn… seitdem war ein Jahr vergangen und die letzten Tage waren schwer und stressig gewesen. Er hätte wissen müssen, dass es nicht so einfach werden würde.

    Automatisch trugen seine Füße ihn zum Kühlschrank und er holte eine Packung Ben&Jerry's aus dem Gefrierfach. Eis half immer.

    "Mal abgesehen davon, dass ich gerade ein wenig aufgelöst bin…" Er nahm sich einen Löffel und schob sich kurz darauf eine große Ladung des Schokoladentraums in den Mund. "Hat es dir gefallen? Hat es etwas geholfen?"

    Als er geradezu treudoof zu Nate aufschaute, wurde ihm klar, dass kein halbwegs anständiger Mensch, jetzt mit einem 'Nein' antworten würde. Es war eine echt dämliche Frage, was dann auch die halb gestotterte Antwort deutlich zeigte: "Äh… ja… natürlich."

    Er strich sich als Antwort durchs Haar und lächelte entschuldigend um den Löffel herum. "Sorry", murmelte er und arbeitete weiter daran, die Packung in seiner Hand zu leeren. Nate lachte leise, aber sanft.

    Er fühlte sich noch immer furchtbar unruhig, was ihn schließlich aufgebend seufzen ließ.

    "Ich schreib Lily doch besser, dass wir ein paar Minuten später kommen… ich muss mich erst mal wieder beruhigen. So kann ich da nicht hin."

    Nach einer kurzen Nachricht ließ er seine Hand mit dem Handy dann auch wieder sinken. Er hatte extra hinten an gefügt, dass alles in Ordnung sei und sie einfach nur zu viel getrödelt hatten.

    "Ich weiß gerade echt nichts mit mir anzufangen… das fühlt sich komisch an."

    Tat es wirklich. Er fühlte sich aufgekratzt, aber nicht wirklich schlecht. Ein bisschen war es wirklich so, als würde er einfach nur zu sehr die Attacke erwarten und sie damit erst auslösen.

    Nachdem er das Handy wieder in seiner Hosentasche verstaut hatte, griff Nate sanft nach seinem Handgelenk und drehte ihn zu sich und näher an den anderen Körper heran. Dann hatte er auch schon Arme um sich, die ihn sanft an die Brust des Anderen drückten.

    "Wenn dir die Nähe zu viel wird, dann schlag mir einfach ins Gesicht.", scherzte Nate sanft. Stattdessen lehnte sich Shinji selbst mehr in die Umarmung und schloss die Augen. Er konnte nicht genau sagen warum, aber er schmunzelte.

    "Wie musst du dich nur fühlen?", fragte er leise in den Raum hinein. "Wenn ich mich jedesmal so benehme, als wäre das, was wir getan haben, etwas furchtbares. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie sich das für dich an fühlt."

    "Ich mache mir nur Sorgen um dich", kam die sanfte Antwort und Shinjis Schmunzeln wurde etwas tiefer. Wie konnte Nate nur glauben, dass das hier nicht genau die Beziehung war, die er wollte, gar brauchte? Nate war noch immer perfekt für ihn.

    "Das geht wieder rum", hauchte er und versuchte wohl irgendwie ungelenk Nate jetzt aufzubauen. "Ich bewundere jedes Mal, dass du nicht einfach wütend und schreiend weg läufst…"

    Es war ihm noch immer ein Rätsel, warum Nate immer und immer wieder blieb, aber er hatte aufgehört, das ernsthaft zu hinterfragen. Er hatte sich daran gewöhnt, dass es eben so war und dass Nate sogar jetzt nur, nur im Kopf hatte, sich um Shinji zu sorgen.

    "Ich wüsste nicht, warum ich weglaufen sollte. Zumal ich im Moment auch gar nicht laufen könnte." Nates folgendes Schnauben klang sowohl belustigt, als auch tief frustriert. Das Bein verheilte eben wirklich nur sehr langsam.

    "Danke", hauchte Shinji als Antwort und legte seine Arme jetzt auch um Nate. "Danke, dass du bei mir bleibst, das nicht persönlich nimmst und mir einfach nur beistehst."

    "Es ist etwas, das tief in die verwurzelt ist und dir Angst macht. Warum sollte ich dich damit alleine lassen? Du bleibst ja auch bei mir und erträgst meine Launen."

    Er atmete tief durch und vergrub sein Gesicht in Nates Brust. Er tat das so gerne. Es war ihm klar, dass er das Thema genau jetzt fallen lassen sollte, doch er konnte noch nicht ganz. Er brauchte die Worte von Nate gerade, die Unterstützung, die Zustimmung, die Sicherheit.

    "Launen zu ertragen ist wohl was anderes, als seinem Freund nach dem Sex beim Kotzen die Haare aus dem Gesicht halten zu müssen…" Er sagte das halb im Scherz, Nate wusste ja nicht, dass das so ähnlich schon passiert war. "Eigentlich sollte das 'danach' angenehm und schön sein… ich frage mich, ob ich es je dahin schaffe, dass es das ist."

    Warum hielten die Hormone auch nicht länger? Während des Verkehrs dachte er ja auch nicht darüber nach und kurz davor genauso wenig.

    Beruhigend kraulte Nate Shinjis Nacken, was den leise zum Schnurren und Nate selbst leise zum Lachen brachte: "Ich weiß ja nicht, wie oft wir dieses Gespräch schon führen mussten, aber…"

    "Einige Male…", warf Shinji beschämt ein. Es war ja eigentlich wirklich lächerlich, dass sie ständig über das selbe sprachen, aber er brauchte diese Rückversicherung und diesmal war es ihm wirklich wichtig, weil er sehen musste, wie der 'neue' Nate darauf reagierte. Er konnte da einfach nicht aus seiner Haut.

    "… ich glaube es müsste schon Schlimmeres passieren, dass ich von hier wieder weggehe."

    Die Worte waren so leise, dass Shinji sich kurz nicht sicher war, ob er alles verstanden hatte, aber doch… Nate hatte ihm gerade wirklich gesagt, dass er sich nicht vorstellen konnte, jemals von ihm weg zu wollen. Und das schon nach gerade einmal einer Woche. Schon wieder… oh Mann.

    Der Knoten in seiner Brust löste sich mit jedem der schnellen Herzschläge weiter, die dieses Geständnis bei ihm auslöste.

    Er hätte nicht gedacht, dass sie so schnell wieder so intensiv zusammen finden würden. Es fühlte sich fast wieder an wie vorher.

    "Wir sind irgendwie jedes Mal ziemlich schnell, wenn es um unsere Beziehung geht, was?"

    "Ich schätze mal ja.", antwortete Nate sanft und ein wenig belustigt, obwohl er sich an das erste Mal gar nicht erinnern konnte. Aber das war wirklich typisch für sie. Solche Momente ließen Shinji manchmal glauben, dass sie beide füreinander bestimmt waren. Sie hatten sich fünfzehn Jahre aus den Augen verloren und waren innerhalb von nicht einmal zwei Wochen zusammen gekommen, obwohl Shinji vor nichts anderem mehr Panik gehabt hatte, als sich eingestehen zu müssen, dass er schwul war. Und nun, nur eine Woche, nachdem er mit Nate hatte von vorne anfangen müssen, machten sie bereits da weiter, wo sie aufgehört hatten.

    An Nate zu lehnen gab ihm Kraft. Wenn er mit Nate zusammen war, hatte er weniger Angst vor der Welt da draußen. Mit Nate an seiner Seite, konnte er alles schaffen, das wusste er jetzt. Und er würde auch damit klar kommen, dass sich Nate nicht an ihre Schulzeit erinnern konnte. Letztendlich war das gar nicht so schlimm.

    "Ich denke, wir können jetzt los.", murmelte Shinji nach einigen Augenblicken.

    "Bist du dir sicher?" Nate drückte ihn besorgt etwas fester an seine Brust, als wolle er ihn vom Rest der Welt abschirmen, und atmete tief seinen Geruch ein. Nachdem Shinji noch einmal bestätigend genickt hatte, löste sich Nate von ihm und wuschelte ihm wie früher auch immer durch die Haare.

    "Ich hab echt eine Schwäche für deine Haare", stellte Shinjis Partner für sich fest, klang dabei aber auch peinlich berührt. Er hätte nie gedacht, dass Nate diese Gewohnheit irgendwann einmal unangenehm sein würde. Das war irgendwie niedlich.

    Nachdem sich Shinji die Haare wieder etwas geglättet hatte, folgte er Nate in den Flur, um sich die Schuhe anzuziehen. Er strich seinem Freund sanft über den Rücken und lächelte: "Es nervt mich jedes Mal, wenn du mir die Haare verwuschelst, aber ich würde es unglaublich vermissen, wenn du es nicht mehr tun würdest."

    Er erinnerte sich kurz daran, wie eifersüchtig er gewesen war, als Nate Randy durch die Haare gewuschelt hatte. Randy… der war froh, den kleinen Amerikaner nicht mehr gesehen zu haben, seit diesem einen Tag. Aber er ahnte auch, dass auf kurz oder lang, Nate wieder mit ihm in Kontakt treten würde. Die beiden waren eben Freunde, daran konnte er nichts ändern. Mittlerweile fühlte es sich wenigstens nicht mehr so an, als würde seine Eifersucht ein Loch in seine Brust brennen. Er würde Nate nicht mehr hergeben und Nate würde nach allem hoffentlich auch nicht mehr von ihm weg wollen.

    Das war aber alles ziemlich nebensächlich. Vor ihnen lag ein potentiell sehr anstrengendes Essen mit Nates Schwester und seiner Nichte.

    Er seufzte schwer: "Ich hätte viel lieber Lust, den Rest des Tages mit dir im Bett zu verbringen."

    "Der Nachmittag gehört dann uns", versprach Nate und Shinji freute sich bereits darauf.

    

    Draußen schloss Nate ein wenig zu ihm auf. Shinji hatte nicht bemerkt, wie er sich wieder von ihm entfernt hatte. Er spannte sich etwas an, doch Nate wusste wohl, dass er ihn jetzt ablenken musste:

    "Weißt du, in welches Restaurant Lily will?"

    Das hatte Nate früher wirklich besser hin bekommen, aber Shinji konnte nicht verlangen, dass sein Freund sich immer dann zum Affen machte, wenn es ihm gerade nicht gut ging. Auch wenn er es gerade ein wenig vermisste, es hätte ihn beruhigt. Obwohl er wusste, dass sie ein absolut neutrales Bild abgaben, warf Shinji einen Blick über die Straße. Es waren einige Menschen unterwegs, so wie immer, und so wie immer, schenkte niemand ihnen Beachtung. Natürlich nicht. Die dachten höchstens, sie wären Freunde, nichts mehr. Warum sollte man auch bei jedem Paar von Männern auf der Straße gleich annehmen, dass sie etwas miteinander hatten? Das war vollkommener Unsinn und das wusste Shinji auch, er wusste das… sein Herz wollte nur nicht aufhören, aufgeregt zu schlagen.

    "Ich weiß es nicht genau, aber ich schätze, was familienfreundliches, wegen Hana. Und auch nichts extravagantes. Vielleicht italienisch."

    Das war immerhin klassisch, oder? Er kannte niemanden, schon gar kein Kind, das keine Pizza oder Spaghetti mochte.

    "Italienisch", wiederholte Nate und sah in den blauen Himmel, "darauf hätte ich jetzt wirklich Lust."

Kapitel 59

    "Wir kommen runter!" Die fröhliche Stimme des kleinen Mädchens, war durch die Sprechanlage nur leicht verzerrt. Kurz darauf ging die Tür bereits auf und Hana sprang förmlich auf sie zu, eindeutig glücklich, ihren Lieblingsonkel endlich wieder zu sehen.

    Shinji strich ihr kurz zur Begrüßung über den Kopf, wandte sich dann aber an Lily: "Sorry für die Verspätung. Ich hab verpennt." Das war gelogen, aber traf auf 99 Prozent aller seiner Verspätungen zu und er wollte nicht, dass sie dachte, dass es mit Nate Probleme gab. Schließlich war dieses Treffen dafür da, dass sich die beiden wieder näher kamen, da konnte Lily nicht noch mehr Ärger gebrauchen.

    Er sah kurz wieder nach unten, als eine kleine Hand seine nahm. Hana hatte auch Nates Hand ergriffen, was ein Bild ergab, das seinen Magen sich kurz schmerzhaft zusammen ziehen ließ. Aber er wollte Hana nicht in seine Probleme mit hinein ziehen, deshalb nahm er sich zusammen, und ignorierte das einfach. Als auch Nate ihr grüßend durch die Haare strich, lachte sie vergnügt auf und zog sie beide schon einmal Richtung Auto. Lily hatte nur kurz schief zur Begrüßung gelächelt. Das war ja schon ein prima Anfang.

    "Ihr beide sitzt hinten bei mir!", konstatierte sie sofort, doch Nate lehnte sich sacht lächelnd zu ihr herunter: "Lass mich vorne neben deiner Mama sitzen, damit ich sie ein bisschen ärgern kann."

    Das klang so sehr nach Nate, dass die Kleine das schluckte, wenn auch nicht ganz ohne Protest. Dafür nahm sie jetzt beide Hände von Shinji und zog ihn zu den Rücksitzen, als hätte sie angst, dass auch er sich nach vorne setzen würde.

    

    Die Stimmung vorne im Auto war angespannt, während Hana Shinji auf der Rückbank begeistert davon erzählte, was sie gemalt hatte, seit sie sich das letzte Mal gesehen hatten.

    "Ich bin echt hungrig", hörte er Nate sagen. Shinji war froh, dass der das Gespräch begann. So verkrampft, wie Lily das Lenkrad festhielt, würde die keinen Ton raus bringen. "Gehst du oft in diese Pizzeria?"

    "Ich koche lieber selbst, als auswärts essen zu gehen. Man weiß nie, was in fremdem Essen so drin ist."

    Sie stockte kurz und sprach dann etwas schneller weiter: "Aber manchmal ist das schon in Ordnung. Es gehört ja auch sehr stark zu unserer Kultur und auch wenn ich sehr darauf achte, was Hana und ich essen, will ich ihr solche Erfahrungen auch nicht vorenthalten. Es kommt eben immer darauf an, das Maß zu halten und mit der Pizzeria habe ich ganz gute Erfahrungen gemacht. Also ja… ich bin da öfter mal."

    Nate schwieg dazu, was dazu führte, dass Lily nervös das Lenkrad förmlich knetete. Die Arme. Offensichtlich wollte sie das richtig machen, wusste aber nicht wie. Und Nate konnte mit der Situation auch nicht viel anfangen. Aber Shinji konnte da auch nicht helfen, zumal er sich wirklich konzentrieren musste, Hana weiter nebenbei zuzuhören.

    "Bist wohl ne Gesundheitsfanatikerin, was?", fragte Nate dann schließlich, sein Unterton klang leicht neckend.

    Lily lachte gequält: "Ja… kann man so sagen. Es sind einfach so viele Giftstoffe in Essen heutzutage."

    "Lily", sprach Nate ruhig, aber ermahnend. Er wandte sich ihr zu. "Du kannst dich ruhig locker machen. Das soll kein Verhör sein. Wenn es irgendetwas gibt, das du mir sagen möchtest, dann sag es mir. Nur bitte hör auf damit, in meiner Gegenwart so vorsichtig zu sein. Das ist echt anstrengend."

    Es war wieder eine Weile still, während die Fahrerin immer kleiner zu werden schien: "Ich weiß. Und glaub mir, das ist nicht nur für dich anstrengend…"

    Aber wenigstens redeten die beiden miteinander. Noch nicht so, wie sie sollten, aber immerhin. Das war schon ein großer Fortschritt.

    "Wie läuft es mit dir und Shinji? Hast du dich wieder etwas eingewöhnen können?"

    "Ja, überraschenderweise schneller als gedacht. Er hat ein Händchen dafür, zum richtigen Zeitpunkt das Richtige zu sagen. Und er kann unglaublich hartnäckig sein."

    Die Worte und der sanfte Tonfall ließen Shinji ganz warm werden. Er hätte ihm widersprochen, wenn es nicht das Gespräch unterbrochen hätte. So viel hatte er nicht gemacht. Das war hauptsächlich die Chemie gewesen, die zwischen ihnen beiden einfach stimmte. Der Rest war wahrscheinlich mehr Glück, als wirklich Können.

    "Aber durch ihn fühle ich mich wieder annähernd normal."

    "Das freut mich zu hören. Es wäre traurig gewesen, wenn ihr euch verloren hättet. Sowohl für Shinji als auch für dich. Bevor du ihn wieder getroffen hast, hattest du nur One Night Stands und bist nie wirklich zur Ruhe gekommen."

    Darüber hatten sie noch gar nicht geredet. Mussten sie darüber reden? Nate hatte nicht so gewirkt, als würde ihm irgendetwas fehlen, aber das war etwas, was er im Auge behalten sollte. Nur für den Fall, auch wenn er nicht daran glaubte, dass es ein Problem werden könnte.

    "Wie geht es dir denn?", fragte Lily weiter. "Ab Montag hat Shinji keinen Urlaub mehr. Wenn du Beschäftigung brauchst, hätte ich die ein oder andere Aufgabe für dich. Normalerweise bist du immer sehr unruhig, wenn du nicht drüben bist."

    Das klang doch gut. Das lief besser als erwartet. Lily schien sich endlich etwas zu entspannen.

    "Momentan habe ich Shinji 24 Stunden lang um mich herum. Ich denke, es geht mir gut."

    Er konnte nicht anders, als darüber zu lächeln. Er war froh zu hören, dass seine Anwesenheit zu Nates Wohlbefinden beitrug. Gerade nach heute, war er glücklich das zu hören.

    "Aber was hättest du für Aufgaben?"

    Lily warf Nate einen kurzen Blick zu und zuckte dann die Schultern. Shinji konnte den Anflug eines Lächelns erkennen. "Ich bin alleinerziehende Mutter, ich kann immer Hilfe gebrauchen. Ich bräuchte zum Beispiel ab und an jemanden, der auf Hana aufpasst und du hast das letzte Mal, als du weg bist, nicht alle Arbeiten in der Wohnung geschafft. Ich denke ich würde dich sicherlich noch die ein oder andere Woche beschäftigt bekommen."

    "Du kannst dich gerne melden, wenn du was brauchst."

    Sie warf Nate noch einmal einen Blick zu, nachdem sie eingeparkt hatte: "Oder vielleicht kann ich dir helfen, einen Job zu finden? Was… normaleres?" In ihrer Stimme lag mehr Hoffnung, als sie wahrscheinlich beabsichtigt hatte und auch Shinji hielt etwas den Atem an. Wirklich darüber gesprochen hatten sie noch nicht.

    "Einen normalen Job? Ich weiß nicht einmal, ob ich für irgendeinen anderen Job qualifiziert wäre. Im Moment bin ich es nicht einmal für meinen."

    Die wegwerfende Handbewegung die folgte, war wohl das eindeutige Zeichen, dass Nate sich im Moment noch nicht darum kümmern wollte - oder konnte. Schließlich hatte er Recht. Gerade war er wahrscheinlich für nichts qualifiziert, für das man auch nur einen Schulabschluss brauchte. Oder einen Führerschein. Und sein Bein schränkte ihn in seinen Bewegungen ein. Shinji seufzte innerlich, als das einzige, was ihm für Nate einfiel, ein leichter Bürojob oder Kassierer einfiel. Und bei beidem würde sein Partner wahnsinnig werden.

    Aber das war im Moment wirklich nicht wichtig. Viel wichtiger war, dass Lily endlich begonnen hatte, mit Nate zu reden und nicht vorsichtig um jedes eventuell gefährliche Thema herum schlich. Das war ein großer Fortschritt.

Kapitel 60

    Nach dem Essen setzte Lily sie sogar vor der Haustür ab. Hana bestand darauf, von ihnen beiden fest zum Abschied gedrückt zu werden und Lily hatte nicht genau gewusst, wie sie sich verabschieden sollte, bis Nate sie auch kurz in die Arme gezogen hatte. Dann waren sie weg und sie beide wieder allein.

    "Na… das lief doch gar nicht so schlecht", kommentierte Shinji und meinte es so. Lily war immer noch angespannt gewesen, aber alles in allem, war es ein ruhiges Essen gewesen.

    Sie ließen sich beide aufs Sofa fallen. Nate schien fertiger, als man das nach einem simplen Essen erwarten würde.

    "Ahm… ja. Ich glaube zwar, dass Lily noch immer überlegt, was sie sagen soll… aber immerhin sagt sie etwas."

    Diesmal schien Nate ein wenig mehr Verständnis dafür aufbringen zu können, was wahrscheinlich daran lag, dass er es mit Hana ganz ähnlich hielt. Um nicht aufzufliegen, zögerte er oft und deutlich, was die kleine zum Glück nicht mitbekam. Vielleicht war Nate deshalb so fertig, das musste Kraft kosten.

    In einem Moment, in dem Nate sich auf Hana konzentriert hatte, hatte Lily ihn allerdings an etwas erinnert, worüber er jetzt noch mit Nate reden musste, auch wenn der so aussah, als würde er lieber schlafen.

    "Hör mal…", begann er dann langsam. "Morgen ist mein letzter freier Tag und ich dachte, wir könnten einen kleinen Ausflug machen. Was hältst du davon, wenn wir deine Wohnung mal besichtigen fahren?"

    Da musste sich Post stapeln und auch wenn er glaubte, dass die notwendigen Rechnungen automatisch bezahlt wurden, sollte mal jemand nach dem Rechten sehen. Soweit er wusste, war Nate seit weit mehr als einem Jahr nicht mehr dort gewesen - obwohl der wahrscheinlich vor seinem Einsatz kurz noch einmal dort gewesen war, aber das änderte nichts daran, dass er ewig nicht da gewesen war.

    Überrascht, formten Nates Lippen ein stummes 'Oh', dann nickte er aber zustimmend. "Du weißt schon, dass ich keine Ahnung habe, wo die ist?"

    "Lily hat mir vorhin Adresse und deinen Ersatzschlüssel gegeben." Was Nate deutlich nicht mitbekommen hatte, denn die Überraschung verschwand nicht aus seinem Gesicht. "Sie leiht uns auch ihr Auto, wenn wir wollen."

    Zum Glück hatte Lily sich Gedanken darum gemacht, ausnahmsweise hatte er etwas so wichtiges wirklich aus den Augen verloren. "Und weißt du, was das Beste an der Sache ist?" Er lächelte aufmunternd. "Wir spielen beide Detektive. Denn ich war auch noch nie da und du hast mir bisher nichts davon erzählt. Wir können also gemeinsam schauen, was uns erwartet und dann dein Leben abseits deiner Partners und deiner Familie erforschen."

    Kurz wartete er auf das bekannte, ängstliche Flattern in seiner Brust, wenn er sich selbst als Nates Partner bezeichnete, aber es blieb aus. Es fühlte sich ganz natürlich an.

    Nate zog ihn plötzlich in seine Arme und hielt ihn sicher dort fest, knuddelte ihn sogar wieder ein wenig durch. Von der schlechten Laune heute morgen, war wirklich nichts mehr übrig - alles richtig gemacht.

    "Klingt nach einem Plan."

    Und nachdem ihm Nate noch einen Kuss auf den Schopf gesetzt hatte, machten sie es sich bequem, wie sie es sich vorhin noch vorgenommen hatten und verbrachten einen sehr entspannten, restlichen Tag.

    

    "Wie stellst du dir deine Wohnung vor?", fragte Shinji, als er den Wagen gerade auf die Ausfahrt der Zielstadt gelenkt hatte. "Ich habe sie mir immer groß, hell und modern vorgestellt. Mit vielen Fenstern, weißem Teppich und schwarzen Möbeln."

    Sein Therapeut hätte ihn jetzt wahrscheinlich gefragt, ob das wirklich zu Nate passte oder ob er sich durch seine Unsicherheit einfach exakt das Gegenteil von seiner Wohnung vorstellte. Oder ob das vielleicht sogar eine heimliche Wunschvorstellung von ihm war. Möglich war beides, aber Shinji hätte die Frage nicht beantworten können.

    "Ich weiß nicht… Leer. Wie ein Hotelzimmer vielleicht. Also mit dem Nötigsten ausgestattet, aber mehr nicht."

    Das wäre logisch, schließlich hatte Nate kaum Zeit in der Wohnung verbracht. Aber das klang trotzdem falsch. Nate war nicht praktisch, er war der Romantiker von ihnen beiden. Nate würde es in einer unpersönlichen Wohnung nicht lange aushalten.

    Shinji gähnte kurz, weil selbst die zwei Tassen Kaffee, die er noch in sich geschüttet hatte, bevor sie los gefahren waren, nicht reichte, um seinen zerstörten Schlafrhythmus auszugleichen. Es war für ihn wirklich früh, aber späteres Losfahren hätte sich nicht gelohnt. Nates Wohnung war einige Städte weiter weg.

    "Ich hoffe, ich habe kein Haustier, das ich vergessen habe, zu füttern."

    "Denke nicht, dass du dir darum Sorgen machen musst. Du bist die Hälfte des Jahres nicht da, manchmal auch länger. Mehr als ein Kaktus überlebt das nicht."

    "Ein Kaktus", wiederholte Nate lachend. Was auch immer daran so lustig war.

    "Wie fühlst du dich?", wechselte Shinji ein wenig ungelenk das Thema, aber er wollte das schon fragen, seit sie heute aufgestanden waren.

    Nate schwieg darauf erst einmal, sich vielleicht selbst nicht ganz sicher und sah dabei zu, wie die Landschaft draußen an ihnen vorbei zog. "Ich bin neugierig. Eine Wohnung sagt viel über den Charakter eines Menschen aus…"

    "Denkst du, eine Wohnung tut das auch, wenn man eigentlich nie zu Hause ist? Ich würde da nicht zu viel Hoffnung rein stecken." Er sagte das vorsichtig, weil er wirklich nicht wollte, dass Nate hinterher enttäuscht war.

    Ein wenig legte er aber auch die Stirn in Falten, als er daran dachte, dass Nate in dieser Stadt vermutlich auch Menschen zurückgelassen hatte. Freunde, Nachbarn. Ob sie davon jemandem begegnen würden?

    Einerseits war er wirklich neugierig auf Nates normales Umfeld, andererseits war er nicht gut mit Menschen und Nate hatte heute schon genug zu verdauen.

    "In solchen Momenten bemerke ich erst wieder, wie wenig ich eigentlich über dich weiß."

    "Das haben wir in diesem Fall gemeinsam." Shinji war sich nicht sicher, ob Nates Unterton Sarkasmus war oder es einfach nur neckend klingen sollte.

    "Ich muss sagen… etwas unsicher bin ich schon. Was, wenn wir etwas finden, dass uns beiden nicht gefällt? Ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass dort ein heimlicher Geliebter wartet, aber vielleicht finden wir ja ein total verstörendes Hobby. Vielleicht liegen überall gruselige Plüschtiere herum. Shinji…", sagte Nate atemlos. "Was, wenn ich Plüschtiere sammle?"

    Der Ton seines Beifahrers deutete an, dass das das Schlimmste war, was passieren könnte und Shinji musste lachen.

    "Das kriegen wir schon alles hin, mach dir keine Sorgen. Solange du kein Serienmörder bist, kann ich mit allem leben."

    Erst nachdem er das ausgesprochen hatte, zuckte er innerlich zusammen. Eigentlich war Nate das ja… je nachdem wie man einen Krieg auslegte. Der einzige Unterschied war, dass Nate nie dafür festgenommen werden würde. Aber glücklicherweise schien Nate seinen Patzer nicht bemerkt zu haben. "Und wenn, bin ich ja wohl der versteckte Lover.", sprach er schnell weiter und versuchte einen heiteren Unterton in seine Worte zu legen.

    

    Wenige Minuten später parkte Shinji in einer Parklücke nicht weit von dem Gebäudekomplex den sie suchten weg.

    "Gut, ich bin bereit. Du auch?"

    Shinji wunderte sich etwas, dass Nate sofort schwungvoll die Tür aufriss und geradezu heraus sprang. Das schien ihm doch ein bisschen übertrieben und er glaubte, dass das in Wirklich mehr Aufregung als tatsächliche Euphorie war.

    Shinji stieg seinerseits aus und sah sich etwas um. Es war keine besondere Gegend. Weder gehobener noch irgendwie verwahrlost, aber es schien ein wenig ruhiger zu sein, als bei ihm zu Hause. Es war ein modernes Mietshaus, mit acht Stockwerken. Nate wohnte im sechsten. Türnummer 21.

    "Letzte Chance, noch können wir umdrehen." Doch statt etwas zu sagen, grinste Nate ihn an und schob die schwere Eingangstür auf.

    Sie atmeten beide erleichtert aus, als sie einen Aufzug entdeckten. Der Eingangsbereich war hell, auf dem ersten Treppenabsatz stand eine gut gepflegte Palme, die Treppe an sich war aus diesem grau gesprenkelten Stein und bildete damit einen angenehmen Kontrast zu den weißen Wänden, die ansonsten nur von den dunklen Postfächern unterbrochen wurden. Eines davon war schier am überquellen, doch Nate ging zielstrebig auf den Aufzug zu, weshalb sich Shinji nur eine mentale Notiz machte, dass sie die Post auf dem Rückweg mitnahmen.

    

    Der Aufzug ruckelte etwas, als er im sechsten Stock ankam. Nate streckte den Kopf erst heraus, um zu sehen, in welche Richtung sie mussten und schien die gesuchte Tür dann auch schnell zu entdecken.

    "Okay, jetzt wird's interessant.", murmelte er zu sich selbst, als er den Schlüssel ins Schloss schob.

    Die Wohnung war groß, und modern - Überraschung. Von einem geräumigen Eingangsbereich ging es in ein Bad, das von Nate ignoriert wurde, und in einen Wohn- und Essbereich, den sie gemeinsam Betraten. Pflanzen gab es keine, dafür eine schwarze Ledercouch und eine aufgeräumte, aus dunklem Stein gefertigte Kücheninsel.

    "Nicht einmal einen Kaktus, Shinji", seufzte Nate ein wenig theatralisch und stieß ihm mit dem Ellbogen neckend in die Seite. "Aber ich stehe wohl auf den Himmel. Besser als Plüschtiere."

    Shinji lenkte seinen Blick noch einmal zur Couch und betrachtete die Fotos genauer, die dahinter an der Wand hingen. Es war tatsächlich eine Collage aus Bildern, die nur aus Himmel bestanden. Es fanden sich alle verschiedenen Farben und Nuancen. Wirklich schön gemacht. Es gab dem ganzen Raum etwas wohnliches.

    "Ich schätze, egal wo man ist, der Himmel sieht immer irgendwie gleich aus. Vielleicht ist das für dich ein Anker in der Welt."

    Er folgte seinem Freund zum Kühlschrank, der, wie erwartet, vollkommen leer war. Bis auf Bierflaschen, was… auch nicht besonders verwunderlich war. Das Gefrierfach sah schon anders aus, was auch logisch war. Wenn Nate nach einem Einsatz zurück kam, musste wenigstens irgendetwas essbares im Haus sein und er konnte nie wissen, an welchem Wochentag er ankam oder ob er die Kraft hatte, noch einkaufen zu fahren.

    Plötzlich flog eine Packung Eis auf ihn zu. Ben&Jerry's. Und das Grinsen auf Nates Gesicht, ließ Shinjis Herz kurz wild schlagen. Erinnerte sich Nate an diesen einen Abend mit Hana?

    Aber der Moment verflog sofort, als Nate begann nach einem Löffel zu suchen. Vielleicht war da ein Erinnerungsfetzen gewesen, aber Nate hatte ihn anscheinend selbst nicht einmal bemerkt.

    "Oh, das ist cool!", rief Nate dann plötzlich aus und Shinji suchte nach was immer Nate entdeckt hatte. Es war nicht schwer zu finden. Eigentlich war es sogar ziemlich offensichtlich. Die komplette Wand hinter der Küchenzeile, war mit Kronkorken tapeziert. Wenn er richtig sah, war kein einziger davon doppelt. "Schau mal, wie viele verschiedene Kronkorken!"

    Nate freute sich wie ein kleines Kind, was Shinji ehrlich schmunzeln ließ. Nate war wohl doch ein Sammler. Kronkorken und Fotos vom Himmel. Es gab schlimmeres.

    "Dann bist du ja prächtig auf die atomare Apokalypse vorbereitet.", witzelte er, auch wenn er wusste, dass Nate die Anspielung nicht verstand. Nate sah ihn wie erwartet verwirrt an, was ihn nur unschuldig die Schultern zucken ließ: "Gamer Witz, sorry. Es gibt ein Spiel, da bezahlt man mit Kronkorken."

    Er trat dann an das Kunstwerk heran und betrachtete es genauer: "Das ist echt krass, wie viele das sind. So was sollten wir in unserer Wohnung vielleicht auch anfangen?"

    Das amüsierte Grinsen, gefolgt von einem sehr sanften 'Ja, sollten wir', verwirrte Shinji etwas, aber bevor er fragen konnte, wuschelte Nate ihm durch die Haare und schlüpfte an ihm vorbei.

    "Schlafzimmer", hörte er seinen Freund schließlich rufen und folgte ihm, während er begann, sein Eis zu essen. "Und es hat 'nen Balkon!"

    Das erklärte dann wohl, warum die Wohnung nicht nach Zigaretten roch. Als er ebenfalls in dem Zimmer ankam, sah er auch gerade, wie Nate nach einem Päckchen tastete. Doch dann erstarrte die große Gestalt und starrte neben sich. Da stand ein Couchstuhl, auf dessen Sitzfläche ein großer, weißer Plüschtiger saß. Einen Augenblick fiel Shinji das atmen schwer.

    "Du hast ihn noch?", stieß er ehrfürchtig aus und so leise, als könnte der Gegenstand zum Leben erwachen und flüchten, wenn er zu laut wäre. Vorsichtig näherte er sich und nahm das Stofftier dann auf den Arm. Es wirkte gleich viel größer, weil er selbst so klein war.

    Nach kurzem, andächtigem Schweigen, brach die Freude doch aus ihm heraus und er ließ sich glücklich lachend auf den Stuhl fallen, um dort das Stofftier durch zu knuddeln.

    "Ich hab ihn noch?", echote Nate etwas irritiert und blickte zwischen dem Kuscheltier und Shinji hin und her bis der sich erbarmte, es zu erklären:

    "Ich glaub es echt nicht, dass du den noch hast. Mein Vater hat ihn irgendwann mal weg geworfen, weil er meinte, ich sei zu alt dafür, mal abgesehen davon, dass Stofftiere allgemein viel zu unmännlich sind, aber das hat er natürlich nicht gesagt. Wir haben ihn dann zusammen in der Nacht vor der Mülleerung aus der Tonne gefischt und du hast ihn dann bei dir behalten, damit mein Vater das nicht mitbekommt."

    Den würde er mit zu sich nehmen. Der würde nicht weiter hier verstauben, auch wenn er erstaunlich gepflegt wirkte. Nicht vergilbt oder so, als hätte sich Nate ab und zu darum gekümmert.

    "Wir sind schon immer zusammen durch dick und dünn gegangen, was?"

    "Ja", antwortete er, erstarrte dann aber, als er von dem Tiger zu Nate aufsah.

Kapitel 61

    Nate war plötzlich sehr blass, sein Blick unfixiert, irgendwo in weite Ferne gerichtet. Und dann verzerrte sich sein ganzes Gesicht in etwas, das wie Schmerz aussah, was Shinji sofort aufspringen ließ, das Stofftier sofort vergessen.

    "Nate?", fragte er alarmiert, als der sich die Schläfen rieb. "Nate? Was ist los?"

    Er ging zu ihm und aus Angst, Nate würde umkippen, drückte er ihn vorsichtig zurück und aufs Bett. Nate folgte der Bewegung schwankend und als er saß, drückte ihn Shinji auch mit dem Oberkörper aufs Bett.

    "Nate, hörst du mich?" Nate warf einen panischen Blick durch den Raum, ehe seine Augen sich auf seine fixierten: "Oh gut… du bist noch da."

    Diese Aussage beruhigte Shinji ganz und gar nicht.

    "Hey, alter. Du machst mir angst!", seine Stimme war ungewöhnlich laut und er schnippte mit den Fingern vor Nates Augen, um zu sehen, ob er irgendwie reagierte.

    Nates Augen schlossen sich: "Klar und deutlich."

    Als sich seine Augen wieder öffneten, schienen sie wieder komplett fixiert, was Shinji beruhigt wieder aufatmen ließ, bevor er die Stirn kritisch wieder kraus zog.

    "Was ist passiert? Für einen Moment warst du vollkommen weggetreten."

    Vielleicht sollten sie ins Krankenhaus fahren. Das konnte doch nicht normal sein, oder? Hatte es was mit der Amnesie zu tun? Vielleicht versuchten die Erinnerungen wieder hoch zu kommen?

    Für den Moment schien es aber vorbei. Sogar die Farbe kehrte in Nates Gesicht zurück.

    "Ich…" Nate stockte. Anscheinend musste er sich sammeln, oder versuchte eine Erklärung zu finden. Letztendlich stieß er aber nur seinen angehaltenen Atem aus. "…weiß nicht."

    Nate sah so verloren aus, dass Shinji ihm das sofort glaubte. Doch gerade als er vorschlagen wollte, einen Arzt aufzusuchen, fuhr Nate schon fort: "Sollen wir den Tiger mitnehmen?"

    Das war ein klares Zeichen, dass Nate nicht darüber sprechen wollte. Shinji rang kurz mit sich, gab dann aber nach. Nate war alt genug, er musste selbst wissen, was er tat. Auch wenn es Shinji schwer fiel, nichts zu sagen.

    "Unbedingt", antwortete er deshalb so euphorisch wie er konnte und sah dabei zu, wie sich Nate die Zigarette in den Mund steckte. "Aber lass mich die ein Glas Wasser bringen, ja? Bleib nur einen Augenblick noch sitzen." Das war das Minimum an Fürsorge, das er gerade hin bekam.

    

    "Was ist dir eigentlich lieber? So eine Wohnung wie die hier, oder sowas wie unsere?"

    Sie standen auf dem Balkon, Shinji mit dem Rest seines Eises und Nate mit einer Zigarette im Mund.

    Die Sorge, dass sich Nate in dem doch sehr dunklen Keller nicht wohl fühlte, bestand nach wie vor. Es gab einfach zu wenige Menschen, die sich in solchen Wohnverhältnissen unwohl fühlten.

    Nate sah ihn verwundert an, was irgendwie logisch war, wenn man bedachte, wie plötzlich die Frage kam. Anders als sonst nahm er sich diesmal etwas mehr Zeit zum Nachdenken, nahm extra noch einen tiefen Zug und stieß ihn langsam aus.

    "Ich habe nichts gegen deine Wohnung, das weißt du. Aber ein zusätzliches Fenster wäre schon nicht schlecht."

    Vielleicht wäre es gar nicht so schlecht, wenn sie sich beide eine richtige, gemeinsame Wohnung suchen würden. Eine die sie gemeinsam einrichten konnten.

    Wenn alles wieder etwas normaler war, würde er Nate das vorschlagen. Es ließ sich doch bestimmt ein Kompromiss zwischen heller Wohnung und Keller finden.

    

    Sie durchsuchten dann noch den Rest der Wohnung. In Nates Kleiderschrank fanden sie einige Uniformen und in einer versteckten Schachtel insgesamt sieben Abzeichen, die wahrscheinlich irgendwas mit dem Militär zu tun hatten. Nate erkannte sie selbst nicht wieder, deshalb war es auch unsinnig zu fragen, warum die wie Spielzeug weggeräumt in einer unauffälligen Pappschachtel versauerten. Aber wenn Shinji so darüber nachdachte, sah man nirgendwo in der Wohnung Anzeichen davon, was sein Freund beruflich tat. Er hätte sich wenigstens ein Bild seiner Mannschaft erwartet oder eines von den Leuten, mit denen er die Ausbildung absolviert hatte. Selbst die Uniformen waren so unauffällig wie möglich in eine Ecke geschoben, gerade so, dass sie nicht knitterten. Aber Nate hatte noch nie eine große Sache daraus gemacht. Wahrscheinlich wollte er in seiner Freizeit einfach nicht daran denken, das konnte ihm keiner übel nehmen.

    "Eigentlich eine Verschwendung, dass ich keinen Uniformen-Fetisch habe.", kommentierte Shinji was Nate leise lachen ließ. Eigentlich empfand er Nate in Uniform sogar sehr befremdlich. Als sie ihn abgeholt hatten, hatte er ihn fast nicht wieder erkannt. Die Uniform passte einfach nicht zu seinem Freund.

    In Tarnklamotten auf einem Hügel im Staub zu liegen und ein Scharfschützengewehr im Anschlag zu haben, auch nicht wirklich, aber schon eher. Im Gegensatz zu ihm selbst war Nate schon immer jemand gewesen, der sich gerne mal mit anderen im Schlamm raufte. Damals zumindest.

    Außerdem strahlten Uniformen zu viel Dominanz aus. Auch wenn er doch eher der submissive Part war, allzu viel Dominanz konnte er nicht leiden.

    Noch ein Grund warum er sich Nate nicht als Anführer einer Militärischen Spezialeinheit vorstellen konnte. Ja, er strahlte Selbstsicherheit aus, aber nicht direkt Dominanz und das brauchte man bei so einer Gruppe doch, oder?

    Er sollte da nicht so sehr drüber nachdenken.

    Als Nate dann Kondome in seinem Nachttisch fand, schien es genug zu sein, denn er schloss sie schnell wieder, streckte sich und fragte Shinji dann, ob sie etwas essen wollten.

    "Wollen wir deine Tiefkühltruhe plündern und deinen Ofen ausprobieren oder willst du Auswärts essen?"

    "Tiefkühltruhe ist keine schlechte Idee", antwortete Nate und ging zurück in Richtung Wohnküche.

    Doch gerade als Shinji sich zu Nate gesellen wollte, klingelte es an der Tür.

Kapitel 62

    Lockenwickler waren das erste, was Shinji sah, als Nate die Tür öffnete. Die Frau in ihren sechzigern trug mit Blumen bedruckte, sehr locker sitzende Kleidung und sah Nate aus zufriedenen Augen an: "Ich wusste ja, dass du wieder kommst, Jungchen."

    Dann wandte sie sich mit ihrer kratzigen Stimme den Hausflur herunter: "Walter, der Junge ist wieder da! Ich habe die Wette gewonnen. Walter, du kochst ab sofort!"

    "Ahm…", war die einzige Reaktion von Nate darauf und damit sprach er Shinji aus der Seele.

    Den Hilfe suchenden Blick seines Freundes konnte Shinji nicht ignorieren, weshalb er vor trat, auch wenn sein Herz ihm aus der Brust zu springen drohte.

    "Hi", begann er nervös. Er hasste fremde Menschen. Er war nicht gut damit. "Ich bin Shinji. Sie… ehm… sind wohl Nachbarn?"

    "Oh, was für ein schöner, junger Mann", sagte die Frau begeistert und vollkommen ungeniert und richtete sich die Haare, ehe sie Shinjis ausgestreckte Hand annahm und sie eifrig schüttelte.

    "Ja, wir wohnen gleich nebenan. Wir haben Geräusche gehört und da dachte ich, ich komme mal nachschauen."

    Sie beide wussten nicht genau, was sie dazu sagen sollten und da kam auch schon ein Mann mit Halbglatze und einem Bierbauch, der in einer Jogginghose steckte, auf:

    "Da ist ja der verlorene Sohn!" Er lachte herzlich. "Du hast einiges an Besuch bekommen, aber wir haben gesagt, du wärst nicht da. Aber du solltest vielleicht mal dein Postfach leeren."

    Das brachte ihm einen Rippenstoß seiner Frau ein: "Jetzt lass ihn erst mal richtig ankommen, Walter"

    Die beiden waren mit Nate wohl enger befreundet oder dachten es auf jeden Fall. Ein wenig führten sie sich auf wie Nates Eltern. Ob das auf Gegenseitigkeit beruhte, wusste keiner von ihnen und bei älteren Menschen konnte man nie wissen. Wenn denen zu langweilig wurde, wurden die schnell aufdringlich. Shinji erinnerte sich an eine Frau, sicherlich über siebzig, die ihn nach dem Einkaufen öfter abgefangen und ihn dann zu geredet hatte. Bevor sie ausgezogen war, kannte er ihre Krankengeschichte, den täglichen Zuckerspiegel und ihre Familienverhältnisse wahrscheinlich besser als ihre Kinder. Egal was er gemacht hatte, er war sie nie losgeworden. Ihm lief heute noch ein kalter Schauer über den Rücken, wenn er daran dachte.

    "Habt ihr Hunger?", wurden Shinjis Gedanken von der Frau unterbrochen. "Das Essen ist gerade fertig geworden und du weißt ja, dass ich immer zu viel mache."

    Wenn die beiden wirklich so eng mit Nate waren, konnten die ihnen sicherlich einiges erzählen. Aber das musste Nate wissen. Das waren schon wieder Menschen, an die er sich nicht erinnern konnte.

    "Was meinst du?", fragte er also seinen Freund, der immer noch kein Wort gesagt hatte.

    "Ja, warum nicht", antwortete der wie automatisch und zuckte mit den Schultern. Shinji war sich nicht wirklich sicher, ob Nate wusste, zu was er da zusagte. Er wirkte einfach nur vollkommen überfordert.

    "Ausgezeichnet", klatschte die Frau in die Hände und winkte sie den Gang ein Stück hinunter in die Nachbarwohnung.

    

    Am späten Nachmittag saßen sie dann wieder im Auto, nicht viel schlauer als vorher. Anscheinend hatte die Nachbarin, die im Übrigen Ruth hieß, Nate öfter Essen vorbei gebracht und dafür hatte der Sachen repariert, die eben in einem Haushalt so anfielen. Jetzt saßen sie beide ein wenig erledigt im Auto, Shinji übervoll, weil die Frau wohl gedacht hatte, er würde zu wenig essen. Nate einfach nur müde und mit einer Tasche voll mit Post zu seinen Füßen. Im Kofferraum fanden sich nun die restliche nicht militärische Kleidung seines Freundes und auf dem Rücksitz thronte stolz der Tiger, den Shinji sogar angeschnallt hatte.

    "Ich werde die nächsten drei Tage nichts essen", jammerte Shinji. Ihm war wirklich schlecht, aber er hatte den übervollen Teller nicht nur halb essen können. Also hatte er weiter gegessen, bis er wirklich nicht mehr konnte.

    Eigentlich hielt er Höflichkeit ja für Lebenszeitverschwendung, aber wenn es dann dazu kam, konnte er nicht wirklich unhöflich sein. Nicht, wenn die andere Person einigermaßen freundlich war. Vielleicht lag das an seiner Erziehung, die immer noch viel zu tief verwurzelt war, aber zur Sicherheit würde er einmal mit seinem Therapeuten über dieses Paradoxon reden.

    "Aber wenigstens war es echt lecker", kommentierte Nate nur und Shinji konnte nicht widersprechen.

    "Der Tag war wirklich interessant", lenkte Nate dann aber weiter. "Danke für die Idee."

    "Mir hat das echt Spaß gemacht. Fast schon schade, dass du nicht noch mehr Wohnungen zum durchstöbern hast."

    Nate grinste daraufhin nur müde und sie fuhren los.

    Der Rest der Fahrt verlief ruhig. Sie waren beide geschafft und hingen ihren Gedanken nach. Insgeheim plante Shinji bereits, wie er Nate die Idee eines Umzugs unterbreitete, aber das hatte noch etwas Zeit. Nate hatte sich gerade erst wieder in sein Leben eingefunden, zumindest einigermaßen und sie wussten noch nicht, wie er seinen weiteren Lebensunterhalt bestreiten würde. Das stand alles noch in den Sternen.

    

    "Was ein Tag", seufzte Shinji und gähnte, als er sich auf sein Sofa fallen ließ. Trotz allem fühlte er sich hier noch am wohlsten und vor allem sicher. Er hoffte wirklich, dass die neue Wohnung ihm dieses Gefühl auch geben konnte.

    Nate war nicht wirklich fitter. Der ließ sich neben ihn fallen, strich sich fahrig über sein verletztes Bein und schmiegte sich dann sofort an ihn. Nach dem halben Tag voneinander entfernt, sich fast nicht berührend, tat das jetzt wirklich gut. Und auch wenn sie nicht besonders viel gemacht hatten, überkam sie beide doch die Erschöpfung und sie schliefen gemeinsam auf der Couch ein.

    Shinjis letzter Urlaubstag fand damit sein Ende.

Kapitel 63

    Es war komisch, als Shinji wieder begann zu arbeiten. Im Prinzip war es das erste Mal, dass er regelmäßig arbeitete, während Nate bei ihm war und irgendwie fühlte es sich ein wenig an, als würden sie aneinander vorbei leben. Wenn er aufstand war Nate meist gerade von der Reha zurück, dann hatten sie ein paar Stunden für sich, in denen Shinji frühstückte und Nate zu mittag aß. Bevor Shinji in den frühen Abendstunden dann zu arbeiten begann, hatten sie ein kleines Zeitfenster, in denen sie sich miteinander beschäftigen konnten. Sie gingen nicht einmal zusammen ins Bett, was wirklich merkwürdig war. Nur wenige Stunden bevor es Nate aus dem Schlaf trieb, legte sich Shinji zu ihm. Aber irgendwie funktionierte es und am Wochenende hätten sie wieder einen etwas synchronisierten Tagesablauf.

    Nate beschäftigte sich mit kleineren Reparaturen in der Wohnung und bei Lily, mit der Reha und der Organisation der Einkäufe. Er war noch immer keine Person die still sitzen konnte, aber das war gut so. So trainierte er sein Bein und begann nicht wieder in frustrierenden Gedanken zu versinken.

    

    Es war etwa vier Wochen nach Nates Rückkehr in Shinjis Leben, als Shinji ungewöhnlich früh geweckt wurde.

    Schon als die Matratze hinunter gedrückt wurde, glitt er langsam aus seinem Schlaf und reckte sich dann der Hand entgegen, die sanft durch sein Haar strich.

    "Shinji", drang leise die Stimme seines Partners in seinen Geist. "Entschuldige, dass du so lange warten musstest."

    Vollkommen schlaftrunken flackerten seine Augen nur kurz auf, ehe sie müde wieder zufielen.

    "Hm?", fragte er leise. "Warst du weg?"

    Wie viel Uhr war es überhaupt?

    Nate lachte leise und beugte sich herab, um ihm einen Kuss auf die Mundwinkel zu setzen. Irgendwie hatte er das Gefühl, etwas zu verpassen.

    "Weißt du noch, als ich dir sagte, ich würde mir die drei Worte persönlich abholen?"

    Nates Atem strich sanft über seine Wange, ehe er sich so weit aufrichtete, dass er mit seiner Nase über Shinjis streifen konnte. "Nun… hier bin ich jetzt."

    "Ja, sicher erinnere ich mich… aber…" Seine Gedanken stoppten abrupt, weil irgendetwas nicht zusammen zu passen schien. Etwas war anders, als erwartet.

    Er zwang sich die Augen endlich zu öffnen, in dem Versuch, etwas in Nates Gesicht zu erkennen, das ihm sagte, worüber sie gerade sprachen.

    Der Blick den Nate ihm schenkte, erschlug ihn fast. Das war nicht der selbe Ausdruck in seinen Augen, wie in den letzten Wochen. So sah man niemanden an, den man erst vor etwas mehr als einem Monat kennen gelernt hatte, auch nicht, wenn man sich bereits in ihn verliebt hatte. Diesen Blick schenkte man nur jemandem, den man fast sein ganzes Leben lang kannte und fast genauso lange liebte.

    Dann erst realisierte Shinji, dass dies kein Trugbild war, dass er nicht träumte und dass dieser Ausdruck nicht wieder verschwinden würde. Nate erinnerte sich.

    Shinji war so überrascht und überfordert, dass er nicht wusste, was er sagen sollte. Kurz kam ihm das Bild in den Sinn, wie er nach Nates Wange griff und mit Tränen in den Augen etwas sagte wie 'ich habe so lange auf dich gewartet'. Aber so schnulzig und so nah am Wasser gebaut war er nicht.

    Stattdessen begann er frech und ein bisschen schief zu grinsen: "Was? Jetzt? So auf Knopfdruck? Nachdem du dich dermaßen verspätet hast? Nah…"

    Doch statt einer Antwort, kramte Nate nach seinem Handy und tippte darauf herum. Sein Grinsen fiel wieder. Hatte er es übertrieben?

    Einen langen Augenblick fühlte er sich versetzt und zurückgewiesen, doch dann meldete sich sein eigenes Handy, als Nate seines weg steckte und sich nach hinten fallen ließ, nur knapp an Shinjis Füßen vorbei.

    'Ich hoffe, dir ist klar, dass du mich jetzt wirklich nicht mehr los wirst. Ich will mit dir alt werden. Ich hoffe, du weißt das. Ich liebe dich, Shinji. Und jetzt komm gefälligst her und küss mich.'

    Shinji musste wegen des letzten Satzes lachen, eine willkommene Reaktion, die den Druck auf seiner Brust löste, den die vorigen Sätze ausgelöst hatten.

    So richtete er sich auf und krabbelte über seinen Liebsten.

    "Willkommen zurück", hauchte er glücklich und beugte sich dann hinunter um Nate in einen tiefen Kuss zu verwickeln. Es fühlte sich so anders an, als in der letzten Zeit. So viel besser, so viel richtiger und lockerer, denn dieser Mensch vor ihm, kante alles von ihm. Er hätte nicht gedacht, dass das so einen Unterschied machte. Er hatte die Wochen über nicht bemerkt, wie sehr er 'seinen Nate' eigentlich vermisste hatte. Sie waren eben durch Dick und Dünn gegangen, das war eine ganz andere Basis. Umso größer waren jetzt auch die Glücksgefühle.

    Nate wand seine Arme schützend und besitzergreifend um ihn. Doch das was Shinji letztendlich förmlich verschlang, war all die Sehnsucht und all die Liebe, die ihm sein Partner entgegen brachte.

    Sie lösten sich nur voneinander, um sich anzusehen und sich zu versichern, dass das hier wirklich real war, ehe sie wieder in tiefe Küsse versanken und sich mit den Händen erkundeten, als würden sie es das erste Mal tun.

    

    "Ich werde dich nie wieder alleine lassen."

    Shinji biss Nate sanft ins Ohr, als wolle er ihn für diese Worte bestrafen. "Du hast einen Job, bei dem du das früher oder später machen musst. Also hör auf, mir Sachen zu versprechen, die du nicht halten kannst."

    Nate lachte leise, aber glücklich und schüttelte den Kopf: "Nein, Shinji. Ich meine es ernst. Ich werde dich nie wieder alleine lassen. Ich hätte fast mein Leben dort gelassen, ohne mich richtig von dir verabschieden zu können. Ich habe keine Lust, es auf ein Neues ankommen zu lassen. Ich bin fertig damit."

    Nates Blick war entschlossen und fast schon hart, was im vollkommenen Kontrast zu der Hand stand, die ihm sanft über den Rücken fuhr.

    "Ich rede mit dem Team, meine Leute werden das verstehen."

    Noch überfordert mit dieser Offenbarung, konzentrierte sich Shinji erst einmal auf das Erste, was ihm dazu in den Sinn kam:

    "Es wird sicher schwierig für dich, etwas zu finden, was dich ähnlich erfüllt und dich nicht langweilt."

    Sie hatten schon einmal darüber gesprochen, aber wirklich zufrieden hatte Nate damals mit den Vorschlägen nicht gewirkt, ganz abgesehen davon, dass viele ähnlich riskant gewesen waren, wie sein derzeitiger Job und deshalb jetzt keine Option mehr waren.

    "Erfüllt ist vielleicht das falsche Wort. Es war mehr ein Pflichtgefühl und der Wunsch nach etwas Ordnung. Aber du hast nicht Unrecht. Es wird bestimmt eine Zeit dauern, bis ich etwas Passendes gefunden habe. Aber wenn ich dafür in deiner Nähe bleiben kann, ist es mir ziemlich egal, welche Arbeit es letztendlich werden wird."

    Shinji konnte sich nicht vorstellen, dass Nate das tatsächlich so ernst meinte, wie es klang, denn sie wussten beide, dass ein Bürojob ihn wahnsinnig machen würde.

    Keine Sekunde ließ Nate ihn los oder hörte auch nur auf, ihn zu streicheln. Die Aussicht darauf, dass es immer so sein könnte, erfüllte ihn mit freudiger Wärme.

    "Wir finden schon was", hauchte er sanft und war so glücklich, wie schon sehr, sehr lange Zeit nicht mehr.

    "Und wo wir gerade schon bei lebensverändernden Entscheidungen sind… wie wäre es mit einer gemeinsamen Wohnung?" Er konnte diese Idee jetzt einfach nicht mehr zurückhalten. Schon die letzten Wochen hatte er darauf gebrannt, endlich mit der Suche nach etwas passendem zu beginnen und jetzt wo wirklich alles an seinen Platz fiel, wollte er damit anfangen, ein gemeinsames Leben mit Nate aufzubauen. Nestbau hätte man das vielleicht nennen können und trotz der altbekannten Abneigung, die kurz einen Stich in seiner Brust auszulösen schien, wollte er genau das. Ein Nest bauen. Für ihn und Nate. Er wollte durch Möbelhäuser mit ihm laufen und Wandfarben und Vorhänge aussuchen und Fotos von allen Farben des Himmels aufhängen.

    "Ist dir die hier etwa zu klein geworden?", fragte Nate verwundert und gleichzeitig grinsend, als hätte er nur auf diese Frage gewartet.

    "Ja, aber hauptsächlich will ich, dass wir eine gemeinsame Wohnung haben und du dich dort einbringen kannst. Was denkst du?"

    Es war komisch, dass eine Antwort, die er bereits kannte, ihn dennoch so nervös machen konnte. Nate würde nicht nein sagen, aber diese kleine, ekelhafte Stimme, die noch immer da war, versuchte ihm einzureden, dass niemand wirklich mit ihm zusammen leben wollen würde. Er schob sie beiseite, in dem tiefen Vertrauen, dass Nate ihm niemals weh tun würde.

    "Ich denke, dass das ein großer Schritt ist und dass ich mir nichts Besseres wünschen könnte, als eine Wohnung mit dir, die wir zusammen einrichten."

    Nate brauchte ihn gar nicht zu sich herunter zu ziehen, er beugte sich bereits von sich aus wieder herunter und küsste ihn. Es brauchte nur ein wenig Anleitung von ihm, da lag Nate über ihm. So fühlte Shinji sich wohler. Er musste jetzt nicht mehr der stärkere von ihnen sein, Nate konnte ihn wieder beschützen, ihn umschließen. So fühlte er sich geborgen und gut aufgehoben.

    "Ich liebe dich, Nate", hauchte er endlich die Worte, die er ihm so lange schon hatte geben wollen. "Ich liebe dich so sehr, ich kann es gar nicht ausdrücken."

    

Kapitel 64

    Zurück in der Realität nach einem ausgiebigen Schäferstündchen, befasste sich Shinji allerdings mit etwas wesentlicheren Dingen. Die Attacken nach sexuellen Handlungen waren in den letzten Wochen weniger und wesentlich erträglicher geworden und wenn er sich einige Momente lang auf etwas anderes konzentrierte, als das, was sie getan hatten, konnte er allgemein besser damit umgehen.

    Er kuschelte sich enger an Nate, zog die Decke über sie beide und lauschte dem noch rasch schlagenden Herzen seines Partners.

    "Wie geht es dir?", fragte er dann leise. "Für dich waren die letzten Wochen wirklich nicht einfach und jetzt hast du plötzlich deine Erinnerungen wieder. Das muss fiel auf einmal sein."

    Nate malte ihm sanft kleine Kreise auf den Rücken und hielt ihn mit der anderen Hand fest bei sich.

    "Die letzten Wochen kommen mir weit weg vor. Aber wenn ich ehrlich bin, fühlt es sich auch jetzt noch komisch an. Als würde mein Hirn gerade alle Informationen zusammentragen und sortieren. Ich bin mir gar nicht mal sicher, ob ich mich wirklich an alles erinnern kann. Aber das kommt wohl mit der Zeit."

    Shinji konnte selbst nicht wirklich die Finger von seinem Liebsten lassen. Auch wenn er wenig Raum für Bewegungen hatte, schaffte er es, Nate immer wieder streichelnd zu Berühren.

    "An die wichtigsten Sachen scheinst du dich zu erinnern, für den Rest hast du alle Zeit der Welt." Erst als Shinji das ausgesprochen hatte, bemerkte er, dass das eine sehr selbstsüchtige Sicht war, denn gerade wusste er nur, dass Nate sich an ihn erinnert. Aber er ging einfach davon aus, dass die wichtigsten Eckdaten wieder da waren.

    "Ich habe dir doch gesagt… wenn ich mich nicht an dich erinnere, dann an gar nicht mehr."

    Er strich Shinji sanft durchs Haar, was den dazu veranlasste zu Nate aufzusehen.

    "Als wir in meiner Wohnung waren", erzählte Nate weiter, "da hatte ich die erste, richtige Erinnerung von dir. Ich wollte nichts sagen, weil ich dich nicht enttäuschen wollte, wenn es bei dem einen Mal geblieben wäre. Aber der Moment hat mir Hoffnung gegeben, dass meine Erinnerungen bald zurückkommen würden. Aber selbst ich habe nicht damit gerechnet, dass es so plötzlich kommt."

    Als Shinji sich an den Moment erinnerte, in dem Nate vollkommen abgedriftet war, verzog er sauer sein Gesicht und schnippte seinem Freund anklagend gegen die Nase:

    "Idiot, weißt du eigentlich, was für Sorgen ich mir gemacht habe? Ich habe dich tagelang nicht aus den Augen gelassen, weil ich Angst hatte, dass das nochmal passiert oder du plötzlich umkippst oder so."

    Nate rieb sich über die Nase und zog ein übertrieben schmerzerfülltes Gesicht: "Du machst dir einfach zu viele Sorgen, Kleiner."

    Na super, der Spitzname wieder, aber er konnte auch nichts dagegen sagen, er war eben gefühlt einen Meter kleiner als sein Partner.

    Aber apropos Sorgen…

    "Ich bin nur ungerne der, der die Stimmung ruiniert, aber du hast bestimmt den ein oder anderen, dem du ein Lebenszeichen geben willst, nicht? Und vielleicht solltest du dich bei Lily melden."

    Er sah zu wie Nates Augen sich weiteten, als ihm klar wurde, wie es seiner Schwester die letzten Wochen gegangen sein musste.

    "Das… ja… War ich mit Lily auf sehr großer Distanz?"

    Diese beiden Erinnerungsstränge zu haben, war wahrscheinlich ziemlich verwirrend. Kein Wunder, dass Nate das nicht selbst einschätzen konnte. Deshalb lächelte Shinji etwas schief als er antwortete: "Na ja… sagen wir… sie hatte nicht das Glück, das ich hatte. Du konntest nicht wirklich von hier weg, also musstest du dich an mich gewöhnen und ich mich an dich. Während ihr beide nicht wirklich etwas miteinander anfangen konntet. Aber Hana hat nicht viel davon gemerkt, das ist doch wenigstens eine positive Sache, oder?"

    Doch Nate schien nicht allzu begeistert. "Ja…", murmelte der nachdenklich.

    Dann aber drückte er ihm einen Kuss auf den Mund und richtete sich auf: "Schlaf noch etwas, ich tätige mal ein paar Anrufe."

    Shinji kuschelte sich extra offensichtlich ins Bett, aber nicht ohne noch einen Blick über das zerwühlte Bett zu werfen und in sich hinein zu grinsen.

    "Ich versuch's, aber nur, wenn du nach den Telefonaten wieder her kommst. Wenn du brav bist, nehm ich mir noch mal ein paar Tage Urlaub."

    Nate beugte sich noch einmal über ihn, um ihm einen letzten Kuss zu geben: "Versprochen?"

    

    Der restliche Tag wurde so gemütlich wie möglich verbracht, was schwer wurde, als Hurricane Randy auf ihre Wohnung traf. Der kleine Quälgeist ließ es sich natürlich nicht nehmen, Nate persönlich den Kopf zu waschen, aber Shinji saß nur dabei und lauschte, seltsam entspannt, wenn er ehrlich war. Denn irgendwie fühlte sich das alles normal und richtig an.

    Am nächsten Tag ging Nate seine Schwester besuchen, allein, weil die beiden die Privatsphäre brauchten. Abends saßen sie dann zusammen auf dem Sofa, kuschelnd, während im Hintergrund irgendein Film lief, den sie beide nicht beachteten.

    Shinji konnte nicht genau sagen, was ihn dazu brachte, aber plötzlich erinnerte er sich an den Stapel Post aus Nates Wohnung: "Da steht übrigens noch ein Karton voller Briefe rum. Vielleicht solltest du die mal auf machen?"

    Immerhin konnten da wichtige Rechnungen drin sein oder andere Dinge, die man wissen sollte. Jedes Mal, wenn er den Karton im Flur sah, machte ihn das nervös. Er mochte ungeöffnete Post nicht.

    "Oh, stimmt. Wo hab ich die hin gestellt?"

    Nate hatte deutliche Schwierigkeiten, sich an Details der letzten vier Wochen zu erinnern. Manchmal sprach er davon, wie andere Menschen von einem Traum, deshalb wunderte es Shinji auch nicht, dass er den Ort nicht mehr wusste. Nachdem er ihn in den Flur verwiesen hatte, stand Nate auch schon auf und kam kurz darauf mit dem Karton wieder.

    Ohne groß nachzudenken, wurde alles auf das Sofa entleert, genau zwischen ihnen beiden, so dass Shinji mit drüber schauen konnte. Nate kramte durch den Stapel und schien sich nicht ganz sicher zu sein, was er zuerst öffnen sollte. Letztendlich nahm er zwei Briefe auf, die von der Army kamen, hielt dann aber inne, als er einen Brief mit handgeschriebener Adresse fand.

    Es war ein einzelnes Blatt, was er aus dem Kuvert zog und Shinji erstarrte mit Nate zusammen, als er das dicke, schwarze Kreuz durch das Papier hindurch scheinen sah. Eine Todesanzeige.

    "Das gibt's nicht", murmelte Nate vollkommen entsetzt. Er fischte einen weiteren Brief mit handgeschriebener Adresse aus dem Haufen und hielt kurz darauf eine weitere Todesanzeige in seinen Händen.

    "Unmöglich. Das ist nicht wahr."

    Nate sprang auf, eine Aktion, die sein Bein eigentlich noch nicht mitmachen sollte, aber er spürte den Schmerz wohl gerade nicht.

    Shinji konnte nichts weiter tun, als seinen Freund dabei zu beobachten, wie er aufgeregt durchs Zimmer tigerte. Er war mit Trauer nicht gut. Er wusste nicht, was er tun sollte. Ein wenig gut zu reden, konnte er, aber an einem Tod war nichts schön zu reden und er war kein Freund von Sprüchen wie 'Er ist jetzt an einem besseren Ort'. Ob das Leute aus Nates Team waren? Hoffentlich nicht. Nate würde sich niemals verzeihen, dass einem Teammitglied unter seiner Verantwortung etwas passiert war.

    Plötzlich stoppte Nate und sah zu Shinji. Der Ausdruck in seinen Augen gefiel ihm nicht. Er sah ihn an, als würde er etwas dummes tun.

    Der Blickkontakt löste sich bald wieder, als Nate sein Handy hervor zog und darauf herum drückte. Er knurrte etwas Wütendes, ehe er das Teil in die Ecke warf. Es knackte unheilvoll und Nates wütende Miene verhieß nichts gutes. Shinji hatte ihn noch nie so außer sich gesehen, was darauf deutete, dass es wirklich Teammitglieder waren. Scheiße.

    "Ich muss mit dem Hauptquartier sprechen."

    Sein Freund hatte wohl gerade bemerkt, dass seine Kontaktliste komplett gelöscht war. Bevor Shinji noch irgendetwas sagen konnte, stapfte Nate schon aus dem Zimmer, was ihn dazu animierte, selbst auf zu springen und ihm nach zu laufen.

    "Die stehen wahrscheinlich nicht im Telefonbuch, oder? Was hast du vor?"

    Woah, er bekam kaum ein Wort heraus. Angst davor, Nate jetzt zu verletzen, schnürte ihm förmlich die Kehle zu.

    "Das ist mir schon klar", gab Nate gereizt zurück und marschierte direkt auf die Haustür zu, wo er sich seine Geldbörse schnappte und sich die Schuhe anzog.

    Shinji beeilte sich, ihm hinterher zu kommen, als ihm klar wurde, dass Nate dort hin fahren wollte. Er zückte sein Handy im Gehen, dachte gerade noch an seinen Haustürschlüssel und eine Jacke.

    "Ich komme mit", stellte er erst einmal klar und ihm war egal, was Nate davon hielt. Er würde ihn nicht allein lassen. Nicht in diesem Zustand. Nicht, wenn dessen Beschützerinstinkt ihm gerade komplett das Hirn vernebelte. "Wo müssen wir hin?"

    Von Shinjis Mitkommen aus der Bahn geworfen, starrte Nate einen Augenblick ins Leere, ehe er den Kopf schüttelte und an einer Straßenecke anhielt. "Für's Erste… zum Flughafen."

    Bei diesem Stichwort wählte Shinji die Nummer des erstbesten Taxiunternehmens, das er fand. Er hörte Nate neben sich fluchen, warum auch immer und nickte ihm dann zustimmend zu, als der ihn fragte, ob er ihnen ein Taxi rief.

    Nur einen Augenblick später war alles abgemacht und er wandte sich wieder an seinen Partner: "Wo genau hin? Dann buche ich uns schon den Flug."

    Organisieren konnte er. Das war das einzige, was er für Nate tun konnte, also würde er dafür sorgen, dass alles reibungslos ablief.

    

Kapitel 65

"Schau mal." Er hielt Nate das Smartphone hin, auf dem eine Wohnung zu sehen war. Das würde jetzt einen von zwei Effekten haben: Entweder, Nate würde vollkommen ausrasten oder er ließ sich davon ein wenig ablenken und würde endlich wieder ein wenig runter kommen.
 

"Was sagst du?"
 

Sie saßen gerade im Flugzeug, was Nate keine Möglichkeit hatte, davon zu laufen und die nervöse Energie die er ausstrahlte, machte Shinji schier wahnsinnig. Gerade warf er ihm aber eher einen Blick a la 'Wieso zeigst du mit das jetzt?' zu.
 

Eine Weile flackerte Nates Blick ruhelos in dem engen Raum umher, ehe er doch auf dem Smartphone landete. Das tiefe Durchatmen signalisierte wahrscheinlich, dass er Shinjis Absicht durchschaut hatte, aber das war nicht schlimm, denn Nate schien sich wirklich auf die Anzeige konzentrieren zu wollen.
 

"Sie ist groß", kommentierte Nate, als er sich den Grundriss ansah. "und hat in jedem Zimmer Fenster."
 

Nate sprach das aus, als wäre das ein Nachteil, dabei hatte sich Shinji extra dafür entschieden. Er hatte den halben heutigen Tag damit zugebracht, das Internet nach Anzeigen zu durchwühlen, während sein Freund bei seiner Schwester gewesen war. Der schien sich aber nicht ganz sicher, ob er hier ihre Traumwohnung vor der Nase hatte, aber Shinji hatte noch ein paar Argumente auf Lager:
 

"Sie hat einem Bastler gehört, deshalb hat sie ein paar Gimmicks, die der jetzige Vermieter nicht entfernt hat. Unter anderem zum Beispiel tönbare Fensterscheiben." Außerdem noch solche Kleinigkeiten, wie LAN in jedem Zimmer, eine Videofreisprechanlage, die man an einen Raspberry Pi anschließen konnte und anderen Schnickschnack, von dem Shinji nicht gewusst hatte, dass er ihn haben wollte.
 

Anscheinend spürte Nate seine Begeisterung, denn das einzige was er noch fragte war: "Wie viel kostet sie?"
 

Shinji räusperte sich umständlich, ehe mit einem schiefen Grinsen zugab: "Viel."
 

Nicht, dass sie beide das Geld nicht hätten. Er kannte Nates genaue Finanzen nicht, aber er konnte erahnen, was er für seine jetzige Wohnung hinlegte und Shinji hatte ziemlich astronomische Ersparnisse, weil seine Kellerwohnung im Prinzip fast nichts kostete, er nie in Urlaub fuhr und sich ab und an nur etwas neue Elektronik zulegte. Dadurch, dass er seinen alten Kram meist verkaufte, fiel das aber auch nicht allzu sehr ins Gewicht.
 

Nate schwieg jetzt, schien aber über die Wohnung nachzudenken, denn er wurde mit jeder Minute ruhiger, was Shinji stolz aus dem Fenster grinsen ließ. Wahrscheinlich sollte er sich nicht so freuen, nicht, wenn Menschen gestorben waren, aber er schaffte es nicht, auch nur einen Funken Empathie aufzubringen. Nate aufmuntern zu können, war hingegen ein ziemlich großer Sieg für ihn.
 


 

"Ich nehme an, du wirst mich in einem Hotel oder so absetzen?", fragte er, nachdem sie gelandet waren. Er konnte sich nicht vorstellen, dass er mit in ein Hauptquartier kommen durfte. Er war sich aber auch nicht sicher, ob die so spät abends überhaupt noch jemanden zu sich ließen. Er hoffte, dass er die Nacht nicht eingepfercht mit Nate in einem Hotelzimmer verbringen musste. Sein Freund würde wahnsinnig werden.
 

"Es gibt ein paar, die auf dem Weg liegen, ich würde dich beim Nächstbesten dann absetzen."
 

Gesagt, getan. Als das Taxi vor dem Hostel hielt, wandte sich Nate noch einmal an ihn: "Hast du genug Geld? Ich versuche mich zu beeilen."
 

Shinji konnte sich ein sanftes Lächeln nicht verkneifen. Auch jetzt dachte Nate noch an ihn. "Mach dir um mich keine Gedanken. Tu, was immer du tun musst. Ich bin hier, wenn du mich brauchst. Ich lasse an der Rezeption eine Notiz mit einer Zimmernummer da."
 

Ehrlich gesagt, hatte er keine Ahnung, was Nate überhaupt tun wollte. Wahrscheinlich mit seinem Chef reden oder so etwas, aber worüber genau, konnte er auch nicht sagen. Vielleicht wollte er wissen, was genau passiert war. Vielleicht war es etwas anderes. Shinji wusste nur, dass Nate das definitiv tun musste.
 

"Komm nur heil und an einem Stück wieder, ja?"
 

"Keine Sorge", erwiderte Nate nur wenig informativ. Sie gaben sich keinen Abschiedskuss, das ertrug Shinji so öffentlich noch nicht, aber er warf ihm noch einen letzten, sorgenvollen Blick zu. Irgendwie bekamen sie beide nie wirklich die Ruhe, um sich endlich mal zu genießen.
 


 

"Wir müssen reden."
 

Es hatte Stunden gedauert, bis Nate wieder gekehrt war. Dennoch lag Shinji hellwach in seinem Bett und setzte sich jetzt kerzengerade auf.
 

"Schieß los…" Das klang erstickter, als er gewollt hatte. Nates Wortwahl war aber auch echt daneben. So begann man kein Gespräch.
 

Nate kam zu ihm und setzte sich auf die andere Seite des Bettes. Eine merkwürdige Wahl. Der Platz schien viel zu weit weg. Warum setzte er sich nicht direkt zu ihm? Nate sah ihm nicht einmal in die Augen… er blieb mit dem Rücken zu ihm sitzen. Shinji wurde kalt.
 

"Ich habe den Bericht gelesen. Was drüber passiert ist… Ich habe sieben meiner Leute drüben verloren. Sieben von dreiundzwanzig Personen. Wenn ich Pech gehabt hätte, wäre ich Nummer acht gewesen…"
 

Shinji konnte nichts dazu sagen. Er war stocksteif vor Schock und einem wirklich, wirklich unguten Gefühl.
 

"Zwar ist die Gegenseite bei dem Manöver fast komplett eliminiert worden, aber… einer der Anführer scheint überlebt zu haben. Wenn er seine Kräfte irgendwo wieder mobilisiert…"
 

Nate ließ den Satz unbeendet und schwieg dann eine Weile. Shinjis Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen.
 

"Mein Vorgesetzter hat mir bis morgen Bedenkzeit gegeben. Wenn ich mich für den nächsten Einsatz verpflichte, bin ich wohl wieder drüben, sobald das Bein vollkommen verheilt ist."
 

"Rache bringt sie auch nicht wieder zurück", murmelte Shinji. In ihm tobten zu viele Emotionen auf einmal, die er alle nicht verarbeiten konnte. Er war auch nicht in der Lage das gerade Gesagte zu verarbeiten. Deshalb spulte sich einfach irgendein Programm in seinem Kopf ab, das er nicht kontrollieren konnte.
 

"Nate ich… als wir damals zusammen gekommen sind, habe ich dir versprochen, dir nicht in deinen Job zu reden." Irgendwas in seinem Kopf sagte ihm, dass diese Wortwahl wichtig war, aber er kam nicht drauf. Er fühlte sich so taub. "Wenn es das ist was du brauchst um zur Ruhe zu kommen… um abzuschließen… dann solltest du das tun." Was sollte er auch sonst tun? Hier bleiben und von Selbsthass zerfressen werden? Er kannte Nate, er würde nicht bleiben können. Er würde wieder weg gehen.
 

"Ich warte… und träume von unserer gemeinsamen Wohnung."
 

Er wusste nicht, was er da sagte. Er hatte vollkommen den Draht zur Realität verloren. Alles fühlte sich falsch an. Er bemerkte auch erst, dass er Nate von hinten umarmt hatte, als der zu sprechen begann und der tiefe Bass durch seinen Körper vibrierte.
 

"Ich liebe dich, Shinji. Lass uns die Wohnung nehmen, die du gefunden hast."
 

Er konnte die Liebesbekundung gerade nicht erwidern. Sie blieb ihm im Hals stecken. Sein Herz drängte ihn dazu, seinen Partner weiter zu beruhigen, ihm weiter gut zu zu reden, sich um ihn zu kümmern. Er konnte nicht.
 

"Wir sollten mit der Wohnung warten, bis du wieder da bist."
 

"Und die Chance auf automatisch abgedunkelte Fensterscheiben verpassen?" Nates Tonfall war viel zu freundlich, viel zu spielerisch. Er passte nicht in den Moment. Shinji wollte ihn deshalb anschreien, tat das aber als wirklich lächerliche Gefühlsregung ab. "Ich werde meine Wohnung sowieso aufgeben. Das Geld kann ich genauso gut in die neue investieren. Aber wenn du mit dem Umzug warten willst, kann man das sicher mit dem Vermieter klären."
 

Das klang… nach Zukunft. Es klang nach Zuversicht. "Ich will zusammen mit dir dort einziehen."
 

Er drückte Nate einen Kuss in die Halsbeuge, konnte aber nicht mehr bei ihm sein. Er löste sich von ihm und murmelte etwas davon, dass er noch duschen wollte.
 


 

Die Dusche schaffte es tatsächlich, dass er sich besser fühlte. Er hatte das Gefühl, seine Gedanken ordnen zu können und als er heraus trat, schien er deutlich ruhiger. Er schlang sich ein Handtuch um die Hüfte und wollte aus dem Bad treten, aber er blieb im Türrahmen stehen, als wäre er gegen eine Wand gelaufen.
 

Als er Nate da liegen sah, traf es ihn fast wie einen Schlag in die Magengrube. Nate würde bald wieder weg sein. Würde ihn wieder allein lassen und er würde wieder nicht wissen, ob Nate zurück kommen würde.
 

Wie angewurzelt stand er da und sah einfach nur an einen unbestimmten Punkt im Raum. Er hatte nie viel Glück in seinem Leben gehabt. Nie. Was wäre, wenn Nate diesmal nicht wieder zurück käme? Oder noch einmal ohne Gedächtnis wieder kehrte, das diesmal nicht zurück käme? Wenn er gelähmt würde? Oder ins Koma fallen würde? Oder wenn er mit einer irreparablen geistigen Störung wieder käme?
 

Die Wahrscheinlichkeit, dass Nate gesund und munter zurückkehrte, war nicht wirklich hoch. Nicht, wenn er auf Rache aus war. Da tat man dumme Sachen…
 

Was würde er dann tun? Was würde er ohne Nate machen? Oder mit einem Nate, der nicht mehr seiner war?
 

Als Fingerspitzen ihn berührten, zuckte er zurück, als hätte er sich verbrannt. Wie von weit weg hörte er eine Stimme, die seinen Namen rief. Er brauchte einen Moment, bis er seinen Blick wieder fixieren konnte und aus den Tiefen seiner schwarzen Erinnerungen und Ängste wieder aufgetaucht war. Aber alles, was das brachte, war, dass ihm Tränen in die Augen stiegen.
 

Warum hatte Nate ihm versprochen, dass er nicht mehr weggehen würde, wenn er jetzt doch wieder ging? Nate brach keine Versprechen. Und wenn er dieses schon brach, was war dann sein Wort noch wert? Würde er dann auch nicht mehr zurückkehren?
 

Nate sagte irgendwas zu ihm, aber er konnte es nicht hören. War es nicht sowieso egal? War überhaupt etwas wichtig, was sie sich gemeinsam erkämpft hatten? Wenn Nate es so einfach zurücklassen konnte, konnte es kaum wirklich von Bedeutung sein.
 

Am liebsten wäre er einfach gegangen. Weg, einfach weg. In eine neue Stadt, weit weg von allem, was ihn an Nate erinnern könnte.
 

Das Bild vor seinen Augen flackerte verdächtig und es dauerte einen Moment, bis er realisierte, dass er geschüttelt wurde. Dann wurde er an eine breite Brust gerissen. Ihm wurde schwindlig.
 

"Shinji, egal was in deinem Kopf vorgehen mag, es wird alles gut. Du darfst nur nicht die Hoffnung verlieren."
 

Die Worte klangen vollkommen leer und hohl, schienen keinerlei Bedeutung zu haben. "Wir haben zu zweit bisher alles geschafft. Wäre doch gelacht, wenn wir das nicht auch noch schaffen würden."
 

"Zu zweit", wiederholte Shinji leise, aber deutlich zynisch. Er war doch im Prinzip schon wieder alleine.
 

Aber was sollte er tun? Er konnte Nate nicht aufhalten. Würde er von ihm verlangen zu bleiben, würde er ihn genauso verlieren. Nicht sofort, aber bald und die Zeit bis dahin würde grausam sein. Er hatte verloren…
 

Zwei Tage… diesmal waren es zwei Tage gewesen, in denen alles perfekt gewesen war.
 

Wut kochte so plötzlich in ihm hoch, dass er das Gefühl hatte, unter ihr zu zerreißen. Wut auf Nate, Wut auf die Welt, Wut auf diese scheiß Kriege und damit auch Wut auf die gesamte Menschheit. Wenn der die Möglichkeit gehabt hätte, er hätte sie in diesem Moment ausgerottet. Alle miteinander. Bis auf sich und Nate. Dann wäre endlich Ruhe.
 

Ruhe gäbe es für ihn auch anders, aber das war ein Gedanke, den er sich verbot. Vielleicht würde er noch einmal dorthin zurück kommen, wenn Nate wirklich nicht mehr wieder käme.

Kapitel 66

    "Was ist los, Shinji?"

    Nate wirkte nicht wirklich sauer, aber seine Stimme klang energisch. Er wollte eine Antwort darauf, für einen Moment wusste Shinji nur nicht, ob er ihm die wirklich geben wollte.

    "Lass mich", zischte er deshalb und drückte sich von Nate weg, um sich anzuziehen. Er wollte nicht reden. Er konnte ja doch nichts machen. Alles was er sagte, würde Nate nur weiter von ihm treiben.

    Er ging zurück ins Bad und zog sich an. Er wusste nicht wohin mit sich. Er konnte nicht weg, aber er konnte auch nicht bleiben. Es zerriss ihn innerlich. Aber er konnte nichts tun. Er war komplett machtlos.

    Nate stand noch immer im Türrahmen, als er wieder aussah. Durch den Schleier seiner Tränen wirkte sein Freund sehr verschwommen.

    "Wenn du mir jetzt nicht sagst, was los ist…"

    Konnte Nate sich das denn nicht denken?!

    "Ich mache mir Sorgen um dich, Shinji. Du musst mit mir reden."

    Als die ersten Tränen aus seinen Augen traten, war Nate da, um sie aufzufangen.

    "Bitte sag mir, was los ist."

    "Ich kann nicht!", stieß er gepresst und gequält aus. Alles was er sagte, würde Nate von ihm treiben. Das einzige was er wirklich tun konnte, war ihn in sein Verderben rennen zu lassen.

    Er hätte sich gerne an Nate gelehnt, hätte sich gerne ins Ohr flüstern lassen, dass alles gut werden würde. Gleichzeitig ertrug er diese Lüge aber nicht. Es gab kein Happy End für ihn. Es war wahrscheinlich nie eines für ihn vorgesehen gewesen.

    "Es ist mir scheiß egal, wie lange es braucht, bis du mir sagst, was los ist."

    Beinahe hätte Shinji dazu trocken aufgelacht. Es waren doch maximal noch ein paar Wochen, die er aussitzen musste.

    "Aber friss deine Probleme nicht ständig in dich rein und lass mich verdammt noch mal daran teilhaben. Ich bin dein bester Freund. Ich bin dein Partner. Ich will wissen, was in dir vorgeht."

    Doch statt nachzugeben, versuchte er wieder auf Abstand zu gehen: "Lass mich doch einfach! Es nutzt doch sowieso nichts, wenn…" …du bald nicht mehr da bist.

    Nein!

    Er presste sich die Handballen auf die Augen und versuchte sich zur Ruhe zu zwingen. Er konnte Nate keinen Vorwurf machen. Nate würde bleiben, wenn er ihn nur lange genug bearbeitete und er würde es ihm niemals verzeihen. Er musste sich beruhigen, oder abhauen, aber Nate anzuschreien war keine Option.

    "Wenn, was?", presste Nate dennoch weiter.

    Und dann wurde es plötzlich ganz still um sie beide. So still, dass es Shinji förmlich in den Ohren weh tat.

    Als er die Hände sinken ließ, spürte er eine Hand, die sich sanft auf seinen Schopf legte.

    "Ich habe mich schon gefragt, wann du deshalb rebellierst."

    Nate hatte begriffen.

    "Ich rebelliere nicht!", zischte er sofort zurück und wusste gleichzeitig, dass es zwecklos war. Nate ließ sich trotzdem nicht mehr aus der Ruhe bringen:

    "Ich weiß, ich habe gesagt, dass ich keinen Einsatz mehr mitmachen würde. Aber ich muss zurück. Ein letztes Mal. Ich muss einen Schlussstrich ziehen, verstehst du? Ich kann es so nicht enden lassen. Das bin ich meinen Kameraden schuldig."

    "Ich weiß doch!", stieß er wütend und verzweifelt und vollkommen am Ende aus. Er wusste, warum Nate das tat, weshalb er nicht einmal sauer sein konnte. Nicht wirklich. Er verstand es. Empathie war scheiße.

    "Shinji. Es wird das letzte Mal sein. Danach ziehen wir in die neue Wohnung und ich such mir einen neuen Job. Nur bitte… warte auf mich, okay?"

    "Natürlich wird es das letzte Mal sein", schluchzte Shinji verzweifelt. Natürlich würde es das… denn Nate würde nicht wieder kommen.

    Als er die Hände wieder zu seinem Gesicht heben wollte, bemerkte er, dass Nate sie festhielt. So fest, als hätte er Angst, er würde ihm weglaufen.

    "Willst du, dass ich bleibe?"

    "Ich will nicht darüber reden!", spie er als Antwort. Was dachte Nate denn, was er auf diese Frage sonst antworten würde? 'Nein'? 'Geh ruhig, und lass dich umbringen, ist mir egal'? Diese Frage war nicht fair!

    "Shinji, ich verstehe es, wenn du glaubst, dass ich dir nicht fair gegenüber bin. Ich bin ein Idiot, dass ich dir dieses Versprechen überhaupt gegeben habe. Trotzdem… du weißt, wie ich darüber denke. Du weißt, wie ich ticke. Besser als jeder andere. Aber das Schlimmste das mir passieren könnte, wäre dich zu verlieren. Wenn du mir also sagst, dass ich bleiben soll, dann bleibe ich."

    Der Griff um seine Hände wurde fester. Er konnte Nates Zerissenheit spüren. Aber er spürte auch, dass er es ernst meinte.

    "Was denkst du denn, was ich sagen werde? Denkst du ernsthaft, ich verlange von dir, dass du bleibst? Soll ich dich damit erpressen, dass ich verschwinde, wenn du gehst? Für was hältst du mich!? Ich will nicht darüber reden! Ich will nicht anfangen dir Dinge zu sagen, die du nichts verdienst! Es ist mein Problem! Was willst du schon tun? Was erwratest du? Dass ich den verdammten Trugschluss nochmal fresse, um dann noch tiefer zu fallen, wenn wieder alles in Scherben liegt? Das kannst du nicht von mir verlangen!"

    "Verdammt noch mal, wann hörst du endlich damit auf, es immer als dein Problem zu sehen!?", grollte Nate als Antwort. "Es betrifft mich genauso wie dich! Du musst uns endlich als Team akzeptieren."

    "Wo ist denn da noch ein Team, wenn du nicht mehr da bist!?"

    Nate hatte ihm versprochen, er würde ihn nicht mehr alleine lassen. Er hatte es versprochen und ihm versichert, dass er es ernst meinte. Shinji hatte ihm geglaubt…

    Nate trat von ihm zurück. Für einen Augenblick war es wieder still zwischen ihnen. Als Nate wieder sprach, war seine Stimme ruhiger:

    "Ich habe nicht vor, drüben zu sterben. Ich komme auf jeden Fall zu dir zurück. Und weißt du, warum ich so sicher bin? Weil ich uns auch noch im hohen Alter zusammen sehe. Du warst von Anfang an mein Ziel. Ich werde immer zu dir zurück kommen. Shinji… warum glaubst du nicht daran?"

    "Weil du es mir nicht versichern kannst!", schluchzte er verzweifelt. "Du hast auch das letzte Mal gesagt, dass alles gut wird."

    Er drückte sich an Nate vorbei und ging zurück ins Zimmer. "Ich will nicht darüber reden", sagte er noch einmal. "Hättest du mich einfach in Ruhe gelassen, wärst du jetzt nicht sauer."

    Er klang wie ein trotziges Kind, das war ihm klar. Er wollte sich ja beruhigen, aber alles was er empfand, war Verzweiflung.

    Er legte sich aufs Bett und rollte sich dort zusammen. Er hörte wie Nate ebenfalls ins Zimmer kam. Auf der anderen Seite senkte sich die Matratze wieder, aber Nate legte sich nicht dazu.

    

    "Es tut mir leid." Shinji wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, in der sie sich einfach nur angeschwiegen hatten. "Ich wollte dir das nicht sagen. Das ist nicht fair. Ich weiß, wie du dich fühlst. Ich weiß, dass du das brauchst. Ich würde niemals aus deinem Leben verschwinden. Ich habe nur Angst… ich habe Angst, dass du nicht wieder kommst."

    Die Matratze bewegte sich und schon im nächsten Moment wurde er an einen warmen Körper gezogen. "Ich bin beim letzten Mal aber auch zu dir zurückgekommen, oder etwa nicht? Mein Platz wird immer an deiner Seite sein."

    Er konnte nicht mehr. Er gab auf. Es war zu viel. Er rollte sich herum, krallte sich an Nates Brust und begann hemmungslos zu heulen. Er sagte kein Wort mehr, trieb nur all die Verzweiflung und die Wut aus sich selbst, die Welt und Nate aus sich heraus.

    Seine ganze Zukunft färbte sich rabenschwarz. Es fühlte sich an, als würde Nate weg gehen, um nicht wieder zu kommen. Als wäre das ein Abschied für immer.

    Er sah sich schon an seinem Grab stehen, weit außerhalb, damit ihn niemand sah und ihn niemand fragen konnte, wie sie zueinander gestanden hatten. Er sah das Militärbegräbnis vor sich, sah Lily und Hana, die bitterlich weinten und er sah sich, der von der Dunkelheit langsam verschlungen wurde.

    Er würde das nicht ertragen, er könnte nicht zurück in sein altes Leben. Er konnte nicht von neu anfangen. Nicht schon wieder.

    Er wollte das nicht sehen… er wollte den Entschluss nicht fassen, den er unweigerlich fassen würde. Niemand konnte von ihm verlangen, dieses Leben weiter zu leben… dieses Leben das nie eines gewesen war. Es war immer nur ein Funktionieren gewesen, ein aufbegehren gegen die Welt, weil er sie nicht hatte gewinnen lassen wollen. Weil er allen hatte zeigen wollen, dass er trotz allem weiter kämpfte, dass er zwar immer weiter abwärts, aber doch auch immer weiter vorwärts ging. Niemand konnte verlangen, dass er wieder dorthin zurückkehrte. Es würde auch niemanden interessieren, ob er das tot oder nicht. Lily und Hana würde er sagen, dass er umzog, weil er es nicht mehr ertrug und dann würden sie einfach nichts mehr von ihm hören. Keiner würde das. Niemand konnte verlangen, dass er weiter kämpfte, wenn es doch keinen Sinn mehr hatte.

    

    "Hey, Shinji? Kannst du dich daran erinnern, als ich dir sagte, ich würde dich vom Fleck weg heiraten?"

    Nates sanfte Stimme drang nur langsam durch die Schwärze seiner Gedanken.

    "Ich würde es noch immer sofort machen, wenn ich könnte. Mich in meinen besten Freund zu verlieben, war das Beste, das mir je passieren konnte. Und wer hat schon so viel Glück, dass der andere die Gefühle erwidert? Wer hat schon so viel Glück, sich nach all den Jahren durch Zufall wieder zu begegnen? Und die Gefühle sogar die Zeit überdauern? Wer hat schon das Glück, trotz aller Widrigkeiten wieder zusammen zu finden? Du denkst vielleicht, dass wir von einer Katastrophe in die nächste schlittern, aber ich sehe das anders. Ich sehe, dass wir von Anfang an füreinander bestimmt waren. Du hattest gar keine andere Wahl, als dich auf mich einzulassen. Es ist dein Schicksal, mit mir alt zu werden. Und ja… mit alt meine ich so alt, dass die dritten Zähne in einem Glas auf dem Nachttisch schwimmen."

    Er glaubte nicht an Schicksal. Er glaubte auch nicht an Bestimmung und so schön Nates Grundvertrauen auch war, das alles nutzte ihm nichts, wenn ihn drüben eine Kugel traf oder sie über eine Miene fuhren. Das brachte doch alles nichts.

    "Warte bitte auf mich, Shinji. Warte auf mich, okay?"

    Shinji krampfte die Finger erneut um den Stoff von Nates Oberteil und hielt ihn fest.

    "Wenn du es wagst nicht wieder zu kommen, geh ich dich suchen und bringe dich eigenhändig noch mal um.", knurrte er drohend. "Und wenn du auch nur mit einem gekrümmten Haar nach Hause kommst, mache ich dir die Hölle heiß!"

    Gegen diese harschen Worte sprach sein Körper, der sich weiter an den anderen presste und sich in dessen Armen vergrub.

    "Ein scheiß falscher Schritt da drübern und ich werde dir niemals verzeihen. Also sieh gefälligst zu, dass alles glatt läuft. Und wenn du den Wichsern da drüben nicht so gehörig in den Arsch trittst, dass die Welt die nächsten zweihundert Jahre nicht mehr von ihnen hört, dann brauchst du gar nicht erst wieder zu kommen! Wag es bloß nicht, da drüben irgendwas halbherziges zu machen und dann auf die Idee zu kommen, noch einmal rüber zu müssen!"

    Nate war für einen kurzen Augenblick vollkommen baff, umschloss Shinjis Körper aber dann fast vollkommen mit seinem und drückte seine Nase sanft in Shinjis Schopf.

    "Alles klar."

 

Epilog

    Nervös ging er in der hellen Küche auf und ab. Er hatte sich mittlerweile an das Licht gewöhnt und nur sein Arbeitszimmer war noch immer in Dunkelheit gehüllt. Nur manchmal, wenn ihm wirklich danach war, verdunkelte er alle Scheiben im Haus und genoss die sanfte Dämmrigkeit, in der er sich noch immer am wohlsten fühlte.

    Er stand mittlerweile ein wenig früher auf, auch wenn es nicht allzu viel brachte, denn mehr Zeit mit Nate verschaffte es ihm nicht. Der arbeitete als Trainer bei der Polizei und war deshalb zu normalen Arbeitszeiten weg. Dennoch konnte er so Einkäufe erledigen und kochen, dass sie am späten Nachmittag Zeit für sich hatten. Bis auf diese Zeitspanne blieb ihnen nur noch der Zeitraum in dem Shinji mit Arbeiten fertig war und Nate noch nicht aufstehen musste. So funktionierte es für sie beide.

    Es ist fast nebensächlich zu sagen, dass Nate tatsächlich ohne größere Verletzungen nach Hause gekommen war und sich dann, wie versprochen, etwas ruhigeres gesucht hatte. Danach waren sie in die große, moderne Wohnung gezogen, die sie nach über einem Jahr des Zusammenlebens längst ihr zu Hause nannten.

    

    "Was soll ich da überhaupt?"

    Shinji sprach von einem Grillfest seiner Firma, das heute anstand und weshalb er schon ungefähr fünf mal geduscht hatte. Er hatte das Gefühl sein aktuelles Hemd schon wieder durchgeschwitzt zu haben.

    Seine Therapie war offiziell beendet, aber es fehlte noch ein letzter Schritt auf seiner Liste: Er hatte sich noch nicht öffentlich geoutet. Das Fest sollte dafür herhalten.

    Während sie manchmal sogar auf der Straße oder in einem Restaurant Händchen hielten, sich ab und an sogar flüchtig küssten, wusste niemand, der ihn direkt kannte, dass er schwul war.

    "Mich kennt da doch im Prinzip keiner. Ich schreibe mit ein paar von denen nur Mails und nehme ab und an an Meetings teil, wenn es unbedingt sein muss. Das ist doch dumm…"

    Nate wäre natürlich mit dabei. Er würde sich sicherlich nicht da hin stellen und 'ich bin übrigens schwul' brüllen. Er würde mit seinem Partner dort aufschlagen, händchenhaltend, und das einfach subtil kommunizieren.

    "Es ist scheiß egal, ob ich mich vor denen oute. Wie kam ich auf die bescheuerte Idee? Die sehen mich doch sowieso kaum!"

    Nate trat in das Wohnzimmer vom Balkon aus ein. Er hatte geraucht, denn das war auch innerhalb der neuen Wohnung verboten. Shinji bemerkte dessen zurückkommen aber erst wirklich, als er am Handgelenk gegriffen und damit vor der tausendsten Runde durch das Wohnzimmer abgehalten wurde.

    "Ich könnte dir jetzt vorschlagen, hier zu bleiben, aber das tue ich nicht. Ich hab nämlich echt Hunger."

    Nate hatte sich absolut als Ruhepol bewährt, wenn Shinji aus Nervosität durch die Wohnung tigerte. Manchmal machte ihn das wahnsinnig. Andererseits musste einer wohl Ruhe bewahren, sonst stachelten sie sich gegenseitig auf. Shinji schmunzelte bei dem Gedanken, dass sie sich beide in Hysterie redeten.

    "Ich will ja auch gar nicht hier bleiben." Er klang wie ein schmollendes Kind. "Aber das ändert nichts daran, dass ich nicht da hin will."

    Sie waren ja sowieso schon zu spät, auch wenn das Absicht war. Er wollte diese Vorstellungsrunde nur einmal machen und das ging am Besten, wenn man der letzte war, der ankam. Dass das unhöflich war, war ihm persönlich herzlich egal.

    "Hab ich dir eigentlich jemals gesagt, wie stolz ich auf dich bin? Du hast so vieles geschafft, du bist wirklich eine unglaubliche Person."

    Shinji verdrehte darauf etwas genervt die Augen. Nicht, weil er Nate nicht glaubte, dass er das ernst meinte, sondern, weil es gerade so nach einer Floskel klang. Er sah den psychologischen Trick dahinter einfach zu deutlich.

    "Sag, wenn du so weit bist. Dann fahren wir."

    Sie besaßen jetzt tatsächlich ein eigenes Auto, was aber auch nötig war, weil ihre Wohnung nicht mehr im Stadtzentrum lag. Von hier aus brauchte man etwas mehr als zwei Stationen bis zum Shoppingviertel.

    "Ich bin nie so weit, dann können wir auch jetzt gehen", murmelte er aufgebend.

    Nate hatte ja recht. Es hatte schon schwierigere Schritte auf seiner Liste gegeben. Zum Beispiel Nate offen und ehrlich und im Detail zu erklären, was er an ihrem Sex so toll fand. Mehrmals… sicherlich zwei Wochen lang, jedes Mal, nachdem sie miteinander geschlafen hatten. Was dann meistens auch zu einer zweiten Runde geführt hatte… er schweifte ab.

    "Es gibt Menschen die in Ordnung sind, nicht?"

    Er wusste die Antwort darauf und er wusste eigentlich auch, dass seine Kollegen in Ordnung waren, aber es fiel ihm noch immer schwer, an diese einfache Regel zu glauben. "Welche, die nicht einfach von Grund auf scheiße sind und mit denen man sich ganz normal, oberflächlich gut verstehen kann, nicht? Es gibt immerhin ne ganze menge Schwule, die kein Problem mit ihrem Umfeld haben…"

    Er kannte nur keinen, das war das Problem. Nun ja… er kannte Nate… aber der ging damit auch nicht gerade hausieren.

    "Die Welt ist groß genug dafür. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es da draußen auch noch gute Menschen gibt", antwortete Nate und wuschelte Shinji durchs Haar. Ganz automatisch fuhr seine eigne Hand durch sein Haar, um es wieder zu richten. Er gab sich allgemein nur noch wenig Mühe damit, kämmte es nur, damit es nicht verknotete und achtete darauf, dass es keine vollkommene Sturmfrisur war.

    "Dann mal los."

    

    Sie brauchten eine halbe Ewigkeit bis zum vereinbarten Ort und fast hoffte Shinji schon, dass sie so viel zu spät kamen, dass sie auch gleich wieder umdrehen konnten. Aber so viel Glück hatte er natürlich nicht.

    Als sie ankamen, hatte man wohl gerade erst mit dem Grillen begonnen.

    Es war sehr belebt, was Shinji zusätzlich verunsicherte. Es war laut und etwas turbulent, da überall Kinder verschiedenen Alters herumsprangen und liefen. Nun, dass die Firma familienfreundlich war, hatte er gewusst. Das war ein Grund, warum er sich damals hier beworben hatte. Wenn man sich gut um seine Mitarbeiter kümmerte, akzeptierte man leichter Sonderlinge und ließ sich zu so was absurdem wie einem fest angestellten Feelancer überreden.

    Dennoch überforderte ihn das so sehr, dass er Halt suchend Nates Hand ergriff und sie verkrampft drückte. Das hier war so eine dumme Idee gewesen.

    "Shinji, richtig?" Etwas erschrocken drehte er den Kopf und sah einer Frau entgegen, die sicherlich gegen 50 ging. Er erinnerte sich, dass es die Sekretärin der Abteilung war, für die er arbeitete, aber konnte sich nicht mehr an ihren Namen erinnern.

    "Wie schön, dich endlich einmal hier zu sehen!" Sie nahm seine Hand und schüttelte sie schwungvoll. Die vielen Falten in ihrem Gesicht ließen sie sympathisch aussehen.

    "Und wer ist der gut aussehende, junge Mann?"

    Er wurde bleich. Jetzt oder nie…

    Er ergriff Nates Hand wieder, die er eben aus Schreck wieder los gelassen hatte und verschränkte demonstrativ ihre Finger. Sein Herz klopfte, als wolle es aus seiner Brust springen.

    "Das… das ist Nathan. Mein… eh… mein… mein Lebensgefährte."

    "Was jetzt, ehrlich!?", drang eine Männerstimme etwas weiter weg. Shinji zuckte zusammen. Jetzt war es so weit. Er machte sich darauf gefasst, vom Fest geworfen zu werden.

    "Du bist schon vergeben?" Etwas verwundert drehte Shinji sich zu dem Mann um, der jetzt zu ihnen kam. Es war einer der Programmierer aus seiner Abteilung, der ihn auf jedem Meeting bisher immer etwas argwöhnisch betrachtet hatte. "So eine Schande! Dabei wäre ich so gerne der gewesen, der unseren Eisprinzen knackt."

    Wie bitte?! Was war denn jetzt los?

    "Ehm...", antwortete Shinji überfordert. Wie hieß der Kerl noch mal? Peter, oder?

    Der wandte sich jetzt aber erst einmal mit einem Grinsen an Nate und schüttelte ihm die Hand: "Sorry, Mann. Nichts für ungut. Und herzlichen Glückwunsch! Ich hab den kleinen einfach nie erwischt, dass ich ihn mal hätte einladen können." Er lachte ausgelassen und Shinji verstand die Welt nicht mehr.

    "Dafür kommst du zwanzig Jahre zu spät", hörte er Nate sagen und auch wenn er ihm nicht ins Gesicht sehen konnte, hörte er das leicht angriffslustige Grinsen förmlich.

    "Ha!", ertönte eine Frauenstimme. Wenn er sich recht erinnerte, war das die Personalerin gewesen, die bei seinem Bewerbungsgespräch dabei gewesen war.

    "Ich hab doch gesagt, er ist auch vom anderen Ufer! Du schuldest mir was!" Sie stieß mit einer anderen Frau an, die mindestens genauso breit grinste wie sie. Als die Gläser aufeinander trafen, bemerkte er an jeder Hand einen Ring, der perfekt zu seinem Gegenstück passte.

    "Kümmer dich nicht um die beiden. Die haben ständig irgendwelche Wetten am laufen", mischte sich die Sekretärin wieder ein. "Kommt erst mal mit an unseren Tisch. Die Abteilungen sitzen immer zusammen."

    So führte sie einen vollkommen überrumpelten Shinji zu einem Tisch, an dem etwa fünfzehn Personen saßen. Vom schlimmsten Nerd bis zur aufgedonnerten Bürotippse war wirklich alles dabei.

    "Na endlich treffen wir uns mal persönlich. Hi, ich bin Mike!" Freundlich lächelnd reichte ihm sein Gegenüber die Hand, nachdem er und Nate sich gesetzt hatten. Mike… Mike… oh fuck!

    "Äh… he… he… sorry.", brachte er schüchtern heraus. Mike hatte er noch nie persönlich gesehen, aber er hatte ihn schon oft per Mail zur Sau gemacht, weil sein Code zu fehleranfällig war.

    "Ach wie wo!", winkte er ab. "Du kannst dir nicht vorstellen, wie dankbar ich dir bin, dass du ständig über mein Zeug mit drüber schaust! Ich weiß ja, ist eigentlich nicht deine Aufgabe und ich weiß ich bau ständig Mist, aber durch dich hab ich mich echt schon verbessert!"

    Mike streckte auch Nate die Hand hin.

    "Hi! Ich bin Mike, im Prinzip der Lehrling unseres inoffiziellen Abteilungsleiters hier! Freut mich dich kennen zu lernen! Ich finde es so toll, dass Shinji endlich wen gefunden hat, der ihn davon abhält, morgens um acht immer noch Mails zu beantworten."

    Oh ha, war das etwa aufgefallen, dass er, seit er mit Nate zusammen war, spätestens morgens um 5 endgültig Schluss machte, damit er noch eine Stunde mit ihm im Bett verbringen konnte? Aber moment mal?

    "Was...?"

    Die ganze Abteilung fing jetzt an zu grinsen.

    "Ich weiß, ich weiß… dir hat das keiner erzählt. Unser Chef hat dir doch vor 3 Jahren den Abteilungsleiter Posten angeboten, weißt du noch? Aber du hast abgelehnt, warum auch immer. Wir haben aber niemanden der so kompetent ist wie du… deshalb… na ja… Der Chef hat dir dann langsam Stück für Stück, so dass dus nicht gemerkt hast immer mehr Aufgaben gegeben, die eigentlich ein Abteilungsleiter macht. Ich weiß nicht wie das mit dem Gehalt ausgesehen hat, aber ich wette, du musstest bei der jährlichen Besprechung nicht mal groß verhandeln. Wir haben natürlich wen, der die Abteilung sporadisch führt. Aber alle wichtigen Entscheidungen hast du die letzten Jahre eigentlich getroffen."

    ....

    "Das hat er also damals gemeint, als er mir versicherte, dass ich den Unterschied gar nicht merken würde?" Das war so peinlich!

    Dass er plötzlich Nates Hand ganz locker hielt und sich auch ansonsten entspannt hatte, bemerkte er gar nicht so recht.

    

    Der Tag verging erstaunlich ruhig. Nach der ersten Aufregung um seine Person, wurde zu leichteren Themen zurück gekehrt und Shinji konnte sich angenehm zurückhalten.

    Als Nate nach seinem Job gefragt wurde, antwortete er damit, dass er im Sicherheitsdienst tätig war und nur er und Shinji wussten, warum sie sich dabei so verschwörerisch angrinsten.

    Es gab viele die ihn an dem Tag begrüßten, ein kurzes, unverfänglcihes Gespräch mit ihm führten und dann wieder verschwanden. Es gab aber auch mindestens genauso viele, die sich gar nicht für ihn interessierten. Aber nirgendwo traf er auf echte Missgunst.

    Klar, der ein oder andere stockte deutlich, wenn er Nate vorstellte, manche sahen sie beide komisch an, wurden plötzlich nervös oder zeigten andere Zeichen davon, dass sie nicht genau wussten, wie sie mit der Situation umgehen sollten. Aber nirgendwo traf er wirklich auf das, was er befürchtet hatte: Ekel, Verachtung, Hohn... nichts. Es war alles in Ordnung.

    Ab und an hörte er mal wen ein 'ihr seid so niedlich zusammen!' quietschen und auch wenn ihm das unangenehm war, war es nicht schlimm.

    Alles in allem lief es hervorragend.

    Manchmal, wenn ihm der Trubel zu viel wurde, lehnte er sich sogar kurz an Nate um wieder Kraft zu tanken. Eine Geste, die am Anfang ihrer Beziehung noch mehr als unvorstellbar gewesen wäre.

    

    Vollkommen fertig saß er dann am Abend mit Nate auf der Couch. Nun ja, Nate saß, er lag mit dem Kopf in seinem Schoß.

    "Menschen sind so anstrengend", murmelte er, aber er schmunzelte.

    "Ich bin aber froh, dass wir gefahren sind..."

    Ein Zettel lag auf seinem Schoß, den er jetzt aufnahm. Es war eine Liste, die bis auf einen Punkt komplett durchgestrichen war. Der letzte Punkt war 'Outing', den er jetzt zufrieden lächelnd durchstrich, das Papier kurz versonnen und sogar ein wenig wehmütig ansah und es dann auf dem Couchtisch ablegte.

    Er seufzte erleichtert und dachte an den Weg, den er in den letzten Jahren zurückgelegt hatte. Es hatte immer wieder Rückschläge gegeben und gerade die erste Zeit war mehr als holprig gewesen, aber sie hatten das zusammen durchgestanden.

    Sie hatten sich gemeinsam durch seine Phobien gekämpft, hatten Chris überstanden, die monatelange Trennung und auch Nates Gedächtnisverlust. Er hatte die Therapiestunden absolviert, die selbstauferlegten Ziele gemeistert, war mit Nate zusammen in eine größere, schönere, lebendigere Wohnung gezogen, die sie noch immer Stück für Stück dekorierten.

    Er brauchte die Notizen an dem Korkbrett nicht mehr, die ihn daran erinnerten, auch einmal Luft zu holen. Er konnte jetzt auf eigenen Beinen stehen und wenn die doch mal wacklig wurden, war da jetzt ein Partner, der ihn aufrecht erhielt.

    Sie beide hatten ihren Alltag miteinander verbunden und ineinander integriert und halfen sich beide, sich in ihrer neuen Situation zurecht zu finden. Nate war jetzt zum ersten Mal in seinem Leben sesshaft und Shinji wusste, dass es ihm nicht immer leicht fiel, sein Versprechen von damals zu halten und nicht mehr zum Militär zurück zu gehen. Die Unruhe die sein Freund empfand, war anfangs allumfassend gewesen, aber das hatte sich zum Glück gelegt. Nate ging morgens vor der Arbeit laufen, den Rest seiner Energie verbrauchte er dann meist beim Training der Polizisten. Das schaffte zum Glück einen kleinen Ausgleich.

    Jetzt waren sie endlich so weit, ihr gemeinsamen Leben zu genießen und das taten sie jeden Tag aufs neue.

    "Wärst du bereit für ein Kind?"

    Vollkommen irritiert riss Shinji die Augen auf und sah zu Nate.

    "Eh… was?", stotterte er überfordert. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals. Nein? Eigentlich war er ganz und gar nicht bereit dazu?

    "Wie… wie kommst du denn jetzt darauf?"

    "Ich weiß nicht", antwortete Nate, auch wenn Shinji ihm das nicht ganz abkaufte. "Vielleicht vermiss ich auch einfach nur Hana."

    Shinji erinnerte sich noch an das Gespräch damals, kurz bevor Nate in den Krieg gezogen war. Seitdem war so verdammt viel Zeit vergangen.

    Wahrscheinlich hatte das Familienfest Nate daran erinnert.

    "Das klingt jetzt ein wenig, asl würde ich über eine Katze aus dem Tierheim reden, aber… wenn, dann will ich ein Problemkind."

    Das klang wenig gefühlvoll und eher wie eine kalkulierte Entscheidung, das wusste er, aber Nate kannte ihn. Der wusste, dass er keine Entscheidung traf, die er nicht hundertmal überdachte.

    "Nicht jetzt… ich hätte gerne ein paar Monate einfach mal Ruhe. Aber vielleicht in einem Jahr. Und wenn wir ein Kind bekommen, dann will ich damit einem Menschen die gleiche Chance geben, wie die, die du mir gegeben hast. Es gibt so viel Leid auf der Welt… ich will einem Menschen wenigstens die Möglichkeit geben, ein besseres Leben führen zu können, als das, was es normalerweise erwartet hätte. Auch wenn das wohl mehr Kummer und Frust bedeutet. Aber mir ist das wirklich ein Bedürfnis."

    Mal ganz abgesehen davon, dass er Nate seinen Wunsch nicht verwehren wollte. Er hatte schon lange gewusst, dass der eine eigene Familie wollte und über die Jahre war in Shinji die Gewissheit gereift, dass es für ihn nur funktionierte, wenn sie es machten, wie er beschrieben hatte.

    Nate sah ihn ganz verwundert an, als könne er nicht glauben, was er gerade gehört hatte. Shinji schmunzelte schief und ein wenig unschuldig, innerlich sich darüber freuend, seinen Partner so überrascht zu haben.

    "Ja. Wenn du bereit dazu bist, lass uns dann einem Kind eine bessere Zukunft schenken."

    

    Nate hatte versucht, die Welt zu einem sichereren Ort zu machen. Er hatte es lange versucht. Aber vielleicht war es von Anfang an vom Schicksal geplant gewesen, nicht die Welt zu retten, sondern ein Kind. Und das zusammen mit Shinji. Ja, die Zukunft konnte ruhig kommen.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Sooo... weil ich einen Motivationsschub brauche, beginne ich heute schon mein NaNoWriMo Projekt zu veröffentlichen. Innerhalb der nächsten Stunde kommt auch schon das erste Kapitel online und die nächsten 3 Tage bekommt ihr jeden Abend ein neues Kapitel. Danach uploade ich dann wöchentlich.
17 Kapitel stehen schon, mit über 30.000 Wörtern und das Ende ist noch lange nicht in Sicht.

P.S.: Ich verspreche, sobald der NaNo rum ist, kümmere ich mich auch um meine anderen Projekte wieder! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Soo, ich hab heute erfolgreich den NaNo abgeschlossen ;) Derzeit stehen fast 27 Kapitel und nur so langsam nähere ich mich der Hälfte der Story.
Ich bin die letzte Zeit aber extrem unsicher, was meine Schreibkünste angeht, deshalb würde ich mich über ein bisschen Rückmeldung von euch freuen. Egal ob es um Stil oder Inhalt geht. Ich lasse zwar ne Freundin immer wieder gegen lesen, damit ich mir sicher sein kann, dass alles noch logisch ist, aber das könntet ihr ja anders sehen.
Ab hier wird zumindest einmal die Woche geupdated^^ Ich wünsche euch viel Spaß! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Es gibt gezeichnete Bilder von Nate und Shinji.
Vielen Dank dafür an @Autorwesen
Shinji: https://twitter.com/Autorwesen/status/934497155343093760
Nate: https://twitter.com/Autorwesen/status/941809464398827526 Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Soo... ein bisschen spät, aber ich bin krank *hatschiii*
Ich hoffe ihr hattet Spaß *schnief* Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Hallo Leute,

ausnahmsweise muss ich mal wirklich zu Kommentaren aufrufen, denn ich brauche eure ehrliche Meinung:
Mir hat der Titel nie so richtig gefallen. Er ist aus dem Arbeitstitel 'When the past returns' entstanden und klingt auf deutsch einfach... wääh.
Deshalb hier mein Gegenvorschlag (ich hab aus Gründen nicht so viel Auswahl, das erklär ich euch später mal warum - ich will ja nicht spoilern ;) ):
Von der Kunst richtig zu sein

Warum dieser Titel? Weil Shinji auf biegen und brechen versucht 'richtig' zu sein und damit irgendwie seine eigene Kunstform dafür entwickelt.
Der Titel klingt ein bisschen zu positiv, das weiß ich auch, aber er passt aus den weiteren Gründen unglaublich gut (da müsst ihr mir einfach mal vertrauen :D )
Was haltet ihr von dem Titel?
Ich brauche eure Meinung, weil es ja die Leser ansprechen muss. Deshalb bitte, lasst mir ein kurzes 'neuen titel find ich gut' oder 'neuen titel find ich nicht gut' da. Ich erwarte auch nie wieder danach einen Kommentar, ich werd euch nicht mehr nerven oder sonst was. Also alles ganz harmlos, ihr braucht auch sonst nichts zu der Story sagen, ich will nur kurz eure Meinung zu dem Titel hören.

Vielen Dank!

Lyn Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Zurück mit neuem Titel und neuer Kurzbeschreibung :D
Ich will mich herzlich bei meinen beiden Kommischreibern bedanken. Eure Gedanken zu der Geschichte haben mich sehr aufgemuntert^^
Zur Feier des neuen Titels, dem Eintreffen von zwei Kommischreibern und weil ich schon wieder so lange zum uploaden gebraucht habe, gibt es diese Woche auch noch ein Kapitel.

Bis dann!

Lyn Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich hab das Kapitel jetzt schon hochgeladen, weil ich es hinter mir haben wollte. Steinigt mich nicht. >.<
Ich entschuldige mich auch für die nächsten Kapitel... zumindest ein bisschen. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich frag das jetzt einfach mal....
Aus vielen Gründen überlege ich seit über einem Jahr patreon und andere, ähnliche Dienste zu starten. Gibt es irgendwen hier, der mich darüber unterstützen würde?
Ihr könnt mir das auch gerne per ENS mitteilen.

Ich hoffe ihr hattet Spaß beim Lesen!

Lyn Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Kleiner Funfact: Das Kapitel hieß ursprünglich 'Ausrutscher', aber nachdem ich es in meinem Zirkel vorgelesen habe, war denen das Wort 'Hormone' so im Gedächtnis geblieben, dass der Titel doch irgendwie passender war.
Auch wenn es ziemlich traurig ist, aber beim Vorlesen musste ich (und die anderen) ein wenig über Shinjis Gedanken lachen, weil es so absurd klingt. Aber man findet auch echt absurdes Zeug im Internet und ich hab auch selbst schon komische Sachen von Kerlen erzählt bekommen. Es gibt auch Männer, die der festen Überzeugung sind, dass sie ein Recht auf Sex in einer Beziehung haben, aber das ist ein anderes Thema.
Shinjis Gedanken, so absurd sie auch sein mögen, fußen auf Infos, die ich schon einmal gehört habe oder die mir sogar so schon gesagt worden sind.
Ich hoffe man merkt, dass Shinji allmälcih ein wenig durchdreht. Das muss man wissen, damit das nächste Kapitel genug Sinn ergibt. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Wenn alles gut geht, bekommt ihr heute noch ein Kapitel^^
Frohe Ostern! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Viele Grüße aus Wien, ich bin bei meinem österreichischen Prinzen zu Besuch :D Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Es tut mir leid, dass es so unglaublich lange mit dem nächsten Upload gedauert hat. Ich hab zwischenzeitlich irgendwie den Glauben an die Geschichte verloren und hab zu allem Überfluss beim NaNo im April nicht einmal 15000 Wörter geschafft. Das hat mich etwas sehr frustriert fürchte ich.
Bis auf Weiteres werde ich auch nur noch 2 wöchentlich veröffentlichen, damit ich meinen Puffer nicht verliere.
Aber keine Sorge, es ist alles wieder gut^^ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Es gibt übrigens eine Parodie zu der Story :D Vielen Dank an TheJackiMonster!
Von der Kunst, und so:
https://www.fanfiktion.de/s/5b6a0c2500093d3312d3ed9e/1/Von-der-Kunst-und-so Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich hab momentan mit dem Werk wiklich eine Schaffenskrise, was ich nicht verstehe, weil die Story mega beliebt ist :/
Es tut mir leid für alle Fans, aber wenn es euch beruhigt:
Ich habe immer noch 10 Kapitel fertig, ich werd jetzt also wieder anfangen 2 wöchentlich hochzuladen und ich lade es jetzt einfach hoch, egal ob ich es gut finde oder nicht.
Ich habe auch vor, die Story während des NaNoWriMo im November fertig zu schreiben. Also ist auf jedenfall Land in Sicht^^

Ich hoffe es hat euch gefallen, ich würde mich (besonders über positive) Rückmeldung sehr freuen, aber kein Stress.

Ich will nochmal auf die Parodie hinweisen, die mittlerweile schon drei Kapitel hat: https://www.fanfiktion.de/s/5b6a0c2500093d3312d3ed9e/1/Von-der-Kunst-und-so
Ich kann die Story wirklich uneingeschrnkt empfehlen. Sie ist wirklich witzig, auch wenn ich immer noch bedaure, dass Nate kein Hund wurde, das war nämlich auch mal in der Diskussion :D

Wünsche euch einen angenehmen Restsonntag und bis in zwei Wochen! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Hallo Leute^^
Ich muss mich mal wieder entschuldigen, aber wir kennen es ja kaum anders von mir^^"
Es gibt aber gute Neuigkeiten!
Da es mit dem NaNoWriMo gut vorwärts geht, werde ich die Story Ende des Monats evtl. zuende geschrieben haben.
Für euch bedeutet das mehrere Dinge.
1. Ich werde die nächsten 10 Wochen wöchentlich hochladen.
2. Danach wird es regelmäßig 2 Wöchentlich weiter gehen.

Es gibt allerdings noch eine große Ankündigung, die euch (wenn ihr das wollt) aber gar nicht betrifft.
Es war von anfang an geplant, dass ich diese Story irgendwann richtig veröffentliche, ich war mir nur nicht sicher, wie ich das tun will.
Ich wollte es meinen Fans nicht antun, die Story mittendrin auf ne Leseprobe umzustellen, aber ich wollte auch nicht warten, bis ich hier alles veröffentlicht habe, weil das noch eine Weile dauert.
Also habe ich einen Mittelweg gefunden: Ich werde hier weiter veröffentlichen und das Buch im Laufe des nächsten Jahres, als eBook online stellen.
3 Monate, nachdem ich hier das letzte Kapitel eingestellt habe, werde ich das Projekt dann zu einer Leseprobe zusammen stampfen. Ich hoffe, dass es bis dahin jeder gelesen hat, der es lesen wollte.

Euer Vor- und gleichzeitig Nachteil ist es, dass ihr hier die unbearbeitete Version zu lesen bekommt. Vorteil deshalb, weil ihr dann auch Szenen lesen könnt, die nachher vielleicht rausfliegen.
Nachteil ist natürlich, dass sich hier immer wieder noch Rechtschreibfehler etc. finden werden und das ganze nicht so rund ist, wie es hoffentlich am Ende sein wird.
Geplant ist die Veröffentlichung im ersten Halbjahr 2019, ich sage euch dann noch einmal Bescheid, wenn es so weit ist^^

Ich hoffe ihr nehmt mir das nicht irgendwie krumm, aber ich denke, ich habe hier eine schöne Lösung für alle gefunden.
Im Moment sind übrigens etwa 40 Kapitel fertig und ich hab noch mindestens 25000 Wörter vor mir. Das werden also voraussichtlich zwischen 50 und 60 Kapitel und insgesamt um die 140000 Wörter. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Wie versprochen das nächste Kapitel^^ Rein theoretisch 2 Tage zu früh, aber ich hatte so ne stressige Woche, ich dachte, ich mach mal was, was mich entspannt :D

Ich möchte mich hier einmal ganz herzlich bei all meinen Kommentatoren bedanken.
Ich weiß, ich habs momentan nicht so mit dem Fanservice und auch nicht mit dem Beantworten von Kommentaren. Aber seid euch gewiss, dass mir eure Worte unglaublich viel bedeuten und ich mich über jeden einzelnen ganz unheimlich freue.

Ich hoffe euch hat das Kapitel gefallen!

Lyn Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Das gute ist, dass ich heute wahrscheinlich schon mit dem NaNoWriMo fertig werde... das schlechte ist, dass es danach wahrscheinlich immer noch 30.000 Wörter sind, bis zum Ende des Buches.
Ich hatte echt gehofft, ich wäre endlich durch XD
Aber freut euch, es gibt noch viiiieeeel Material ;) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich verkünde mit Freude, dass ich den NaNoWriMo gewonnen habe :D
Das Buch ist immer noch nicht fertig, aber es ist langsam ein Ende in Sicht XD
Das Projekt hat jetzt 130.000 Wörter und es kommen noch einmal 20.000 bis 30.000 dazu.
Insgesamt sind es gerade 440 Normseiten
Nur um euch mal ein paar Daten zu geben ;)

Vielen Dank an jeden der das hier liest!
Und ganz besonderen Dank an alle die Kommentieren oder mir eine Empfehlung geben^^ Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Da Weihnachten ist, bekommt ihr bis zum 24. jeden Tag ein Kapitel :D
Dafür kommt dann das nächste Kapitel frühstens am 31.12.

Wünsche euch allen schöne Feiertage :) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich wünsche euch frohe Weihnachten und einen guten Rutsch ins neue Jahr :)
Wir sehen uns entweder am 31. oder am 1.1. wieder
Ihr dürft gespannt sein, das nächste Kapitel ist nicht umsonst eines meiner liebsten ;) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Das hier passt so schön zum Valentinstag, dass ich es einfach hochladen musste :D
Der erste wirklich große Schritt in die richtige Richtung von Shinji... hach...
Shinji ist übrigens einer der Menschen, die Valentinstag für ziemlichen Blödsinn und Geldmacherei hält. Nate ist da eher der Romantiker und versucht jedes Jahr an dem Tag was besonderes zu machen, ohne, dass Shinji es merkt, einfach, weil es ihm Spaß macht^^

Ich sehe Valentinstag auch als Geldmacherei an, aber ich finde es auch schön, wenn man einen Tag im Jahr hat, den man sich für seinen Partner frei hält. Ich mag nur den gesellschaftlichen Zwang dahinter nicht, aber das mag ich nie, egal bei was.
Ich finde es aber auch gar nicht schlimm an Valentinstag allein zu sein. Ich finde, das kann auch ein sehr schöner Tag sein, um sich selbst einfach was gutes zu tun und für mich ist das, heute dieses Kapitel online zu stellen, nachher ein paar Freunde zu treffen und mich heute abend mit nem guten Buch ins Bett zu legen und nebenbei mit meiner Playpartnerin zu posten :)
Man lässt sich viel zu schnell einreden, dass es traurig ist, wenn man an dem Tag kein Date hat. Aber mir ist das Leben zu kurz um das zu beweinen, was nicht da ist. Keine Ahnung.

Was ich damit sagen möchte: Habt einen schönen Tag, egal wie euer Beziehungsstatus gerade aussieht. Ihr habt einen angenehmen Tag verdient^^
Ich genieße ihn in vollen Zügen.

Bis in zwei Wochen *wink* Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Eigentlich wollte ich hier sagen: Hey mein Buch ist jetzt übrigens draußen, wenn ihr sofort wissen wollt, wies weiter geht, schaut mal bei Amazon vorbei!
Leider gab es im letzten halben Jahr ein paar zu viele Ereignisse in meinem Privatleben, deshalb habe ich es leider nicht geschafft.
Mein Neues Ziel ist Ende September.
Ich habe aber auch beschlossen, wieder 2 wöchentlich zu uploaden.
Es liegen jetzt noch 23 Kapitel vor uns, wir werden uns also noch ungefähr ein Jahr lang mit unseren beiden Helden beschäftigen :)
Bis dahin sollte ich den zweiten Teil auch ein gutes Stück geschrieben haben.

Ich sage trotzdem natürlich Bescheid, wenn das Buch raus kommt :)

P.S.: Schreiben und veröffentlichen, macht wesentlich mehr Spaß, mit ein bisschen Rückmeldung. Eure Kommentare helfen mir immer sehr, mich aus ner Schaffenskriese wieder hoch zu arbeiten, oder in Phasen, in denen ich mir wegen der Veröffentlichung nicht sicher bin, weil ich denke, dass es sowieso keiner lesen wird oder es zu schlecht ist, zum veröffentlichen, machen mir Kommentare wieder Mut und zeigen mir, dass die Geschichte tatsächlich interessant genug für andere ist, dass sie sich ein bisschen damit auseinandersetzen oder dabei ähnliche Emotionen empfinden, wie ich beim Schreiben.
Keine Ahnung... vielleicht werden die folgenden Kapitel wieder interessant genug, dass ich wieder was von euch zu hören bekomme. Das würde mich wirklich freuen :) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Für alle die nicht genug von mir kriegen; ich hab einen neuen OneShot veröffentlicht, der wohl demnächst zu nem TwoShot und nem Prequel wird XD
https://www.animexx.de/fanfiction/390393/?js_back=1
(leichte BDSM Elemente)

Die Arbeiten am Buch gehen dank Magen-Darm-Grippe eher schleppend Vorwärts >.< Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Da ich so mega viele Kommentare (verteilt auf die 3 Plattformen auf denen ich veröffentliche) auf das letzte Kapitel bekommen habe, hab ich mich dazu entschlossen das nächste Kapitel schon heute zu veröffentlichen^^

Danke für die Kommentare, ich bin über jeden einzelnen mega happy *verbeug* Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich wünsche euch allen schöne Festtage.

Morgen gibt es noch den Epilog und eine kleine Überraschung ;)



Bleibt gesund und weg von zu vielen Verwandten! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Und das wars :3

Vielen vielen Dank an alle, die kommentiert haben und mir über all die Zeit treu geblieben sind! Ich versuche euch noch zu antworten, aber wisst, dass jedes einzelne Wort, mir sehr sehr sehr viel Wert war und ist!

Und hier ist die kleine Überraschung:
https://www.animexx.de/fanfiction/393987/1289929/default/#complete

Wer lust hat zu lesen, wie es Kai so bei Shinji und Nate als adoptivsohn ergeht, darf hier gerne weiter lesen ;) Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (93)
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Von:  Onlyknow3
2020-12-26T07:27:04+00:00 26.12.2020 08:27
Ich freue mich auf die Fortsetzung Lyndis, das hört sich super an. Außerdem möchte ich mich bei dir bedanken dafür, das du deine FF hier beendet hast. Ich habe deine FF wirklich gerne verfolgt, habe mich mitziehen lassen von Shinji in seine tiefsten tiefen seiner Seele, habe mit gefiebert als Nat auf tauchte, und ihn aus seinem selbst gewählten Loch heraus geholt hat.
Wie die beide seinen Gedächtnis verlust gemeistert haben, war große Klasse. Mich hat selten eine Eigene Story so gezogen.
Meinen Dank das du uns hier so gut Unterhalten hast. Weiter so, freue mich auf das nächste Abenteuer der beiden.

LG
Onlyknow3
Von:  Onlyknow3
2020-12-25T10:20:51+00:00 25.12.2020 11:20
WIeder werden sie auseinader gerissen, die beiden tun mir wirklich schon leid.
Bleibt zu hoffen das Nate dieses mal wirklich gesund zurückkommt.
Frohe Weihnachten, bleib gesund komm gut ins neue Jahr.
Weiter so, freue mich auf das Ende.

LG
Onlyknow3
Von:  Onlyknow3
2020-12-25T09:55:59+00:00 25.12.2020 10:55
Armer Shinji, jetzt hat er Wochen lang alles getan, um Nate wieder auf die Beine zu helfen, und dann wird dieser abkommandiert zu seiner Einheit in Ausland. Weil dort irgend ein irrer Überlebt hat, der am seiner sieben Kameraden schuld trägt. Klar das Nate da nicht nein sagt, doch sollte er sich auch vor Augen halten, ob es das Wert ist sein Leben so weg zu schmeißen, wenn man zuhause jemanden hat der sich um einen Sorgt und Bangt.
Weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Von:  Onlyknow3
2020-12-22T07:07:57+00:00 22.12.2020 08:07
Nate kann einem da nur leid tun, erst ist er schwer verletzt, dann das Gedächtnis verloren und nun auch Freunde oder Kamreaden verloren. Shinji tut recht daran Ihn nicht allein zu lassen. Weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Von:  Onlyknow3
2020-12-21T10:50:03+00:00 21.12.2020 11:50
Sie haben es geschafft, und die Ablenkungen die Nate hatte, haben ihn sich entspannen lassen jetzt war seine Erinnerung zurück. Wie schön das sie sich endlich wieder haben. Was Lilly wohl dazu sagen wird, wenn sie es erfährt? Die wird wohl eben so Glücklich sein wie Nate und Shinji auch. Weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Von:  Morphia
2020-12-21T08:00:51+00:00 21.12.2020 09:00
Ist das schön 🥰
Von:  Onlyknow3
2020-12-20T17:36:40+00:00 20.12.2020 18:36
Ja Nachbarn können Anstrengend sein, egal ob mman sich an sie Erinnert oder nicht.
War ein super Kapitel, hat mir sehr gut gefallen. Auch dir eine schöne ruhige Woche.
Bleib gesund und habe schöne Feiertage.

LG
Onlyknow3
MAC01
Von:  Onlyknow3
2020-12-19T15:05:37+00:00 19.12.2020 16:05
Wer das wohl ist? Wer will jetzt was von Nate? Vielleicht dieser Randy?
Wird Nate öffnen und kann er diesenerkennen?
Weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel. Wünsche dir ein schönes viertes Advent Wochenende.

LG
Onlyknow3
Von:  Onlyknow3
2020-12-19T14:51:19+00:00 19.12.2020 15:51
Super Kapitel das ist echt Spitze. Mir gefällt die Geschichte von Anfang an, darum werde ich sie auch zu ende lesen.

LG
Onlyknow3
Von:  Onlyknow3
2020-12-19T13:52:14+00:00 19.12.2020 14:52
Auch ein Schritt der zur weiteren Entspannung von Nate führt, so das er sich ganz auf was anderes Konzentrieren kann als auf sein verlorenes Gedächtnis. Das macht es diesem leichter sich zu erholen, und wieder freude am Alltag zu finden wenn auch noch eingeschränkt in Körperlichen Dingen wie dem weiten gehen.
Weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3


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