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Von der Kunst, richtig zu sein

von

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Kapitel 65

"Schau mal." Er hielt Nate das Smartphone hin, auf dem eine Wohnung zu sehen war. Das würde jetzt einen von zwei Effekten haben: Entweder, Nate würde vollkommen ausrasten oder er ließ sich davon ein wenig ablenken und würde endlich wieder ein wenig runter kommen.
 

"Was sagst du?"
 

Sie saßen gerade im Flugzeug, was Nate keine Möglichkeit hatte, davon zu laufen und die nervöse Energie die er ausstrahlte, machte Shinji schier wahnsinnig. Gerade warf er ihm aber eher einen Blick a la 'Wieso zeigst du mit das jetzt?' zu.
 

Eine Weile flackerte Nates Blick ruhelos in dem engen Raum umher, ehe er doch auf dem Smartphone landete. Das tiefe Durchatmen signalisierte wahrscheinlich, dass er Shinjis Absicht durchschaut hatte, aber das war nicht schlimm, denn Nate schien sich wirklich auf die Anzeige konzentrieren zu wollen.
 

"Sie ist groß", kommentierte Nate, als er sich den Grundriss ansah. "und hat in jedem Zimmer Fenster."
 

Nate sprach das aus, als wäre das ein Nachteil, dabei hatte sich Shinji extra dafür entschieden. Er hatte den halben heutigen Tag damit zugebracht, das Internet nach Anzeigen zu durchwühlen, während sein Freund bei seiner Schwester gewesen war. Der schien sich aber nicht ganz sicher, ob er hier ihre Traumwohnung vor der Nase hatte, aber Shinji hatte noch ein paar Argumente auf Lager:
 

"Sie hat einem Bastler gehört, deshalb hat sie ein paar Gimmicks, die der jetzige Vermieter nicht entfernt hat. Unter anderem zum Beispiel tönbare Fensterscheiben." Außerdem noch solche Kleinigkeiten, wie LAN in jedem Zimmer, eine Videofreisprechanlage, die man an einen Raspberry Pi anschließen konnte und anderen Schnickschnack, von dem Shinji nicht gewusst hatte, dass er ihn haben wollte.
 

Anscheinend spürte Nate seine Begeisterung, denn das einzige was er noch fragte war: "Wie viel kostet sie?"
 

Shinji räusperte sich umständlich, ehe mit einem schiefen Grinsen zugab: "Viel."
 

Nicht, dass sie beide das Geld nicht hätten. Er kannte Nates genaue Finanzen nicht, aber er konnte erahnen, was er für seine jetzige Wohnung hinlegte und Shinji hatte ziemlich astronomische Ersparnisse, weil seine Kellerwohnung im Prinzip fast nichts kostete, er nie in Urlaub fuhr und sich ab und an nur etwas neue Elektronik zulegte. Dadurch, dass er seinen alten Kram meist verkaufte, fiel das aber auch nicht allzu sehr ins Gewicht.
 

Nate schwieg jetzt, schien aber über die Wohnung nachzudenken, denn er wurde mit jeder Minute ruhiger, was Shinji stolz aus dem Fenster grinsen ließ. Wahrscheinlich sollte er sich nicht so freuen, nicht, wenn Menschen gestorben waren, aber er schaffte es nicht, auch nur einen Funken Empathie aufzubringen. Nate aufmuntern zu können, war hingegen ein ziemlich großer Sieg für ihn.
 


 

"Ich nehme an, du wirst mich in einem Hotel oder so absetzen?", fragte er, nachdem sie gelandet waren. Er konnte sich nicht vorstellen, dass er mit in ein Hauptquartier kommen durfte. Er war sich aber auch nicht sicher, ob die so spät abends überhaupt noch jemanden zu sich ließen. Er hoffte, dass er die Nacht nicht eingepfercht mit Nate in einem Hotelzimmer verbringen musste. Sein Freund würde wahnsinnig werden.
 

"Es gibt ein paar, die auf dem Weg liegen, ich würde dich beim Nächstbesten dann absetzen."
 

Gesagt, getan. Als das Taxi vor dem Hostel hielt, wandte sich Nate noch einmal an ihn: "Hast du genug Geld? Ich versuche mich zu beeilen."
 

Shinji konnte sich ein sanftes Lächeln nicht verkneifen. Auch jetzt dachte Nate noch an ihn. "Mach dir um mich keine Gedanken. Tu, was immer du tun musst. Ich bin hier, wenn du mich brauchst. Ich lasse an der Rezeption eine Notiz mit einer Zimmernummer da."
 

Ehrlich gesagt, hatte er keine Ahnung, was Nate überhaupt tun wollte. Wahrscheinlich mit seinem Chef reden oder so etwas, aber worüber genau, konnte er auch nicht sagen. Vielleicht wollte er wissen, was genau passiert war. Vielleicht war es etwas anderes. Shinji wusste nur, dass Nate das definitiv tun musste.
 

"Komm nur heil und an einem Stück wieder, ja?"
 

"Keine Sorge", erwiderte Nate nur wenig informativ. Sie gaben sich keinen Abschiedskuss, das ertrug Shinji so öffentlich noch nicht, aber er warf ihm noch einen letzten, sorgenvollen Blick zu. Irgendwie bekamen sie beide nie wirklich die Ruhe, um sich endlich mal zu genießen.
 


 

"Wir müssen reden."
 

Es hatte Stunden gedauert, bis Nate wieder gekehrt war. Dennoch lag Shinji hellwach in seinem Bett und setzte sich jetzt kerzengerade auf.
 

"Schieß los…" Das klang erstickter, als er gewollt hatte. Nates Wortwahl war aber auch echt daneben. So begann man kein Gespräch.
 

Nate kam zu ihm und setzte sich auf die andere Seite des Bettes. Eine merkwürdige Wahl. Der Platz schien viel zu weit weg. Warum setzte er sich nicht direkt zu ihm? Nate sah ihm nicht einmal in die Augen… er blieb mit dem Rücken zu ihm sitzen. Shinji wurde kalt.
 

"Ich habe den Bericht gelesen. Was drüber passiert ist… Ich habe sieben meiner Leute drüben verloren. Sieben von dreiundzwanzig Personen. Wenn ich Pech gehabt hätte, wäre ich Nummer acht gewesen…"
 

Shinji konnte nichts dazu sagen. Er war stocksteif vor Schock und einem wirklich, wirklich unguten Gefühl.
 

"Zwar ist die Gegenseite bei dem Manöver fast komplett eliminiert worden, aber… einer der Anführer scheint überlebt zu haben. Wenn er seine Kräfte irgendwo wieder mobilisiert…"
 

Nate ließ den Satz unbeendet und schwieg dann eine Weile. Shinjis Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen.
 

"Mein Vorgesetzter hat mir bis morgen Bedenkzeit gegeben. Wenn ich mich für den nächsten Einsatz verpflichte, bin ich wohl wieder drüben, sobald das Bein vollkommen verheilt ist."
 

"Rache bringt sie auch nicht wieder zurück", murmelte Shinji. In ihm tobten zu viele Emotionen auf einmal, die er alle nicht verarbeiten konnte. Er war auch nicht in der Lage das gerade Gesagte zu verarbeiten. Deshalb spulte sich einfach irgendein Programm in seinem Kopf ab, das er nicht kontrollieren konnte.
 

"Nate ich… als wir damals zusammen gekommen sind, habe ich dir versprochen, dir nicht in deinen Job zu reden." Irgendwas in seinem Kopf sagte ihm, dass diese Wortwahl wichtig war, aber er kam nicht drauf. Er fühlte sich so taub. "Wenn es das ist was du brauchst um zur Ruhe zu kommen… um abzuschließen… dann solltest du das tun." Was sollte er auch sonst tun? Hier bleiben und von Selbsthass zerfressen werden? Er kannte Nate, er würde nicht bleiben können. Er würde wieder weg gehen.
 

"Ich warte… und träume von unserer gemeinsamen Wohnung."
 

Er wusste nicht, was er da sagte. Er hatte vollkommen den Draht zur Realität verloren. Alles fühlte sich falsch an. Er bemerkte auch erst, dass er Nate von hinten umarmt hatte, als der zu sprechen begann und der tiefe Bass durch seinen Körper vibrierte.
 

"Ich liebe dich, Shinji. Lass uns die Wohnung nehmen, die du gefunden hast."
 

Er konnte die Liebesbekundung gerade nicht erwidern. Sie blieb ihm im Hals stecken. Sein Herz drängte ihn dazu, seinen Partner weiter zu beruhigen, ihm weiter gut zu zu reden, sich um ihn zu kümmern. Er konnte nicht.
 

"Wir sollten mit der Wohnung warten, bis du wieder da bist."
 

"Und die Chance auf automatisch abgedunkelte Fensterscheiben verpassen?" Nates Tonfall war viel zu freundlich, viel zu spielerisch. Er passte nicht in den Moment. Shinji wollte ihn deshalb anschreien, tat das aber als wirklich lächerliche Gefühlsregung ab. "Ich werde meine Wohnung sowieso aufgeben. Das Geld kann ich genauso gut in die neue investieren. Aber wenn du mit dem Umzug warten willst, kann man das sicher mit dem Vermieter klären."
 

Das klang… nach Zukunft. Es klang nach Zuversicht. "Ich will zusammen mit dir dort einziehen."
 

Er drückte Nate einen Kuss in die Halsbeuge, konnte aber nicht mehr bei ihm sein. Er löste sich von ihm und murmelte etwas davon, dass er noch duschen wollte.
 


 

Die Dusche schaffte es tatsächlich, dass er sich besser fühlte. Er hatte das Gefühl, seine Gedanken ordnen zu können und als er heraus trat, schien er deutlich ruhiger. Er schlang sich ein Handtuch um die Hüfte und wollte aus dem Bad treten, aber er blieb im Türrahmen stehen, als wäre er gegen eine Wand gelaufen.
 

Als er Nate da liegen sah, traf es ihn fast wie einen Schlag in die Magengrube. Nate würde bald wieder weg sein. Würde ihn wieder allein lassen und er würde wieder nicht wissen, ob Nate zurück kommen würde.
 

Wie angewurzelt stand er da und sah einfach nur an einen unbestimmten Punkt im Raum. Er hatte nie viel Glück in seinem Leben gehabt. Nie. Was wäre, wenn Nate diesmal nicht wieder zurück käme? Oder noch einmal ohne Gedächtnis wieder kehrte, das diesmal nicht zurück käme? Wenn er gelähmt würde? Oder ins Koma fallen würde? Oder wenn er mit einer irreparablen geistigen Störung wieder käme?
 

Die Wahrscheinlichkeit, dass Nate gesund und munter zurückkehrte, war nicht wirklich hoch. Nicht, wenn er auf Rache aus war. Da tat man dumme Sachen…
 

Was würde er dann tun? Was würde er ohne Nate machen? Oder mit einem Nate, der nicht mehr seiner war?
 

Als Fingerspitzen ihn berührten, zuckte er zurück, als hätte er sich verbrannt. Wie von weit weg hörte er eine Stimme, die seinen Namen rief. Er brauchte einen Moment, bis er seinen Blick wieder fixieren konnte und aus den Tiefen seiner schwarzen Erinnerungen und Ängste wieder aufgetaucht war. Aber alles, was das brachte, war, dass ihm Tränen in die Augen stiegen.
 

Warum hatte Nate ihm versprochen, dass er nicht mehr weggehen würde, wenn er jetzt doch wieder ging? Nate brach keine Versprechen. Und wenn er dieses schon brach, was war dann sein Wort noch wert? Würde er dann auch nicht mehr zurückkehren?
 

Nate sagte irgendwas zu ihm, aber er konnte es nicht hören. War es nicht sowieso egal? War überhaupt etwas wichtig, was sie sich gemeinsam erkämpft hatten? Wenn Nate es so einfach zurücklassen konnte, konnte es kaum wirklich von Bedeutung sein.
 

Am liebsten wäre er einfach gegangen. Weg, einfach weg. In eine neue Stadt, weit weg von allem, was ihn an Nate erinnern könnte.
 

Das Bild vor seinen Augen flackerte verdächtig und es dauerte einen Moment, bis er realisierte, dass er geschüttelt wurde. Dann wurde er an eine breite Brust gerissen. Ihm wurde schwindlig.
 

"Shinji, egal was in deinem Kopf vorgehen mag, es wird alles gut. Du darfst nur nicht die Hoffnung verlieren."
 

Die Worte klangen vollkommen leer und hohl, schienen keinerlei Bedeutung zu haben. "Wir haben zu zweit bisher alles geschafft. Wäre doch gelacht, wenn wir das nicht auch noch schaffen würden."
 

"Zu zweit", wiederholte Shinji leise, aber deutlich zynisch. Er war doch im Prinzip schon wieder alleine.
 

Aber was sollte er tun? Er konnte Nate nicht aufhalten. Würde er von ihm verlangen zu bleiben, würde er ihn genauso verlieren. Nicht sofort, aber bald und die Zeit bis dahin würde grausam sein. Er hatte verloren…
 

Zwei Tage… diesmal waren es zwei Tage gewesen, in denen alles perfekt gewesen war.
 

Wut kochte so plötzlich in ihm hoch, dass er das Gefühl hatte, unter ihr zu zerreißen. Wut auf Nate, Wut auf die Welt, Wut auf diese scheiß Kriege und damit auch Wut auf die gesamte Menschheit. Wenn der die Möglichkeit gehabt hätte, er hätte sie in diesem Moment ausgerottet. Alle miteinander. Bis auf sich und Nate. Dann wäre endlich Ruhe.
 

Ruhe gäbe es für ihn auch anders, aber das war ein Gedanke, den er sich verbot. Vielleicht würde er noch einmal dorthin zurück kommen, wenn Nate wirklich nicht mehr wieder käme.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Onlyknow3
2020-12-25T09:55:59+00:00 25.12.2020 10:55
Armer Shinji, jetzt hat er Wochen lang alles getan, um Nate wieder auf die Beine zu helfen, und dann wird dieser abkommandiert zu seiner Einheit in Ausland. Weil dort irgend ein irrer Überlebt hat, der am seiner sieben Kameraden schuld trägt. Klar das Nate da nicht nein sagt, doch sollte er sich auch vor Augen halten, ob es das Wert ist sein Leben so weg zu schmeißen, wenn man zuhause jemanden hat der sich um einen Sorgt und Bangt.
Weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3


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