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Von der Kunst, richtig zu sein

von

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Kapitel 62

    Lockenwickler waren das erste, was Shinji sah, als Nate die Tür öffnete. Die Frau in ihren sechzigern trug mit Blumen bedruckte, sehr locker sitzende Kleidung und sah Nate aus zufriedenen Augen an: "Ich wusste ja, dass du wieder kommst, Jungchen."

    Dann wandte sie sich mit ihrer kratzigen Stimme den Hausflur herunter: "Walter, der Junge ist wieder da! Ich habe die Wette gewonnen. Walter, du kochst ab sofort!"

    "Ahm…", war die einzige Reaktion von Nate darauf und damit sprach er Shinji aus der Seele.

    Den Hilfe suchenden Blick seines Freundes konnte Shinji nicht ignorieren, weshalb er vor trat, auch wenn sein Herz ihm aus der Brust zu springen drohte.

    "Hi", begann er nervös. Er hasste fremde Menschen. Er war nicht gut damit. "Ich bin Shinji. Sie… ehm… sind wohl Nachbarn?"

    "Oh, was für ein schöner, junger Mann", sagte die Frau begeistert und vollkommen ungeniert und richtete sich die Haare, ehe sie Shinjis ausgestreckte Hand annahm und sie eifrig schüttelte.

    "Ja, wir wohnen gleich nebenan. Wir haben Geräusche gehört und da dachte ich, ich komme mal nachschauen."

    Sie beide wussten nicht genau, was sie dazu sagen sollten und da kam auch schon ein Mann mit Halbglatze und einem Bierbauch, der in einer Jogginghose steckte, auf:

    "Da ist ja der verlorene Sohn!" Er lachte herzlich. "Du hast einiges an Besuch bekommen, aber wir haben gesagt, du wärst nicht da. Aber du solltest vielleicht mal dein Postfach leeren."

    Das brachte ihm einen Rippenstoß seiner Frau ein: "Jetzt lass ihn erst mal richtig ankommen, Walter"

    Die beiden waren mit Nate wohl enger befreundet oder dachten es auf jeden Fall. Ein wenig führten sie sich auf wie Nates Eltern. Ob das auf Gegenseitigkeit beruhte, wusste keiner von ihnen und bei älteren Menschen konnte man nie wissen. Wenn denen zu langweilig wurde, wurden die schnell aufdringlich. Shinji erinnerte sich an eine Frau, sicherlich über siebzig, die ihn nach dem Einkaufen öfter abgefangen und ihn dann zu geredet hatte. Bevor sie ausgezogen war, kannte er ihre Krankengeschichte, den täglichen Zuckerspiegel und ihre Familienverhältnisse wahrscheinlich besser als ihre Kinder. Egal was er gemacht hatte, er war sie nie losgeworden. Ihm lief heute noch ein kalter Schauer über den Rücken, wenn er daran dachte.

    "Habt ihr Hunger?", wurden Shinjis Gedanken von der Frau unterbrochen. "Das Essen ist gerade fertig geworden und du weißt ja, dass ich immer zu viel mache."

    Wenn die beiden wirklich so eng mit Nate waren, konnten die ihnen sicherlich einiges erzählen. Aber das musste Nate wissen. Das waren schon wieder Menschen, an die er sich nicht erinnern konnte.

    "Was meinst du?", fragte er also seinen Freund, der immer noch kein Wort gesagt hatte.

    "Ja, warum nicht", antwortete der wie automatisch und zuckte mit den Schultern. Shinji war sich nicht wirklich sicher, ob Nate wusste, zu was er da zusagte. Er wirkte einfach nur vollkommen überfordert.

    "Ausgezeichnet", klatschte die Frau in die Hände und winkte sie den Gang ein Stück hinunter in die Nachbarwohnung.

    

    Am späten Nachmittag saßen sie dann wieder im Auto, nicht viel schlauer als vorher. Anscheinend hatte die Nachbarin, die im Übrigen Ruth hieß, Nate öfter Essen vorbei gebracht und dafür hatte der Sachen repariert, die eben in einem Haushalt so anfielen. Jetzt saßen sie beide ein wenig erledigt im Auto, Shinji übervoll, weil die Frau wohl gedacht hatte, er würde zu wenig essen. Nate einfach nur müde und mit einer Tasche voll mit Post zu seinen Füßen. Im Kofferraum fanden sich nun die restliche nicht militärische Kleidung seines Freundes und auf dem Rücksitz thronte stolz der Tiger, den Shinji sogar angeschnallt hatte.

    "Ich werde die nächsten drei Tage nichts essen", jammerte Shinji. Ihm war wirklich schlecht, aber er hatte den übervollen Teller nicht nur halb essen können. Also hatte er weiter gegessen, bis er wirklich nicht mehr konnte.

    Eigentlich hielt er Höflichkeit ja für Lebenszeitverschwendung, aber wenn es dann dazu kam, konnte er nicht wirklich unhöflich sein. Nicht, wenn die andere Person einigermaßen freundlich war. Vielleicht lag das an seiner Erziehung, die immer noch viel zu tief verwurzelt war, aber zur Sicherheit würde er einmal mit seinem Therapeuten über dieses Paradoxon reden.

    "Aber wenigstens war es echt lecker", kommentierte Nate nur und Shinji konnte nicht widersprechen.

    "Der Tag war wirklich interessant", lenkte Nate dann aber weiter. "Danke für die Idee."

    "Mir hat das echt Spaß gemacht. Fast schon schade, dass du nicht noch mehr Wohnungen zum durchstöbern hast."

    Nate grinste daraufhin nur müde und sie fuhren los.

    Der Rest der Fahrt verlief ruhig. Sie waren beide geschafft und hingen ihren Gedanken nach. Insgeheim plante Shinji bereits, wie er Nate die Idee eines Umzugs unterbreitete, aber das hatte noch etwas Zeit. Nate hatte sich gerade erst wieder in sein Leben eingefunden, zumindest einigermaßen und sie wussten noch nicht, wie er seinen weiteren Lebensunterhalt bestreiten würde. Das stand alles noch in den Sternen.

    

    "Was ein Tag", seufzte Shinji und gähnte, als er sich auf sein Sofa fallen ließ. Trotz allem fühlte er sich hier noch am wohlsten und vor allem sicher. Er hoffte wirklich, dass die neue Wohnung ihm dieses Gefühl auch geben konnte.

    Nate war nicht wirklich fitter. Der ließ sich neben ihn fallen, strich sich fahrig über sein verletztes Bein und schmiegte sich dann sofort an ihn. Nach dem halben Tag voneinander entfernt, sich fast nicht berührend, tat das jetzt wirklich gut. Und auch wenn sie nicht besonders viel gemacht hatten, überkam sie beide doch die Erschöpfung und sie schliefen gemeinsam auf der Couch ein.

    Shinjis letzter Urlaubstag fand damit sein Ende.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Onlyknow3
2020-12-20T17:36:40+00:00 20.12.2020 18:36
Ja Nachbarn können Anstrengend sein, egal ob mman sich an sie Erinnert oder nicht.
War ein super Kapitel, hat mir sehr gut gefallen. Auch dir eine schöne ruhige Woche.
Bleib gesund und habe schöne Feiertage.

LG
Onlyknow3
MAC01


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