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ADHS - (K)eine Krankheit der letzten 30 Jahre ADHS, ADS, Hyperaktivität, Psychiatrie, psycholgie, Ritalin

Autor:  TokyoMEWS
Jedes Mal wenn ich höre, AD(H)S wäre eine Modekrankheit, ein Komplott der Pharmaindustrie oder ein Versuch, 'Andersartige' für krank zu erklären, möchte ein Teil meines Hirns Amok laufen und mit Fakten um sich werfen.
Ich unterstütze es hier mal großzügig dabei. Wenn nicht plötzlich.. aaa.... KATZENBILDER!!!!

Als erstes, und nur dank @chaotendomteur gefunden, die wahrscheinlich älteste Beschreibung von ADHS aus dem europäischen Raum.
Im 4. Jahrhunder vor Christus schrieb ein Grieche namens Herodas neun so genannte 'Mimiamben' (einer der vielen literarischen Stile, die sich in der Antike entwickelten). Die dritte handelt von einer Mutter, die ihren Sohn zu einem Lehrmeister schickt, mit der Bitten ihn zu züchtigen, da sie scheinbar keine Macht über ihn hat. Es wird aufgezeigt, dass der Junge nichts lernt, ständig Untaten verübt, wobei er vor seiner eigegen Großmutter keinen Halt macht, und letztlich unter Spieler und Ganoven gerät.
Ich empfinde gerade die Erwähnung von Spielern und Ganoven als wichtig, da heute bekannt ist, dass Sucht, als Spielsucht, und gesetzeswidriges Verhalten Manifestationen einer ADHS sein können bzw Betroffene eine wesentlich höhere Wahrscheinlichkeit haben süchtig zu werden oder mit dem Gesetz in Konflikt zu gerate.
Wer das Ganze in Griechisch und Deutsch selbst lesen möchte: bitte.


Die möglicherweise früheste neuzeitliche Erwähnung von "Mangel der Aufmerksamkeit" findet sich 1775 in der Zeitschrift "Der philosophische Arzt", vermutlich geschrieben und herausgegeben von Melchior Adam Weikard, der 1784 zum Hofsarzt der russischen Zarin Katharina II. ernannt wurde. Vermutlich, weil eine genaue Angabe des Verfassers fehlt. Wiekard war u.a. Leibarzt des Fürstbischofs Heinrich von Bibra, sprach sich aber als Arzt, der der Philosophie zugeneigt war, oft gegen religöse Bräuche zur Behandlung von Erkrankungen aus. Ein Ausweg, seine eigene Meinung vertreten zu können und trotzdem keinen Stress mit seinem 'Chef' zu kriegen, war die anonyme Publikation.
Wer genau lesen möchte, was dort geschrieben stand, kann es bei Google Books ab Seite 36 nach lesen.

1798 beschreibt der schottische Arzt und Author Alexander Crichton, der einen Teil seiner Ausbildung in Deutschland durchlief und möglicherweise mit Weikard im Kontakt stand, in einem Buch mit einem ellenlangen Titel, dass was heute als "Vorwiegend unaufmerksamer Typ" bezeichnet wird.
Er schreibt über eine "geistige Unruhe", die seiner Meinung nach angeboren oder durch Krankheit bzw. Unfall ausgelöst sein kann. Weiterhin schreibt er, dass schon zu seiner Zeit die Betroffenen "Zappelphilipp" genannt wurden, dass der Zustand der "geistigen Unruhe" schon durch kleinste Veränderungen in der Umwelt hervorgehrufen kann, und dass keine der damals üblichen Disziplinarmaßnahmen in der Schule eine Änderung des Verhalten hervorriefen bzw überhaupt in der Lage dazu seien, eine Veränderung des Verhaltens hervorzurufen. Er vertrat die Überzeugung, das Problem läge auf organischer Ebene und wäre daher durch Bestrafung oder Belohnung nicht zu beeinflussen.
Mehr zu seinen Vorstellungen bei Google Books ab Seite 254.

1845 begegnen uns viele ADHS-Verhaltensweisen im Struwwelpeter wieder. Der ungefähre Inhalt dieses Buches sollte eigentlich den meisten bekannt sein. Jetzt wisst ihr übrigens auch, wo der Name Zappelphilipp her kommt.

1901 philosophierte Sigmund Freud über "Menschen, die man allgemein als vergesslich bezeichnet", und ihnen ihre Vergesslichkeit entschuldigen sollte, mit dem Ergebniss, eine "Abänderung der Blutversorgung im nervösen Zentralorgan" sei die Ursache.
Mangels der uns heute bekannten bildgebenden Verfahren zu seiner Zeit, lässt sich die Aussage zu diesem Zeitpunkt nicht überprüfen. Immerhin war er nicht der Ansicht, dass die Galle falsch fließt und Aderlass die angemessene Behandlung sei.....

1902 kommt der nächste. Der britische Kinderarzt G.F. Still.
Er gab am Royal College of Physicians mehrere Vorlesungen, die 'ungewöhnliche psychische Zustände bei Kindern' als Thema hatten.
Er beschrieb eine Gruppe von 46 Kindern, die Probleme mit dem Aufrechterhalten der Aufmerksamkeit hatten, nur über mangelnde Selbstkontrolle verfügten, außergewöhnlich emotional reagierten, nicht aus ihrem Verhalten lernten und schulisch zurück geblieben waren, jedoch durchaus zu 'intelligenten Gesprächen' in der Lage.
Er führte all diese Probleme auf die fehlende Aufmerksamkeitsfähigkeit zurück.
Für ihn handelte es sich um eine biologische Veranlagung, möglicherweise erblich oder um eine Verletzung des Hirns vor oder während der Geburt.
Seine Vorlesungsreihe wurde später in "The Lancet" veröffentlicht. Leider sind die Texte nicht öffentlich zugänglich.

Anfang des 20. Jahunderts suchten mehrere Epedemien Europa heim. So zum Beispiel die Europäische Schlafkrankheit (eine Hirnentzündung) 1917-1918 oder aber auch die Spanische Grippe 1918-1920. Ich hoffe, ihr wisst alle, dass Grippe eine sehr schwere Krankheit sein kann...
Überlebende Kinder zeigten viele der bisher genannten Symptome, was die Wissenschaft davon überzeugte, es handele sich um eine Schädigung des Hirns.
Man gab dem ganzen verschiedene Namen: Verhaltensstörung nach Hirnentzündung, Minimale Hirnverletzung, Minimale cerebrale Dysfunktion, Hyperaktivität, Lern- und Verhaltensstörung, Hirnverletzungs-Syndrom des Kindes oder Psychoorganisches Syndrom.
Im Laufe der Zeit bewegte sich die Bezeichnung von 'Verletzung' weg, hin zur 'Störung'.

Berichte über die medikamentöse Behandlung von ADHS gab es erstmals 1937. Es wurde dargelegt, dass durch die Einnahme von Amphetaminen die Aufmerksamkeit, Impulsivität und Ablenkbarkeit verbessert werden konnte.
Hier gibt es einen wissenschaftlichen Bericht über die Evolution der zur ADHS-Behandlung eingesetzten Stimulatien.

Im amerikanischen 'Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders' wird das später als ADHS bekannte Bild in der Version 2 (DSM-II) von 1968 als 'Hyperkinetische Reaktion des Kindes- oder Jugendalters' bezeichnet.
Im DSM-III von 1980 ändert sich der Name der Diagnose auf 'Aufmerksamkeitsdefizit-Störung mit oder ohne Hyperaktivität'. In der überarbeiteten Version des DSM-III, dem DSM-III-R, steht 1987 erstmalig 'ADHS'. 1994 wurden im DSM-IV dann 3 Typen des ADHS unterschieden (Aufmerksamkeitsgestört, Hyperaktiv-Impulsiv & Gemischt).
Im ICD findet sich 'Aufmerksamkeitsdefizit' erstmals im ICD-9 von 1978.

Was lernen wir daraus...?
Namen sind (nicht) wichtig.
Zu behaupten, ADHS wäre eine 'Modediagnose' und eine 'erfundene Krankheit' ist nicht richtig.
ADHS gibt es wahrscheinlich schon seit es die Menschheit gibt, nur unter anderen Namen. Wer eben nur nach ADHS sucht findet kein Material vor 1980 bzw 1978, da das Wort vorher nicht vorkommt.
Daraus zu schließen, es hätte vorher kein ADHS gegeben ist ungefähr so sinnig, wie zu behaupten, dass es vor der griechischen Antike keinen Krebs gegeben habe, weil sich das Wort nicht früher nachweisen lässt.

Dass in unserer Zeit ADHS öfter diagnostiziert wird, liegt meine Meinung nach an folgendem:
Zum einen wird heute stärker auf die Eigenschaften und Bedürfnisse des einzelnen Menschen eingegangen.
Zum anderen leben wir in einer Gesellschaft, in der viel mehr geistige Arbeit vollbracht wird. Der moderne Arbeitsmensch steht nicht mehr in der Werkstatt und bewegt sich, um ein Produkt zu erschaffen. Er sitzt im Büro und verrichtet 'Kopfarbeit'.
Kein Wunder also, dass 'Kopfkrankheiten' heutzutage relevanter sind....