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Alice im Wunderland - Die bescheuertste Interpretation ever

von

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Prolog - Der Auserwählte

Disclaimer: Alice Cooper gehört nicht mir (was für ein Jammer!), genauso wenig wie die anderen bekannten Personen, die im Laufe der Geschichte hier angedeutet werden. Einzig was ich mit ihnen angestellt habe ist mir zuzuschreiben.

Für OoC-ness hafte ich nicht, da es sowieso nicht meine Absicht war, die betreffenden Persönlichkeiten originalgetreu darzustellen (immerhin ist es ja eine Parodie).

Desweiteren hoffe ich, dass, falls äußerst unwahrscheinlicherweise irgendwer der hier vorkommenden Musiker diese FF lesen und verstehen sollte (obwohl sie auf Deutsch ist), er mir nicht böse ist und dieses Elend mit Humor nimmt. ^^

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Es war ein warmer und ermüdender Sommertag - oder vielmehr eine Sommernacht. Genauer gesagt war es kurz nach Mitternacht, als Alice und seine Bandmitglieder in ein Gespräch vertieft im Nightliner saßen, noch immer berauscht von dem großartigen Konzert, das hinter ihnen lag. Die Brutal Planet-Tour verlief bisher so problemlos wie er es sich erhofft hatte, und das Publikum war absolut fantastisch gewesen. Trotzdem war er froh, nun ein wenig Ruhe zu haben, schließlich war Touren nicht nur ein spaßiges sondern auch ziemlich anstrengendes Unterfangen.

Für einen Moment schloss er die Augen, während Ryan offenbar fasziniert über irgendeinen riesigen, schrankartigen Typen redete, den er bei ihrem Auftritt anscheinend in der Menge gesehen hatte. Er hörte, wie einer der anderen aufstand, und sah, dass es Eric war, als er die Augen wieder öffnete. Mit einer eisgekühlten Flasche Wasser kam er wenige Sekunden später zurück und setzte sich wieder.

„Wirklich, der war gigantisch! Habt ihr den echt nicht gesehen? Sah aus wie ein Footballspieler, nur nochmal doppelt so groß und so breit... Und ich schwöre, der hat auch am brutalsten mitgegröhlt! Von den kreischenden Mädels mal abgesehen...“

„Ich glaube, ich habe den auch gesehen. Aber so riesig war der jetzt auch wieder nicht.“

„Ernsthaft? Der hat alle anderen um 'nen halben Meter überragt! Mit dem hätte ich mich nicht anlegen wollen...“

„Was bist'n du für 'ne Pussy, Ryan? Hast du Angst vor einem Fan, nur weil er größer ist als du?“

„Das habe ich nicht gesagt.“
 

Amüsiert von der Unterhaltung, die die anderen führten, warf Alice einen Blick aus dem Fenster. Der Kerl, den er dort draußen in der Dunkelheit herumlaufen sah, übertraf den Typen aus dem Publikum an Auffälligkeit höchstwahrscheinlich um Längen. Da ging doch tatsächlich irgendein Freak im Hasenkostüm neben dem Bus her, als dieser langsam zum Stehen kam. Und damit nicht genug: Er starrte auch noch wie ein flauschig-verpackter Stalker mit wahnsinnigem Blick direkt zu ihm herein.

Moment, dachte er augenblicklich. Das Gesicht kenne ich...?

„Was ist los? Du siehst so schockiert aus!“

„Mick Jagger...“

„Was...?“

„Da ist Mick Jagger...!“

Gleichzeitig lehnten sich alle zum Fenster vor, um zu sehen, was er gesehen hatte. Aber der komische Freak, der merkwürdigerweise genau wie der Sänger der Rolling Stones aussah, war dort bereits nicht mehr.

Er war im Bus - er war eben eingestiegen.

Weshalb war es überhaupt möglich, dass hier jemand einstieg? Sollte das vielleicht ein fragwürdiger Scherz des Fahrers sein? Wenn ja, dann hatte er einen eher ungünstigen Moment dafür erwischt. Er war definitiv zu müde für skurrile Schock-Rock-Überraschungen und kam sich bei dem Anblick eher vor wie auf einem eigenartigen Trip.
 

„Also, keine Ahnung, was du da gesehen hast, aber kann es sein, dass du dich vorhin überanstrengt hast? Mit Wahnvorstellungen ist nicht zu spaßen“, unterbrach Ryan seine Gedanken schief grinsend. „Mick Jagger, guter Witz!“

„Dreht euch um...! Er ist hier drin! Der Typ im Hasenkostüm, das ist er!“

„Hasenkostüm? Bist du sicher, dass es dir gut geht?“

Bevor er etwas darauf erwidern konnte, sah er die Gestalt mit dem weißen Fell bereits auf sich zukommen. Mick Jagger. Ohne Zweifel war er es, der sich da gerade so auffällig es nur möglich war vor ihm aufbaute, eine Pfote in die Hüfte stemmte und ihn anlächelte.

„Guten Abend, Alice“, sagte er seltsam förmlich. Irritiert blickte er sich um, um festzustellen, ob hier vielleicht irgendwo versteckte Kameras angebracht waren, und wandte sich seinem Gegenüber wieder zu, als er nirgendwo etwas in der Art entdecken konnte.

„... Hi?“, fragte er mehr als dass er es sagte. Was ihm wirklich zu denken gab war die Tatsache, dass seine Bandkollegen nicht den Hasenmann sondern ihn verwundert musterten.

„Mit wem redest du da?“, hörte er Pete fragen, während er selbst nicht aufhören konnte, den verkleideten Mick Jagger anzustarren. Seine Präsenz war einfach unmöglich zu ignorieren.

„Mit wem ich rede...? Seht ihr das denn nicht?“

„Ehrlich gesagt nicht.“

„Nein, Alice, sie können mich nicht sehen. Nur du kannst das“, erklärte Herr Hase beiläufig. War ja auch einleuchtend.

„Okay, was ist das hier? Eine Überraschungs-Kostüm-Party im Tourbus mit Theater-Elementen? Klingt echt super, nur leider kann ich wohl nicht mitmachen. Ich habe kein Kostüm. Nur ein paar provokante Bühnen-Outfits...“

„Siehst du immer noch irgendwelche kostümierten Sänger hier rumspringen?“

„Ja, aber-“

„Sekunde, Alice. Das haben wir gleich.“
 

Im nächsten Moment hielt der Hase plötzlich eine Taschenuhr in der Hand, an der er scheinbar irgendeinen Knopf betätigte. Unmittelbar darauf war es still geworden. Mit einem Mal bewegte sich nichts mehr, und die Gesichter der anderen waren wie eingefroren.

„Problem gelöst“, kommentierte er knapp. Alice war sich nun endgültig nicht mehr sicher, was er von der Situation halten sollte. Entweder hatte seine gesamte Crew die Geschichte - zu welchem Zweck auch immer- genauestens einstudiert und brachte das Ganze jetzt erstaunlich überzeugend rüber... oder er war vollkommen verrückt geworden.

Ein weißer Hase mit einer magischen Taschenuhr? An was erinnerte ihn dieses Szenario bloß...?

„Also gut... Du hast die Zeit angehalten“, sagte er feststellend und musste ein wenig lachen. Wäre das hier ein Film gewesen, hätte er ihn sich sicher mit Freude angeschaut. Selbst mittendrin zu stecken war allerdings irgendwie etwas anderes.

„Darf ich mir die Uhr mal ansehen?“, fragte er schließlich. Es konnte ja nicht schaden, wenn er einfach versuchte, mitzuspielen.

„Die... Die Uhr?“, erwiderte Mick Jagger. „Nein, nein. Die ist nur für Hasen.“

„... Ach so. Ja, das hätte ich... mir ja auch eigentlich denken können.“

Mit plötzlich ernster Miene schaute der Andere ihn an. Jedoch war es etwas schwierig, ihn ernst zu nehmen in dem Aufzug.

„Alice“, sagte er leise. „Wir haben nicht viel Zeit. Du musst mit mir kommen.“

„Nicht viel Zeit? Mit dir kommen...? Und warum?“

„Weil...“, begann sein Gegenüber, „... du der Auserwählte bist.“
 

Ein Moment des Schweigens verging. Dann hätte er beinahe losgeprustet. Langsam fing die Sache an, ihn zu amüsieren - auch wenn die noch immer völlig starren Gesichter seiner Bandmitglieder auf ihn etwas unheimlich wirkten.

„Der Auserwählte...“, wiederholte er langgezogen. „Wenn das so ist. Und jetzt soll ich dir in die Zauber-Hasen-Welt folgen, aus der du kommst, und euch alle mithilfe meiner unglaublichen Kräfte vor dem Bösen retten, habe ich Recht?“

„Genauso ist es“, antwortete Mick Jagger. „Abgesehen davon, dass es keine Zauber-Hasen-Welt ist. Sondern das Wunderland.“

Ja, natürlich. Daher kam es ihm bekannt vor. Warum war ihm das nicht schon früher aufgefallen?

„Jetzt verstehe ich. Ich bin Alice, und du bist das weiße Kaninchen... und jetzt soll ich dir ins Wunderland folgen, wo mir jede Menge abnormale Sachen passieren!“

„Wow... Ich bin beeindruckt. Offenbar kannst du hellsehen. Das bestätigt mir nur, dass du der Auserwählte bist!“

Diese Improvisationskunst war beachtlich. Der Hase hatte auf alles eine Antwort parat.

„Na dann“, sagte er. „Dann zeig mir doch mal das Wunderland! Es wird ja wohl kein Problem für dich sein, mich dorthin zu führen.“

„Ist es auch nicht! Man kann von überall aus dorthin gelangen. Selbst von diesem Bus aus. Es ist ganz einfach!“

Mit diesen Worten war 'das weiße Kaninchen' in den hintersten Winkel des Busses gestapft und betrachtete den Boden, als würde sich dort irgendetwas wahnsinnig Interessantes abspielen. Alice starrte noch eine Weile lang in seine Richtung, seufzte und ging ihm schließlich hinterher - etwas anderes blieb ihm ja anscheinend nicht übrig.

Die Stelle, die der Hase fixierte, unterschied sich vom Rest des Bodens. Eine rechteckige Form zeichnete sich dort ab; es sah aus wie eine geheime Klappe, die man öffnen konnte.

„Was ist das? Ich bin mir sicher, dass das vorher nicht da war...!“

„Das, verehrter Auserwählter, ist das Tor zum Wunderland, durch das wir nun schreiten werden!“, erklärte das Kaninchen. „Würdest du es für mich öffnen? Es fällt mir etwas schwer mit meinen Pfoten.“

„Du kannst die Zeit anhalten, aber die Tür zu deinem eigenen Zuhause kannst du nicht aufmachen? Na gut...“
 

Zögerlich beugte er sich herunter und hob den nur locker aufliegenden Teil des Bodens mit Leichtigkeit an. Was darunter zum Vorschein kam war gleichermaßen faszinierend und beängstigend. Er hatte mit einigem gerechnet - mit Keith Richards, der es irgendwie geschafft hatte, sich dort drin zu verstecken, um ihn überraschenderweise zu begrüßen, wenn er den Deckel abnahm. Oder mit ein paar Luftschlangen und Konfetti. Aber nicht mit einer bunten LSD-Spirale, deren grelle Farben strudelartig ineinander verliefen und so wirkten, als würden sie jeden Moment den gesamten Raum in sich aufsaugen. Das war selbst für ihn zu abgefahren.

„Okay... Langsam glaube ich, jemand hat mir was ins Essen gemischt... Irgendein krasses Zeug.“

„Hast du etwa noch nie ein Wunderportal gesehen?“

„Wenn ich mich recht erinnere... Nein, sowas sehe ich zum ersten Mal!“

Verständnislos blickte der Hase ihn an, dann trat er einen Schritt auf die ziemlich bedrohlich wirkenden Farben zu.

„Folge mir!“, war das letzte, was er sagte, bevor er in dem Strudel verschwand. Einfach so. Er war plötzlich nicht mehr da.

Fassungslos sah er zu dem Fleck, an dem Mick Jagger bis eben gestanden hatte, dann lehnte er sich etwas weiter vor und schaute in die Tiefen des Portals hinab, durch das er gegangen war. Es war nichts zu erkennen außer Farben. Leuchtende, hervorstechende, sich bewegende Farben. Wer auch immer derjenige war, der ihm derart harten Stoff untergemischt hatte - er würde Ärger bekommen.
 

„Was ist passiert...? Wo ist Alice?“, hörte er von Weitem die Stimme seines Gitarristen.

„Keine Ahnung. Gerade war er noch hier...“

Sie waren wieder zu sich gekommen. Die Wirkung der komischen Uhr musste wohl nachgelassen haben, jetzt wo der Freak, der sie bei sich trug, von hier abgehauen war.

Alice hörte, wie die anderen miteinander redeten. Wahrscheinlich würden sie hierherkommen und sich wundern, was er auf dem Boden tat. Ob sie dieses... Portal überhaupt sehen konnten? Oder war es auch wieder nur irgendeine absurde Halluzination? Möglicherweise war das alles ja tatsächlich nur Einbildung. Es ließe sich ganz einfach feststellen. Er müsste nur 'durch das Tor schreiten', dann würde er sehen, ob er, wie der Hase es ihm prophezeit hatte, in einer anderen Welt landen würde - oder was auch immer.

Unsicher, was er tun sollte, warf er einen Blick über die Schulter zu den Sitzplätzen. Noch hatten sie ihn nicht bemerkt.

Was soll's, dachte er schließlich. Ein Versuch konnte ja nicht schaden.

Langsam drehte er sich um, hielt sich an einer Kante des Bodens fest und stieg rückwärts in das Loch, das, sobald er es betrat, ein Eigenleben zu entwickeln schien. Wie ein Strudel sogen die Farben ihn ein. Er spürte keinerlei Widerstand unter sich, und ehe er es sich anders überlegen konnte, hatte das Portal ihn bereits verschlungen.

Kapitel 1 - Who the fuck is Alice?

Das Erste, was er erkannte, als er die Augen aufschlug, war, dass er sich in einem Raum befand. In einem recht großen, beinahe leeren Raum.

Das Zweite, was ihm bewusst wurde, war, dass ebendieser Raum nicht zum Tourbus gehörte.

„Das gibt es nicht... Sag mir nicht, diese Klappe hat mich wirklich in eine andere Welt geführt?“, sagte er leise zu sich selbst und stand vom Boden auf, auf dem er seltsamerweise ziemlich weich gelandet war, obwohl dort keine Polster oder Ähnliches lagen. Allerdings war er, wenn er so darüber nachdachte, auch nicht wirklich gefallen - eher geschwebt.

„Obwohl es hier eigentlich nicht sonderlich wundersam aussieht...“

Alice sah sich kurz um, bevor er entschied, nach einem Hinweis zu suchen, wo er hier gelandet war. Irgendetwas, das vielleicht verriet, was für ein Ort das hier war und wie er gegebenenfalls wieder dort hinausfinden könnte. Es dauerte nicht lang, bis er auf etwas stieß, das ihn bereits vor das nächste Rätsel stellte; und dafür hatte er nur um die Ecke gehen müssen:

Eine gigantische Spiegelwand. Sie war wie eine Abgrenzung zum nächsten Raum. Zumindest nahm er das an, denn in ihrer Mitte befand sich eine Tür, ebenfalls aus Glas. Das wirklich Seltsame an der Sache war allerdings sein eigenes Spiegelbild, das ihn dazu veranlasste, an sich herunterzuschauen, um zu überprüfen, ob es die Wahrheit zeigte.

„Interessant... Ich glaube, ich habe ein Dejavú.“

Eigenartigerweise sah er wieder ganz genauso aus wie vor elf Jahren, in dem Musikvideo zu 'Poison'.
 

Was auch immer, dachte er. Viel wichtiger war es, mehr darüber herauszufinden, was genau eigentlich geschehen war und was er hier überhaupt verloren hatte. Dazu war es mit Sicherheit hilfreich, Mick Jagger - nein, das weiße Kaninchen - wiederzufinden. Weit konnte es nicht sein.

Entschlossen ging er ein paar Schritte auf die beeindruckende Spiegelwand zu, bis er direkt davor stand, und drückte die Klinke der Tür herunter. Schnell musste er feststellen, dass sie verschlossen war. Gut, auch kein Problem. Das bedeutete höchstwahrscheinlich, dass irgendwo in diesem Raum ein Schlüssel oder etwas Ähnliches versteckt war, das die Tür öffnete. Es konnte sich nur um ein weiteres Rätsel handeln, das bestimmt nicht allzu schwer zu lösen war.

Da es in dem Raum keine Möbel gab, blieben nicht viele Möglichkeiten für ein Versteck. Und tatsächlich fiel ihm wenige Sekunden später etwas in der Wand auf, das er bisher übersehen hatte. Dort waren zwei Schalter eingebaut, unter denen jeweils in kleinen Buchstaben etwas geschrieben stand.

„Betätige mich!“, stand unter dem einen Schalter, und „Betätige mich nicht!“ stand unter dem anderen.

„Das muss ein Scherz sein“, murmelte er und überlegte einen Moment. „Den Schalter zu drücken, unter dem steht, dass ich ihn betätigen soll, wäre viel zu simpel. Wahrscheinlich ist es der andere.“

Kurzerhand legte er den Schalter um, unter dem die Worte „Betätige mich nicht!“ zu lesen waren, schließlich hatte er nichts zu verlieren.

Offensichtlich hatte er sich geirrt.

Sofort fingen der Boden und die Wände an, fürchterlich zu beben. Ein Blick nach oben verriet, was der Grund dafür war:

Die Decke. Sie kam näher. Und, wie es nicht anders zu erwarten war, hatte sie selbstverständlich auch noch Stacheln ausgefahren. Das volle Programm also.

Als er merkte, dass der Versuch, den Schalter wieder in die andere Richtung zu bewegen oder den daneben befindlichen Schalter zu betätigen, keine Wirkung zeigte, da sie sich auf einmal nicht mehr verschieben ließen, leuchtete ihm ein, dass er in ziemlichen Schwierigkeiten steckte.

Im ersten Augenblick zu sehr damit beschäftigt, den Menschen (oder Hasen oder was auch immer) zu verfluchen, der sich diesen sinnlosen Mechanismus ausgedacht hatte, beeilte er sich im nächsten Augenblick, so schnell wie möglich etwas zu finden, das die verdammte Falle rückgängig machen konnte. Gerade noch rechtzeitig bemerkte er in der gegenüberliegenden Wand einen dritten Schalter - so klein und unauffällig, dass er kaum zu sehen war - , und darunter die Inschrift: „Im Notfall bitte betätigen!“, was er ohne zu zögern befolgte. Tatsächlich hatte die Decke angehalten und fuhr langsam wieder in ihre ursprüngliche Position zurück.

„Das... war knapp“, seufzte er. Beinahe wäre er geendet wie ein ahnungsloser Teenie in einem Splatter-Streifen. Nein, das wäre ja noch schöner gewesen. So leicht ließ sich Alice nicht aus dem Weg räumen. Da brauchte es schon etwas mehr als eine solch klischee-behaftete Action-Szene.
 

Nachdem er nun den Schalter mit der Aufforderung „Betätige mich!“ ebenfalls heruntergedrückt hatte - mittlerweile schien es wieder zu funktionieren - , ließ sich sogar die zuvor verriegelte Tür öffnen. Nicht sicher, ob er darüber erleichtert oder verärgert sein sollte, weil er das auch ebenso gut von Anfang an hätte tun können, stieß er die Tür auf und trat erwartungsvoll nach draußen, wo sich ihm ein gleichermaßen skurriler wie prachtvoller Anblick bot.

Unendlich weite Wiesen voller buntgemusterter Gewächse und eigenwilliger Tiere, die dort umhertollten. Weit entfernt am Horizont schien eine rötlich-orange-farbene Sonne, die eigentlich viel zu hoch stand, um bereits diese Färbung angenommen haben zu können. Der Himmel sah auch ein wenig befremdlich aus. Von den teilweise sehr fantasievoll geformten Wolken einmal abgesehen beschränkte er sich nicht auf eine einzige Farbe, so wie der Himmel es normalerweise tun sollte. Viel eher schien er alle Farben, die man sich nur vorstellen konnte, in sich zu vereinen, und erinnerte stark an den leuchtenden Strudel, der ihn in das Portal gezogen hatte. Wenn der Himmel auch glücklicherweise etwas blasser war. Ein solch grelles Neon-Gewirr wäre auf Dauer nur schwer zu ertragen gewesen.

Wo man auch hinsah - alles wirkte entspannt und friedlich.

Er wusste nicht, was, aber irgendetwas störte ihn daran. Vielleicht war die gesamte Landschaft auf eine seltsame Art ein wenig zu friedlich.
 

In der Ferne nahm er Stimmen wahr, die ein Lied sangen. Und bei genauerem Hinhören erkannte er sogar, was sie sangen:

„If you're goooiiing to wonderlaaaand... Be sure to weeeaaar some flowers in your haaaiiir!“

Dann stimmte es also. Er war wirklich im Wunderland. Wie auch immer er es hierher geschafft hatte, aber er war hier. Das bedeutete, der Hase hatte die Wahrheit gesagt und es gab Dinge, die er bisher nicht für möglich gehalten hatte. Toll.

Alice drehte sich um, um nach der Quelle der Stimmen zu suchen, die er gehört hatte. Vielleicht gab es hier jemanden, der ihm sagen konnte, wo sich das weiße Kaninchen gerade aufhielt. Stattdessen wurde ihm etwas anderes bewusst. Etwas ziemlich Erschreckendes.

Die Tür, durch die er gekommen war... Sie war weg.

Nichts. Leere. Keine Tür mehr.

Sollte das heißen, er war hier gefangen?

„If you're goooiiing to wonderlaaaand... You're gonna meeeeeet some gentle freakos theeereee“, sangen die Stimmen noch immer. Leise, aber es war nicht zu überhören.

Immer wieder trällerten sie dieselben beiden Zeilen, und jedes Mal klang es noch beschwingter und euphorischer als zuvor. Sie wurden es anscheinend nicht müde.

Bloß wo der Gesang herkam wusste er nicht. Er konnte nirgendwo eine Person geschweigedenn mehrere erkennen. Und es war definitiv eine größere Gruppe, die er da hörte.
 

„Hallo? Ist hier jemand?“, rief er und rechnete nicht wirklich damit, sofort eine Antwort zu bekommen.

„Hast du was mit den Augen, mein Freund? Wir sind direkt vor dir!“, wisperte eine heisere Stimme, deren Richtung er noch immer nicht ausmachen konnte.

„Was...? Vor mir?“

„Hier unten, schau doch hin!“

Tatsächlich kamen die Stimmen überhaupt nicht aus der Ferne, wie er erst angenommen hatte - sondern von unten, auf dem Boden, unmittelbar vor ihm.

Die Blumen.

„Ich fasse es nicht“, murmelte er, während er sich auf die Wiese kniete, um seine Gesprächspartner besser sehen zu können. „Singende Blumen... Und ich dachte, die Siebziger wären vorbei...“

„Was ist verkehrt mit singenden Blumen?“, fragte eine von ihnen.

„Nichts ist verkehrt mit uns. Er ist sicher nur von einer langen Reise erschöpft und etwas durcheinander“, antwortete eine andere. „Hey, Kumpel! Wie wäre es mit einer von uns als wundervolle Verzierung deiner Haarpracht? Wir sind auch kostenlos!“

„Wundervolle Verzierung meiner... was?!“

Einen Moment lang sprachlos betrachtete er die zahlreichen Blumen, die seinen Blick erwartungsvoll erwiderten. Jede von ihnen hatte ein winziges Gesicht. Manche hatten sogar einen Bart.

„Kann mir mal jemand erklären, was hier los ist? Wieso könnt ihr sprechen? Warum ist die Tür, die mich hierhergeführt hat, plötzlich verschwunden? Und was zum Henker soll ich eigentlich hier?“
 

Die Blumen wechselten ein paar ratlose Blicke miteinander.

„Willst du damit sagen, du bist gar nicht von hier?“, fragte ein bärtiges Exemplar mit rauer Stimme. „Das ist unmöglich... Wie bist du dann hierhergekommen?“

„Das wüsste ich selbst gern“, antwortete er und dachte daran zurück, was im Tourbus passiert war. Es kam ihm vor, als wäre es bereits ewig her, dass er mit den anderen dort gesessen und sich unterhalten hatte. „Mick Jagger, ich meine... Das weiße Kaninchen kam zu mir und erzählte was von wegen ich sei der Auserwählte. Ich bin ihm durch ein komisches, buntes Portal gefolgt, habe ein paar absolut dämliche Schalter betätigt... und schon war ich hier.“

Ein Schweigen ging durch die Runde.

„Der Auserwählte?“, krächzte eine der Blumen irgendwann. „Wie ist dein Name, mein Freund?“

„Alice“, antwortete er wahrheitsgemäß.

„Alice? Nie gehört.“

„Stranger Name für 'nen Typen.“

Der Alice“, sagte er betont langsam.

Der Alice? Ich komm nicht mehr mit...“

„Ich auch nicht, Bruder...“

Eine letzte Hoffnung hatte er noch.

„'School's out for summer, School's out forever'... Sagt euch das nichts?“

Skeptisch schauten die Blumen ihn an, bevor sie sich tuschelnd einander zuwandten.

„Ich glaube, der Typ hat ein Rad ab“, hörte er eine von ihnen flüstern.

„Das gibt es ja nicht. Ihr singt eine abgewandelte Version von 'San Francisco', aber 'School's out' kennt ihr nicht. Banausen.“

„Safran Zisko? Wer soll das sein?“

„Nie gehört, Bruder.“

„Ich geb's auf...“
 

Resigniert stand er auf und wandte sich zum Gehen. Mit diesen planlosen Pflanzen zu reden war die reinste Zeitverschwendung.

„Wo willst du hin?“, fragte eine Blume ohne Bart. Er versuchte, sich vorzustellen, wie sie mit einem Miniatur-Rasierer zugange war und sich versehentlich die Blütenblätter zermetzelte.

„Ich muss das weiße Kaninchen finden“, erklärte er. „Es gibt da ein paar Dinge, die ich es gern fragen würde.“

„Dann ist das aber die falsche Richtung, in die du da gehst, mein Freund. Das weiße Kaninchen wohnt da hinten. Du musst nur immer geradeaus laufen, es ist nicht zu verfehlen.“

„So? Danke für die Information.“

Mit neu aufkommender Motivation schlug er die Richtung ein, in der das Kaninchen angeblich wohnte - hoffentlich in einem Haus, und nicht in einem Bau. Er hatte keine Lust auf weitere Komplikationen solcher Art.

Kaum, dass er aufgebrochen war, hörte er auch schon wieder den fröhlichen Gesang hinter sich. Dieselben beiden Zeilen, wieder und wieder, bis er glücklicherweise weit genug weg war, dass das Gedudel ihn nicht mehr erreichte.

„Hippie-Blumen, ich fass es nicht“, murmelte er. Da bekam der Begriff 'Flower Power' gleich eine andere Bedeutung.
 

Ein paar Minuten lang musste er gelaufen sein - es war schwer einzuschätzen, weil an jeder Ecke irgendein psychedelisches Gewächs oder ein eigenartiges Tier seine Aufmerksamkeit auf sich zog - , da sichtete er eine kleine Hütte mit spitzem Dach und einem unverhältnismäßig großen Schornstein. Und etwas abseits der Haustüre, in dem ebenfalls sehr überschaubaren Gärtchen, entdeckte er zwei Menschen. Wobei das Wort 'Mensch' sich in dem Fall nur auf einen der beiden beschränkte. Die andere Person schien das weiße Kaninchen zu sein.

Seltsam, dachte er. Sah es nicht vorher anders aus?

Von Nahem waren die beiden, die dort anscheinend einen Plausch führten, deutlich besser zu erkennen. Der Eine war ohne Zweifel wirklich derselbe Hase, der ihm vor Kurzem schon erschienen war und ihn hierhergebracht hatte. Mit dem Unterschied, dass es nun kein Kostüm mehr war, das er trug. Vielmehr schienen die langen Ohren und das Puschelschwänzchen ihm zu wachsen.

Der Andere war ein blonder Schönling in einer weißen Ritterrüstung. Und bei näherem Betrachten war es...

„Jon Bon Jovi...!“

Sofort unterbrachen die beiden ihr Gespräch und drehten sich mit einem irritierten Ausdruck in ihren Augen zu ihm um.

„Wer ist da?“, fragte der Ritter, der ganz eindeutig Jon Bon Jovi war. Er sah aus wie zu seinen besten Zeiten.

„Wir sind gerade mitten in einer wichtigen Unterhaltung!“, fügte Mick Jagger hinzu, der bei genauerem Hinsehen irgendwie auch deutlich jünger wirkte als zuvor, bei ihrer letzten Begegnung.

Alice zögerte nicht lange, auch die letzten Meter zu ihnen zu laufen und den Ritter in seiner glänzenden Rüstung eingehend zu betrachten mit den Worten „Steht dir nicht, du solltest dir ein paar neue Fetzen zulegen“, bevor er sich dem weißen Kaninchen zuwandte, das ihn seltsam nachdenklich anstarrte, als würde es überlegen, wo es ihn das letzte Mal gesehen hatte.

„Ähm... hi“, sagte er unsicher. „Ich habe dich gesucht. Du sagtest, ich solle dir folgen und das Wunderland vor irgendwelchen üblen Schurken retten, weil ich der Auserwählte bin... oder so. Und dann bist du einfach verschwunden. Sag mal, sind das echte Ohren...?“

„Angie, bist du es?“

„... Was?“

„Angie!! Endlich habe ich dich gefunden!“
 

Völlig überfordert musterte er den Hasen, als er freudig auf ihn zustürzte und ihn in seine Arme schloss. Hatte der Kerl jetzt komplett den Verstand verloren?

„Hallo...? Was wird das?“

Mick Jagger schien seine Frage in der Euphorie überhaupt nicht wahrzunehmen.

„Komisch...“, sagte er, ohne ihn loszulassen. „Bilde ich mir das nur ein, oder bist du flacher geworden, Angie?“

„Ich bin nicht Angie! Wärst du wohl so nett, dich von mir zu entfernen?“

Verwundert ließ sein Gegenüber von ihm ab und trat zwei Schritte zurück.

„Du bist nicht Angie?“

„Tut mir leid, dich enttäuschen zu müssen, aber... Nein.“

„... Jetzt, wo du es sagst... Ich hatte ihre Stimme auch etwas lieblicher in Erinnerung“, murmelte der Hase abwesend. „Aber wenn du nicht Angie bist... Wer bist du dann?“

„Das würde mich auch mal interessieren!“, mischte Bon Jovi sich ein.

„Leidet ihr alle an Amnesie? Ich bin es, Alice! Du...“, sagte er und zeigte auf Mick Jagger, „... hast mir doch selbst gesagt, ich soll hierher kommen! Ich habe das Gefühl, ich bin in einer Irrenanstalt gelandet...“

Verwirrt blinzelten die beiden Freaks sich an. Dann startete Hasi einen Versuch, etwas zu seiner Verteidigung hervorzubringen.

„Ich kann mich nicht daran erinnern, dich zuvor schon einmal gesehen zu haben. Außerdem ist es kein Wunder, dass ich dich mit Angie verwechsle. Ihr fangt ja beide mit 'I' an.“

„Hauptsache, sie fangen nicht mit 'O' an“, fügte Bon Jovi hinzu. „Oder gar mit 'M'...! Zu viele 'M's bedeuten nur Unheil... Nicht auszudenken, wenn dein Name mit 'M' anfangen würde, unwürdiger Tropf!“

„... Wie hast du mich gerade genannt? Alles okay, tief durchatmen... Ich zähle bis drei, und dann ist alles wieder normal. Eins, zwei, drei...!“, sagte Alice leise zu sich selbst und schaute erwartungsvoll in die Gesichter der beiden anderen. „Und jetzt sagt mir endlich, dass das hier alles nur Show ist und dass ihr mich nachher wieder von hier wegbringen werdet... Ansonsten kann ich für nichts garantieren!“
 

Bon Jovi zog gelangweilt ein Tuch hervor und fing aus nicht erfindlichen Gründen damit an, an seiner makellosen Rüstung herumzuwischen.

„Du bist hoffnungslos verloren, mein Lieber“, sagte er trocken.

Alice seufzte entnervt.

„Ach ja? Wenn du meinst, von mir aus“, knurrte er. „Alles, was ich will, ist eine Erklärung! Erstens: Was ist das für ein krasses Zeug? Zweitens: Wer hat es mir eingeflößt? Drittens: Warum das alles? Gibt es hier keinen Sinn, oder muss ich den erst noch finden? Ich warne euch... Verscherzt es euch nicht mit mir! Wenn das hier ein Witz sein soll, habt ihr ganz schlechte Karten-“

„Karten?! Bist du verrückt? Sag das nicht so laut! Oder willst du die Herzkönigin verärgern?“, rief Bon Jovi aufgebracht.

„Die Herzkönigin? Ach so, selbstverständlich...! KARTEN!! Hat die Herzkönigin vielleicht irgendein Problem mit KARTEN? Kann sie die nicht ausstehen, weil die Herz-Dame in sämtlichen Kartenspielen viel hübscher und graziler ist als sie selbst?“, fragte er übertrieben laut. „Wenn ich mich recht erinnere, ist die Herzkönigin eine ziemlich fette, alte Schabracke!“

Hasi hatte sich inzwischen auf dem Boden niedergelassen und pflückte verträumt einige Grashalme, während Bon Jovi aufgeregt mit den Armen fuchtelte und dabei ziemlich lustig aussah.

„Du hast ja keine Ahnung, was du da sagst! So von der ehrenwerten Königin zu sprechen... Dass du es überhaupt wagst, dieses Wort so oft in den Mund zu nehmen!!“, rief er entrüstet.

„Welches Wort? 'Herzkönigin' oder 'Karten'?“

„Argh!! Du treibst mich in den Wahnsinn! Du, sag doch auch mal was dazu...!“, sagte er verzweifelt und warf einen Blick zu Hasi, der gerade genüsslich von seinen eben gepflückten Grashalmen abbiss.

„Ich?“ Hasi schaute träge erst zu Ritterchen auf, dann zu ihm. „... Ja, das stimmt. Du solltest dir definitiv besser überlegen, mit welchen Pilzen du dich abgibst.“

„Was??“, kam es von ihnen beiden nahezu gleichzeitig.

„Ich sollte doch was dazu sagen...“

„Hast du überhaupt zugehört, worüber wir geredet haben? Argh...! Ich bin von Rüpeln und Gestörten umgeben!!“

Nun doch ein wenig amüsiert grinste Alice den aufgebrachten Ritter an. Vielleicht war das hier eine verrückte Welt ohne Sinn - aber wenigstens war es hier nicht langweilig.

„Sag mal... Bist du überhaupt Jon Bon Jovi? Oder siehst du nur so aus?“, fragte er, obwohl es ihm etwas absurd vorkam, in einem Land voller verjüngter Klone berühmter Sänger gelandet sein zu sollen.

„Jon-Bon-Was...? Diesen Namen hast du vorhin schon einmal erwähnt, und ich weiß wirklich nicht, was du damit meinst“, antwortete Ritterchen grimmig. „Ich kenne niemanden, der so heißt, und mit mir hat das auch nichts zu tun. Ich bin der Weiße Ritter! Merke dir das!“

„Dann nehme ich an, das da hinten ist auch nicht wirklich Mick Jagger?“

„Mick Ja- Habe ich dir nicht gesagt, du sollst diesen Buchstaben vermeiden?“

„Welchen Buchstaben? Ach so, das 'M'? Ja, wenn es dir solche Angst macht... von mir aus“, gab Alice irritiert zurück. „Na gut... Wart ihr beiden nicht eigentlich vorhin in eine wichtige Unterhaltung vertieft?“

„Allerdings“, sagte der Bon Jovi-Verschnitt. „Wir haben darüber gesprochen, ob Schwarz oder Weiß die bessere Farbe ist. Natürlich sind wir uns einig, dass Weiß eindeutig gewinnt. Was ist schon Schwarz? Lächerlich.“

„Genau genommen sind beides keine Farben...“

„Keine Farben? Oho, mein lieber Schwan, wo hast du denn diesen Unsinn her?“

„Das ist kein Unsinn“, erklärte Alice geduldig. „Schwarz und Weiß stellen die Abwesenheit aller Farben dar. Es sind Nicht-Farben. Das solltet Ihr wissen, großer Weißer Ritter.“
 

Mit einem Mal schien Ritterchens Welt zusammenzubrechen, als er realisierte, was das bedeutete.

„Nicht-Farben...?! Das heißt... Meine Existenz ist völlig unberechtigt! Ich bin ein Nichts!!“

„Wer ist jetzt der unwürdige Tropf?“, grinste Alice schadenfroh.

„Das kann nicht sein... Ein Nichts... Ein Niemand...!“

Mit benebeltem Blick musterte Hasi seinen am Boden zerstörten Freund.

„Was ist los?“, fragte er, nachdem er einen weiteren Bissen seines kleinen Snacks heruntergeschluckt hatte.

„Mein Leben hat keinen Sinn mehr...! Unmöglich... Schwarz und Weiß sind keine Farben!!“

„Farben...? Schwarz? Da fällt mir ein...“, murmelte Hasi, ließ wie von der Tarantel gestochen seine Grashalme fallen und sprang überstürzt auf. „Ich habe gar keine Zeit, hier herumzusitzen...! Das Schlosstor! Ich muss es streichen! Die Herzkönigin wird mich umbringen, wenn ich mich nicht beeile!!“

Interessant..., dachte Alice, ... was man in ein paar Sekunden anrichten kann, wenn man einen einfachen Fakt in den Raum wirft.

Mit den Worten „Ich muss nach der Wahrheit suchen... jetzt sofort!“ verließ Ritterchen das Grundstück, während Hasi hektisch in sein Haus stürmte und offenbar nicht einmal genug Zeit hatte, seine Türe zu schließen. Gemächlich schritt Alice auf die niedliche Hütte zu und folgte ihm hinein, nur um ihn völlig besessen auf dem Boden in einer Kiste wühlend vorzufinden.

„Pinsel... Wo ist mein Pinsel...?!“

„Ähm... Entschuldige?“, versuchte Alice, auf sich aufmerksam zu machen, und betrachtete fasziniert all die Gegenstände, die bei Hasis Aktion auf dem Boden landeten. Von einem verwelkten Blumenstrauß über eine Mini-Version des Big Bens bis zu einem riesigen, noch verpackten Lebkuchenherzen mit der Aufschrift „Für mein Lieblingsbunny“ war alles dabei.

„Du kannst mir nicht zufällig sagen, was ich jetzt machen soll... oder?“

„Nicht jetzt, Abby... Ich bin beschäftigt...“, sagte er hastig und wurde plötzlich sentimental, als er einen dünnen Stapel unbeschriebener, weißer Blätter in den Händen hielt, den er eben aus der Kiste gezogen hatte. „Oh nein, das gibt es ja nicht... Da waren sie also! Die wunderschönen Briefe, die Angie mir damals geschickt hat...!“

„... Sie hatte dir nicht sonderlich viel zu erzählen, wie es aussieht“, sagte Alice und erntete dafür einen wahnsinnig bösen Blick.

„Was weißt du schon?! Und überhaupt... Was machst du eigentlich in meinem Haus? Du bist nicht nur ein taktloser Typ sondern auch noch ein einfältiger Einbrecher!“

„Mich nennst du einfältig? Vielleicht solltest du mal daran denken, deine Haustüre zu schließen, wenn du ungebetene Gäste vermeiden willst.“

„Meine Haustüre... Meine Haustüre... Da fällt mir ein... Ich habe keine Zeit, mich mit jemandem wie dir zu streiten! Ich muss das Tor streichen! Wenn ich doch nur wüsste, wo ich meinen Pinsel gelassen habe...!“, fluchte Hasi, wieder dabei, die Kiste zu durchsuchen. „Und du... Du verschwindest besser schnell, wenn du nicht willst, dass ich die Hütte in Brand stecke!“

„Wenn es dir Spaß macht, dein Haus anzuzünden, will ich dich nicht aufhalten. Ich wollte sowieso gerade gehen“, antwortete er betont unbeeindruckt, drehte sich um und lief Richtung Garten. „Du kannst mir ja anscheinend wohl auch nicht mehr helfen...“
 

Ohne einen weiteren Gedanken an das weiße Kaninchen oder einen der anderen psychopathischen Bewohner dieses Örtchens zu verschwenden, machte er sich auf den Weg, nach etwas zu suchen, das in irgendeiner Weise wirklich hilfreich sein könnte. Etwas... oder vielleicht auch jemand, der ihn wieder zurückführen würde aus diesem verrückten Land.

Aber gab es hier überhaupt jemanden, der nicht selbst verrückt war?

Wie auch immer. Wenn es einen Weg gab, hierherzukommen, dann gab es auch einen Weg hinaus. Irgendwo...

Kapitel 2 - Hund, Katze, Maus

Der Rückweg erwies sich als reinste Verwirrung, wenn er daran dachte, wie es auf dem Hinweg ausgesehen hatte. Nichts war mehr da, wo es vorher gewesen war.
 

War er auf dem Weg zum weißen Kaninchen nicht bloß geradeaus gegangen? Er konnte sich doch unmöglich verlaufen haben...
 

Alice blickte sich um. Nichts als dicht beieinander stehende Bäume und Dunkelheit war zu erkennen. Verdammt, er war sich nicht einmal sicher, wie er hierher gelangt war!
 

„Falls ich hier jemals irgendetwas Sinnvolles erleben sollte... werde ich vor Freude jemanden erwürgen“, sagte er leise zu sich selbst. „Bescheuertes Land...“
 

„Ohohohoho... Hat da etwa jemand Aggressionen?“
 

„Was...? Wer hat das gesagt...?“
 

Zum wiederholten Male irritiert versuchte er auszumachen, wo diese irre kichernde Stimme eben hergekommen war, doch es war niemand zu sehen. Wenn das wieder eine dieser Bartblumen war...
 

„Hier bin ich! Auf dem Baum!“, rief die Stimme scheinbar gut gelaunt, und er konnte nicht anders als zu lachen, als er die Person erkannte, die dort oben wie selbstverständlich auf einem stabileren Ast saß. Der Anblick war einfach zu absurd.
 

Etwa schulterlange, schwarze Haare - seinen eigenen nicht unähnlich -, dazu ein hautenger, ebenfalls schwarzer Glitzeranzug, schwarz-weißes Make up... Oh, und nicht zu vergessen der flauschige Schweif und die dunklen Katzenohren, die ihm wuchsen und seltsam natürlich wirkten im Zusammenspiel mit dem Rest.
 

„Klar. Wieso bin ich da nicht von selbst drauf gekommen...“
 

„Wie war das? Worauf bist du nicht von selbst gekommen?“, fragte die nur allzu bekannte Gestalt auf dem Baum breit grinsend.
 

„Ach... gar nichts“, antwortete Alice. „Ich dachte nur, ich hätte... dich schon einmal irgendwo gesehen. Aber das ist wahrscheinlich ein Irrtum.“
 

Das auffällige Grinsen seines Gegenübers wurde augenblicklich noch breiter.
 

„So muss es wohl sein, mein Freund. Wir begegnen uns zum ersten Mal“, sagte Kitty fröhlich. „Gestatten: Ich bin die Grinsekatze. Aber man kennt mich auch als 'The Catman'.“
 

Nur nichts anmerken lassen, dachte er. Dich halten hier eh alle für komisch. Aber warum zum Henker taucht auf einmal an jeder Ecke irgendein karneval-tauglicher Retro-Rocker auf...?!
 

Einen Moment lang betrachtete Alice mehr oder weniger fasziniert die Grinsekatze, dann warf er einen nachdenklichen Blick in die Richtung, aus der er gekommen war - oder besser gesagt: aus der er annahm, gekommen zu sein. Er war sich alles andere als sicher, was diese verwirrende Umgebung betraf.
 

„Hmm... Verzeih meine Unhöflichkeit, lieber Catman, aber dürfte ich fragen, wo ich langgehen muss, um wieder von hier wegzukommen? Ich bin durch Zufall in eurer lustigen, kleinen Freakshow gelandet und würde es vorziehen, wieder in meine eigene Welt zurückzukehren. Bisher habe ich nur leider keinen Ausgang gefunden...“
 

„Oh... Nun ja, es kommt darauf an, was dir am ehesten zusagt“, erklärte The Catman ruhig. „Du könntest hier langgehen... oder dort... Aber aus welchem Grund willst du überhaupt fort?“
 

„Falls ich mich nicht klar genug ausgedrückt habe: Ich bin nicht von hier. Und mir ist das hier alles ein bisschen zu abgedreht. Versteh mich nicht falsch, ich stehe auf abgedrehtes Zeug. Aber nicht, wenn ich das Gefühl habe, auf einem anderen Planeten gelandet zu sein, auf dem man mit mir eine Truman-Show abzieht.“
 

„Du siehst das völlig falsch, mein Freund. Hier ist es keinesfalls verrückt oder abgedreht“, sagte Kitty merkwürdig lächelnd. „Diese Welt ist pure Perfektion. Ein wahres Paradies, wenn man sich erst eingelebt hat. Einfach großartig...! Von hier oben habe ich den besten Überblick. Du kannst mir vertrauen!“
 

„... Warum nur kommt es mir so bekannt vor, was du da gerade erzählt hast?“
 

Ohne auf seine Anmerkung einzugehen neigte die Grinsekatze ihren Kopf in verschiedene Richtungen und fing an zu erläutern, was er dort jeweils finden würde... oder auch nicht.
 

„Gehst du nach rechts, gelangst du zum Hutmacher und zum Märzhasen. Ob du bei ihnen gut aufgehoben bist oder nicht... das musst du selbst entscheiden. Jedenfalls ist bei ihnen immer was los und du kannst versichert sein, dass sie sich sehr um das Wohl ihrer Gäste bemühen. Hihihi...“
 

„Super. Das klingt ja zumindest bisher sehr vertrauenswürdig. Und weiter?“, fragte er, etwas beunruhigt über Kittys verdächtige Lache.
 

„Gehst du nach links, wirst du kein Glück haben. Dort befindet sich seit Ewigkeiten nur eine schäbige Baustelle, weiter nichts. Und ansonsten...“, wisperte Kitty plötzlich ganz mysteriös, und von einem Moment auf den anderen war eine riesige, edel wirkende Tür voller roter und schwarzer Schnörkel mitten im Stamm des Baumes, auf dem er saß, erschienen. „... Ansonsten gibt es noch den Weg geradeaus, durch diese Tür. Allerdings benötigst du einen Schlüssel. Nicht jedem ist der Zutritt erlaubt. Nur die Bediensteten der Herzkönigin, Personen, die die Herzkönigin vor Ort wünscht, und selbstverständlich die Herzkönigin selbst dürfen hier durch. Oh! Und natürlich der Auserwählte.“
 

„Das trifft sich gut! Angeblich bin ich dieser Auserwählte. Dann müsste ich eigentlich hindurch dürfen, oder nicht?“
 

„Nicht so schnell. Du bist also der Auserwählte? Dann musst du dich zuerst einmal beweisen“, sagte die Freakmieze wichtigtuerisch. Wäre ja auch zu einfach gewesen, ganz ohne Weiteres durch die blöde Tür zu marschieren.
 

„Mich beweisen...“, seufzte Alice, erwartungsvoll zu seinem Gesprächspartner aufschauend. „Was muss ich tun? Eine ehrenvolle Prüfung bestehen? Schleimige Monster besiegen? Einen Tanz aufführen?“
 

„Hihi... Alles, was du tun musst, ist drei Personen zu finden. Nichts weiter.“
 

„Drei Personen...?“
 

„Sehr richtig. Genau drei Personen. Keine besonders schwere Aufgabe, nicht wahr? Es wird leicht für dich sein, sie zu erkennen. Sie sind von der gleichen Sorte wie meine Wenigkeit.“
 

Verstehe, dachte er. Drei Personen, von der gleichen Sorte wie Kitty. Das konnte nur eins bedeuten.
 

Alice machte ein paar Schritte Richtung Hutmacher und Märzhase.
 

„Wenn ich dich richtig verstanden habe, ist das hier der einzige Weg, den ich momentan nehmen kann, oder?“
 

Kitty legte den Kopf schief.
 

„Vielleicht... Vielleicht aber auch nicht? Wer weiß das schon so genau? Probiere es aus und finde es raus!“
 

Zögerlich warf er einen Blick in die Richtung, die er vorhatte einzuschlagen, dann sah er erneut zur Grinsekatze zurück, deren ständiges Grinsen ihm langsam aber sicher auf die Nerven ging.
 

„Du hast doch gesagt, links wäre eine Sackgasse und durch die Tür geradeaus würde ich erst kommen, wenn ich einen Schlüssel besitze... und dazu müsste ich erst deine drei Artgenossen finden!“, sagte er, überlegte einen Augenblick und entschied sich dann doch, einfach dem Weg zu folgen. „Wenn ich nirgendwo sonst langgehen kann, dann müssen die drei sich irgendwo in dieser Richtung aufhalten...!“
 

„Alice! Warte!“
 

Überrascht wandte er sich noch einmal um, ehe er widerwillig dorthin zurücklief, wo er bis eben gestanden hatte.
 

„Woher kennst du meinen Namen? Ich bin mir sicher, dass ich ihn nicht erwähnt habe... Oder liegt es daran, dass der Name des Auserwählten allgemein bekannt ist?“
 

„Welcher Auserwählte?“, fragte Kitty verständnislos grinsend.
 

„Welcher- Soll das ein Witz sein? Was willst du überhaupt noch von mir?“
 

„Ich wollte dir...“, sagte er und zog eine neongrüne Karte hervor, „... das hier geben. Du wirst es brauchen!“
 

„Eine Spielkarte?“
 

Als er sie entgegennahm und sie von Nahem betrachtete, sah er, dass auf dem neonfarbenen Grund ein großer, schwarzer Buchstabe kunstvoll abgebildet war. Ein 'K'.
 

„Du solltest sie einstecken und gut darauf aufpassen. Wenn sie dir verloren geht, bist auch du verloren. Nein, nicht nur du... Wir alle wären es!“
 

Mit diesen rätselhaften Worten war die Grinsekatze genauso schnell wieder im Nichts verschwunden wie sie aufgetaucht war.
 

Nicht nur er wäre verloren... sondern sie alle wären es? Was auch immer das nun wieder zu bedeuten hatte - länger vor diesem Baum herumzustehen würde mit Sicherheit nichts nützen.
 

Kurzerhand steckte er die Karte ein und ging den Pfad entlang, der ihn hoffentlich seinem Ziel endlich ein Stückchen näher bringen würde.
 

Sicher eine volle Minute lang starrte Alice reglos das quietschbunte Haus an, das am Ende des Weges aufragte. Zwar hatte er nicht unbedingt ein konventionelles Gebäude erwartet - die Hütte des weißen Kaninchens hatte schließlich auch eher wie das Produkt eines Märchens gewirkt -, aber das hier war schon hart an der Grenze zum absoluten Irrsinn.
 

Trotz des zuckergussartigen „Welcome“-Schriftzuges wirkte das schiefgebaute Ding, das stark an ein Topsy Turvy erinnerte, eher abschreckend als einladend. Nicht zuletzt wegen der völlig überhetzten Flötenmusik, die höchstwahrscheinlich aus dem seltsamen Gebäude rührte und zweifellos von einem total Wahnsinnigen gespielt werden musste. Einzig ein lebensmüdes, zugedröhntes Kind ohne jeglichen Geschmack wäre freiwillig dort hineinspaziert. Allerdings blieb ihm nichts anderes übrig als genau das zu tun, auch wenn er schon jetzt wusste, dass ihm das Wunderland spätestens ab dieser Station zu bunt wurde.
 

Tatsächlich wurde die eigenwillige Melodie lauter, je näher er dem Eingang kam; und als er die nur angelehnte Tür öffnete, glaubte er endgültig, in einem bizarren B-Movie der Siebziger Jahre gefangen zu sein.
 

An einem mitten im Raum stehenden, gedeckten Tisch, der länger und unförmiger war als irgendein Tisch, den er bisher gesehen hatte, saß ganz alleine ein schrill gekleideter, brünetter Typ mit Zylinder - offenbar der Hutmacher - über einen leeren Teller gebeugt und nahm immer wieder einen kleinen Schluck aus seiner vermutlich mit Tee gefüllten Tasse, während ein anderer brünetter Typ, dessen Frisur allerdings wesentlich wilder und auffälliger war, in irgendwie mittelalterlich anmutenden Klamotten und mit einer Querflöte bewaffnet durch den gesamten Raum hüpfte. Erst auf den zweiten Blick bemerkte er die langen, braunen Ohren auf seinem Kopf, die ihm wohl nicht aufgefallen waren, weil sie zwischen der gleichfarbigen Haarpracht nicht besonders hervorstachen.
 

Und schließlich entdeckte er in einer Ecke weiter hinten im Raum sogar eine dritte Person, die scheinbar trotz des Lärms seelenruhig mit freiem Oberkörper in einer merkwürdigen Vorrichtung schlief, die möglicherweise ein Hundekörbchen im Teekessel-Look darstellen sollte. Allerdings lag besagte Person so, dass er nur ihre Rückansicht betrachten und somit nicht allzu viel erkennen konnte. Bloß, dass es sich ebenfalls um einen Mann handelte und dass er halblange, dunkle Haare hatte, aus denen - wie könnte es anders sein - graue Öhrchen hervorragten. Anscheinend war es hier Trend, mit niedlichen Tierohren herumzulaufen. Jede Wette, dass das irgendein abgefahrenes Rollenspiel war.
 

Alice räusperte sich, woraufhin als Einziger der Hutmacher aufblickte und ihm Beachtung schenkte. Er versuchte, sich möglichst dezent zu verhalten, als er sein Gesicht sah.
 

Steven Tyler, dachte er für sich, bemüht, ihn auf eine Weise anzusehen, die so wirkte, als würde er einem Fremden gegenüberstehen.
 

„Wen haben wir denn hier?“, trällerte der Hutmacher, nachdem er seine Tasse abgestellt und sich von seinem Platz erhoben hatte. „Etwa einen Gast?“
 

Interessierten Blickes schritt er auf ihn zu, während im selben Moment der Märzhase auf den Tisch sprang und wie ein besessener Indianer über das ordentlich angereihte Geschirr hinwegtanzte. Der Typ in dem Hundekörbchen wälzte sich murrend auf die andere Seite - scheinbar schlief er doch nicht so tief, wie er erst angenommen hatte -, sodass nun auch er besser zu identifizieren war.
 

„Iggy Pop“, murmelte Alice feststellend.
 

„Wie bitte? Ich habe dich nicht verstanden, eine gewisse Flöte macht hier ziemlichen Krach...!“, sagte der Hutmacher, einen scharfen Seitenblick auf seinen ruhelosen Mitbewohner werfend. Er seufzte. „Das macht er jeden Tag. Er glaubt, er könne damit seine verlorene Freundin anlocken. Dabei kann er eigentlich auch schöne Melodien spielen! Aber wenn er erst einmal in seinem Rausch ist...“
 

„Rausch?“, lachte Alice. „Das Wort passt gut zu dem Eindruck, den dieses ganze Land bisher auf mich macht.“
 

Der Hutmacher lächelte wissend, ehe er ihn ausgiebig begutachtete.
 

„Du bist also... neu hier? Willst du dich nicht vorstellen, werter Gast?“
 

„Von mir aus. Ich bin Alice, bin kein Hase und auch keine Katze, sondern ein Mensch... Und ich mag Eiszapfen. Sie schmelzen, wenn man sie jemandem in die Brust gerammt hat.“
 

Schnell schaute der Hutmacher zu dem dösenden Freak in dem Körbchen hinüber, bevor er sich ihm wieder zuwandte.
 

„Soso, interessant. Klingt sympathisch. Aber wenn ich dir einen Rat geben darf“, sagte er, beugte sich etwas vor und fing an zu flüstern. „... Solange du dich hier in unserer bescheidenen, kleinen Hütte aufhältst, solltest du darauf verzichten, das Wort mit 'K' auszusprechen...!“
 

„Das Wort mit 'K'? 'Katze'?“, fragte er leise.
 

„Ja... Das“, antwortete sein Gegenüber deutlich. „Wir haben Glück gehabt, dass die Haselmaus uns nicht gehört hat. Sie hält sich für einen Hund, musst du wissen. Hund und Maus... Wie sie da auf diese gewissen Tiere mit 'K' reagiert, kannst du dir vielleicht denken.“
 

Alice schaute am Hutmacher vorbei zu der ominösen Haselmaus, die sich gerade scheinbar völlig entnervt aus ihrem Körbchen rollte, in einem großen Bogen um den noch immer flötenden Märzhasen herumging und sich zu ihnen schleppte, den Hutmacher mit grimmigem Blick fixierend.
 

„Ist dir mal in den Sinn gekommen, dem Kerl dahinten zu sagen, dass er verdammt nochmal Ruhe geben soll? Da bekommt man ja kein Auge zu...“, beschwerte sie sich mit rauer Stimme.
 

„Nun... Ja, darüber habe ich in der Tat schon nachgedacht“, sagte der Hutmacher. „Aber ich fürchte, das wird nicht viel bringen...“
 

„Dann versuch es wenigstens...! Sprich mit ihm, nimm ihm dieses pfeifende Teufelswerk weg oder zieh ihm eins über - aber bring ihn zum Schweigen!“
 

„Gut. Wie du meinst“, gab er zurück und peilte den ganz in sein Element vertieften Märzhasen an. „Oh, übrigens... Das hier ist Alice. Er ist ein Mensch und mag Eiszapfen.“
 

„Freut mich. Ich hau mich wieder hin“, brummte Mäuschen vor Euphorie strotzend, schlurfte zum Tisch, ließ sich auf einen der Stühle fallen, räumte die Tassen und Teller beiseite und legte sich mit dem halben Oberkörper auf die Tischplatte, als wäre es der bequemste Schlafplatz weit und breit.
 

Der Hutmacher unterdessen schien eine eher einseitige Konversation mit dem Märzhasen zu führen. Jedenfalls zog er ihn an seinem Ärmel, woraufhin der Andere tatsächlich sein wirres Flötenspiel unterbrach und verzweifelt etwas hervorstieß, das sich wie „Maaaaaryyyyy...!!“ anhörte. Es wirkte wie eine Szene, die sich genauso gut in einer Klapse hätte abspielen können.
 

„Ist ja gut“, sagte der Hutmacher sanft, nebenbei nach dem Instrument greifend, das er anschließend ganz unauffällig hinter seinem Rücken versteckte. „Setz dich erst mal mit uns an den Tisch und beruhige dich. Und du, Alice... Nimm ruhig auch Platz! Wir haben nicht oft Gäste, weißt du?“
 

Das wundert mich nicht, dachte er, sprach es aber nicht aus. Schließlich schadete es nicht, sich auch einmal gütig zu zeigen und etwas Nettes zu tun.
 

So saßen sie also kurz darauf zu viert in einer gemütlichen Runde bei Tee und... noch mehr Tee an dem riesigen Tisch, schwiegen eine Weile und wechselten ein paar skeptische Blicke miteinander. Abgesehen von Piepwuff, dessen Augen die meiste Zeit über geschlossen waren, wenn er nicht gerade genervt vor sich hin starrte, weil der Märzhase irgendein unkontrolliertes Winseln von sich gab.
 

„... Mary...“, seufzte er immer wieder leise vor sich hin. Völlig apathisch. Als wäre er geistig an einem ganz anderen Ort. Wahrscheinlich war es unausweichlich, irgendwann so zu enden wie er, wenn man eine Weile in diesem Land verbrachte. Zumindest konnte er sich das gut vorstellen.
 

„Du sollst diesen Namen doch nicht so oft aussprechen“, ermahnte der Hutmacher den Hasen, noch immer geduldig, woraufhin dieser ihn mit einem äußerst eigenartigen Ausdruck in den Augen observierte. Beinahe unheimlich sah es aus.
 

„Warum darf er den Namen nicht aussprechen?“, fragte Alice. „Oh, lass mich raten: Weil er mit 'M' anfängt?“
 

Der Märzhase grinste plötzlich aus unerfindlichen Gründen auf eine mehr als wahnsinnige Weise in seine Richtung.
 

„Er ähnelt ihrem Namen, sagen sie... Dem Namen der Herzkönigin...!“, murmelte er, während er ihn mit seinen irren Augen fixierte. „Die Königin, ja... Ihre liebenswürdige, gutmütige Majestät...! Die Herzkönigin...“
 

„Ja, wir haben es verstanden“, schaltete sich der Hutmacher dazwischen, dem verrückten Häschen freundschaftlich auf die Schulter klopfend. „Und genau deshalb ist es ratsam, gut darauf Acht zu geben, was man sagt... und was nicht. Noch eine Tasse Tee?“
 

„Ich verstehe das nicht“, hakte Alice nach. „Es ist verboten, Namen mit 'M' auszusprechen, nur weil eure komische Königin zufällig mit diesem Buchstaben anfängt? Wie heißt sie überhaupt?“
 

„Hahahohohehe... Niemand weiß es. Nicht einmal sie selbst... hehe!“, kicherte der Märzhase, scheinbar auf einmal gesprächig geworden. Der Hutmacher nickte bestätigend.
 

„Das einzige, was wir wissen, ist, dass sie fast genauso heißt wie... diese Person, die unser werter Genosse hier angeblich seit Ewigkeiten vermisst. Ehrlich gesagt... wissen nur die wenigsten von uns ihren eigenen wahren Namen. An meinen kann ich mich schon lange nicht mehr erinnern.“
 

„Ich könnte euch auf die Sprünge helfen“, hätte er beinahe geantwortet, behielt es jedoch lieber für sich. Diese Leute waren nicht die, die sie zu sein schienen. Das hier war... irgendetwas anderes. Etwas Eigenes. Unerklärliches.
 

Alice betrachtete einen Moment lang seine Tasse. Er konnte Tee nicht ausstehen. Jeden Tag hier zu sitzen und massenhaft von diesem Zeug zu trinken... Kein Wunder, dass hier alle so verwirrt waren.
 

„Mary... Meine liebe Mary, wo bist du nur...?“, flüsterte der Märzhase abwesend. Piepwuff knurrte müde.
 

„Wie oft soll ich es dir noch erklären? Sie kann dich nicht hören!“, sagte der Hutmacher, offenbar zum wiederholten Male. „Wenn du mich fragst, ist deine kleine Freundin ohnehin nur eines deiner Hirngespinste...“
 

„Nein!!“, rief der Hase entschlossen und kippte ein wenig von seinem Tee auf den Boden, als würde er dort unten eine Blume damit gießen. „Ich weiß ganz genau, dass es sie gibt! Ich bin doch nicht verrückt!“
 

Alice versuchte, ein Lachen zu unterdrücken.
 

„Natürlich bist du das nicht“, entgegnete der Hutmacher. „Ganz sicher nicht. Aber wie, glaubst du, sollte es möglich sein, dass hier irgendwo eine Mary existiert? Du weißt selbst, dass es im Wunderland nun mal keine Frauen gibt.“
 

Mit einem Mal verging ihm das Lachen, das er sich kurz zuvor noch mühevoll verkneifen musste.
 

„Keine Frauen...? Im Ernst? In was für einer bescheuerten Welt bin ich hier nur gelandet?!“
 

„Oh, das ist eine gute Frage. Keiner kann genau sagen, was das Wunderland wirklich ist“, erklärte der Hutmacher lächelnd. „Vielleicht die Fantasiewelt eines schwulen Autors. Vielleicht aber auch die Halluzination eines bekifften Fans. Oder aber ein Paralleluniversum, in dem alles möglich ist. Wer weiß das schon...?“
 

„Wenn das so ist. Alle drei Möglichkeiten klingen plausibel“, sagte Alice und war sich selbst nicht sicher, ob er es wirklich so meinte. „Trotzdem... ergibt das für mich alles keinen Sinn. Es gibt hier also keine Frauen. Und was ist mit der Herzkönigin? Ist sie denn keine Frau?“
 

„Das fragst du sie lieber selbst... wenn du dich traust“, gab sein Gastgeber mit einem beunruhigenden Zwinkern zurück.
 

„Es ist... ein eeewiges Mysterium...!“, ergänzte der Märzhase mit geheimnisvoller Stimme.
 

„Verstehe. Ihr habt echt nicht alle Tassen im Schrank.“
 

„... sagt ein geschminkter Typ namens Alice“, brummte Piepwuff, der anscheinend wacher war als er aussah.
 

„Natürlich sind die Tassen nicht im Schrank. Sie stehen ja alle auf dem Tisch“, kommentierte der Hutmacher plötzlich ganz fröhlich. „Aber kommen wir doch mal zu dir, werter Gast. Wir haben so viel von uns preisgegeben. Jetzt bist du dran. Woher kommst du? Was führt dich zu uns?“
 

Alice nahm einen tiefen Atemzug, bevor er ein weiteres Mal seine tragische Geschichte schilderte. Merkwürdigerweise musste er feststellen, dass er sich aus irgendeinem Grund nicht einmal an alles erinnern konnte, was ihm passiert war. Was hatte er eigentlich getan, bevor es ihn hierher verschlagen hatte?
 

„Ich... Ich bin hier gelandet, nachdem ich dem weißen Kaninchen gefolgt bin. Dann habe ich mich mit ein paar Blumen unterhalten und habe das Kaninchen in seinem Haus besucht, es aber relativ schnell wieder alleine gelassen, weil es mir ein wenig unzurechnungsfähig erschien. Das nächste, woran ich mich erinnere, ist ein Wald, in dem ich auf- Moment mal...“, unterbrach er sich selbst, als er sich wieder die Aufgabe ins Gedächtnis rief, die The Catman ihm erteilt hatte. „... Ich war auf der Suche nach drei Personen. Ihr seid drei Personen. Die Grinseka-“
 

„Aaaaah! Da fällt mir ein“, rief der Hutmacher urplötzlich mit gekünstelter Überschwänglichkeit. „Es stehen noch frische Plätzchen in der Küche! Sie müssten mittlerweile abgekühlt sein. Eigentlich habe ich sie für mich selbst gebacken. Heute ist mein Nicht-Geburtstag, musst du wissen. Aber da ich ein so überaus großzügiger Mensch bin, biete ich dir an, auch einen zu probieren! Welch ein Glück für dich, werter Gast! Ich bin sofort wieder da!“
 

„Ähm... okay?“
 

Unsicher, was er von der Situation halten sollte, blickte er zwischen der Haselmaus und dem Märzhasen hin und her, mit denen er nun alleine am Tisch saß. Super. Ein komplett Geistesgestörter und ein Langweiler, der entweder schlief oder an irgendetwas rummeckerte. Der einzige halbwegs Normale in dieser Runde machte sich einfach aus dem Staub.
 

Netterweise kehrte er recht schnell mit einem vollen, bereits von Weitem wahnsinnig intensiv duftenden Blech zu ihnen zurück, nahm wieder Platz und erlöste ihn somit zum Glück von dem gruseligen Blick, den der Märzhase ihm stetig zuwarf. Er kannte diesen Blick. Es gab genau zwei Möglichkeiten, was er bedeuten konnte. Entweder „Du gefällst mir! Komm doch etwas näher!“ oder „Du siehst lecker aus. Komm doch etwas näher...!“. Bei diesem Gesellen tippte er eher auf Letzteres.
 

„Da bin ich wieder! Bedien dich!“, sagte der Hutmacher und stellte das Blech mitten auf den Tisch, sodass jeder herankommen konnte. „Du auch, mein werter Märzhase?“
 

„Nein, danke... Mir ist mehr nach... Fleisch zumute...“
 

„Ich wusste es!“, zischte Alice nervös.
 

„Was wusstest du?“
 

„Ach... Gar nichts.“
 

„So? Nun gut“, sagte der Hutmacher mit freundlicher Miene. „Also dann, sprich ruhig weiter. Entschuldige, dass ich dich vorhin so rüde unterbrochen habe. Ich glaube, du wolltest gerade etwas über die Grinsekartoffel erzählen?“
 

Ein unauffälliger Wink des Hutmachers in Richtung Haselmaus genügte, um zu verstehen, worauf er anspielte. Wie schwierig das Leben zwischen all diesen Freaks doch sein musste. Der reinste Bauernhof war es hier.
 

„Ja... genau. Die Grinsekartoffel...“, fuhr Alice mit seiner Geschichte fort und nahm eines der noch warmen Plätzchen in die Hand, das er von allen Seiten begutachtete, bevor er ein Stück probierte. „... Aber ich glaube, ihr drei seid nicht diejenigen, nach denen ich suche. Die Typen, die ich finden muss, sehen wahrscheinlich... anders aus.“
 

Komischer Geschmack, dachte er. Irgendwie... bitter.
 

„Ich hoffe, meine Plätzchen sind gelungen? Ich hatte kein Rezept, musst du wissen. Ich backe lieber nach Gefühl. Hey, sag mal... Hast du heute eigentlich Geburtstag?“
 

„Was? Ähm, nein...“
 

Was zum Henker hatte der Kerl bloß in diesen Teig hineingeschmissen?!
 

„So ein erfreulicher Zufall! Dann ist es auch dein Nicht-Geburtstag! Alles Gute und meine herzlichsten Glückwünsche!“
 

„Mir ist... schwindelig...“
 

...
 

Düster... Düster und kalt war es. Etwas stimmte nicht. Nur was?
 

„Aaaliiiceee...!“
 

Jemand rief nach ihm. Laut; sehr laut. Die Stimme kam ihm bekannt vor. Viel zu bekannt. Aber das konnte nicht sein...
 

„Kannst du mich hören, Alice?“
 

Die Person schien sich zu nähern. Ihre Stimme hallte durch den gesamten Raum, und doch hatte er das seltsame Gefühl, ihre Präsenz förmlich zu spüren - und zwar nicht weit entfernt. Er drehte sich um. Da stand er. Wie eine blasse Erscheinung lächelte er ihn an, als hätte er die ganze Zeit auf ihn gewartet.
 

„Vincent... Price?“
 

Die Erscheinung lachte dunkel, auf eine Art, die er nur zu gut in Erinnerung hatte .
 

„Ja... ganz richtig. Aber du kannst mich auch 'Master' nennen. Master of Madness... hahahaha!“
 

„Warum? Was hat das zu bedeuten...?“, fragte er zögerlich. „Wo bin ich hier überhaupt?“
 

„Erinnerst du dich etwa nicht an diesen Raum? Denk nach, mein Junge...!“
 

Doch, tatsächlich. Er war schon einmal in diesem Raum gewesen. Erst vor Kurzem... Damit hatte alles angefangen.
 

„Ich erinnere mich. Ich war hier, bevor ich ins Wunderland gelangt bin. Hier habe ich diese Schalter betätigt...!“
 

„So ist es!“, lachte Vincent Price. „Fabelhaft, nicht wahr? Der Raum, der dich in dein Verderben geführt hat... Möchtest du gern wieder zurück?“
 

„Zurück? Ich... weiß es nicht... Wohin denn zurück?“
 

Ohne das leiseste Geräusch dabei zu verursachen trat die Erscheinung auf ihn zu. Es war ein irgendwie unbehagliches Gefühl. Je klarer die Präsenz seines Gegenübers wurde desto mehr schien die Umgebung um sie herum zu verblassen. Sie schien regelrecht grau zu werden. Wie versteinert.
 

„Wohin zurück, fragst du? Sollte die Frage nicht eher lauten: 'Wie komme ich zurück?'...?“
 

Erschrocken warf er einen Blick über die Schulter, als er einen plötzlichen Luftzug hinter sich spürte, und konnte beinahe nicht glauben, was er sah.
 

Die Spiegelwand... Die Wand, durch deren Tür er gegangen war, nachdem er das Rätsel gelöst hatte... Sie war weg! Dort war nichts mehr, nichts als ein gigantischer Abgrund. Nicht einmal ein Boden war dort unten auszumachen...
 

„Die Antwort ist: Es gibt keinen Weg zurück! Weder in die eine noch in die andere Richtung!“, flüsterte die Erscheinung, während sie ihm gefährlich nahe kam, und lächelte, als er reflexartig einen Schritt rückwärts machte, nur noch eine Haaresbreite von der endlosen Tiefe entfernt.
 

„Hast du Angst vor mir?“
 

Alice blickte sich um. Der Raum war nichts weiter als eine farblose Kulisse. Leer.
 

„Aber dazu gibt es doch überhaupt keinen Grund...“, sagte die gespenstische Gestalt, deren Stimme mit einem Mal so laut wurde, dass der Boden unter ihm zu beben begann. „Schließlich bin ich hier, um dir zu helfen!“
 

„Nein...“
 

Viel zu schnell, als dass er es richtig hätte wahrnehmen können, hatte sein Gegenüber sich entmaterialisiert, war einfach entkommen... Wie ein geisterhafter Schleier war er durch ihn hindurch verschwunden und ließ ihn mit zu viel Schwung an der Klippe zurück, ehe er den Halt verlor und in das beängstigende, dunkle Nichts stürzte.
 

...
 

„Alles in Ordnung...?“
 

Alice blinzelte verwirrt, als er merkte, dass jemand mit ihm sprach. Der Hutmacher. Er war es, der mit besorgter Miene auf dem Boden kniete und zu ihm herabsah. ... Zu ihm herab?
 

„Was ist passiert...?“, fragte er und betrachtete irritiert das angebissene Plätzchen, das neben ihm auf dem Teppich lag. Der Hutmacher kicherte unbeholfen.
 

„Nun... Dasselbe könnte ich dich fragen! Du bist plötzlich wie benebelt auf den Tisch gestiegen, hast irgendwelche Wortfetzen vor dich hin genuschelt, auf einmal ganz eigenartig geschwankt... und dann bist du einfach umgefallen. Rumms, auf den Boden.“
 

„Ich bin umgefallen...?“
 

„Man sollte keine Vertrauensübungen machen, wenn keiner hinter einem steht“, brummte die Haselmaus mit einem angedeuteten Grinsen. Der Märzhase kniete ebenfalls dort, den Blick auf die Teepfütze neben dem Tisch gerichtet, so als würde er sich fragen, wie sie dorthin gelangt war.
 

„Danke für den Tip... Werde ich mir merken“, murrte Alice, stand auf und richtete sein verrutschtes Oberteil, ohne sich anmerken zu lassen, wie sehr dieses Szenario von eben ihn beschäftigte. Niemand außer ihm hatte etwas davon mitbekommen, wie es aussah. Aber was hatte das zu bedeuten...?
 

„Liebe Güte!“, staunte der Hutmacher. „Ich bin es ja gewohnt, dass der Eine oder Andere ein wenig seltsam auf meine Plätzchen reagiert... Aber das war speziell.“
 

Fasziniert musterte er das Blech mit dem sonderbaren Gebäck, bevor er schließlich nach einem Stück langte, das er der Haselmaus unter die Nase hielt.
 

„Plätzchen gefällig?“
 

„... Ich hasse Plätzchen. Das solltest du wissen.“
 

„Spießer. Du weißt nicht, was dir entgeht“, entgegnete der Hutmacher, genehmigte sich das Ergebnis seiner schrecklichen Backkunst selbst und deutete mit seiner freien Hand in Richtung des Teekessel-Körbchens, in dem Piepwuff zuvor geschlafen hatte. „Falls du doch mal hungrig wirst... Ich habe deinen Napf vorhin aufgefüllt.“
 

„Zu gütig.“
 

Alice schaute zu den drei Freaks hinüber, die zusammen aussahen wie ein bunt zusammengewürfelter Haufen Hippies, die gerade frisch von einer fragwürdigen Veranstaltung zurückgekommen waren. Er nahm sich vor, nichts von seiner mindestens genauso fragwürdigen Vision zu erzählen. Weder ihnen noch irgendwem sonst. Vermutlich war es besser so.
 

„Ähm... Ich will eure wahrscheinlich äußerst wichtige Konversation ja nur ungern unterbrechen“, sagte er, den Blick auf den Hutmacher gerichtet, weil die anderen beiden ihm zu unsympathisch waren, um von ihm angesehen zu werden. „... Aber ich glaube, ich würde es vorziehen, mich allmählich zu verabschieden und euch wieder alleine zu lassen. Ich habe noch eine... Aufgabe zu erledigen.“
 

„Bist du sicher, dass du schon gehen willst? Wir haben doch deinen Nicht-Geburtstag noch gar nicht richtig zelebriert!“, warf der Hutmacher ein und klang beinahe etwas enttäuscht. „Nicht einmal ein Geschenk hatte ich für dich... Oh, aber das werde ich nachholen! Versprochen!“
 

„Wir wissen ja, was du magst“, sagte Piepwuff trocken. Wunderbar. Es stimmte in der Tat, dass man sich hier zweimal überlegen musste, was man sagte.
 

„Na schön, dann... macht's mal gut“, sagte er, sich langsam aber sicher dem Ausgang zuwendend, als er noch einmal angesprochen wurde.
 

„Alice!“, rief der Hutmacher, dessen ernster Gesichtsausdruck ihn ein wenig verwunderte.
 

„... Ja?“
 

„Sei vorsichtig. Nicht alles ist hier so wie es auf den ersten Blick scheint.“
 

Einen Moment lang stand er schweigend im Raum, dann lächelte er seinen scheinbar besorgten Gastgeber an.
 

„Ich werde auf mich aufpassen“, versicherte er ihm, bevor er sich umdrehte und das Haus der verrückten Tee-Gesellschaft mit einem zweifelhaften Gefühl verließ.

Kapitel 3 - Ritterspiele

Auf seinem Weg zurück zu dem Baum, bei dem die Grinsekatze ihm die drei Abzweigungen erklärt hatte, musste er etwas Erfreuliches und etwas weniger Erfreuliches feststellen:
 

Die Umgebung hatte sich dieses Mal nicht verändert - zumindest war es ihm bisher in keinster Weise aufgefallen, sodass es keine Komplikationen damit gegeben hatte, hierher zurückzufinden.
 

Weniger ein Grund zur Freude war allerdings der Baum. Er war leer. Die Grinsekatze saß nicht, wie er es erwartet hatte, auf dem Ast, um ihm einen weiteren Rat zu geben, jetzt, wo er die eine mögliche Abzweigung untersucht hatte... und sie erschien auch nicht, egal, wie lange er dort stand und wartete.
 

„Toll“, fluchte er leise. „Auf wen ist hier eigentlich Verlass?“
 

Noch einmal zu dem verdammten Topsy Turvy-Haus zurückzugehen kam nicht in Frage. Es hatte nicht den Eindruck gemacht, als gäbe es dort noch irgendetwas anderes als wirre Flötenmusik, Tee und ein paar Irre. Aber wo konnten die drei, nach denen er suchte, sich dann aufhalten?
 

„Wirklich lustig. Warum muss ich mich eigentlich um diesen ganzen Mist kümmern? 'Der Auserwählte'... na klar...“
 

„Gibt es ein Problem?“
 

Von der plötzlichen Frage überrascht drehte er sich um und machte beinahe einen Satz nach hinten, als er der Person, die ihn angesprochen hatte, in die Augen blickte - oder zumindest dorthin, wo ihre Augen von der runden Sonnenbrille verdeckt wurden.
 

Worüber wundere ich mich hier überhaupt so?, dachte Alice, sein Gegenüber unauffällig musternd. Ist doch nur Ozzy Osbourne.
 

Abgesehen von der schwarzen Ritterrüstung, die er trug, und dem prächtigen, ebenfalls schwarzen Schwein, auf dem er ritt, sah er aus wie immer.
 

„Ist alles in Ordnung mit dir, Fremder?“, fragte Ozzy. „Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.“
 

„Vielleicht habe ich das auch...“, murmelte Alice und dachte an die beängstigenden Bilder zurück, die ihn im Haus des Hutmachers heimgesucht hatten. Nein, es waren nicht nur Bilder gewesen. Er hatte seine Anwesenheit gespürt und deutlich seine Stimme gehört. Die Stimme des Geistes... oder was auch immer er war...
 

„Hm“, machte der Ritter, beugte sich von seinem Schwein aus ein Stück zu ihm vor und schnitt aus heiterem Himmel eine ziemlich bescheuerte Grimasse.
 

„Was zum... Was wird das?“, fragte Alice jeglichen Verständnisses entbehrt. Der Ozzy-Verschnitt lächelte heiter.
 

„Ich habe dich aufgemuntert. Und jetzt habe ich was gut bei dir!“, antwortete er wie selbstverständlich.
 

„... Mich aufgemuntert?“
 

Was in aller Welt war mit den Bewohnern dieses Ortes bloß verkehrt gelaufen?!
 

„Fremder... Würdest du mir wohl einen Gefallen tun?“
 

Erwartungsvoll sah er ihn an, dann schlug er sich plötzlich lachend eine Hand vor den Kopf.
 

„Verzeih meine Unhöflichkeit... Ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt! Ich bin der Schwarze Ritter. Im ganzen Land bekannt für meine unvergleichliche Kampfkunst... und meinen ebenso unvergleichlichen Charme“, sagte er und deutete nun auf seinen Gefährten. „Und das ist Black Beauty, mein Kriegs-Schwein und treuer Begleiter.“
 

Das Schwein grunzte bestätigend und starrte aus unschuldigen, schwarzen Kulleraugen in die Gegend.
 

„Ah... ähm... ja, schön“, entgegnete Alice und konnte seinen Blick nur schwerlich von dem 'treuen Begleiter' abwenden. Er war sich nicht sicher, ob der Name des Tieres oder die Bezeichnung 'Kriegs-Schwein' ihm mehr zu denken gab.
 

Eine Weile lang herrschte Schweigen, bis Alice wieder das Wort ergriff, bemüht, sich nicht konstant von dem alle paar Sekunden schnaufenden und im Gras scharrenden Schwein ablenken zu lassen.
 

„Nun gut, Schwarzer Ritter... Da ich ein so gutmütiger Mensch bin werde ich versuchen, Euch zu helfen, wenn ich kann. Was ist Euer Anliegen?“
 

Der Schwarze Ritter seufzte schwer, bevor er sich mit einem verschlagenen Grinsen umschaute.
 

„Ich bin auf der Suche nach dem Weißen Ritter“, sagte er. „Dieser Feigling ist einfach abgehauen, obwohl er sich mit mir noch ein wichtiges Duell zu liefern hat. Nicht das erste Mal, dass er sich davor drückt. Du hast ihn hier nicht zufällig irgendwo gesehen?“
 

„Der Weiße Ritter...?“
 

Unweigerlich musste er daran denken, wie der aufbrausende Jon Bon Jovi-Klon zutiefst bestürzt und übereilt von der Bildfläche verschwunden war, nachdem er ihm, hartherzig wie er war, die Wahrheit über Schwarz und Weiß erklärt hatte.
 

„Wo er jetzt ist weiß ich nicht. Aber vorhin war er im Garten des weißen Kaninchens und hat rumgejammert, von wegen 'Nicht-Farben' und 'Respektlosigkeit gegenüber der Königin' oder so.“
 

„Tatsächlich?“, gab Ozzy zurück. „Das sieht ihm ähnlich. Der Schleimer kriecht vor der Herzkönigin wie ein jämmerlicher Wurm. Dabei hat er in Wirklichkeit nur Angst davor, für jeden falschen Schritt, den er macht, von ihr bestraft zu werden... Dieses Weichei.“
 

„So? Eure Herzkönigin scheint ja nicht gerade eine sonderlich gnädige Person zu sein.“
 

„Oh, so schrecklich ist sie nun auch wieder nicht“, lachte der Schwarze Ritter. „Das heißt... Es kommt ganz darauf an, ob sie dich mag oder nicht. Falls nicht... Nun ja, reden wir nicht darüber. Aber die Chance, dass sie dich kein bisschen mag, ist ohnehin sehr gering. Eigentlich findet sie an jedem ihrer Untergebenen etwas, worüber sie sich amüsieren kann. Zumindest eine Zeit lang.“
 

„... Sehr beruhigend“, antwortete Alice. „Ich nehme an, ich werde früher oder später auch das... Glück haben, sie kennenzulernen, nicht wahr?“
 

Nach allem, was er inzwischen von ihr gehört hatte, fragte er sich wirklich, was für ein Mensch diese ominöse Herzkönigin wohl sein musste - wenn sie überhaupt ein Mensch war. Das konnte man hier schließlich nie sicher wissen.
 

„Ja, das wirst du bestimmt. Es wundert mich, dass du bisher noch nicht ihre Bekanntschaft gemacht hast. Aber ehrlich gesagt habe ich dich auch noch nie zuvor hier gesehen“, sagte der Ritter mit skeptischem Blick und fuhr fort, bevor er sich dazu äußern konnte. „Aber was soll's. Wir sollten versuchen, den Weißen Ritter zu finden. Ich wette, er versteckt sich wieder nur irgendwo, weil er fürchtet, gegen mich zu verlieren. Der Verlierer ist nämlich heute dafür zuständig, ihre Hoheit glücklich zu machen, weißt du.“
 

Von einer akuten Fassungslosigkeit gepackt starrte Alice ihn an.
 

„Erst diese Tier-Rollenspiele, und jetzt das... Was ist das hier? Ein Bordell?“
 

„Wovon redest du...? Ein Bordell? Im Wunderland? Das wäre ja zu schön, um wahr zu sein.“
 

„Aber Ihr habt doch gerade gesagt, dass... der Verlierer...“
 

„Oh, ich glaube, da hast du etwas missverstanden“, kicherte der Schwarze Ritter scheinbar belustigt. „Die Aufgabe des Verlierers ist es, ihrer Majestät heute den restlichen Tag über zu dienen und ihr jeden Wunsch von den Lippen abzulesen. Von Obszönitäten war nie die Rede.“
 

„... Dann rate ich Euch, Euch etwas klarer auszudrücken“, sagte Alice. „Außerdem... will ich gar nicht wissen, welche Art Wünsche Ihre brutale Majestät wohl hegt...“
 

Ritterchen Schwarz schien sich offenbar köstlich über ihre Unterhaltung zu amüsieren. Black Beauty schnaubte zufrieden.
 

„Also dann“, sagte er gut gelaunt. „Würdest du mir helfen, den kleinen Feigling zu finden? Wir könnten uns aufteilen und getrennt nach ihm suchen.“
 

„Von mir aus. Vielleicht sollten wir als erstes in der Nähe der Hütte des weißen Kaninchens nachsehen“, schlug Alice vor. „Allerdings... wäre es mir lieber, wenn wir auf dem Weg dorthin zu zweit bleiben würden. Nicht, weil ich befürchte, ich könnte mich verlaufen, falls Ihr das denkt... sondern... einfach so.“
 

Wie es aussah war sein Gegenüber damit einverstanden, und so kam es, dass sie kurz darauf gemeinsam ein erneutes Mal Hasis Gärtchen aufsuchten. Wenn er ihm behilflich war... Möglicherweise würde er ihm danach ja auch helfen, was seine drei noch zu findenden Personen betraf. Wenn er sie erst ausfindig gemacht und somit den Schlüssel zum Schlossgarten erhalten hatte, würde er der Herzkönigin begegnen; und sie wiederum war aller Wahrscheinlichkeit nach der Schlüssel, der ihn wieder aus diesem Ort hinausführen und die ganze Sache beenden würde. Im übertragenen Sinne zumindest.
 

„Da wären wir“, verkündete Ritter Osbourne und schwang sich elegant von seinem Schwein, vermutlich um sich heimlicher fortbewegen zu können, wenn er versuchte, seinen Rivalen zu überrumpeln. „Ich schlage vor, du suchst erst einmal die Gegend links der Hütte ab, und ich suche rechts. So wie ich den Kerl kenne war er nie besonders kreativ mit seinen Verstecken. Obwohl das Wunderland so groß ist und theoretisch an jeder zweiten Ecke einen Unterschlupf bietet, in den man sich verkrümeln könnte. Aber nein - er wählt meist die simpelsten Gegebenheiten, um vor mir abzuhauen.“
 

Warum sucht Ihr ihn dann nicht alleine, wenn es so einfach ist, dachte Alice, sparte sich den Kommentar jedoch. Mit einem Bewohner dieses Psycholandes zu diskutieren war wahrscheinlich genauso sinnvoll wie einen Waldorfschüler darum zu bitten, seinen Namen zu buchstabieren.
 

„Gut, ich werde mich auf der linken Seite umsehen“, sagte er schließlich, lief in besagte Richtung und fügte hinzu: „Viel Erfolg dann mal da drüben... und passt auf, dass niemand Euer Schwein klaut!“
 

Ein letztes Mal nickte der Ritter ihm lächelnd zu, bevor er auf der anderen Seite verschwand und ihn alleine zurückließ.
 

Kopfschüttelnd betrachtete Alice die unendlich weit scheinende Kulisse vor sich, ehe er damit anfing, von einem möglichen schlechten Versteck zum nächsten zu laufen. Mittlerweile glaubte er, seinen Beruf verfehlt zu haben. Er hätte Kindergärtner werden sollen. Dann würde er vermutlich die gleichen Dinge tun, nur wäre es wesentlich weniger absurd, nach ein paar kleinen Kindern zu suchen als sich mit den fragwürdigen Problemen irgendwelcher Ritter in Gestalt irgendwelcher Sänger zu befassen.
 

Nach ungefähr zwei Minuten unglaublich spaßigen Hin-und-Her-Laufens war er sich sicher, dass es schlimmer nicht mehr werden konnte, als er unerwartet eine flüchtige Bewegung hinter einem Baum wahrnahm, der nur wenige Meter entfernt von ihm wuchs. Hoffnungsvoll näherte er sich dem Baum, dessen rot-violett-gemusterte Blätter ihm inzwischen schon gar nicht mehr sonderlich auffielen, und tatsächlich - die Zielperson stand allen Ernstes dort, scheinbar der Meinung, ein freundliches „So sieht man sich wieder...!“ würde ihre Situation weniger peinlich machen.
 

„'So sieht man sich wieder'?“, wiederholte Alice spöttisch. „Ehrlich jetzt? Ich nehme an, du weißt ziemlich gut, warum ich hier bin. Und mal unter uns: Sich hinter einem Baum zu verstecken ist nicht sehr originell, findest du nicht?“
 

Ritterchen Weiß grummelte beleidigt.
 

„Ich muss doch sehr bitten...! Was erlaubst du dir eigentlich? Und überhaupt... Einem edlen Ritter gegenüber hat man sich respektvoll zu verhalten! Ganz besonders ein niederes Wesen wie du!!“
 

„Ach ja? Warum hat denn der edle Ritter eigentlich kein edles Ross? Gehört das nicht irgendwie dazu?“
 

„Tja, weißt du...“, begann er niedergeschlagen. „Einst besaß ich ein wunderschönes und anmutiges Ross, meiner eigenen Schönheit beinahe gleichkommend... bis der Schwarze Ritter meinte, sich einen grotesken Scherz mit mir erlauben zu müssen - und dann hat die dumme Sau es einfach mit Haut und Mähne verschlungen!“
 

„Ozzy- ich meine, der Schwarze Ritter hat Euer Pferd gefressen? Ich dachte immer, ihm wären Fledermäuse lieber...“
 

„Nicht der Schwarze Ritter! Sein vermaledeites Schwein!“, rief Ritterchen Weiß verärgert und warf sich danach schnell eine Hand vor sein edles Mundwerk, offenbar über seine eigene unkontrollierte Lautstärke schockiert.
 

„Apropos Schwarzer Ritter...“, sagte Alice subtil. „Eure anmutige Ritterlichkeit hat sicher nicht vergessen, dass da draußen noch ein wichtiges Duell wartet, nicht wahr?“
 

Der Bon Jovi-Verschnitt seufzte hörbar genervt, beugte sich kurz hinter dem Baum hervor, wohl um die nähere Umgebung auf unerwünschte Beobachter zu untersuchen, und wandte sich ihm dann wieder mit ernster Miene zu.
 

„Ich kann mich nicht duellieren. Ich habe noch eine Verabredung... mit Tommy und Gina.“
 

„Wer sind Tommy und Gina?“
 

„... Das tut nichts zur Sache!“, knurrte er gereizt. „Ach, weißt du was? Machen wir es doch ganz einfach so...“
 

Interessiert beobachtete Alice, wie der Andere sich bückte und einen recht großen, runden Stein von der Wiese aufhob, auf den er mit einem roten Filzstift - wo auch immer er den plötzlich hergenommen hatte - etwas Undefinierbares kritzelte. Etwa fünf Sekunden später drückte er ihm den Stein in die Hand, mit den Worten „Hier! Das zeigst du dem Schwarzen Ritter und sagst ihm, die Herzkönigin hätte mich geköpft. Dann muss ich mir zwar ein langfristigeres Versteck einfallen lassen, aber wenigstens habe ich dann endlich meine Ruhe...!“.
 

Alice wusste nicht, ob er lachen oder einfach nur staunen sollte, als er sich den Stein von Nahem besah. Zwei nebeneinander liegende Kreuze, die wohl tote Augen darstellen sollten, und darunter ein nach unten gezogener Mund waren mit viel Fantasie darauf zu erkennen. Eingehend betrachtete er das Gesicht des Weißen Ritters, während er den bemalten Stein daneben in die Luft hielt.
 

„Ja... Die Ähnlichkeit ist unverkennbar.“
 

„Wirklich?“, stieß sein Gegenüber freudig hervor. „Hah! Ich habe schon immer geahnt, dass ein talentierter Künstler in mir steckt. Wahrlich, ich bin immer wieder beeindruckend!“
 

„Mhhmm... Echt toll.“
 

Und schon sah er sich in seiner Vermutung bestätigt. Das hier war wirklich ein Kindergarten.
 

„Na, los! Worauf wartest du? Geh schon und überbringe dem Schwarzen Rabauken die vernichtende Nachricht! Ach, und... sorge dafür, dass er nicht zu diesem Baum kommt!“
 

Tu dies, tu das, dachte Alice. Wenn er so darüber nachdachte, konnte das Wunderland dringend so etwas wie ein Dienstmädchen gebrauchen.
 

„Bin schon weg“, sagte er geduldig. „Bis dann, Eure Selbstverliebtheit!“
 

Bereits nach kurzer Zeit hatte er Ritter Osbourne wiedergefunden. Allerdings war er auch schwer zu übersehen. Er stand direkt bei seinem Schwein, das er vor der Hütte des weißen Kaninchens geparkt hatte und das anscheinend gut genug abgerichtet war, um brav auf ihn zu warten.
 

„Wie ich sehe seid Ihr noch immer tatkräftig am Suchen“, sagte er sarkastisch, als er ihm nahe genug gekommen war, dass er ihn hören konnte.
 

„Oh, also... ja, ich habe die Gegend in der Tat sehr genau unter die Lupe genommen, konnte den Kerl aber auf die Schnelle nirgends entdecken. Und dann habe ich gehört, wie Black Beauty nach mir gerufen hat. Da musste ich natürlich sofort herbeieilen!“, erklärte Ritterchen Schwarz, während er seine Pferde fressende Bestie zwischen den Ohren kraulte. „Und wie sieht es bei dir aus? Hast du irgendetwas in Erfahrung gebracht?“
 

„Und ob ich das habe.“ Alice streckte ihm den kunstvoll bemalten Stein entgegen. „Das hier.“
 

„... Was ist das?“, fragte der Schweinebändiger mit ratloser Miene.
 

„Der Kopf des Weißen Ritters“, entgegnete er knapp.
 

Ritterchen Schwarz sah ihn entgeistert an.
 

„Ehrlich?!“, entkam es ihm schockiert. „Wo hast du den her?“
 

„Der Weiße Ritter hat ihn mir gegeben.“
 

Es war herrlich, wie sein Gesichtsausdruck sich im Bruchteil einer Sekunde von purer Fassungslosigkeit in absolute Verwirrung verwandelte - trotz der Sonnenbrille eindeutig erkennbar.
 

„Also... Wenn er ihn dir gegeben hat... Das heißt... Er lebt noch?“, fragte er zögerlich, auf sein bejahendes Nicken hin plötzlich wieder ganz entschlossen. „Dann kann er sich auch mit mir duellieren. Mit faulen Ausreden kann ja jeder kommen!“
 

„So sieht's aus.“
 

„Hoffentlich ist er mir ohne Kopf überhaupt noch ebenbürtig... Obwohl ich seine ritterliche Rübe ja irgendwie etwas anders in Erinnerung hatte. Nicht so grau und... steinig“, murmelte er leise.
 

Wenn das wirklich deren Ernst war, dann war den Typen echt nicht mehr zu helfen. Aber gut. Wahrscheinlich hatten sie andere Qualitäten. Irgendwo verborgen.
 

„WEIßER RITTER!!!“, brüllte der Ozzy-Verschnitt aus heiterem Himmel mit einer ohrenbetäubenden Inbrunst. „ICH WEIß, DASS IHR HIER IRGENDWO KOPFLOS IN DER GEGEND RUMSTEHT, ALSO KOMMT RAUS AUS EUREM VERSTECK UND STELLT EUCH EURER PFLICHT!!!“
 

„Gütiger Mist, lauter ging es nicht, oder...?“
 

„Hehe, tut mir leid. Aber schließlich soll er mich ja auch ohne Birne gut hören können“, erklärte er, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. „Gleich wird er kommen und sich seinem Schicksal stellen... und dann wird er sich von mir gnadenlos in die Flucht schlagen lassen, wie immer! Hey, willst du nicht noch einen Moment bleiben und dir unser Duell ansehen? Ich verspreche, es wird dich umhauen!“
 

„Nein, danke. Vielleicht ein andermal“, lehnte er höflich ab und wandte sich kurz in die Richtung, aus der er gekommen war, um zu prüfen, ob er noch einigermaßen den Überblick behalten hatte. „Ich habe noch einiges zu tun. ... Ach! Bevor ich es vergesse... Ihr könnt mir nicht zufällig sagen, wo ich hier drei schwarz-weiß-geschminkte Typen finde, die der Grinsekatze ähneln?“
 

„Der Grinsekatze? Drei Typen? Lass mich kurz überlegen... Nein, ich fürchte, darüber weiß ich nichts.“
 

„Überhaupt nichts? Das gibt es ja nicht... Na gut. Da kann man wohl nichts machen“, gab er langsam aber sicher ein wenig frustriert zurück. „Also dann... Viel Spaß bei eurem Kampf. Man sieht sich... vielleicht.“
 

Möglichst rasch verließ Alice die potentielle Arena, bevor der Weiße Ritter, das Schwein oder sonst wer noch auf die Idee kommen konnten, ihn in irgendeiner Art und Weise in ihre Streitigkeiten einzubeziehen. Das musste nun wirklich nicht sein. Allerdings interessierte es ihn jetzt doch, ob der vermeintlich kopflose Weiße Ritter überhaupt den Mumm hatte, dort aufzukreuzen.
 

Zu seiner Überraschung stellte er, als er sich noch einmal umdrehte, fest, dass seine anmutige Ritterlichkeit tatsächlich vor Ort erschienen war. Er konnte beobachten, wie Ozzy scheinbar völlig irritiert gestikulierte - vermutlich, weil seinem Gegner entgegen seiner Erwartung nichts fehlte -, Bon Jovi anscheinend irgendetwas zu seiner Verteidigung vorbrachte und sie schließlich ehrenhaft aufeinander zutraten. Von dem, was sie sagten, konnte er nichts verstehen, dafür stand er zu weit weg. Stattdessen sah er, wie beide gleichzeitig anfingen, wie bei einem seltsamen Tanz mit den Armen zu fuchteln, bevor sie jeweils eine zu verschiedenen Symbolen verformte Hand von sich streckten. Es dauerte ein wenig, bis ihm dämmerte, was die beiden Witzfiguren da veranstalteten.
 

Das ist ihr wichtiges, spektakuläres Duell? Sie spielen 'Papier, Stein, Schere'?“, murmelte er und beobachtete halb fasziniert halb verstört, wie der Weiße Ritter plötzlich voller Euphorie die Fäuste in die Höhe riss und schwungvoll um seinen Rivalen herumtänzelte. Offenbar hatte er gewonnen. Ozzy schien seine Niederlage jedoch gelassen zu sehen. Er machte nicht den Eindruck, als wäre das Ganze für ihn eine große Sache. Warum auch? Mit ihm kam die dubiose Herzkönigin ja anscheinend wunderbar aus. Wie gut genau wollte er sich lieber nicht allzu lebhaft vorstellen.
 

Ohne ein konkretes Ziel vor Augen lief Alice durch die idyllisch-verquere Landschaft, mit jedem Schritt, den er machte, dem beklemmenden Gefühl der Hoffnungslosigkeit wieder etwas näher.
 

Warum war er eigentlich hier? Welchen Zweck erfüllte seine Anwesenheit zwischen all diesen Verrückten? Und wie lange war er überhaupt inzwischen in dieser verdrehten Irrenanstalt gefangen? Wenn er so darüber nachdachte, hätte er es um keinen Preis sagen können. Es konnten Stunden, aber auch Tage oder Wochen sein, die mittlerweile wie unstete Rauchwolken an ihm vorübergezogen waren. Er hatte keine Ahnung. Die einzige Sache, derer er sich sicher war, war, dass er hier nie wieder herauskam.
 

Beinahe hätte er laut losgelacht über die skurrile Situation, in die er sich da manövriert hatte - wäre es nicht so tragisch gewesen. So entfleuchte ihm nur ein leises, verzweifeltes Kichern, das ihn sich wundern ließ, ob er sich allmählich der Umgebung anpasste und selbst zu einem Wahnsinnigen wurde.
 

„Was ist denn so lustig, Sir?“, hörte er jemanden fragen, der, der Stimme nach zu urteilen, direkt hätte vor ihm stehen müssen. Aber da war niemand. Drehte er jetzt komplett durch?
 

Hinter ihm war ebenfalls keiner zu sehen, der irgendetwas zu ihm hätte gesagt haben können. Was, um alles in der Welt, ging hier-
 

„Ach, du heilige...!“
 

„Haben wir Sie erschreckt?“, grinsten die beiden Gestalten, die ihm - wie auch immer sie das gemacht hatten! - plötzlich gegenüberstanden, als er gerade hatte weitergehen wollen. Dann hatte er es sich also doch nicht eingebildet. Beruhigend.
 

„Ein bisschen vielleicht“, sagte er betont abgeklärt. „Wobei normalerweise eher ich derjenige bin, vor dem sich andere erschrecken.“
 

„Ehrlich? Na sowas...“
 

„Moment mal!“, entfuhr es ihm, als ihm etwas verspätet klar wurde, wen oder was er da eigentlich vor sich hatte. „Ihr seid...“
 

Kein Zweifel. Das waren zwei der drei verdammten Freaks, nach denen er suchen sollte! Diese Outfits und das Make up waren unverkennbar.
 

„Ja, ganz richtig“, sagten sie beide gleichzeitig mit beinahe unerträglich fröhlicher Stimme. „Wir sind Fideldum und Fideldei, die lustigen Zwillinge! Auch bekannt als 'The Starchild' und 'The Spaceman', hahaha!“
 

„Ich kann euch sagen, was ihr seid. Ihr seid Paul Stanley und Ace Frehley. Und außerdem seid ihr... bekloppt.“
 

„Ace... Das reimt sich auf... Space! Huhuhu!“, kicherte einer der beiden auf eine mehr als bedenkliche Art. Hier kam eindeutig jede Hilfe zu spät.
 

„Ihr gehört doch zur Grinsekatze, oder?“, fragte Alice, ohne wirklich eine Antwort zu erwarten. Es stand ohnehin fest, dass die Zwei die Richtigen waren. „Ich hatte schon fast die Hoffnung aufgegeben, euch zu finden... und jetzt lauft ihr mir einfach so über den Weg. Anscheinend habe ich heute wohl doch noch ein bisschen Glück.“
 

„Glück? Gutes Stichwort, Sir!“, rief Fideldum oder Fideldei - wer auch immer jetzt wer war -, jedenfalls der mit dem aufgeschminkten Stern über dem Auge. „Kennen Sie die Geschichte von dem einsamen Astronauten, der sein Glück auf dem Zirkus-Planeten suchte?“
 

„Nein... und ich will sie auch gar nicht kenn-“
 

„Das war nämlich sooo, wissen Sie“, sprach der Kerl munter weiter, ohne ihn zu Wort kommen zu lassen. „Es gab einen traurigen Astronauten, den niemand liebte und der immer alleine war. Sein Name war Major Tom. Doch eines Tages beschloss Major Tom, die Erde zu verlassen und da draußen nach der Liebe zu suchen. Nicht wahr, Fideldei?“
 

„So ist es, Fideldum!“, gab der Andere übertrieben gut gelaunt zurück. „Major Tom begab sich auf eine lange Reise; er flog hinaus ins All. Alle sagten ihm, er hätte 'ne Meise, doch das war ihm ganz egal!“
 

Toller Reim, dachte Alice. Bin beeindruckt.
 

„Oh nein!!“, rief The Starchild plötzlich mit unheilvoller Stimme. „Hätte er bloß auf die anderen gehört... Denn auch dort oben wurden seine Wünsche nicht erhört! Ein Zirkus war es, den er dort fand, voll düsterer Gesellen - wie ein Albtraumland!“
 

„Gefühllose Monster - Kreaturen der Nacht - lebten unerkannt dort und strebten nach Macht“, erzählte The Spaceman weiter. „Sie heuchelten Liebe, doch brachten nur Schmerz und stahlen dem Major sein einsames Herz!“
 

„Er kehrte zurück als veränderter Mann... und niemand weiß nun, ob er je sich besann“, fügte Fidel-Sternchen hinzu, seinem angeblichen Bruder betroffen zunickend.
 

„Großartig“, sagte Alice kaum merklich sarkastisch. „Rührende Geschichte. Dürfte ich jetzt vielleicht mal kurz-“
 

„Haaalt! Nein, nein, Sir! Die Geschichte war keinesfalls schon zu Ende!“
 

„Sie sollten sie sich bis zum Schluss anhören, Sir! Es könnte wichtig sein... für Sie... und uns!“
 

„Ich kann mir kaum vorstellen, dass es für mich wichtig ist, welcher außerirdische Tand sich unerkannt in irgendeinem Zirkus-Land befand. Alles, was ich wissen will, ist, wie ich es in diesem Leben noch schaffe, zur Herzkönigin zu gelangen!“, sagte er mit einem langsam aufkommenden Anflug von Ungeduld. Warum war verflucht nochmal kein einziger Bewohner dieses Ortes dazu in der Lage, ihm schlicht und einfach eine klare Antwort zu geben?
 

„Zur Herzkönigin wollen Sie?“, fragte The Spaceman als wäre es irgendwie abwegig. „Dazu brauchen Sie unsere Karten, Sir!“
 

„Eure Karten? Verstehe... Von der Grinsekatze habe ich auch so eine komische Karte bekommen“, murmelte er und zog das Stück, auf dem ein verschnörkeltes 'K' abgebildet war, aus seiner Jackentasche. „Ihr habt also auch sowas? Und wozu ist das gut?“
 

„Das werdet Ihr noch früh genug herausfinden, Auserwählter“, entgegnete The Starchild auf einmal ganz demütig. Woher wusste der Kerl jetzt schon wieder von dieser 'Der-große-Auserwählte'-Sache?
 

„Ähm... okay. Schön. Dann lasst mal rüberwachsen“, sagte Alice leicht verunsichert.
 

„Das werden wir! Aber zuerst...“, grinsten die beiden Freaks und nickten sich verschwörerisch zu, „... müssen Sie uns fangen!“
 

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren waren die ach so lustigen Zwillinge mit einem Mal verschwunden. Einfach so. Aufgelöst im Nichts. Eben waren sie noch da, und nun ließen sie ihn von einem Moment auf den anderen völlig ratlos zurück, wahrscheinlich innerlich darüber lachend, dem Auserwählten einen richtig witzigen Streich gespielt zu haben. Richtig, richtig witzig.
 

„... Das gibt es nicht! Mir war gleich klar, dass das Ganze irgendeinen Haken hat!“
 

Mit wachsamem Blick machte er ein paar Schritte auf die Stelle zu, an der Fideldum und Fideldei bis eben noch gestanden hatten, schaute nach links und rechts und langte neben sich nach der Luft. Leider offenbar ein Fehlgriff.
 

„Das habt ihr euch so gedacht, wie? Aber ihr unterschätzt mich!“, rief er von einem plötzlichen Ehrgeiz gepackt. „Mir ist es egal, ob ihr unsichtbar seid... Ich kriege euch trotzdem!“
 

Ständig Ausschau nach einer Bewegung oder Ähnlichem haltend untersuchte er jeden kleinsten Winkel und graste jeden noch so abgelegenen Fleck des Wunderlandes ab, lief erneut an den singenden Hippie-Blumen vorbei und wieder zurück, immer konzentriert darauf achtend, bloß nichts zu übersehen. Irgendwann, nach einem bisher erfolglosen Fangspiel ohne auch nur den geringsten Hinweis, doch ein wenig entmutigt lehnte er sich gegen einen kahlen Baum inmitten eines dunklen Waldes. Er brauchte einen Augenblick Pause.
 

Wohin konnten die beiden sich zurückgezogen haben? Oder waren sie etwa die ganze Zeit in seiner Nähe und beobachteten ihn, während er vergeblich versuchte, sie zu finden?
 

Kurz sah er sich um. Vermutlich hatte er sich selbst überschätzt. Jemanden zu fangen, der sich ohne Weiteres unsichtbar machen konnte, war nahezu... unmöglich.
 

„Ich schwöre euch... Falls ich euch jemals kriegen sollte, könnt ihr euch darauf gefasst machen, dass ich euch eigenhändig auseinandernehme und mit euren Gedärmen meine Outfits schmücke. Oh, aber vielleicht... würden sie sich auch gut als Bühnen-Utensilien eignen“, überlegte er leise, ehe ihm etwas auffiel, das ihm bis jetzt wahrscheinlich aufgrund völliger Übermüdung entgangen war. Der Baum, an dem er lehnte... Es war der Baum, auf dem The Catman gesessen hatte, bevor er dem verrückten Hutmacher und seinen noch verrückteren Freunden einen Besuch abgestattet hatte. Aber etwas war anders. Die Abzweigung, die er bisher nicht hatte einschlagen können, weil es dort angeblich nicht weiterging - sie sah nicht mehr so aus wie beim letzten Mal, das er hier war.
 

„Interessant“, sagte er zu sich selbst, als er auf den zuvor nicht existenten Pfad zuschritt. „Scheint so, als wäre diese Richtung jetzt passierbar.“
 

Mit noch immer geschärften Sinnen ging er den neu hinzugekommenen Weg entlang, der ihm ein gewissermaßen bedrohlich wirkendes, von allerlei merkwürdigen Pflanzen bewachsenes Waldstück offenbarte, das sicherlich für jeden gruseligen Abenteuerfilm der perfekte Drehort gewesen wäre. Eines konnte man über das Wunderland definitiv sagen: Es hätte sich prima als Urlaubsziel für entdeckungsfreudige Menschen gemacht - wäre da nicht der Nachteil, dass es kein Rückfahrticket gab.
 

„Alice...!“, vernahm er schwach eine bekannte Stimme, und einen winzigen Augenblick lang, in dem er absolut nicht damit gerechnet hatte, erkannte er einige Meter vor sich die beiden, die er die ganze Zeit über zu fangen versuchte. Jedoch waren sie so schnell wieder verschwunden, dass er keine Chance gehabt hätte, sie zu erwischen, selbst wenn er sofort reagiert hätte und ihnen hinterhergerannt wäre.
 

„Mist! Die finden das echt zum Totlachen, was? Saftsäcke...!“
 

Wenigstens wusste er jetzt, dass er hier richtig war und sie nicht vollständig aus den Augen verloren hatte... nun ja, wie auch immer man das sehen wollte.
 

Gemächlich besah er sich seine Umgebung genauer - schließlich eilte es ihn ja nicht - und blickte sich irritiert nach allen Seiten um, als er glaubte, ein leises Röcheln aus der Ferne zu hören. Ob es da wohl einer armen Kreatur so erging wie ihm, die deshalb gerade aus lauter Frust jemand Dahergelaufenen erdrosselte?
 

Neugierig, woher die erstickten Laute kamen, folgte Alice den Geräuschen, bis sie immer lauter wurden. Und was er dann fand, nachdem er sich eine Weile lang durch das dichte Geäst geschlagen hatte, war ganz und gar nicht das, was er erwartet hatte. Dort war kein Mörder, der gerade sein Opfer strangulierte. Es war nicht einmal ein Mensch geschweige denn mehrere, die er dort im hohen Gras kriechend vorfand.
 

Sondern eine Schlange.

Kapitel 4 - Falsches Spiel

Eine Schlange...?, dachte Alice und blickte das sich windende Tier im Gebüsch fassungslos an. War es überhaupt möglich, dass ein Tier derart humane Laute von sich gab? Er hatte in seinem Leben schon einige Bekanntschaften mit verschiedensten Schlangen gemacht, aber niemals hatte er ein Exemplar dermaßen röcheln hören.
 

„Hsssssssss...! Ssssso eine... verflixxxxte... Grützzzzze...!!“, ächzte das Tier zornig, was seine Fassungslosigkeit noch einmal um das Doppelte steigerte. „Hey, Sssssie da...! Sssstehen Ssssie da nicht ssso rum... Helfen Ssssie mir...!“
 

„Klar. Eine sprechende Schlange. Eigentlich nichts Besonderes in einem Land, in dem bärtige Blumen 'San Francisco' singen“, murmelte er, während er näher an das keuchende Etwas herantrat und sich zu ihm herunterbeugte. Es hörte gar nicht auf zu husten. Schrecklich klang es. Als würde es versuchen, irgendetwas auszuwürgen, das ihm im Halse steckengeblieben war - sofern man hier von so etwas wie einem Hals sprechen konnte.
 

„Ssssie... Gut, dassssss Ssssie da sssind“, zischte die Schlange schwerfällig. „Ich habe... mich verschhhhluckt... an einem Vogel... und ich kriege dasss verflixxxxte Viech einfach... nicht mehr raussss...! Bitte tun Ssssie etwasss!“
 

„An einem Vogel verschluckt? Oh“, gab Alice mitleidig zurück. Er konnte es nicht ertragen, eine Schlange leiden zu sehen. Es stand fest, dass er ihr zur Hand gehen musste - oder was auch immer. „Was soll ich tun?“
 

„Bringen Ssssie... mich zzzum... Lachen...!“
 

Okay. Damit hatte er nicht gerechnet.
 

„Ich soll... ähm... ja. Einen Moment!“, sagte er, fest entschlossen, das arme Geschöpf irgendwie zu retten, und überlegte einige Sekunden lang, ehe er sich seinem am Boden liegenden Gegenüber wieder zuwandte. „ Also... Was sagt die eine Kerze zur anderen?“
 

„Ich... weissssss nicht...“
 

„'Wollen wir zusammen ausgehen?'“
 

Erwartungsvoll starrte die Schlange ihn an, so als würde sie noch auf die Pointe warten.
 

„... Wiessssso?“, fragte sie verständnislos, noch immer reichlich besorgniserregend keuchend.
 

„Äh... ach, nur so. Macht nichts. Vielleicht einen anderen“, sagte er nachdenklich, bemüht, sich so schnell wie möglich etwas einfallen zu lassen. Aber es war nicht gerade ein leichtes Unterfangen. Er hatte sich noch nie in der Lage befunden, einer erstickenden Schlange einen Witz erzählen zu müssen. „Oh Mann... Ähm... Kommt 'ne Frau beim Arzt...? Ach nein, ihr kennt ja hier keine Frauen...“
 

„Wassss für ein Unfug...! Sssselbssstverssständlich weissss ich... wasss eine Frau issst... Und jeder andere hier... wahrschhhheinlich auch...!“, presste das Tier zwischen seinen fürchterlichen Hustenanfällen hervor.
 

„Aha? Aus Erzählungen?“, entgegnete Alice und dachte daran zurück, was der Hutmacher ihm über das Wunderland und das Verschwinden einer möglicherweise erfundenen Mary erzählt hatte. Die Aussagen der einzelnen Freaks schienen sich erstaunlich häufig zu widersprechen. „Ehrlich gesagt... finde ich das alles ja sehr kurios. Was macht ihr hier eigentlich ohne Frauen? Wo kommt ihr dann überhaupt her? Oh, lass mich raten... Ihr wurdet von den Bäumen geboren! Nein, warte, noch besser: Die Herzkönigin hat euch alle der Reihe nach... ausgespuckt!“
 

„Hsssss... Ausssgessspuckt...? Dasss... issst einfach... hihihi... zzzu komischhh!“
 

„Ich wette, sie ist hier die große Mutter der Nation“, grinste er amüsiert. „Wobei ich es mir schwierig vorstelle, sich um so viele gestörte Kinder zu kümmern. Besonders der Weiße Ritter war sicher sehr schwer erziehbar.“
 

„Oh jaaa... Hihihiii... Besssstimmt...!“, kicherte die Schlange ungehalten, seine Meinung über gewisse kopflose Personen offenbar teilend. „Hehehe... Ich kann nicht mehr... Hahahahaha... GRÖARGH!“
 

Seinen Augen kaum trauend musterte Alice die kleine Taube, die mit einem Mal zum Vorschein gekommen war und sich völlig perplex in der Gegend umblickte. Erstaunlicherweise schien sie unversehrt - im Gegensatz zu ihrem geschuppten Jäger, der jetzt mit Sicherheit ganz heiser geworden war -, und im nächsten Moment hatte sie auch schon ihre Flügel ausgebreitet und sich aus dem Staub gemacht.
 

„Wie unhöflich! Nur wegen meiner Hilfe konnte sie jetzt wegfliegen, und ich bekomme kein einziges Wort des Dankes.“
 

„Hssss, mein Herr... Haben Ssssie etwa schhhhon mal eine sssprechende Taube gesssehen?“, fragte die Schlange, so als würde sie mit einem Verrückten reden.
 

„... Nein. Habe ich noch nie. Wie absurd wäre das denn auch bitte? Sprechende Tauben, haha, witzig!“, lachte er, innerlich hoffend, es hier herauszuschaffen, solange er noch normal war. Wer wusste schon, wie schnell man inmitten dieser knallbunten Gesellschaft den Verstand verlor? Wahrscheinlich schneller als ihm lieb war. Um einiges schneller.
 

„Übrigensss... Vielen Dank, Fremder!“, zischte die Schlange, inzwischen deutlich lebhafter. „Dürfte ich erfahren, wer mir dassss Leben gerettet hat?“
 

„Ich bin Alice. Auch bekannt als... der Auserwählte“, antwortete er dezent ironisch.
 

„Der Aussserwählte? Sssossso...“
 

Eine Weile des Schweigens verging, bis sein äußerst ungewöhnlicher Gesprächspartner irgendwann wieder das Wort ergriff.
 

„Würde esss dem Aussserwählten etwasss ausssmachen, mir zzzu sssagen, wohin er eigentlich vorhat zzzu gehen?“
 

„Ich bin auf dem Weg zur Herzkönigin... wenn man so will“, sagte er. „Aber ich glaube, bevor ich endlich zu ihr gelassen werde, muss ich noch einen Haufen Prüfungen bestehen, Aufgaben lösen, dies und das tun... Momentan bin ich noch damit beschäftigt, nach den liebenswürdigen Zwillingen Fidelbums und Fideltäterä zu suchen... oder wie die hießen.“
 

„Oh, interessssant. Lassss mich dir einen Vorschhhlag machen“, begann die Schlange mit Geschäftsstimme. „Ich tue mein Bessstesss, dir bei deiner Sssuche zzzu helfen, und im Gegenzzzug nimmssst du mich mit und bringssst mich der Herzzzkönigin zzzurück! Ihr gehöre ich nämlich, weisssst du? Ssseit Ssstunden bin ich schhhon auf dem Heimweg, aber ich habe peinlicherweissse die Orientierung verloren. Sssie vermisssst mich sssicher schhhon...“
 

„Wenn es sonst nichts ist... kein Problem“, antwortete er lächelnd, bevor er die Schlange, die aus dankbaren, gelben Augen zu ihm aufschaute, vorsichtig hochhob und sie sich mit einem nur allzu vertrauten Gefühl um die Schultern hängte. Ihre weinrote Farbe wirkte in der Tat ziemlich majestätisch. Eine echte Königsnatter sozusagen.
 

„Ich heisssse übrigensss Chhharlie“, sagte sein neuer Begleiter und schlängelte sich in eine Position, von der aus er einen besseren Überblick hatte.
 

„Charlie? Das ist... ein niedlicher Name für eine Schlange.“
 

Alice schaute sich flüchtig um, überlegte kurz, aus welcher Richtung er gekommen war, entschied sich dann jedoch, einfach seinem unfehlbaren Instinkt zu folgen und weiter geradeaus zu laufen. Irgendwo würde er schon auskommen.
 

„Na dann... Lass uns aufbrechen, Charlie!“
 

Einige hundert Meter später, während der die gesamte Landschaft um ihn herum zunehmend exotischer geworden war, fand er sich schließlich in einem Teil des Wunderlandes wieder, der an Skurrilität kaum zu überbieten war. Nicht nur die Bäume schienen beinahe bis in die Wolken ragen, auch sämtliche, verschiedenfarbige Gewächse, die am Rande des Weges wucherten, sowie die Pilze und sogar Insekten, die zwischen den Blüten umherflogen, waren unnatürlich groß. Hätte er nicht gewusst, dass er sich an einem magischen Ort befand, an dem ohnehin kein Fleck wie der andere war, hätte er angenommen, in einer anderen Dimension gelandet zu sein.
 

Doch was ihn endgültig aus der Bahn warf war das Bild, das sich ihm bot, nachdem er zwei riesige Blätter beiseitegeschoben hatte, die zwei dicht beieinander wachsenden Pflanzen angehörten und ihm die Sicht versperrten. Eigentlich gab es nach allem, was er inzwischen hier erlebt hatte, bei Weitem keinen Grund mehr, überrascht zu sein. Aber wie es aussah konnte er sich einfach nicht an diese Art grotesker Begegnungen gewöhnen.
 

Umringt von diversem, tropisch anmutendem Gestrüpp saß auf einem besonders hochgewachsenen, leuchtend-blauen Pilz ganz entspannt ein Kerl mit einer Wasserpfeife. Und - wie hätte es anders sein können? - war es nicht irgendein Kerl.
 

Es war Slash. Der Slash mit der Sonnenbrille, der explodierten Frisur und dem Zylinder.
 

„Aaah, wer bist'n du?“, hörte er ihn mit rauer Stimme fragen und sah, wie er sich langsam ein kleines Stück auf seinem Pilz vorlehnte - wohl, um ihn besser erkennen zu können, obwohl die minimale Bewegung bei der Entfernung mit Sicherheit keinen Unterschied machte. „Nein, sag nichts! Ich rate, wer du bist...! Ein... Ein Englein, das gekommen ist, um mir Gesellschaft zu leisten? Hmm... Nein, vielleicht auch nicht. Du siehst nicht aus wie ein Englein.“
 

„Ähm...“
 

„Wenn ich so drüber nachdenke komms'te mir irgendwie bekannt vor... Ja, jetzt weiß ich! Eine meiner Ex-Freundinnen...! Wie hieß die noch... Die eine da... Oder hab' ich die nur geträumt?“
 

Mit einem vernehmlichen Räuspern machte Alice den in seine Überlegungen vertieften Slash auf sich aufmerksam. Verträumt grinsend starrte dieser ihn an.
 

„Sorry, aber ich bin weder ein Englein noch deine Ex-Freundin. Und... Angie bin ich auch nicht.“
 

„Das wäre meine nächste Vermutung gewesen!“
 

„Unfassbar“, seufzte er. „Ich weiß ja, dass ich hübsch bin... Aber so hübsch, dass ich für eine Frau gehalten werde?“
 

Alice warf seinem neuen Gefährten einen fragenden Blick zu.
 

„Was meinst du dazu, Charlie?“
 

Die Schlange zischte aufmunternd.
 

„Mach dir nichtsss drausss“, sagte sie. „Der Typ issst offensssichtlich ganzzz schhhhön high.“
 

„Ja, da hast du Recht“, entgegnete er, wandte sich dann wieder Slash zu und ging einige Schritte in seine Richtung. „Du, ähm... Wie darf ich dich eigentlich nennen?“
 

„Ich bin die Raupe“, antwortete Slash, nahm einen Zug von seiner Pfeife und paffte ein rosafarbenes Wölkchen in Form eines Schmetterlings. Wie auch immer er das anstellte.
 

„Die Raupe... Natürlich“, sagte Alice, mit einer gewissen Faszination die Rauchwolke betrachtend. „Jedenfalls... hätte ich da mal eine Frage. Ich bin hier, weil ich versuche, Fideldum und Fideldei zu fangen, die von Fairplay offenbar nicht viel verstehen. Du hast sie nicht zufällig vorbeikommen sehen?“
 

„Weeen?“, fragte 'die Raupe' langgezogen.
 

„... Die Zwillinge. Die beiden schwarz-weißen Typen, die eine Vorliebe für bescheuerte Reime haben.“
 

„Ach, die meins'te...! Kann mir die Namen nie merken. Ich nenn' die immer Sterni und Spacy, deshalb wusste ich nicht, von wem du redest“, sagte 'die Raupe' abwesend nickend. Eines musste man ihm lassen: Er hatte ein bemerkenswertes Gespür für Spitznamen.
 

„Ja, und was ist jetzt? Hast du sie gesehen?“, fragte Alice erneut.
 

„Nee, sorry, die hab' ich nich' gesehen. Aber 'ne coole Schlange has'te da“, sagte der Kerl, als gäbe es irgendeinen Zusammenhang. „Irgendwie kenne ich die. Gehört die nicht der Alten?“
 

„Der ehrwürdigen Herzzzkönigin, wenn ich bitten darf!“, zischte Charlie hörbar empört dazwischen, woraufhin die Raupe beschwichtigend eine rote Wolke in Herzform ausatmete.
 

„Is' ja gut“, lächelte sie. „Wollt ihr nicht zu mir hochkommen? Is' doch anstrengend, die ganze Zeit nach oben zu gucken, oder?“
 

Alice besah sich den Pilz etwas genauer, hatte jedoch nicht das Gefühl, dass zwei oder mehr Personen darauf Platz finden würden. Selbst dann nicht, wenn man die recht ausladende Wasserpfeife beiseite stellen würde.
 

„Das ist sehr nett, aber ich glaube nicht, dass Charlie und ich da noch hinpassen“, sagte er. „Da ist nicht so viel Sitzfläche, wie du vielleicht... wahrnimmst.“
 

„Quatsch nich' rum“, lachte die Raupe und zeigte auf die gigantische Pflanze rechts von sich. „Ihr könnt euch auf das große Blatt hier setzen, da is' genug Platz. Auf meinen Pilz lasse ich eh nur schöne Frauen. Leider war schon lange keine mehr bei mir... Is' bestimmt schon 'ne Woche her. Hm, nee, könnten auch zwei sein. Oder... vielleicht auch'n Jahr?“
 

„Ich habe auch kein Zeitgefühl mehr seit ich hier bin“, bemerkte Alice und stellte sich eine Frau vor, die sich an eine übergroße, behaarte Raupe kuschelt.
 

„Bei ihm hat esss vermutlich etwasss andere Gründe“, meinte Charlie mit einem skeptischen Seitenblick auf den abwesend vor sich hin starrenden Slash. „Sssollen wir unsss auf dem Blatt einrichten, während er versssucht zzzu rechnen?“
 

„Von mir aus. Ein bisschen Ruhe könnte nicht schaden“, antwortete er, obwohl er leichte Schwierigkeiten damit hatte, zu glauben, dass ein Blatt - egal, von welcher Größe - dem Gewicht eines Menschen und einer Schlange standhalten konnte.
 

Unsicher näherte er sich dem tropischen Riesengestrüpp, ehe er sich daran machte, hinaufzuklettern, und es mit einiger Mühe fertiggebracht hatte, es sich auf dem offenbar stabilen, dicht an den Pilz grenzenden Blatt gemütlich zu machen. Es gab tatsächlich kaum nach. Grinsend sah die Raupe zu ihm herüber und nahm genüsslich einen weiteren Zug aus der Pfeife.
 

„Siehs'te? Alles easy“, sagte sie, nachdem sie ein perfekt-rundes CND-Symbol ausgehaucht hatte. „Auch mal?“
 

„Nein, danke“, erwiderte Alice schnell und rückte sich seine gar nicht mal so unbequeme Ruhestelle zurecht. „Die komischen Plätzchen von Steven Ty- ich meine, vom Hutmacher haben mir gereicht.“
 

Die Raupe lachte amüsiert.
 

„Ach, der Hutmacher weiß doch überhaupt nich', was gut ist... Sonst hieße er ja auch 'Der Gutmacher'...!“, kicherte sie ungehalten, scheinbar zutiefst belustigt von ihrem eigenen Scherz. Alice hielt es für besser, sich nicht dazu zu äußern. Nicht zuletzt, weil er sich selbst nicht sicher war, ob er das flache Gesülze witzig fand oder nicht.
 

„Aber is' ja auch eigentlich kein Wunder, dass die olle Schrulle einen an'ner Klatsche hat“, redete Herr Raupe unbeirrt weiter. „Wenn man auch dauernd mit so 'nem Hasen abhängt, der voll daneben um einen rumspringt... Is' der Märzhase eigentlich immer noch ständig so irre am trompeten?“
 

„Also... Mal abgesehen davon, dass es keine Trompete sondern eine Flöte ist, mit der er seine Mitbewohner terrorisiert... Ja.“
 

Schon seltsam. Wahrscheinlich war er nicht einmal seit einem vollen Tag hier - zumindest hatte er bisher keinerlei Sonnenuntergänge oder Ähnliches beobachten können -, und er unterhielt sich bereits mit einem Kollegen, der sich für eine Raupe hielt, über ihre verrückten Mitmenschen, als wäre es das Normalste der Welt. Wie rasch man sich doch an das Leben in einem Land voll umnachteter Hippies gewöhnen konnte.
 

Charlie war inzwischen von ihm heruntergekrochen und hatte sich ein wenig schläfrig neben ihm auf dem Blatt ausgebreitet. Verständlich. Dieses Örtchen hatte etwas wirklich Heimeliges an sich. So kam es, dass er kurz darauf entschied, wenigstens für einen Moment keinen einzigen Gedanken mehr an die Zwillinge, die Königin und seine dämlichen Aufgaben zu verschwenden und sich ebenfalls ein wenig hinzulegen. Der Blick in den dämmrigen Himmel, dessen Farben eigenartig harmonisch ineinander verliefen, war derart beruhigend, dass er sich bemühen musste, nicht einzuschlafen. Nach einem solch anstrengenden Tag war das gewissermaßen eine Herausforderung.
 

„Weiß'te... Das Teil, das ich da auf'm Kopf trage...“, sagte die Slash-Raupe und zeigte auf ihren Zylinder, „... das hab' ich auch vom Hutmacher.“
 

„Mhhm...“, machte Alice, vertieft in den unwirklich schönen Ausblick über sich. „Ich dachte, der Hutmacher wüsste nicht, was gut ist?“
 

Slash lachte heiter.
 

„So ist es“, gab er zurück. „Der Typ hat absolut keinen Durchblick... Der is' echt vernebelt.“
 

„Dann nehme ich an, du trägst den Hut, um dem ganzen Land preiszugeben, wie wenig der vernebelte Typ von seinem Handwerk versteht, was?“
 

„Ganz genau!“ Die Hütchenraupe nickte lächelnd. „Voll cool. Wir verstehen uns, Kumpel...!“
 

Offensichtlich zufrieden rauchte der Kerl seine Pfeife weiter und pustete dabei allerhand buntes Zeug aus, während Alice sich wieder zurücklehnte und merkte, wie die Zeit und die Prüfungen, die er bestehen sollte, ihm mehr und mehr egal wurden. All das konnte warten. Wozu also sollte er sich hetzen, wenn es hier doch eigentlich gar nicht einmal so übel war?
 

Am Rande nahm er wahr, wie rote, blaue und gelbe Wölkchen in diversen Tierformen über ihn hinwegzogen - erst ein Hase, dann eine Katze mit einem verschlagenen Grinsen gefolgt von einem kleinen Hund und einer Maus -, und dann hörte er Slash vage etwas sagen wie „Pass auf, ich zeig' dir mal was!“, bevor kurz darauf eine gewaltige Rauchwolke in Form einer Pistole am Himmel entlangwaberte. Eigentlich bereits zu müde, um sich zu fragen, was das werden sollte, staunte er doch nicht schlecht, als gleichzeitig mit einem von Slash gezischten „POW!“ die Pistole losging und täuschend echt aussehende Blütenblätter aus ihr herausgewirbelt wurden. Rosenblüten, wie er feststellte. Ganz langsam schwebten sie durch die Luft, regneten auf ihn herab und verflüchtigten sich wieder, bevor sie aufkommen konnten. Es wirkte regelrecht magisch.
 

„Woah... Echt jetzt... Das ist voll schön“, murmelte er und fühlte sich mit einem Mal seltsam glücklich. Wie harmonisch das Leben doch sein konnte...
 

„Hehe... Du darfst dich geehrt fühlen“, wisperte die Raupe. „Das haben bisher nur meine Ex-Freundinnen zu Gesicht bekommen.“
 

„So? Okay...“
 

Ohne wirklich darauf zu achten, was das Räupchen Spannendes erzählte, betrachtete Alice voller Ausgeglichenheit, was sich dort oben am farbenprächtigen Firmament abspielte. Zwischen all den sanften Farben erkannte er doch tatsächlich leicht abgehoben vom Rest einen Regenbogen.
 

Ein Regenbogen?, ging es ihm verschwommen durch den Kopf. Das müsste doch bedeuten, dass es hier irgendwo... regnet?
 

Kaum hatte er den Gedanken zu Ende gedacht registrierte er vereinzelt kühle Tropfen, die, wie auf Kommando, von oben auf ihn und sein Blatt herabfielen. Aus irgendeinem Grund war ihm bisher nie die Idee gekommen, dass es im Wunderland auch Dinge wie Regen und Unwetter geben könnte. Vielleicht war es hier gar nicht so viel anders als in der Welt, aus der er ursprünglich gekommen war?
 

„Lass mich raten“, sagte er und grinste zu der Kopie des Guns'n'Roses-Gitarristen hinüber. „Das ist November-Regen?“
 

„November? Nee... sowas gibt's hier nich'“, antwortete Räupchen und fixierte die Tropfen als wären sie etwas ganz Außergewöhnliches.
 

„Nicht? Naja, eigentlich nicht weiter erstaunlich. Gibt es hier überhaupt so etwas wie ein Datum...?“
 

„Natürlich gibt's das!“, gab der Slash-Verschnitt überschwänglich zurück. „Heute ist... warte, ich komm' gleich drauf... ach ja: Hanftag, der achtunddreißigste Maigustember. Genau der richtige Tag, um entspannt auf 'nem Pilz zu sitzen und 'nen netten Plausch zu führen!“ Einen Augenblick lang schien er nachdenklich, dann ergänzte er: „Aber... eigentlich is' Regen in dieser Jahreszeit ziemlich strange.“
 

Völlig unerwartet hörte Alice auf einmal ein bedrohliches Zischeln neben sich. Charlie war anscheinend durch irgendetwas aufgeschreckt worden - nur durch was?
 

Durch den Regen?
 

„Warte mal“, sagte er, als er Räupchens Worte vollständig verarbeitet hatte. „Soll das heißen, es ist irgendwie... unnormal, dass es jetzt regnet?“
 

Ein wenig beunruhigt erinnerte er sich schwach an ein Gespräch, das er irgendwann einmal mit dem weißen Kaninchen geführt hatte und das in irgendeiner Weise etwas in der Richtung beinhaltet hatte, dass er, als Auserwählter, das Wunderland vor dem Bösen retten sollte.
 

Was, wenn die Fröhlichkeit, all die bunten Blümchen und Tierchen nur Fassade waren und in Wirklichkeit die Apokalypse bevorstand? Und dieser so untypische Regen möglicherweise der Anfang vom Ende war?
 

„Gütiger Drecksmist...!“, stieß Alice hervor, als der Regen stärker wurde und es plötzlich begann, wie aus Eimern zu gießen. Sogar ein Donnern, genauso leise wie diabolisch, war aus der Ferne zu vernehmen.
 

„Bleib geschmeidig“, sagte die Raupe ruhig, wahrscheinlich den Ernst der Lage nicht erkennend, und lehnte sich ein Stück zu ihm vor. „Wir können uns doch unter den Pilz setzen. Dann warten wir bisses vorbeigeht, und alles is' gut.“
 

„Ja... aber...“ Kurz überlegte er, bis er zu dem Schluss kam, dass Raupis Vorschlag besser war als nichts zu tun. „Na gut, du hast Recht.“
 

Mit einem Griff hatte er sich Charlie erneut um die Schultern gehängt und es relativ schnell - er wusste selbst nicht genau, wie er das angestellt hatte - wieder von der überirdischen Pflanze heruntergeschafft, ehe er Raupis Beispiel folgte und im Schatten des riesigen Pilzes das heftige Unwetter begutachtete. Bereits ein oder zwei Minuten später wurde die auf einen Schlag stark verdunkelte Umgebung in regelmäßigen Abständen von grellem Blitzlicht erleuchtet, begleitet von dem dröhnenden Grollen des Donners, das in beträchtlich kurzer Zeit eine enorme Lautstärke erreicht hatte.
 

Das Spektakel von einem warmen und sicheren Zimmer aus durch das Fenster zu beobachten wäre vermutlich ganz nett gewesen. Ob dieser Pilz allerdings den nötigen Schutz vor solch einem Gewitter bot war fraglich.
 

„Ähm... Herr Raupe?“
 

„Hmmm?“, machte Slash, noch immer den Anschein erweckend, die Ruhe in Person zu sein.
 

„Sich hier unten zu verstecken... Ist das nicht ungefähr genauso sinnvoll als würden wir uns unter einen Baum stellen?“
 

„Wir können uns auch unter 'nen Baum stellen, wenn dir das lieber is'.“
 

„Nein! Das wollte ich damit nicht sagen!“
 

Alice seufzte schwer. Das Gewitter schien überhaupt kein Ende zu nehmen. Charlie war, wie es aussah, ebenfalls alles andere als begeistert und wand sich aufgeregt von einer Seite zur anderen, was sich ein wenig unkomfortabel anfühlte aufgrund der Tatsache, dass das Tier ein nicht von der Hand zu weisendes Gewicht besaß.
 

„Hssssssss... Dasss issst... definitiv kein gewöhnlichesss Gewitter“, flüsterte sein Begleiter mit ernster Stimme.
 

„Die Schlange hat Recht“, fügte Slash hinzu, das Schauspiel wie hypnotisiert betrachtend. Dann lächelte er, als wäre diese Feststellung in irgendeiner Weise erfreulich. „Irgendwas stimmt hier ganz und gar nich'.“
 

„Und was ist daran so witzig?“, fragte Alice vollkommen verständnislos. „Wir sind praktisch dem Untergang geweiht, wenn ich das richtig deute... und du sitzt hier rum und grinst dir einen ab! Oh ja, wenn ich so drüber nachdenke finde ich die Vorstellung, durch irgendeine sich langsam ausbreitende böse Macht hier zugrundezugehen, auch prima! Zum Brüllen komisch!“
 

„Mach dich locker“, gab die Raupe gelassen zurück, während der Regen unaufhörlich auf den Pilz prasselte. „Es gibt gar keinen Grund zur Sorge. Der Auserwählte wird kommen und den ganzen Kram regeln...!“
 

„Der-“
 

Er stockte. Diesen Gedanken fortzuführen war zu beängstigend. Auch wenn er mittlerweile aus unerfindlichen Gründen eine Menge für die Bewohner des Wunderlandes getan und einige seltsame Erfahrungen gemacht hatte - was seine eigentliche Aufgabe als 'Auserwählter' anging war er noch immer nicht schlauer. Und wenn die Raupe und die anderen Freaks sich voll und ganz auf ihn verließen, dann bedeutete das...
 

Sie alle waren verloren.
 

„Verdammt... Das kann nicht wahr sein. Verdammt, verdammt, verdammt!!“
 

„Hey, was hast'n du auf einmal?“
 

„... Nichts. Gar nichts.“ Alice schloss die Augen und atmete einmal tief durch, ehe er den Entschluss fasste, dass er dringend etwas unternehmen musste - egal was. „Ich... kann hier nicht länger tatenlos rumstehen. Erst recht nicht, wenn jeden Moment ein Blitz hier einschlagen und deinen Pilz zu Asche verarbeiten könnte. Ich werde gehen und nach irgendeinem Unterschlupf suchen bis das endlich aufgehört hat... und dann schaue ich weiter. Kommst du mit?“
 

„Tut mir leid, ich kann hier nich' weg. Dieser Bereich is' mein Zuhause. Ich hoffe, du verstehst das“, sagte die Raupe in einem entschuldigenden Tonfall. „Aber wenn du gehen willst, werde ich dich nich' aufhalten. Viel Glück! Und komm mich mal wieder besuchen, Kumpel!“
 

„Das werde ich“, antwortete Alice leise und wandte sich zum Gehen. „... Falls ich das Ganze hier lebend überstehe.“
 

Er wusste nicht, wie lange er bereits gelaufen war, und auch nicht, aus welcher Richtung er ursprünglich gekommen war, als er irgendwann eine Art Lichtung erreichte, die im Vergleich zu der Stelle, an der er sich zuvor aufgehalten hatte, recht kahl, trist und irgendwie abgeschieden vom Rest wirkte. Vermutlich trug der noch immer strömende Regen seinen Teil zu diesem Eindruck bei. Trotzdem - etwas war befremdlich an diesem Ort. Es kam ihm beinahe so vor, als würde dort etwas lauern, das ihn absichtlich den verworrenen, weiten Weg bis hierher gelockt hatte, nur um... Um was eigentlich?
 

„Nein. Bloß nicht paranoid werden“, sagte er abwesend zu sich selbst und drehte sich nach allen Seiten um, um sich zu vergewissern, dass seine Wahnvorstellungen auch wirklich nichts als Wahnvorstellungen waren. Dann blickte er an sich herunter. Der Regen hatte seine gesamte Kleidung völlig durchnässt und es sah nicht danach aus, als würde das Unwetter in absehbarer Zeit ein Ende nehmen. Wobei wenigstens das Blitzen und Donnern inzwischen deutlich nachgelassen hatte. Eigentlich war es nur noch nass und kalt. Und düster.
 

„Aliccce?“, zischte Charlie aus heiterem Himmel.
 

„... Was denn?“, entgegnete er und klang dabei resignierter als er es wollte.
 

„Dein Kajal issst ganzzz verlaufen.“
 

Toll. Wirklich großartig. Hätte er nicht im Moment ganz andere Probleme gehabt - beispielsweise die Tatsache, dass er einsam und allein an einem verlassenen Ort festsaß, an dem es nicht einmal eine Wäscheleine oder einen Trockner gab -, hätte er sich vermutlich gefragt, woher eine Schlange einen Begriff wie 'Kajal' kannte. Aber vielleicht sah er die Sache auch einfach zu pessimistisch. Wahrscheinlich konnte er froh sein, dass zumindest Charlie ihn begleitete und er nicht vollkommen auf sich allein gestellt war in dieser verrückten, grausamen Welt. Laut seufzend stapfte er wahllos ein paar Schritte schräg geradeaus, während er überlegte, wie sehr genau es ihn auf einer Skala von eins bis zehn frustrierte, dass er noch immer keine Spur von den Zwillingen gefunden hatte und mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit unter unwürdigsten Umständen mitten im Nirvana verenden würde, wenn nicht bald, passend zu der albernen Bezeichnung dieses Landes, ein Wunder geschah, und blieb dann abrupt vor einem mit Regenwasser gefüllten Graben stehen. Leicht irritiert beugte er sich zu der übergroßen Pfütze herunter und betrachtete darin eine Weile lang sein trübes Spiegelbild. Charlie hatte Recht. Sein Kajal war wirklich verlaufen. Aber damit nicht genug:
 

Es war entgegen jeglicher Logik auch noch derart vom Regen verschmiert, dass es den Eindruck machte, als hätte er mit voller Absicht versucht, seine Erscheinung besonders grotesk wirken zu lassen. Möglicherweise lag es auch zum Teil an den Wellen, die das Wasser durch die noch immer herabplätschernden Tropfen schlug, oder an seinem Geisteszustand - aber er konnte nicht leugnen, dass er nun gewissermaßen aussah wie Steven. Nicht zuletzt wegen des schon fast verstörend niedergeschlagenen Ausdrucks, mit dem er sich selbst gerade ansah.
 

„Na, klasse... Willkommen zu meinem Albtraum“, murmelte er mit einem verzweifelten Fünkchen Selbstironie, als er sich wieder von dem faszinierenden Anblick löste. „Fehlt nur noch, dass irgendeine unheimliche Stimme andauernd meinen Namen ruft.“
 

„Aaaaaliiiiiceeeee...!“
 

„... Das ist jetzt nicht wahr, oder?“
 

Murrend erhob er sich, in Erwartung irgendeines neuartigen Freaks die Augen offenhaltend.
 

Und dann sah er es.
 

Ganz plötzlich war es dort und schien darauf zu warten, dass er zu ihm kam - das phantomartige Geschöpf, das ihn zuletzt in Anwesenheit des Hutmachers und dessen verkorksten Genossen in seiner Vision heimgesucht hatte. Vincent Price. Mit dem einzigen Unterschied, dass seine Gestalt dieses Mal mehr als real wirkte und nicht wie das Hirngespinst einer eigenartigen Halluzination. Lächelnd stand er da, als wäre er nur ein gewöhnlicher Bestandteil der Umgebung, in der einen Hand mit festem Griff die Schnüre dreier bunter Ballons haltend, die andere einladend zur Seite ausgestreckt.
 

„Tritt näher!“, sagte er freundlich, und Alice konnte nicht anders als seiner Aufforderung zu folgen, obwohl er selbst nicht die leiseste Ahnung hatte, weshalb. Der Regen schien langsam nachzulassen, doch aus irgendeinem Grund interessierte es ihn kaum noch, dass er mit dem Aussehen eines begossenen Pudels in der Pampa feststeckte. Die plötzliche Anwesenheit seiner Traumerscheinung zog seine ungeteilte Aufmerksamkeit auf sich, und er kam nicht umhin sich zu fragen, was genau ihm bei ihrer letzten, surrealen Begegung solches Unbehagen bereitet hatte. Schließlich war es eben nur ein Traum gewesen. Das hier hatte nichts damit zu tun.
 

„Na, Alice? Hast du dich verlaufen?“ Mit sanftmütiger Miene schaute der Andere ihn an, während er von sich aus einen Schritt auf ihn zu machte. „Hast du etwa... deinen Pfad verloren?“
 

Bevor er irgendetwas darauf erwidern konnte gab Charlie augenblicklich ein gefährliches Fauchen von sich, so giftig, dass er die Schlange mühevoll zurückhalten musste, damit sie sein Gegenüber nicht anfiel. Er hatte Glück, dass er gerade noch rechtzeitig reagiert hatte, bevor sie etwas Schlimmeres hatte anrichten können.
 

„Spinnst du...? Was sollte denn das?“, wies er das Tier zurecht, ehe er sich wieder dem netten Mann mit den Ballons zuwandte. „Entschuldigen Sie... Das wird nicht wieder vorkommen. Charlie ist manchmal... misstrauisch gegenüber Fremden.“
 

„Ach... Das ist doch überhaupt kein Problem“, gab der Andere verständnisvoll zurück und bedachte die Schlange um seinen Hals mit einem flüchtigen Lächeln. „Zweifellos gibt es viel zu viele Menschen, denen man nicht leichtfertig sein Vertrauen schenken sollte... nicht wahr, Charlie?“
 

Charlie schien irgendetwas Unverständliches zu flüstern, bevor der mysteriöse Fremde nach einer kurzen Pause wieder das Wort ergriff.
 

„Nun gut, Alice... Ich sehe, du hast einiges auf dich genommen, bist den weiten Weg bis hierher gekommen, und jetzt... hast du mich gefunden. Hast du eine Ahnung, wer ich bin?“
 

„Ich... also... ich bin nicht sicher...“
 

Alice überlegte einen Moment und zuckte die Schultern, als er zu keinem wirklichen Schluss kam. Sein Gegenüber lächelte noch immer, und er konnte beobachten, wie sich die Gewitterwolken über ihnen nun vollständig verzogen, um den warmen Sonnenstrahlen wieder Platz zu machen. In derselben Sekunde waren an der Seite des Fremden auf wundersame Weise zwei weitere Gestalten erschienen.
 

„Deine Unsicherheit, mein Junge, rührt daher, dass meine Existenz seit jeher umstritten ist. Doch wenn du ehrlich zu dir selbst bist, dann weißt du, wer ich bin“, sagte er und reichte ihm einen gelben Ballon, den Alice wie in Trance entgegennahm. „Ich bin die Verkörperung des Friedens. Der Inbegriff von Glück. Verstehst du, Alice? Ich bin hier, um dir zu helfen. Die Erfüllung deiner Wünsche, die Pforte zur ewigen Freiheit - all das bin ich. Ich bin... der Showmaster.
 

„... Der Showmaster?“
 

„Ganz recht“, antwortete er, den anderen zweien, die jeweils links und rechts von ihm aufgetaucht waren, auffordernd zunickend. „Los, meine treuen... Freunde! Erklärt es ihm!“
 

„Es ist ganz einfach“, begann einer der beiden - eine androgyne Gestalt, deren feuerrote Haarsträhnen ihr vereinzelt wild ins Gesicht fielen, jedoch nicht das seltsame, kreisrunde Zeichen auf ihrer Stirn verdecken konnten. „Überall dort, wo es Probleme gibt und jemand nicht mehr weiter weiß, ist der große Showmaster nicht fern. Er hilft dir in der Not, wenn du denkst, dass das Glück dich endgültig verlassen hat.“
 

„Und nicht nur das“, ergänzte der Zweite, dessen wuchtige schwarze Mähne, die schwarzweiße Gesichtsbemalung und die ebenso schwarze gestachelte Ledertracht einen eher finsteren Gesamteindruck ergaben, mit einem offenherzigen Grinsen. „Er kennt Orte, die niemand zuvor je gesehen hat. Orte, die deine Vorstellungskraft bei Weitem übersteigen...!“
 

„Wirklich...?“
 

„Ja, Alice, genauso ist es“, schaltete sich der Showmaster wieder dazwischen. „Komm mit uns, und du wirst erfahren, was es bedeutet, restlos glücklich zu sein. Wir machen dich zu dem reichsten und mächtigsten Geschöpf der Galaxie, wenn du es wünschst!“
 

„Aliccce!“, hörte er Charlie plötzlich tonlos zischen. „Hör nicht auf sssie! Dasss issst allesss gelogen...!“
 

Mit einem irritierten Ausdruck in seinen Augen musterte er die Schlange, dann glitt sein Blick zu der schwarzhaarigen Erscheinung, die nicht weit von ihm stand und ihn fortwährend mit herausgestreckter Zunge fixierte.
 

„Sei ruhig, Charlie!“, gab er scharf zurück, bevor er sich hoffnungsvoll lächelnd der skurrilen Figur zuwandte, deren auffällige Kleidung er sich von oben bis unten besah, nachdem er sich ihr bis auf wenige Zentimeter genähert hatte - und tatsächlich machte er dabei eine nützliche Entdeckung. „Ihr könnt mich also... von hier wegbringen?“
 

„Selbstverständlich“, entgegnete die schwarzweiß-geschminkte Gestalt zwinkernd. „Und das ist nur ein winziger Bruchteil von dem, was wir können...!“
 

Entschlossen erwiderte Alice das spielerische Zwinkern seines Gegenübers, ehe er sich noch ein Stückchen weiter zu ihm vorlehnte.
 

„Ich muss sagen, das klingt wirklich verlockend“, säuselte er, während er, ohne den Blickkontakt zu seinem Gesprächspartner abzubrechen, dessen sich kaum vom Rest des engen Oberteils abhebende Brusttasche abtastete und kurzerhand die Karte, die glänzend daraus hervorragte, herauszog, als er sie zu fassen bekommen hatte. „Aber trotzdem muss ich das Angebot wohl höflich ablehnen. Ich habe hier noch was zu tun.“
 

„... Er hat uns reingelegt!“, rief der rothaarige Typ empört. „Was für ein gemeiner, hinterhältiger Trick!“
 

„Tja. So ein Pech“, quittierte er knapp, ließ seinen geschenkten Ballon achtlos davonschweben und sah mit einem leicht unwohlen Gefühl den anderen der beiden Typen an, der scheinbar nicht daran dachte, aufzugeben oder sich auch nur einen Milimeter von ihm zu entfernen.
 

„Bist du sicher, dass du dich uns nicht anschließen willst? Du weißt nicht, was du verpasst...“
 

„Meine Mutter hat mir beigebracht, nicht mit Fremden mitzugehen“, sagte Alice, während er nebenbei die schwarze Karte, auf der ein kunstvolles weißes 'I' prangte, in seiner eigenen Jackentasche verschwinden ließ. „Also versuche es gar nicht erst weiter. Und nimm deine verdammte Zunge aus meinem Gesicht...!“
 

Widerwillig ließ der Freak von ihm ab, und auch der Andere drehte sich beleidigt zur Seite um. Der Showmaster unterdessen machte eine nachdenkliche Miene, dann jedoch warf er ihm erneut ein freundliches Lächeln zu.
 

„Wenn es dein Wunsch ist, hierzubleiben, muss ich das wohl akzeptieren. Schade...“, sagte er, seine beiden hauseigenen Verrückten wieder zu sich zurückpfeifend wie zwei Schoßhunde. „Nun denn, Alice. Wir werden uns wiedersehen! Und bis dahin... lebe wohl.“
 

Nur ein einziges Mal hatte er geblinzelt, und schon waren die drei, die eben noch direkt vor ihm gestanden hatten, spurlos verschwunden - als wären sie nie da gewesen. Bloß eine verlassene, kahle Lichtung, die im Licht der Sonne beinahe noch unheimlicher wirkte als zuvor, hatten sie zurückgelassen. Alice seufzte tief, als er realisierte, wie knapp er wahrscheinlich einer verflucht listigen Falle entgangen war.
 

„Nicht schhhlecht“, gab Charlie anerkennend zu. „Du verstehssst esss wirklich, dich zzzu verkaufen.“
 

„Pah... Zu irgendwas muss mein überragender Charme ja wohl gut sein“, erwiderte er, Ausschau nach einer möglicherweise versteckten Abzweigung haltend, die ihn hoffentlich endlich weiterführen würde. „Ich lasse mich doch von Gene Simmons und Ziggy Stardust nicht dermaßen schamlos auf den Arm nehmen! Manchmal ist es eben unausweichlich, sagen wir... alternative Methoden zu ergreifen.“
 

„Alternative Methoden? Sssossso“, zischte Charlie scheinbar amüsiert. „Und wie sssieht esss mit einer armen, einsssamen Schhhlange ausss? Oder bissst du dir dafür zzzu schhhade?“
 

„Hey...! Willst du damit sagen, dass du...“
 

„Keine Sssorge! Dasss war nur ein Scherzzz. Ich kann auch witzzzig sssein.“
 

„Aha. Na gut, du Witzbold“, gab er ein wenig skeptisch zurück und entschied sich schließlich, den einzigen vorhandenen Weg durch das angrenzende, dicht von Tannen bewachsene Waldstück entlangzugehen, den er in der Umgebung ausmachen konnte.
 

Dass sein so 'gemeiner und hinterhältiger Trick' um ein Haar danebengegangen wäre und er den Worten des zwielichtigen Showmasters anfangs tatsächlich aus Gründen, die er selbst nicht kannte, Glauben geschenkt hatte, erwähnte er lieber nicht. Aber einer Sache war er sich mittlerweile mehr als nur sicher:
 

Die Raupe hatte absolut Recht mit dem, was sie im Regen zu ihm gesagt hatte. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht. Es blieb ihm nur noch herausfinden, was es war.

Kapitel 5 - Audienz bei der Herzkönigin

Nach all der Zeit, die er inzwischen unfreiwilligerweise im Wunderland verbracht hatte, konnte Alice eines feststellen: Egal, welche Richtungen er einschlug, wen er besuchte und wie oft er sich verirrte – irgendwann kam er aus irgendeinem Grund immer wieder an dieser einen Stelle aus. An dem Baum der Grinsekatze. Auch wenn er sich nicht einmal ansatzweise vorstellen konnte, wie das möglich war, schließlich hatte es von dort aus beim letzten Mal nur drei Abzweigungen gegeben, die zu unterschiedlichen Orten führten. Trotz allem... Fakt war, dass es ihn wieder einmal hierher verschlagen hatte.
 

„Hssssss...! Ich erkenne diessse Ssstelle!“, zischte Charlie erfreut, einen ausladenden Schlenker um seine Schultern vollführend. „Von hier ausss issst esss nicht mehr weit bisss zzzur Königin!“
 

„Kann sein“, gab Alice nicht besonders optimistisch zurück. „Aber damit wir zu ihr können brauche ich erst die zwei noch fehlenden Karten, die die Zwillinge mir versprochen haben. Und so langsam habe ich meine Zweifel, dass ich es jemals schaffe, sie zu fangen...“
 

Du brauchst die Karten. Ichhh könnte jederzzzeit auch ssso hindurch.“
 

„Na toll...“
 

Ein plötzliches gellendes Gelächter ließ ihn zusammenzucken, als er wenige Sekunden später realisierte, dass er diese Lache zuvor schon einmal gehört hatte.
 

„The Catman!“, stieß er mit einer Mischung aus sarkastischer Freude und tatsächlicher Überraschung aus. „Du tauchst wohl auch nur dann auf, wenn dir danach ist, was?“
 

Halb erleichtert, ihn hier anzutreffen, und halb genervt von dessen wichtigtuerischem Auftreten betrachtete Alice den sich Stück für Stück aus seinen Einzelteilen zusammenfügenden Katzenmann. Die Tatsache, dass er sich ruhig schon früher hätte blicken lassen können, drängte er für den Moment in den Hintergrund.
 

„Schön zu sehen, dass es dir gut geht, Alice!“, trällerte The Catman fröhlich, während er ihn von seinem Ast aus musterte, so als wolle er in Wahrheit damit sagen „Du hast aber schon wesentlich bessere Tage gesehen“ – was auch definitiv der Fall war.
 

„Ja... mir geht es ausgezeichnet!“, erwiderte Alice betont überzeugt... vielleicht ein wenig zu betont. „Es geht mir so super, dass ich am liebsten laut 'Hurra!' schreien würde. Habe mich sogar fast damit abgefunden, für immer in dieser wahnsinnig lustigen Welt festzuhängen und vor lauter Spaß hier zu verrecken, bevor ich die große, ehrwürdige Herzkönigin ein einziges Mal gesehen oder herausgefunden habe, was zum Teufel hier eigentlich vor sich geht...!!“
 

Eine Weile des Schweigens verging, während der er sich fragte, ob diese grauenvoll hysterische Stimme eben wirklich seine eigene gewesen war. The Catman grinste.
 

„Freut mich sehr, dass du dich so gut eingelebt hast“, sagte er in einem Tonfall, als würde er es absolut ernst meinen. „Aber halt! Höre ich da einen Funken Verzweiflung in deiner Stimme? Du wirst doch wohl nicht aufgeben, verehrter Auserwählter?“
 

„Aufgeben? Hah!“, lachte Alice, den dezent besorgten Blick, den Charlie ihm zuwarf, ignorierend. „Ich denke gar nicht daran, aufzugeben! Ich werde weiter nach deinen unfairen Artgenossen suchen, und wenn es das letzte ist, was ich tue! Auf keinen Fall werde ich aufhören, bevor ich diesen verdammten Schlüssel in meiner Hand halte, egal, wie viele geistesgestörte Schießbudenfiguren noch kommen und sich mir in den Weg stellen...!“
 

„Hihi... Miau!“
 

„Was gibt’s da zu miauen?!“
 

„Manchmal, mein lieber Auserwählter, ist das Ziel viel näher als man vermutet“, wisperte die Grinsekatze und ließ ihren Schweif verheißungsvoll neben sich auf den Ast peitschen.
 

„So? Und was heißt das? Kann ich mit der Schlange im Schlepptau jetzt doch einfach durch die Tür gehen?“
 

„Na... so einfach ist es nun auch wieder nicht“, lächelte sein Gegenüber, seinen Blick auf einmal verträumt gen Himmel richtend. „Du solltest deine Augen offenhalten. Die Nacht ist heute sternenklar. Man kann nahezu... ins Universum schauen.“
 

Ein wenig irritiert sah Alice ebenfalls nach oben, um festzustellen, ob des Rätsels Lösung sich dort irgendwo befand, konnte jedoch auf die Schnelle nichts entdecken, das ihm in irgendeiner Weise weiterhalf. Das einzige, was er kurz darauf eher wenig erfreut zur Kenntnis nahm, war, dass The Catman bereits wieder verschwunden war, genauso unerwartet wie er auch aufgetaucht war.
 

„Und schon ist er weg. Typisch! Kaum begegne ich jemandem, der mehr über diesen ganzen Mist zu wissen scheint, macht er sich wieder aus dem Staub ohne mir einen vernünftigen, simplen Hinweis hinterlassen zu haben. Wie ich diese Geheimniskrämerei doch liebe...“
 

„Vielleichhht... hat er dir einen Hinweisss gegeben“, bemerkte Charlie nachdenklich. „Überlege doch nochmal, wasss die Katzzze zzzuletzzzt gesssagt hat!“
 

„Die Nacht ist sternenklar... Man kann fast ins Universum schauen“, wiederholte Alice leise die letzten Worte der Grinsekatze und ließ sie einen Moment durch seine Gedanken schweifen. „Meinst du, das sollte eine Art Anspielung auf The Starchild und The Spaceman sein?“
 

„Möglich wäre esss...“
 

„Tihihihihi!“, ertönte es schallend aus dem Nichts, und es bestand kein Zweifel – das schrille Gekicher war eindeutig auf niemand anderen als die bescheuerten Zwillinge zurückzuführen.
 

„Das sind sie...! Ich fasse es ja nicht... Sie müssen hier ganz in der Nähe sein!“
 

Hektisch suchte Alice die nähere Umgebung ab, erinnerte sich abermals an den Rat der Grinsekatze und hielt nicht nur am Boden sondern auch weiter oben Ausschau. Und tatsächlich... Dort waren sie. Im Licht der Sterne thronten sie beide jeweils auf dem Ast eines Baumes, genau wie ihr katzenhafter Anführer es so gerne tat. Einer links von ihm und einer rechts von ihm schauten sie schelmisch zu ihm herunter und warfen sich dann gegenseitig einen vielsagenden Blick zu, den er allerdings um nichts in der Welt hätte deuten können. Wahrscheinlich hatten sie sich gerade im Stillen darüber geeinigt, wie sie ihm als nächstes sein tragisches Leben als Auserwählter zur Hölle machen würden.
 

„Ja, ich verstehe schon!“, rief Alice, abwechselnd The Starchild und The Spaceman ins Visier nehmend. „Ich soll unter mühevollsten Umständen einzeln zu euch raufklettern, nur damit ihr euch, feige wie ihr seid, wieder unsichtbar machen und abhauen könnt, bevor ich euch erwischt habe... So ist es doch, oder nicht? Aber wisst ihr was? Ich werde euch kriegen! Da könnt ihr machen, was ihr wollt! Ich weiß zwar noch nicht wie, aber... ich werde euch kriegen!“
 

Ein wenig verwirrt trat er einen Schritt zurück, als die beiden völlig unversehens nur noch etwa einen halben Meter von ihm entfernt standen, nachdem sie problemlos mit einem eleganten Sprung von ihrem Platz auf den Bäumen heruntergekommen waren. Die ganze Zeit über hatten sie sich – zumindest scheinbar – in fürchterlich weiter Ferne aufgehalten... und von einer Sekunde auf die andere waren sie zum Greifen nahe.
 

„... Was soll das? Warum...“
 

„Sie haben Ihre Prüfung bestanden, Sir! Es gibt nichts mehr, das Sie noch tun müssen“, entgegnete The Starchild fröhlich. Alice starrte ihn verständnislos an.
 

„Aber... ich habe euch doch noch gar nicht gefangen! Ist das wieder irgendein Trick von euch?“
 

„Nein, nein, keineswegs!“, antwortete Fidel-Sternchen, und Fidel-Space fügte mit freundlicher Miene hinzu: „Ausgetrickst haben wir Sie nun wirklich genug! Nach allem, was Sie durchgemacht haben, haben Sie sich doch endlich eine Belohnung verdient, finden Sie nicht, Sir?“
 

Fast gleichzeitig griffen beide jeweils in eine ihrer Hosentaschen, wohl um etwas herauszuziehen, und Alice konnte seinen Augen kaum trauen, als er die letzten beiden Karten erblickte, die seine Sammlung vervollständigen würden, sodass er endlich – falls ihm nicht kurz vor dem Ziel wieder irgendein Spaßvogel dazwischenhüpfte – die Herzkönigin würde aufsuchen können. Lächelnd streckten sie ihm die glänzenden Wunderkarten entgegen. Einfach so. Er musste nur noch zugreifen.
 

„Ich... ich habe es also wirklich geschafft?“, fragte er, nur um noch einmal sicherzugehen, ehe er die neonrote 'S'-Karte zögerlich an sich nahm, gefolgt von der silbernen, die ebenfalls ein großes 'S' zierte. Noch niemals zuvor hatte er sich so sehr über zwei bunte Stücke Papier gefreut.
 

„Ob Sie es geschafft haben... nun, das wird sich erst noch zeigen“, erklärte The Spaceman, und die Art, wie er es sagte, verhieß nichts Gutes, so viel stand fest. „Aber eines ist sicher: Ihre Prüfung haben Sie bestanden, Sir, und dazu gratulieren wir Ihnen! Nicht wahr, Fideldum?“
 

„Das tun wir, oh ja!“, stimmte The Starchild seinem Bruder überschwänglich zu. „Wir sind zutiefst beeindruckt von Ihrer erstaunlichen Ausdauer, Sir! Selbstverständlich ist es für einen Menschen unmöglich, uns beide zu fangen. Doch darum ging es auch überhaupt nicht. Dass Sie so lange durchgehalten haben trotz Ihrer scheinbar so aussichtslosen Lage... Das beweist uns, dass Sie es würdig sind, den magischen Schlüssel zu erhalten!“
 

„So ist es! Also dann... Macht's gut, Auserwählter! Wir zählen auf Euch!“, verabschiedete sich Fideldei voller Zuversicht, die er leider nicht so ganz teilen konnte, auch wenn er es nur ungern zugab – und kurz darauf war der Fleck, an dem die Zwillinge ihm eben noch gegenübergestanden hatten, leer.
 

Mit einer merkwürdigen Mischung aus Stolz und Unsicherheit betrachtete Alice die beiden Karten, von denen er noch immer nicht glauben konnte, dass er sie endlich sein Eigen nennen durfte.
 

„Wow. Ich... bin so gut!“, sagte er feststellend, obwohl es eigentlich nichts Neues war.
 

„Ein Hoch auf deine Ausssdauer, nichhht wahr?“
 

„Ja... Ja, das haben mir schon viele gesagt.“ Alice warf einen flüchtigen Blick auf den Baum der Grinsekatze, in dessen Stamm sich ja, wenn er sich nicht täuschte, die geheime Tür verbarg, die ihn zum Schloss führen würde. „Hmm. Ich frage mich nur, was genau... ich jetzt tun muss, damit es weitergeht. Wobei... wenn ich so drüber nachdenke...“
 

Versuchsweise kramte er die schwarze Karte sowie die neongrüne aus seiner Jacke hervor und besah sich die Buchstaben, die er nun beisammen hatte, von Nahem. Genau wie er es vermutet hatte.
 

„Ich hatte ja schon so eine Vorahnung“, dachte er laut. „'S', 'S', 'K' und 'I'. Das haben die sich ganz schlau überlegt, was?“
 

Schief grinsend kniete er sich in das noch immer vom Regen nasse Gras, legte die vier Karten behutsam vor sich ab und vertauschte sie so, dass sie das Wort 'KISS' ergaben. Die Reaktion darauf ließ nicht lange auf sich warten:
 

Ganz wie es das Klischee eines klassischen Fantasy-Streifens vorgab schwebten die Karten, kaum dass er sie in der richtigen Reihenfolge dort positioniert hatte, nebeneinander in die Luft und begannen zu leuchten, immer stärker, ehe sie schließlich in einem gleißenden Licht miteinander verschmolzen und ihn blendeten, weshalb er sich zur Seite drehte, bis es wieder dunkel geworden war und er leise ein dumpfes Geräusch hörte. Als er danach erneut hinsah entdeckte er auf dem Boden einen etwa faustgroßen, von roten, schwarzen, silbernen und grünen Schnörkeln veredelten Schlüssel.
 

„Na, wer sagt's denn!“
 

„Schhhau, Aliccce! Die Tür...!“, zischte Charlie aufgeregt, und in der Tat war in dem Baumstamm augenblicklich die in bunten Farben – passend zum Schlüssel – erstrahlende Tür zum Vorschein gekommen, die jetzt, da er sie öffnen konnte, zugegebenermaßen doch seine Neugier weckte. Entschlossen hob er den Schlüssel auf, trat auf sie zu, schaute noch einmal auf das zurück, was er nun wohl vorerst hinter sich lassen würde, und wandte sich dann wieder der Tür zu, die aus nächster Nähe sogar noch riesiger und majestätischer wirkte als er sie in Erinnerung hatte. Ohne länger zu zögern schloss er sie auf und blieb einen Moment lang sprachlos vor ihr stehen, als die helle und einladende Idylle, die dahinter lag und einen engen Kontrast zu dem düsteren Wald bildete, sich ihm offenbarte. Dann betrat er den wahrscheinlich einzigen Teil des Wunderlandes, den er bisher noch nicht zu Gesicht bekommen hatte, während die schwere Tür hinter ihm ganz von alleine wieder ins Schloss fiel und kurz darauf verschwand, als hätte es sie niemals gegeben.
 


 

„Das hier ist also die andere Seite eurer Welt, auf die nur ausgesuchte Personen dürfen? Wirklich... nicht übel“, gab Alice anerkennend zu, während er seinen Blick über die weite Landschaft schweifen ließ. Verglichen mit dem Rest des Wunderlandes vermittelte dieser Bereich weniger den Eindruck, einen skurrilen Trip zu erleben. Viel eher erschien es ihm wie der Traum eines jeden kleinen Mädchens:
 

Grüne Wiesen voll von Rosensträuchern und anderen allesamt akkurat angeordneten Gewächsen, um deren Wohl sich vermutlich irgendein Bediensteter der Königin regelmäßig kümmerte; inmitten der kunstvoll bearbeiteten Pflanzen eine Art Irrgarten, der ebenfalls wahrscheinlich unter großem Zeitaufwand mit einer Heckenschere zurechtgestutzt worden war... und am anderen Ende des Labyrinths, prachtvoll aufragend am Horizont, erkannte er das Schloss, noch um einiges gigantischer und märchenhafter als er es sich vorgestellt hatte.
 

„'Nichhht übel' issst untertrieben“, erwiderte Charlie, sichtbar erfreut, sich wieder in seinem heimischen Territorium zu befinden. „Wenn du den Schhhlossssgarten erssst bei Nacht gesssehen hättessst würdessst du mir Rechhht geben!“
 

„Bei Nacht? Da fällt mir ein... Als wir noch in dem Wald waren... da war es doch absolut dunkel“, überlegte Alice und dachte daran, wie er dort vor Kurzem in den Himmel geschaut hatte. „Ich habe eindeutig die Sterne gesehen! Wie kann es dann jetzt schon wieder Tag sein?“
 

„Kannssst du dir dasss nicht denken? Die Zzzeit vergeht hier andersss alsss... ich wollte sssagen, esss... gibt hier keinen fesssten Tag-und-Nacht-Rhythmusss“, unterbrach die Schlange sich selbst und legte eine verdächtige Pause ein, ehe sie weitersprach. „Jeder Teil desss Wunderlandesss hat ssseinen eigenen Zzzeitverlauf. Hier issst esss momentan hell.“
 

„... So ist das also. Verstehe“, murmelte er, ohne weiter auf den seltsamen Versprecher, den Charlie beinahe gemacht hätte, einzugehen. Es schien nicht der richtige Moment zu sein, ihn danach zu fragen. Obwohl es ihn jetzt wirklich brennend interessierte, was er da eben hatte ausplaudern wollen.
 

Nachdenklich schritt Alice voran, gemeinsam mit seinem geschuppten Begleiter, der noch immer um seine Schultern hing und immer wieder zwischendurch bekundete, wie sehr es ihn doch erleichtere, endlich wieder zu Hause zu sein, und nach wenigen Minuten hatten sie das Heckenlabyrinth erreicht.
 

„Ich nehme an, du kannst den Weg auswendig?“, fragte er die Schlange in der Hoffnung, nicht ganz alleine dort hinausfinden zu müssen. Wenn dem so wäre konnte es sich noch eine Ewigkeit hinziehen bis er bei der Herzkönigin angelangt war – und das Tier wurde auf Dauer nicht unbedingt leichter.
 

„Nun ja... ehrlich gesssagt... habe ich mich hier auch schhhon dasss eine oder andere Mal verirrt“, nuschelte Charlie offenbar peinlich berührt. „Aber ich werde versssuchen, dich hier raussszzzuführen!“
 

„Klasse. Klingt doch vielversprechend...“
 

Bemüht, sich nicht unnötigerweise entmutigen zu lassen, vertraute er so gut wie möglich auf Charlies Kenntnisse, was diesen Ort anbelangte. Immerhin kannte er sich als königliches Haustier deutlich besser hier aus als er selbst, und das konnte ja nicht von Nachteil sein. Tatsächlich erwies sich ihre Zusammenarbeit als passabel. Von den wenigen Malen, die Charlie ihm die falsche Richtung genannt hatte, weshalb er wieder hatte zurücklaufen und sich neu orientieren müssen, einmal abgesehen kamen sie erstaunlich rasch weiter. Ihr Ziel rückte immer näher, und irgendwann schien das Schloss nur noch einen Katzensprung entfernt – wäre da nicht diese Sackgasse gewesen.
 

„Das ist jetzt nicht wahr, oder...? Ihr seid wohl nicht gerade sparsam mit euren Sicherheitsvorkehrungen“, bemerkte Alice, während er die hohe Steinwand betrachtete, die den Durchgang versperrte.
 

„Dasss mussss exxxtra für Fremde wie dich ssso eingerichtet worden sssein“, zischte Charlie scheinbar ebenfalls etwas verunsichert. „Wenn ich alleine durch diesssesss Labyrinth krieche, öffnet sssich der Durchgang immer von ssselbssst.“
 

„Hehehe... Wisst ihr nicht weiter?“, erklang eine ätzend quietschende Stimme aus dem Nichts. Alice drehte sich skeptischen Blickes um. Langsam hörte er damit auf, sich zu fragen, wie es sein konnte, dass an jeder Ecke irgendetwas lauerte, das sich aus heiterem Himmel meldete, um seinen Senf dazuzugeben.
 

„Hier! Schau hier herüber!“, quietschte die Stimme erneut, und Alice wandte sich in die Richtung, die er glaubte ihr zuordnen zu können. Allerdings entdeckte er dabei etwas wesentlich Interessanteres, das er zuvor in der Eile übersehen haben musste – eine Vorrichtung, die etwas von einem kleinen Mäuerchen hatte; jedoch war in der Mitte eine schmale Fläche aus Metall angebracht, aus der vier verschiedenfarbige Knöpfe hervorragten.
 

„Guck mal, Charlie! Stand dieses Ding hier schon immer?“
 

„Jaja, schon gut... Ich bin es gewohnt, ignoriert zu werden!“, ertönte es wieder, diesmal deutlich lauter und ebenso gereizter. Nun doch ein wenig überrascht musterte er das Objekt, von dem er annahm, dass es die Quelle der nervtötenden Stimme darstellte, und konnte schließlich nicht anders als lauthals zu lachen.
 

„Ein Ei...? Na, da hat aber jemand eine ganz schön große Klappe, dafür dass er jederzeit in der Pfanne landen könnte“, kicherte Alice und stellte amüsiert fest, dass das besagte Ei, das bewegungslos auf dem Mäuerchen herumlag, sogar tatsächlich einen kaum sichtbaren Mund hatte, den es augenblicklich zu einem grimmigen Ausdruck verzog.
 

„Ich bin nicht einfach nur ein Ei. Ich bin Humpty Dumpty, der Wächter des Labyrinths! Und ich an deiner Stelle wäre vorsichtig mit dem, was ich sage, Kumpel...!“
 

„Ach ja? Mir egal, ob Humpty Dumpty oder Heiti Teiti... Hauptsache, du gehst mir nicht auf die Nerven, jetzt, wo ich so kurz vor dem Ziel stehe“, entgegnete er und beugte sich ein Stück zu der Metallfläche herunter, um sie sich etwas genauer anzusehen. „Wenn ich das richtig sehe haben die Knöpfe die gleichen Farben wie die Karten mit den Buchstaben. Scheint wieder irgendein Rätsel zu sein...“
 

„Da kommst du sowieso nicht drauf“, schaltete sich das Ei mit unangebrachter Überheblichkeit dazwischen.
 

„Wenn du mich für so dumm hältst... Schön für dich“, erwiderte Alice ohne von der eigenartigen Vorrichtung aufzuschauen. „Rot, Grün, Silber, Schwarz... So sind die Knöpfe angeordnet. Wahrscheinlich muss ich sie in der Reihenfolge drücken, in der auch die Buchstaben liegen mussten. Und da ich die Karten nicht mehr habe muss ich es aus der Erinnerung heraus lösen. Ja, so wird es sein.“
 

„Weisssssst du die Reihenfolge noch?“
 

„So schwierig kann es nicht sein, es sind ja nur vier Farben. Die erste Karte... das 'K' war grün. Die 'I'-Karte war definitiv schwarz. Also müssten die letzten beiden, die zwei 'S'-Karten, rot und silbern gewesen sein. Nur welches 'S' kommt zuerst?“, überlegte er laut. „Hm... Als ich das Wort zusammengelegt habe habe ich mir darüber auch keine Gedanken gemacht. Ich versuche es jetzt einfach!“
 

Neugierig schlängelte Charlie sich über seine Schulter, um eine bessere Sicht zu haben, als Alice nacheinander die Knöpfe betätigte – erst den grünen, dann den schwarzen gefolgt von dem silbernen und dem roten – und im Anschluss daran hektisch zurückzuckte, als ihn plötzlich ein dumpfer Schlag durchfuhr.
 

„Iiieeek...!“
 

„Was ist los? Du siehst so geschockt aus!“, witzelte das Ei höhnisch von seinem Platz auf der Mauer aus.
 

„Geschockt, ja...? Ich gebe dir gleich 'geschockt'! Was ist das hier für ein dämlicher Mistkasten?!“, fluchte Alice, beinahe gewillt, der elenden Vorrichtung einen Tritt zu versetzen, allerdings entschied er, es lieber sein zu lassen. Nicht, dass am Ende noch etwas kaputt ging. „Außerdem... Woher willst du nutzloses Nerv-Ei eigentlich wissen, wie ich aussehe? Du hast doch gar keine Augen!“
 

„Aaaha!“, machte Humpty Dumpty schrill. „Willst du etwa frech werden? Dir geschieht es ganz recht, dass die Maschine dich bestraft... du vorlautes Stück!“
 

„Oh, das Ei der Gerechtigkeit hat gesprochen! Weißt du was? Du wirst schon sehen – oder auch nicht, da du ja keine Augen hast –, dass ich dieses blöde Rätsel innerhalb der nächsten Sekunden lösen werde und du alleine hier liegen bleibst, wo niemand Notiz von dir nimmt! Nervige, kleine Eier, die sich wie große Moralapostel aufspielen, kann nämlich niemand leiden!“
 

Das unverständliche Genuschel, das Humpty Dumpty daraufhin von sich gab, nicht weiter beachtend widmete sich Alice wieder der Maschine, diesmal den roten Knopf dem silbernen vorziehend. Und – wer hätte es gedacht? – kaum, dass er die Reihenfolge eingegeben hatte, schob sich die schwere Steinwand zur Seite und gab den Weg zum Schloss endgültig frei.
 

„So! Das wäre erledigt.“
 

„Eine Schande ist es. Jemanden wie dich in die königlichen Räumlichkeiten zu lassen...“, hörte er Humpty Dumpty schon wieder meckern, als er gerade im Begriff war zu gehen. „Wenn das so weitergeht mit dem unhöflichen Pack sehe ich für die Zukunft aber schwarz. Die Herzkönigin sollte härtere Maßnahmen ergreifen, sonst geht das Wunderland wirklich den Bach herunter...“
 

„Ich glaube, da legt es jemand echt drauf an“, murmelte Alice, lief zurück zu der Mauer und nahm das keifende Ei locker in seine Hand.
 

„Was soll das? Lass mich sofort runter!“, zeterte es mit verärgert nach unten gezogenen Mundwinkeln.
 

„Ich soll dich also runterlassen...?“, wiederholte Alice gespielt freundlich. „Das werde ich gerne tun. Ich überlege noch, wie und wo.“
 

„Untersteh dich...! Das traust du dich ja ohnehin nicht! Niemand wäre dem Wächter des Labyrinths gegenüber so skrupellos!“
 

„Ach nein? Ich habe nie behauptet, mein Name wäre 'Mr. Nice Guy'!“, grinste er, holte aus und warf das schreiende Ei mit Schwung über die Hecke, hinter der er meinte ein leise knackendes Geräusch zu hören, als es aufkam.
 

„Du hassst Humpty Dumpty ermordet...!“, zischte Charlie feststellend, jedoch nicht den Eindruck erweckend, als würde dies für ihn einen sonderlichen großen Verlust darstellen.
 

„... Ich musste mal wieder was für mein böses Image tun. Außerdem kann das Geschwafel doch keiner aushalten. Der war ja schlimmer als jeder Lehrer“, erklärte Alice, was Charlie bloß mit einem zustimmenden Nicken quittierte, bevor er sich mit der Schlange und den Worten „Also dann...!“ erwartungsvoll in Richtung des riesigen Schlosses begab.
 

Die letzten Treppenstufen, die direkt in den wahrlich beeindruckenden Schlossgarten führten, emporsteigend suchte Alice die Gegend flüchtig nach irgendeiner Person ab, die ihm das königliche Anwesen möglicherweise etwas näher bringen konnte, bevor er ihrer Majestät höchstpersönlich begegnete. Recht schnell konnte er vor dem etwa zur Hälfte schwarz und zur anderen Hälfte rot gestrichenen Schlosstor zwei Menschen ausmachen, die sich offenbar miteinander unterhielten. Einer der beiden schien so etwas wie eine Wache zu sein, den anderen konnte er zumindest im Augenblick nirgendwo zuordnen. Er war sich nicht einmal sicher, ob die beiden ihn bemerkten, jedoch spielte es auch keine Rolle mehr, denn kurz darauf entdeckte er bereits eine dritte Person in geringerer Reichweite, die gerade hingebungsvoll damit beschäftigt war, die Blumen zu gießen. Allerdings erklärten sich diese Hingebung sowie die stets tänzelnden Bewegungen der Person von selbst, wenn man sich ihre Kleidung besah. Bei dem bunt gemusterten, mit diversen Glöckchen behangenen Gewand konnte es sich nur um einen Hofnarren handeln.
 

„Ähm... Entschuldige, falls ich störe“, setzte Alice vorsichtig an, woraufhin er sogleich mit einem überaus eindringlichen Blick bedacht wurde.
 

„Ohooo... Ein Besucher! Und Ihr habt ja sogar Charlie mitgebracht!“
 

„Home, sssssweet home!“, flötete dieser zufrieden und brachte den Narren damit zum Kichern.
 

„Ich muss Euch meinen Dank aussprechen, Fremder! Charlie und ich sind gute Freunde. Ich hatte schon Sorge, ihm könnte etwas passiert sein... Aber wie ich sehe ist er wohlauf!“
 

„Ja, das ist... überhaupt kein Problem. Man könnte sagen, wir hatten den gleichen Weg und sind bisher gut miteinander ausgekommen“, winkte Alice ab. Sein Gegenüber lächelte scheinbar hoch erfreut.
 

„Das ist schön zu hören.Wenn ich mich übrigens vorstellen darf: Mein Name ist Fish. Ich bin dafür zuständig, den Hof bei Laune zu halten. Und wenn ich einmal nicht gebraucht werde bin ich meist hier draußen im Schlossgarten anzutreffen, wo ich mich um die Sträucher und Blumen kümmere“, sagte der Narr und deutete eine Verbeugung an, wobei seine Glöckchen leise klingelten. „Und mit wem habe ich die Ehre?“
 

„Alice“, antwortete er. „Alice, der Auserwählte, Kämpfer für Recht und Ordnung und Befreier des Wunderlandes... all das bin ich. Oder soll ich zumindest sein.“
 

„Tatsächlich? Das ist... interessant“, erwiderte die bunte Erscheinung namens Fish, leicht den Kopf schief legend. „Und... gibt es irgendetwas, das ich für Euch tun kann, Auserwählter? Nur keine Bescheidenheit!“
 

„Nun ja... Ich hatte gehofft, hier die Herzkönigin zu treffen. Ist sie zufällig da?“
 

Fish grinste, als hätte er die Frage schon lange vorausgeahnt.
 

„Selbstverständlich ist sie da. Sie erwartet Euch bereits“, erklärte er und blickte kurz zum Schloss hinüber, wo inzwischen nur noch einer der beiden Typen stand und Wache hielt – der Andere war wohl hineingegangen.
 

„Sie... Sie erwartet mich?“ Schlagartig nervös geworden sah Alice erst zu Charlie, der allerdings, so wie es aussah, wieder einmal nichts dazu zu sagen hatte, dann erneut zu seinem seltsamen Gesprächspartner. „Woher weiß sie denn... ich meine... Wir kennen uns doch nicht einmal?“
 

„Oh, wisst Ihr, unsere Königin ist bestens informiert über alles, was im Wunderland vor sich geht. Sie hat, sagen wir... verlässliche Quellen“, entgegnete Fish, und nur wenige Sekunden nachdem er es ausgesprochen hatte öffnete sich das große zweifarbige Tor und zwei Menschen traten heraus. Einer von ihnen war, wenn er es richtig erkannte, der Kerl, der sich bei seiner Ankunft mit der Wache unterhalten hatte, jedoch hatte er kaum Gelegenheit, ihn länger zu beachten. Die zweite Person, eine hochgewachsene und – jedenfalls von Weitem – zweifellos schöne Gestalt, die sich ihm, gehüllt in ein prachtvolles schwarz-rotes Kleid, mit ruhigen Schritten näherte, schaffte es, seine volle Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Mit einer derart anmutigen Präsenz hatte er offen gestanden nicht gerechnet, wo doch der Rest dieser Welt fast ausschließlich aus gehirnamputierten Verrückten zu bestehen schien. Doch je näher die edel gekleidete Gestalt an ihn herantrat desto sicherer war er sich, sie schon einmal gesehen zu haben. Und schließlich, als sie ihm beinahe gegenüberstand, den Blick emotionslos auf ihren Begleiter gerichtet, der ihr anscheinend etwas zuflüsterte, wusste er, weshalb ihr blasses Gesicht ihm so bekannt vorkam.
 

Marilyn!, schoss es ihm augenblicklich durch den Kopf. Das glaube ich jetzt nicht... Sie ist... Marilyn Manson!
 

Langsam wandte sich die Königin von ihrem Untergebenen ab – und kaum, dass sie ihn direkt anschaute, verwandelte der kalte Ausdruck in ihren Augen sich in pure Fassungslosigkeit. Wie versteinert fixierte sie ihn, während sie undeutlich etwas murmelte:
 

„Du... Du bist...“
 

„Was...?“
 

Mit plötzlich trauriger Miene blickte sie zur Seite, dann sah sie ihn wieder an und ihr Ausdruck war genauso kalt wie zuvor.
 

„Nichts. Absolut gar nichts“, sagte sie, ihre dunkelroten Lippen zu einem unheimlichen Lächeln verziehend. „Alice, nicht wahr? Wie außerordentlich schön, deine Bekanntschaft zu machen...!“
 

Unsicher, was er von der bisherigen Situation halten sollte, musterte Alice die Herzkönigin, die er nach einer gefühlten Ewigkeit nun endlich das erste Mal mit eigenen Augen sah, bevor er entschied, dass es möglicherweise, alleine der Form halber, angebracht war, sich vor ihr auf den Boden zu begeben.
 

„Es ist mir eine Ehre, Euch zu treffen, Majestät.“
 

Die Herzkönigin lachte leise.
 

„Das ist schmeichelhaft. Aber du darfst dich gerne erheben“, hörte er ihre vertraute Stimme sagen, was er angenehm überrascht zur Kenntnis nahm. „Du musst einen beschwerlichen Weg hinter dir haben. Was hat dich dazu veranlasst, zu mir zu kommen?“
 

„Ich... bin hier, weil ich annahm, Ihr könntet mir helfen“, gab Alice zögerlich zurück, bemüht, sein Gegenüber nicht allzu offensichtlich anzustarren. Warum musste ausgerechnet Marilyn Manson die Herzkönigin sein? Er konnte nicht einmal leugnen, dass das Kleid, die hochhackigen Stiefel und die Krone hervorragend zu ihm passten, aber die Tatsache, dass er ihn normalerweise als rebellischen, eher spärlich bekleidet durch die Weltgeschichte hüpfenden Gruftie kannte, machte es nicht gerade einfacher, ihn jetzt als vornehme Königin zu betrachten. Mit Sicherheit nicht.
 

„Was ist dein Anliegen, Alice?“, fragte Marilyn, womit er ihn leider sehr schnell wieder ins Hier und Jetzt zurückholte. Dabei hätte er beinahe für einen Augenblick vergessen, dass es überhaupt so etwas wie ein Anliegen gab.
 

„Ich wollte, um ehrlich zu sein, fragen, ob Ihr... ob Ihr es mir ermöglichen könntet, eure Welt wieder zu verlassen“, sagte er, dem intensiven Blick seines Gesprächspartners noch immer so gut es ging ausweichend. „Ich weiß, es gibt angeblich irgendeinen Grund, aus dem ich hier bin. Und ich weiß auch, dass es vielleicht... unhöflich ist, Euch darum zu bitten. Aber ich bin nicht derjenige, für den mich alle halten, und ich glaube nicht, dass ich etwas ausrichten kann, das euch wirklich von Nutzen wäre. Es tut mir leid, aber ich... gehöre einfach nicht hierher.“
 

„Dann wolltessst du von Anfang an gar nicht hier bleiben?“, meldete sich Charlie unerwartet zu Wort. „Davon hassst du mir nichtsss erzzzählt...“
 

„Ich dachte, es spielt keine Rolle, weil... ihr mich ohnehin verwechselt“, brachte er zu seiner Verteidigung vor. „Ich meine... Was soll ich denn bitte Großartiges für euch tun, außer zwischendurch den Streitschlichter zu spielen, wenn mal wieder irgendwelche rivalisierenden Idio... Typen aneinandergeraten? Ich bin ja nicht mal einer von euch!“
 

Einen Moment lang sah er die Herzkönigin ernst an, inständig hoffend, dass sie sich einsichtig zeigen und Verständnis für seine Lage haben würde. Allerdings waren ihre Züge so puppenhaft, dass er sich nur schwerlich vorstellen konnte, dass sie überhaupt so etwas wie Gefühle besaß.
 

„Gib mir die Schlange, Alice“, sagte sie ruhig, aber bestimmt, und er zögerte nicht, ihrer Aufforderung nachzukommen. Mit einer fließenden Bewegung hängte sie sich Charlie um ihre Schultern, was ihrem Äußeren gewissermaßen noch mehr Eleganz verlieh. Es war in der Tat ziemlich erleichternd, das zusätzliche Gewicht losgeworden zu sein. „Deine Bitte ist keineswegs unhöflich. Nur solltest du wissen, dass es... nicht so leicht ist, wie du es dir vielleicht vorstellst. Ich fürchte, du kannst hier nicht einfach weg.“
 

„Warum nicht...? Ich bin hierher gelangt, also muss es doch auch einen Weg zurück geben...! Ich kann nicht glauben, dass ich dazu verdammt sein soll, auf ewig in dieser Irrenanstalt festzustecken und euren Wahnsinn mitzuspielen, als wäre alles in Ordnung!“
 

„Wie ist dein Nachname?“
 

„... Was? Wieso wollt Ihr das wissen?“
 

„Antworte mir.“
 

Von der scheinbar völlig zusammenhangslosen Frage überrascht musste er ein wenig schockiert feststellen, dass die Antwort ihm aus welchen Gründen auch immer bei Weitem nicht so schnell einfallen wollte wie es ihm lieb gewesen wäre.
 

„Du weißt ihn nicht mehr, richtig?“, erwiderte die Königin auf sein Schweigen. „Und jetzt sag mir, Alice... Wie willst du dich in deiner ach so normalen und geordneten Welt zurechtfinden, wenn du nicht einmal mehr deinen eigenen Namen kennst? Im Übrigen wird er nicht das einzige bleiben, das aus deiner Erinnerung verschwindet. Du tätest besser daran, dich mit dem Gedanken abzufinden, hierzubleiben, wo Dinge wie Tag und Nacht genauso unwichtige Details sind wie... Namen.“
 

„Cooper“, sagte er knapp. „Mein Nachname ist Cooper. Werdet Ihr mir jetzt verraten, wie ich hier wieder rauskomme?“
 

Wortlos starrte die große 'Herrscherin' des Wunderlandes ihn an, dann lächelte sie. Es hätte beinahe freundlich gewirkt, wäre da nicht diese unnatürliche Kälte gewesen, von der ihre gesamte Präsenz umgeben war.
 

„In diesem Fall... selbstverständlich“, entgegnete sie plötzlich seltsam verständnisvoll. „Aber bevor ich dich hinausgeleite könntest du eine kleine Stärkung vertragen. Wie ich bereits erwähnte ist es kein einfaches Unterfangen, das Wunderland unbeschadet zu verlassen. Außerdem... gibt es einiges, das wir vorher noch klären müssten. Ich schlage vor, wir besprechen alles in Ruhe bei einer Tasse Kaffee. Was hältst du davon?“
 

„Kaffee? Jetzt gleich...?“ Alice überlegte, bis er zu dem Schluss kam, dass es wohl besser war, ihr Angebot anzunehmen. Auf weitere unnötige Komplikationen konnte er gut verzichten und davon einmal abgesehen war die Aussicht auf eine Stärkung tatsächlich nicht das Schlechteste. „Okay, gut. Ich... danke Euch für Eure Hilfsbereitschaft.“
 

„Keine Ursache“, antwortete sie schlicht, ehe er sich wenig später in einem anderen Teil des Schlossgartens wiederfand, umgeben von in diverse Formen geschnittenen Sträuchern an einem hübsch gedeckten Tisch sitzend und erwartungsvoll ihrer Hoheit zugewandt. Ein wenig erschien sie ihm wie eine Statue, die jemand, genau wie all die Pflanzen, zurechtgeformt, dann in edle Kleider gesteckt und als weitere Verschönerung dem königlichen Anwesen hinzugefügt hatte. Kunstvoll, aber leblos. Er fragte sich, ob ihr Blick wegen ihrer stechend roten Augen so gruselig wirkte oder ob es einen anderen Grund hatte, während er sich einen Schluck von dem Kaffee zu Gemüte führte, den sie für sie beide hatte servieren lassen.
 

„Nun, Alice... Es gibt zwei Möglichkeiten, wie wir verfahren können“, hörte er sie irgendwann sagen und seltsamerweise schienen ihre Worte zunehmend unklarer zu werden. Bruchstückhafter. „Ich hoffe... triffst... richtige Entscheidung und... dir selbst einen Gefallen...“
 

„... Hmm...“
 

Gerade noch rechtzeitig bevor er seine Tasse hatte fallen lassen können gelang es ihm, sie mit einer schlagartig aufgekommenen Müdigkeit auf dem Tisch abzustellen. Das letzte, was er bemerkte, war, dass Charlie von ihren Schultern verschwunden war und sie stattdessen etwas in der Hand hielt, das wie ein Seil aussah, ehe seine Umgebung verschwamm und alles um ihn herum dunkel wurde.
 

...
 

„Aliccce...! Du musssssst mir helfen, Aliccce!“
 

„Charlie? Du warst doch gerade noch... Wie bist du...“, war alles, was er mehr als verwirrt hervorbrachte, als er feststellte, dass er die Schlange wieder mit sich trug und sich nicht daran erinnern konnte, wie es dazu gekommen war. Er wusste nicht einmal, wo er sich befand. Außer einigen Schatten, die wie merkwürdige Lebewesen langsam an ihm vorbeikrochen, war absolut nichts zu erkennen. Nur Charlie, der ihn auf eine irgendwie beängstigende Art musterte, war deutlich besser zu sehen als es die Dunkelheit eigentlich hätte erlauben dürfen.
 

„Wir sssind in Gefahr, Aliccce! Und – wahrschhheinlich hassst du esss dir schhhon gedacht – nur wir beide können etwasss dagegen unternehmen!“, zischte er aufgeregt und schaute sich in der Gegend um, so als würde er versuchen, ungewollte Beobachter ausfindig zu machen. Dann fuhr er mit gedämpfter Stimme fort. „Esss gibt da etwasss, dasss ich dir... verheimlicht habe. Ichhh... bin in Wahrheit gar keine Schhhlange.“
 

„... Keine Schlange? Und was bist du dann? Eine verzauberte Blindschleiche?“
 

„Falschhh“, erwiderte er bitterernst. „Ich bin... ein verzzzauberter Drachenprinzzz. Und ichhh brauche deine Hilfe, um meine wahre Gessstalt wiederzzzuerlangen. Du musssst... mich küssssen.“
 

Alice lachte entgeistert.
 

„Ja, genau. Das ist ein Scherz, oder? Reicht es nicht, dass ich mit Gene Simmons geflirtet habe...?“
 

„Nein!“, gab Charlie zurück, schlängelte sich aufdringlichst um ihn herum und starrte ihn so vorwurfsvoll an wie es einem Reptil nur möglich war. „Wir dürfen keine Zzzeit verlieren! Küssssss mich!“
 

„Was zum...? Mir ist jetzt nicht danach! Du kannst mich nicht dazu zwingen...!“, protestierte er kleinlaut und hielt abrupt inne, als er glaubte, eine auffällige Bewegung in den Schatten gesehen zu haben.
 

„Aaaaaliiiiiiiiiceeeeeeee!“
 

„Nein... Nicht auch noch das... Warum könnt ihr nicht einfach alle weggehen...“, murmelte er, drehte sich um und hoffte, der Spuk würde sich als bloße Einbildung herausstellen, wenn er wieder hinsah. Leider hatte er weit gefehlt. Natürlich hatte er anhand der schaurigen Stimme sofort gewusst, dass es sich um niemand anderen als den Showmaster handeln konnte. Anfangs irritiert, weshalb er ihn erst mit nach unten gerichtetem Blick entdecken konnte, musste er unweigerlich schlucken, als ihm klar wurde, dass der Andere bloß zur Hälfte aus dem Boden ragte – sofern ein Boden in dieser ewigen Finsternis überhaupt existierte. Der Shomaster jedoch machte nicht den Anschein, als wäre die Dunkelheit ihm fremd oder gar ein Hindernis. Viel zu freundlich als dass es noch hätte wahr sein können lächelte er zu ihm herauf, mit einer Hand fest eine dünne Schnur umklammernd.
 

„Du hast deinen Ballon verloren, Alice!“
 

„Ich will keinen dämlichen Ballon...! Sucht euch doch gefälligst einen anderen, den ihr heimsuchen könnt, und fahrt verdammt nochmal alle zur Hölle!!“
 

...
 

„Was redet er da...?“
 

„Ruhe! Er wacht auf!“
 

„... Was? Was ist los...? Wo bin ich?“, murmelte Alice benommen, als er langsam aber sicher zu sich kam und vage registrierte, dass er das Bild vor seinen Augen wieder einmal nicht zuordnen konnte.
 

„Gefällt es dir hier? Du bist im Schloss!“, antwortete ihm eine wohlbekannte Stimme und kurz darauf sah er, dass es die Herzkönigin war, die mit einem scheinbar belustigten Gesichtsausdruck hinter ihm hervortrat, ihm zunickte und in den Saal hineinwinkte. „Nicht jeder darf meine bescheidene Stube von innen betrachten. Du bist einer der wenigen, denen ich es gestatte. Freust du dich?“
 

„Mich freuen...? Ich...“
 

Etwas stimmte hier nicht. Nein, sogar mehrere Dinge waren nicht so wie sie für gewöhnlich sein sollten. Eines dieser Dinge war seine Bewegungsfreiheit – und als er wieder vollständig bei Sinnen war wusste er auch, weshalb.
 

„Ihr habt mich gefesselt?!“, bemerkte er fassungslos, mühevoll versuchend, seine Arme zu befreien, die hinter seinem Rücken von einem offenbar straff festgeknoteten Strick zusammengehalten wurden. „Wie kommt Ihr dazu, so etwas zu tun...? Ich dachte, Ihr wolltet mir helfen! War das also nur leeres Ge-“ Er stockte. Ein zufälliger Blick an sich herunter verriet ihm eine weitere Gegebenheit, die definitiv nicht so war wie sie hätte sein sollen: Seine Sachen. Es waren nicht seine. Und auf die Schnelle konnte er diese auch nirgends entdecken. Weder auf der dunkelroten Couch, an die er, wie es aussah, gebunden war, noch sonst irgendwo. „Was sind das für Klamotten, die ich da an habe? Und überhaupt- Gütige... Güte, habt Ihr mich ausgezogen?!“
 

„Ich bitte dich“, grinste der Marilyn-Klon, während er einen Schritt auf ihn zumachte und ihn offensichtlich amüsiert begutachtete. „Wenn es mich danach gelüstet, jemanden auszuziehen, habe ich es nun wirklich nicht nötig, der entsprechenden Person zuvor Schlafmittel zu verabreichen.“
 

Schlafmittel. Natürlich.
 

„Ach so. Verstehe. Dann sind meine Sachen wohl von alleine runtergefallen und das Zeug hier ist mir auf ebenso unerklärliche Weise einfach gewachsen, oder was? Schon klar, kann ja mal passieren. Wie konnte ich Euch nur beschuldigen?“
 

Die Herzkönigin lachte heiter.
 

„Du bist witzig. Ich glaube, du hast vergessen, wer ich bin“, entgegnete sie in einem äußerst selbstgefälligen Tonfall. „Denkst du, ich würde über das Wunderland herrschen, wenn ich nicht ein paar nette Tricks auf Lager hätte? Dir in drei Sekunden ein neues Outfit zu verpassen ist für mich eine Kleinigkeit. Dazu brauche ich dich noch nicht einmal anzufassen. Außerdem solltest du mir dankbar sein. Deine alten Sachen waren völlig durchnässt und obendrein... geschmacklos.“
 

„Oh ja, vielen Dank, Eure Hoheit! Vielen Dank, dass Ihr mir was ins Getränk gemischt, mich an Eure Couch gefesselt und mit einem lustigen Zaubertrick meine Klamotten habt verschwinden lassen! Wenn Ihr mich nicht sofort losbindet werde ich Euch auch mal einen Zaubertrick zeigen. Ich weiß noch nicht genau, welchen, aber der wird garantiert nicht nett und lustig sein...!“
 

Am Rande bemerkte Alice, wie Fish, der ebenfalls vor dem Sofa stand und ihr Gespräch mitanhörte, mühsam ein Kichern unterdrückte. Ein strafender Blick seinerseits reichte glücklicherweise aus, damit er sich zusammenriss.
 

„Hör zu, Alice“, begann Marilyn ohne den Narren zu beachten. „Ich werde dich losbinden. Unter der Bedingung, dass du schön brav bleibst und nicht den Versuch startest, von hier zu fliehen – denn das wäre ohnehin zwecklos. Draußen mag zwar momentan nur eine einzige lausige Wache stehen, aber glaube mir, ich verfüge über genug Methoden, eine mögliche Flucht zu verhindern. Also denk nicht mal daran und probiere lieber, deinen Aufenthalt bei mir zu genießen, solange wir beide uns noch so... gut verstehen.“
 

„Selbstver-ständlich“, erwiderte Alice betont in die Länge gezogen. „Ich werde ganz brav sein. Wie immer. Wusstet Ihr übrigens, dass ich auch apportieren kann?“
 

„Das kann ich mir gut vorstellen. Du kannst es mir ja vormachen, wenn du ausreichend unter Beweis gestellt hast, dass du keinen Ärger machen wirst. Wenn du dich bitte kurz umdrehen würdest?“, sagte die Königin und deutete auf seine zusammengebundenen Arme. Einerseits erleichtert, andererseits etwas beunruhigt kam er ihrer Aufforderung nach und seufzte selbstmitleidig, als sie sich daran machte, das Seil von seinen Handgelenken zu lösen. Er konnte nicht unbedingt behaupten, sich besonders sicher zu fühlen, wenn er diese Person hinter sich wusste.
 

Leider musste er sich wohl eingestehen, dass er sich dieses Mal bei seiner ersten Begegnung getäuscht hatte. Die ehrwürdige Herzkönigin war kein schönes und anmutiges Püppchen, wie er es kürzlich noch angenommen hatte. Ganz und gar nicht. Viel eher war sie eine sadistische Mörderpuppe. Ja. Genau das.
 

„Das hätten wir“, trällerte sie gut gelaunt, während sie das auf eine seltsame Weise fast lebendig wirkende Seil beiseite räumte. Dann machte sie eine nachdenkliche Miene, bevor sich ein verdächtiges Lächeln auf ihre Lippen legte. „Weißt du was? Ich habe eine grandiose Idee! Bleib am besten einfach hier sitzen und warte auf mich, ich bin gleich wieder da!“
 

„Was... ach, was soll's. Von mir aus“, antwortete er gleichgültig. Eigentlich wollte er überhaupt nicht wissen, was sie jetzt schon wieder vorhatte.
 

Noch immer ein wenig müde machte Alice es sich auf der Couch bequem, sobald die königliche Mörderpuppe den Raum verlassen hatte – schließlich hatte sie gesagt, er solle seinen Aufenthalt genießen –, und ließ seinen Blick durch den gesamten Saal schweifen. Dass zumindest die Empfangshalle eine sehr stilvolle Einrichtung besaß ließ sich nicht abstreiten. Sämtliche Möbel schienen irgendwann einmal mit liebevoller Handarbeit angefertigt worden zu sein. Von der Decke hing ein durchaus imposanter Kronleuchter; ein paar Meter weiter gegenüber der Treppe, die Marilyn auf seinen mörderischen Absätzen hochgestöckelt war, ragte eine eindrucksvolle Standuhr empor.
 

Ja, wahrscheinlich hätte er seinen Aufenthalt hier tatsächlich in vollen Zügen genossen, wären die Umstände nur nicht so überaus fraglich gewesen.
 

Einen Moment lang beinahe verwundert über die ungewohnte Ruhe, die sich um ihn herum ausgebreitet hatte seit niemand mehr bei ihm stand und Befehle gab, warf er im nächsten Augenblick gleichzeitig mit Fish, der sich immer noch – freundlicherweise dezent – in seiner Nähe aufhielt, einen irritierten Blick zum Schlosstor, hinter dem er rapide lauter werdende Schritte wahrnahm. Allerdings hatte er nicht länger Gelegenheit dazu, sich zu fragen, wer sich auf der anderen Seite befand. Ehe er sich versah war das Tor mit einem knarzenden Geräusch aufgeflogen und niemand Geringeres als das weiße Kaninchen kam vollkommen aus der Puste hereingestürmt.
 

„Anna...! Wo ist Anna?!“, rief es atemlos, während es hibbelig auf der Stelle hin und her wippte. Fish wollte ihm scheinbar gerade eine Antwort geben, da hatte es ihn schon auf dem Sofa entdeckt und hetzte eilig in seine Richtung. „Anna! Da bist du ja!“
 

„... Ich heiße Alice. Ist das denn so schwer? A.L.I.C.E. ...!“, verdeutlichte er es ihm ein weiteres Mal, als sein Blick umgehend auf das glänzende Objekt fiel, das Hasi in seiner Hand hielt. „Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?“
 

„Ich... Ich habe extra meine Arbeit – das Streichen des Tores – unterbrochen, weil mich aus heiterem Himmel eine Brieftaube aufsuchte... mit der Nachricht, ich solle sofort zum Hutmacher kommen, er wolle mir dringend etwas geben. Also rannte ich unverzüglich zu ihm, und... nun, was er mir gab siehst du selbst. Das ist offenbar ein Geschenk an dich!“, erklärte das Kaninchen mit einem skeptischen Ausdruck in seinen Augen und überreichte ihm den mit einem roten Schleifchen verzierten Eiszapfen, bevor es sich kopfschüttelnd wieder von ihm abwandte. „Was auch immer das bedeuten soll. Pass auf, dass dein... Geschenk nicht schmilzt. Ich muss wieder los... das Tor weiterstreichen. Schwarz. Bis die Königin es wieder rot wünscht.“
 

Mit diesen Worten hatte sich Hasi genauso schnell aus dem Staub gemacht wie er hereingeplatzt war, das Tor mit einem lauten Krachen hinter sich schließend, um sein würdeloses Werk rasch fortführen zu können. Völlig starr betrachtete Alice sein 'Geschenk' und fragte sich ernstlich, wie es sich dermaßen schnell hatte herumsprechen können, dass er es bis zum Schloss der Herzkönigin geschafft hatte.
 

Kaum, dass er einen Gedanken an sie verschwendete, kehrte ihre skrupellose Erhabenheit auch schon zu ihm zurück, trotz ihrer unpraktischen Kleidung gekonnt die Treppenstufen herunterschreitend und mit einem zweifelhaften Grinsen zu ihm herüberschauend.
 

„Ich sehe, du hast auf mich gewartet, Alice. Was hast du denn da Schönes?“
 

„Einen Eiszapfen, Eure Majestät“, erwiderte er schnippisch. Marilyn zog seine nicht vorhandenen Augenbrauen hoch.
 

„Oooh... Soll ich dich vielleicht lieber noch ein Weilchen alleine lassen?“
 

„Sehr witzig. Sagt mir lieber, wo ich das Teil unterbringen soll, bevor es zu einer Eispfütze wird. ... Und wehe, Ihr kommt mir jetzt mit irgendeiner obszönen Antwort von wegen 'Oh, Alice, ich wüsste schon, wo du es unterbringen kannst'!“
 

Marilyn streckte ihm kichernd eine Hand entgegen.
 

„Du gefällst mir immer mehr, weißt du das? Gib mir das Teil. Mir ist ohnehin nicht wohl dabei, wenn du hier mit einer potentiellen Mordwaffe herumhantierst“, sagte er, offenbar wohl doch ein wenig misstrauisch. Mit einem merkwürdigen Gefühl drückte Alice ihm die eiskalte Mordwaffe in die Hand und blickte ihn fragend an. „Ich kann es für dich aufbewahren, falls du Wert darauf legst. Sowas kann man ja schließlich immer mal gebrauchen. Zum Aufspießen eines Steaks beispielsweise.“ Marilyn lachte gekünstelt. „Wo hast du dein kleines Spielzeug eigentlich her?“
 

„Das weiße Kaninchen war gerade eben hier und hat es mir überbracht. Sollte wohl ein nachträgliches Nicht-Geburtstagsgeschenk vom Hutmacher sein. Warum weiß ich auch nicht“, antwortete er nicht ganz wahrheitsgemäß und versuchte angestrengt, einen Blick auf die quadratische Box zu erhaschen, welche die Herzkönigin anscheinend aus einem anderen Zimmer hervorgekramt hatte. „Darf ich wissen, was Ihr da mitgebracht habt? Sieht aus wie ein... Kartenspiel?“
 

„Richtig, Alice, das ist es auch!“, gab sie vorfreudig zurück. „Ich habe mir vorhin überlegt, dass wir beide eine Partie gegeneinander austragen werden. Du möchtest doch sicher etwas über das Wunderland erfahren, nicht wahr? Ein paar nützliche Informationen? Solltest du mich schlagen werde ich dir verraten, was du willst. Solltest du jedoch verlieren...“ Mit einem Mal blinzelte sie ihn mehr als vielsagend an. „Solltest du verlieren wirst du mir einen Besuch in meinen Gemächern abstatten. Allein. Und zwar solange, bis ich dich persönlich entlasse.“
 

„Was?!“
 

„Du solltest dir gut überlegen, ob du kneifen willst. Immerhin hast du die einmalige Chance, Dinge in Erfahrung zu bringen, die dir maßgeblich weiterhelfen könnten. Und das kann in deiner misslichen Situation doch nur von Vorteil für dich sein, stimmt's?“, lächelte sie überlegen. „Vergiss nicht, Alice... Wie ich es bereits erwähnte hast du genau zwei Möglichkeiten, wie du verfahren kannst: Entweder du bleibst freiwillig hier, hältst dich an meine Regeln und hast meine Gunst voll und ganz auf deiner Seite... oder wir müssen mit unangenehmeren Mitteln dafür Sorge tragen, dass du hier bleibst. Es liegt ganz bei dir.“
 

Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich von ihm weg und schritt mit der Box auf den runden Tisch zu, der mitten im Raum stand. Einige Sekunden lang schlicht überfordert starrte er Fish an, der es jedoch, wie es aussah, vorzog, sich aus der Angelegenheit herauszuhalten. Dann wandte er sich erneut der Herzkönigin zu, die das alles entscheidende Kartenspiel behutsam vor sich ablegte, ehe sie ihn aufmerksam fixierte.
 

„Also gut... Ich nehme Eure Herausforderung an!“

Kapitel 6 - Schwarz und Rot

Missmutigen Blickes beobachtete Alice, wie Marilyn mit schwungvollen Bewegungen das schicksalhafte Kartenspiel mischte und immer wieder wie zufällig zu ihm herüberblinzelte, so als wolle er sich vergewissern, dass er sein Vorhaben auch wirklich durchzog. Stillschweigend wartete er, bis sein für seinen Geschmack viel zu gut gelaunter Gastgeber – oder vielleicht eher Entführer – die Vorbereitungen für ihre Partie abgeschlossen hatte, drehte sich einmal um, nur um festzustellen, dass Fish es sich ganz in der Nähe gemütlich gemacht hatte, um dem einmaligen Spektakel beizuwohnen, und sah ihre Hoheit ein wenig ungeduldig an.
 

„Könnten wir dann anfangen? Ich will es hinter mich bringen...“
 

„Wenn du bereit bist“, flötete sein Gegenüber gespielt unschuldig lächelnd. Alice seufzte entnervt.
 

„Natürlich bin ich bereit, es ist nur ein verdammtes Kartenspiel!“, murrte er, griff beiläufig nach seiner Kaffeetasse und genehmigte sich einen Schluck. Selbstverständlich hatte er die Herzkönigin selbst sein Getränk vorkosten lassen, schließlich konnte man nie wissen, ob auch wirklich bloß das darin war, was darin sein sollte. Wobei er anstatt eines Kaffees möglicherweise tatsächlich momentan eher so etwas wie ein Beruhigungsmittel hätte gebrauchen können. „Wenn Ihr vielleicht nur so nett wäret, mir wenigstens zu sagen, um welche Art Kartenspiel es sich handelt?“
 

„Wie meinst du das?“, gab Marilyn irritiert zurück.
 

„Tut doch nicht so. Ihr werdet mir ja wohl sagen können, welches Spiel Ihr gedachtet zu spielen?“
 

„Deine Frage verwirrt mich. Es gibt doch nur eines, das man mit Karten spielen kann. Wir werden eine ganz normale Runde 'Wunderpoker' gegeneinander austragen. Sonst noch was?“
 

Wunderpoker, wiederholte er in Gedanken ohne es auszusprechen. Was auch sonst.
 

„Ja, also... Wie Ihr euch anhand der Tatsache, dass ich noch nicht sonderlich lange hier bin, sicher denken könnt, hatte ich bisher nicht die Gelegenheit, 'Wunderpoker' zu spielen. Es wäre sicher hilfreich, wenn Ihr mir die Regeln Eures... einzigen Kartenspieles erklären würdet.“
 

„Oh, die Regeln, mein Lieber, sind so gut wie selbsterklärend“, lachte die Herzkönigin und deutete auf den Stapel, der zwischen ihnen in der Mitte des Tisches lag. „Wir beide ziehen zu Anfang fünf Karten. Natürlich diskret. Hm, sagen wir... Da ich durch deine Unerfahrenheit gewissermaßen einen Vorteil habe, lasse ich dich als erstes zum Zug kommen.“
 

„... Macht Ihr das eigentlich mit Absicht?“, zischte Alice kaum hörbar.
 

„Wie bitte? Was soll ich mit Absicht machen?“
 

„Nichts. Vergesst es“, murmelte er, nahm nacheinander fünf Karten von dem Stapel und besah sie sich so konzentriert wie möglich. Marilyn tat es ihm gleich.
 

Herz-Zehn, Karo-Dame, Karo-Sechs, Kreuz-Ass und Kreuz-Vier, das war es, woraus sein Blatt bestand. Ob das nun gut oder schlecht war blieb ihm schleierhaft.
 

„Und jetzt?“, fragte er, den Blick prüfend auf seinen Gegner gerichtet, dem allerdings nicht ansatzweise anzusehen war, ob er ein zufriedenstellendes Blatt besaß oder nicht. Bei dem puppenhaften Gesicht war es jedoch vermutlich keine Kunst, ein Pokerface aufzusetzen.
 

„Jetzt sucht Ihr euch eine Karte aus, die Ihr offen neben dem Stapel ablegt, geehrter Gast!“, schaltete sich Fish mit fröhlicher Stimme dazwischen. Alice musterte ihn flüchtig in dem Versuch, zu erkennen, ob der Narr von dort aus freie Sicht auf seine Karten hatte, kam aber zu dem Schluss, dass es keine Rolle spielte, da er es wahrscheinlich ohnehin bemerken würde, wenn er seiner Herrin heimlich irgendwelche Hinweise zukommen ließ.
 

„Wer hätte das gedacht...“, kommentierte er bloß, bemüht, sein Blatt möglichst verdeckt zu halten, und warf die Karte mit dem niedrigsten Wert ab – die Kreuz-Vier. Kurz darauf meinte er, ein leises Rauschen zu vernehmen, dem er keine genaue Richtung zuordnen konnte. Marilyn schien sich davon nicht ablenken zu lassen. Falls seine Miene sich in irgendeiner Weise regte, dann war dies mit Sicherheit nur unter einem Mikroskop erkennbar.
 

„Karo-Vier“, sagte er schlicht, gerade im Begriff, seinen Zug zu vollführen, als er innehielt und sich genervt umdrehte – offenbar weil das Rauschen zunehmend lauter wurde und nun doch anfing, ihn zu stören. „Das kann ja wohl nicht wahr sein...!“
 

Neugierig blickte Alice an seinem Gegenüber vorbei, um zu sehen, woher das stetig anhaltende Geräusch rührte. Der Anblick der bärtigen Person, die just in diesem Moment in einem knappen Lederröckchen um die Ecke gewackelt kam und sie beide mit einem heiteren Zwinkern begrüßte überraschte ihn jetzt auch nicht mehr besonders.
 

Wache Nummer Zwei!!“, rief Marilyn, laut genug, dass es das Rauschen übertönte. „Wie oft habe ich dir gesagt, dass du nicht staubsaugen sollst, während ich versuche, mein unerreichtes Können im Pokern unter Beweis zu stellen?!“
 

„Wache Nummer Zwei...“, flüsterte Alice unbemerkt. „Welch eine unwürdige Betitelung für Freddy Mercury...“
 

„Verzeiht, Eure Majestät, das wusste ich nicht!!“, rief besagte Wache nicht weniger laut zurück. „Aber der Boden musste dringend mal wieder sauber gemacht werden!! Vorhin habe ich auf Eurem Teppich eine lose Lavendelblüte gefunden!!“
 

„Das ist meine Schuld, die habe ich wohl nach dem Blumengießen versehentlich hereingeschleppt!!“, schrie Fish zur Antwort. „Ihr habt sie doch hoffentlich nicht entsorgt, verehrte Wache?!“
 

„Nein, habe ich nicht!! Sie liegt jetzt auf dem Dielen-Schränkchen, als Deko!!“
 

„Moment mal, Narr...!! Du warst in meinem Schlafzimmer?!“
 

„Nein, nein, Eure Hoheit!! Das ist ein Missverständnis!! Ich wollte nur-“
 

„Wie wäre es, wenn ihr drei eure Unterhaltung woanders fortführt oder einfach diesen veralteten Staubsauger abschaltet, damit wir endlich weiterspielen und aufhören können zu schreien?!“, unterbrach Alice die Konversation energisch und warf dem Wachmann mit der Bobfrisur einen dankbaren Blick zu, als er das Gerät daraufhin tatsächlich ausschaltete und sich mit einem euphorischen Winken verabschiedete, bevor er in einem anderen Raum verschwand. Froh über die wieder eingekehrte Ruhe wandte Alice sich erneut der Herzkönigin zu, die abermals dazu ansetzte, ihren Zug zu machen.
 

„Karo. Vier!“, sagte sie überdeutlich, während sie ihre Karte direkt neben seiner abgeworfenen Kreuz-Vier platzierte, dann beide Karten zusammen in die Hand nahm, sie beiseite legte und irgendetwas auf einen kleinen Zettel notierte. „Das macht acht Punkte für mich.“
 

Skeptisch lehnte sich Alice ein Stück über den Tisch, um einen Blick auf die ominöse Notiz zu erhaschen, was ihre Majestät, die seine Geste offenbar missinterpretierte, dazu veranlasste, ihr Blatt fest an sich zu pressen.
 

„Das wüsstest du wohl gerne, wie? Denkst du, ich lasse dich in meine Karten schauen?“
 

„Das wollte ich überhaupt nicht!“, verteidigte er sich. „Glaubt mir, ich spiele immer fair!“
 

„Jetzt lügt er mich auch noch an. Ein ganz schön ungezogener Gast...“
 

„Ich schwöre Euch, ich wollte nur wissen, was Ihr da auf den Zettel geschrieben habt!“, erklärte er schnell, ehe sie noch auf die Idee kam, ihn auf irgendeine wahrscheinlich eher wenig Abstand haltende Weise zurechtweisen zu wollen. „Warum seid Ihr mir jetzt acht Punkte voraus, wenn ich fragen darf...?“
 

„Ach... Du weißt aber auch gar nichts, was?“, seufzte die Königin, so als wäre das wirklich verwunderlich. „Pass auf, ich erkläre es dir: Wenn zwei Karten mit derselben-“
 

Weiter kam sie nicht. Diesmal war es ein nur allzu bekannter Untergebener der ehrenwerten Mörderpuppe, der ohne jegliche Vorankündigung breit grinsend durch das Schlosstor hereingeschneit kam, bevor ihre Hoheit ihren Satz zu Ende sprechen konnte. Vorwurfsvoll starrte sie ihren Besucher an, was diesen jedoch nicht davon abhielt, mitsamt dem Schwein, auf dem er saß, auf sie zuzusteuern und ihr freundschaftlich auf die Schulter zu klopfen.
 

„Servus, alle miteinander! Ihr habt nach mir verlangt – da bin ich!“, trällerte er überschwänglich und machte ein erstauntes Gesicht, als er ihn am selben Tisch erblickte wie seine Königin. „Dich kenne ich doch...! Dass wir uns so schnell wiedersehen würden...“
 

„Hi“, gab Alice mit einem halbwegs freundlichen Lächeln zurück.
 

„Schwarzer Ritter...! Was hast du hier zu suchen? Siehst du nicht, dass ich beschäftigt bin?!“
 

„Aber Majestät! Heute ist doch 'Ritter-tut-alles-was-seine-liebenswerte-Königin-verlangt'-Tag! Und da ich – wie auch immer das passieren konnte – das entscheidende Duell gegen meinen Weißen Erzfeind verloren habe, bin ich diesmal dafür zuständig!“, erinnerte Ozzy den inzwischen sichtlich mürrisch dreinschauenden Marilyn an ihre offenbar gemeinsame Abmachung ohne auch nur einen Schritt von seiner Seite zu weichen. Marilyn fixierte starr seine Karten.
 

„Du kannst dein Geschleime für dich behalten. Ich habe heute einen ganz besonderen Gast wie du siehst. Und es wäre doch unhöflich von mir, wenn mein Gast nicht die nötige Aufmerksamkeit von mir bekommen würde, nicht wahr?“
 

„Aber Majestät...“
 

„Nichts 'Aber Majestät'! ... Wenn du dich schon unbedingt nützlich machen willst, geh in die Küche und besorge mir einen gekühlten Drink! Oder... nein, warte! Einen Eisbecher. Erdbeere-Walnuss!“
 

„Jawohl, wird gemacht! Bin sofort wieder da!“, war das letzte, was der Schwarze Ritter von sich gab, bevor er sich anscheinend bester Laune von seiner Kriegs-Sau herunterschwang und sich aller Wahrscheinlichkeit nach in die Küche begab. Die Herzkönigin sah mit einem fast entschuldigenden Blick wieder zu ihm.
 

„Er wird voraussichtlich eine Weile brauchen, bis er zurückkommt... Also haben wir vorerst Ruhe“, sagte sie scheinbar zufrieden. „Mach deinen nächsten Zug!“
 

„Jetzt sofort? Wart Ihr nicht gerade dabei, mir etwas zu erklären?“
 

„Dein Zug. Ich warte!“, wiederholte sie nachdrücklich, noch immer mit diesem gekünstelten Lächeln im Gesicht. Mitunter war sie – oder er, wenn man es genau nahm – ihm wirklich unheimlich. Und das obwohl er bei Weitem niemand war, der sich leicht verunsichern oder schockieren ließ. Aber etwas an dieser Person... irgendetwas an ihr wirkte so falsch, dass er nicht umhin kam, sich zu fragen, ob sie vielleicht eine ernste Bedrohung darstellte. Auf welche Art sich das noch auswirken würde, das blieb wohl abzuwarten.
 

Misstrauisch zog Alice eine Karte und überlegte, während er diese betrachtete, ob es irgendwie möglich war, dass Marilyn den Stapel zuvor manipuliert hatte, sodass der Gewinner in Wahrheit schon feststand. Doch selbst wenn alles rechtens zuging – ob er den Sinn dieses Spieles rechtzeitig verstehen würde war fraglich. Ohne lange darüber nachzudenken warf er die Karte, die er eben gezogen hatte, ab.
 

„Pik-Sieben“, kommentierte er sich selbst, nur zur Sicherheit. Anscheinend gehörte sich das ja so. Marilyn schien einen Moment lang in seine Überlegungen vertieft zu sein, nachdem er die nächste Karte von dem Stapel gezogen hatte. Dann nahm er eine andere aus seinem Blatt, die er mit dem Kommentar „Pik-Neun“ auf dem Tisch ablegte. Diesmal auf der zuvor abgeworfenen Pik-Sieben anstatt daneben.
 

Alice ließ sich nicht anmerken, wie wenig er diesem angeblichen Spiel abgewinnen konnte, als er einen großen Schluck von seinem Kaffee trank und ein wenig amüsiert beobachtete, wie Black Beauty sich grunzend auf ihre Hoheit zubewegte und sie ausgiebig beschnupperte, so als würde die Sau überlegen, ob so eine Herzkönigin wohl eine ordentliche Mahlzeit abgab. Er war sich beinahe hundertprozentig sicher, dass die Mörderpuppe nicht einmal ansatzweise so gelasssen war wie sie immer tat. Wortlos griff er nach der oben aufliegenden verdeckten Karte und vollführte seinen nächsten Zug.
 

„Karo-Dame...?“, bemerkte Marilyn daraufhin in einem übertrieben verwunderten Tonfall. „Bist du sicher, dass das so eine gute Idee war?“
 

„... Warten wir's ab“, erwiderte er trocken. Selbstverständlich war er sich absolut nicht sicher. Wie sollte er das auch sein bei einem Spiel, dessen Regeln er nicht einmal kannte?
 

Gleichzeitig mit einem lauten Rummsen, das wahrscheinlich von der Kühlschranktür verursacht wurde, ertönte ein freudiges „Da bin ich schon!“ aus der Ferne, als wenig später der Schwarze Ritter mit einem hübsch zurechtgemachten Becher Eis zurückkehrte.
 

„Hier, bitte sehr! Das schönste Eis für die schönste Königin!“, grinste er und stellte seine Kreation vor Marilyn ab, der bloß die Augen verdrehte. „Erdbeer-Walnuss mit Sahnehäubchen und einem Extraschuss Champagner-Aroma, ganz so wie Ihr es am liebsten mögt!“
 

„Ja... danke“, gab die 'schönste Königin' gelangweilt zurück, während sie sich einen kleinen Löffel voll Sahne schmecken ließ. „Ach, und... zieh endlich diese alberne schwarze Rüstung aus! Die fand ich schon immer unvorteilhaft.“
 

„Wie Ihr wünscht, Hoheit!“
 

„Psst... Würdet Ihr mal kurz zu mir kommen, Ritter Schleim...?“, flüsterte Alice subtil an den Fürsten der Finsternis gerichtet, der gerade dabei war, sich von seiner protzigen Rüstung zu befreien. Glücklicherweise schien er noch etwas darunter zu tragen. Einen schwarzen Pullover, wie es aussah.
 

„Was gibt es, mein Freund?“, fragte Ozzy leise, während er näher trat und sich etwas zu ihm vorlehnte.
 

„Nun ja... Ich will ja nichts sagen, aber... Ihr wisst schon, dass das ein Mann ist?“, vergewisserte er sich mit einer subtilen Geste Richtung Marilyn, der ohnehin gerade mit seinem Eis beschäftigt war. Nicht unbedingt unauffällig drehte sich Ozzy zu ihrer Majestät um, ehe er sich wieder ihm zuwandte und gedämpft lachte.
 

„Hahaha! Was erzählst du denn da? Wenn sie ein Mann wäre, wie könnte sie dann eine Königin sein?“
 

„Habt Ihr mal richtig hingeschaut? Seht Ihr da vielleicht irgendeinen Vorbau?“
 

„Hey...! Mach dich nicht über die Oberweite meiner Königin lustig!“, entgegnete Ritter Osbourne empört. „Das ist nicht alles, worauf es ankommt!“
 

„Habt ihr gleich mal genug getuschelt?“, machte Marilyn begleitet von einem klirrenden Geräusch auf sich aufmerksam, als er seinen Becher neben sich abstellte und betont unbeeindruckt seine Karten begutachtete.
 

„Entschuldigt, Majestät! Wird nicht wieder vorkommen!“, schleimte Ozzy munter weiter. „Und, schmeckt Euer Eis? Oh, apropos 'Eis'... Warum liegt eigentlich ein Eiszapfen in Eurem Gefrierfach?“
 

„Das musst du Alice fragen. Er ist der stolze Besitzer dieses wundervollen Eiszapfens.“
 

Mit stutzigem Blick schielte Ozzy zu ihm herüber, während Marilyn noch immer bewegungslos an seinem Platz saß.
 

„Ja, ich weiß... ihr seid ja nur neidisch“, scherzte Alice, räusperte sich, als Ozzys Blick noch perplexer wurde, und sah erwartungsvoll zu seinem Gegner, der keine Anstalten machte, irgendetwas zu tun. „Ihr seid am Zug, Eure Hoheit... falls Ihr es vergessen habt.“
 

„Das ist mir bewusst, ja. Aber manchmal ist es eben erforderlich, seinen nächsten Schritt gut zu planen.“
 

„Lasst mich mal sehen, Majestät!“, rief Ritterchen Schwarz plötzlich und stellte sich so hinter Marilyn, dass er ein Auge auf seine Karten werfen konnte. „Worüber denkt Ihr denn nach?“
 

„Ich überlege, ob ich eine Runde aussetzen sollte.“
 

„Was?! Aber Ihr habt doch-“
 

„Sei still! Ich weiß, was ich tue.“
 

„Man kann aussetzen? Einfach so?“, unterbrach Alice den Dialog der beiden auf ihre eigene Weise irrsinnigen Freaks. Er wäre jede Wette eingegangen, dass sie gerade heimlich etwas ausheckten. Jedenfalls Marilyn.
 

„Ja, kann man“, antwortete dieser beiläufig. „Aber ich habe mich umentschieden. Ich spiele... das Herz-Ass!“
 

„Okay...“, murmelte Alice, betrachtete einen Moment lang Marilyns Ass-Karte und dann seine eigene, die er gleich zu Anfang gezogen hatte. Während er mit dem Gedanken spielte, sie einfach abzuwerfen, um zu sehen, was passiert, schaute er zu Fish herüber, der offenbar mittlerweile, ohne dass es jemand bemerkt hatte, aufgestanden war, sich auf die dunkelrote Couch am Rande des Zimmers gesetzt hatte und mit einem abwesenden Ausdruck in seinen Augen das Seil streichelte, das er selbst vor Kurzem noch unfreiwilligerweise um seine Handgelenke getragen hatte. Leicht verstört wandte er seinen Blick von ihm ab und versuchte, sich auf das Spiel zu konzentrieren, als ihm spontan eine bessere Idee für seinen Zug kam.
 

„Ich passe“, sagte er schlicht. Wenn er gar nichts tat, gab es eine geringe Chance, dass er Marilyns Plan – was auch immer dieser sein mochte – damit durcheinanderbrachte. Als er jedoch dessen triumphales Grinsen sah war er sich sicher, dass er einen Fehler gemacht hatte. Einen großen Fehler.
 

„Tja, das war's dann wohl für dich“, verkündete sein Gegenüber mit einer unwahrscheinlich selbstgefälligen Euphorie, vollbrachte seinen anscheinend letzten Zug und lehnte sich zufrieden zurück. „Kreuz-König! Ich habe gewonnen.“
 

„Bravo! Das habt Ihr super gemeistert, Majestät!“, klatschte Ozzy scheinbar erfreut, während Alice entsetzt die auf dem Tisch liegenden Karten anstarrte.
 

„Was... wieso... das ist doch...“, versuchte er seine Gedanken in Worte zu fassen, woran er leider kläglich scheiterte. Natürlich hatte er nicht damit gerechnet, die Herzkönigin zu besiegen. Wie auch? Aber nun tatsächlich aus vollkommen unerfindlichen Gründen als Verlierer vor ihr dazustehen war so unfassbar demütigend, dass ihm nicht einmal etwas dazu einfiel – schließlich hatte er nicht vergessen, was seine Niederlage für ihn bedeutete.
 

„Es nützt nichts, Alice“, sagte Marilyn gespielt mitleidig. „Du hast verloren. Das Schicksal wollte es wohl so.“
 

„... Das ist ein schlechter Scherz! Ich will eine Erklärung dafür!“, forderte er, bemühte sich rasch, seine Stimme zu dämpfen, die schon wieder viel zu hysterisch geworden war, und stand von seinem Platz auf, an dem er nun wirklich nicht länger ruhig herumsitzen konnte. „Sagt mir sofort, warum um alles in der Welt Ihr so plötzlich gewonnen habt...! Das hat doch mit Regeln nicht im Entferntesten irgendwas zu tun!“
 

„Und ob es das hat. Du bist bloß ein schlechter Verlierer“, entgegnete Marilyn überheblich. „Warum ich gewonnen habe ist ja wohl offensichtlich: Nachdem du deine Karo-Dame abgelegt hast habe ich sie mit meinem Herz-Ass beschlagnahmt, weshalb mein Kreuz-König, der direkt darauf folgte, da du ja gepasst hast, die Dame heiraten und mir so den Sieg garantieren konnte. Ganz einfach.“
 

Sekunden der völligen Stille vergingen, bis Alice sich dazu in der Lage fühlte, dem etwas entgegenzubringen.
 

„Das... habt Ihr Euch gerade ausgedacht, nicht wahr? Was ist hiermit?“ Er nahm sein Kreuz-Ass und hielt es dem Anderen vors Gesicht. „Ich hatte auch ein Ass. Mal angenommen, Ihr hättet Euren König zuerst gespielt und ich hätte mein eigenes Ass darauf abgelegt... Hätte ich meine Dame dann also daraufhin auch mit ihm... verheiratet?“
 

Einen Augenblick lang musterte Marilyn ihn, als hätte er den Verstand verloren.
 

„Natürlich nicht. Um die flammende Liebe zwischen König und Dame zu entfachen braucht man selbsterklärenderweise ein Herz. Dein Baum hätte da absolut nichts bewirkt, es sei denn du hättest im Anschluss die Dunkle Todesfrucht gespielt.“
 

„Baum?! Frucht?! Jetzt reicht es mir...! So ein idiotisches Spiel sollte verboten werden! 'Wunderpoker', hmm? 'Zufallspoker' wäre ein weitaus treffenderer Name!“
 

„Sieh den Tatsachen ins Auge, Alice. Du hast verloren und wir hatten eine Abmachung“, erinnerte ihn Marilyn mit einem Unterton, der ihm gar nicht gefiel, und lachte dann dunkel. „Wenn du so viel von Fairness hältst wie du vorhin noch behauptet hast würdest du dich jetzt nicht so aufregen sondern die Dinge so nehmen wie sie kommen.“
 

„Ooh...! Ja. Vielen Dank für den weisen Rat. Werde ich mir zu Herzen nehmen. Irgendwann mal. Wenn ich Lust habe.“
 

„Was ist mit ihm los, Majestät?“, fragte der Schwarze Ritter, der selbstverständlich überhaupt keine Ahnung hatte, worum es eigentlich ging – vermutlich sein Dauerzustand.
 

„Ich weiß es auch nicht“, hörte er Marilyn antworten. Inzwischen war auch er aufgestanden und bereits ein paar Schritte auf die große Treppe zugegangen. „Er hat das Glück, höchstpersönlich mein Gemach betreten zu dürfen. Was daran so furchtbar sein soll ist mir ein Rätsel. Du machst mich sehr traurig, Alice, weißt du? Alles, was ich will, ist, dich etwas besser kennenzulernen...!“
 

„Ja, das dachte ich mir schon. Eure Definition von 'kennenlernen' kann ich mir gut vorstellen“, erwiderte er, ehe er sich vor die königliche Mörderpuppe stellte und hoffnungsvoll auf deren treuen Untergebenen deutete. „Warum nehmt Ihr nicht den Schwarzen Ritter mit in Euer tolles Gemach? Der hätte bestimmt nichts dagegen einzuwenden, Euch die ganze Nacht lang kennenzulernen!“
 

„Wovon redest du? Ihre Hoheit und ich kennen uns doch schon längst!“
 

„Da wäre ich mir an Eurer Stelle nicht so sicher, Ritter Planlos...!“, gab Alice zurück, dem Ozzys nicht vorhandener Durchblick schon fast ein wenig leid tat. Marilyn grinste noch immer, so als würde das ganze Szenario ihn einfach nur prächtig amüsieren – was sicherlich auch der Fall war.
 

„Komm mit, Alice!“, sagte er ruhig, aber es war mehr als deutlich herauszuhören, dass er keine Widerrede gelten lassen würde. „Falls du dich weigern solltest wäre das ein Verstoß gegen meine Regeln... und du weißt, dass ein Regelverstoß Konsequenzen mit sich bringt, nicht wahr?“
 

Na, großartig, dachte er, schwieg jedoch und folgte Marilyn widerwillig zu der Treppe, die wahrscheinlich zu seinem höchsteigenen Schlafzimmer führte. Ein letztes Mal warf er einen neidischen Blick auf den Schwarzen Ritter, der von seinem jämmerlichen Abgang anscheinend überhaupt nichts mehr mitbekam, da er gerade voller Hingabe damit beschäftigt war, Black Beauty mit einem riesigen Schokoladenkeks zu füttern, von dem er gar nicht erst wissen wollte, wo er ihn auf einmal herhatte. Kurz fragte sich Alice, ob es vielleicht hilfreich gewesen wäre, so naiv und sorglos zu sein wie er, kam allerdings zu dem Schluss, dass er das nicht für sonderlich erstrebenswert befand. In unguter Erwartung ging er schließlich dem falschen Marilyn hinterher, der sich bereits daran begeben hatte, die Stufen so elegant wie eine echte Königin hinaufzuschreiten.
 

„Da wären wir!“, teilte er ihm beschwingt mit, als er seine Zimmertüre hinter ihnen beiden geschlossen hatte, und breitete feierlich seine Arme aus. „Fühl dich wie zu Hause!“
 

„... Mal sehen“, murrte Alice zur Antwort, nicht sicher, was er von den derzeitigen Umständen halten sollte. Es gab genau zwei Dinge, die ihm kurz nacheinander ins Auge stachen, nachdem er den Raum betreten hatte. Das Erste war die Tatsache, dass die Einrichtung, deren Farbgebung auffällig von der Kombination aus Schwarz und Rot beherrscht wurde, auf den ersten Blick einen so gar nicht kalten sondern tatsächlich einladenden Eindruck auf ihn machte. Das Zweite war der große Spiegel, der rechts von ihm an der Wand angebracht war und der ihn, sobald er ihn entdeckt hatte, vom weiteren Betrachten der Einrichtung ablenkte. Nein, vielmehr war es seine eigene Kleidung, die ihn so schlagartig ablenkte. Oder besser gesagt: die Kleidung, die ihre Hoheit ihm angeblich mit ihren mächtigen Fähigkeiten herbeigezaubert hatte. Nicht nur dass es von oben bis unten von einem eigenartigen schwarzroten Muster geziert wurde – die Herzkönigin schien eine unabstreitbare Vorliebe für diese Mischung zu haben –; der eng sitzende Schnitt und der helle Rüschenkragen verliehen dem Outfit endgültig eine wirklich... einzigartige Note. Zwar war ihm längst nicht entgangen, dass Marilyn ihm nicht gerade einen sehr dezenten Look verpasst hatte, aber sich selbst in voller Pracht in diesem außergewöhnlichen Fummel zu bestaunen war irgendwie noch einmal etwas anderes.
 

„Na, gefallen dir deine neuen Sachen?“, erkundigte sich sein Gastgeber, der ihn von der Seite mit einem scheinbar stolzen Blick bedachte. „Als ich dich so ansah, wie du schlafend auf meiner Couch gesessen hast, war mir gleich klar, welche Art Sachen dir stehen würden! Ich mag es gern etwas grotesk, weißt du?“
 

„Wäre mir gar nicht aufgefallen. Gut, dass Ihr es mal erwähnt.“
 

„Oh, sei doch nicht so furchtbar sardonisch...!“, gab Marilyn gespielt beleidigt zurück. „Willst du es dir nicht bequem machen? Hier ist genug Platz.“
 

„Sehr wohl... Eure Majestät“, erwiderte er so sardonisch wie er nur konnte, hielt nach einer Sitzgelegenheit Ausschau, die nicht Marilyns Bett war, und war relativ beruhigt, als er in der hintersten Ecke des Zimmers einen Stuhl sichtete. Allerdings zog im selben Atemzug ein Bild seine Aufmerksamkeit auf sich – ein gerahmtes Foto, das vor einer Nachttischlampe auf dem kleinen Schränkchen neben besagtem Bett stand –, weshalb er kurzfristig beschloss, sich doch fürs Erste dort niederzulassen, um es sich ein wenig näher ansehen zu können. Wie er schnell feststellte waren es ein Mann und eine Frau, die auf dem Bild zu sehen waren, beide edel gekleidet, und er glaubte, das Schloss im Hintergrund zu erkennen. Es musste eine ältere Aufnahme sein, denn es wirkte irgendwie anders als er es von seiner Ankunft bei Hofe in Erinnerung hatte. Jedoch kam er nicht dazu, sich das Bild länger zu betrachten, aus dem einfachen Grund, weil Marilyn, kaum dass er offenbar realisiert hatte, dass es ihn interessierte, aufgesprungen war, sich seltsam eilig neben ihn gesetzt und den Rahmen beiläufig umgedreht hatte, sodass das Foto nicht mehr zu sehen war. Wortlos blickte Alice ihn an, gedanklich noch immer bei der scheinbar weiblichen Person auf der ominösen Abbildung, die wohl aus schwerwiegenden Gründen nicht für seine Augen bestimmt war. Ob er gerade versehentlich die königliche Privatsphäre missachtet hatte?
 

„Nun... Alice... Was sagst du? Ich besitze wahrhaft nicht die schlechteste Behausung, was?“, unterbrach der Andere seine Gedanken mit einem aufgesetzten Lächeln. „Wie findest du meine Möbel? Das weiße Kaninchen hat sie vor langer Zeit einmal selbst bemalt. Besonders meine Kommode ist mein ganzer Stolz. Sie ist voll mit den schönsten Kleidern, die du dir nur vorstellen kannst.“
 

„Alle in schwarzrot, nehme ich an“, bemerkte er und bemühte sich um eine möglichst ruhige Stimme. Wenn er schon gezwungenermaßen hier war, hatte es mit Sicherheit nicht viel Sinn, die ganze Zeit über stur zu bleiben und einen Aufstand zu machen... immerhin würde die Herzkönigin ihn ohnehin erst entlassen, wenn ihr danach zumute war. Aber vielleicht konnte er seinen Aufenthalt bei ihr dazu nutzen, um mehr über sie herauszufinden? Mittlerweile hatte er den starken Verdacht, dass der Weg, der aus dem Wunderland herausführte, nicht das einzige Mysterium war, das sie ihm konstant vorenthielt. „Jetzt, wo wir schon einmal gemeinsam hier sitzen... Wollt Ihr mir nicht etwas über Euch erzählen? Irgendetwas, damit wir uns nicht mehr so fremd sind?“
 

„Hast du denn das Gefühl, wir wären... Fremde?“, fragte Marilyn, wobei er das letzte Wort zögerlich aussprach, als würde dessen Bedeutung ihm irgendwie Angst machen. Alice schaute irritiert zur Seite. Wie meinte er das...? Auch wenn er wie jemand aussah, den er irgendwann einmal in einer anderen Welt gekannt hatte – hier, in diesem Universum, waren sie sich doch gerade zum ersten Mal über den Weg gelaufen... oder nicht?
 

„Naja, wir... wir kennen uns erst seitdem ich das Schloss erreicht habe, richtig? Also sind wir doch gewissermaßen Fremde...?“, erklärte er, merkte jedoch selbst, dass es nicht sehr überzeugend klang. Angestrengt überlegte er, wie er sich möglichst schnell aus dieser verzwickten Situation würde herauswinden können, als sein Blick zufällig an einem kleinen Tischchen hängenblieb, das weiter hinten im Raum stand. Zwei Rosen lagen nebeneinander darauf, doch etwas an ihnen wirkte komisch. „Diese Blumen da drüben... Darf ich mir die mal ansehen?“
 

„Die Blumen? Oh, du meinst... Ja, sicher. Bleib sitzen, ich hole sie rüber!“, entgegnete Marilyn ein wenig zu überschwänglich für seine gewöhnliche Art und war, kaum dass er sich versah, auch schon aufgestanden. Entweder bildete er es sich ein oder irgendetwas hatte ihn ernstlich zerstreut seit er mit ihm hier war.
 

Alice konnte beobachten, wie Marilyns Gesicht einen irgendwie leeren Ausdruck annahm, als er die beiden Rosen von seinem Tisch aufhob und sich danach wieder zu ihm setzte. Als wäre er geistig nicht mehr wirklich anwesend.
 

„Sind... sie echt?“, fragte er ihn vorsichtig, während er die Blumen eingehend betrachtete. Dass eine von ihnen eine rote und die andere eine schwarze Blüte aufwies überraschte ihn mittlerweile kein Stück mehr. Eher war es ihr Duft, der etwas Merkwürdiges an sich hatte.
 

„Ob sie echt sind...? Sag du es mir! Glaubst du, sie sind es?“, war daraufhin Marilyns Gegenfrage. Lange musste er nicht überlegen.
 

„Nein, das glaube ich nicht. Sie riechen nicht nach Rosen... sondern nach Farbe.“
 

„Richtig“, antwortete Marilyn. „Das stimmt. Diese Rosen stammen nicht von einem der Sträucher in meinem Garten. Sie stammen von mir und meiner Liebe zur Kunst.“
 

Gedankenverloren nahm er das schwarze Exemplar in die andere Hand und atmete dessen Duft ein, als wäre es der lieblichste Geruch der Welt.
 

„Eine Rose, die in der Natur blüht, ist schön, aber vergänglich. Diese beiden hingegen liegen schon seit... einer Ewigkeit bei mir, und sie werden niemals welken. Sie sind unsterblich.“
 

Ein wenig sprachlos ob des plötzlichen Sinneswandels starrte Alice die nun nicht mehr ganz so sadistisch wirkende Herzkönigin an, die sehnsüchtigen Blickes die schwarze Rose fixierte, fast wie eine einsame Gothic-Prinzessin aus einem melancholischen Kitschfilm, ehe sie ihm ihr Kunstwerk lächelnd entgegenstreckte.
 

„Nimm sie...! Koste von ihrem immerwährenden Duft!“
 

„Danke, aber... der Geruch von Farbe ist nicht gerade mein Lieblings-“
 

„Wenn du dir vorstellst, sie wäre lebendig, dann ist sie das auch. Und dann riecht sie nicht nach Farbe“, sagte Marilyn vollstens überzeugt, und da er wusste, dass er sowieso nicht locker lassen würde, tat er ihm den Gefallen und nahm die Rose, um sich selbst davon zu überzeugen, dass auch die beste Vorstellungskraft zu so etwas nicht imstande war. Nur musste er bedauerlicherweise sofort feststellen, dass er Unrecht hatte. Wie auch immer das möglich war – der Duft hatte sich tatsächlich verändert, so gravierend, dass er angenommen hätte, er würde sich in einem Rosengarten befinden anstatt eines geschlossenen Raumes, wenn er nicht gewusst hätte, dass es nicht so war. Allerdings hielt er es für besser, dem Besitzer der Blume nichts von seiner Feststellung zu erzählen. Wahrscheinlich hatte er ihm auch ohne Worte längst angesehen, dass sein seltsamer Zaubertrick funktionierte.
 

„Faszinierend, nicht wahr?“, bekundete Marilyn sein eigenes Werk äußerst bescheiden, als er ihm die Rose wieder zurückgegeben hatte. „Was sagst du nun, Alice? Sei ehrlich und sage mir, dass meine Kunst dich nicht völlig kalt gelassen hat!“
 

„Ja... das heißt... nein! Ich sage hier gar nichts...!“, gab er eindeutig viel zu unentschlossen zurück. Verdammt, wo hatte er eigentlich seine Würde gelassen?! Die Mörderpuppe in ihrer verqueren Selbstwahrnehmung auch noch zu bestärken war mit Sicherheit das Schlechteste, was er im Augenblick tun konnte. „... Lieber solltet Ihr mir etwas sagen! Ich habe zwar gegen Euch verloren, aber erstens kann hier kaum von einem fairen Sieg Eurerseits die Rede sein, und zweitens... habe ich als Gast Anspruch darauf, ein paar Dinge über Euch und Euer Land zu erfahren! Gehört es nicht zum Kennenlernen, wie Ihr sagtet, außerdem dazu, dass Ihr mir etwas über Euch verratet?“
 

„Oh, da hast du natürlich Recht“, gab Marilyn mit einem angedeuteten Grinsen zurück, das vermutlich nichts Gutes verheißen ließ. „Ich werde dir gern etwas über mich verraten. Zum Beispiel, wie ich unter dem Make up und dem Kleid aussehe. Soll ich es demonstrieren?“
 

„So war das nicht gemeint...! Bitte verschont mich und behaltet Euer Kleid an!“, sagte er schnell und bedeckte vorsorglich seine Augen, bevor er noch etwas zu Gesicht bekam, das er ganz bestimmt nicht sehen wollte. Jedoch kam er sich drei Sekunden später relativ bescheuert vor, als er Marilyns belustigtes Gekicher hörte.
 

„Kein Grund, sich zu erschrecken! Ich habe noch alles an!“, lachte er munter, was Alice dazu veranlasste, ihn mit einem vernichtenden Blick zu malträtieren und sich zu fragen, ob dieses ach so romantische Rosengeschwafel von vor wenigen Minuten nur eine abgekartete Show war, um sich bei ihm einzuschmeicheln.
 

Eine Show, dachte er plötzlich und zuckte zusammen, als der Showmaster vor seinem inneren Auge auftauchte. Was, wenn das alles nichts weiter war als ein Spiel? Eine Theater-Aufführung, in der jeder seine Rolle spielte, weil es nun mal so im Skript stand? Vielleicht, kam es ihm mit einem Mal in den Sinn, hatte Marilyn überhaupt keine Kontrolle über das, was er hier tat. Vielleicht war er ja wirklich nur eine arme Puppe, die von einem vollkommen verrückten Marionettenspieler gesteuert wurde...
 

„Weilst du noch unter uns, Alice?“, hörte er die Mördermarionette auf einmal mit besorgter Stimme fragen. „Oder bist du nur gerade endlich dabei, dich etwas... du weißt schon, zu entspannen?“
 

„Ja... ich meine, was?! Darauf könnt Ihr lange warten...!!“
 

Vielleicht hatte er sich auch getäuscht. Kein Puppenspieler des Universums würde auf die dermaßen verkorkste Idee kommen, so etwas zu fabrizieren.
 

„Also wirklich... Du bist viel spießiger als du aussiehst. Warum denn so schüchtern?“, hakte die Königin der Obszönitäten weiter nach, während sie reichlich aufdringlich an ihn heranrückte, und hielt schlagartig inne, so als hätte sie irgendeine Art Geistesblitz. „Nein...! Sag jetzt nicht, du bist noch Jungf-“
 

„Denkt nicht einmal daran, das auszusprechen!“, unterbrach er sie abrupt. „Ich kann Euch sagen, warum ich mich nicht entspanne, wenn Ihr es genau wissen wollt: Weil ich unbeabsichtigt in einer absolut kranken Welt voll gemeingefährlicher Psychopathen gelandet bin, aus der ich nicht mehr herauskomme, und Ihr, anstatt mir zu helfen, um mich herumtänzelt wie ein sterbender Schwan in der Paarungszeit...! Ich meine, was ist Euer verfluchtes Problem?! Ich glaube, Ihr könnt Euch nicht entscheiden, ob Ihr ein höflicher Gentleman, eine mysteriöse Hexe oder eine herrische Domina sein wollt! Und was ist mit mir...? Ich bin nur ein... hilfloses Opfer all des grenzenlosen Wahnsinns, der sich hier abspielt! Könnt Ihr nicht wenigstens versuchen, Euch ein kleines bisschen in meine Lage zu versetzen...?“
 

Schweigend sah die vermeintlich so mächtige Herzkönigin ihn an, überfordert und nicht fähig, das eben Gesagte richtig zu verarbeiten. Natürlich nicht. Schließlich gehörte das nicht zum geplanten Ablauf der Show.
 

„Haha, ich verstehe...! Das ist zu viel für Euch, nicht wahr? Ihr könnt Euch nicht in meine Lage versetzen, weil das gegen die Spielregeln verstößt... nicht wahr?“, lachte Alice voller Euphorie, sprang von Marilyns Bett auf und blickte triumphierend zu ihm herunter. Endlich hatte er verstanden, wie die ganze Sache wirklich aussah. „Euer Schloss, das Labyrinth... das gesamte Wunderland ist nichts als ein riesiges Theater – und Ihr seid der Star in Eurer eigenen tragischen Geschichte! Ich dagegen bin nur ein Aufziehspielzeug, das irgendjemand in Eure skurrile Aufführung geschmissen hat, und jetzt glaubt Ihr, Ihr könntet mit mir anstellen, was Ihr wollt... Aber so läuft das nicht! Ich habe euch durchschaut. Euch alle! Ihr seid nichts weiter als mechanische Figuren, die das tun, was ihnen einprogrammiert wurde. Aber ich... ich werde dem ein Ende setzen! Verlasst Euch darauf!“
 

Mit noch immer starr auf ihn gerichtetem Blick saß ihre Hoheit reglos auf ihrem Platz, ehe sie sich langsam erhob, rückwärts und ohne ihn aus den Augen zu lassen in Richtung Tür schritt, diese öffnete und sich ein Stück nach draußen lehnte.
 

„... WACHEN!!! KOMMT SOFORT HIERHER, GREIFT EUCH MEINEN GAST UND NEHMT IHN FEST!! ER IST ÜBERGESCHNAPPT!!“, rief sie so laut, dass ihre aufgebrachte Stimme Sekunden später noch durch die Gänge des Schlosses hallte, bevor entfernt das Geräusch hektischer Schritte ertönte, die sich in einer beachtlichen Geschwindigkeit zu nähern schienen. Alice dachte nicht daran, sich von dem Fleck, an dem er stand, wegzubewegen. Auch nicht, als die beiden Wachen – die Teilzeit-Putzkraft und der Typ, der sonst draußen das Tor bewachte – mit alarmierten Gesichtern in das Zimmer gestürmt kamen und sich wichtigtuerisch vor ihm aufbauten, wohl um zu signalisieren, dass es keinen Weg an ihnen vorbei gab. Mühsam beherrschte er sich, nicht in schallendes Gelächter auszubrechen – schließlich musste er seine heldenhafte Rolle wahren.
 

„Du machst der Königin Probleme?“, knurrte die erste Wache mit ernster Miene. Irgendwoher kannte er auch diesen Kerl, nur wollte ihm im Augenblick nicht einfallen, woher genau.
 

„Probleme? Ich? Ganz im Gegenteil!“, gab er mit ehrlichster Überzeugung zurück. „Ich bin hier, um euch alle vor eurem persönlichen Untergang zu retten! Wusstet ihr nicht, dass ich die Hauptfigur in eurer burlesken Geschichte bin?“
 

Wie abgesprochen schauten die zwei Wachen sich an, bevor die Herzkönigin ihren nächsten einstudierten Befehl kundtat.
 

„In den Kerker mit ihm... Sofort!“, zischte sie, und wie erwartet zögerten ihre beiden Knechte kein bisschen, ihrem Wort Folge zu leisten, ihn wie einen Sträfling an den Armen zu packen und abzuführen.
 

„APPLAUS!!“, rief er voll leidenschaftlicher Inbrunst, während er aus dem königlichen Gemach geführt wurde; und er war sich sicher, von irgendwo aus den hintersten Winkeln der Kulisse begeistertes Klatschen und Jubeln zu vernehmen.
 


 

Gleichgültigen Gemütes beäugte Alice die im Gegensatz zu den anderen Räumlichkeiten nicht sehr weit entfernte Zimmerdecke und die ausnahmsweise einmal einfarbigen Wände um sich herum.
 

Grau. Keine sonderlich warme Farbe. Im Grunde genommen war es nicht einmal eine Farbe, ebenso wenig wie Schwarz und Weiß. Bloß ein Attribut, das dazu diente, dieses Gemäuer möglichst trist wirken zu lassen. Trist und kalt. Genauso kalt wie der Boden, auf dem er kniete, und die Metallschnallen, mit denen er an die Wand gekettet war.
 

Wenigstens Wache Nummer Zwei hatte sich verständnisvoll gezeigt und ihm geraten, die Sache nicht so wichtig zu nehmen – so gut wie jeder Bewohner des Wunderlandes sei schon mindestens einmal hier unten gewesen. Das zu glauben fiel ihm nicht schwer.
 

„Tse... Mich einfach einzusperren, nur weil ich die Wahrheit ans Licht gebracht habe... Eine sture Königin haben wir da. Sie sollten mir dankbar sein, allesamt.“
 

Seufzend versuchte Alice, sich in eine Position zu begeben, die nicht ganz so unbequem war wie seine jetzige, doch jegliche Mühe war vergebens. Allerdings reihte sich die Tatsache, dass er nun in diesem dunklen Loch gefangen war, prima in das Bild ein, das er ohnehin seit einer Weile von dem wundersamen Wunderland und seinem eigenen Wert darin hatte. Er war kein Gast sondern ein Insasse, und diese gesamte Welt war ein gigantischer, bunter Knast. Immerhin gab es genug Indizien, die diese Theorie unterstützten.
 

„Alice in Ketten“, murmelte er. „... Klingt wie ein Band-Name.“
 

Wann er hier wohl wieder herausgelassen werden würde? Die Originalgeschichte war anders verlaufen, wenn er sich recht erinnerte. Alice hatte sich selbst in einem Prozess verteidigen müssen, der alles andere als gerecht vonstatten gegangen war. Aber sie war nicht ganz alleine in einem widerlichen Kerker gelandet, nachdem die Herzkönigin ihr schmutzige Avancen gemacht hatte. Seine persönliche Geschichte schien ein wenig aus dem Ruder zu laufen, wenn er so darüber nachdachte. Höchste Zeit, etwas dagegen zu unternehmen... wenn er nur nicht hier festsitzen würde.
 

„See my lonely life unfold... I see it every daaa-a-aaay“, sang er leise, während er die zahlreichen Unebenheiten in dem steinigen Boden betrachtete, und musste unwillkürlich grinsen, als ihm bewusst wurde, dass diese Situation eigentlich nicht wirklich neu war. Früher war er bei seinen Auftritten während dieses Liedes auch immer gefesselt gewesen – wenn auch auf eine wesentlich angenehmere Weise. Es musste ewig her sein...
 

„Seeeeee my lonely mind explode... when I've gone... INSANE!“, sang er deutlich lauter als zuvor und stellte erfreut fest, dass die Resonanz in diesem Kellerloch gar nicht einmal so übel war. Sein Problem war nur, dass der Boden langsam anfing, ihn zu langweilen.
 

Irritiert blickte er auf, als er glaubte, hinter den Wänden schwach etwas gehört zu haben. Eine Stimme. Eine Frauenstimme.
 

„Nein... jetzt drehe ich durch. Hier gibt es keine Frauen... Nirgendwo. ... Vielleicht ein Eunuch?“
 

Was auch immer es gewesen war – es gab keinen Beweis dafür, dass er es sich nicht bloß eingebildet hatte. So abgehackt und undeutlich wie es geklungen hatte hätte es ebenso gut jede erdenkliche andere Ursache dafür gegeben haben können. Aber eine Frau? Im Schloss?
 

„Hahaha... wahrscheinlich werde ich nur langsam aber sicher verrückt und... höre Stimmen. Irgendwann musste es ja so kommen...“, kicherte er, heimlich darauf hoffend, doch bitte schnell genug zu einer dieser verrückten Figuren zu werden, dass es ihn nicht mehr kümmerte, welche nebulösen Dinge hier vor sich gingen. Wenn er erst einer von ihnen war würde er zwar seinen Verstand, seine Individualität und eigentlich alles einbüßen müssen, was ihn so genial machte, aber das Gute daran war – wenn dieser Zeitpunkt kam, dann würde ihm das alles ohnehin egal sein. Wahrscheinlich war es besser für ihn, einer dieser irren Hippie-Verschnitte zu werden. „I'm all alone, so are we all“, trällerte er irgendwann müde vor sich hin, damit es nicht so erdrückend still war. „We're all clones... all are one and one are all...“
 

Aufgeschreckt durch ein plötzliches Geräusch, das sich wie das Aufschieben der Kellertür anhörte, starrte er mit einem Mal hellwach in Richtung Eingang des dunklen Gewölbes und hatte für einen kurzen Moment ein mulmiges Gefühl, als er vage einen Schatten bemerkte, der sich ihm mit schleichenden Bewegungen zu nähern schien. War er denn bereits so lange hier unten, dass er schon wieder abgeholt wurde?
 

„Pssst...!“, ertönte es wenige Meter von ihm entfernt in der Dunkelheit, und seine Bedenken wurden beinahe restlos weggewischt, als er erkannte, wer es war, der nun unmittelbar vor ihm stand.
 

„... Fish? Und Charlie?“, flüsterte Alice, froh, jemanden zu sehen, vor dem er nichts zu befürchten hatte... vermutlich.
 

„So ist es!“, antwortete der Hofnarr mit gedämpfter Stimme und beugte sich zu ihm herunter, sodass sie auf Augenhöhe waren. „Wir müssen leise sein... Die Königin weiß nicht, dass ich hier bin. Genau genommen... liegt sie im Bett und schläft.“
 

„Dann ist es also inzwischen Nacht geworden...?“, fragte er ein wenig ungläubig. Da es hier keinerlei Fenster oder Ähnliches gab, war die voranschreitende Tageszeit vollkommen an ihm vorbeigegangen. „Aber... was macht ihr so spät noch hier? Ihr könntet doch jederzeit von einer der Wachen erwischt werden, oder nicht?“
 

„Wir sssind hier, um dich zzzu befreien, Aliccce!“, zischte Charlie, während Fish mit einem kleinen silbernen Schlüssel wedelte, womit die beiden es tatsächlich schafften, ihm ein ehrliches Lächeln zu entlocken.
 

Vielleicht, dachte Alice, war ja doch noch nicht alles verloren...

Kapitel 7 - Böses Erwachen

Alice atmete erleichtert aus, als Fish die metallenen Fesseln löste, mit denen er an die Mauer des Kerkers gekettet gewesen war – und das über einen wohl nicht gerade kurzen Zeitraum hinweg, wie ihm nun merklich bewusst wurde. Bei dem Versuch, seine Arme zu bewegen, musste er schnell feststellen, dass das Tragen der verdammten Schnallen nicht spurlos an ihm vorübergegangen war. Trotzdem war er froh, die Dinger endlich losgeworden zu sein. Vorerst.
 

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll... Danke. Ich glaube, ich war nicht weit davon entfernt, wahnsinnig zu werden“, flüsterte er an seinen Retter gewandt und warf dann einen flüchtigen Blick auf Charlie, den er, wenn er sich recht erinnerte, seit seinem fragwürdigen Traum nicht mehr gesehen hatte. „... Darf ich fragen, wie ihr es schaffen konntet, mich zu befreien? Ich meine... Wo habt ihr den Schlüssel her? Ich hätte schwören können, dass die Herzkönigin höchstpersönlich darauf aufpasst...“
 

„Da habt Ihr vollkommen Recht!“, antwortete Fish ebenso gedämpft. „Deshalb bin ich auch ein nicht von der Hand zu weisendes Risiko eingegangen, als ich ihn ihrer Hoheit gestohlen habe. Hätte sie mich dabei erwischt... oh, ich sage Euch, das wäre mein Ende gewesen!“
 

„Dem ssstimme ich zzzu“, pflichtete Charlie bitter bei.
 

„Aber... wenn es so gefährlich war, an den Schlüssel zu kommen, wieso habt ihr das dann getan? Wollt ihr wirklich euer Leben für mich aufs Spiel setzen?“
 

„Euer Wohlbefinden, geehrter Auserwählter, ist wichtiger als mein Leben“, erklärte der Narr und gab Alice damit, falls das nicht ohnehin schon seit er diese Welt betreten hatte der Fall war, endgültig das Gefühl, im falschen Film zu sein. Doch offenbar hatte er noch mehr dazu zu sagen. „Wisst Ihr... Unsere Königin hat sich verändert. Es soll Zeiten gegeben haben, in denen sie eine sanftmütige und gutherzige Person war. Ich selbst habe diese Zeiten zwar nicht miterlebt, aber...“ Er stockte einen Moment, ehe er seinen Satz an anderer Stelle fortführte. „Nun, ich weiß jedenfalls, dass irgendetwas mit ihrer Majestät nicht stimmt. Jeder, der noch einigermaßen klar bei Verstand ist, weiß es. Und Ihr... Ihr seid derjenige, der ihr helfen muss, wieder so zu werden wie früher! Außerdem kann ich es nicht mitansehen, wie sie mit Charlie umspringt... In Euch habe ich, ehrlich gesagt, mehr Vertrauen.“
 

„Mit Charlie? Dann... Ich verstehe. Ich hatte ja schon so eine leise Befürchtung. Dann warst also wirklich du dieses Seil, mit dem die Mörderpuppe, ich meine... die Königin mich festgehalten hat...?“, vergewisserte sich Alice, auf Charlies bejahendes Nicken hin betroffen zur Seite schauend. „Ihr eigenes Haustier für so etwas zu benutzen... Das nenne ich egoistisch.“
 

„Bitte nimm esss ihr nicht übel!“, zischte die Schlange, als würde sie über ein fehlgeleitetes Kind sprechen. „Sssie meint esss nicht bössse, da bin ich sssicher...“
 

„Wie kannst du sie auch noch verteidigen, Charlie? Nach allem, was sie sich inzwischen geleistet hat... Sie ist völlig unberechenbar!“
 

„Zügelt Eure Stimme, Auserwählter! Wir dürfen unter keinen Umständen gehört werden!“, erinnerte ihn Fish, was er mit einem geflüsterten „Sorry“ zur Kenntnis nahm. Dann blickte sein Gegenüber zu einer der Wände hinüber, als gäbe es dort irgendetwas Besonderes zu sehen. „Folgt mir! Ich werde Euch hier herausbringen. Es gibt einen Notausgang, der in den Schlossgarten führt.“
 

„So? Wozu benötigt ein Kerker denn einen Notausgang?“
 

„Hauptsächlich für Notfälle“, erwiderte der Narr. Durchaus einleuchtend. „Für Euch mache ich eine Ausnahme. Wenn Ihr leise mit mir mitkommt, kommen wir vielleicht heil davon.“
 

'Vielleicht'..., dachte Alice, während er Fish hinterherschlich und vor der Wand stehenblieb, die er zuvor so fasziniert fixiert hatte. Klingt nach guten Aussichten.
 

Anscheinend befand sich eine geheime Luke in der Mauer, durch die man wieder an die Oberfläche gelangen konnte. Schweigend beobachtete er, wie Fish diese öffnete, sich auf den Boden herunterbeugte und den schmalen Durchgang entlangkroch, ehe er seinem Beispiel ein wenig skeptisch folgte. Wenigstens für Charlie stellte es kein Problem dar, den Gang zu passieren.
 

Glücklicherweise hatten sie nach wenigen Metern eine Leiter erreicht, die zuerst Fish gemeinsam mit der königlichen Schlange hinaufkletterte, und dann er selbst. Nicht viel später fand er sich in einem Teil des Schlossgartens wieder, der ihm bisher unbekannt gewesen war – allerdings hatte er natürlich auch noch nicht viel Gelegenheit dazu gehabt, sich hier draußen genauer umzusehen. Was er jedoch sofort feststellte, war, dass Charlie vollkommen Recht hatte, was den Garten bei Nacht betraf: Er war wirklich außerordentlich schön. Durch die vielen Lichter, die überall zwischen den Pflanzen verteilt waren und diese in der Dunkelheit beleuchteten, kamen die Rosen in all ihrer Pracht noch besser zur Geltung als am Tag.
 

Rosen... Wieder musste er an den seltsamen Trick denken, mit dem Marilyn auf seinem Zimmer versucht hatte, ihn zu beeindrucken. Oder war es am Ende überhaupt kein Trick gewesen? So egoman und kalt er sich auch immer geben mochte, in diesem Moment hatte er irgendwie bloß traurig gewirkt.
 

„Nein“, sagte er leise zu sich selbst. „Zerbrich dir nicht den Kopf darüber. Aus dem Typen wirst du sowieso nicht schlau...“
 

„Wie bitte? Habt Ihr mit mir gesprochen?“, unterbrach Fish seine Gedanken, nachdem er die Geheimtür offenbar wieder geschlossen hatte. Charlie war inzwischen ein Stück vorausgekrochen und neigte sich ihnen zu, so als würde er auf sie beide warten.
 

„... Nein, ich habe nur... Nicht so wichtig“, murmelte Alice, blickte sich kurz in der Gegend um und sah Fish dann fragend an. „Wo soll ich jetzt eigentlich hin? Im Schloss wird man mich doch sofort wieder festnehmen, oder nicht...? Was ist mit den Wachen?“
 

„Nun ja, also...“, druckste sein Gegenüber schuldbewusst lächelnd herum. „Das ist mir auch gerade eben eingefallen. Ich fürchte, Ihr müsst im Garten nächtigen...! Aber falls es Euch ein Trost ist: Ihr seid nicht alleine. Der Schwarze Ritter verbringt die heutige Nacht ebenfalls hier draußen.“
 

„Der Schwarze Ritter?“, wiederholte er, während er ruhigen Schrittes Charlie folgte. „Was hat er angestellt?“
 

„Ich habe zutiefst versagt“, hörte er besagten Ritter unerwarteterweise selbst antworten, als er ihn kurz darauf angelehnt an seine Kriegs-Sau und mit niedergeschlagenem Blick auf dem Boden entdeckte. Alice überlegte einen Moment, ehe er sich neben ihm und dem Schwein im Gras niederließ. Ob seine Sachen dabei schmutzig wurden konnte ihm ja egal sein – schließlich gehörten sie nicht ihm.
 

„Was ist passiert, Ritter Schleim? Habt Ihr zu viel geschleimt und wurdet daraufhin rausgeworfen?“
 

Ozzy seufzte tief und schaute zu ihm herüber wie ein verstoßenes schwarzes Kätzchen.
 

„Nicht ganz... Ihre launische Majestät hat ein Bad genommen und sich dazu einen guten Wein gewünscht. Offenbar habe ich ihr den Falschen gebracht... und das hat sie so sehr verärgert, dass sie mich vor die Tür gesetzt hat...“
 

„Nur deswegen?“ Alice setzte eine enttäuschte Miene auf. „Ich hatte schon gedacht, sie hätte Euch beim Spannen erwischt... oder Ihr wäret unangemeldet zu ihr in die Wanne gestiegen.“
 

„Um Himmels Willen, was sagst du denn da?! So etwas würde ich niemals tun...!“, rief Ritterchen Schwarz empört und drehte sich seltsam eilig von ihm weg – wahrscheinlich war diese Vorstellung ein wenig zu viel für ihn. „Ich habe sie nicht einmal angesehen, nur damit du es weißt...! Dieses Anblickes bin ich doch nicht ansatzweise würdig!“
 

„Wollt Ihr mit mir tauschen? Dann würdet Ihr sicherlich weitaus mehr Anblicke geboten bekommen als Ihr verkraften könnt“, scherzte Alice so amüsiert wie er es in seiner derzeitigen Lage nur sein konnte und wandte sich dann wieder Fish zu, der zusammen mit Charlie etwas abseits stand. Mit Ozzy war momentan wohl ohnehin nichts anzufangen. „Sag mal... Ich fühle mich dir ja wirklich verbunden, weil du mich aus dieser stickigen Knastzelle geholt hast. Aber wie soll ich denn seelenruhig hier schlafen, wenn wir jederzeit gesehen werden könnten? Gibt es nicht Riesenärger, wenn auffliegt, dass du den Schlüssel gestohlen hast?“
 

„Oh, macht Euch darum mal keine Sorgen!“, winkte der Hofnarr schnell ab. „Zurzeit ist Wache Nummer Zwei nachts dafür zuständig, draußen den Überblick zu behalten. Er ist also der Einzige, der uns hier finden könnte, und selbst wenn er das tun sollte wäre es nicht allzu schlimm. Ich bin sicher, er würde ein Auge zudrücken... im Gegensatz zu Wache Nummer Eins und General Floyd. Die beiden verstehen leider weniger Spaß...“
 

„General Floyd? Na, herrlich... Jetzt fühle ich mich doch gleich viel wohler.“
 

Fish warf ihm einen entschuldigenden Blick zu und schaute dann um die Ecke, wie um sich zu vergewissern, dass außer dem Wachmann mit dem Putzfimmel auch wirklich niemand anwesend war, bevor er wieder zu ihm herübersah.
 

„Wisst Ihr was? Legt Euch einfach ganz beruhigt schlafen! Bis morgen früh habe ich mir überlegt, wie wir das Ganze regeln. Verlasst Euch auf mich!“, sagte er in einem vermutlich zuversichtlicheren Tonfall als es der Wahrheit entsprach. „Ich werde in der Nähe bleiben und aufpassen, dass keiner uns sieht... Versprochen!“
 

„Wenn das so ist... von mir aus“, gab Alice müde zurück, während er versuchte, es sich etwa einen Meter neben Ozzy und seiner Sau gemütlich zu machen – sofern das ohne die geringste Bettwäsche oder eine Matratze überhaupt möglich war. Allerdings konnte er nicht abstreiten, dass ein paar Stunden Schlaf ihm mittlerweile mehr als gelegen kämen. Schließlich war er, seit er im Reich dieser Freaks gelandet war, nur selten zur Ruhe kommen, und die wahrscheinlich kurze Zeitspanne, in der Marilyns Schlafmittel gewirkt hatte, war nicht sonderlich erholsam gewesen. Ohne länger darüber nachzudenken legte er sich auf die Seite und merkte, kaum dass er die Augen geschlossen hatte, wie sämtliche Geräusche um ihn herum nach und nach verstummten, bis es vollkommen ruhig war. Angenehm ruhig...
 

Ein plötzlicher Schrei, unmittelbar gefolgt von einem weiteren, riss ihn aus der wundervollen Stille, die er bis gerade eben noch so genossen hatte, und machte seine naive Illusion, endlich einmal ungestört durchschlafen zu können, gnadenlos zunichte.
 

Reflexartig richtete Alice sich auf, undeutlich etwas nuschelnd, das er selbst nicht einmal verstand, und verspürte einige Sekunden lang nichts als den Wunsch, sich ein Grab zu schaufeln, in das er sich auf ewig zurückziehen konnte. Dann blinzelte er irritiert in Richtung der panischen Stimmen und brauchte einen Moment, um das Bild vor seinen Augen zu verarbeiten.
 

Der Weiße Ritter... ertappt dreinschauend auf dem Boden kniend und über den Schwarzen Ritter gelehnt, der ihn wiederum erschrocken anstarrte, so als wäre er selbst eben erst aufgewacht.
 

„... Was, um alles in dieser verfluchten Welt, veranstaltet ihr hier? Es ist mitten in der Nacht...!“
 

„Das wüsste ich auch gerne“, stimmte Fish zu, der mit einer Gießkanne vor den beiden stand und sie verständnislos musterte.
 

„Ich auch...!“, fügte Ozzy hörbar erwartungsvoll an seinen Rivalen gewandt hinzu, der ihn kurz verdattert ansah, bevor er sich überstürzt aus seiner äußerst fragwürdigen Position erhob und abwehrend mit den Armen vor sich herumfuchtelte.
 

„Das... ääh... das ist ein Missverständnis!“, war alles, was er verdächtig nervös hervorbrachte, während er subtil zu der schwarzen Sau herüberschielte, die ihrem Besitzer die bisherige Nacht über als Kissen gedient hatte und nun demonstrativ grunzend aufgesprungen war. Alice konnte sich nicht entscheiden, ob sie eher beunruhigt oder hungrig aussah.
 

„Ein Missverständnis...? Was hattet Ihr denn bitte vor?“ Mit einem Mal hielt Ozzy den Atem an, so als hätte er den Plan des Anderen schlagartig durchschaut, und machte ein entsetztes Gesicht. „Ihr... Ihr wolltet Euch an Black Beauty vergehen...!“
 

„Wie bitte?! Das ist ja unerhört! Wie kommt Ihr nur auf eine dermaßen absurde Idee?!“
 

„Ganz einfach: Ihr habt Euch einsam gefühlt, weil niemand da war, der Eure nicht vorhandene Schönheit bewundern konnte... und da Ihr weit und breit keine Frau gefunden habt, die Euch Gesellschaft leisten könnte, ist Euch sofort meine gute und treue Weggefährtin in den Sinn gekommen! Ihr müsst schon zugeben... sie ist ein überaus liebreizendes Schwein, nicht wahr?“
 

Liebreizend? Pah, da muss ich lachen! Das kann sie überhaupt nicht sein, Ihr paranoides Abbild eines Ritters... Dafür ähnelt sie Euch viel zu sehr.“
 

„Hast du das gehört, Black Beauty? Er findet, wir sehen uns ähnlich!“
 

Wortlos verfolgte Alice das Schauspiel, das ihn zu solch einer unmenschlichen Stunde – wie spät genau es auch immer sein mochte – vom Schlafen abhielt. Ein wenig fühlte er sich an eine schlechte Talkshow erinnert, aus der er nicht entkommen konnte. Es hätte beinahe unterhaltsam sein können, wenn es nur nicht so traurig gewesen wäre.
 

„Nun aber raus mit der Sprache... Was macht Ihr hier, Weißer Ritter?“, meldete sich auch Fish wieder zu Wort. „Ich war höchstens fünf Minuten weg, um nach den Blumen zu schauen, und dann sehe ich das! Hat die Uhr etwa schon Ritternacht geschlagen?“
 

„Haha, Ritternacht, hahaha!“, kicherte Ozzy und räusperte sich, als er merkte, dass er der Einzige war, der sich halbtot lachte. Der Bon Jovi-Verschnitt blickte ihn strafend an, ehe er einen Versuch startete, seine Situation schonend zu erklären.
 

„Tja, also... Das war so“, begann er zögerlich. „Ich habe lange nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich etwas tun muss, um meine Ehre wiederherzustellen, die... über die Jahre hinweg bedauerlicherweise aus verschiedenen Gründen verloren gegangen ist. Genauso wie mein edles Ross, das Eure angeblich so liebreizende Sau damals verspeist hat!“ Ozzy schien etwas zu seiner Verteidigung sagen zu wollen, schaffte es jedoch nicht, Bon Jovi in seiner tragischen Rede zu unterbrechen. „Ich kam also zu der Ansicht, dass es doch ein guter Einstieg in mein neues Dasein als Respektsperson wäre, wenn ich... Euer Schwein auf unbestimmte Zeit entführen und es Euch somit richtig heimzahlen würde. Aber ganz bestimmt hatte ich nicht vor, der Sau irgendetwas zu tun! Ich bin ja kein Unmensch... Vielleicht hätte ich sie Euch sogar zurückgegeben, wenn Ihr mich ein bisschen angefleht hättet.“
 

„Das soll wohl ein Witz sein...! Ihr wolltet Black Beauty verschleppen? Was hat sie Euch denn getan?“, warf Ritterchen Schwarz kleinlaut ein. Ritterchen Weiß sah ihn entrüstet an, bevor er seinen Erzfeind wild gestikulierend und mit viel zu präsenter Stimme ankeifte.
 

„Hört Ihr mir eigentlich jemals in diesem Leben zu...? Argh!! Ich habe es satt! All die ewigen Erniedrigungen... Aber damit ist jetzt Schluss! Das lasse ich mir nicht länger gefallen, weder von Euch noch von... unserer elenden Gruselkönigin!“
 

„Ähem...!“, machte Alice nach einer Weile des Schweigens vernehmlich auf sich aufmerksam. „Ich will Euch ja nicht aufhalten, wenn Ihr Eurem wahrscheinlich tief verankerten Ärger Luft machen wollt, ehrenwerter Weißer Ritter... Aber könntet Ihr das vielleicht auf später verschieben? Wenn die 'elende Gruselkönigin' uns hört sieht es nicht nur für Euch sondern für uns alle schlecht aus...“
 

„Was für ein fürchterliches Pech!“, ertönte urplötzlich eine wohlbekannte Stimme, die ihm unweigerlich einen kalten Schauer einbrachte. „Sie hat euch bereits gehört!“
 

Wie die personifizierte Bedrohung, die in der Ecke eines leisen Albtraums lauert, näherte sich Marilyn ihren Schlafplätzen, zu seiner Linken Wache Nummer Eins, die Alice noch immer nicht richtig zuordnen konnte – möglicherweise weil ihr Äußeres nicht so extrem hervorstach wie es beispielsweise bei Wache Nummer Zwei oder Ozzy der Fall war –, und zu seiner Rechten der übrige Typ, dem er bisher nicht viel Beachtung geschenkt hatte – im Gegensatz zu jetzt, denn anstatt des eher unauffälligen Outfits, das er zuletzt getragen hatte, erschien er nun in einer beeindruckenden dunklen Uniform. Offenbar General Floyd.
 

„Eure Hoheit...!“, platzte es schrill aus Bon Jovi heraus, als er sich hektisch in Richtung der Herzkönigin wandte, die, zu seinem eigenen Erstaunen, selbst um diese Uhrzeit in voller Montur bei ihnen auftauchte . „Ich, äh... das, was ich da eben gesagt habe... das war nur-“
 

„Ruhe jetzt!“, herrschte sie ihn an. „Ich kann dein Gestammel nicht mehr hören!“
 

„V-Verzeiht mir, Majestät...“, brachte er nicht weniger jämmerlich hervor. Im Gegenteil. Marilyn sah ihn streng an, eine Hand in die Hüfte gestemmt, in dasselbe schwarzrote Kleid gehüllt wie den kompletten vergangenen Tag über.
 

„Komm her.“
 

„... Was?“
 

„Ich habe gesagt, du sollst deinen ritterlichen Hintern hierher bewegen, und zwar sofort!“, wiederholte er energisch, was den sonst so selbstbewussten Weißen Ritter dazu veranlasste, ängstlich einen Schritt zurückzuweichen, bevor er Marilyns Aufforderung schließlich nachkam und widerwillig auf ihn zutrat.
 

„Und jetzt verrate mir eines, mein lieber Ritter... Was hat dich dazu verleitet, genau jetzt, wo jeder vernünftige Mensch, der nicht gerade eine unfähige Wache ist, schläft, meinen Schlossgarten zu betreten und derartigen Lärm zu machen?“
 

„Nun... das war... Eigentlich wollte ich bloß-“
 

„Gibt es einen wichtigen Grund, der dich dazu gezwungen hat, herzukommen?“
 

„N-Nein...“
 

„Kannst du dich daran erinnern, dass ich dich darum gebeten habe, herzukommen?“
 

„Nein, Majestät...“
 

„Richtig. Das habe ich auch nicht. Und weißt du, was das bedeutet? Das bedeutet, dass du hier nichts verloren hast. Nicht mehr und nicht weniger“, entgegnete Marilyn und setzte einen nachdenklichen Blick auf, ehe er mit einem unheimlichen Grinsen weitersprach. „Weißt du was? Da du anscheinend zu kopflos bist, um meine gewöhnlichen Strafen zu verinnerlichen, glaube ich, dass ich dieses Mal mit härteren Mitteln aufwarten muss. Apropos 'kopflos'... Wäre das nicht ein gutes Stichwort?“
 

Entgeistert starrte der Weiße Ritter seine verhasste Königin an, die mit einem herrisch befohlenen „Festnehmen!“ dafür sorgte, dass Wache Nummer Eins und General Floyd ihn umgehend am Flüchten hinderten. Unsicher, ob das wirklich deren Ernst war, beobachtete Alice das Szenario nun doch ein wenig mitleidig und fassungslos darüber, wie unsagbar kaltherzig sich Marilyn gegenüber seinen Untergebenen doch zeigen konnte.
 

„Bitte, Eure Majestät...! Das könnt Ihr nicht machen!“, schaltete sich Ozzy dazwischen, offenbar ebenfalls schockiert über die Skrupellosigkeit seiner Königin. „Ich gebe Euch ja Recht, dass sein hochgestochenes Gerede nur schwer zu ertragen ist, aber... das, was Ihr da vorhabt... Ist das nicht etwas zu hart?“
 

„Du, Schwarzer Ritter, solltest dich gepflegt zurückhalten!“, meldete sich nun auch General Floyd zu Wort – das erste Mal, das er ihn etwas sagen hörte. „Denkst du, ich sehe nicht, wie dilettantisch du mit Black Beauty umgehst? Ich habe dir mein kostbares Tier nicht zum Geschenk gemacht, damit du es wie einen Schoßhund behandelst! Tausendmal habe ich es dir schon gesagt: Schweine gehören in die Luft und nicht auf den Boden!“
 

„Das habt Ihr erwähnt, ja... Aber ehrlich gesagt, General, macht Black Beauty auf mich den Eindruck, als würde sie sich... nun ja, auf dem Boden viel wohler fühlen!“
 

„Du hast sie ja auch noch nie in ihrer natürlichen Umgebung erlebt! Wenn du wüsstest, wie glücklich sie ist, wenn sie sich frei in den Lüften entfalten kann, würdest du nicht so daherreden.“
 

„... Entschuldigt, aber würdet ihr eure Schweine-Gespräche vielleicht wann anders fortführen? Denkt ihr nicht, dass es gerade weitaus Wichtigeres gibt?“, unterbrach Alice die absurden Uneinigkeiten der beiden rasch und warf einen bedeutsamen Blick auf den Weißen Ritter, der diesen mit verzweifelter Miene erwiderte, während er noch immer ziemlich grob von den königlichen Bediensteten festgehalten wurde. „Ich muss Ozz-... dem Schwarzen Ritter zustimmen. Ich kann diesen Kerl da zwar nicht übermäßig gut leiden und kann voll und ganz verstehen, dass er Euch auf die Nerven geht, Majestät, aber ihn deswegen gleich umbringen?“ Unpassenderweise musste er ein wenig lachen, als er einen nicht ganz ernst gemeinten Vorschlag aussprach. „Wenn Ihr Euren Zorn schon an jemandem auslassen wollt, dann nehmt doch mich. Ich bin es gewohnt, geköpft zu werden.“
 

„Wie kannst du das gewohnt sein? Eine Enthauptung erlebt man für gewöhnlich nur einmal...!“, erwiderte Marilyn mit einem Unterton, der ihm nicht recht gefiel.
 

„Ich habe so meine Methoden“, gab er möglichst unbeeindruckt zurück und blickte sich in der Runde um. Fish schien das Desaster aus sicherer Entfernung zu beobachten, Charlie war, was ihm jetzt erst bewusst wurde, bereits seit Längerem nicht mehr hier. Wo die Schlange sich schon wieder herumtrieb war ihm jedoch schleierhaft. „Nichtsdestotrotz... Selbst wenn Ihr die Herrscherin über das Wunderland seid und alle Macht der Welt habt, berechtigt Euch das nicht dazu, leichtfertig über das Leben Anderer zu entscheiden. Der Schwarze Ritter ist meiner Meinung und ich bin sicher, Fish ist es auch.“
 

„Fish? Wer ist Fish?“, lachte die Herzkönigin dunkel, ehe sie mit einem latent irren Gesichtsausdruck zwischen ihm und dem Narren hin und her schielte. „Ach, den nutzlosen Spaßvogel, der so auffallend unbeteiligt hinter dir steht, meinst du? Diesen wahnsinnig witzigen Taugenichts, der mir jeden Tag den loyalen Hofnarren vorspielt, nur um mich dann eines Nachts schamlos zu hintergehen?“
 

„Ich bin untröstlich, Eure Hoheit, ehrlich...!“, brachte sich Fish nun endlich auch in das Geschehen ein. „Aber Ihr müsst einsehen, dass Ihr ihn – Alice! – noch braucht und Ihr nicht riskieren solltet, ihn zu vergraulen, indem Ihr ihn einsperren lasst, Hoheit...“
 

„Gar nichts muss ich! Willst du mir befehlen, was ich zu tun habe?!“, donnerte sie, Fishs unsichere Erklärungsversuche eiskalt ignorierend. „Du brauchst dich nicht mehr bemühen, mich in irgendeiner Weise milder zu stimmen. Du bist hiermit entlassen! Ich will dich hier nicht mehr sehen, hast du verstanden?“
 

„Aber...! Ihr...“
 

„Geh jetzt! Ich brauche keinen Verräter auf meinem Hof! Erst recht keinen, der mir noch Vorhaltungen macht...!“
 

Bestürzt sah Alice dem Narren hinterher, als er irgendwann, nachdem er eine kleine Weile lang bloß sprachlos dagestanden und seine Herrin starr fixiert hatte, tatsächlich langsam auf den Irrgarten zuschritt und das Grundstück verließ. Das Letzte, was von ihm zu hören war, war das leise Klingeln seiner Glöckchen, bevor er endgültig von der Bildfläche verschwand.
 

Wann genau war die Geschichte, die sich hier abspielte und in die er so hoffnungslos verwickelt war, eigentlich zu einem derartigen Drama geworden?
 

Fish wurde entlassen, nur weil er ihm hatte helfen wollen... und um den Weißen Ritter stand es sogar noch wesentlich schlimmer. Was war es, das diese Königin zu einer solch gnadenlosen Kreatur gemach hatte?
 

Gewissermaßen ironisch, dachte Alice, dass ausgerechnet sie Herzkönigin genannt wurde, wo es, zumindest in diesem Moment, keine herzlosere Person gab, die ihm hätte einfallen wollen.
 

„Majestät! Wie sollen wir mit unserem Gefangenen verfahren?“, hörte er einen der beiden fragen, die Ritter Bon Jovi noch immer festhielten, der wiederum nur kaum merklich wimmernd an Ort und Stelle stand, offenbar darauf wartend, dass endlich offiziell über ihn gerichtet wurde.
 

„Nun... Wie ich bereits sagte, wird er...“, begann Marilyn, bedachte sein Opfer mit einem flüchtigen Blick und schaute dann zu ihm herüber, als Alice mit einem bittenden Ausdruck in seinen Augen versuchte, ihn dazu zu bewegen, sein Urteil noch einmal zu überdenken. Marilyn zögerte kurz. „Ach... was soll's! Werft ihn einfach in den Kerker! Hauptsache, er verschwindet aus meinem Sichtfeld...!“
 

Zwar fürs Erste erleichtert darüber, anscheinend doch keine feierliche Hinrichtung miterleben zu müssen, beschäftigte ihn dennoch wenig später der Gedanke, wie es jetzt weitergehen würde. Welche ungerechten Entscheidungen die scheinbar so unnahbare Herzkönigin noch fällen würde. Hatte er überhaupt einen Einfluss auf das, was sie in ihrem eigenen Königreich tat? Oder war es nicht im Grunde völlig egal, ob er hier war oder nicht? Am Ende würde sie doch ohnehin ihren Willen durchsetzen; wenn es sein musste mit Gewalt. Einfach weil sie es konnte.
 

„Ihn könnt ihr übrigens gleich mit in den Kerker stecken“, bemerkte sie beiläufig, an ihre persönlichen Leibwächter gerichtet, mit einer Handbewegung in Richtung des Schwarzen Ritters. „Ich habe für heute genug von irgendwelchen Rittern, die ihr unzumutbares Rumgekreische nicht unter Kontrolle bekommen.“
 

„Aber Majestät...!“, entfuhr es Ozzy beleidigt. „Ich soll in die Zelle? Mit dem da...?“
 

„Aha, so ist das also! Gerade setzt Ihr Euch noch aufopferungsvoll für mich ein, aber kaum dass Ihr Euch die Zelle mit mir teilen sollt, tut Ihr so, als wäre es die schrecklichste Strafe der Welt... Seid doch froh, dass Ihr nicht alleine hinein müsst!“, gab der Weiße Ritter schmollend an seinen Erzfeind gewandt zurück.
 

„Froh soll ich sein? Natürlich ist das eine Strafe... für jemanden, der vollkommen unschuldig ist!“
 

„Ihr könnt das Wort 'unschuldig' doch nicht einmal buchstabieren...“
 

„Schluss damit!“, rief Marilyn dazwischen, bevor einer der beiden einen weiteren Ton von sich geben konnte. „Das hält man ja im Kopf nicht aus! Ihr zwei seid wie ein altes Ehepaar... Vielleicht solltet ihr mal eine Partnertherapie in Erwägung ziehen, oder wie diese albernen Angelegenheiten sich auch nennen...! Wache Nummer Eins! General Floyd! Führt die beiden ab, damit sie ihre dämlichen Streitigkeiten endlich ausdiskutieren oder sich von mir aus auch zu Tode nerven können...! Mir soll es egal sein.“
 

Ein wenig missmutig sah Alice dabei zu, wie beide Ritter gleichzeitig ins Schloss gebracht wurden; Ozzy von der stets ernst dreinschauenden Wache, und Bon Jovi von dem geheimnisvollen General. Marilyn ging vermutlich davon aus, dass sie ohnehin keinen Widerstand leisten würden und es deshalb reichte, wenn sich jeweils einer seiner Diener um einen von ihnen beiden kümmerte. Und offenbar lag er damit richtig.
 

„Unsere Königin hat sich verändert. Es soll Zeiten gegeben haben, in denen sie eine sanftmütige und gutherzige Person war“, kamen ihm Fishs Worte wieder in den Sinn.
 

Wann soll das gewesen sein, dachte er, während er die Herrscherin des Wunderlandes ausgiebig musterte. An ihr war nicht ansatzweise etwas Sanftmütiges. Wie sollte er allein es schaffen, sie zur Vernunft zu bringen, damit sie wieder so werden würde wie früher? Nur weil er aus Gründen, die er noch immer nicht herausgefunden hatte, 'der Auserwählte' genannt wurde, sollte es an ihm liegen, die Komplikationen dieser irrsinnigen Welt geradezubiegen? Im Augenblick erschien ihm das schlicht wie eine unlösbare Aufgabe.
 

„Du siehst nachdenklich aus, Alice“, brach Marilyn das Schweigen irgendwann, und er registrierte, dass die Königin und er die Einzigen waren, die noch hier standen. Alle anderen waren gegangen.
 

„Ja, wisst Ihr... das bin ich auch“, gab er ruhig zurück und sah sein Gegenüber fest an, ohne sich von der Stelle zu bewegen. „Ich versuche zu begreifen, was in Eurer Vergangenheit geschehen sein muss, das Euch zu dem gemacht hat, was Ihr jetzt seid. Ihr wart nicht immer so, stimmt's? So... verbittert.“
 

Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er, dem Anderen so etwas wie Verwunderung anzusehen, dann schaute er mit leerem Blick zur Seite.
 

„Ihr wollt wohl nicht darüber sprechen, was? Kein Problem. Ich werde so lange hier stehen bleiben, bis Ihr mir sagt, was mit Euch los ist.“
 

„Reine Zeitverschwendung! Du... würdest es sowieso nicht verstehen...“, entgegnete Marilyn weniger kalt als er es erwartet hatte.
 

„Ich kann es auch nicht verstehen, wenn Ihr Euch ständig vor mir und allen anderen verschließt! Warum seid Ihr nicht einfach ein einziges Mal ehrlich zu mir anstatt mir ewig etwas vorzumachen? Ob Ihr es glaubt oder nicht, ich bin mir sicher, dass Ihr in Wahrheit nicht die grausame Person seid, die Ihr vorgebt zu sein...!“
 

„Es ist schön, dass du dir da so sicher bist. Ich selbst bin es nämlich nicht“, sagte die Königin in einem eigenartigen Tonfall, den er zuvor noch nicht bei ihr gehört hatte. Beinahe klang es, als besäße sie tatsächlich einen Hauch von Gefühlen, den sie selbst im Laufe der Zeit schon längst verdrängt hatte. „Wenn du glaubst, mich bereits so gut zu kennen, dass du mir sagen kannst, wer ich bin... dann finde ich das beeindruckend.“
 

Überrascht sah er ihr nach, als sie ihn nach kurzem Zögern alleine dort stehen ließ und ganz wie die anmutige Erscheinung, die sie war, langsamen Schrittes irgendwo in einem dunklen Winkel des Schlossgartens verschwand. Nahezu im selben Moment bemerkte Alice, wie die beiden Wächter zurückkehrten, nachdem sie anscheinend ihre Gefangenen in den Kerker geschafft hatten, und ihrer Herrin irritiert hinterherstarrten, nur um schließlich mit grimmigen Gesichtern auf ihn zuzutreten, so als wäre er für das alles verantwortlich.
 

„Du...!“, knurrte Wache Nummer Eins. „Hast du die Königin etwa verärgert?“
 

„Ich weiß bei Weitem nicht, wie Ihr darauf kommt. Ich habe überhaupt nichts gemacht und es läge mir absolut fern, die Königin absichtlich zu verärgern.“
 

„Oh, noch so ein armes Unschuldslamm, das 'überhaupt nichts gemacht' haben will“, seufzte General Floyd und trat ihm dann mit erhobenem Zeigefinger gegenüber. „Hör zu, mein Freund... Jeder ist auf seine eigene Weise schuldig. Dich eingeschlossen. Also antworte mir: Weshalb ist die Königin eben so dramatisch an uns vorbeigerauscht, ohne ein Wort zu sagen?“
 

„Weil sie nun mal eine Vorliebe für Dramatik hat. Und Ihr offenbar auch“, hätte Alice beinahe geantwortet, verkniff es sich jedoch rechtzeitig. In seiner jetzigen Situation käme das vermutlich nicht sonderlich gut an.
 

„Alles, was ich getan habe, ist, sie zu fragen, was mit ihr los ist“, antwortete er schließlich wahrheitsgemäß. „Ich wollte wissen, warum sie andauernd so böse und gleichgültig tut, sonst nichts. Ist das ein Verbrechen?“
 

Stille. Den Blicken der beiden nach zu urteilen beantwortete das seine Frage mit einem 'Ja'.
 

„Welch schwarze Nacht für uns... Dieser Einfaltspinsel stürzt uns alle in unser Verderben“, murmelte Wache Nummer Eins betreten, mit einem Gesicht, als hätte bereits sein letztes Stündlein geschlagen. „Der Königin derart nahezutreten... Böse... Ja, ein böses Ende wird es mit Sicherheit geben, wenn das so weitergeht...!“
 

„Sie hat nicht-“
 

„Schweig!“, unterbrach die Wache ihn schroff. „Wenn du nicht aufhörst, dich in Angelegenheiten einzumischen, die dich nichts angehen, wirst du uns allen den Tod bringen! Du hast ja keine Ahnung von unserer Königin... Wer bist du, dass du es wagst, ihre Handlungen in Frage zu stellen?!“
 

„Jetzt reicht es mir! Das Ganze geht mich sehr wohl etwas an! Mir ist es sowas von egal, ob ihr vor eurer ach so gefürchteten Herrscherin rumkriecht wie irgendwelche Insekten... Sie ist ein Mensch, genau wie ihr anderen auch! Bin ich denn hier der Einzige, der noch einen Funken Selbstachtung hat?“, erwiderte Alice aufgebracht, ging demonstrativ an dem entsetzten Wachmann vorbei und drehte sich schließlich noch einmal zu ihm um. „Ich glaube, ihr seid diejenigen, die keine Ahnung von ihrer Königin haben... und nicht ich. Und im Übrigen werde ich sie jetzt suchen und mit ihr reden – ob es euch passt oder nicht!“
 

„Bist du lebensmüde? Das-“
 

„Ist gut. Lass ihn gehen“, hörte er General Floyd ruhig zu seinem Kollegen sagen. Ganz zu seinem Erstaunen schien er ihn nicht weiterhin aufhalten zu wollen. Gut. Sollte ihm nur recht sein. Sich mit den verblendeten Dienern dieses Hofes anzulegen war ohnehin sinnlos wie eh und je.
 

Ohne genau zu wissen, wohin er überhaupt ging, lief Alice durch den, wie ihm jetzt allzu bewusst wurde, wirklich riesigen Schlossgarten, bemüht, trotz der Dunkelheit niemanden zu übersehen. Wobei es so dunkel eigentlich gar nicht einmal war. Die unzähligen kleinen Laternen beleuchteten den Weg mehr als ausreichend, um sich auch nachts zurechtzufinden – sofern man sich hier auskannte –, und außerdem hatte sich der Himmel über dem Anwesen mittlerweile merklich erhellt. Möglicherweise war es bereits nicht mehr lange hin, bis die Sonne aufging.
 

Aus irgendeinem Grund konnte er sich nicht im Entferntesten vorstellen, wie lange er inzwischen schon ziellos durch den königlichen Garten gestreift war, als er nach einer Weile tatsächlich glaubte, so skurril es auch klingen mochte, das Ende erreicht zu haben. Jedoch nicht bloß das Ende dieses Grundstückes. Nein, das Ende dieser Welt.
 

Es waren keine Bäume und Sträucher dort, die den Garten von dem umliegenden Teil des Landes abgrenzten. Es gab auch keinen Zaun. Nichts. Dort war schlicht und einfach nichts.
 

Und ganz am Rande des Abgrundes zur unendlichen Leere sah er sie stehen, den Blick in die Ferne gerichtet und still wie eine Statue – die Herzkönigin. Wortlos ging er auf sie zu, nicht sicher, ob sie ihn überhaupt bemerkte. Allerdings klärte sich diese Frage, als sie ihn, ohne den Blick von dem gigantischen Nichts abzuwenden, mit leiser Stimme ansprach.
 

„Nett, dass du gekommen bist, Alice“, sagte sie. „Willst du mir etwa freiwillig Gesellschaft leisten?“
 

Ein wenig schuldbewusst hielt er inne und redete sich ein, dass sie nicht gerade viel dafür getan hatte, den Eindruck einer vertrauenswürdigen Person zu erwecken, der man gerne Gesellschaft leistete, schritt schließlich aber doch die letzten wenigen Meter auf den eigenartigen Abgrund zu, als er zu dem Schluss kam, dass diese Gedanken zu keinem Ergebnis führten.
 

„Ich bin gekommen, weil... alles andere mir falsch erschien“, antwortete er knapp. Die Königin lächelte.
 

„Weißt du, wo du hier bist?“, fragte sie und sah ihn kurz an, ehe sie wieder geradeaus blickte. „Was das hier für ein Ort ist...?“
 

„Nein“, gab er zurück, verwirrt und gleichermaßen fasziniert von dem unerwarteten Anblick. „Ich kann es nur vermuten, aber wissen tue ich es nicht.“
 

„Das hier“, sagte Marilyn seltsam stolz, „ist die Grenze des Wunderlandes. Der Punkt, an dem es endet.“ Es wirkte schon beinahe unheimlich melancholisch, als er mit gesenktem Blick weitersprach. „Ich liebe diesen Ort. Und genauso sehr wie ich ihn liebe hasse ich ihn.“
 

Alice äußerte sich nicht. Viel zu surreal war dieses Szenario, als dass ihm auf die Schnelle eine passende Antwort eingefallen wäre. Marilyn streckte eine Hand aus und lehnte sich ein Stück nach vorne.
 

„Passt auf...! Ihr fallt noch da runter...“, hatte er bereits gesagt, bevor er darüber hatte nachdenken können. Ihre Hoheit grinste schmal.
 

„Machst du dir Sorgen um mich?“
 

„Naja, das ist ja wohl... Ich meine, Euer Land braucht Euch noch, nicht wahr?“, entgegnete Alice, bedacht, bloß nichts Falsches zu sagen. Allerdings hatte er sofort das Gefühl, genau das getan zu haben – wenngleich auch Marilyn sich nichts anmerken ließ und genauso ausdruckslos in die Leere starrte wie zuvor.
 

„... Ich kann hier übrigens nicht herunterfallen. Es ist lange her, da habe ich diese Grenze zur Sicherheit mit einer Barierre versehen. Du kannst sie optisch nicht wahrnehmen, aber sie ist da.“
 

Wie zur Bestätigung seiner Erklärung tastete er die Luft ab und schien, wie es aussah, in der Tat auf einen Widerstand zu stoßen.
 

„Fühl selbst einmal.“
 

Alice zögerte kurz, bevor er der Aufforderung seines Gegenübers mit einer gewissen Vorsicht nachkam und sich selbst von der Sicherheit dieses merkwürdigen Ortes überzeugte, indem er sich dem Rand noch ein Stück weit näherte und das gleiche tat wie zuvor Marilyn.
 

„Ja, ich merke es. Da ist eine Wand.“
 

„Richtig. Aber sie ist nur da, solange ich es will. Ich kann sie jederzeit mit nur einem einzigen Blinzeln verschwinden lassen. Siehst du?“
 

Kaum dass er seine Hand von der Stelle genommen hatte, schien die Luft um ihn herum sich verändert zu haben. Das gigantische Bild, das sich vor ihm erstreckte, der Ausblick in das unendliche Nichts... alles war klarer geworden. Vor einem winzigen Augenblick noch abgetrennt durch eine unsichtbare Glasscheibe gab es nun absolut nichts, das zwischen ihm und der Leere war. Er stand vor dem Ende der Welt.
 

„Geh näher ran“, sagte Marilyn.
 

„Noch näher? Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist...“
 

„Wenn du dich einfach nur dort hinstellst und dein Gleichgewicht unter Kontrolle hast, kann nichts passieren. Vertrau mir. Du wirst es nicht bereuen.“
 

Unsicher, weshalb Marilyn ausgerechnet so etwas von ihm verlangen sollte, blieb er einige Sekunden lang bloß reglos stehen, machte jedoch – aus Neugierde oder warum auch immer – wenig später einen Schritt auf den erschreckenden Abgrund zu und dann einen weiteren, bis er schließlich so nahe am Rand stand, dass es beinahe war, als würde er schweben. Vielleicht lag es am Schlafmangel oder an seinem Zeitempfinden, das sich, seitdem er hier war, zunehmend verabschiedet hatte. Aber in diesem Moment schien es, als würde die Zeit stillstehen; als wäre alles, was hinter ihm lag, verblasst, um ihm jetzt, da er es bis hierher geschafft hatte, zu offenbaren, dass er gefunden hatte, wonach er seit einer Ewigkeit suchte. Es war wie eine Erinnerung, die nach langer Zeit in sein Bewusstsein zurückkehrte. Anfangs noch schwach wurde sie immer deutlicher – obwohl er beim besten Willen nicht hätte benennen können, was genau sie bedeutete.
 

Er wusste, dass Marilyn hinter ihm war und dass er ihn mühelos hätte herunterstoßen können, wäre es in seinem Sinne gewesen. Es hätte beängstigend sein können, aber das war es nicht. Es war ein Eindruck, den er nicht beschreiben konnte, weil es dafür keine Worte gab.
 

„Wie gefällt es dir jetzt? So einen Ausblick hast du noch nicht gesehen, nicht wahr...?“, vernahm er vage Marilyns Stimme, und er hatte Recht. So etwas hatte er wirklich noch nie gesehen. „Schau nach unten. Siehst du das kleine Licht, das ganz langsam näher kommt? Das ist die Sonne.“
 

„Die Sonne?“
 

„Genau. Jeden Morgen erscheint sie hier, an dieser Stelle, bevor sie sich in all ihrer majestätischen Pracht über meinem Schloss, meinem Garten und über dem ganzen Land erhebt... zumindest fast jeden Morgen“, erklärte Marilyn ruhig, während er abwesenden Blickes neben ihn trat. „Aber wenn sie aufgeht... dann taucht sie diesen Ort in Wärme und bringt etwas mit sich, das niemand anders mir auch nur ansatzweise geben kann. Deshalb mag ich die Sonne.“
 

Alice hörte zu, was Marilyn ihm erzählte, über die Sonne und den Himmel und den kurzen Moment, wenn die Nacht in den nächsten Tag überging, doch er war sich nicht sicher, ob es Sinn ergab. Er sprach von der unvergleichlichen Schönheit, wenn die Sonne kurz vor dem Aufgang stand, und von Farben. Farben konnte er keine erkennen, aber das kleine Licht, das wie ein beleuchtetes Flugzeug in der Luft hing und sich schneller als eine Sonne es überlicherweise tun sollte in ihre Richtung bewegte, sah er mehr als deutlich. Rötlich glühend stieg es in der blaugrauen Atmosphäre empor, seltsam greifbar und doch unwirklich wie ein sonderbarer Traum. Es hatte etwas irgendwie Trauriges an sich.
 

„Darf ich Euch eine Frage stellen...?“, sagte Alice, der Königin schräg zugewandt, die daraufhin keinen Einwand äußerte. „Als ich Euch das erste Mal begegnet bin... da wolltet Ihr etwas sagen. 'Du bist...', und dann habt Ihr nicht weitergesprochen.“ Seine Anspielung schien, wie er es erwartet hatte, etwas in ihr auszulösen. Sie wirkte nachdenklich. „Was habt Ihr damit gemeint? Ich respektiere es, wenn Ihr Geheimnisse habt, aber... das würde ich wirklich gern wissen.“
 

Eine Weile lang sah Marilyn schweigend an ihm vorbei, dann trat er einen Schritt zurück und ließ sich im Gras nieder, die Beine über der Klippe übereinandergeschlagen und abwartend zu ihm aufschauend.
 

„Setz dich“, sagte er, also setzte er sich neben ihn, erwartungsvoller als er es von sich selbst zunächst angenommen hätte, und sah Marilyn an, mit einem Gefühl, als wäre all das – seine Umgebung, dieser Moment und die Königin selbst – viel vertrauter als es ihm bereits jetzt hätte sein können.
 

„Vor vielen Jahren“, begann Marilyn leise, „gab es hier eine... Person, die ich sehr mochte. So sehr, dass ich alles mit ihr geteilt habe. Wirklich alles. Wir schienen füreinander geschaffen worden zu sein; sie war mein Gegenstück, das ich an meiner Seite brauchte, und umgekehrt. Jeden einzelnen Tag habe ich mit ihr verbracht, und sie hat mir versprochen, dass wir auch den Rest unserer Tage miteinander verbringen würden. Dass wir für immer zusammen sein würden.“ Er machte eine kurze Pause, ehe er, emotionsloser als er es bis eben noch gewesen war, fortfuhr. „... Wie auch immer. Sie hat ihr Versprechen gebrochen. Es passierte ganz langsam, dass sie sich veränderte. Ganz langsam hat sie mehr und mehr den Verstand verloren, hat, ohne es zu merken, unser kostbares Glück zerstört, und schließlich... hat sie höchstpersönlich ihr Elend, unser Elend, beendet. Sie hat sich nicht einmal verabschiedet, bevor sie gegangen ist... bevor sie sich in die Leere gestürzt hat.“
 

Eine Weile lang war es absolut still. Alice schaute dorthin, wo der Horizont gewesen wäre, hätte in der Ferne etwas wie ein Boden existiert. Die Sonne war inzwischen wesentlich besser zu erkennen als wenige Minuten zuvor und es sah so aus, als würde sich ein schwacher Schein um sie herum abzeichnen.
 

„Das... tut mir leid“, sagte er, auch wenn es vermutlich keine große Hilfe war. Ganz bestimmt nicht. „Ich kann Euch verstehen. So einen Verlust zu verkraften ist sicher nicht leicht... Aber... versteht mich nicht falsch, aber inwiefern habe ausgerechnet ich etwas damit... zu tun?“
 

„Du siehst aus wie sie.“
 

Lange verlor keiner von ihnen auch nur ein einziges Wort. Nichts schien im Augenblick richtig zu sein, und irgendwann hatte sich dieser Augenblick, in dem scheinbar nichts zusammenpasste, verflüchtigt, und ihm wurde nach und nach klarer, weshalb alles so war wie es war. Ihr erstes Aufeinandertreffen. Die Tatsache, dass Marilyn ihn nicht gehen lassen wollte. Es erklärte so vieles.

Unterbewusst hatte er damit gerechnet, schon bevor er die Antwort ausgesprochen hatte. Bloß was es für ihn bedeuten würde, das wusste er nicht.
 

Erneut blickte Alice auf den Horizont, den es nicht gab. Es musste bereits eine Ewigkeit her sein, dass sie sich hier niedergelassen hatten. Der kleine Lichtpunkt ähnelte nun vielmehr einer brennenden Kugel, die den Himmel überall dort, wo sie ihn berührte, in Flammen aufgehen ließ. Ob diese Sonne genauso war wie die, die er irgendwann einmal an einem anderen Ort gekannt hatte? Ob es eine echte Sonne war?
 

Ja, dachte er mit einem Mal seltsam überzeugt. Sie war echt. Sie war genauso echt wie auch der Rest dieser Welt es war.
 

Stück für Stück färbte sie den Himmel neu, und irgendwoher wusste er, dass es die Farben waren, von denen Marilyn gesprochen hatte; die Farben, die nur in dem kurzen Moment zu sehen waren, wenn die Nacht in den nächsten Tag überging. Es waren dieselben Farben, die ihn draußen hinter dem Irrgarten und dem großen Tor die ganze Zeit über begleitet hatten, auf seinem Weg zum Schloss – und doch waren sie anders. Wie bei einem unfertigen Gemälde, dessen Konturen ineinander verschwammen, erfüllten sie die Luft, brannten gleißend hell am Firmament, nur um in der nächsten Sekunde zu verglühen und wieder aufzuflammen, bedrohlich, fast beängstigend, und zur selben Zeit unvergleichlich schön. Schön wie nichts anderes, was er bisher gesehen hatte.
 

Stille. Noch immer wagte es niemand, die Ruhe zu stören. Alice warf einen Blick neben sich, versuchend zu erkennen, was in Marilyn vorging. Die Königin saß dort, puppenhaft – wie so oft –, aus halb geöffneten Augen das Schauspiel beobachtend, und leicht, ganz leicht glaubte er, sie lächeln zu sehen. Sie saß oft hier, genauso wie jetzt, unter dem majestätischen Sonnenaufgang und über der klaffenden Tiefe, die hinter der Grenze lauerte. Es war ihm bewusst, dass sie das tat, so als wäre es etwas Banales. Alltägliches. Als wäre es schon immer so gewesen.
 

„Habt Ihr niemals Angst, wenn Ihr hier seid?“, fragte er leise, obwohl er selbst nicht wusste, aus welchem Grund. „Dass die Sonne eines Tages ihren eigenen Willen entwickeln und zu nahe kommen könnte? Oder dass etwas anderes passieren könnte?“
 

Marilyn wandte sich langsam zu ihm um, mit einem Ausdruck, als wäre er so ausgeglichen wie seit Langem nicht mehr.
 

„Sie hat mich das auch einmal gefragt“, sagte er. „Und meine Antwort ist noch immer die gleiche: Nein.“ Andächtig erhob er sich, mit einer beiläufigen Geste sein Kleid glatt streichend, und blickte mit einem tatsächlich ehrlichen Lächeln zu ihm herunter. „Solange die Sonne da ist und aufgeht... habe ich einen Grund, froh zu sein. Und das ist alles was zählt.“
 

Alice sah ihm hinterher, als er gemächlichen Schrittes an ihm vorbeiging und sich schließlich, bevor er im Schloss verschwand, noch einmal zu ihm umdrehte, mit den Worten „Danke, Alice. Danke für alles. Meine Türen stehen dir jederzeit offen, wenn du dich entschließen solltest, reinzukommen“. Dann ließ die Königin ihn alleine zurück und er überlegte nur kurz, bis er zu dem Schluss kam, dass er ihr irgendwann folgen würde, irgendwann, wenn der nächste Tag angebrochen und es hell war. Bis dahin saß er an der Klippe, nur er am Ende der Welt, und wartete, bis die Farben verblassten.

Kapitel 8 - Auf der Kehrseite

Mit dem Gefühl, entweder einen echt abgefahrenen Traum oder einen merkwürdigen Trip hinter sich zu haben, wachte Alice im Licht des frühen Morgens unter freiem Himmel auf. Fantastisch. Er hatte tatsächlich die komplette Nacht im Garten verbracht.
 

Ein flüchtiger Blick über die Schulter verriet ihm, dass seine Erinnerung an bunte Farben über einem endlosen Abgrund weder ein Trip noch ein Traum gewesen waren sondern unglaubliche Realität. Die Klippe war noch immer dort. Die Sonne hing mittlerweile irgendwo zwischen den Wolken und erhellte die Umgebung, so wie sie es auch am vorherigen Tag getan hatte.
 

Langsam fiel es ihm wieder ein. Nachdem Marilyn gegangen war hatte er sich die sonderbare Morgendämmerung bis zum Schluss angesehen. Er hatte an der Grenze gesessen, bis er müde geworden war, zu müde, um auch nur irgendetwas anderes zu tun als zu schlafen. Das einzige, was er unmittelbar zuvor noch fertiggebacht hatte, war, sich drei Meter weiterzuschleppen – direkt vor der Klippe zu nächtigen erschien ihm dann doch ein wenig riskant –, und dann war er wenige Sekungen später weg gewesen.
 

Alice setzte sich aufrecht, streckte sich und stand schließlich auf, um sich allmählich wieder ins Schloss zu begeben. Anhand des quirligen Vogelgezwitschers nahm er an, nicht allzu lange geschlafen zu haben. Vielleicht würde er in der Empfangshalle daran denken, einmal auf die Uhr zu schauen, die dort unübersehbar vor der Wand stand.
 

Auf dem Weg entdeckte er Black Beauty und neben ihr General Floyd, der ihn allerdings nicht zu bemerken schien, als er an ihm vorbeiging – offenbar war er zu sehr auf die Sau fixiert und darauf, sie zum Fliegen zu ermutigen.
 

Vor dem Schlosstor wurde er ungewohnt freundlich von Wache Nummer Eins begrüßt, die ihre Schicht nun anscheinend wieder mit Wache Nummer Zwei getauscht hatte. Erst jetzt fiel ihm auf, dass die Rüstung des Wächters im Sonnenlicht einen matt-violetten Schimmer aufwies. Auf Farben wurde hier sehr viel Wert gelegt, wie es aussah. Erstaunlicherweise war der Kerl sogar so nett, das inzwischen durch und durch schwarze Tor für ihn zu öffnen. Alice fragte sich, was Marilyn seinen Leuten nach der vergangenen Nacht wohl erzählt hatte, war sich jedoch bei genauerem Überlegen nicht sicher, ob er es wirklich wissen wollte.
 

„... Majestät?“, sagte er leise, nachdem er den Saal betreten hatte, und blickte sich suchend um. Es schien niemand da zu sein. Was, wenn man darüber nachdachte, auch nicht abwegig war, schließlich waren der General und eine der Wachen draußen. Die zweite Wache war vermutlich in irgendeinem anderen Raum mit diversen Hausarbeiten beschäftigt. Und Fish war nicht mehr hier. Irgendwie war es schade um ihn. Verglichen mit den meisten anderen Bewohnern dieses Landes war er ihm wirklich sympathisch gewesen.
 

„Hm“, machte er, lief auf die große Treppe zu und ging nach oben. „Wahrscheinlich ist er in seinem Zimmer. Oder sie... wie man's nimmt.“
 

Kurz musste er überlegen, welche der Türen diejenige war, die in Marilyns Gemach führte, glaubte dann aber, die richtige erkannt zu haben, als er näher herangegangen war. Sie war nur angelehnt und ein schwaches Licht drang heraus, als er sie ein Stück aufschob. Zögerlich trat er in das halbdunkle Zimmer und ließ seinen Blick hindurchschweifen. Er kam sich komisch dabei vor, wie selbstverständlich durch das königliche Anwesen zu spazieren. Noch komischer kam er sich allerdings vor, als er die Königin selbst sichtete, die gerade, wie es schien, ganz alleine voller Leidenschaft in einen... Tanz vertieft war. Ein Walzer oder etwas in der Art – er hatte nicht viel Ahnung von Paartänzen. Trotzdem hatte er genug Ahnung, um zu wissen, dass man dafür für gewöhnlich einen Partner brauchte.
 

„Ähem... Eure Hoheit?“
 

„Alice...!“, rief Marilyn scheinbar gut gelaunt, ohne sein Tun zu unterbrechen. „Guten Morgen! Hattest du eine erholsame Nacht?“
 

Ein wenig irritiert starrte Alice die Königin an, als sie mit rhythmischen Bewegungen nahezu in seine Richtung geschwebt kam.
 

„Nun ja... Das solltet Ihr wissen, Ihr wart fast die ganze Nacht über bei mir“, entgegnete er, vorsichtshalber einen Schritt zurückweichend – nicht dass sie noch auf die Idee kam, ihn als potentiellen Tanzpartner in Erwägung zu ziehen. Mal ganz davon abgesehen, dass sie das möglicherweise auf noch viel beängstigendere Einfälle bringen würde, hatte er auch nicht wirklich Lust darauf, sich zu blamieren.
 

„Oh ja, du hast absolut Recht“, flötete Marilyn und machte eine Geste, als würde er seinen imaginären Partner eine Drehung vollführen lassen. „Wie könnte ich unsere gemeinsame Nacht vergessen...“
 

„Ihr verdreht mir die Worte im Mund.“ Alice wagte sich etwas weiter in den Raum, als die Dancing Queen sich wieder ein wenig von ihm entfernt hatte. „Zu welchem Lied tanzt Ihr eigentlich? Ich höre gar keine Musik.“
 

„Du kannst die Musik ja auch nicht hören. Du musst sie fühlen...!“
 

Marilyn schloss verträumt die Augen.
 

„Verstehe“, sagte Alice und stellte sich vor, wie von irgendwoher 'The beautiful people' ertönte und das Gemach erfüllte, während Queen Manson in seiner Rolle als sterbender Schwan aufging. Er kam nicht umhin zu denken, dass diese überaus groteske Kombination durchaus etwas hatte. Er wusste nur nicht, was.
 

Interessiert betrachtete er die Klamotten, die ordentlich nebeneinander auf dem Bett lagen und, sobald er sie erblickt hatte, seine Aufmerksamkeit auf sich zogen – ein recht schlichtes dunkelrotes Top, dazu eine schwarze Samtjacke und dunkle geringelte Overknee-Strümpfe, die ihn irgendwie an ein ausgeflipptes Schulmädchen denken ließen. Am faszinierendsten fand er allerdings den Schottenrock, der groß und breit und sehr präsent am Rand lag.
 

„Soso... Das wollt Ihr also heute anziehen, was?“, grinste er, während er sich die Sachen von Nahem besah. Marilyn grinste zurück wie ein geschminkter Fuchs.
 

„Ich? Unsinn. Ich habe mich bereits umgezogen“, sagte er und deutete auf sein Kleid, welches genauso aussah wie das vom Vortag. „Nein, die Sachen sind selbstverständlich für dich! Wir wollen doch schließlich nicht, dass du die ganze Zeit den schmutzigen Fummel von gestern tragen musst, mit dem du im Gras rumgelegen hast, stimmt's?“
 

Nur mäßig überrascht blickte Alice die Königin an, die ihren schizophrenen Tanz der Liebe offenbar inzwischen beendet hatte.
 

„Wie... entgegenkommend von Euch“, erwiderte er spitz und nahm den schwarz-rot-karierten Rock leicht misstrauisch in die Hand. Hoffentlich erwartete Marilyn nicht von ihm, dass er ihn trug wie ein echter Schotte.
 

„Ja, nicht wahr?“, gab sein Gegenüber scheinbar erfreut zurück. „Soll ich dich kurz allein lassen, bis du dich fertig umgezogen hast? Ich könnte solange rausgehen.“
 

„Was, jetzt gleich...?“
 

„Na, wie lange willst du denn damit warten? In meinem Schloss gehört es sich nun mal, sich anständig zu kleiden, weißt du?“
 

Alice lachte ironisch.
 

„Ach so. 'Anständig' nennt man das jetzt also.“ Von den unanständigen Hintergedanken, die Marilyn bei einem solchen Outfit sicherlich in den Sinn kamen, einmal ganz zu schweigen. „Ja... von mir aus. Ich habe ja wohl keine Wahl.“
 

„Sehr einsichtig von dir. ... Oh, weißt du was? Du kannst dir ruhig ein klein wenig Zeit lassen. Ich warte unten im Speisesaal auf dich. Von der Treppe in der Empfangshalle aus ganz links, da ist ein Durchgang. Ich bin sicher, du wirst es schnell finden!“, erklärte die Königin mit beinahe kindlicher Euphorie, bevor sie schneller als er hätte antworten können aus ihrem Zimmer verschwunden war und leise die Tür hinter sich geschlossen hatte, sodass er nun tatsächlich als Einziger dort zurückblieb. Nur er und niemand sonst im Gemach ihrer Majestät.
 

„Aha“, murmelte er, blieb einen Augenblick an Ort und Stelle stehen und blickte sich dann gründlich um – nur um sicherzugehen, dass er auch definitiv von nichts und niemandem beobachtet wurde. Man konnte ja nie wissen. „Dass die große Herzkönigin mich wirklich völlig unbeaufsichtigt in ihren königlichen vier Wänden herumlaufen lässt... Welch Ehre.“
 

Er wandte sich wieder dem Bett mit den für ihn vorgesehen Kleidern zu, jedes Teil einzeln prüfend begutachtend, ehe er sich aus dem unzumutbaren Gewand schälte, das er momentan trug und das seiner Meinung nach danach aussah, als würde es aus irgendeinem längst vergangenen Jahrhundert stammen, es über dem Stuhl in der hinteren Ecke des Zimmers ablegte und sich schließlich der Reihe nach die herausragenden neuen Klamotten überstreifte, die höchstwahrscheinlich wenigstens ein akzeptableres Outfit ergaben als das Vorherige. In unbeschreiblicher Erwartung trat er auf Marilyns großen Spiegel zu und betrachtete sich darin eingehend.
 

„Hm. Gar nicht schlecht“, sagte er feststellend und beschloss, seine Meinung über Königin Mansons Modegeschmack zu revidieren. Offenbar hatte ihre Hoheit doch ein Händchen für so etwas, wenn sie denn wollte. „Kein Wunder, dass du in kürzester Zeit das Vertrauen der Königin gewonnen hast... Du hast es einfach drauf!“, säuselte er seinem Spiegelbild zu, spielte außerordentlich reizvoll mit seinen Haaren und beugte sich noch ein Stückchen nach vorn, als aus heiterem Himmel eine verärgerte Stimme hinter ihm erklang, die ihn aufschrecken und geradewegs in seine Spiegelung stolpern ließ.
 

„Was zum... Was ist denn jetzt los?!“
 

Von der Stimme, die wie die der Königin geklungen hatte, war nichts mehr zu hören – vielleicht hatte er halluziniert? – und auch ansonsten war es still. Was ihn jedoch in höchstem Maße verwirrte war das Bild, das er nun vor sich hatte, während er in noch immer leicht nach vorn gebeugter Haltung mitten im Nirvana hängengeblieben zu sein schien: Ein Raum. Nicht irgendein Raum sondern einer, der eigentlich genau wie eine spiegelverkehrte Version des Gemachs aussah, in dem er sich bis eben noch befunden hatte – bis auf die Tatsache, dass er vollkommen leer war. Leer und farblos.
 

Verstört wandte er seinen Blick nach hinten und machte einen Schritt rückwärts. Jetzt war er wieder in dem schwarz-rot-gestrichenen Zimmer, in dem er zuvor bereits gewesen war. Erstaunt musterte er den Spiegel von oben bis unten, streckte versuchsweise eine Hand nach ihm aus und fasste, wie er es vermutet hatte, einfach hindurch, als wäre es kein Glas, das er berühte, sondern bloß eine dünne Schicht Wasser, die keinerlei Widerstand bot. Dann zog er seine Hand heraus und es wirkte wieder wie eine gewöhnliche Glasscheibe, an der es nichts Außergewöhnliches zu finden gab.
 

„... Sehr interessant. Hmm.“
 

Alice sah zu der Tür herüber, stellte sich vor sie und lauschte einen Moment lang. Mehrere Stimmen waren zu hören, gedämpft, aber doch recht deutlich. Vermutlich war es das, was er eben so plötzlich vernommen hatte. Marilyn hatte sich im Speisesaal über eine seiner, wie er sie so gern nannte, unfähigen Wachen aufgeregt, und da die Wände wohl nicht sonderlich dick waren hatte er es bis hierher mitbekommen können.
 

Gut. Wenn da unten alle beschäftigt sind..., dachte er, mit einer gewissen Faszination dorthin zurückkehrend, wo er zuvor gestanden hatte, ... dann hat auch sicher niemand was dagegen, wenn ich mir diesen Spiegel etwas genauer ansehe.
 

Zögerlich näherte er sich dem Glas, das sich scheinbar vorübergehend verflüssigte, sobald er mit ihm in Berührung kam, und schloss die Augen, während er hindurchtrat, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt. Als er sie wieder öffnete war die Kulisse um ihn herum grau. Grau und seltsam beklemmend.
 

Alice ging einige Schritte geradeaus, bevor er sich noch einmal umdrehte. Der Spiegel war noch immer dort, einladend wie ein Fenster, durch das man beliebig ein - und ausgehen konnte.
 

Er war tatsächlich auf der anderen Seite gelandet.
 

Gemächlich schlenderte er durch den Raum, Ausschau haltend nach irgendeinem Anhaltspunkt, zu welchem Zweck eine solche Kopie des königlichen Gemaches möglicherweise existieren könnte. Wenn es überhaupt so etwas wie einen Zweck gab. Der Raum weckte den Anschein eines heruntergekommenen Gebäudes, von seinen ehemaligen Besitzern verlassen und nun, als besäße es ein Eigenleben, darauf wartend, dass irgendeine ahnungslose Seele sich hineinwagte, nur um darin verlorenzugehen, auf ewig verschlungen von der kahlen Finsternis.
 

„Alice... Du schaust zu viele Horrorfilme“, sagte er zu sich selbst, leise lachend über die absurden Gedanken, die ihm anhand eines leeren Raumes gleich in den Sinn kamen. In der Tat war die Atmosphäre, die seine derzeitige Umgebung mit sich brachte, auf eine Art ziemlich unheimlich. Kalt. Nicht auf die Art, auf die es der Kerker gewesen war. Aber dass es hier weit und breit nicht ein einziges Möbelstück gab hinterließ durchaus einen sehr zweifelhaften Eindruck. Die Frage, ob wohl jemand hier wohnte, ging ihm kurzzeitig durch den Kopf, jedoch kam er relativ schnell zu dem Schluss, dass niemand – und sei er noch so verrückt – freiwillig in einem eintönigen Bereich wie diesem würde leben wollen.
 

Interessiert, ob das, was hinter der Zimmertüre lag, sich als ebenso düster und nichtssagend erweisen würde, öffnete er diese und betrat, seine Erwartung voll und ganz bestätigend, den Flur des Schlosses – bloß, dass auch hier alles entgegengesetzt des Originales gebaut war. Und, wenig überraschenderweise, entpuppte der Raum sich als ebenfalls völlig leer und farblos. Als wäre sämtliches Leben irgendwann einmal von diesem Ort genommen worden. Wenn man es so betrachtete wirkte die Kulisse sogar noch um einiges beklemmender.
 

Die Empfangshalle, dachte Alice, als er einen Blick über das Geländer warf, der ihm, wie gewohnt, eine freie Sicht auf die untere Etage ermöglichte. Die Stufen knarzten mit jedem Schritt, den er machte, während er die irgendwie sehr alt und instabil wirkende Treppe hinunterging. Nichts in diesem Anwesen wirkte auch nur entfernt majestätisch. Im Gegenteil – je länger er sich in den verlassenen Räumlichkeiten umsah, desto gruseliger erschienen sie ihm. Wie etwas, das er vor gar nicht allzu langer Zeit in ähnlicher Weise in einem Albtraum gesehen hatte.
 

An der Stelle, an der für gewöhnlich die große Uhr hätte stehen sollen, war ein länglicher Fleck an der Wand zu sehen, so als wäre ebendiese Uhr vor Langem tatsächlich einmal da gewesen und hätte ihren schattenhaften Abdruck dort hinterlassen, damit man sich an sie erinnerte. Den Durchgang, von dem Marilyn zuletzt gesprochen hatte, konnte er nicht weit von dort neben einer verschlossenen Tür ausmachen. Es war ein breiter Torbogen, der offenbar auch hier, auf der anderen Seite, in den Speisesaal führte. Zumindest sah es ganz danach aus, denn inmitten der grauen Leere stand ein trotz der tristen Farblosigkeit nicht unbeeindruckender Tisch, umringt von mehreren dazu passenden Stühlen. Was allerdings am meisten ins Auge stach war das helle Leuchten am hinteren Ende des Tisches, das von einer weißen Kerze rührte und zumindest einen Teil der stetigen Dunkelheit auffällig durchbrach. Er bemerkte, wie unnatürlich und falsch das brennende Licht innerhalb der restlichen Umgebung wirkte, als er näher heranging und ihm beinahe die Luft wegblieb, weil die Kerze nicht das Einzige war, das dort fehl am Platze zu sein schien.
 

„Oh nein. Das kann nicht sein...“
 

„Schön, dich zu sehen, Alice!“
 

In einer abwartenden Haltung über den Tisch gelehnt saß er auf dem letzten Stuhl, im Schein der Kerze noch gespenstischer erscheinend als üblich, die Hände ineinander verschränkt und mit einem obskuren Lächeln zu ihm aufschauend. Alice hätte schwören können, dass er, als er den Saal betreten hatte, noch nicht da gewesen war.
 

„Wie sind Sie hierhergekommen? Was tun Sie hier?“
 

„Aber Alice... Hast du etwa schon vergessen, was ich dir bei unserer letzten Begegnung erklärt habe, mein Junge? Es gibt keinen Ort, den ich nicht erreichen könnte“, sagte das phantomartige Wesen mit viel zu freundlicher Stimme. „Der Showmaster kennt keine Grenzen. Und du hättest die gleichen grenzenlosen Möglichkeiten haben können, hättest du dich mir nur angeschlossen. Noch kannst du dich umentscheiden. Wie sieht es aus?“
 

„Ich... Nein, danke. Ich glaube nicht, dass ich das möchte“, lehnte er das Angebot ab, deutlich unentschlossener als er es vorgehabt hatte. Er wusste nicht, was es war, aber irgendetwas in der Ausstrahlung des Anderen ließ ihn jedes Mal verunsichern, wenn er ihm gegenüberstand. Dabei hätte er nicht einmal sagen können, wie oft sie sich mittlerweile überhaupt begegnet waren. Jetzt, wo er mit ihm sprach, kam es ihm so vor, als wäre er die ganze Zeit über in seiner Nähe gewesen, ohne dass es ihm bewusst gewesen war. „... Sie haben meine Frage übrigens nicht direkt beantwortet. Warum sind Sie hier? Haben Sie mir aufgelauert?“
 

„'Aufgelauert'...“, wiederholte das Phantom, scheinbar beleidigt das Gesicht verziehend. „So ein böses Wort. Nein, Alice, so würde ich das nicht sehen. Ich habe nicht vor, dich zu fressen, falls es das ist, was du denkst.“ Ohne dabei den geringsten Laut zu verursachen erhob es sich von seinem Stuhl und breitete in einer ausschweifenden Geste die Arme aus. „Warum ich hier bin, das ist leicht zu beantworten: Ich wohne hier. Dass du in mich hineingelaufen bist ist vielleicht kein Zufall, aber ganz sicher nicht mein Verschulden. Viel eher würde ich mich an deiner Stelle fragen, ob es nicht irgendwo in deinem Unterbewusstsein dein eigener Wille war, zu mir zu kommen.“
 

Kurz sah die Erscheinung ihm in die Augen. Es fühlte sich an, als würde sie in seine Seele blicken und mühelos all seine Gedanken lesen.
 

„Wie... Wie meinen Sie das, es war mein eigener Wille? Was soll das heißen?“, brachte er zögerlich hervor, bemüht, sein Gegenüber nicht anzuschauen. Es war nicht angenehm, das Gefühl zu haben, ein offenes Buch zu sein. Der Showmaster jedoch ließ sich offenbar nicht aus dem Konzept bringen.
 

„Es bedeutet, dass du selbst es bist, der immer wieder meinen Weg kreuzt. Ob beabsichtigt oder nicht, du suchst nach mir, nicht wahr? Ja, das tust du. Und hier hast du mich gefunden“, entgegnete er seltsam ruhig, während er einen Schritt auf ihn zumachte und ihn fixierte, als würde er ihn ganz genau analysieren. „Du glaubst also nicht, dass du dich mir anschließen möchtest, hm? Weißt du... Was wir glauben und was wir wirklich wollen... das sind zwei völlig verschiedene Dinge. Menschen reden sich ein, etwas nicht zu wollen, weil es ihnen nicht richtig erscheint und sie Angst haben, sich ihr wahres Begehren einzugestehen. Aber meinst du nicht auch, dass... der Wunsch nach Macht etwas ganz Natürliches ist? Dass es nichts Verwerfliches ist, alles besitzen, beherrschen zu wollen? Das ist nur menschlich.“ Er wandte sich ihm so zu, dass er dazu gezwungen war, ihn anzusehen, und lächelte offenherzig. „Ich bin auf deiner Seite, Alice. Ich bin dein Freund. Glaube mir. Dein einziger Freund, denn nur ich kann dir das geben, was du wirklich verdienst. Noch mehr als das.“
 

„Sie... Sie lügen. Niemand kann das“, erwiderte Alice starr zu Boden schauend, noch immer in dem Versuch, dem intensiven Blick des Anderen auszuweichen, und angestrengt darauf konzentriert, sich nicht von dessen fabelhaften Versprechungen beeindrucken zu lassen. „Ich weiß nicht, wie Sie das machen, aber Sie hätten es tatsächlich schon wieder fast geschafft, mich von Ihren unmöglichen Ansichten zu überzeugen. Keine Ahnung, wer Sie in Wahrheit sind oder was Sie bezwecken wollen... Aber eines ist mir jetzt klar: Sie wollen mich in die Irre führen. Und dazu ist Ihnen jedes Mittel recht. Wissen Sie was? Mir ist das egal! Sie können mir erzählen, was Sie wollen – Sie werden mich niemals auf Ihre Seite ziehen. Wo das enden würde will ich mir lieber gar nicht erst vorstellen...“
 

Einen Augenblick lang war es still; eine bedrohliche Stille wie die Ruhe vor dem Sturm, dachte Alice, bevor sich der Showmaster mit einer ruckartigen Bewegung von ihm abwandte und zur Seite trat. Er schien ihn verärgert zu haben. Zum ersten Mal schien er ihn wirklich verärgert zu haben. Keiner von ihnen sagte etwas. Es verging eine Weile, bis sein Gegenüber wieder das Wort ergriff, trotz allem noch immer mit diesem undurchschaubaren Lächeln im Gesicht.
 

„Gut. Ich sehe, du meinst es ernst.“ Er machte eine kleine Pause und seufzte mitleidig, ehe er fortfuhr. „Eine törichte Entscheidung, Junge, eine wirklich... törichte Entscheidung. Jetzt ist es leider zu spät.“
 

„Zu spät für was?“, gab Alice schnippisch zurück und beschloss kurzerhand, kehrtzumachen, als er auch nach einer halben Minute keine Antwort mehr bekam. Hier zu verweilen würde ohnehin zu keinem Ergebnis führen, erst recht nicht, wenn sein Gesprächspartner unentwegt in Rätseln sprach. Ein letztes Mal drehte er sich vor dem Torbogen zu der geisterhaften Erscheinung um, deren durchdringender Blick an ihm haftete wie eine besonders schwer loszuwerdende Klette, und sagte „Ich werde es mir nicht anders überlegen, darauf können Sie Gift nehmen“, dann verließ er den Speisesaal schneller als die Person, die unbeweglich darin herumstand, ihn hätte aufhalten können.
 

„... Verrückt“, murmelte er leise lachend. „Das ist echt total verrückt.“
 

Die Dunkelheit um ihn herum begann Stück für Stück Formen anzunehmen; es war, als würde sie lebendig werden und ihn langsam erdrücken. Trotzdem wurde er das Gefühl nicht los, dass es hier noch etwas gab, irgendwo in den Tiefen dieser Gemäuer, das auf ihn wartete. Das sich hier versteckte, hier, an diesem einsamen Ort, an den sich vermutlich nicht viele Besucher heranwagten, und nur darauf wartete, von ihm gefunden zu werden. Einem merkwürdigen Impuls folgend lief er durch die Gänge des Schlosses, kein bestimmtes Ziel vor Augen und doch aus einem ihm unbekannten Grund wissend, wohin er ging. Er konnte hören, wie es nach ihm rief, das namenlose Etwas, das ihn instinktiv anzulocken schien. Und dann blieb er, von einer schockierenden Erkenntnis gepackt, stehen, als er realisierte, dass es kein bloßer Impuls oder gar Einbildung war, von der er sich in diesem Moment leiten ließ.
 

Stimmen. Da waren tatsächlich Stimmen.
 

Alice versuchte zu erkennen, was sie sagten, musste jedoch feststellen, dass es ihm nicht möglich war, auch nur ein einziges Wort aus dem wilden Durcheinander herauskristallisieren zu können. Die Richtung, aus der es kam, war eindeutig, doch dem Stimmengewirr an sich hätte er beim besten Willen keine Quelle zuordnen können. Mal war es ein undeutliches Flüstern, mal klang es beinahe wie ein Fauchen, und als er sich schleichend und mit Bedacht der betreffenden Richtung näherte und ein fragendes „Hallo...?“ in den Raum warf, hallte die Antwort unverzüglich in Form eines Schreies von den Wänden, markerschütternd schrill und auf eine Art animalisch, fast einer Löwin gleich, die ihr Junges verteidigte. Es war schlicht und ergreifend beängstigend.
 

Alice wollte umdrehen, zurücklaufen und den düsteren Wahnsinn, der es offensichtlich auf ihn abgesehen hatte, hinter sich lassen. Doch bedauerlicherweise schien der Wahnsinn ihn nicht so einfach entkommen lassen zu wollen.
 

„Wohin des Weges?“, fragte ihn jemand, der dicht hinter ihm stand, obwohl es keinerlei Anzeichen dafür gegeben hatte, dass er ihm bis hierher gefolgt war. Für einige Sekunden wie erstarrt stand er abermals dem Phantom gegenüber, das ihn aus grauenvoll unmenschlichen Augen musterte, als wäre er irgendeine Art Beutetier. „Du willst uns doch nicht schon verlassen? Jetzt wo du gerade dabei bist, dich hier einzuleben?“
 

„Man sollte... immer gehen, wenn es am schönsten ist“, erwiderte Alice mit dem unguten Gefühl, auf verflucht dünnem Eis zu wandeln. Irgendetwas an dem Anderen hatte sich verändert seit er vor Kurzem im Speisesaal mit ihm gesprochen hatte. Seine Präsenz war surrealer geworden und der Ausdruck in seinem Gesicht hatte etwas unsäglich Furchteinflößendes an sich, als er plötzlich anfing, wahnsinnig düster zu lachen.
 

„So ein Unsinn...! Haha, nein. Nein, Alice, das ist nicht das Problem. Dir ist es... hier zu verrückt, nicht wahr? Es ist echt total verrückt, habe ich Recht?“, sagte er mit einer Stimme, die mit rapider Geschwindigkeit verstörender zu werden schien. „Aber eines solltest du wissen, Alice: Alles und jeder hier ist verrückt. Auch du bist es. Ja, ganz besonders du!“
 

Alice startete einen Versuch, an dem irren Schlossphantom vorbeizugelangen, wurde jedoch sofort von diesem zurückgehalten und sah in dessen schrecklich grelle Augen, die nun definitiv rein gar nichts Humanes mehr ausstrahlten.
 

„Du solltest gut auf dich aufpassen, Junge“, zischte es ihn an, genauso leise wie drohend. „Denn wenn du nicht auf dich aufpasst, dann wirst du so enden wie sie...!“
 

Alarmiert und gleichermaßen entsetzt starrte er den Showmaster an, befreite sich schleunigst aus dessen festem Griff und rannte die Strecke, die er bis zu diesem eigenartigen Ort hinter sich gebracht hatte, in einem Bruchteil der Zeit, die er für den Hinweg gebraucht hatte, zurück. Zurück nach oben, eine knarzende Treppe gefolgt von einer weiteren hinauf – er hatte nicht einmal gemerkt, wie weit er sich nach unten begeben hatte –, die Tür des königlichen Gemaches aufstoßend und sie übereilt hinter sich zunknallend, nachdem er den Raum betreten hatte, in dem er sich schwachsinnigerweise glaubte, ein wenig sicherer zu fühlen. Einen Moment lang hatte er tatsächlich überlegt, die Tür abzuschließen – nur was würde das letztendlich bringen? Wenn er wirklich ein Geist war, stellte eine verriegelte Tür für ihn nicht das geringste Hindernis dar.
 

„Gütiger abgefahrener Bockmist“, seufzte er und blieb einen Augenblick dort stehen, um sich auszuruhen. „Womit habe ich das verdient? Ich bin in der Hölle gelandet...!“
 

Wenigstens der Spiegel schien unverändert; er prangte glänzend an der Wand, genauso wie er es zuvor getan hatte, ihn stumm dazu auffordernd, schnellstmöglich die andere Seite aufzusuchen. Natürlich ließ Alice sich das nicht zwei Mal sagen und fand sich auf wundersame Weise in Marilyns Gemach wieder, das ihm mit seiner schwarz-roten Farbe heimischer denn je vorkam, bevor er noch anfangen konnte, ernsthaft an sich zu zweifeln.
 

'Sie', dachte er, die Worte des Showmasters noch immer wie ein Echo in seinem Gedächtnis wahrnehmend. Ich werde enden wie sie... Die gleiche 'sie', von der Marilyn gestern Nacht gesprochen hat...?
 

Was auch immer hier vor sich ging – langsam aber sicher war Vorsicht scheinbar mehr als angebracht. Bemüht, vorerst auf andere Gedanken zu kommen, öffnete er die Tür und verließ das Zimmer, um, wie vereinbart, die Königin zu treffen.
 

„Alice! Da bist du ja endlich!“, rief Marilyn, wie es aussah, hoch erfreut von seinem Platz am hintersten Ende des riesigen Tisches aus, als er ihn durch den breiten Torbogen hereinkommen sah. „Dank meiner unfähigen Wachen, die mit dem Arbeitstempo einer gehbehinderten Schnecke gesegnet sind, ist sogar das Rührei noch warm!“
 

„Das... Rührei?“ Skeptischen Blickes ging er langsam auf seinen Gastgeber zu, der gut gelaunt auf den freien Stuhl zu seiner Linken klopfte. Alice nahm sogleich darauf Platz, froh, sich wieder in seiner gewohnten Umgebung aufzuhalten – was gewissermaßen etwas Ironisches hatte, wenn man bedachte, dass er sich hier trotz allem noch im Wunderland befand –, kam aber nicht umhin, den gesamten Raum, den er ja nun schon ohne das Wissen der Anderen in veränderter Art gesehen hatte, genau zu begutachten, bevor er seine Aufmerksamkeit auf die zahlreichen Köstlichkeiten richtete, die sich kunstvoll vor ihm auf dem gedeckten Tisch erstreckten. „Ihr habt Frühstück gemacht?“
 

„Aber natürlich habe ich das!“, antwortete Marilyn grinsend. „Nun... eigentlich waren es meine Diener, die aber ohne meine Anweisungen vor einer unlösbaren Aufgabe gestanden hätten. Oh, du siehst übrigens... wirklich reizend aus! Ganz wie ich es erwartet hatte.“
 

„Vielen Dank. Das sehe ich auch so“, sagte Alice, während er sich nicht entscheiden konnte, ob das festliche Essen oder die Sorgfalt, mit der es hergerichtet war, mehr Faszination auf ihn ausübte.
 

„Greif zu! Es ist genug da!“, versicherte ihm Marilyn, wobei er auf all die unterschiedlichen Delikatessen deutete, die ausgebreitet dort lagen. Alice sah ihn fragend an.
 

„Was ist mit Euren Wachen? Nehmen sie nicht am Frühstück teil?“
 

„Wache Nummer Zwei und General Floyd haben es zubereitet, aber sie sind, kurz bevor du erschienen bist, in den Kerker gegangen, um nach unseren beiden ritterlichen Nervensägen zu sehen. Ich nehme an, sie werden sich später etwas von dem nehmen, was übrig geblieben ist. Dass Wache Nummer Eins draußen das Tor bewacht hast du bereits selbst bemerkt, schätze ich?“
 

Marilyn lud sich ein wenig von dem noch warmen Rührei auf seinen Teller, nachdem er ihm und sich selbst etwas Kaffee eingeschüttet hatte. Offenbar hatte er großen Wert darauf gelegt, bloß nicht ohne ihn anzufangen. Alice war sich nicht sicher, ob er sich deswegen geschmeichelt oder eher geehrt fühlen sollte – schließlich war es noch immer eine echte Königin, mit der er in einem echten Speisesaal frühstückte. Wenngleich es auch eine Königin mit der ein oder anderen speziellen Eigenart und dem Aussehen eines außerirdischen Schockrockers war.
 

„Das habe ich bemerkt, ja“, entgegnete er, während er Marilyns Beispiel folgte und sich ebenfalls endlich dazu entschloss, von dem royalen Schmaus zu probieren. „Ich hoffe, ich habe Euch nicht allzu lange warten lassen...?“
 

„Ach nein. Das ist schon in Ordnung“, winkte die Königin ab, nippte hoheitsvoll an ihrem Kaffee und sah ihn dann neugierig an. „Obwohl... ich mich schon frage, wofür du so lange gebraucht hast? Soweit ich weiß braucht kein Mensch so viel Zeit, um sich umzuziehen...?“
 

„Ich... ääh...“
 

Was jetzt? Er konnte ihm doch nicht erzählen, dass er sich seinen seltsamen Spiegel von innen angeschaut und darin eine noch seltsamere Horrorwelt gefunden hatte, in der er vor ein paar Stimmen und einem wahnsinnigen Vincent Price weggelaufen war, die scheinbar aus unerfindlichen Gründen hinter ihm her waren. Nicht nur dass diese Erklärung sich danach anhörte als müsste er dringend mal wieder in eine Zwangsjacke gesteckt werden, er hatte auch keine Lust darauf, ihre Majestät am Ende noch gegen sich aufzubringen, weil er in ihren Privatsachen geschnüffelt hatte.
 

„Alice? Was ist nun?“, unterbrach Marilyn seine Überlegungen und sah ihn kurz darauf so an, als wäre ihm die Lösung in dieser Sekunde bereits selbst eingefallen. „Ach sooo. Ich verstehe.“
 

„Was versteht Ihr...?“
 

„Du weißt schon, was ich meine“, grinste ihre Hoheit mit einem verdächtigen Zwinkern. „Das muss dir doch nicht peinlich sein.“
 

„... Verzeihung?“
 

Wollte sie ihn auf den Arm nehmen?
 

„Ich bin dir nicht böse deswegen. Auch wenn ich das ganz schön schamlos von dir finde... Kaum lasse ich dich in meinen Räumlichkeiten alleine, kannst du dich nicht beherrschen, was?“ Sichtlich amüsiert genehmigte sie sich eine Gabel voll Ei und sprach, ganz wie es sich für eine Dame gehörte, erst weiter, nachdem sie es heruntergeschluckt hatte. „Beim nächsten Mal, wenn sich eine Gelegenheit bietet, würde ich gerne mit dir kommen... falls du verstehst, was ich-“
 

„Majestät! Wir haben ein Problem!“
 

Eine aufgebrachte Stimme, gefolgt von eiligen Schritten, brachten die Königin dazu, genervt die Augen zu verdrehen, und im nächsten Moment standen Wache Nummer Zwei und General Floyd mit ratlosen Mienen im Torbogen. Wobei die ratlose Miene sich auf Wache Nummer Zwei beschränkte. General Floyd hatte denselben strengen Gesichtsausdruck, den er auch sonst immer hatte.
 

„Was ist es diesmal?“, seufzte Marilyn. „Eine Spinne im Kerker? Oder ein Fussel?“
 

„Wesentlich dringender, Majestät“, erwiderte der General ernst, während er kerzengerade dastand wie ein Soldat im Dienst.
 

„Genau genommen ist es kein richtiges 'Problem'“, fügte Wache Nummer Zwei hinzu, die mit ihrer rosafarbenen Schürze, auf der in großen Buchstaben der Schriftzug 'Cooking Queen' zu lesen war, nicht im Entferntesten wie eine Wache aussah. „Es ist eher... ein rätselhaftes Mysterium, das zu einem Problem werden könnte, wenn wir nichts dagegen tun.“
 

„Ihr solltet Euch das selbst ansehen, Majestät“, ergänzte der General monoton, bevor Marilyn sich schließlich widerwillig von seinem Platz erhob, ihm einen entschuldigenden Blick zuwarf und mit den Worten „Ich bin gleich wieder bei dir“ den Saal verließ, vermutlich um gemeinsam mit seinen beiden Bediensteten im Kerker nach dem Rechten zu sehen.
 

Der Kerker, kam es Alice schlagartig in den Sinn. Es war ihm, als er in der düsteren Welt hinter dem Spiegel gewesen war, nicht direkt aufgefallen, weil er viel mehr seiner Intuition gefolgt war als seinem Orientierungssinn – aber der Ort, an dem er diesen Schrei gehört hatte...
 

„Du siehst nachdenklich aus, verehrter Auserwählter“, schnurrte eine ihm wohlbekannte Stimme, bevor er den Gedanken zu Ende bringen konnte, und wenig später sah er, wie die schwarzweiße Gestalt, der sie angehörte, sich vor seinen Augen aus ihren Molekülen zusammensetzte, bis sie ihm in voller Pracht und mit dem üblichen verschlagenen Grinsen gegenüberstand.
 

„The Catman...! Dich gibt es also auch noch!“
 

Kitty ließ kichernd seinen Schweif auf den Tisch peitschen.
 

„Was hast du denn gedacht? Katzen haben neun Leben. So schnell wird man mich nicht los!“
 

„Ich hätte schwören können, es wären nur sieben.“
 

„Was ist es, das Euch beschäftigt, großer Auserwählter?“, fragte Kitty, ohne auf seine Aussage einzugehen. Dieser ständige Wechsel zwischen demütig und latent höhnisch wurde auf Dauer ein wenig anstrengend, dachte Alice am Rande und stellte zufrieden fest, dass das Rührei wirklich ausgezeichnet schmeckte.
 

„Ich wüsste nicht, was mich beschäftigen sollte“, log er, während er sich einen weiteren Bissen zu Gemüte führte. „Es ist alles bestens hier. Sieht man doch.“
 

„Ihr wart auf der Kehrseite, nicht wahr?“, sagte Kitty mit einem Unterton, als benötigte er eigentlich keine Antwort darauf. Alice schaute misstrauisch zu ihm auf.
 

„Ich will überhaupt nicht wissen, woher du das schon wieder weißt, aber... ja. Da war ich. Auf der Kehrseite, oder wie diese verlassene Spukbude sich auch nennt. Und jetzt?“
 

Die Grinsekatze starrte ihn einen Moment lang eindringlich an, was dank ihres immer gleich bleibenden Grinsens ziemlich geisteskrank aussah, ehe sie ihm antwortete.
 

„Nun... Ich hatte den Eindruck, Ihr wäret ein wenig traumatisiert, seit Ihr Euch in den dunkelsten und verborgensten Winkeln unseres Königreiches umgesehen habt“, trällerte sie, als wäre diese Erkenntnis irgendwie erfreulich. „Zudem halte ich es ohnehin nicht für ratsam, sich ganz alleine dorthin zu begeben. Es kann sehr... gefährlich sein.“
 

„Dann muss ich mir ja keine Sorgen mehr machen. Ihre Majestät hat gerade eben erst irgendwas in der Richtung angedeutet, dass sie mich beim nächsten Mal begleiten will, falls ich vorhaben sollte, nochmal da reinzugehen.“
 

„Das glaube ich nicht“, entgegnete Kitty seltsam überzeugt. „Niemals... würde Ihre unglückliche Majestät sich noch unglücklicher machen und bei vollem Bewusstsein dort hingehen.“
 

„Wie meinst du das...?“
 

„Wie meine ich was?“
 

„Na... Das, was du gerade gesagt hast! Dass sie niemals... bei vollem Bewusstsein...“
 

„Von wem redest du?“
 

„Du... Du hast doch selbst- Ich fasse es nicht!“, stieß Alice gereizt aus, gab sich jedoch die größte Mühe, sich rasch wieder zu beruhigen – sich aufzuregen half ihm höchstwahrscheinlich nicht sonderlich weiter –, trank einen Schluck Kaffee und nahm ein herrlich duftendes Croissant aus dem Korb, der zwischen seinem und Marilyns Teller stand. „... Entweder du versuchst mit voller Absicht, mich auf die Palme zu bringen, was ich dir definitiv nicht empfehlen würde, oder du solltest dringend einen... Tierarzt aufsuchen und dich auf Alzheimer untersuchen lassen. Mit einem geschädigten Kurzzeitgedächtnis ist nicht zu spaßen.“
 

„Die Königin... Du warst in ihrem Gemach“, sagte Kitty plötzlich mit geheimnisvoller Stimme. „Du solltest dich nicht über das Gedächtnis Anderer lustig machen, Auserwählter. Schließlich hast du selbst etwas sehr Wichtiges vergessen.“
 

„Ach ja? Und was habe ich vergessen?“, gab er vielleicht ein klein wenig zu überheblich zurück, als er die zunehmend lauter werdenden Schritte von mehr als drei Personen vernahm, die, wie es sich anhörte, kurz davor waren, in diesen Raum zurückzukehren. Marilyn war wieder da.
 

„Das Foto, Alice. Das Foto...!“, wisperte Kitty, ohne seinen Blick von ihm abzuwenden, ehe er mit einer gehörigen Portion Dramatik mitten im Nichts verschwand, so als wäre er nie hier gewesen. Alice hatte es nicht anders erwartet.
 

„Das Foto“, murmelte er kaum hörbar. Das Foto...?
 

Gedämpft konnte er ein paar Wortfetzen eines Gespräches verstehen.
 

„... schwöre Euch... waren es nicht! ... wissen auch nicht... passieren konnte... nicht wahr?“
 

„So ist es... haben nur... und als wir... plötzlich frei!“
 

Das Geräusch einer Tür.
 

„Das Gleiche haben sie uns auch erzählt, Majestät. Aber das ist unmöglich!“ General Floyd.
 

„Trotzdem können sie sich auf keinen Fall selbst befreit haben, Herr General...!“ Wache Nummer Zwei. „Wie sollen sie das denn gemacht haben? Mit gefesselten Händen und ohne Schlüssel?“
 

Der Kerkerschlüssel, fiel es Alice sofort ein. War er nicht zuletzt im Besitz des Hofnarren gewesen?
 

„Also, nochmal fürs Protokoll...“, hörte er Marilyn erstaunlich gefasst sagen, als er sah, wie die Königin begleitet von ihren beiden Wachmännern und dem Schwarzen und Weißen Ritter nicht weit vom Speisesaal in die Empfangshalle trat und ihre ritterlichen Gefolgsleute ungläubigen Blickes musterte. „Ihr wollt mir erzählen, dass ihr eure Strafe in der Zelle ganz brav abgesessen habt, dann irgendwann beide zur selben Zeit eingeschlafen seid... Und als ihr wach wurdet waren die Fesseln auf einmal nicht mehr an euren Armen? Einfach so?“
 

„Ganz genau so war es, Hoheit!“, brachte Ozzy voller übertriebener Überschwänglichkeit hervor. „Wir können uns das auch nicht erklären! Nicht wahr, Weißer Ritter?!“
 

„... Ja, verdammt. Immer noch...!“, brummte Bon Jovi zustimmend. Besonders überzeugend klang er allerdings nicht. Was möglicherweise auch daran liegen konnte, dass sein redseliger Rivale wahrscheinlich die ganze Nacht über nichts besseres zu tun gehabt hatte als ihn von seiner Lieblingskönigin und seiner liebreizenden Kriegs-Sau vollzuschwärmen und er deshalb nun keine Nerven mehr dazu hatte, sich um einen glaubhaften Tonfall zu bemühen.
 

„Das ist... wirklich merkwürdig“, sagte Marilyn mehr zu sich selbst als alles andere, ging offenbar gedankenversunken in den Speisesaal, in den die anderen vier ihm bis zur Hälfte folgten, und bewegte sich, anmutig wie immer, auf seinen Platz zu. „Steht da nicht so rum. Ihr könnt ruhig ganz reinkommen. Hi, Alice...!“ Kurz sah er zu ihm, wie um zu signalisieren, dass er ihn nicht vergessen hatte, und widmete sich dann wieder seinen Bediensteten, die sich ihren Plätzen auf seine Aufforderung hin zögerlich näherten. „Setzt euch“, sagte er schließlich ruhig, während er selbst sich wieder am Tisch niederließ. Der Rest tat wie geheißen, und auf einen Schlag hatte sich der riesige Tisch, an dem er bis eben noch alleine gesessen hatte, in eine zumindest augenscheinlich festliche Runde verwandelt.
 

„Hey! Croissants!“, rief Ozzy mit einem breiten Grinsen, als er den Korb entdeckt hatte.
 

„Na na na!“, machte Marilyn und hielt ihn mahnend zurück, bevor er es wagen konnte, sich eines herauszunehmen. „Nur weil ich es dir erlaube, hier zu sitzen, heißt das nicht, dass du auch zugreifen darfst. Diese Croissants sind nicht für irgendeine Art von Ritter bestimmt, egal, ob schwarz oder weiß. Erst recht nicht nach dem, was ihr euch gestern Nacht geleistet habt. Oh, aber... deines schmeckt hoffentlich, Alice?“
 

„Vorzüglich“, entgegnete er knapp. Ozzy wirkte nicht amüsiert.
 

„Majestääät...! Das ist nicht fair!“, schmollte er mitleiderregend. Wieder dieses 'Ich-bin-ein-ausgesetztes-Kätzchen'-Gesicht. „Ich musste die ganze Nacht lang hungern und habe kaum geschlafen...! Und, als wäre das nicht schon schlimm genug, hat der da...“, er zeigte auf Bon Jovi, „...sich auch noch verhalten wie ein arroganter Eisklotz! Ich wollte mich nur mit ihm unterhalten – da unten hat man ja nichts anderes zu tun –, und der hat mich einfach pausenlos ignoriert! Anstatt mit mir zu reden führt der feine Ritter Weiß nämlich lieber Selbstgespräche!“
 

„Tja, mein lieber Ritter Schwarz, das liegt ganz einfach daran, dass ich mich für einen wesentlich interessanteren Gesprächspartner halte als Euch!“, gab der Eisklotz patzig zurück. „Vielleicht solltet Ihr mal darüber nachdenken, Euren Wortschatz ein wenig zu erweitern. Momentan besteht der ja offenbar nur aus 'Schwein', 'Hunger' und 'Pferdebraten'...!“
 

„Das stimmt überhaupt nicht!“
 

„Tut es wohl.“
 

„Seht Ihr, Majestät? Mit dem Kerl kann man nicht vernünftig reden!“, kommentierte Ritterchen Schwarz ärgerlich. „Wisst Ihr, was das Erste war, das ihm eingefallen ist, als er die Arme wieder frei hatte? Seine blöde Rüstung zu polieren!“
 

„Erstens seid Ihr ja nur neidisch, weil Eure Rüstung nicht im Sonnenlicht glänzt“, konstatierte Ritterchen Weiß selbstsicher, „... und zweitens – was habt Ihr denn von mir erwartet? Eine Thai-Massage?!“
 

„Das wäre doch mal eine gute Idee! Ich wette, zu so etwas taugt Ihr ganz hervorragend!“
 

„Wenn ich euer spannendes Wortgefecht unterbrechen und einmal kurz zusammenfassen dürfte“, sagte Marilyn dazwischen, ehe Ritter Perlweiß eine mit Schlagfertigkeit gespickte Antwort an Ritter Pferdebraten zurückschleudern konnte. „Ihr beide wart damit beschäftigt, mit euch selbst zu sprechen, wobei keiner dem jeweils anderen wirklich zugehört hat, und jetzt streitet ihr euch, weil ihr es trotzdem hinbekommen habt, aneinander vorbeizureden... Klingt nach einer klassischen Ehe. Ich bleibe bei meinem Vorschlag mit der Paar-Therapie.“
 

Ritter Weiß schaute angewidert über den leeren Stuhl neben sich, den er extra freigelassen hatte, hinweg zu seinem Erzfeind.
 

„Entschuldigt, Majestät, aber ich hege starke Zweifel, dass das etwas bringt. Da ist Hopfen und Malz verloren.“
 

„Immer müsst Ihr Euch querstellen!“, warf Ozzy beleidigt ein. Alice hielt sich ausnahmsweise einmal mit seiner Meinung im Hintergrund und zog es vor, das Ganze wie ein Unterhaltungsprogramm zu genießen, während er einen herzhaften Bissen von seinem Croissant nahm, welchen er anschließend mit etwas Kaffee herunterspülte. So war es also, mit dem Adel zu speisen.
 

„Ja, nun... Es war ja nur ein Vorschlag“, versetzte Marilyn trocken. „Aber das löst auch nicht unser Problem mit den Fesseln. Irgendwer... muss euch, als ihr geschlafen habt, befreit und sich dann aus dem Staub gemacht haben... Vorausgesetzt natürlich, ihr sagt die Wahrheit!“
 

Ozzy sah so aus, als wolle er etwas dazu sagen, doch Bon Jovi kam ihm bereits mit einem vollstens seriösen „Selbstverständlich tun wir das“ zuvor. Marilyn nickte abwesend. Alice spürte einen bösen Blick auf sich, der von einem der anderen Plätze, auf denen die schweigsameren Herrschaften saßen, ausging. General Floyd.
 

„Eure Hoheit... Was ist mit ihm hier?“, sprach er genau das aus, was Alice schon befürchtet hatte. „Er ist so seltsam still... Gibt es vielleicht etwas, das du vor uns verheimlichst, hochverehrter Gast?“
 

„Ich bin still, weil ich esse“, erwiderte er mit vollem Mund. „Jetzt werde ich schon verdächtigt, in den Kerker eingebrochen zu sein... Sind wir hier bei Cluedo?“
 

„Vielleicht war es ja Frau Weiß“, äußerte der Schwarze Ritter und schielte kichernd zu seinem weißen Gegenstück herüber, das ihn jedoch keines Blickes würdigte.
 

„Alice kann es jedenfalls nicht gewesen sein“, stellte Marilyn entschieden fest. „Während ihr beiden damit beschäftigt wart, das Frühstück vorzubereiten, und unsere beiden Ritter da unten wahrscheinlich die Kellerwände zum Verzweifeln gebracht haben, hat er sich nämlich in meinem Gemach vergnügt.“
 

„'Vergnügt' würde ich das vielleicht nicht unbedingt ne- Himmel, was denkt Ihr denn bloß schon wieder, was ich da oben getan habe...?!“
 

„Er streitet es jetzt ab, General, weil er es nicht zugeben will. Aber sei versichert, er hat ein Alibi!“
 

Mit einem Ausdruck der maßlosen Enttäuschung, weil ihm nun niemand mehr blieb, den er beschuldigen konnte, wandte der General sich wieder ab. Wachmann Nummer Zwei hingegen sah so aus, als wäre er gedanklich bei einem Szenario, das ganz und gar nichts zur Aufklärung des mysteriösen Falls beitrug. Alice hielt es für besser, sich dieses Szenario nicht allzu detailliert vorzustellen.
 

Was ihn allerdings ein wenig irritierte war, dass niemand Fish als möglichen Verdächtigen in Erwägung zog – schließlich hatte er auch ihn selbst, entgegen der königlichen Regeln, befreit, als er eingesperrt gewesen war. Andererseits hatten sie alle mit eigenen Augen gesehen, wie er das Grundstück der Königin verlassen hatte. Und zumindest eine der Wachen hätte es bemerken müssen, wäre er zurückgekommen, oder nicht?
 

Ein lautes Knarzen gefolgt von einem abgehetzten Rumpeln verhinderte, dass er seine Überlegungen fortführen konnte – wie jedes Mal, wenn er glaubte, der Antwort auf all die wunderländischen Rätsel entfernt auf der Spur zu sein. Irgendwie war es beinahe zur Routine geworden, dass irgendetwas Absurdes dazwischenkam und jegliche Aufmerksamkeit für sich beanspruchte. So auch dieses Mal.
 

Noch bevor jeder der hier Anwesenden die Gelegenheit dazu hatte, den eigenartigen Geräuschen eine Richtung zuzuordnen, kam die Ursache des Lärms bereits auf allen Vieren und mit leicht tollwütigem Blick in den Saal gestürmt. Piepwuff. Genauso wie er ihn von ihrer letzten Begegnung in Erinnerung behalten hatte – nur vielleicht etwas irrer.
 

„Katze...!! Wo?!“, war alles, was er mit weit aufgerissenen Augen hervorbrachte. Jetzt geht's los, dachte Alice, während er nach einer Scheibe Brot griff, die er mit etwas Butter und einer Scheibe Kochschinken versah. Der Tag hatte gerade erst angefangen und schon jetzt ein beachtliches Maß an Verrücktheit erreicht. Wenn jeder Morgen hier so ablief wollte er gar nicht erst wissen, wie es beim Mittagessen aussah.
 

„Das kann ja wohl nicht wahr sein...!“, fluchte Marilyn, stand von seinem Platz auf und starrte seinen 'Besucher' mit vor der Brust verschränkten Armen an. „Was ist eigentlich mit Wache Nummer Eins los? Ist der Kerl zu weich in der Birne, um einen einfachen Job als Türsteher auszuführen?!“
 

„KATZE!! Ich rieche eine KATZE!!“, brüllte Piepwuff, seine Augen noch ein Stück weiter aufreißend.
 

„Wache Nummer Eins hat Angst vor Hunden, Majestät“, meldete sich Wache Nummer Zwei erklärend zu Wort. General Floyd blickte verständnislos zwischen ihm und Piepwuff hin und her.
 

„Bei allem Respekt, werter Kollege, aber das da ist kein Hund. Das ist wohl offensichtlich eine Maus.“
 

„Aaaha! Ich wusste es! Katzenhaare...!“, knurrte besagte Maus, als sie wie besessen den Rand des Tisches beschnüffelte, auf den sie im Anschluss mit vollem Körpereinsatz hinaufstieg und ungeachtet all der Dinge, die darauf standen, unkontrolliert fiepend umherkrabbelte. Gewissermaßen hatte es etwas Komisches, wie Marilyn und Bon Jovi zeitgleich einen entnervten Seufzer ausstießen, während Ozzy versuchte, den wild gewordenen Freak mit diversen Pfeiflauten zu sich zu locken. Weniger komisch fand er es widerum, als der Wilde geradewegs über das Geschirr hinweg auf ihn zutapste und ihm das Brot aus der Hand schnappte.
 

„Hey...! Aus! Gib das zurück!“, versuchte Alice, ihn dazu zu bewegen, ein braver Hund zu sein, aber es nützte nichts – nicht einmal, als er sich vorlehnte, um ihm sein Diebesgut wieder abzunehmen. Der Freak beschützte es wie einen verdammten Schatz.
 

„Böser Junge! Komm sofort da runter!“, dröhnte aus heiterem Himmel eine weitere bekannte Stimme durch die Gänge des Schlosses, die sich kurz darauf als die Stimme des Hutmachers herausstellte, welcher sich mit einer Leine bewaffnet mitten in den Raum stellte und strengen Blickes seinen Mitbewohner begutachtete. Erst jetzt bemerkte Alice, dass dieser tatsächlich ein blaues Halsband trug, auf dem einige dunkle Knochen abgebildet waren.
 

„Würde mir mal jemand erklären, wie zum Teufel es sein kann, dass jeder idiotische Scherzkeks neuerdings ohne Weiteres in mein Schloss spaziert kommt? Hängt da draußen vielleicht ein Schild mit der Aufschrift 'Tag der offenen Tür', von dem ich nichts weiß?“, beschwerte sich Marilyn mehr oder weniger an den Hutmacher gerichtet, der bloß unbedarft die Schultern zuckte.
 

„Das Tor stand offen, Eure Hoheit, und Eure Wache kauerte einen Meter weiter wie erstarrt im Gras. Da dachte ich, es ist schon in Ordnung, wenn ich reinkomme“, erklärte er lächelnd und sah dann wieder in Richtung seines tierischen Genossen. „Ich muss mich für meinen Mitbewohner entschuldigen, Hoheit. Er hat manchmal so seine... Anfälle. Da habe ich eine Sekunde nicht aufgepasst, weil ich eine neue Backkreation getestet habe – Tee-Plätzchen, solltet Ihr auch mal probieren! –, und schon ist er abgehauen und irgendeiner Katze hinterhergejagt, die er anscheinend hier im Schloss vermutet hat. Natürlich bin ich ihm sofort nachgelaufen, sobald meine Plätzchen fertig waren!“
 

„Wenn Ihr mich fragt, Majestät...“, bekundete General Floyd ein wenig verhalten, „... Ich wäre stark dafür, eine Mauer um das Schloss errichten zu lassen.“
 

„Willkommen in Deutschland“, sagte Alice, ohne dass es jemand mitbekam. Zu schade.
 

„Nun, Hutmacher“, begann Marilyn, scheinbar bemüht, so gelassen wie möglich zu bleiben. „Ich glaube, ich wüsste es, wenn einer meiner Untergebenen hier im Schloss eine Katze beherbergen würde. Da mir aber nichts dergleichen bekannt ist, muss dein schnuckeliges Pseudo-Hündchen sich wohl geirrt haben. Verstanden?“
 

„Verstanden, Eure Hoheit. Haselmaus! Hierher, aber sofort!“, befahl der Meister der Backkunst scharf. Piepwuff blieb unbeeindruckt.
 

„Und wenn ich nicht will?“, brummte er, noch immer mit seinem geklauten Brot beschäftigt, auf dem er inbrünstig kaute, als hinge sein Leben davon ab. Der Hutmacher zog ein Stück Käse hervor und grinste siegessicher.
 

„Schau mal, was ich hier habe!“, flötete er, während er mit seiner Geheimwaffe in der Luft herumwedelte. „Wenn du fein zu mir kommst, gehört dieses famose Stück Käse dir!“
 

„... Käse?“ Der erwartungsvolle Blick des Mäusehündchens war unbezahlbar. „Ja... na gut.“
 

Triumphierend beobachtete der Hutmacher, wie sein hauseigenes Maskottchen unverzüglich von dem Tisch heruntersprang – das Brot blieb selbstverständlich angebissen mitten auf der Tischdecke zurück –, unwahrscheinlich langsam um diesen herumschlich und sich seinem Mitbewohner stumm vor die Füße setzte, ganz auf das Stück Käse fixiert, sodass dieser ihn nun problemlos anleinen konnte.
 

„So ist's gut“, lobte er Piepwuff in einem Tonfall, der Alice ein wenig unheimlich war. „Du bekommst es zu Hause, wenn du dich ein bisschen beruhigt hast.“
 

„Aber... aber die Katze!“, gab die Haselmaus unruhig fiepend zurück, den Blick paranoid durch den gesamten Raum schweifen lassend.
 

„Hunde...“, murmelte General Floyd kaum merklich.
 

„Du hast doch gehört, was die große Lady gesagt hat. Hier gibt es keine Katze. Und jetzt gehen wir schön zurück und sehen mal nach, was der Märzhase so macht“, sagte der Hutmacher, als würde er mit einem schwer erziehbaren Kind reden, und war gerade im Begriff, mit Bello den Saal zu verlassen, als Marilyn ihn unerwarteterweise zurückhielt.
 

„Warte! Mein lieber Hutmacher...“, sagte er mit engelsgleicher Stimme. „Wärest du wohl so nett, den lieben Märzhasen bei mir vorbeizuschicken, wenn du ihn siehst?“
 

„Oh...! Wenn das Euer Wunsch ist“, antwortete der Tyler-Verschnitt lächelnd. „Auf Eure eigene Verantwortung, Majestät...!“
 

Ein letztes Mal winkte er ihnen zu, bevor der Hutmacher gemeinsam mit der Haselmaus, die plötzlich ohne ein einziges Widerwort neben ihm herlief, erst aus dem Speisesaal und dann aus dem Schloss verschwand und das Tor mit einem abermals lauten Knarzen hinter ihnen zufiel. Ein skurriles Schweigen hatte sich in der Runde ausgebreitet.
 

„Tja... also gut... Das Frühstück ist beendet“, verkündete Marilyn nach einer Weile, scheinbar ein wenig bedauernd den Tisch betrachtend. „Ich werde hier wohl vorerst etwas aufräumen müssen. Wobei... Warum eigentlich ich? Wache Nummer Zwei und General Floyd! Sorgt ein bisschen für Ordnung! Ritter Schwarz und Ritter Weiß! Macht euch vom Acker und bemüht euch endlich, euren Rosenkrieg zu klären! Und Alice... Tut mir wirklich leid, dass unser romantisches Frühstück so überhaupt nicht nach Plan verlaufen ist!“
 

„Macht nichts, ist schon in Or- Moment, was...?“
 

„Wir werden das irgendwann nachholen, versprochen!“, redete Marilyn unbeirrt weiter. „Hm... Wenn du willst, kannst du mein königliches Badezimmer benutzen, um dich ein wenig frisch zu machen. Falls du mich suchst, ich bin im Schlossgarten und würde es sehr begrüßen, wenn du nachher auch dort hinkommen würdest. Es wird sicher... amüsant werden.“
 

„Vielen Dank, Majestät, aber was habt Ihr überhaupt vor, wenn ich fragen darf? Eine Garten-Party?“
 

„Nun ja... Nicht ganz“, grinste Marilyn vorfreudig. „Ich brauche einen neuen Hofnarren.“

Kapitel 9 - Geheimnisse

Marilyn und Wache Nummer Zwei hatten sich bereits in gespannter Erwartung im Garten eingefunden, nahe des Tores, vor dem Wache Nummer Eins noch immer wie paralysiert herumstand – der unangemeldete Besuch von Piepwuff musste ihm ganz schön zugesetzt haben –, und saßen auf Stühlen, die sie wahrscheinlich dem Platz mit dem Gartentischchen entnommen hatten, als Alice sich frisch und sogar einigermaßen ausgeruht zu ihnen gesellte. General Floyd war aus ihm unbekannten Gründen drinnen geblieben. Vielleicht hatte er noch mit dem Chaos zu tun, das der werte Mäuserich im Speisesaal hinterlassen hatte, oder er hatte bloß keine Lust auf die bevorstehende Vorstellung des potentiellen neuen Hofnarren, auf die Marilyn sich so sehr freute. Verständlich. Ein grimmiger Spießer, dessen Lieblingsbeschäftigung darin bestand, nach irgendwelchen absurden Verbrechen zu suchen, die er irgendwem in die Schuhe schieben konnte, war mit einem irrsinnigen Hasen, der Dinge wie Recht und Ordnung vermutlich nicht einmal definieren konnte, sicherlich überfordert.
 

„Da bist du ja, Alice! Mach's dir bequem!“, sagte Marilyn und deutete auf den freien Stuhl neben sich, auf dem Alice dankend Platz nahm – nach seiner letzten grauenvollen Begegnung mit dem zwielichtigen Phantom war er zu der Ansicht gekommen, dass es ihn wesentlich schlechter hätte treffen können als in eigens für ihn ausgesuchten Kleidern seine Zeit im Anwesen der Herzkönigin zu verbringen, die sich wirklich herzerweichend um sein Wohlergehen bemühte... wenn er nicht gerade an die Wand oder an ihre Couch gefesselt war, weil sie schlechte Laune hatte. „Bis unser Gast bei uns eintrifft könnte es noch ein Weilchen dauern, schließlich habe ich den Hutmacher vorhin erst weggeschickt. Aber ich bin sicher, er wird nicht allzu lange auf sich warten lassen!“
 

„Seid Ihr wirklich sicher, dass Ihr denselben Märzhasen kennt wie ich? Bei dem, den ich kennengelernt habe, wäre ich mir nämlich nicht einmal sicher, ob er hier ankommt, ohne auf der Hälfte des Weges vergessen zu haben, wohin er eigentlich gehen wollte, und dann irgendeinen... Stein nach der richtigen Richtung gefragt zu haben“, erwiderte Alice und versuchte, sich eine solche Szene bildlich vorzustellen. „Wobei es mich hier eigentlich nicht wundern würde, wenn der Stein auch noch eine Antwort gäbe...“
 

„Glaubt mir, wir meinen alle den gleichen Märzhasen!“, entgegnete Wache Nummer Zwei anstelle von Marilyn und nahm einen kräftigen Bissen von einem Hot Dog, das er sich offenbar als Verpflegung nach draußen mitgenommen hatte, bevor er aufstand und zu seinem Kollegen vor dem Tor herüberschlenderte, um ihn zu fragen, ob er nicht auch eine kleine Stärkung vertragen könne. Wache Nummer Eins nahm sein Angebot starren Blickes an. Im selben Moment konnten sie beobachten, wie ein völlig zerzauster sogenannter Hase in mittelalterlicher Tracht aus der Richtung des Irrgartens auf sie zustürzte, atemlos hechelnd – es hatte beinahe etwas von Piepwuff bei seinem kürzlichen Auftritt –, in der linken Hand eine Tasse, die er locker am Henkel festhielt, und in der rechten ein weißes Objekt, das Alice aus der Entfernung nicht richtig zuordnen konnte, das sich jedoch schneller als ihm lieb war als zersprungenes Ei herausstellte.
 

So. Ein. Mist, dachte er, als er die aufgebrochene Schale betrachtete, aus der ein wenig durchsichtige Flüssigkeit heraustrat. Das verdammte Ei, das ich gekillt habe.
 

„Eure... Eure Hoheit...!“, keuchte der Hase vollkommen außer Atem, während er sich der Königin auf eine Art näherte, die ihn an einen Affen erinnerte, der gerade zum ersten Mal einen Menschen sah.
 

„... Ja. Es freut mich, dich zu sehen, Märzhase“, sagte sie mit einem Ausdruck, der sowohl belustigt als auch pikiert wirkte. „Wie ich sehe hast du dich sehr beeilt.“
 

Der Hase lachte wie ein Maschinengewehr.
 

„Selbstverständlich! Eine Dame lässt man nicht warten...!“, antwortete er und musterte Marilyn so wie man eine Suppe mustert, wenn man überlegt, ob noch etwas Salz hinzu sollte. Dann streckte er ihm ruckartig das Ei entgegen. „Majestät...! Das habe ich gefunden!“
 

„Gefunden...?“, gab Marilyn skeptisch zurück, ohne Anstalten zu machen, das Objekt anzufassen.
 

„Ja! Gefunden, ja, richtig!“, stammelte der Hase aufgeregt, mit einer ausholenden Geste auf den Irrgarten zeigend. „Hinter der Hecke, Majestät! Ich habe es gespürt! Da stimmte etwas nicht. Es roch verdächtig nach... totem Ei...!“
 

Aber natürlich, dachte Alice, sprach es jedoch nicht aus. Es roch nach totem Ei. Was sonst.
 

„Und dann hast du dich auf die andere Seite gebuddelt, um die Leiche heldenhaft hinfortzutragen, nehme ich an?“
 

„Oh nein, Majestät, für wen haltet Ihr mich denn?“, kicherte der Spürhase, während ein kleiner Tropfen vereinzelt aus seiner Tasse lief. „Ich bin hinübergeklettert und habe... den Toten eingesammelt, um ihn, nun, um ihn Euch zu überbringen, Eure liebenswürdige Hoheit! Vielleicht taugt er noch als Spiegelei, Eure Hoheit, hihihi!“
 

Marilyn nahm den ermordeten Humpty Dumpty zögerlich in die Hand, warf einen prüfenden Blick auf ihn und reichte ihn schließlich mit den Worten „Lege ihn doch bitte auf dem Tisch in der Empfangshalle ab!“ an Wache Nummer Zwei weiter, die eben erst an ihren Platz hatte zurückkehren wollen, seiner Bitte jedoch sofort nachkam und kurzzeitig im Schloss verschwand.
 

„Ich werde später mal sehen, was da noch zu retten ist“, ergänzte er mit einer beachtlichen Gleichgültigkeit. „Mir war klar, dass der kleine Nervbolzen irgendwann von seiner tollen Mauer fallen würde. Selbst schuld, sage ich da nur. Bestimmt finde ich einen Ersatz für ihn.“
 

Alice verkniff sich mühevoll, unschuldig vor sich hinzupfeifen. Sonderlich beliebt schien der Wächter des Labyrinths ja nicht gewesen zu sein.
 

„Eure Hoheit!! Ich... Ich habe Euch noch etwas mitgebracht!“, grinste der Märzhase plötzlich und hielt Marilyn stolz seine Tasse vors Gesicht. „Tee! Nur für Euch!“
 

Ihre Hoheit betrachtete erst die Tasse, dann ihr Gegenüber.
 

„Da ist nichts drin“, sagte sie feststellend. Schockiert starrte der Hase auf den Grund des Gefäßes, wo nichts weiter als eine winzige Teepfütze zu finden war.
 

„Aber... sie war voll, bevor ich losgerannt bin...! Voll!“
 

Finde den Fehler, dachte Alice und stellte sich vor, wie der Irre mit der offenen Tasse, die er lose in einer Hand balancierte, durch das Labyrinth und über die Hecke sprang, während der gesamte Inhalt sich auf dem Rasen entleerte. Gut, dass der Hase nicht vorhatte, Postbote zu werden.
 

„Das war bestimmt... diese Eule...!“, murmelte er auf einmal mit verschwörerischer Stimme, blickte sich panisch in der Gegend um, so als wären ihm Dutzende von Verfolgern auf den Fersen, und stieß einen schrillen Laut aus, als die rosa-gekleidete Wache zurückkehrte, der er unverzüglich, wild mit den Armen fuchtelnd, entgegentrat. „Die Eule...!! Hast du sie gesehen?! Sie... Sie will mich ruinieren!!“
 

Wachmann Nummer Zwei wich vorsichtig einen Schritt zurück, wobei er den Anderen strikt im Auge behielt, und beugte sich dann flüsternd zu Marilyn vor, der das Ganze mit einem amüsierten Grinsen von seinem Platz aus beobachtete.
 

„Majestät... Wollt Ihr ihm nicht langsam eröffnen, weshalb er eigentlich hier ist?“
 

„Wozu?“, erwiderte Marilyn, schlug die Beine übereinander und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Ich finde, er gibt bereits jetzt einen passablen Hofnarren ab!“
 

„HAAAH!!“, schrie der Märzhase, während er ungeschickt auf einen der Sträucher zustolperte. „Die Biene...! Da ist sie ja endlich! Biene, geht es dir gut? Bist du geschrumpft, mein Freund?“
 

„Flieh, solange du kannst, Biene“, sagte Alice leise und überlegte einen Moment, ob das Tier ihn verstanden hatte, da es tatsächlich schleunigst davonflog. Märzi, der einsam im Gras kniete, kroch zwei Meter in die Richtung, in die das Insekt sich verzogen hatte, hielt dann perplex inne und streckte dramatisch einen Arm in die Höhe, als wolle er nach der Luft greifen.
 

„Bieeeneee...! Nicht du auch noch!“, rief er mit wahrlich ergreifender Verzweiflung. „... Die Eule hasst mich, die Biene hat mich verlassen und die Ente ist tot...! Daran ist nur das Känguru schuld!!“
 

Nicht sicher, ob er sich mehr unterhalten oder verstört fühlte, sah Alice dem tragischen Schauspiel zu und bedauerte ein wenig, dass er kein Popcorn dabei hatte. Ob das Zusammenleben mit Piepwuff bei dem Kerl einen schweren Zoo-Komplex hervorgerufen hatte? Nicht auszuschließen, wenn man ihn fragte.
 

„Majestät!“, erklang unerwartet eine laute Stimme hinter ihnen, zeitgleich mit dem quietschenden Geräusch des sich öffnenden Schlosstores. Es war General Floyd. „Könntet Ihr kurz ins Schloss kommen? Ich hätte da eine Frage an Euch!“
 

„Und die kannst du mir nicht von hier draußen aus stellen?“, gab Marilyn ärgerlich an den General gewandt zurück. „Du störst die wunderbare Vorstellung meines neuen Narren!“
 

„Nun, Majestät...“, druckste Floyd herum. „Es geht um Charlie, Eure Schlange. Mir ist aufgefallen, dass ich ihn länger nicht gesehen habe, und daher wollte ich Euch nur fragen, ob Ihr vielleicht wisst, wo er sich herumtreibt.“
 

„... Charlie?“ Marilyn setzte eine nachdenkliche Miene auf. „Keine Ahnung. Der benimmt sich ein bisschen komisch in letzter Zeit, jetzt wo du es erwähnst. Vielleicht hat er sich in irgendeine Ecke verzogen, um sich zu häuten... Was weiß ich.“
 

„Ich sage es nur ungern, Hoheit, aber ich habe in fast allen Räumen nachgesehen – außer in Eurem Gemach, das habe ich selbstverständlich nicht unerlaubt betreten! – und nirgendwo eine Spur von ihm gefunden. Wollt Ihr nicht selbst einmal nach ihm schauen, nur zur Sicherheit? Er ist... schließlich Euer Haustier, Majestät!“
 

Seufzend erhob sich Marilyn, nuschelte etwas, das sich wie „Niemals hat man seine Ruhe...“ anhörte, und schritt, auf die Bitte des Generals hin, auf den Eingang des Schlosses zu. Wache Nummer Zwei folgte seinem Beispiel und kam ihm hinterher, wobei Alice den Verdacht hatte, dass er nur einen Vorwand brauchte, um sich schnellstmöglich vor dem Märzhasen zu retten.
 

„Wie fies... Ich werde schon wieder mit diesem Flötenmonster alleine gelassen“, sagte Alice schmollend zu sich selbst, während besagtes Monster bedenklich auffallend – oder vielleicht eher auffallend bedenklich – zu ihm herüberschielte. Wenigstens hatte es die Flöte heute zu Hause gelassen, wie es aussah.
 

„... Du...!“, zischte Märzi kaum hörbar, stand langsam vom Boden auf und bewegte sich schleichend auf ihn zu.
 

„Ich...?“, erwiderte Alice misstrauisch. Der Hase kicherte heiser.
 

„Du bist dieser Besondere... Dieser... Auserwählte!“, wisperte er, ganz auf ihn fixiert, so als wolle er ihn alleine mit seinen vor Wahnsinn strotzdenden Augen einer Gehirnwäsche unterziehen. „Erinnerst du dich daran... was die Haselmaus zu dir gesagt hat?“
 

„Ähm... Weiß nicht. 'Wuff'?“
 

Wieder dieses apathische Kichern.
 

„Falsch“, flüsterte er zwischen dem Gelächter beinahe mitleidig. „Das war falsch, mein Freund...“
 

Ein wenig irritiert wandte Alice den Blick von seinem unberechenbaren Gesprächspartner ab und versuchte, sich an alles zu erinnern, was die Haselmaus ihm gegenüber vom Stapel gelassen hatte. Hatte sie überhaupt etwas Bestimmtes zu ihm persönlich gesagt? Entweder wollte es ihm nicht einfallen oder der Hase wusste schlicht und einfach selbst nicht, was er da faselte. Das wäre schließlich auch nicht weiter verwunderlich gewesen. Bevor er jedoch einen weiteren Gedanken an die verrückten Freaks der Teegesellschaft verschwenden konnte, hörte er, wie erneut das Tor geöffnet wurde, und als er sich umdrehte sah er eine leicht besorgt dreinschauende Herzkönigin, die, begleitet von ihrem wie immer ernsten General und ihrer Wache, auf der Schwelle zum Garten stand und alle Aufmerksamkeit auf sich lenkte.
 

„Charlie ist verschwunden...!“, brachte sie nervös hervor und blickte zur Seite. „Ich habe ihn gerufen und überall nach ihm gesucht, aber... nicht mal ein Anzeichen dafür gefunden, wo er sein könnte...“
 

„Majestät! Beruhigt Euch...!“, schaltete sich Wache Nummer Eins dazwischen. „Wo habt Ihr ihn denn zuletzt gesehen?“
 

„Das ist ja das Problem! Ich weiß es nicht!“, entgegnete sie aufgebracht. „Wenn ich versuche, daran zurückzudenken, ist es, als hätte ich irgendwie... geschlafen! Ich sehe verschwommene Bilder vor mir, aber könnte nicht sagen, wann und wo ich das letzte Mal mit ihm gesprochen habe... Verdammt, warum habe ich nicht besser auf ihn aufgepasst?!“
 

Alice dachte einen Augenblick nach. Jetzt, da alle darüber diskutierten, wurde ihm bewusst, dass von Charlie wirklich schon seit einer Weile jede Spur fehlte. Allerdings hatte er sich nicht viel dabei gedacht, immerhin war die Rede von einer Schlange – und für eine solche war es nicht ungewöhnlich, in allen erdenklichen Ecken und Winkeln herumzukriechen, wenn ihr danach war. Dass Marilyn aber Gedächtnislücken hatte und sich deswegen nun Vorwürfe machte befand er für wesentlich besorgniserregender, denn sein derzeitiger Zustand konnte bei einem einzigen falschen Wort seiner Diener jederzeit in Wut umschlagen. Und eine wütende Herzkönigin bedeutete nichts Gutes, so viel stand fest.
 

„Seid Ihr sicher, dass Ihr wirklich überall nachgesehen und keine Stelle ausgelassen habt?“, fragte er vorsichtig, während er von seinem Platz aufstand, ebenfalls zu der kleinen Versammlung bei dem Schlosstor herüberging und den Märzhasen vorerst stehen ließ, wo er war. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass... Charlie einfach verschwinden würde, ohne ein Wort zu sagen. Was ist mit dem Garten? Könnte er nicht hier irgendwo sein?“
 

„Unmöglich“, antwortete Marilyn niedergeschlagen. „Seit dem Frühstück war ich die ganze Zeit hier... Und zwar nicht nur hier vorne sondern auch weiter drüben, und zwischendurch sogar bei der Klippe. Ich hätte ihn bemerken müssen.“
 

„Bei der Klippe...? Es könnte nicht sein, dass er... vielleicht-“
 

„Niemals! Nie im Leben würde Charlie nach da unten wollen! Außerdem habe ich längst dafür gesorgt, dass der Ort wieder sicher ist“, erklärte er überzeugt. Alice wusste, dass er die unsichtbare Wand damit meinte. „Aber sag mal... Du hast dich doch gut mit ihm verstanden, nicht wahr?“
 

„Ja, schon... Wenn man so will“, sagte er und hatte das Gefühl, als würden sie über einen vermissten Sohn sprechen oder dergleichen.
 

„Weißt du nicht vielleicht irgendetwas, das ich nicht weiß? Wo hast du ihn zuletzt gesehen?“, hakte Marilyn nach. Kurz musste er überlegen, bis ihm einfiel, dass die Schlange noch bei ihm gewesen war, als er neben Ozzy und dessen Schwein zu nächtigen versucht hatte. Fish war ebenfalls dabei gewesen.
 

„Tja, also...“, setzte er an, beschloss aber, die Tatsache, dass Charlie laut dem Narren bei der Beschaffung des Kerkerschlüssels geholfen hatte, nicht zu erwähnen. „Das letzte Mal, das ich ihn gesehen habe, war er mit Fish zusammen – bevor Ihr ihn entlassen habt, versteht sich. Mehr weiß ich leider auch nicht.“
 

„Mit Fish...?“ Marilyn sah so aus, als wäre er geistig schwer damit beschäftigt, einen vagen Zusammenhang in das Ganze zu bringen. Dann wirkte er plötzlich, als hätte er einen Entschluss gefasst. „Hör zu, Alice. Ich habe eine Aufgabe für dich und bin zuversichtlich, dass du sie problemlos erledigen wirst.“ Er sah ihn hoffnungsvoll an, während er das sagte, und ihm war klar, dass er ihm seine Bitte sowieso nicht würde abschlagen können, egal, was es war. „Ich will, dass du... in den anderen Teil des Wunderlandes zurückkehrst und dort für mich nach Fish suchst. Am besten bringst du ihn wieder hierher, dann kann er es mir selbst sagen, falls er es tatsächlich wagen sollte, irgendetwas vor mir zu verheimlichen.“
 

Alice gab sich die größte Mühe, sich nicht anmerken zu lassen, wie wenig Zuversicht er in sich selbst hatte, was diese Aufgabe betraf. Grauenerfüllt dachte er daran zurück, wie oft er sich verlaufen hatte, bevor er beim Schloss angelangt war, weil der Aufbau dieses gesamten Landes nicht im Entferntesten etwas mit Struktur zu tun hatte und sich zudem auch noch hin und wieder auf magische Weise zu verändern schien.
 

„Ich weiß, dass die Welt hinter dem großen Tor sich manchmal etwas eigenwillig verhält“, gab Marilyn überraschenderweise zu Bedenken, was ihn ein wenig erleichterte, da er offenbar nicht der Einzige war, der diesen Faktor als hinderlich empfand. „Aber keine Sorge, ich habe da schon eine Idee, die dir unnötige Umstände mit hoher Wahrscheinlichkeit ersparen wird. Pass auf, nicht jedem wird diese Ehre zuteil: Du darfst dir Black Beauty ausleihen!“
 

„Was?! Aber Majestät...!“, empörte sich General Floyd, bevor Alice sich selbst dazu äußern konnte. „Ich habe es gerade eben erst mühevoll geschafft, den Schwarzen Ritter davon zu überzeugen, Black Beauty wenigstens für zwei Tage bei mir zu lassen, weil ich sie wirklich vermisst habe. Wir können doch die arme Sau nicht einfach beliebig herumreichen! Das wird sie maßlos verwirren, und wer weiß, wie sich das auf sie auswirken würde... oder auf das Wohl unserer Mitmenschen...“
 

„Ich fürchte, ich muss Eurem General ausnahmsweise Recht geben, Majestät“, stimmte Alice zu und musste an das schreckliche Schicksal denken, das Ritter Bon Jovis edles Ross ereilt hatte. Es hätte ihn nicht einmal sonderlich gewundert, wenn der Magen dieser Sau Charlies momentaner Aufenthaltsort gewesen wäre. „Außerdem... bin ich dafür total ungeeignet. Ich bin noch nie zuvor auf einem Schwein geritten, wisst Ihr?“
 

„Macht nicht so ein Drama darum“, sagte Marilyn an ihn und Floyd gewandt. „Ein schlaues Tier von Black Beautys Qualitäten wird kein Problem damit haben, zwischendurch neue Bekanntschaften zu machen. Und du, Alice... Auf einem Schwein zu reiten ist nicht viel anders als auf jeder anderen Kreatur auch. Ich bin sicher, du bist darin ein wahres Naturtalent!“
 

„So, glaubt Ihr das also...“, gab er unmotiviert zurück, tauschte einen wenig begeisterten Blick mit General Floyd aus, folgte diesem aber doch schließlich, als er ihn gezwungenermaßen zu dem Fleck führte, an dem das prächtige Kriegs-Schwein bereits feierlich grunzend im Gras wartete.
 

„Hmm... Perfekt“, murmelte der General, als er nach der Gießkanne griff, die ganz in der Nähe herumstand, und sie der Sau vor die gefräßige pinke Schnauze hielt. „Merke dir diesen Geruch, Black Beauty...! Der Narr hat hiermit immer die Blumen gegossen. Und jetzt gleich wirst du diesen Geruch da draußen wiederfinden und den netten Typen im Röckchen hier zu unserer Zielperson geleiten! Schaffst du das?“
 

„Sollte nicht eigentlich ich derjenige sein, der das Tier irgendwohin geleitet?“
 

„Ruhe auf den billigen Plätzen!“, herrschte der Schweine-Experte ihn an. „Du kannst froh sein, dass dir ein kluges und sensibles Wesen wie Black Beauty zur Verfügung gestellt wird. Also sei gefälligst dankbar! Ohne ihre führende Kraft wärest du ohnehin hoffnungslos verloren.“
 

Dem konnte er leider kaum widersprechen.
 

„Na, von mir aus... Dann wollen wir mal“, sagte Alice halb zu sich selbst halb zu dem Schwein und machte eine umständliche Verrenkung, um auf dessen Rücken zu steigen, als sein Gegenüber entgeistert zu ihm aufblickte und sich eilig die Hände vors Gesicht schlug.
 

„Oh, bei allem, was irgendwie heilig ist... Ich bin erblindet!“, rief der General leidend und sah ihn an, als hätte er eine grausame Straftat begangen. „Was auch immer du tust – erweise der Allgemeinheit und meiner Sau den Gefallen und setze dich seitlich auf ihren Rücken!“
 

„Ach... Sowas aber auch! Ich bitte vielmals um Verzeihung“, grinste er amüsiert, ehe er Floyds Aufforderung nachkam, beide Beine zur Seite über die Sau schwang und sich vorsorglich schon einmal in ihrem Nacken festhielt, während sie noch immer damit beschäftigt war, das Gefäß auf dem Boden zu beschnüffeln. „So besser?“
 

„Ja, allerdings“, knurrte ihr ehemaliger Besitzer, grimmig in Richtung des Heckenlabyrinthes nickend. „Und jetzt zisch ab... bevor ich mir das mit dem Ausleihen anders überlege!“
 

Alice überging schweigend die Tatsache, dass diese Entscheidung ohnehin niemand anderes als die Königin für ihn traf, und lehnte sich hektisch nach vorne, als Black Beauty ohne Vorwarnung loshechtete und dabei geräuschvoll die Gießkanne umstieß.
 

Es gab mehrere Dinge, die er nach etwa einer Viertelstunde – vielleicht war es auch eine Halbe, zumindest gefühlt erschien ihm das wahrscheinlicher –, die sie nun unterwegs waren, feststellen konnte.
 

Erstens: Ohne das Schwein wäre er wirklich verloren gewesen. Da gab es nichts schönzureden. Spätestens ab dieser furchtbaren Stelle, an der die Grinsekatze manchmal, sofern sie sich denn überhaupt blicken ließ, zwischen all den kahlen Bäumen in der Finsternis auf ihrem Ast thronte, hätte er vermutlich die Orientierung verloren und wenigstens kurzzeitig aufgegeben. Doch diese Station hatten sie glücklicherweise dank der führenden Kraft seiner Partnerin, wie General Floyd es ungefähr ausgedrückt hatte, bereits hinter sich gelassen.
 

Zweitens: Während an Marilyns Hof gerade erst der hellichte Tag begonnen hatte war es hier, im anderen Teil, offenbar schon Abend. Die bunten Farben, die den Himmel erfüllten, hatten sich verdunkelt, die Luft war kühler geworden und eine gewisse Ruhe hatte sich ausgebreitet. Insgesamt machte es einen recht angenehmen Eindruck, jedenfalls weniger anstrengend als es ihm beim letzten Mal vorgekommen war, das er sich hier aufgehalten hatte, auf der Jagd nach den Zwillingen und ihren magischen Karten.
 

Und drittens – eine sichere Tatsache, die sich durch nichts und absolut nichts abstreiten ließ: Mit dieser Sau zu kooperieren war unmöglich.
 

Dass sie ihn bis hierher gebracht hatte war die eine Sache. Dass sie alleine nur im königlichen Irrgarten zwei Mal völlig abrupt angehalten hatte – das eine Mal grundlos, wohl um ein wenig die hübsche Hecke zu betrachten; das andere Mal, um ihr Geschäft zu verrichten – und dann genauso abrupt wieder losgerannt war, als wäre ein schweinefressendes Ungetüm hinter ihr her, war die andere Sache. Es gab auch keine Anhaltspunkte, an denen sich irgendwie erkennen ließ, was ihr gerade durch den Kopf ging. Oder wann sie das nächste Mal eine plötzliche Eingebung bekommen würde, die ihr sagte, sie müsse jetzt dringend schnurstracks mitten auf einen Baum zurennen, nur um dann im letzten Bruchteil einer Sekunde auszuweichen, wenn er zu nahe kam. Dass es da noch einen bemitleidenswerten Auserwählten gab, den sie auf ihrem Rücken trug und der möglicherweise herunterfallen könnte, wenn sie sich wie ein Kirmesgerät benahm, schien sie nicht zu stören.
 

„'Auf einem Schwein zu reiten ist nicht anders als auf jeder anderen Kreatur auch!'“, äffte er die Worte nach, die Marilyn ihm so überaus hilfreich mit auf den Weg gegeben hatte. „Was glaubt der Kerl denn, auf wie vielen Kreaturen ich schon geritten bin?! Der hat vielleicht Nerven...“
 

Black Beauty grunzte euphorisch.
 

„Ja, ich verstehe schon. Du findest das lustig, was? Mit mir kann man's ja machen. Tut mir leid, dass ich kein Leckerchen dabei habe, falls es das ist, was dich aufregt. Beim nächsten Mal werde ich dran d- Himmel... bitte nicht...!!“
 

Ohne Rücksicht auf Verluste war das Schwein bereits wieder losgerauscht, zielstrebig geradeaus wie eine verdammte Eisenbahn, nur ungefähr drei Mal so schnell; und als es langsamer wurde sah er den Grund für dieses Verhalten tatsächlich wenige Meter vor ihnen unverkennbar im Gras knien.
 

„... Black Beauty? Und der Auserwählte?“, fragte Fish, dessen auffälliges Kostüm gut und gerne auch als Ampel hätte dienen können, erstaunt und winkte mit einer Handpuppe, die verdächtig nach ihm selbst aussah. „Was macht ihr denn hier?“
 

„Wir sind im Auftrag der Königin hier. Ich sollte dich ausfindig machen und zurück zum Schloss bringen, weil es da ein kleines Problem gibt“, hatte er eigentlich antworten wollen, heraus kam jedoch nur „... kann nicht mehr...! Urgh... Rührei, bleib wo du bist...!“
 

„Du liebe Güte“, brachte der Narr besorgt hervor, während er auf die Beine kam, wohl um besser mit ihm reden zu können. „Geht es Euch gut? Ihr seht so blass aus...!“
 

„Ja... Nein. Dieses Schwein ist der Horror...! Ich schwöre dir, es wollte mich umbringen!“, sagte er, als er ein wenig wackelig von Black Beautys Rücken stieg – der Boden fühlte sich an, als würde er unter ihm hinweggleiten –, und warf dem Tier einen vorwurfsvollen Blick zu. Black Beauty starrte aus unschuldigen schwarzen Augen zurück. „Na klar. Jetzt tut sie wieder so scheinheilig.“
 

„Hey, ist das nicht der Typ, der uns letztens nach dem Weißen Kaninchen gefragt hat?“, hörte er auf einmal eine Stimme, die nah und gleichzeitig fern schien, krächzen.
 

„Yeah, Mann, das ist er!“, antwortete eine andere ebenso kratzig. „Cool, dich wiederzusehen! Steiles Outfit, Kumpel!“
 

Alice schaute zu Boden, wo er genau das vorfand, was er erwartet hatte. Selbstverständlich hatte er die Unterhaltung, die er unmittelbar nach seiner Ankunft im Wunderland mit einer Gruppe Hippies der etwas spezielleren Sorte geführt hatte, nicht vergessen. Unglaublich... Lag das wirklich erst einen einzigen Tag zurück?
 

„Yo, freut mich auch fett, euch wiederzusehen... meine Brüder!“, gab er, begleitet von einer hippen Armbewegung zurück, räusperte sich, als er einige verständnislose Blicke erntete, und strich nebenbei sein Oberteil glatt, das bei dem Schweineritt ein wenig verrutscht war. „Danke jedenfalls... für das Kompliment. Das Outfit gehört allerdings nicht mir, das habe ich von der Königin bekommen.“
 

„Du warst bei der Königin...?“
 

„Die Königin hat dir etwas geschenkt?“
 

„Wie war sie sonst so, Kumpel? Das musst du uns genauer erzählen!“
 

„Naja... Eigentlich ist sie gar nicht so übel“, sagte Alice und wurde sich genau in diesem Moment darüber bewusst, dass Fish neben ihm stand, der kürzlich von der 'gar nicht so üblen Königin' gefeuert worden war. „Also, ich meine... ähm... Verglichen damit, wie sie mit ihren anderen Untergebenen umspringt, ist sie zu mir ziemlich nett... wenn auch vielleicht aus nicht ganz uneigennützigen Gründen.“
 

„Ist schon okay“, seufzte Fish und sah seine Handpuppe an, als wäre sie derjenige, mit dem er redete. „Ich wurde rausgeschmissen... Das ist nur gerecht. Einen verräterischen Hofnarren will niemand, stimmt's?“ Die Handpuppe nickte bestätigend, ehe sie traurig den hölzernen Kopf senkte. Erst jetzt bemerkte Alice, dass auf seiner anderen Hand eine weitere Puppe steckte – ein blondes Fräulein im blauen Kleid –, die er augenblicklich hervorholte und seine Stimme verstellte, so als würde sie nun zu ihm sprechen. „Aber das ist doch alles halb so schlimm! Schau nur! Hier hast du all deine Freunde um dich herum!“ Fish sah nach unten, wo die zahlreich aus der Erde wachsenden Hippies seinen Blick mitfühlend erwiderten. „Ja, richtig. Die Blumen... Die Blumen sind meine einzigen Freunde“, sagte er, wieder mit seiner eigenen Stimme, und gab einen theatralischen Laut von sich, der seine Wirkung offenbar nicht verfehlte, denn jeder Einzelne seiner kleinen Freunde musterte ihn, als wäre er eine arme Seele, die vom Woodstock-Festival ausgeschlossen wurde. Wenigstens sangen sie diesmal nicht 'San Francisco' in einer unerträglichen Endlosschleife.
 

„Ja... ähm“, versuchte Alice, erneut auf sich aufmerksam zu machen. „Ich störe ja nur ungern bei... was auch immer du hier eigentlich gerade tust-“
 

„Ich unterhalte meine Freunde, indem ich ihnen ein Stück vorführe! Ein 'Punch and Judy'-Stück!“, unterbrach Fish seinen Versuch gnadenlos und hielt demonstrativ seine beiden Puppen in die Höhe, die Alice einen Moment lang mehr irritiert als unterhalten begutachtete.
 

„Punch and Judy...?“, wiederholte er skeptisch. „Das sieht mir aber eher nach Fish and Cinderella aus.“
 

„Fish and Chips wären jetzt cool, Bruder“, hörte er eine der Blumen leise zu einer anderen sagen.
 

„Das ist... reiner Zufall!“, verteidigte sich der 'echte' Fish mit einem Gesichtsausdruck, der verriet, dass es alles andere als Zufall war. „Woher wollt Ihr denn wissen, dass Punch und Judy in jungen Jahren nicht so aussahen? Ich habe nämlich vergessen zu erwähnen – in dem Stück geht es um ihre Jugend!“
 

„Soso... verstehe. Trotzdem solltest du wissen, dass-“
 

„Wartet, Auserwählter! Judy möchte mir etwas mitteilen!“, rief er abermals dazwischen und hatte unverzüglich die blonde Puppe an seinem Ohr, deren übertriebene Bewegungen wohl symbolisieren sollten, dass sie etwas sagte. Ein interessantes Phänomen bei Puppen, dachte Alice. Bei Menschen hatte er noch nicht beobachten können, dass das Sprechen nur funktionierte, wenn sie derartig herumwackelten.
 

„Und? Was sagt sie?“, fragte er gütigerweise, um dem Narren nicht den Spaß zu verderben. Fish kicherte wie ein kleiner Junge.
 

„Sie sagt, dass sie Euch süß findet, und hat mich gefragt, ob ich ein Date zwischen euch organisieren kann!“, gab er grinsend zur Antwort. Alice sah zwischen ihm und seinen Puppen hin und her.
 

„Hm, ja. Ich habe schon lange keine Frau mehr aus der Nähe gesehen, von daher wäre das vielleicht keine so schlechte Idee. Sag ihr, sie soll später nochmal drauf zurückkommen“, entgegnete er diplomatisch, ein wenig beruhigt, dass nicht Punch die Frage gestellt hatte. „Aber nichtsdestotrotz... Ich bin nicht ohne Grund hier, Fish. Die Herzkönigin ist in Aufruhr und hat mich geschickt, dich zu suchen. Charlie wird vermisst, niemand hat eine Ahnung, wo er sein könnte... und da du der Letzte warst, mit dem ich ihn gesehen habe, soll ich dich zu der Sache befragen. Was weißt du?“
 

„Ich... äh, nun... Er wird also wirklich vermisst?“, stammelte sein Gegenüber äußerst verdächtig.
 

„Ich stelle hier die Fragen!“, erwiderte Alice scharf. Das hatte er schon immer mal sagen wollen. „Als wir mit Ozz- dem Schwarzen Ritter im Garten waren... da war Charlie noch da, bevor ich geschlafen habe. Als ich dann aufgewacht bin, weil der Weiße und Schwarze Ritter plötzlich irgendwelche unlauteren Dinge neben mir veranstaltet haben, war die Schlange nicht mehr bei uns. Du warst aber die ganze Zeit in der Nähe und hast sozusagen für mich Wache geschoben. Irgendetwas wirst du ja wohl mitbekommen haben, oder nicht?“
 

Fish zögerte einen Moment, ehe er zur Antwort ansetzte.
 

„Ich habe darauf aufgepasst, dass niemand Euch sieht... das ist richtig“, sagte er abwesend, als würde er den Ablauf der gestrigen Nacht noch einmal in Gedanken durchgehen. „Charlie hat mir dabei geholfen und ebenfalls Ausschau nach den Bediensteten ihrer Majestät gehalten. Als ich gerade damit beschäftigt war, die Blumen ein wenig zu gießen, hat Charlie etwas zu mir gesagt. Sein ungefährer Wortlaut war: 'Die Königin hat ihre Augen überall. Ssselbssst wenn esss jetzzzt friedlich scheint, bin ich sssicher, dassss heute noch jemand im Kerker landen wird'“, imitierte er ziemlich authentisch Charlies Sprechweise. „Ich wusste nicht, worauf er hinaus wollte, doch dann meinte er, er wolle versuchen, unbemerkt durch den geheimen Gang in den Kerker zu kriechen, um denjenigen, der durch den Zorn ihrer Hoheit dort landen wird, befreien zu können. Deshalb habe ich ihm den Schlüssel für die Fesseln gegeben, den ich noch bei mir hatte. Die Königin hat mehrere davon in ihrem Besitz. Ich dachte, es würde nicht auffallen, wenn einer fehlt.“ Kurz machte er eine Pause und blickte nachdenklich zur Seite. „Er wollte nur etwas Gutes tun und irgendjemandem, der nichts dafür kann, das Tragen dieser schrecklichen Ketten ersparen. Weiter nichts. Ob er das geschafft hat und was er danach getan hat weiß ich auch nicht... da war ich ja nicht mehr am Hof.“
 

Alice dachte einen Moment lang nach. Es schien, als würde Fish die Wahrheit sagen, doch etwas kam ihm komisch vor. Entweder hatte Charlie hellseherische Fähigkeiten, von denen er bisher nichts gewusst hatte, oder er hatte bloß ein wirklich gutes Gespür für die Entscheidungen seines Herrchens – oder Frauchens, wie man das auch immer sehen mochte.
 

„Hmm... Das ist... alles sehr merkwürdig“, murmelte er und merkte, dass er sich anhörte wie jemand aus einem alten Detektiv-Film. „Die beiden Ritter sind in der Tat kurz darauf in der Zelle gelandet. Dann wollten sie heute morgen also Charlie decken, als sie sagten, sie wüssten nicht...- Jetzt ergibt das auch Sinn! Endlich eine Sache, die sich geklärt hat...!“, stellte er mit einer gewissen Zufriedenheit fest. „Trotzdem... hilft uns das nicht weiter bei der Frage, wo die Schlange abgeblieben ist.“
 

Fish nickte zustimmend, was die Glöckchen an seinem Kostüm leise zum Klingeln brachte.
 

„Naja“, sagte Alice, sich wieder dem Schwein zuwendend, das sich nicht von der Stelle gerührt hatte, an der er von ihm heruntergestiegen war. „Ich habe meinen Teil des Auftrags fürs Erste erledigt und dich gefunden. Dann komm mal mit...!“
 

„Was? Wohin soll ich mitkommen?“
 

„Die Königin will, dass du persönlich mit ihr redest. Auch wenn du mir schon alles gesagt hast, was du weißt... Tut mir leid, aber ich soll nicht ohne dich zurückkehren, das hat sie mir ausdrücklich gesagt.“
 

„Oh“, machte Fish betrübt. „Aber das geht nicht! Meine Freunde wollen doch wissen, wie das Stück ausgeht!“
 

„Und das kann nicht bis später warten?“, gab er mit einem Anflug von Ungeduld zurück, woraufhin es von allen Seiten vorwurfsvolle Blicke hagelte. „Okay, okay... Offenbar nicht. Aber dann beeil dich wenigstens und bring dein Stück schnell zu Ende.“
 

„Warum spielt er nicht einfach mit? Das wär doch endsverschärft, oder?“, hörte er die rauchige Stimme einer der Bartblumen vorschlagen, was allgemein auf Begeisterung zu stoßen schien. Ausnahmsweise hatte er nicht den geringsten Schimmer, was er daraufhin sagen sollte.
 

„Das ist eine grandiose Idee! Warum spielt Ihr nicht einfach mit, Auserwählter?“, rief Fish voller Vorfreude. „Kommt schon, das wird ein Spaß! Ich bin Punch und Ihr seid Judy!“
 

„Warum muss ich schon wieder die Frau sein?!“, erwiderte er und hätte sich zwei Sekunden später am liebsten für diesen Satz erhängt. Widerwillig ließ er sich neben dem Witzbold im Gras nieder, nahm die blau-gekleidete Puppe, die wie ein Cinderella-Verschnitt aussah, entgegen, und sah sein Gegenüber fragend an. „Und was muss ich jetzt machen...?“
 

„Erst einmal steckt Ihr sie Euch an, damit Ihr ihr... Bewegung und Leben einhauchen könnt!“, erklärte der Experte für seinen Geschmack ein klein wenig zu enthusiastisch, doch er tat wie geheißen, bewegte probehalber kurz die Arme seiner Figur und hoffte inständig, dass kein anderer Bewohner des Wunderlandes in diesem Moment hier vorbeilief. „Gut. Und jetzt können wir auch schon anfangen! Ach... Die beiden waren übrigens gerade dabei, in einem Ballsaal miteinander zu tanzen. Punch hat sich allerdings ziemlich grob verhalten, weshalb ein kleiner Streit zwischen ihm und Judy ausgebrochen ist. Judy steht nun also einsam und allein in einer Ecke, weint bitterlich vor sich hin und lässt sich von einem Prinzen trösten...“, er zog eine weitere edel gekleidete Puppe von irgendwo hervor, „... der wie aus dem Nichts auftaucht und ihr einen zauberhaften Tanz schenkt!“
 

Alice starrte erst den schmalzigen Prinzen, dann den Narren, der ihn in der Hand hielt, fassungslos an.
 

„... Nein. Vergiss es. Das mache ich nicht.“
 

„Spielverderber! Spielverderber!“, kam es sofort missbilligend aus dem Publikum. Fish blickte über die Menge hinweg ins hohe Gras, als läge dort etwas, das gerade jetzt von Belang war, dann schaute er ihn mit einem triumphalen Grinsen an.
 

„Wenn Ihr mitspielt und ich sehe, dass Ihr Euch Mühe gebt... dann bekommt Ihr etwas von mir, das Euch sicherlich von großem Nutzen sein wird“, trällerte er geheimnisvoll. „Nicht unbedingt bei der Sache mit Charlie. Dafür aber bei... allem anderen, würde ich sagen.“
 

„Ach ja? Bei allem anderen? Was soll das bitte sein?“
 

„Spielt Eure Rolle, dann werdet Ihr es erfahren! Für nichts und wieder nichts gebe ich es nicht her.“
 

Seufzend sah er ein, dass er sich wohl oder übel geschlagen geben musste, und beschloss, sich später damit auseinanderzusetzen, wie er seinen Ruf als ehrfurchtgebietender dunkler Lord am besten wiederherstellen konnte.
 

„Okay... Ich verdiene wirklich einen Orden für alles, was ich inzwischen mitgemacht habe“, sagte er leise, drehte sich ein Stück von seinen Zuschauern weg, sodass sie sich besser auf die Puppe konzentrieren konnten, und ließ Judyrella voller Leid die Ärmchen vors Gesicht heben. „Nein, was bin ich traurig...! Mein Mann ist so ein Scheusal... SCHLUCHZ! Keiner versteht mich!“
 

Gemeinschaftliches Schweigen. Alice spürte genau Fishs Blick auf sich, der mehr sagte als tausend Worte.
 

„Was ist...?“, zischte er und fühlte sich irgendwie sehr unbehaglich. Fish schien bemüht, nicht loszuprusten.
 

„Ein paar Dinge, die wir zu Anfang vielleicht noch klären sollten... Erstens: Eure Stimme muss höher sein. Zweitens: Die beiden sind noch nicht verheiratet. Und drittens: 'Schluchz'...?“
 

Möglicherweise bildete er es sich ein – aber für einen Moment glaubte er, auch Punch, der Prinz und Black Beauty würden jeden Augenblick in lautes Gelächter ausbrechen.
 

„Was für eine Erbsenzählerei... Ich nenne sowas künstlerische Freiheit!“, gab er vielleicht etwas zu trotzig zurück, ehe er Judy erneut in Position brachte. „Dann eben nochmal... Also: Oooh, was bin ich traurig!! Mein Freund ist so ein Scheusal...! Ich wünschte, ein strahlender Prinz würde plötzlich auftauchen und mich trösten!“
 

Fish sah so aus, als würde er angestrengt überlegen, ob das nun gut oder schlecht war, entschloss sich offenbar aber doch dazu, sein Stichwort wahrzunehmen und die dritte Figur ins Spiel zu bringen.
 

„Ihr habt nach mir gerufen, holde Maid?“, schnulzte der Prinz, als er die Bildfläche betreten hatte. Judy nahm die Ärmchen von ihren Augen und schaute mit dem gruseligen Lächeln, das sie niemals loswurde, zu ihm auf.
 

„Oh! Ein Prinz! Zufälle gibt's...!“
 

„In der Tat, das bin ich“, antwortete der Prinz schwülstig und streckte ihr seine nicht vorhandene Hand entgegen. „Nur wegen Euch bin ich gekommen, meine Schöne! Ein junges Mädchen sollte nicht alleine auf einem Ball sein. Darf ich um diesen Tanz bitten?“
 

„Aber ja, natürlich!“, quietschte Judy glücklich, bevor sie sich bei ihrem Traumprinzen einhakte. „Ach, wie fein! Es gibt also doch noch nette Männer auf der Welt!“
 

„Selbstverständlich. Nur leider viel zu selten“, flüsterte ihr neuer Partner, während er sein Ärmchen an ihre Taille legte und standesgemäß die Führung übernahm. Alice musste sich zusammenreißen, sich die fürchterlichen Bilder, die ihm augenblicklich in den Sinn kamen, nicht anmerken zu lassen – dass dieses Szenario ihn stark an Marilyns kleinen Solo-Auftritt von heute Morgen erinnerte war nicht unbedingt hilfreich.
 

„Pass auf, Judy!“, rief eine der Blumen aus dem Publikum, als Punch schaurigen Blickes am Rande der imaginären Tanzfläche stand und sich unbemerkt zu ihnen gesellte. Zumindest machte es einen überaus schaurigen Eindruck. Eine Narrenpuppe, die lauernd in der Gegend schwebte und einen mit riesigen Augen fixierte, war nicht unbedingt etwas, dem man nachts gern alleine auf der Straße begegnen würde.
 

„Hallo, Judy! Störe ich etwa?“, lenkte Punch die Aufmerksamkeit auf sich, was den namenlosen Prinzen dazu veranlasste, erschrocken einen Satz nach hinten zu machen. Judy sah ratlos von einem zum anderen.
 

„Punch...! Dich hatte ich... ganz vergessen!“, brachte sie quietschend hervor und fuchtelte aufgeregt mit ihren Ärmchen.
 

„Das habe ich bemerkt“, entgegnete Punch wie ein hölzerner Psychopath. „Kaum bin ich nicht mehr in deinem Blickfeld, angelst du dir einen Anderen und betrügst mich!“
 

„Ich habe dich nicht betrogen, Punch! Du hast dich, wie immer, daneben benommen, mich alleine gelassen, und plopp, war da plötzlich ein schöner Prinz, der mich aus meinem unerträglichen Elend befreit hat! Ganz anders als du... du grober Klotz!“
 

„Eine holde Maid braucht viel Liebe, mein Herr“, meldete sich der Prinz an den Narren gewandt zu Wort. Das Publikum hielt erwartungsvoll die Luft an.
 

„Das... Das weiß ich doch! Ich habe es nicht so gemeint... Tut mir leid, Judy!“
 

„Zu spät, Punch! Ich habe mein Glück mit diesem Prinzen gefunden! Er sieht gut aus, ist zuvorkommend und kann viel besser tanzen als du! Wir werden zusammenziehen und Kinder bekommen und du kannst zugucken, wo du bleibst!“
 

„Aber holde Maid...! Davon weiß ich gar nichts... Geht das nicht etwas zu schnell?“
 

„Finde ich nicht! Was soll das nun heißen?!“
 

„Eurem... Eurem Liebsten geht es ganz schlecht, seht Ihr? Er bereut seine Missetaten! Wollt Ihr ihm nicht verzeihen?“
 

„Heuchlerei ist das!! Jeden Tag ist es dasselbe mit ihm... Er raucht und trinkt und kommt nicht nach Hause...! Ich habe die Schnauze voll von euch Männern! Ihr seid alle gleich!!“
 

„Nein, Judy...! Bitte verlasse mich nicht! Ich verspreche, ich werde mich ändern...!“
 

„Mund halten, Punch! Das hast du mir schon so oft versprochen! Du bist echt das Letzte, Punch!! Ich gehe in ein Frauenhaus!!!“
 

„... Judy! Das...“ Fishs verzweifelte Miene war unbezahlbar. „Moment mal... Was soll das werden, Auserwählter...?“
 

„Jetzt sieht er schon Gespenster. Ich sehe hier keinen Auserwählten! Du brauchst dringend Hilfe, Punch!“, quietschte Judy erhobenen Hauptes und dachte nicht daran, ihrem Ex-Freund länger Beachtung zu schenken. Fish lehnte sich etwas vor, in dem Versuch, sich als er selbst bemerkbar zu machen.
 

„Das reicht...!“, bettelte er beinahe. „Ich habe es verstanden, schon gut... Eigentlich war das nicht das Ende, das ich... für die beiden geplant hatte. Das war wirklich hart von Euch...!“
 

„Hm, tja... Hat sich so ergeben“, gab Alice schulterzuckend zurück. „Du hast vorher nichts von einem Happy End erwähnt, falls ich dich erinnern darf. Du sagtest nur, ich soll mir Mühe geben – und das habe ich!“
 

„Ja, das... war nicht zu übersehen“, sagte Fish mit einem Unterton, der halb beeindruckt und halb überfordert klang. Dann wandte er sich seinen Freunden im Publikum zu, die noch immer mit starr nach vorne gerichteten Gesichtern wie hypnotisiert die nicht existente Bühne betrachteten. „Fragen wir doch einfach die Zuschauer, ob es ihnen gefallen hat. Wie sieht es aus? War das eine zufriedenstellende Vorstellung?“
 

Ein paar Sekunden lang war es ganz ruhig, bis der Ruf einer der Blumen die Stille durchbrach: „Das war die abgefahrenste Vorstellung, die ich jemals gesehen habe!“, und kurz darauf begann die gesamte Menge nach und nach zu jubeln, in tobenden Applaus auszubrechen und „Zugabe!“ zu brüllen. Alice grinste, ließ Judy gekonnt eine Verbeugung vor ihren Fans vollführen und schielte nun seinerseits triumphierend zu Fish, der seinem Beispiel scheinbar schweren Herzens folgte und seine beiden Puppen dasselbe tun ließ.
 

„Ihr habt gewonnen“, sagte er zu ihm, mit einem versteckten Hauch von Bewunderung in seiner Stimme. „Das Buch... Es liegt dort hinten. Vielleicht wird es Euch einige... Geheimnisse offenbaren, die Euch dabei helfen könnten, uns besser zu verstehen.“
 

„Buch? Euch besser verstehen? Wovon redest du?“
 

„Sieh selbst! Ich habe es neulich gefunden und heimlich mitgenommen. Jemand scheint es verloren zu haben. Eigentlich wollte ich es selbst lesen, doch bisher konnte ich es nur überfliegen“, erzählte Fish mit einem eigenartigen Ausdruck in den Augen. „Ich wette, Ihr, Auserwählter, könnt es besser gebrauchen als ich! Nehmt es!“
 

Nicht sicher, was er davon halten sollte, streifte Alice sich die Handpuppe ab, stand auf und schlenderte zu der besagten Stelle, um sich selbst von diesem mysteriösen Buch zu überzeugen. Tatsächlich lag es dort – wahrscheinlich hatte Fish es abgelegt, solange er sein Stück aufgeführt hatte, um sich später weiter damit zu beschäftigen –, und als er es aufhob konnte er erahnen, weshalb dieses Teil für ihn so wichtig sein sollte.
 

'Tagebuch' stand in verschnörkelten schwarzen Buchstaben darauf. Der Einband war dunkelgrau und es schien ziemlich alt zu sein. Es wirkte fast antik, wie ein verstaubtes Artefakt vergangener Zeiten, und auf eine Art einladend, dass man kaum widerstehen konnte, es aufzuschlagen und es sich in allen Einzelheiten anzuschauen.
 

„Wem gehört es...?“, fragte Alice, nachdem er es eine Weile lang bloß betrachtet hatte. Fish war, wie es aussah, schon wieder in die Beziehungskrise seiner Puppen vertieft, die er wohl, nach dem offenen Ende von eben, so rasch wie möglich glattzubügeln versuchte.
 

„Weiß nicht genau“, antwortete er kurz angebunden. „Hab keinen Namen gesehen. ... Du meinst es also wirklich ernst, Punch? ... Oh ja, ich tue alles, damit du mir vergibst! Du gehörst zu mir und ich zu dir, Judy!“
 

Die vor Kitsch triefenden Selbstgespräche des Narren ignorierend öffnete er das Buch – wenigstens einen Blick hineinzuwerfen konnte ja nicht schaden –, machte einen Schlenker um die Hippie-Blumen und blätterte einmal um, bis er die erste vollständig beschriebene Seite vor sich hatte. Wenn Fish mit seinen Eskapaden fertig war konnten sie schließlich immer noch aufbrechen, dachte er, während er sich neben Black Beauty auf der Wiese einrichtete. Bis dahin konnte er sich zumindest den ersten Eintrag schon einmal ansehen...
 

»Heute habe ich dieses Buch erhalten. Daher habe ich mich entschlossen, es nun einzuweihen, es bis ans Ende meiner Tage mit meinen Erzählungen zu füllen und jeden einzelnen Tag unserer wundersamen Entstehungsgeschichte auf diesen Seiten festzuhalten. Es ist meine Aufgabe, das zu tun, mein persönliches Privileg. Sie haben es mir zum Geschenk gemacht.

Jeder von uns – von mir und meinen Brüdern – hat eine eigene Aufgabe bekommen. Einer ist für das große Tor zuständig, damit niemand je unerlaubt hindurchschreitet. Zwei von uns teilen sich die Aufgabe des Prüfers, sie sind für Neuankömmlinge da, die noch nicht verstehen, sich zurechtzufinden. Es ist so, dass hin und wieder neue Wesen aus unserer fabelhaften Welt hervorgehen oder dass sich jemand in ein ihm unbekanntes Gebiet verirrt. Deshalb braucht es die Prüfer, die sich jedes Gesicht merken, die Ordnung im Chaos bewahren und prüfen, wer wann welchen Bereich betritt. Und ich, ich habe dieses Buch, um alles, was hier und fernab des Schlosses passiert, zu dokumentieren. Es hat magische Seiten, hat die Königin gesagt, Seiten, die niemals ausgehen.«
 

Marilyn, dachte er im Stillen. Wem auch immer dieses Buch gehörte, er hatte es von Marilyn bekommen – das war es jedenfalls, was er nach den anfänglichen paar Zeilen annahm.
 

»Zusätzlich wird jeder von uns selbstständig für die Sicherheit des Hofes Sorge tragen. Oberste Priorität ist es, das Königspaar zu beschützen.

Zweifellos sind sie die mächtigsten Wesen, die unter unserer Sonne existieren. Trotzdem sind wir dazu verpflichtet, gut auf sie Acht zu geben. Wir wollen es und wir müssen es. Nicht nur, dass es unsere Art ist, ihnen unsere ewige Dankbarkeit zu erweisen... Die Schlange hat es uns aufgetragen. Und die Worte der Schlange sind weise Worte.

Wenn man ihren Geschichten glaubt – und das tue ich! –, dann war unser König als erstes da. Seit es den Hof gibt, gibt es auch ihn. Doch er war einsam.

Eines Nachts soll er allein auf seinem Gemach gewesen sein. Er blickte in den Spiegel, und auf der anderen Seite ist plötzlich etwas passiert. Sein Wunsch nach einer zweiten Person ging in Erfüllung und sein Spiegelbild formte sich zu seinem Ebenbild, seinem Gegenstück, mit dem er von da an jede Nacht sprach, wenn er es sah. Und irgendwann, wie durch ein Wunder, wurde sie lebendig und fand ihren Weg zu ihm – die dunkle Königin. Seitdem sind sie unzertrennlich und herrschen gemeinsam über alles, was innerhalb und außerhalb des Schlosses liegt... so heißt es.

Ich weiß, dass wir ohne die beiden nicht hier wären. Zwar kann ich nicht sagen, wie es geschehen ist, aber dank ihnen sind wir erschienen und Teil dieser Welt geworden, wo zuvor nichts als Dunkelheit um uns herum war. Jetzt ist uns klar, dass es unsere Berufung ist, dem königlichen Paar zu dienen und die helle und die dunkle Seite der Medaille zu hüten wie unser eigenes Leben – bis in alle Ewigkeit.«
 

„Das Königspaar... Ja... aber- Uaah!“
 

Bevor er die Bedeutung dessen, was er da eben gelesen hatte, wirklich erfassen konnte, wurde Alice bei seinem Versuch, einen sinnvollen Kontext zwischen all den hier angedeuteten Dingen herzustellen, von etwas gestört, das sich verdächtig nach einer Schweinenase anfühlte und das ihn fordernd – unter 'fordernd' verstand sich in diesem Fall 'brutal' – in die Seite stupste. Ehe er sich versah war das Buch im hohen Bogen im Gras gelandet, während Black Beauty ihn aus schwarzen Kulleraugen anstarrte, als wolle sie ihn darauf hinweisen, wie spät es bereits war und dass sie keine Lust mehr hatte, tatenlos herumzustehen. Zögerlich wandte Alice sich der Sau zu und überwand sich dazu, ihr den schweren, breiten Kopf zu kraulen.
 

„Ist ja gut, ich weiß... Siehst du, ich sehe sogar darüber hinweg, dass ich mir wegen dir vorhin vorkam wie ein weggeschmissener Sack voll Matsch“, sagte er verständnisvoll zu seinem Gegenüber, das ihm mit einem lautstarken Schnauben darauf antwortete. „Ganz genau. Wir verstehen uns.“
 

Noch immer ein wenig durcheinander wegen der zweifelhaften Informationen, die er dem Buch bis jetzt hatte entnehmen können, stand er vom Boden auf und bückte sich noch einmal, als ihm einfiel, dass es ihm heruntergefallen war. Erst, als er die letzte Seite aufgeschlagen sah, bemerkte er, dass er es versehentlich falschherum hielt. Doch was ihm durch diesen zufälligen Umstand nun unübersehbar ins Auge stach ließ kurzzeitig seinen Atem stocken.
 

Auf der hintersten Seite des Buches, inmitten des sonst blanken Papieres, war ein Schriftzug, leicht verschmiert und ebenso eindrucksvoll wie beängstigend:
 

R.I.P. Alicia

Unsere Mutter und Königin der Nacht
 

„... Was?“
 

„Was ist los, Auserwähler? Hat mein Happy End Euch so sehr missfallen?“, hörte er Fish, der anscheinend endgültig mit seinem Problemstück fertiggeworden war, fragen.
 

„Happy End? Nein, ich...“ Schnell klappte er das Buch zu und bemühte sich, nicht allzu offensichtlich danach auszusehen, als hätte er eben eine schockierende Entdeckung gemacht. „Ich fürchte, ich habe Euer... alternatives Ende nicht mitbekommen. War zu sehr in Gedanken.“
 

„Oh. Wie schade. Nun, dem Publikum scheint beides zugesagt zu haben... Euer Schluss und auch meiner“, lächelte Fish, einen flüchtigen Blick zu den Blumen werfend. Offenbar hatte er ihnen seine Puppen vorübergehend anvertraut – jedenfalls lagen sie ordentlich nebeneinandergereiht dort. „Also dann... Wollen wir gehen? Ich würde es gern hinter mich bringen, wenn ich ehrlich bin. Immerhin habe ich nicht sonderlich viel zu sagen...“
 

„Ja, du hast Recht. Wir sollten zusehen, dass wir zum Schloss kommen. Ich kriege sonst nachher noch Ärger, weil ich zu lange rumgetrödelt habe. Und wie das aussehen würde will ich mir lieber nicht vorstellen.“
 

„Mach's gut, Bruder!“, rief eine der Blumen ihnen heiser hinterher, als sie sich schließlich gemeinsam auf den Weg machten. „Und du auch, Schwester! Grüß' mal die Königin von uns!“
 

Die Rückreise gestaltete sich wesentlich bequemer als es die Hinreise auf dem Rücken der Kriegs-Sau gewesen war. Glücklicherweise war es nun, da Fish ihn begleitete, nicht mehr notwendig, sich von Black Beauty führen zu lassen. Stattdessen trabte sie, erstaunlicherweise, sogar recht brav neben ihnen her.
 

Trotzdem wurde Alice das Gefühl nicht los, dass irgendetwas an der ganzen Geschichte gewaltig faul war. Inzwischen hatten sie bereits die Hälfte des Irrgartens hinter sich gelassen, das Ziel lag also nicht mehr fern. Das Einzige, woran er denken konnte, war jedoch dieser Schriftzug.
 

„Alicia“, hallte es unaufhörlich wie ein Echo in seinem Gedächtnis.
 

Nicht nur, dass dieser Name seinem eigenen auf eine Art ähnelte, die mehr als bloßer Zufall zu sein schien... Auch die Zeile, die in etwas kleineren Buchstaben daruntergestanden hatte, wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen. Ob Fish es gesehen hatte? Die Widmung auf der letzten Seite des Buches?
 

Viel eher als er es erwartet hatte hatten sie den Hof erreicht. Es war seltsam ruhig und außer Wachmann Nummer Eins, der wie gewohnt vor dem Tor stand, war niemand draußen zu sehen.
 

„Tretet ein“, sagte er in einem Tonfall, der absolut nichts zu einer milderen Atmosphäre beitrug. Was zum Henker war während seiner Abwesenheit hier passiert? Die Stille war regelrecht erdrückend, als er mit Fish die Empfangshalle betrat, die auf den ersten Blick ebenso leer schien wie der Garten. Bei genauerem Hinsehen aber bemerkte er eine Person; eine einzelne Person wie eine Statue, die den großen Saal zierte, seitlich zu ihm und einen Arm an der Wand abgestützt, in der anderen Hand etwas haltend, das wie ein Bild aussah.
 

Marilyn. Seine Züge wirkten wie eingefroren, während er das Bild in seiner Hand betrachtete – ein Schwarzweiß-Foto, wie ihm bewusst wurde. Das Zuschlagen des Schlosstores durchbrach die groteske Stille solange, bis der Nachhall verklungen war und es wieder leise wurde. Marilyn zuckte nicht einmal mit der Wimper.
 

„... Alice...“, war alles, was er irgendwann kaum hörbar hervorbrachte, ehe er sich langsam in seine Richtung wandte und ihm mit unheilvoller Stimme etwas zuzischte: „Du bist schuld...!“
 

„Wie bitte...? Woran soll ich schuld sein?“, gab Alice deutlich weniger betroffen zurück als es der Wahrheit entsprach. Sein Gefühl hatte ihn nicht getäuscht. Etwas stimmte nicht.
 

„An allem“, erwiderte Marilyn – nicht mehr als ein Flüstern und gleichzeitig so voll von Verachtung, dass er aus Stein hätte sein müssen, damit es ihn kalt ließ. Fishs Anwesenheit schien er nicht einmal wahrzunehmen. Alice sah die Augen der Königin, die etwas unsäglich Fremdartiges an sich hatten, doch bevor er die Gelegenheit hatte, ihr länger in die Augen zu sehen, wurde er durch die völlig unvorhergesehene Handlung, die sie im nächsten Moment ausführte, abgelenkt.
 

Das Bild... Er ahnte bereits, um welches Bild es sich dabei handelte. Oder besser gesagt: gehandelt hatte. Denn ohne den geringsten Funken von Reue oder irgendeiner anderen Emotion hatte sie es eiskalt in der Mitte zerrissen, das Bild, von dem er geglaubt hatte, dass es ihr so viel bedeutete. Achtlos ließ die Herzkönigin beide Hälften des zerfetzten Papierstückes zu Boden gleiten, sodass Alice nur ein paar Schritte darauf zugehen brauchte, um sie aufzuheben und das umstrittene Foto selbst einmal genau zu begutachten. Er tat es. Und was er darauf erkannte, jetzt, da er es endlich von Nahem zu Gesicht bekam, war schlichtweg unglaublich – ganz gleich, ob er mittlerweile damit gerechnet hatte oder nicht.
 

Er sah einen Mann und eine Frau, beide edel gekleidet, ein stolzes Paar vor einem gigantischen Schloss. Der Mann war eindeutig Marilyn. Die Frau war... er selbst.
 

Alicia.

Kapitel 10 - Der Prozess

„Das... kann nicht sein“, sagte er leise, als er beide Hälften des Fotos aneinander hielt; des Fotos, das Marilyn zerrissen und einfach weggeworfen hatte, als wäre es bloß ein wertloses Stück Müll. Fish stand irgendwo hinter ihm und gab keinen Mucks von sich – wahrscheinlich war er von der Situation nicht viel weniger überfordert als er selbst –, die Königin stand vor ihm, hoch erhobenen Hauptes und ebenso still, so als würde sie auf irgendeine Reaktion seinerseits warten. Allerdings konnte er momentan weder Fish noch die Königin wirklich beachten. Das Foto schaffte es, seine gesamte Konzentration vollständig für sich zu beanspruchen.
 

Wie konnte ihm das nur nicht schon vorher aufgefallen sein? Er hatte es doch gesehen, als er zum ersten Mal in Marilyns Gemach gewesen war – jedoch hatte Marilyn ihm kaum Zeit gelassen, das Bild länger zu betrachten, und es sofort aus seinem Sichtfeld befördert. Jetzt konnte er auch verstehen, warum. Es war nicht einfach irgendein Bild von irgendwelchen Personen seines Hofes. Es war wesentlich mehr als das. Sie beide waren darauf abgebildet. Obwohl das Königspaar auf dem Bild nur von Weitem zu sehen war, war es bei genauerem Hinsehen eindeutig zu erkennen. Das Gesicht dieser Frau konnte seinem eigenen unmöglich durch puren Zufall so ähnlich sehen.
 

Das Königspaar, dachte Alice augenblicklich, als er das Gefühl hatte, sich an etwas zu erinnern. Das Schloss... Es stimmt. Ich war... schon einmal hier.
 

Als würde ihm ein Traum einfallen, der Jahre, nein, Jahrzehnte zurücklag, sah er etwas vor sich, eine verschwommene Szene, die sich genauso schnell wie sie aufgetaucht war wieder vor seinem inneren Auge verflüchtigte.
 

„Erinnerst du dich wieder... Alicia?“, fragte Marilyn mit einer Stimme, die zwar fast so klang wie üblich, aber trotzdem irgendwie nicht recht zu ihm zu gehören schien. „Nein... Du bist nicht Alicia. Wie dumm von mir. Alicia, Alice... Da kann man schnell durcheinandergeraten, nicht wahr?“
 

„Was ist los mit Euch?“, gab er unsicher zurück, sein Gegenüber aus sicherer Entfernung im Blick haltend. „Ihr seid... ganz anders als sonst. Was ist mit Euch passiert, während ich weg war...?“
 

Die Königin lachte dunkel, während sie gemächlich auf ihn zuschritt, blieb dann dicht vor ihm stehen und musterte ihn mit einem undefinierbaren Grinsen.
 

„Was mit mir passiert ist, fragst du...?“, erwiderte sie, und das Grinsen in ihrem Gesicht nahm rapide einen überaus irren Zug an. Wie besessen fixierte sie ihn eine Weile lang, ohne die geringste Antwort auf seine Frage zu geben. Er kam sich beinahe vor wie die Fliege im Netz der Spinne.
 

„... Das reicht jetzt! Lasst ihn!“, schaltete Fish sich dazwischen, der das Ganze offenbar bisher schweigend beobachtet hatte, und stellte sich wie ein einschreitender Bodyguard in ihre Mitte. Dann verwandelte sich seine eben noch beachtliche Entschlossenheit in ein verhaltenes Gemurmel. „Eure Hoheit... Ihr... Ihr seid gar nicht die Königin... oder?“
 

Marilyn starrte ihn leeren Blickes an und begann, auf eine sehr untypische Art zu kichern.
 

„Aber, aber... mein lieber Narr. Wer soll ich denn sonst sein?“ Man konnte nicht sagen, dass Fish sonderlich überzeugt wirkte. „Apropos... Wie geht es eigentlich Charlie? Ich denke, du hast mir da noch etwas zu beichten, oder etwa nicht?“
 

„B-Beichten? Nein! Nicht, dass ich wüsste...“, stammelte Fish, überdachte seine Antwort jedoch offenbar noch einmal, als Marilyn ihn ansah wie eine strenge Lehrerin, die einen Schüler ohne Hausaufgaben erwischt hatte. „Jaaa... möglicherweise habe ich... Charlie den Schlüssel gegeben, damit er die beiden Ritter befreien konnte, nachdem Ihr sie in den Kerker geschickt hattet... Das ist aber auch alles, was ich weiß! Ich schwöre es, mehr war da nicht... Bitte schaut mich nicht so böse an!“
 

„Du bist wirklich ein erbärmlicher Narr, Fish“, entgegnete ihre Hoheit kalt. Fish blickte betreten zu Boden. „Aber weißt du was? Ich bin ein von Natur aus gnädiger Mensch und ich glaube dir, dass du unschuldig bist. Der wahre Verbrecher steht nämlich...“, sie zeigte mit einer dramatischen Geste an ihrem verwirrten Diener vorbei, „... dort!“
 

Alice hob den Blick widerspenstig in Richtung seines Gegenübers.
 

„Ach ja? Und welches schrecklichen Verbrechens werde ich beschuldigt? Glaubt Ihr vielleicht, ich hätte Charlie still und heimlich verschleppt, weil ich Euch eins auswischen wollte und nichts Besseres zu tun habe als harmlose Schlangen zu entführen wie irgendein... total Irrer? Ist es das, was Ihr von mir denkt?“
 

„Oh nein, das ist es nicht, Alice. Meine Gedanken reichen deutlich weiter“, antwortete Marilyn und machte plötzlich ein Gesicht, als wäre ihm ein grandioser Einfall gekommen. „Wenn du darauf bestehen willst, nichts Sträfliches getan zu haben, bitte. Warum finden wir es nicht ganz einfach heraus, indem wir einen kleinen... Prozess organisieren?“
 

„Prozess?“, entwich es ihm und Fish nahezu gleichzeitig. Marilyn wirkte in höchstem Maße amüsiert und Alice hatte allmählich das Gefühl, dass es ihm gar nicht um das Verschwinden der Schlange ging, sondern bloß darum, irgendjemandem gewaltig das Leben schwer zu machen. Nur warum dieser Jemand ausgerechnet er sein sollte wollte ihm nicht recht einleuchten.
 

„Ja... großartig. Genauso machen wir's“, flötete die Königin vorfreudig vor sich hin, während sie ziellos durch den gesamten Raum streifte. Irgendetwas, dessen war er sich sicher, war ganz eindeutig bei ihr kaputtgegangen. Anders wollte sich ihm nicht erschließen, dass sie sich von jetzt auf gleich noch schizophrener verhielt als sie es ohnehin schon tat, wenn alles in Ordnung war.
 

Kurz hielt ihre konfuse Majestät inne, so als würde sie überlegen, wie nun genau fortzufahren war. Alice konnte sich nicht helfen, aber selbst ihre Bewegungsabläufe erschienen ihm eigenartig. In gewisser Weise fremd, doch andererseits auch auf irgendeine Art bekannt – so als hätte er diese Gesten schon einmal bei jemand anderem gesehen. Allerdings war es schwierig, das festzustellen, weil sie trotz allem noch immer die Königin war – und ihre bloße Präsenz war zu eigen, um bei ihrem Anblick an irgendwen anders zu denken.
 

Fish sah seiner Herrin misstrauisch hinterher, als sie sich in Richtung Schlosstor begab, welches sie nach kaum merklichem Zögern öffnete, ehe sie, anmutig wie immer, in den Garten hinaustrat und sich demonstrativ in dessen Mitte aufbaute.
 

„Was hat sie vor...?“, flüsterte Alice, halb an Fish und halb an sich selbst gerichtet. Bevor er jedoch eine Antwort bekommen konnte, klärte sich seine Frage von selbst, als Marilyn völlig unerwartet und scheinbar ohne große Mühe seine Stimme zu einem markerschütternden Schreien erhob, das kein normaler Mensch jemals so hätte zustandebringen können und das sicher von jedem einzelnen Bewohner dieser Welt – egal, welchen Aufenthaltsortes – problemlos gehört wurde. Ein wenig bedauerte er Wache Nummer Eins, deren Schicht noch lange nicht beendet war und die das Geschrei nun aus nächster Nähe ertragen musste.
 

„ALLE MITBÜRGER DES WUNDERLANDES, AUFGEPASST!!!“, rief er mit einer solch furchteinflößenden Intensität, dass wahrscheinlich jeder der Angesprochenen augenblicklich erstarrte. „ICH, DIE HERZKÖNIGIN, ERWARTE AUSNAHMSLOS JEDEN VON EUCH IN KÜRZE VOR MEINEM SCHLOSS! ICH WIEDERHOLE: KOMMT ZUM HOF UND VERSAMMELT EUCH VOR MEINEM SCHLOSS!!!“
 

Ein Moment der Ruhe, als würde er abwarten und sichergehen wollen, dass auch niemand ihn überhört hatte – wie das von hier aus herauszufinden sein sollte war ihm schleierhaft –, dann kehrte Marilyn mit zufriedener Miene in das Empfangszimmer zurück, blickte sich prüfend darin um und ließ sich mit den Worten „Wache Nummer Zwei und der General werden sich um alles weitere kümmern“ auf seiner Couch nieder. Nicht viel später waren die beiden zur Stelle, wie zwei Wachhunde, die man zu sich gepfiffen hatte und die unverzüglich herbeieilten, um ihrem Meister zu Diensten zu stehen. Er sah, wie Marilyn etwas zu ihnen sagte – irgendein Befehl, den sie so schnell wie möglich ausführen sollten –, wie sie sich daraufhin einen verwunderten Blick zuwarfen und schließlich damit anfingen, sämtliche Möbel zu verrücken, wohl um dem Raum einen neuen Look zu verpassen. Obwohl Alice nicht verstanden hatte, welcher Zweck hinter dieser Aktion steckte, war er sich ziemlich sicher, zu wissen, worauf die Sache hinauslief.
 

Etwa eine halbe Stunde war vergangen, bis die Vorbereitungen für das bevorstehende Spektakel restlos abgeschlossen waren. Wobei diese Zeitspanne mehr geraten war als alles andere. Die große Uhr, die gegenüber der Treppe zu Marilyns Gemächern stand, schien, seiner neuesten Erkenntnis zufolge, lediglich zur Zierde zu existieren. Seit er bei Hofe zu Gast war hatte er nun zum ersten Mal daran gedacht, auf das Ziffernblatt zu schauen, in dem Glauben, dadurch vielleicht so etwas wie eine Uhrzeit zu erfahren. Allerdings musste er sofort einsehen, wie lächerlich dieser Gedanke war, als er das Muster registrierte, mit dem die Zeiger sich über die Fläche bewegten – nämlich gar keines. Mal liefen sie vorwärts, mal rückwärts, blieben in der nächsten Sekunde einfach stehen oder legten aus einer Laune heraus mit rasanter Geschwindigkeit eine komplette Runde zurück. Alice konnte nicht leugnen, dass ihr Verhalten ihn gewissermaßen an ein bestimmtes schwarzes Schwein erinnerte.
 

General Floyd saß schweigend und ausdruckslos an einem schmalen Tisch, der im rechten Winkel zu einem ausladenderen Tisch platziert war; vor ihm waren einige unbeschriebene Blätter Papier, ein Tintenfässchen und eine Feder, neben ihm ein leerer Stuhl, der höchstwahrscheinlich für einen der bemitleidenswerten Mitbürger reserviert war, die draußen vor dem Tor warteten. Während sie sich einer nach dem anderen abgehetzt am befohlenen Treffpunkt eingefunden hatten, hatten Floyd und Wachmann Mercury alles daran gesetzt, die Empfangshalle mithilfe ihrer beachtlichen Improvisationskunst wie einen Gerichtssaal herzurichten. Das Ergebnis konnte sich sehen lassen.
 

„Kommt rein... und nehmt hier hinten Platz!“, tönte Marilyns Stimme durch den Raum, als das Tor aufschwang und eine bunte Masse diverser Freaks zum Vorschein kam, die ihrer königlichen Hoheit mit einer Mischung aus Irritation, Ehrfurcht und gespannter Erwartung in den Saal folgten und sich, wie aufgetragen, auf den zahlreichen Stühlen nahe des Eingangs verteilten. Nun, abgesehen von Ritterchen Schwarz und Ritterchen Weiß, mit denen Marilyn offenbar etwas anderes im Sinn hatte. Alice bemerkte, wie er beiden etwas mitteilte, das aufgrund der vielen aufgeregt durcheinander redenden Stimmen für ihn nur halbwegs zu verstehen war. Allerdings war die Tatsache, dass Ritter Weiß sich an dem freien Platz neben General Floyd niederließ und Ritter Schwarz an einem weiteren schmalen Tisch, der diesem gegenüberstand, ausreichend genug für eine schlimme Befürchtung. Wie es aussah sollten die beiden Schießbudenfiguren die Rolle der Anwälte spielen.
 

„Ich bitte um Ruhe...!“, machte Marilyn hinter seinem Richterpult fast schon ein wenig zu nett auf sich aufmerksam. Die trotzdem schlagartig einkehrende Ruhe sprach für sich. „Angeklagter“, sagte er in einem engelsgleichen Tonfall, bedachte ihn mit einem subtil unheimlichen Blick und deutete auf den einsamen Stuhl in der Mitte des Gebildes. „Nimm Platz und mache bitte deine Aussage!“
 

„... Gut“, gab Alice betont gelassen zurück, während er Marilyns Aufforderung nachkam und sich setzte. „Aber vorher hätte ich zwei wichtige Fragen. Zuerst einmal: Wenn Ihr die Fähigkeit besitzt, so laut zu schreien, dass man Euch vermutlich noch auf dem Mars gut hören kann, warum musste ich dann einen Höllenritt auf dem Rücken dieses Monsterschweins auf mich nehmen und mich in einem Puppentheater emanzipieren, damit Fish sich hier rüberschwingt? Und was mich noch viel mehr interessiert: Worüber soll ich aussagen, wenn ich nicht mal genau weiß, wofür ich überhaupt angeklagt werde?“
 

Ein angeregtes Getuschel war im Saal zu vernehmen.
 

„In Ordnung, ich werde mir die Zeit nehmen, deine Fragen zu beantworten“, entgegnete Marilyn, der dank seines Aussehens einer karnevalistischen Drag-Queen absolut gar nichts von einem Richter an sich hatte, lächelnd. „Erstens: Weil ich es so wollte. Und zweitens... Weißer Ritter, sei so freundlich und kläre unseren Angeklagten über seine missliche Situation auf!“
 

„Ich...?“, kam es überfordert von dem Tisch, der sich rechts von ihm befand. „Aber... ich weiß doch selbst nicht, weshalb er angeklagt ist!“
 

Die besten Voraussetzungen für einen Staatsanwalt, dachte Alice, nicht sicher, ob ihm mehr nach Lachen zumute war oder danach, sich die restliche Verhandlung über unter seinem Stuhl zu verkriechen. Vielleicht beides. Unter seinem Stuhl vor sich hinlachen, das klang doch fein.
 

„Dann denk dir was aus!“, hörte er Richter Mansons umwerfend kompetente Antwort. Die Idee mit dem Stuhl erschien ihm zunehmend verlockender. Ritter Weiß sah erst skeptisch, dann nachdenklich zu ihm herüber.
 

„Der Angeklagte... zeigte sich bisher als schrecklich vorlauter Banause mit einem nahezu kriminellen Kleidungsstil... und wird daher seines rüpelhaften Verhaltens und aufdringlicher Geschmacklosigkeit beschuldigt! Ja... genau. Wie war ich?“
 

Marilyn starrte seinen tollen, eigens ausgesuchten Staatsanwalt ausdruckslos an, setzte dann ein 'Womit-habe-ich-das-verdient'-Gesicht auf und atmete tief aus.
 

„Alles muss man alleine machen“, murmelte er, ehe er sich wieder ihm zuwandte. „Also schön... Das Gericht geht von folgender Tat aus: Der Angeklagte – das bist du, mein Lieber – nahm sich heraus, erst uneingeladen den heiligen Boden des Wunderlandes zu betreten, jeden, der hier lebt, mit der unverschämten Lüge, er sei der Auserwählte, zu verwirren und zu bedrängen, unsere gesamte Welt in ein einziges Chaos zu stürzen und desweiteren auch noch die königliche Schlange, Charlie, verschwinden zu lassen. Der Angeklagte wird somit des Hausfriedensbruchs, der Unruhestiftung, der Freiheitsberaubung und einigem mehr beschuldigt. Gegen seinen Kleidungsstil ist außerdem nichts einzuwenden.“
 

„Dem stimme ich zu, Herr Richter“, pflichtete Alice bei, woraufhin er erneut den eisigen Blick ihrer Hoheit zu spüren bekam. „... Verzeihung. Frau Richterin.“
 

„Um eines unmissverständlich klarzustellen“, zischte Marilyn bedrohlich. „Du sprichst nur, wenn du dazu aufgefordert wirst, und wirklich nur dann. Das gilt auch für die Herrschaften weiter hinten im Saal. Haben wir das verstanden? Gut. Jetzt darfst du reden.“
 

„Vielen Dank... Euer Ehren!“, erwiderte er schnippisch. „Allerdings weiß ich, wenn ich ehrlich bin, nicht recht, was ich zu all dem sagen soll, außer dass ich mir keinerlei Schuld bewusst bin. Ich denke, Ihr wisst selbst, dass ich nicht freiwillig herkam, sondern durch einen Unfall in Eurer Welt gelandet bin und dann nicht mehr heraus konnte. Dass ich der Auserwählte bin habe ich mir nicht ausgedacht, das wurde mir genauso mitgeteilt – wobei ich inzwischen gerne bereit bin, das zu glauben. Immerhin scheine ich hier der Einzige zu sein, der noch klar bei Verstand ist... Dann wird da wohl was dran sein. Ich meine... die anderen Bewohner dieses Landes wissen nicht einmal, wie sie heißen. Wie sollen sie da bitte die Welt retten?“
 

„Einspruch...!“, rief Ritterchen Weiß hörbar empört. Marilyn beachtete ihn nicht.
 

„Einspruch abgelehnt.“
 

„Was war da noch, das ich angeblich angerichtet haben soll? Eure Welt ins Chaos gestürzt? Auch das kann ich guten Gewissens verneinen. Ihr wart vorher schon ein einziges Chaos“, fuhr Alice unbeirrt fort. Das düstere Mienenspiel des Staatsanwaltes ignorierte er gekonnt. „Zuletzt die Sache mit Charlie... Da habe ich ebenfalls nichts mit zu tun. Ich habe genauso wenig Ahnung, wo er abgeblieben ist, wie ihr anderen auch, und wüsste gerne, womit ich plötzlich diesen ganzen Unmut auf mich gezogen habe... Schwarzer Ritter! Wollt Ihr nicht auch mal was dazu kundtun?“
 

„Äähm?“, gab besagter Ritter überaus geistreich von sich. „Ja, also... Der Meinung bin ich auch. Mein Mandant hat nichts getan!“
 

„Tse... Ihr seid so erbärmlich, Herr Schwarz. Ausgerechnet dann, wenn es unangebracht ist, sagt Ihr zu allem 'Ja' und 'Amen'“, höhnte Ritter Bon Jovi von seinem Platz neben General Floyd aus, der eifrig dabei war, alles mitzuschreiben.
 

„Das ist ja auch meine Aufgabe als Verteidiger“, schleuderte sein Rivale zurück, „... also braucht Ihr Euch gar nicht so künstlich aufzuspielen, Frau Weiß!“
 

„Hört auf, mich Frau Weiß zu nennen!!“
 

„RUHE!“, donnerte Marilyn verärgert und wartete einen Moment, bis die Aufmerksamkeit wieder ihm galt. „Angeklagter... Deine Aussage klingt zunächst einleuchtend, doch es gibt leider Unstimmigkeiten. Wenn du tatsächlich zum ersten Mal unsere Welt betreten haben solltest... woher willst du dann wissen, ob hier schon zuvor Unordnung herrschte – und nicht erst ab dem Zeitpunkt, als du ins Spiel kamst? Zudem... Warst nicht du einer der Letzten, mit denen Charlie sich umgab, bevor er verschwand?“
 

„Ich finde es bemerkenswert, wie hier sämtliche Tatsachen verdreht werden. Ja, schön, ich war einer der Letzten, mit denen Charlie sich umgeben hat. Aber da waren außer mir auch noch der Schwarze Ritter, den Ihr rausgeschmissen hattet, und Fish! Daher-“
 

„Das ist eine hübsche Gelegenheit, unseren nächsten Zeugen aufzurufen“, schnitt Richter Manson ihm skrupellos das Wort ab. Alice starrte ihn fassungslos an.
 

„Ich war noch nicht fertig, Euer Ehren...!“
 

„Doch, das warst du. Deine Aussage ist beendet. Wenn du bitte neben deinem Herrn Rechtsanwalt Platz nehmen würdest“, entgegnete Marilyn, der wahrscheinlich den schlechtesten Richter unter der Sonne abgab, unbeeindruckt. „Ich rufe Fish in den Zeugenstand!“
 

Fish, der sich gemeinsam mit den anderen auf einem der hinteren Plätze niedergelassen hatte, stand zögerlich auf und nahm seinen neuen Platz in der Mitte ein, nachdem Alice diesen verlassen und sich neben Ozzy eingerichtet hatte. Ozzy drehte sich zu ihm und winkte fröhlich, so als wären sie zwölf-jährige Sitznachbarn in einer verdammten Schule.
 

„Fish... Deine Aussage bitte“, forderte Marilyn verhältnismäßig freundlich. Der Narr nickte bestätigend. Es klingelte nervtötend.
 

„Majestät, es... es ist genauso wie Alice eben sagte!“, erwiderte Fish scheinbar leicht nervös. „Wir vier waren zusammen im Schlossgarten – er, der Schwarze Ritter, Charlie und ich. Als ich mich mit meinem Freund Charlie unterhielt, bekamen die beiden allerdings nichts mit, weil sie schliefen. Die Schlange versteckte sich bereits im Kerker, als Alice wieder aufwachte, weil plötzlich Schreie ertönten. Es war der Weiße Ritter, der über dem Schwarzen Ritter kniete und irgendwelche Schweinereien im Sinn ha-“
 

„EINSPRUCH!!“, unterbrachen ihn beide Ritter synchron.
 

„Das tut hier überhaupt nichts zur Sache!“, knurrte Bon Jovi entschieden. Ozzy lehnte sich über den Tisch, als wolle er über ihn hinwegsteigen und seinen Rivalen mit einem gezielten Hechtsprung außer Gefecht setzen.
 

„Wie wäre es, wenn Ihr einfach dazu stehen würdet, dass Ihr Euch an meiner armen, sensiblen Black Beauty vergehen wolltet, anstatt vom Thema abzulenken?“
 

„Moment mal...!“, meldete sich General Floyd schockiert zu Wort. „Wer wollte Black Beauty zur Sau machen?!“
 

„Monsieur Weiß wollte das!“
 

„'Monsieur'?!“
 

„Ihr wolltet doch nicht, dass ich Euch Frau Weiß nenne!“
 

„Das ist doch die Höhe! Ihr und Eure absurden Spinnereien... Wenn überhaupt, dann wollte ich Euch zur Sau machen!“
 

„Was...? Einspruch!!“
 

I gotta get awaaay, sang Alice in Gedanken vor sich hin. I gotta get ooouuut of this plaaaceee...!
 

Wie es aussah musste er eine ganze Weile lang in Gedanken gewesen sein, denn als er das nächste Mal seinen Blick von dem gigantischen Kronleuchter abwandte und geradeaus schaute, hatten Ritter Weiß und der General die Plätze getauscht. Offenbar war Marilyn zu der Ansicht gekommen, dass Letzterer sich als Anwalt besser machen würde und der Schweineschänder lieber die Feder zur Hand nehmen und die Drecksarbeit verrrichten sollte. Eine weise Entscheidung, wenn man ihn fragte.
 

„... Wenn eure lachhaften Streitigkeiten dann geklärt wären... würde ich gerne mit der Befragung fortfahren“, äußerte Marilyn in einem seltenen Moment des allgemeinen Schweigens. Ozzy blickte beleidigt zu Boden. „Zeuge. Deine Unterhaltung mit Charlie, bevor er sich in den Kerker verkrochen hatte, war die letzte Gelegenheit, bei der du ihn gesehen hast, richtig?“
 

„Das ist richtig, Majestät!“
 

„Aber das war nicht der einzige Augenblick, in dem du Charlie aus den Augen gelassen hast, nicht wahr? Gestern... Als du im Garten beschäftigt warst, während meine Wachen und ich uns um die Vorbereitungen für die Ankunft unseres ach so besonderen Gastes gekümmert haben... da war Charlie ebenfalls nicht bei uns.Was denkst du, wo er sich zu diesem Zeitpunkt aufgehalten hat?“
 

Fish überlegte kurz.
 

„Nun... Ich denke, da war er bei Alice, Eure Hoheit“, antwortete er mit einem unsicheren Seitenblick auf die Anklagebank.
 

„Sehr schön. Das denke ich auch“, entgegnete Marilyn scheinbar zufrieden. „Und nun wüsste ich gerne, was der Angeklagte dazu zu sagen hat?“
 

„Ich weiß wirklich nicht, was Ihr erwartet, jetzt von mir zu hören“, sagte Alice und bemühte sich um einen nicht allzu offensichtlich genervten Tonfall. „Dass Charlie mich auf dem Weg hierher begleitet hat ist kein Geheimnis und hat nicht das Geringste mit seinem Verschwinden zu tun. Er hatte sich bei seiner Beutejagd verirrt, ich habe ihn zufällig gefunden und da wir beide das Ziel hatten, zum Schloss zu gelangen, sind wir von da an gemeinsam weitergegangen. Das ist alles.“
 

„Wenn das so ist, kannst du mir sicher sagen, wo du die Schlange gefunden hast, nicht wahr?“, fragte Marilyn mit einem seltsamen Unterton, den er, zumindest im Augenblick, nicht zu deuten vermochte. Alice dachte an seine groteske erste Begegnung mit dem Tier zurück.
 

„Das war... an irgendeiner ziemlich dicht bewachsenen Stelle im anderen Teil des Wunderlandes... Hatte fast was Urwald-mäßiges. Ach, und es war ganz in der Nähe von diesem mutierten Riesenpilz mit der zugedröhnten Raupe.“
 

„Tatsächlich?“, gab der Richter auf eine Art zurück, als hätte er mit dieser Antwort schon halb gerechnet. „Hervorragend, dann... wäre es naheliegend, nun den nächsten Zeugen aufzurufen. Fish, du darfst dich wieder nach hinten begeben. Die Raupe möge bitte hier vorne Platz nehmen!“
 

Ganz gemütlich und träge, als gäbe es keine Eile auf der Welt, schlenderte 'die Raupe' auf den für die Zeugen vorgesehenen Platz zu, mitsamt der Wasserpfeife, die sie behutsam vor sich abstellte, als sie sich dorthin setzte, und grinste breit in Richtung Richterpult.
 

„Raupe“, seufzte Marilyn und betrachtete den Slash-Verschnitt einige Sekunden lang eingehend. „Bereichere uns doch bitte mit deiner Fassung der Geschehnisse.“
 

Als hätte er überhaupt nicht mitbekommen, dass man ihn angesprochen hatte, nahm Slash erst einmal genüsslich einen Zug von seiner Pfeife und hauchte ein paar verschiedenfarbige runde Wölkchen aus, ehe er ein nachdenkliches „Hmm“ von sich gab und stillschweigend vor sich hinstarrte.
 

„... Raupe?“
 

„Sorry. Wie war nochmal die Frage?“, grinste er verträumt. Marilyn verdrehte kaum merklich die Augen.
 

„Deine Aussage“, wiederholte er mit einem falschen Lächeln. „Du sollst darüber aussagen, wie du es erlebt hast, als der Angeklagte und du aufeinandertrafen.“
 

Ob bei diesem Zeugen so viel Verlass darauf war, wie er irgendetwas erlebt hatte, war fraglich, dachte Alice, lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und realisierte kurz darauf etwas anderes, das ihm ein wenig merkwürdig vorkam. Er hatte mit keinem Wort wirklich erwähnt, dass er und der Zeuge direkt aufeinandergetroffen waren, oder...?
 

„Hmmm... Ach so, ja. Der Angeklagte. Der da, meins'te?“, erwiderte Slash und deutete vage auf eine Stelle zwischen Ozzy und ihm. Marilyn nickte bejahend. „Ja, den hab' ich schon mal gesehen. Der fährt manchmal bei mir vorbei und grüßt mich... auf 'nem Schwein oder so. Ja.“
 

„Nicht der Schwarze Ritter! Der Andere!“
 

Ein weiteres Mal beugte Herr Raupe sich mühsam zur Seite, schob seine Sonnenbrille ein Stückchen vor, als würde das in irgendeiner Weise helfen, und blickte eine Weile lang konzentriert auf den Platz neben Ozzy. Alice hob eine Hand zu einem angedeuteten Friedenszeichen.
 

„Ach so...! Ja, den kenn' ich auch, glaub' ich. Der is' mein Kumpel!“, antwortete Slash und wirkte irgendwie glücklich, was vermutlich auf die Pfeife zurückzuführen war. „Der war irgendwann mal bei mir... vor'n paar Monaten oder so. Haben zusammen auf meinem Heimpilz relaxt. Also, ich auf'm Pilz und er auf'm Blatt.“
 

„Und kannst du dem Gericht eventuell mitteilen, ob du sonst noch irgendetwas bemerkt hast, während ihr... auf dem Pilz und dem Blatt relaxt habt? Irgendetwas Besonderes, Auffälliges?“, hakte Marilyn geduldig nach. Raupi wirkte dezent überfordert.
 

„Was Auffälliges? Hmm, nee... überhaupt nich'“, brachte er scheinbar abwesend hervor, änderte seine Meinung jedoch sehr schnell. „Doch...! Da war was! Hat plötzlich gegossen wie aus Tüten, und gewittert hat's auch! Voll unnormal. War richtig nass und so. Selbst der Lange fand das strange.“
 

„Der Lange?“
 

„Jep. Der lange Rote. Charlie... oder wie der heißt. Der rote Typ jedenfalls.“
 

Marilyn machte ein Gesicht, als hätte er ein fünfbeiniges Einhorn gesehen.
 

„Es hat also geregnet und gewittert, während du, Charlie und der Angeklagte euch unterhalten habt? Was genau war daran so... strange, wenn ich fragen darf?“
 

„Weiß auch nich'. Kam so plötzlich“, sagte Slash, ehe er einen weiteren Zug von seiner Pfeife nahm, welchen er in Form einer Schlange zeitlupenhaft in die Luft pustete. „Hatte was... Gefährliches. Der Lange hat sich gar nich' mehr eingekriegt, hat voll Stress geschoben. Ich glaub', deshalb hatte mein Kumpel da, der Angeklagte, auch keinen Bock mehr und is' gegangen.“
 

„Er hat mit Charlie zusammen deinen Bereich verlassen? Wohin ist er gegangen?“
 

„Puuuh... keine Ahnung mehr, echt. Er hatte was gesagt, aber das hab' ich wohl vergessen. War so abgelenkt von den Tropfen auf meinem Pilz.“
 

„Vielen Dank, Raupe. Du darfst dich wieder zu den anderen setzen“, verkündete Marilyn, die Augen wie gebannt auf Raupis ausladendes Mitbringsel gerichtet. „Oh, und... es heißt übrigens 'wie aus Eimern'.“
 

„... Häh?“
 

„Schon gut. Vergiss es.“ Einen Moment schien ihre richterliche Hoheit nachzudenken, während sie sich offenbar einen Überblick über die noch wartenden Herrschaften in den hinteren Reihen verschaffte – erst jetzt bemerkte Alice, dass die Grinsekatze und ihre drei Artgenossen gar nicht dabei waren –, dann rief sie ihren nächsten Befehl trotz vorgetäuschter Höflichkeit unüberhörbar herrisch in den Saal. „Das weiße Kaninchen... bitte als nächstes in den Zeugenstand!“
 

Es war schon lange kein unbegründeter Einspruch mehr erhoben worden, fiel es ihm auf, während besagtes Kaninchen sich blitzartig nach vorne katapultierte wie bei einem Wettlauf. Ein Blick neben sich verriet Alice den Grund für die ungewohnte Stille seitens der Verteidigung. Offensichtlich hielt der gute Ozzy es jetzt, da sein Rivale akut nicht länger offiziell sein Rivale war, nicht für nötig, dem Geschehen weiter zu folgen. Stattdessen machte er in aller Seelenruhe ein Nickerchen. Ritter Weiß hingegen war hellwach und hochkonzentriert auf den Stapel Blätter vor sich fixiert, den er mit einem fraglichen Grinsen betrachtete, bevor er wieder die Feder zur Hand nahm. Alice hegte starke Zweifel daran, dass sich wirklich bloß der bisherige Ablauf der Verhandlung auf dem Papier befand.
 

„Kaninchen“, sagte Marilyn monoton. Alice überlegte, ob er Ozzys Beispiel folgen und ebenfalls ein Schläfchen machen sollte. „Du warst gestern hier, am Hof, und hast das Schlosstor gestrichen. Aber vorher warst du im anderen Teil des Landes, nicht wahr? Wusstest du davon, dass der Angeklagte vorhatte, hierherzukommen?“
 

Hasi rutschte unruhig auf seinem Platz herum, zog seine Taschenuhr hervor und starrte sie eine Weile lang intensiv an, bevor er sie seufzend wieder wegsteckte. Alice fragte sich, ob sie die Uhrzeit genauso zuverlässig wiedergab wie die Standuhr vor Marilyns Treppe.
 

„Eure Hoheit. Hallo erstmal. Ähm... Mit 'hierherkommen', meint Ihr da... hierher zum Schloss? Oder hierher ins Wunderland?“
 

„... Sowohl als auch.“
 

„Tja, wisst Ihr... nein, eigentlich nicht“, gab Hasi nun zur Antwort. „Es war so: Ich saß in meinem Wohnzimmer, suchte nach meinem Pinsel, den ich zum Streichen des Tores benötigte, und kramte dabei in einer alten Kiste. Alles war gut, bis plötzlich Amy bei mir einbrach und mich dazu bringen wollte, mein eigenes Haus anzuzünden!“
 

Ozzy war weiterhin nicht ansprechbar. Alice dachte darüber nach, ob es klug wäre, selbst die Initiative zu ergreifen und Einspruch zu erheben.
 

„Ich wusste überhaupt nicht, was der Kerl von mir wollte. Ich hatte ihn auch noch nie zuvor gesehen! Irgendwie hat er sich Zutritt zu meiner Behausung verschafft und, tja, dann hatte ich den Salat...! Wenn Ihr mich fragt, Eure Hoheit, ist er ganz klar schuldig. Ein Kerl namens Amy ist und bleibt verdächtig!“
 

„Bist du jetzt fertig? Ich finde, das reicht langsam“, sagte Alice, bevor Richter Manson oder sonst irgendwer noch darauf eingehen und anfangen konnte, diesen Schwachsinn zu glauben.
 

„Einspruch!“, rief General Floyd, als hätte er nur darauf gewartet, endlich auch seinen Senf dazugeben zu dürfen. „Der Zeuge hat das Recht, nein, er ist sogar dazu verpflichtet, dem Gericht die Wahrheit mitzuteilen. Du hingegen, Angeklagter, hast nicht das Recht, ihm einfach dazwischenzufunken wie es dir passt!“
 

„Das ist schön, genau der Meinung bin ich nämlich auch. Das Problem ist nur: Was Herr Hase hier gerade so wahnsinnig überzeugend herumposaunt ist nicht die Wahrheit!“
 

„Wasislos...?“, hörte er Ozzy, der offenbar wieder zu sich gekommen war, leise nuscheln. Alice antwortete ihm jedoch nicht, da er nicht viel Sinn darin sah, einem planlosen Aushilfsverteidiger alles einzeln zu erklären.
 

„Ich habe keine Ahnung, ob er mich absichtlich in ein falsches Licht rücken will oder ob er einfach nur ein sehr durcheinanderes, kleines Häschen ist, das selbst glaubt, was es da faselt... Aber ich schwöre Euch, dass beinahe nichts in seiner Aussage stimmt! Ich bin weder bei ihm eingebrochen noch wollte ich, dass er irgendwas in Brand steckt... Seine Türe stand offen und ich wollte ihn lediglich um Rat fragen, weil ich gerade erst in eurer Welt angekommen war und mich... nun ja, ein wenig verloren fühlte. Und wisst Ihr, warum ich ausgerechnet dieses verwirrte, kleine Häschen danach fragte? Weil es nicht annähernd so unwissend ist wie es jetzt tut. Im Gegenteil, dieses Kaninchen ist derjenige, der dafür verantwortlich ist, dass ich überhaupt hier bin!“ Unruhiges Getuschel machte sich im Saal breit; Hasi starrte ihn ungläubig an. „Außerdem... heiße ich Alice. Und nicht Amy.“
 

„Das ist... unerhört!“, zischte Floyd nach einer Weile des Schweigens. Marilyn blickte mit einem zweifelhaften Ausdruck in den Augen zwischen ihm, dem Zeugen und der Anklagebank hin und her. „Euer Ehren! Der Angeklagte erzählt Lügengeschichten! Das hat er von Anfang an getan und er tut es noch immer, selbst hier und jetzt... Ich habe ihm die ganze Zeit über nicht getraut und mein Misstrauen bestätigt sich nur. Sprecht ihn schuldig, worauf wartet Ihr noch?“
 

„Beweise!“, forderte Alice. „Wenn Ihr Euch so sicher seid, warum beweist Ihr meine Schuld dann nicht einfach, hm? Los, Herr Staatsanwalt!“
 

„Stopp!!“, herrschte Marilyn energisch, woraufhin sämtliche Stimmen sofort verstummten. „Es scheint, als würde das Ganze etwas... aus den Fugen geraten. Angeklagter. Du willst Beweise? Nun, warum legst nicht du einen stichfesten Beweis vor, der deine Schuld widerlegt?“
 

General Floyd grinste siegessicher. Ritter Weiß schien sich inzwischen nicht mehr sonderlich behaglich zu fühlen.
 

„Ich... Ich muss hier niemandem etwas beweisen...! Weil dieser Prozess die größte und idiotischste Zeitverschwendung ist, die ich jemals erlebt habe!“, entgegnete Alice aufgebrachter als er es beabsichtigt hatte. „Sollte eine Gerichtsverhandlung nicht dazu da sein, für Gerechtigkeit zu sorgen? Davon merke ich hier nichts! Ich habe eher das Gefühl, dass ihr euch aus irgendeinem Grund gegen mich verschworen habt. Und Ihr... Ihr habt Euch total verändert...“
 

„Tse... Jetzt versucht er es auf die Mitleids-Tour...“
 

„Ruhe, General!“, befahl Marilyn scharf an seinen Untergebenen gewandt, bevor er sich mit zunächst ernster und dann scheinbar belustigter Miene wieder ihm widmete. „Ich habe mich also verändert? Haha... Du amüsierst mich. Ein weiterer Grund, an deiner Wahrnehmung zu zweifeln, Alice. Ich bin genauso wie sonst auch.“
 

„Nein, das seid Ihr nicht! Seit ich mit Fish zum Schloss zurückgekehrt bin seid Ihr nicht mehr Ihr selbst. Ihr habt... sogar das Foto zerrissen...“ Seltsam betroffen dachte er daran, wie die Königin es eigenhändig zerstört hatte – oder der König? Sie und Alicia waren zusammen darauf abgebildet gewesen, es war eine wertvolle Erinnerung an ihre Vergangenheit, die sie einfach innerhalb eines kurzen Augenblickes beseitigt hatte, als wäre es nichts. Warum musste sich gerade jetzt, als er geglaubt hatte, endlich wenigstens ansatzweise zu begreifen, was hier vor sich ging, das Blatt noch einmal um hundertachtzig Grad wenden? „Ich verstehe nicht, was das alles noch zu bedeuten hat... Anfangs habe ich nicht verstanden, wieso ich, als völlig Fremder in eurer Welt, der Auserwählte sein soll. Und jetzt verstehe ich nicht, wieso ich als Angeklagter hier sitze und für etwas verurteilt werden soll, das ich nicht getan habe. Ich weiß jetzt, dass ich in eurer Welt kein Fremder bin und dass ihr mich braucht, sonst hättet ihr nicht mit allen Mitteln dafür gesorgt, dass ich hier bleibe! Warum also tust du das, Marilyn...?“
 

Ein Moment der Stille und des allgemeinen Entsetzens, dann erst merkte er, was er da eben eigentlich gesagt hatte. Wie konnte ihm das nur passiert sein?
 

„... Mari... lyn...“, stammelte die Königin, als würde die Erwähnung dieses Namens irgendetwas in ihrer Erinnerung überlasten. „Das ist...“
 

Überrascht sah Alice sie an, als der Ausdruck in ihren Augen mit einem Mal klarer wurde und er für eine Sekunde das Gefühl hatte, wieder die alte Herzkönigin vor sich zu haben.
 

„Was hast du getan...?!“, brachte das Weiße Kaninchen hervor, gleichermaßen vorwurfsvoll und entgeistert. „Dieser Name... Niemand sagt diesen Namen! Wie kannst du es wagen, den verbotenen Namen auszusprechen?!“
 

„Aber-“
 

„Nein...! Unsinn! Das... ist nicht mein Name!“, erwiderte die Königin irgendwann abrupt, ehe er dem etwas entgegensetzen konnte; allerdings wirkte es eher, als würde sie es zu sich selbst sagen anstatt zu irgendeinem anderen in diesem Raum. „Ich... Warum lenkst du eigentlich von dir ab, Angeklagter? Hier geht es um dich... und nicht um mich!“
 

Aha, dachte Alice und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, als in ihm der winzige Hoffnungsschimmer aufkam, dass ihre richterliche Hoheit eventuell doch eine Schwachstelle besaß. Wenn er es schaffte, diese Schwachstelle auf die richtige Art und Weise auszunutzen, konnte er sie vielleicht zur Vernunft bringen. Er musste es nur hinbekommen, sie sentimental werden zu lassen, um ihr wahres Ich unauffällig wieder hervorzulocken.
 

„Marilyn... Erinnerst du dich denn nicht mehr...?“, sagte er mit gekonnt trauriger Stimme, betrübt zu ihrer Majestät herüberblickend. „Du und ich... wir haben uns zusammen den Sonnenaufgang angesehen. Hat dir das etwa gar nichts bedeutet...? Du... liebst doch die Sonne. Wenn sie aufgeht hast du einen Grund, glücklich zu sein... das hast du zu mir gesagt.“
 

„... Hör auf! Hör sofort auf damit...!“, wehrte die Königin seine Schnulz-Attacke halbherzig ab. Alice schaute betreten zur Seite, innerlich grinsend über seinen offensichtlichen Triumph.
 

„Und die zwei Rosen, die du mir gezeigt hast“, redete er unbeirrt weiter. „Auf deinem Gemach, Marilyn. Weißt du nicht mehr? Ihre unvergängliche Schönheit hat mich gleich fasziniert. Das kannst du doch nicht vergessen haben...!“
 

„...“
 

„Marilyn...?“
 

„... Nein... Unmöglich... nngh...Verschwinde...! Geh weg!“
 

„Auserwählter...“, sagte Fish von der letzten Reihe aus in einem Tonfall, der nichts Gutes verheißen ließ. „Ich glaube, Ihr habt die Königin durcheinandergebracht...“
 

Auf einen Schlag wurde die Empfangshalle von einem panischen Stimmengewirr erfüllt, vermischt mit der schrecklichen Ungewissheit, die plötzlich wie eine große dunkle Wolke in der Luft hing. Das weiße Kaninchen hatte sich eilig in die hinterste Ecke des Raumes verkrochen, gefolgt von dem Weißen Ritter, der ein jämmerliches Geräusch ausstieß, bevor er sich hinter Hasis Rücken versteckte. Ozzy hingegen wirkte eher besorgt als ängstlich, als er sah, wie die Königin sich mit grotesk verzerrten Zügen an der Tischkante abstützte, ihr Gesichtsausdruck irgendwo zwischen Zorn, Anstrengung und Wahnsinn, und beängstigende Laute von sich gab, die nicht einmal mehr menschlich klangen. Es war in der Tat ein absonderliches Szenario.
 

„Majestät? Geht es Euch gut...?“, fragte Ozzy typisch naiv und war bereits aufgesprungen, um nach seiner geliebten Königin zu sehen, ohne auf eine Antwort zu warten, die er mit Sicherheit ohnehin nicht bekommen hätte. Alice konnte ihn im letzten Moment zurückhalten.
 

„Nicht! Lasst mich das machen“, sagte er, überzeugt, das kleine Problem, das er selbst möglicherweise verursacht hatte, auch höchstpersönlich wieder in den Griff zu bekommen. Schließlich hatte er bisher noch jedem wunderländischen Freak aus einer verzwickten Situation helfen oder irgendwelche komplexen Aufgaben lösen können. Wäre doch gelacht, wenn er nicht auch das hier wieder hinkriegen würde. Entschlossen ging er auf Marilyn zu, nachdem er sich von seinem Platz auf der Anklagebank erhoben hatte.
 

„Eure Hoheit?“
 

„... Arrghh! Bleib fern...!“, bekam er zur Antwort, begleitet von einer unkontrollierten Armbewegung seitens Marilyn, so als wolle er ein aufdringliches Insekt verscheuchen, das ihn zur Weißglut brachte. „Komm mir nicht zu nahe, hörst du, Alice?! Bleib, wo... du bist... bitte!!“
 

„Ähm... okay?“
 

Vielleicht hatte er sich ausnahmsweise geirrt. Wie es aussah war die aktuelle Situation selbst für den Auserwählten eine Nummer zu hoch.
 

„Ihr alle...“, flüsterte Marilyn, hob seine Stimme jedoch unerwartet zu einem furchteinflößenden Schreien, „... ihr alle seid schuldig! Jeder einzelne von euch... hat eine Bestrafung verdient! Niemand lehnt sich gegen mich auf... Niemand, versteht ihr?!“
 

Wie aus dem Nichts wurde es eiskalt, die Wände des Saales begannen heftig zu beben und die Menge der übrigen Beteiligten verwandelte sich in ein hektisches Chaos wild umherstolpernder Insassen.
 

Das war's, dachte Alice, als es sich so anfühlte, als geriete der gesamte Raum ins Wanken. Das Letzte, was er vernahm, waren die Worte „Lebt wohl, ihr Würmer!“, dann wurde es vollkommen dunkel.
 

„... Uhhh...“
 

Kälte. Kalt und dunkel war es noch immer. Allerdings auf eine andere Weise als es bis vor Kurzem noch der Fall gewesen war.
 

Was war geschehen?
 

Wie durch Watte hörte er einen Ruf, immer wieder. Die Stimme war nicht unbekannt. Erst undeutlich, dann zunehmend klarer ertönte dieses Wort, zum wiederholten Male. Es klang wie ein Name.
 

„Mary!“, konnte er es nach einem Moment der Besinnung vollends definieren. „Maaaryyyy!!“
 

Alice öffnete die Augen. Er wusste nicht, wie lange er weggetreten gewesen war, aber eines wurde ihm schlagartig bewusst, als er sich umsah – er war nicht mehr in der Empfangshalle. Sondern im Kerker. Gemeinsam mit allen anderen, die zuvor an der Verhandlung teilgenommen hatten – abgesehen von der Königin, selbstverständlich.
 

„MARYYY!!“, rief der Märzhase ebenso laut wie verzweifelt, an die Wand gefesselt auf dem Boden kniend, genau wie er selbst es einen Tag zuvor gezwungenermaßen getan hatte. Die Raupe saß etwa einen halben Meter von ihm entfernt und rauchte ihre Pfeife, als wäre dies ihr natürlicher Lebensraum, während die Haselmaus auf der gegenüberliegenden Seite wie ein Kringel herumlag und schlief, dicht neben dem Hutmacher, der ebenfalls an die Wand gelehnt dort saß und die Decke anstarrte. Das weiße Kaninchen machte ihm Konkurrenz, wirkte jedoch bei längerem Betrachten noch ein wenig labiler, während es apathisch seine Uhr fixierte und hin und wieder seltsam zuckte, wenn der Rauch der Wasserpfeife in seine Richtung zog.
 

„Okay“, sagte Alice, in der Hoffnung, einer der anderen würde ihm für einen kurzen Moment seine Aufmerksamkeit leihen und ihn vielleicht darüber aufklären, was zum Henker hier eigentlich los war. „Warum... sind wir im Kerker? Ich meine, wir alle? Habe ich was verpasst?“
 

„Wir sind nicht alle hier“, hörte er tatsächlich jemanden antworten. Wache Nummer Zwei. „Einer fehlt. General Floyd ist, wie es scheint, oben geblieben.“
 

Irritiert wandte Alice sich dem Wachmann zu, der ihn mit einem entschuldigenden Blick bedachte, so als würde er die Verantwortung für ihre gemeinschaftliche Lage auf sich nehmen, weil er den Zorn der Königin nicht hatte abwenden können.
 

„Aber warum...?“, fragte er noch einmal. „Wie sind wir plötzlich hierhergekommen? Und wieso ist der Märzhase als Einziger von uns angekettet?“
 

„Dieser Hase...! Oh, wie ich ihn verachte!“, erwiderte eine andere Stimme, die er Wache Nummer Eins zuordnen konnte, als er sich flüchtig umsah. „Dieser Hase ist der wahre Schuldige unter uns! Denk jetzt nicht, ich würde mich auf deine Seite schlagen, auserwählter Mann namens Alice. Aber du bist nicht derjenige, der verurteilt werden sollte. Hätte der verdammte Hase nicht unaufhörlich diesen Namen gebrüllt, als wäre er nicht mehr zu retten, hätte unsere Königin auch nicht den Verstand verloren und wäre zu dem geworden, was sie jetzt ist...“
 

„Zu dem, was sie jetzt ist?“ Interessiert trat Alice auf den Wachmann mit der violett schimmernden Rüstung zu. „Sie ist nicht sie selbst, oder? Nie im Leben war das wirklich die Herzkönigin, die mich all dieser Verbrechen beschuldigt hat... Das hätte sie nicht getan, da bin ich mir sicher!“
 

„Maaaaaryyyyyy!“
 

„Himmel, wann wirst du endlich dein verfluchtes Schandmaul halten?!“, rief die Wache, sichtbar und hörbar aufgebracht an den Märzhasen gerichtet, dann drehte sie sich seufzend wieder zu ihm. „Nein, sie ist nicht sie selbst. Nachdem sie diesen Unhold von uns hat in den Kerker sperren lassen war sie wie ausgewechselt. Ich erkenne sie nicht wieder. Und was ich hier unten mache erschließt sich mir nun gar nicht! Schließlich habe ich bloß, wie üblich, das Tor bewacht...“
 

„Iiiiiiiiih...! Geht von mir runter!!“, hallte im nächsten Augenblick eine Stimme, die sich nach dem Weißen Ritter anhörte, hysterisch durch die Zelle. Offenbar war sein verhasster Rivale bei der Aktion mitsamt seiner schweren Rüstung mitten auf ihm gelandet und hielt ihn so vom Aufstehen ab. „Was zur Hölle geht hier vor? Warum bin ich schon wieder mit diesem Nichtsnutz in der Zelle?!“
 

Ozzy, der jetzt anscheinend ebenfalls etwas verspätet aus seinem Dämmerzustand erwachte, schreckte kreischend auf, als er bemerkte, auf welcher Unterlage er sich befand.
 

„Waaah! Ein Albtraum!“, rief er und kassierte dafür einen bitterbösen Blick seitens Bon Jovi, der unverzüglich damit begann, mit einer beachtlichen Aggressivität über seine weiße Rüstung zu wischen, sobald er sich aufgerichtet hatte, so als wolle er die schlechte Energie des Schwarzen Ritters von ihr abschrubben. Wache Nummer Eins murmelte etwas, das sich wie „Schon gut, ihr braucht mich nicht zu bemitleiden“ anhörte. Alice versuchte, einen Moment zu überlegen, was ein wenig Konzentration erforderte, wenn man mit zehn Geistesgestörten in einem ungemütlichen, engen Raum gefangen war.
 

„Warum benutzen wir nicht einfach der Reihe nach den Notausgang?“, schlug er vor, als ihm einfiel, wie er beim letzten Mal von hier unten entkommen war, und ging dorthin, wo er, seiner Erinnerung nach zu urteilen, die geheime Tür vermutete.
 

„Das wird leider nichts nützen“, sagte jemand von der Seite in einem optimistischeren Tonfall als es dem Inhalt entsprach. Fish. „Sie lässt sich nicht öffnen. Genauso wenig wie der Haupteingang.“
 

„Wirklich? Schöner Mist“, gab er zurück und besah sich die unscheinbare Klappe kurz von Nahem, als ohne jegliche Vorwarnung das weiße Kaninchen, einen schrillen Kampfschrei ausstoßend, von seinem Platz nahe des Hutmachers hervorschoss und ohne Rücksicht auf Verluste durch die Menge trampelte, bevor es ihn grob beiseite schubste, um sich selbst mit dem Notausgang auseinanderzusetzen.
 

„... Hey!“, machte Alice, als er gerade noch verhindern konnte, rückwärts auf dem Boden zu landen; das Kaninchen schien sich jedoch nicht darum zu scheren – zu sehr war es damit beschäftigt, brutal und von irren Lauten unterstrichen auf die verschlossene Klappe einzudreschen. Alice war sich nicht sicher, ob er mehr Mitleid mit sich selbst oder mit der Tür hatte.
 

„Warum gehst du nicht auf, du dummer Ausgang?! Geh endlich auf...!“, jammerte Hasi, ehe er vor dem malträtierten Notausgang zusammensank und so dramatisch wie es nur eben ging „Wir sind alle verloren!“ rief.
 

„Nie hat man Ruhe“, grummelte Piepwuff, den die penetrante Geräuschkulisse offenbar aus dem Schlaf gerissen hatte, und legte sich murrend auf die andere Seite. „Hass... Ich hasse diese Zelle und diesen Tag... und diesen Gestank!“
 

Was den Gestank betraf hatte er nicht Unrecht. Es war ziemlich stickig hier unten, es gab keine Fenster und dazu kam, dass der Qualm von Raupis Pfeife sich verbreitete wie dicke Nebelschwaden, die die gesamte Luft vereinnahmten. Fish stand noch immer bewegungslos da und musterte das weiße Kaninchen, das es wohl inzwischen aufgegeben hatte, die Klappe zu verprügeln.
 

„Ich schätze, wir werden hier vorerst nicht rauskommen“, sagte er und fügte etwas leiser hinzu: „Wären wir auf herkömmliche Weise hierher gelangt, wäre es vielleicht etwas anderes, aber so...“
 

Bevor ihn allerdings jemand fragen konnte, was genau er damit meinte, erklang aus heiterem Himmel ein gellender Schrei, der seinen Ursprung definitiv nicht in diesem Raum hatte, jedoch mit ebenso großer Sicherheit eine zu helle Stimmfarbe besaß, um von Floyd oder Marilyn zu stammen. Alice wich reflexartig einen Schritt zurück, als auf den unheimlichen Schrei ein weiterer folgte. Er hörte diese Geräusche nicht zum ersten Mal. Auf der Kehrseite hatte er Stimmen vernommen, animalische Stimmen, die sich zu einem wilden, unartikulierten Geplärr vermischt und ihn in der Dunkelheit heimgesucht hatten. Und als er zuletzt im Kerker eingesperrt gewesen war... da hatte er es auch gehört. Es war also doch keine Einbildung gewesen!
 

„MAAARYYY!!“, rief der Märzhase noch inbrünstiger als er es zuvor schon getan hatte. Piepwuff jaulte, nicht einmal der Hutmacher konnte ihn beruhigen. In dem Versuch, einen klaren Gedanken zu fassen, bemühte sich Alice, die Anfälle seiner Mit-Insassen so gut es ging zu ignorieren, blickte abwesend zu Fish herüber und bemerkte erst jetzt, dass der Narr etwas hinter seinem Rücken verborgen hielt.
 

„Sag mal...“, begann er vorsichtig, während er sich an Hasi vorbei auf ihn zubewegte. „Weißt du vielleicht etwas, das wir nicht wissen? Du versteckst doch da irgendwas.“
 

„Wie? Oh, Ihr meint... ja“, entgegnete Fish etwas wirr und zog das ominöse Objekt hervor, das er scheinbar vor den Augen der anderen zu schützen versuchte. „Ich hatte es, versteckt unter meinem Kostüm, für Euch aufbewahrt. Dank der Beschaffenheit meiner Kleider ist es darunter nicht wirklich zu erkennen, wenn man mich nur von Weitem sieht.“
 

„Das Tagebuch!“ Mit einer gewissen Erleichterung feststellend, dass das mysteriöse Buch, das Fish ihm geschenkt hatte, vollkommen heil geblieben war, lehnte sich Alice ein Stück zu seinem Gegenüber vor, um besser mit ihm sprechen zu können – bei der Lautstärke, die momentan herrschte, war es fast schwierig, das eigene Wort zu verstehen. „Vielleicht... solltest du es lieber wieder wegstecken. So wie unsere werten Genossen hier gerade drauf sind würde ich nicht ausschließen, dass es dir einer abjagt und vor lauter Frust in Stücke reißt...!“
 

Das weiße Kaninchen oder die Haselmaus, beispielsweise.
 

„Ja, Ihr habt Recht“, sagte der Narr mit einem seltsamen Lächeln auf den Lippen, ließ das Buch wieder verschwinden und seinen Blick über den chaotischen Haufen wild durcheinandergewürfelter Freaks schweifen. „Ich brauche es auch nicht mehr... schließlich kenne ich jetzt die Wahrheit. Und es wird Zeit, nun die anderen daran teilhaben zu lassen, meint Ihr nicht auch?“
 

„... Was? Die Wahrheit?“
 

Fish nickte stumm und keine zehn Sekunden später hatte er die Aufmerksamkeit aller, deren Aufruhr er tatsächlich zu unterbrechen vermocht hatte, ganz auf sich gezogen.
 

„Hört mir zu, ich habe euch etwas Wichtiges mitzuteilen!“, rief er und zeigte mit einer Hand bedeutungsvoll auf sich selbst. „Ich, der einsame, verstoßene Hofnarr, der so oft von euch übersehen und verlacht wurde, verfüge über Informationen, die jeden von euch interessieren dürften!“
 

„Wie wäre es dann, wenn du aufhören würdest zu schwafeln und mit der Sprache herausrückst?“, erwiderte Wache Nummer Eins, charmant wie immer. Fish seufzte.
 

„Also gut. Es wird euch vielleicht nicht gefallen, was ich jetzt sage, aber wir alle... wir gehören nicht hierher.“
 

Stille.
 

„Das sollen deine grandiosen Informationen gewesen sein?“, höhnte der Weiße Ritter. „Törichter Narr! Wir sind unschuldig. Natürlich gehören wir nicht hierher!“
 

„Ich meinte damit aber nicht diese Zelle“, korrigierte Fish den überheblichen Ritter. „Was ich meinte, war... nun... diese Welt.“
 

Wieder Stille. Als sich auch nach einer gefühlten Ewigkeit niemand dazu überwinden konnte, ein Wort zu sagen, nahm Fish dies als Anlass, die Gelegenheit, in der alle ihm zuhörten, zu nutzen und in aller Ruhe fortzufahren.
 

„Diese Welt – das Wunderland – ist in Wahrheit nicht unsere Welt. Jeder von euch, auch ich, lebte einmal in einer anderen Dimension... Wir wissen es nur nicht mehr, weil wir unsere Erinnerungen verloren haben. Das ist der Preis, den ein Mensch in Kauf nehmen muss, wenn er im Wunderland verweilt. Er verliert sein altes Selbst, nimmt eine neue Rolle ein und wird langsam... verrückt.“
 

„Das soll wohl ein Scherz sein!“, brachte das weiße Kaninchen hervor, als es seine Sprache wiedergefunden hatte, trat Fish mit einem ungesund geringen Abstand gegenüber und starrte ihn mit vor Wahnsinn triefenden Augen an. „Willst du mich beleidigen? Sehe ich aus, als wäre ich verrückt?! Du kannst jemand anderem Märchen erzählen... aber nicht mit mir!“
 

„Ich glaub', er hat Recht“, sagte eine raue Stimme, die aus der hinteren Ecke des Raumes kam. Alle wandten sich fassungslosen Blickes der Raupe zu. „Ich mein'... Wenn wir alles vergessen haben, Leute... woher sollen wir'n dann wissen, ob wir nich' echt mal wer anders war'n? Kann doch sein.“
 

„So ist es! Die Raupe hat es verstanden!“, stimmte Fish euphorisch zu und ging ein paar Schritte weiter in die Mitte des Raumes. „Wir sind nicht mehr die, die wir mal waren. Wir sind Teil dieser Welt geworden, und egal, wo wir ursprünglich einmal herkamen – das Wunderland braucht uns jetzt! Glaubt ihr wirklich, es gäbe hier weit und breit keine Frauen? Denkt nach! Was ist mit Alicia?“
 

„Alicia ist tot“, kam es von Wache Eins und Wache Zwei gleichzeitig. Fish grinste, als hätte er mit dieser Antwort gerechnet.
 

„Es stimmt, sie ist vor langer Zeit von uns gegangen. Doch, ob ihr es glaubt oder nicht, sie lebt wieder. Und sie ist mit uns in diesem Raum!“ Eine Art allgemeine Verständnislosigkeit ging durch die Runde, bei manchen ausgeprägter als bei anderen. „Ich weiß, es gibt Personen unter euch, die Alicia niemals kennengelernt haben. Ich selbst hatte leider nie die Ehre. Aber ihr seht anhand unserer beiden Wachen, dass es sie gegeben hat. Alicia, die dunkle Königin und Gemahlin des Herzkönigs...“ Er machte eine kurze Pause, dann sprach er weiter, ernster und nachdrücklicher als Alice es ihm zugetraut hätte. „Ihr müsst euch erinnern! Die Dinge waren nicht immer so wie sie jetzt sind... Wir wurden manipuliert! Und unser Angeklagter... Er trägt am wenigsten Schuld an all dem. Was glaubt ihr, warum er der Auserwählte ist? Er ist Alicia! Er ist die Wiedergeburt der dunklen Königin, und er ist hier, weil er unsere letzte Hoffnung ist...!“
 

„Moment... Ist das dein Ernst...?“
 

„Selbstverständlich ist das mein Ernst, Auserwählter! Ihr solltet das doch am besten wissen...!“, gab Fish, der sich anscheinend in Rage geredet hatte, voller Überzeugung zurück. Alice konnte sich nicht entscheiden, ob er sich über das Vertrauen, das der Narr ihm entgegenbrachte, freuen oder ob es ihn mehr beunruhigen sollte. Im Augenblick deutete sein Gefühl eher auf Letzteres.
 

„Ich glaube... ich muss mal kurz ein bisschen nachdenken“, sagte er, ging zurück zu der Stelle, an der er nach dem merkwürdigen Ortswechsel zu sich gekommen war, und ließ sich, an die Wand gelehnt, dort nieder, während Fish schon wieder dabei war, seine Rede zu halten, fast wie ein Politiker, der von dem Klang seiner eigenen Stimme nicht genug kriegen kann. Alice hörte es schon beinahe nicht mehr. Eigentlich konnte das Nachdenken auch noch etwas warten. Ausnahmsweise einmal an nichts zu denken erschien ihm momentan sinnvoller.
 

„Alles in Ordnung? Ihr seht aus, als könntet Ihr ein Plätzchen vertragen... Eure dunkle Majestät“, kicherte jemand nicht weit von ihm, der nur der Hutmacher sein konnte. Etwas irritiert sah er zu ihm herüber. Piepwuff hatte sich offenbar wieder neben ihm schlafengelegt, was ihn ein wenig erleichterte.
 

„Dich scheint das Ganze ja nicht sonderlich zu überraschen“, entgegnete er, während sein Blick an dem großen, quadratischen Plätzchen haftete, das der Meister der Backkunst in der Hand hielt und dessen Duft sogar den Geruch des Pfeifenrauchs in den Schatten stellte.
 

„Es gibt nichts, das mich noch überraschen könnte“, antwortete der Hutmacher, streckte ihm das sonderbare Gebäck entgegen und lächelte füchsisch. „Willst du oder willst du nicht? Ich wäre sehr enttäuscht, wenn du ablehnen würdest.“
 

„Mir bleibt ja nichts anderes übrig, oder?“, erwiderte Alice, nahm das eigentümliche Geschenk der Höflichkeit halber an und begutachtete es kritisch, bevor er sich dazu zwang, ein Stück zu probieren – schließlich konnte er sich noch gut an das letzte Mal erinnern, als der Hutmacher ihm eines seiner selbsterschaffenen Teufelsplätzchen angedreht hatte. Allerdings schmeckte es entgegen seiner Erwartung gar nicht schlecht. „Das ist gut. Du hast dir wohl diesmal zu Herzen genommen, dass Putzmittel nicht in den Teig gehört, was?“
 

„Oh, das ist aber nicht nett von Euch, Eure dunkle Majestät“, schmollte der Hutmacher gespielt beleidigt. „All meine Kreationen entstehen aus Herzblut und Leidenschaft!“
 

'Herzblut' ist hoffentlich nicht wörtlich zu nehmen, dachte Alice, doch es sollte vorerst der letzte Gedanke sein, den er an den Steven Tyler-Verschnitt und dessen Backkunst verschwendete. Denn ehe er sich ausführlicher damit beschäftigen konnte wurde das Bild vor seinen Augen verschwommen, die Stimmen sowie die gesamte Kulisse um ihn herum verblassten und für eine scheinbar zeitlose Weile fühlte es sich so an, als würde er in einer Art Leere schweben, die nur er selbst registrierte. Dann, ganz langsam, setzte sich das Bild vor ihm neu zusammen, fast wie in einem Traum, den er bewusst wahrnahm, aber nicht steuern konnte. Es war ein vertrautes Bild. Düster. Farblos. Nur eine einzige Lichtquelle war schwach in der Ferne zu erkennen. Ein Spiegel.
 


 

Ich bin auf der Kehrseite?
 

Obwohl er nicht wusste, was er hier verloren hatte, ging er instinktiv auf das Licht spendende Spiegelglas zu – zumindest sein Traum-Selbst tat das – und schritt hindurch, so wie er es zuvor schon einmal getan hatte. Jedoch war es nicht Marilyns Gemach, auf dem er sich nun wiederfand, sondern eine grüne Wiese unter einem morgendlichen Himmel, hell erstrahlend im warmen Sonnenschein und friedlich wie eine Illustration aus einem Kinderbuch.
 

„Eure Hoheit!“, hörte er jemanden rufen, der sich recht zügig zu nähern schien. Es klang wie...
 

„Kittylein!“
 

Was zum...?!, dachte er, als sein Traum-Selbst sich zu der Person umdrehte, die ihn angesprochen hatte, und sie munter begrüßte – mit einer Stimme, die viel zu hoch war, um seine eigene zu sein. Es war eindeutig die Stimme einer Frau.
 

„Der König wünscht, Euch zu sehen“, sagte Kittylein, das übliche kuriose Grinsen im Gesicht, und verschwand genauso schnell wie er aufgetaucht war irgendwo im Nirvana, ehe er selbst mit den Worten „Ich werde sofort bei ihm sein“ in die Richtung lief, aus der The Catman eben gekommen war. Ein Blick nach unten verriet ihm allerdings, dass er sich nicht auf dem Weg zum Schloss befand sondern an der Klippe, so knapp von dem erschreckenden Abgrund getrennt, dass ihm kurz der Atem stockte, als er in die Tiefe sah. Scheinbar ruhig stand er dort, vor dem gigantischen Ausblick, reglos, und genoss die Sicht auf den nicht existenten Horizont inmitten der leuchtenden Atmosphäre, bis er plötzlich eine kalte Hand auf seinem Rücken spürte, die ihn völlig überraschend in das unendliche Nichts stieß, nach unten, wo es keinen Boden gab und rein gar nichts, das ihn auffangen würde, wenn er gefallen war. Stattdessen bemerkte er irgendwann etwas anderes. Er wurde von jemandem gehalten... und er fiel auch nicht mehr.
 

„Sei vorsichtig“, sagte eine Stimme, die er auch auf zehn Meter Entfernung erkannt hätte, in einem beinahe beängstigend sanften Tonfall. „Das ist gefährlich. Geh da nicht so nah ran, Alicia.“
 

Marilyn, gehüllt in ein edles dunkelrotes Gewand, das ihn wie einen androgynen König aus der Gruft erscheinen ließ, stand ihm mit mahnendem Blick gegenüber, etwas abseits der Klippe, die er wenige Sekunden zuvor noch geglaubt hatte, herunterzufallen, und hielt ihn zurück. Offenbar hatte sich die Szene binnen dieser Sekunden schon wieder verändert, denn im Gegensatz zu vorher war es jetzt Nacht.
 

„Und wenn doch?“, hörte er sich selbst herausfordernd mit Alicias Stimme antworten. Was auch immer sie damit andeuten wollte.
 

„Wenn doch...“, erwiderte Marilyn weniger sanft und auf eine Art, die Schlimmes vermuten ließ, „... dann muss ich wohl annehmen, dass du eine äußerst... ungezogene Königin bist.“
 

„Ja, richtig. Das bin ich.“
 

Nein, bist du nicht!, rief er gedanklich, doch das schien sein Traum-Selbst nicht im Geringsten zu interessieren.
 

„Ich bin eine sehr, sehr unartige Königin. Ich glaube, ich muss mal wieder besonders streng zurechtgewiesen werden.“
 

„Hm... Stille Wasser sind tief, nicht wahr?“, grinste Marilyn und musterte ihn auf eine Art, die noch Schlimmeres vermuten ließ, während Alicia irgendetwas mit ihrem Kleid anstellte – sie schien ein paar Knöpfe zu öffnen –, sich langsam, ein paar Schritte weiter von der Klippe entfernt, auf den Boden begab und...
 


 

„Große Güte...! Ich hab's ja kapiert! Mach das weg!!“
 

Stille. Der Hutmacher saß zusammen mit seinem Köter und umgeben von einer Schicht aus bunten Rauchschwaden, die dem kleinen grauen Raum inzwischen einen Hauch von Behaglichkeit verliehen hatten, noch immer dort und blickte überaus amüsiert zu ihm herüber, während die Raupe sich mit dezent besorgter Miene zu ihm vorlehnte.
 

„Alles klar, Kumpel? Du siehs' irgendwie so rot aus“, sagte sie, nachdem sie einige rote Wölkchen ausgepustet hatte. Alice nahm einen tiefen Atemzug und versuchte, sich selbst in Einklang mit den Wölkchen zu bringen, um eine ausgeglichene und sachliche Antwort darauf zu geben.
 

„Wer hat dich denn gefragt?!“ Der Versuch war wohl gescheitert. „Du...!“, zischte er und zeigte auf den Hutmacher. „Was zum verdammten Henker war denn das bitte gerade?!“
 

„Was? Ich weiß nicht, wovon du redest“, kicherte sein Gegenüber merklich unterhalten und deutete auf das gemusterte Bündel, das zu seiner Linken auf dem Boden lag und wahrscheinlich noch mehr von diesem Teufelszeug enthielt. „Ich experimentiere eben ab und an gerne mit ein paar Zutaten und brauche jemanden, der meine Kreationen für mich testet... und du erscheinst mir nun mal sehr offen, mein werter Freund!“
 

„Willst du mich auf den Arm nehmen? Was sollen das für Zutaten sein, von denen man solche Sachen halluziniert?! Das war nicht mal... ich meine... Das war, als hätte ich Erinnerungen aus... meinem früheren Leben geträumt, oder so...“
 

„Tatsächlich? Was denn für Erinnerungen?“
 

„Schwer zu erklären... Irgendwelche wirren Fetzen. Bruchstücke aus Alicias Alltag, würde ich sagen... Aber das hat sich dauernd verändert und- Ich will da nicht näher drauf eingehen!“, sagte er entschieden, drückte dem Hutmacher das halbe Plätzchen in die Hand, das er noch immer festgehalten und beinahe zerquetscht hatte, und stand auf, um irgendetwas anderes zu tun als sinnlos in der Gegend herumzusitzen. „Du kannst dir zukünftig ein anderes Versuchskaninchen suchen! Wie wär's mit dem Märzhasen, da kann eh nichts mehr schiefgehen...!“
 

Ohne eine Antwort des wahnsinnigen Hobbybäckers abzuwarten drängte er sich an seinen hauptsächlich verwirrt dreinschauenden Mit-Insassen vorbei, kein wirkliches Ziel vor Augen, als absolut unerwartet mit einem lauten Knarzen der Haupteingang aufschwang und, bevor irgendjemand auch nur ansatzweise verstehen konnte, was gerade geschah, eine weitere Person zu ihnen in die Zelle geschubst wurde, zu schnell, um denjenigen hinter der schweren Tür zu erkennen, der diese sofort mit rapider Geschwindigkeit zukrachen ließ, nachdem er sein Werk verrichtet hatte. Starr blickte Alice zu dem Haupteingang herüber, der sich innerhalb kürzester Zeit geöffnet und wieder geschlossen hatte, ohne dass es überhaupt richtig zu realisieren gewesen war. Dann sah er zu Boden; dorthin, wo ihr neuer Geselle bei dem Sturz ziemlich unsanft gelandet war und nun verstört zu ihm aufschaute, während er mühevoll wieder auf die Beine kam.
 

„M-Majestät! Was, äh, was macht Ihr denn hier...?“, brachte er vollkommen verwirrt hervor, als Marilyn sich ungewohnt hektisch umsah, einen flüchtigen Blick auf die verschlossene Tür hinter sich warf und sich ihm und den anderen dann erneut mit einem seltsam nervösen Ausdruck zuwandte.
 

„Floyd...!“, sagte er aufgebracht. „General Floyd ist in Gefahr... Nein, wir alle sind in Gefahr!“

Kapitel 11 - Schachfiguren

Einen Moment lang war es totenstill in der Zelle. Im nächsten Augenblick war der reinste Aufruhr ausgebrochen – was allerdings kaum einen Unterschied zu vorher darstellte, dachte Alice für sich. Immerhin konnte man von der Truppe, mit der er hier unten gefangen war, nicht erwarten, sich für länger als zwei Minuten am Stück ruhig zu verhalten. Er musste jedoch zugeben, dass er die Panik der anderen verstehen konnte. Waren sie eben noch in dem Glauben gewesen, von der Herzkönigin persönlich auf magische Art hierher verfrachtet worden zu sein, so stand Selbige auf einmal mitten unter ihnen, schien genauso wenig verantwortlich für das Ganze zu sein wie sie alle und teilte ihnen nun auch noch mit, dass sie in Gefahr waren. Sie und der General.
 

„Majestät!“, hörte er Ozzy mit besorgter Stimme rufen und sah, wie er zu seiner Königin stürmte, als wäre er der Einzige in diesem Raum, den die Sache beschäftigte. „Seid Ihr in Ordnung? Was ist passiert?“
 

„Ich bin okay“, antwortete Marilyn, offenbar bemüht, die Ruhe zu bewahren. „Aber wenn wir nichts tun und länger im Kerker bleiben, dann... Wir müssen sofort hier raus!“
 

„Wir kommen hier nicht raus, Majestät!“, erklärte Wache Nummer Zwei, ebenfalls so beherrscht wie nur möglich. „Der Notausgang ist verschlossen... und der Haupteingang doch auch, oder nicht?“
 

„Meine liebe Wache... Du arbeitest nun schon so lange für mich und müsstest doch eigentlich wissen, dass es für mich eine Kleinigkeit ist, sämtliche Eingänge und Ausgänge mit meiner reinen Gedankenkraft sowohl zu schließen als auch zu öffnen“, gab Marilyn auf seine typische überhebliche Art zurück. Alice war zum ersten Mal froh darüber, diese Überheblichkeit bei ihm zu hören. Er klang wieder ganz wie die Herzkönigin, die er kennengelernt hatte. „Das Problem ist nicht, wie wir herauskommen... Er hat mich nicht hier eingesperrt, um mich auf lange Sicht loszuwerden, sondern bloß, um ein wenig Zeit zu gewinnen, weil er irgendetwas plant! Das heißt, wenn wir jetzt einfach alle durch die Tür zurück nach oben laufen, gehen wir ihm mit großer Wahrscheinlichkeit in die Falle...“
 

„Wer ist 'er'?“, fragte Alice wie automatisch. Marilyn sah ihn betroffen an, so als hätte er ihn eben an etwas furchtbar Tragisches erinnert.
 

„Das... würde jetzt zu weit führen“, war alles, was er zur Antwort gab. Dann sagte er eine Weile lang nichts, bis er mit plötzlicher Entschlossenheit an seine Untergebenen gewandt fortfuhr. „Passt auf! Ihr werdet nacheinander den Notausgang benutzen, und wenn ihr alle im Garten seid, werdet ihr gemeinsam den Hof verlassen und euch in den anderen Teil des Wunderlandes begeben! Ich nehme an, er geht davon aus, dass wir den einfacheren Weg durch die Tür nehmen, daher seid ihr auf der sichereren Seite, wenn ihr durch den Garten geht. Ich werde derweil den Weg durch den Haupteingang nehmen und mich um alles weitere kümmern.“
 

„Aber Majestät...!“, vernahm er die entsetzten Stimmen einiger Bediensteter. Marilyn lächelte schwach.
 

„Macht euch um mich keine Sorgen. Ihr wart mir immer treu ergeben und habt meine Launen ertragen, als wäre es selbstverständlich. Jetzt ist es an der Zeit, mich dafür zu revanchieren und mich meiner Pflicht alleine zu stellen. Als... Königin ist es meine Aufgabe, mein Volk zu beschützen.“ Er machte eine Geste in Richtung Notausgang – vermutlich, um ihn zu entriegeln –, und dann eine weitere in Richtung des Märzhasen, sodass dieser kurz darauf von seinen Fesseln befreit war. „Los, worauf wartet ihr? Verschwindet von hier und verhaltet euch unauffällig... sofern ihr das hinbekommt!“
 

Ein letztes Mal warfen sie einen bewundernden Blick auf ihre selbstlose Herrscherin, bevor sie sich in einem dichten Gedränge vor der Geheimtür versammelten, angeführt von Fish, der die Klappe öffnete und sich offensichtlich Mühe gab, etwas Ordnung in die Gruppe zu bringen, während sie sich langsam daran machten, einer nach dem anderen durch den engen Gang zu kriechen. Marilyn wartete einen Moment ab, dann ging er, wie er es bereits angekündigt hatte, auf den Haupteingang zu. Alice zögerte nicht, ihm zu folgen.
 

„Wartet!“, sagte er entschieden. Marilyn drehte sich fragend zu ihm um. „Ich... ich werde mit Euch kommen!“
 

„Nein, Alice...! Tu, was ich gesagt habe, und geh mit den anderen! Du weißt ja nicht, in welche Gefahr du dich begibst...“
 

„Das ist mir egal! Ich bin schließlich nicht hier, um mich zu verstecken und dabei zuzusehen, wie irgendjemand im Schloss aufkreuzt und alles zerstört... Auf keinen Fall werde ich Euch alleine lassen!“
 

Scheinbar überrascht blickte die Königin ihn an, dann nickte sie ihm lächelnd zu.
 

„Gut. Wenn das so ist...“, entgegnete sie, während sie mit einem Fingerschnippen die Blockade des Haupteingangs löste, „... werden wir das zusammen regeln! Genauso wie... früher.“
 

Dem hatte er nichts mehr entgegenzusetzen.
 

Langsam und so lautlos sie konnten die Kellertreppe hinaufsteigend drängte sich Alice immer mehr die Frage auf, was genau eigentlich wirklich passiert war, seit er auf dem Rücken der Kriegs-Sau den in sein Theaterstück vertieften Fish ausfindig gemacht und zurück zum Schloss gebracht hatte. Er hatte es sich nicht eingebildet, dass Marilyn plötzlich wie von Sinnen gewesen war. Der Narr und Wache Nummer Eins hatten es ebenfalls bemerkt, und sicherlich war es noch manch anderem aufgefallen – wenn auch vielleicht nicht jedem von ihnen, so wie er die verzerrte Wahrnehmung seiner Mit-Freaks bisher erlebt hatte. Dass der Märzhase irgendwelche gewöhnlichen oder ungewöhnlichen Verhaltensweisen seiner Königin voneinander unterscheiden konnte wagte er zu bezweifeln.
 

„... Eure Hoheit?“, sagte er leise und kam sich gleich darauf komisch vor, als Marilyn stehen blieb und ihn anschaute, weil er selbst nicht wusste, wie er seine Gedanken formulieren sollte. „Vorhin... da wart Ihr ganz schön unheimlich. Ihr habt mich wie einen Schwerverbrecher behandelt und kamt mir vor, als hättet Ihr irgendwie... nicht alle Latten am Zaun, um es mal nett auszudrücken. Wisst Ihr das noch? Oder war das jemand anders, der Eure Rolle eingenommen hat? Ich blicke gerade nicht mehr ganz durch, wenn ich ehrlich bin...“
 

Zunächst einen fast schockierten Eindruck erweckend wandte sich Marilyn kurz darauf um und schlich die Stufen weiter empor, umgeben von der bedrückenden Dunkelheit des Raumes und der noch bedrückenderen Ungewissheit, was sie oben erwartete.
 

„Ich habe jetzt keine Zeit, dir das zu erklären“, flüsterte er, ohne ihn anzusehen. „Aber ich verspreche dir, dass du es früh genug erfahren wirst. Sehr früh vermutlich.“
 

'Sehr früh', dachte Alice ironisch. Mir kommt es vor, als würde man mich schon seit einer Ewigkeit im Unklaren darüber lassen, was hier eigentlich vor sich geht.
 

Im Erdgeschoss angekommen standen sie einen endlos scheinenden Augenblick lang vor der Tür, die in die Empfangshalle führte, schweigend, so als würden sie auf irgendein Zeichen warten, das ihnen verriet, ob sie hineingehen oder besser draußen bleiben sollten. Von drinnen war nichts zu hören. Es war so still, dass es ihm schwer fiel zu glauben, dass sich überhaupt jemand in der Halle aufhielt. Irgendwann berührte Marilyn, scheinbar geistesabwesend, mit einer Hand die Klinke, ganz leicht nur, ehe er die Tür mit einem Mal aufstieß, in den großen, vertrauten Saal trat und mit einem schwer zu deutenden Blick die einsame Gestalt fixierte, die an dem schwarzen Tor lehnte und nichts weiter tat, als seinen Blick starr zu erwidern. General Floyd.
 

„Marilyn!“, rief er von dort hinten aus; es klang seltsam erfreut. „Oh, und... Alice hast du auch mitgebracht! Wie wundervoll, euch beide zu sehen!“
 

„Spar dir das!“, gab Marilyn wütend zurück. „Was auch immer du vorhast – wir sind hier, um deinen schrecklichen Taten ein Ende zu setzen! Ich habe dir wohl nicht mehr gereicht, was? Jetzt muss Floyd als Opfer herhalten, mit dem du deine grausamen Spielchen treiben kannst...?“
 

„Moment... Ist das dahinten denn nicht General Floyd?“, fragte Alice, obwohl er das vage Gefühl hatte, die Antwort bereits zu kennen. Die Gestalt vor dem Schlosstor lachte düster.
 

„Schau mich an! Sehe ich etwa nicht aus wie General Floyd?“ Gemächlich machte er ein paar Schritte auf ihn zu – der Unbekannte, vor dem selbst die Herzkönigin sich zu fürchten schien und der dem General äußerlich vollkommen glich. Bloß hatte Alice ihn bisher nie derart überschwänglich erlebt. „Ich verrate dir etwas, mein Junge: Ich bin jeder. Alles und jeder. Ich bin sowohl die ehrenwerte Herzkönigin als auch das kleine, irre Kaninchen mit dem Zwang, andauernd auf seine kostbare Uhr schauen zu müssen... und sogar du, Alice, sogar du bin ich – ob du es glaubst oder nicht. Jetzt, in dieser Minute, bin ich eben ein verbitterter General, der sich durch seine hübsche Uniform definiert. Und dadurch, anderen die Schuld für Dinge zuzuweisen, die er sich selbst nicht erklären kann. Eine interessante Person, dieser General Floyd.“
 

Alice verspürte den Drang, zurückzuweichen, als sein Gegenüber ihn mit einem eisigen Blick durchbohrte, dessen Kälte nahezu die Luft gefrieren zu lassen schien. Er kannte diesen Blick, und er kannte auch diese wichtigtuerische Sprechweise. Selbst die ausholenden Gesten waren ihm alles andere als fremd.
 

„Nein... Sie sind es!“, entfuhr es ihm, als ihm schlagartig klar wurde, wen er da vor sich hatte. Marilyn sah ihn erschrocken an.
 

„Du kennst dieses... dieses Ungetüm?“ Es sah aus, als würde er noch bleicher werden als er es ohnehin schon von Natur aus war. „Warum hast du mir das nicht eher gesagt...?“
 

„Haha... Arme, arme Königin“, lachte das Geschöpf, das sich als General Floyd ausgab, abermals. „Wenn du die Situation nicht unter Kontrolle hast, bist du nicht mehr so mächtig, was? Schade eigentlich. Ich hätte so viel Spaß mit dir haben können, wäre nicht dein herzerweichend aufopferungsvoller Auserwählter mit seinem Sonnenaufgangs-Gerede dazwischengekommen und hätte die große, starke Königin auf peinlichste Art verweichlicht. Ein Jammer, das mit euch beiden. Ich hätte wirklich mehr von euch erwartet.“ Alice wollte etwas sagen, jedoch musste er bedauerlicherweise feststellen, dass ihm ausnahmsweise die Worte fehlten. Marilyn schien es ähnlich zu gehen. Mit einem spöttischen Grinsen drehte der falsche General sich um, langsamen Schrittes auf die Mitte des Raumes zugehend. „Offensichtlich habt ihr euch gegen mich verbündet anstatt den weiseren Pfad einzuschlagen und euch mir anzuschließen. Wisst ihr, was mir an diesem Floyd am meisten gefällt? Seine kleine, schwarze Seele, die ich mir selbst im Schlaf mühelos zu Eigen machen könnte. Da ihr beide stur genug seid, euch mir entgegenzustellen, bleibt mir leider nur eine Möglichkeit, mit euch zu verfahren – ich werde euch wohl oder übel aus dem Weg räumen müssen.“
 

Ehe einer von ihnen etwas dagegen hätte tun können öffneten sich mit einem von ihrem Feind gerufenen „Ihr könnt rauskommen!“ sämtliche Türen im Saal, dunkle Schatten kamen zum Vorschein... und was er dann sah, brachte ihn endgültig aus der Fassung, die er sich bis eben noch mühsam versucht hatte zu bewahren.
 

„Unmöglich... Das kann nicht sein...!“, brachte Marilyn ebenso entgeistert hervor, als er scheinbar versuchte, den Anblick, der sich ihnen nun bot, zu verarbeiten. Alice hatte das Gefühl, absolut nichts mehr zu verstehen. Ausgerechnet das, was er am wenigsten erwartet hatte, war auf einmal überall um ihn herum und näherte sich in schleichender Geschwindigkeit, wie eine leise Bedrohung, die ihr wahres Ausmaß an Bösartigkeit erst entfaltet, wenn man nicht damit rechnet.
 

Frauen.
 

Wo man auch hinsah waren plötzlich Frauen – und sie wirkten nicht gerade wie die Sorte, mit denen man gerne ein Kaffeekränzchen halten würde.
 

„Wenn ihr euch jetzt sehen könntet...!“, kicherte der General, offenbar bester Laune. Seine augenscheinlichen Dienerinnen taten es ihm gleich. „Hach, welch eine Überraschung. Das wundersame Wunderland ohne auch nur eine einzige Frau, was? Jetzt sieht die Sache doch schon wesentlich anders aus, nicht wahr... Alice?“
 

„Wo kommen die auf einmal alle her? Und was haben Sie mit ihnen gemacht?!“
 

„Ich? Ach, Junge... Wie naiv du doch bist. Vielleicht solltest du lieber einmal deine großartige Herzkönigin danach fragen“, gab der Andere mit einem wissenden Lächeln zurück. Marilyn blickte verständnislos auf.
 

„Was soll das heißen? Ich habe damit nichts zu- oder doch...?“ Als würde er krampfhaft versuchen, seine Gedanken zu ordnen, sah er starr zu Boden und bekam einen entsetzten Blick, als er etwas zu begreifen schien. „Sag bitte nicht, dass ich... Diese Szenen im Kerker... das waren keine Träume? Ich war wirklich...“
 

„Oh ja, Marilyn. Das warst du wirklich“, sagte der General gespielt mitleidig dazwischen. „All das, was dir – und, nicht zu vergessen, deinem heroischen, kleinen Freund hier – gerade so bitter zum Verhängnis wird, liegt in deiner eigenen Verantwortung. Du wolltest es so, die ganze Zeit über. Und jetzt wagst du es tatsächlich, den Rebellen zu spielen und etwas gegen mich ausrichten zu wollen?Dass ich nicht lache...! Ihr seid umzingelt!“
 

Mit einem Pokerface, das Alice – in seiner derzeitigen Lage äußerst unpassenderweise – an das Kartenspiel denken ließ, das sie beide gegeneinander ausgetragen hatten, schaute Marilyn sich im Saal um; dann grinste er ganz leicht.
 

„Umzingelt...“, sagte er ruhig, „... wären wir dann, wenn sie auch hinter uns wären.“
 

Bevor auch nur einer von ihnen hätte blinzeln können hatte Marilyn sich bereits mit den Worten „Komm mit, schnell!“ seinen Arm gegriffen, die Tür, vor der sie bis eben gestanden hatten, ein Stück weiter aufgestoßen und war losgerannt, die Treppe, die sie vor Kurzem erst hinaufgegangen waren, wieder nach unten hetzend und so rasch zurück in der Zelle, dass er sich fragte, ob die Dinge dazwischen wirklich geschehen waren. Genauso wie er den Haupteingang zuvor geöffnet hatte, hatte Marilyn ihn nun mithilfe seiner praktischen Allzweck-Fähigkeiten verschlossen, sodass der Wahnsinnige und sein zwielichtiges Gefolge weiblicher Zombies – zumindest war das der Anschein, den sie erweckten – ihnen nicht hinterherlaufen konnte. Unter normalen Umständen hätte er es vermutlich als beunruhigend empfunden, alleine mit der Königin im Kerker eingesperrt zu sein. Doch im Moment gab es Faktoren, die ihn weitaus mehr beunruhigten als das.
 

Von der beeindruckenden Beherrschung, die Marilyn vor wenigen Augenblicken so überzeugend vorgetäuscht hatte, war nichts mehr zu merken, als er sich mitten im Raum auf den Boden sinken ließ, einige Sekungen lang schweigend dort verweilte und sich anschließend wieder erhob, nur um konfus hin- und herzustapfen, als ob das irgendetwas zu der Lösung ihres Problems beitragen würde. Alice sah ihm so lange dabei zu, bis es ihn zu nervös machte, um länger tatenlos in der Gegend herumzustehen und so zu tun, als sei alles bestens.
 

„Warum... Was ist hier verdammt nochmal los?“, platzte es ein wenig lauter aus ihm heraus, als er es vorgehabt hatte. „Ich wüsste langsam aber sicher wirklich gerne mal, was genau in Eurer verkorksten Welt eigentlich abgeht. Vielleicht bin ich ja zu blöd, aber ich verstehe überhaupt nichts mehr! Und außerdem habe ich die Schnauze voll von dieser miefigen Zelle...! Was soll das bringen, dass wir jetzt schon wieder hier sind?!“
 

„Das war eine Kurzschlussreaktion!“, motzte Marilyn nicht unbedingt leiser zurück. „Was hätte ich denn deiner Meinung nach machen sollen? Hier sind wir wenigstens vorübergehend sicher...“
 

„Na toll...! 'Vorübergehend sicher', das klingt ja vielversprechend. Wenn Ihr so mächtig seid und alles könnt, warum räumt Ihr dann nicht einfach mit dem Typen auf und bringt die Sache wieder in Ordnung anstatt feige davonzulaufen und Euch in diesem vollgequalmten Kellerloch zu verkriechen?“
 

„Hör zu, Alice“, begann Marilyn, mit einem Lächeln, das an Zynismus nicht zu überbieten war. „Dass ich mächtig bin und vieles kann steht außer Frage. Aber leider kann ich nicht alles. Und wenn jemand mein eigenes Volk gegen mich aufhetzt, bin selbst ich so gut wie machtlos.“
 

„Euer eigenes Volk?“ Er dachte an die finster verzerrten Gesichtszüge der Frauen, die wie willenlose Sklaven auf das Wort ihres Meisters reagiert hatten, als dieser sie zu sich gerufen hatte. Alice hätte schwören können, dass er einige von ihnen sogar schon einmal an einem anderen Ort gesehen hatte. „Wenn diese Zombie-Bräute zu Eurem Volk gehören... wo waren sie dann vorher die ganze Zeit über? Und warum hat dieser Kerl sie dermaßen unter Kontrolle? Zum Teufel, wer ist er überhaupt?!“
 

„Kannst du nicht wenigstens versuchen, dich zu beruhigen?“, seufzte Marilyn hörbar entnervt. „Herrje... Hysterisch wie sonstwas. Ich kenne das noch von Alicia. Einmal im Monat musste ich mir solche Anfälle auch von ihr anhören.“
 

„Tut mir leid...“, sagte er und meinte es sogar ernst, musste sich jedoch zurückhalten, als ihm einleuchtete, was Marilyn mit seiner Aussage eigentlich gemeint hatte. „Nichtsdestotrotz... müsst Ihr doch verstehen, dass ich Euch nicht helfen kann, wenn ich nicht einmal weiß, worum es wirklich geht. Also bitte... sagt mir, was Ihr wisst! Dieser Irre, der sich als General Floyd ausgibt... das ist doch der Showmaster, oder?“
 

„Showmaster? Hat er dir das gesagt?“, fragte Marilyn, wobei er seine Stimme etwas dämpfte. Alice nickte zustimmend. „Nun... Ich kenne ihn unter einem anderen Namen. 'Mr. Price' hat er sich damals genannt. Meine liebe Frau, Alicia... Sie brachte ihn vor langer Zeit hierher. Tausendmal habe ich ihr erklärt, dass es nur Ärger bringt, Menschen aus anderen Dimensionen zu uns zu holen... aber das ist eine andere Geschichte. Dieser Mr. Price jedenfalls... Ich habe ihm nie über den Weg getraut! Umso weniger habe ich verstanden, weshalb sie so fasziniert von ihm war. Ich habe immer gedacht, er wolle sie mir wegnehmen. Jetzt denke ich, dass er derjenige war, der sie in den Wahnsinn getrieben hat. Zwar ist sie schon immer eine komplizierte Person gewesen, die manchmal seltsame Einfälle hatte... aber niemals hätte sie sich umgebracht, wenn er nicht einen solchen Einfluss auf sie ausgeübt hätte! Da bin ich mir sicher...“
 

„Sich umgebracht... aber dann...“
 

Erneut fielen ihm die Bilder seines Traumes ein, den das eigenartige Plätzchen des Hutmachers bei ihm hervorgerufen hatte und in dem es nicht so sehr nach Selbstmord ausgesehen hatte wie Marilyn es darstellte. Die Frage war nur, wie viel Wahrheit wirklich in diesen Bildern gesteckt hatte. Waren es tatsächlich Erinnerungen gewesen? Oder nicht doch bloß zusammenhangslose Halluzinationen, ausgelöst durch irgendwelche bewusstseinserweiternden Backzutaten und seinen eigenen mittlerweile doch recht in Mitleidenschaft gezogenen Geisteszustand?
 

„Was ist los? Woran denkst du?“, fragte Marilyn mit einem skeptischen Unterton. Alice versuchte, ihn nicht anzusehen.
 

„An gar nichts“, erwiderte er knapp. Warum musste ihm bloß schon wieder dieses Szenario einfallen, das sich zwischen dem Herzkönig und seiner so unartigen Gemahlin abgespielt hatte? „Ihr, ähm... Ihr wisst aber doch jetzt, dass ich... Himmel, wie soll ich das sagen, ohne dass es total falsch klingt...?“
 

„Keine Sorge, Alice. Ich kann mir denken, worauf du hinaus willst“, grinste Marilyn merklich amüsiert. „Ja, ich weiß, dass du meine Frau bist. Wir können ganz offen darüber sprechen, wenn du willst. Ist doch nichts dabei!“
 

„Fantastisch. Vielen Dank für die Subtilität. Vielleicht sollten wir lieber-“
 

„Shhh! Sei kurz ruhig... Ich glaube, ich habe etwas gehört!“
 

Mit plötzlich ernster Miene war Marilyn bereits auf den Haupteingang zugeschlichen, bevor Alice diesbezüglich weiter hätte nachfragen können. Einen Moment lang sagte keiner von ihnen ein Wort, während ihre Hoheit dicht an der Tür stand und lauschte. Es war vollkommen still.
 

„Ich höre nichts“, bemerkte er schulterzuckend. Zwei Sekunden später wurde die Zelle von einem beängstigenden Beben erschüttert, als von außen scheinbar nicht nur eine sondern gleich mehrere Personen, untermalt von kriegerischen Schreien, gegen den Eingang schlugen, so laut und heftig, als würden sie es voller Aggression und mit ganzem Körpereinsatz tun. Marilyn verzog entsetzt das Gesicht.
 

„Das sind die Frauen!“, zischte er und beeilte sich, möglichst zügig und lautlos zu ihm zurückzukommen.
 

„Sagt bloß!“, entgegnete Alice mit übertrieben erstauntem Blick. „Ich hätte gedacht, es wäre der General, der da alleine vor der Tür steht und solche Geräusche von sich gibt!“
 

„Sei nicht so fies...! Hat dir mein Frühstück heute morgen nicht geschmeckt, oder was passt dir nicht?“
 

„Was mir nicht passt? Hahaha... Ihr seid manchmal echt lustig, wisst Ihr?“ Ein widerlich schrilles Quietschen hallte durch den Raum, als die Wesen auf der anderen Seite damit aufgehört hatten, sich wie eine Horde Wildgewordener vor die Tür zu schmeißen, und stattdessen offenbar nun lieber über selbige kratzten wie ein paar eingesperrte Raubkatzen. Es war unerträglich. „Das hält man ja nicht aus... Wir sollten zusehen, dass wir hier rauskommen. Der Notausgang! Jetzt, wo sich die gesamte Truppe vor der Kellertür versammelt hat, sollte es draußen doch sicher sein, oder nicht?“
 

„Und dann?“, gab Marilyn gereizt zurück. „Wo sollen wir dann hin? Außerdem können wir nicht wissen, ob wirklich jede von ihnen dort hinten vor der Tür steht. Vielleicht haben sie sich aufgeteilt und dieser... Showmaster oder wie er sich auch nennt wartet mit der anderen Hälfte von ihnen bereits im Garten auf uns...!“
 

„Wir werden es aber nie herausfinden und sind mit Sicherheit auch nicht besser dran, wenn wir weiterhin hier drin- ... Moment. Haben sie aufgegeben? Es ist so ruhig geworden...“
 

Erneut verging eine Weile des Schweigens, während der sie beide – man könnte meinen, in Teamarbeit – konzentriert versuchten, irgendeinen Laut in der Stille auszumachen. Jedoch vergebens.
 

„Mir reicht's“, sagte Alice und ging, Marilyns versteinerten Blick ignorierend, selbst auf den Haupteingang zu. „Ich werde jetzt nachsehen.“
 

„Bist du lebensmüde?! Tu das nicht!“
 

„Macht keine Welle. Ich tue nichts anderes als das, was Ihr auch vorhin getan habt.“
 

„... Dann solltest du dich klarer ausdrücken. 'Nachsehen' bedeutet für meine Begriffe etwas anderes!“
 

„Hm. Ich höre immer noch nichts“, murmelte er, betrachtete eingehend die Tür, obwohl das vermutlich auch nicht sonderlich viel brachte, und beugte sich schließlich vorsichtig vor ihr auf den Boden herunter. „Vielleicht kann man durch den Spalt was erkennen...“
 

Kaum, dass er den Versuch gestartet hatte, irgendetwas herauszufinden, ertönte unmittelbar vor ihm der nächste gellende Schrei, der ihn blitzschnell aufschrecken ließ, bevor er überhaupt nur ansatzweise den Türspalt hatte begutachten können. Marilyn stand wie angewurzelt herum und gaffte ihn an.
 

„Okay. Wir werden definitiv diesen Keller verlassen. Jetzt sofort“, sagte Alice leise aber bestimmt, während er starr den Notausgang anpeilte – gepriesen sei derjenige, der ihn eingebaut hatte –, dessen unscheinbare Tür er schwungvoll aufklappte und dann auffordernden Blickes zu Marilyn sah. „Ladies first!“
 

„So?“, erwiderte dieser mit einem schmalen Grinsen. „Du lässt mir doch nur deshalb den Vortritt, weil du jetzt doch Angst hast, dass da oben etwas lauern könnte.“
 

„Ehrlich gesagt gehen meine Bedenken in eine andere Richtung, wenn ich in einem knappen Röckchen vor Euch auf dem Boden herumkrieche“, antwortete er und versuchte, das schreckliche Gefühl zu verdrängen, das ihn schlagartig überkam, weil der Ausdruck, mit dem Marilyn ihn im Vorbeigehen musterte, ihn viel zu sehr an diesen verstörenden Traum erinnerte.
 

„Welch schmutzige Fantasien du doch hast“, entgegnete die Königin so vergnügt wie man in ihrer derzeitigen Lage nur sein konnte. „Aber dafür ist jetzt nun wirklich keine Zeit.“
 

„... Ja. Wie dem auch sei. Jetzt macht schon, dass Ihr da reinkommt! ... In die Luke, meine ich!“
 

Mit einem vielsagenden Kichern tatsächlich seiner Aufforderung folgend beeilte sich Marilyn, den dunklen Gang als erstes zu passieren, während Alice sich vornahm, dringend an seinen Formulierungen zu arbeiten, ehe er sich ihm anschloss und die Klappe hinter sich so lautlos und trotzdem zügig wie möglich zu schließen versuchte. In der Tat blieb ihnen keine Zeit – und zwar für gar nichts, solange diese fauchenden Furien auf der anderen Seite der Kellertür warteten.
 

„Sieht so aus, als wären wir hier vorerst sicher“, bemerkte Marilyn, nachdem er das Ende der Leiter erreicht und durch den geheimen Ausgang den Schlossgarten betreten hatte, dicht gefolgt von Alice, der zur Hälfte versuchte, selbst einen Blick auf den Garten zu werfen, und zur anderen Hälfte mit einer Spinne beschäftigt war, die sich in seine Jacke verirrt hatte. „Du hattest Recht, Alice. Jetzt, wo wir nicht mehr in dieser stickigen Zelle sitzen, ist mir wesentlich wohler zumute.“
 

„Schön, dass Ihr das einseht. Ich habe... häufiger mal Recht“, gab er ein wenig abgehackt zurück, während er seine Kleidung nach dem ungewollten Besucher abtastete. „Allerdings bin ich mir... nicht sicher, ob mir gerade wirklich wohl zumute ist...“
 

„Oh, was hast du denn? Hunger? Kalt? Müde? Einsam?“ Interessiert drehte Marilyn sich zu ihm um und betrachtete ihn eingehend. „... Oder vielleicht doch etwas anderes, so wie du gerade an dir... herumwerkelst?“
 

„Da ist eine Spinne in meinen Klamotten“, erklärte er ruhig. Marilyn verzog das Gesicht und hatte es auf einmal sehr eilig, sich fünf Schritte von ihm zu entfernen.
 

„Da kann ich dir leider nicht helfen. Tut mir leid.“
 

„Es ist ja auch nicht so, als hätte ich Euch um Hilfe ge- agh! Dieses Viech will mich ärgern...! Mit voller Absicht!“
 

„Abstand halten, Alice...!“, mahnte Marilyn, der ein Stückchen vorausgegangen war, als Alice zu ihm aufschließen wollte, blieb dann jedoch abrupt stehen, sodass er stattdessen beinahe in ihn hineinstolperte.
 

„Was ist denn jetzt wieder...?“, wollte er gerade fragen, doch bevor er es aussprechen konnte sah er bereits den Grund für Marilyns plötzliche Verwirrung. Der Grund dafür stand mit ebenso verwirrten und erschrocken auf sie beide gerichteten Blicken in einer großen Ansammlung nur wenige Meter vor ihnen, an der Stelle, an der er selbst einige Stunden zuvor genächtigt hatte. „Was machen denn die alle hier? Sollten die nicht längst im anderen Teil des Wunderlandes sein?“
 

„Was fragst du mich das?“, zischte die Königin angespannt zurück, ehe sie auf die bunte Menschenmenge zutrat und jeden einzelnen ihrer Untergebenen mit einem vorwurfsvollen Blick strafte. „Warum um alles in der Welt seid ihr immer noch in meinem Garten? Habe ich euch nicht ausdrücklich befohlen, mein Anwesen zu verlassen, weil es hier zu gefährlich ist?“
 

„Pssst!“, machte der Hutmacher scharf an Marilyn gewandt, der ihn daraufhin vollkommen verständnislos ansah. „Eure Hoheit... Verzeiht meine Unhöflichkeit, aber dämpft Eure Stimme! Wir hatten selbstverständlich vor, Eurem klugen Befehl Folge zu leisten, aber es ist... etwas dazwischengekommen. Mittlerweile stehen wir hier schon seit bestimmt einer Viertelstunde stillschweigend herum und rühren uns nicht – und Ihr solltet Euch ein Beispiel daran nehmen.“
 

Bevor Alice sich darüber wundern konnte, wie sie denn bitteschön den Märzhasen zum Schweigen gebracht hatten, entdeckte er diesen auch schon neben dem Hutmacher mit improvisiert zusammengebundenen Händen und einem dunklen Streifen Klebeband über dem Mund. Warum die Steven Tyler-Kopie allerdings ganz alltäglich eine Rolle Klebeband mit sich herumtrug wollte er lieber gar nicht erst wissen.
 

„In Ordnung. Ich bin leise“, versprach Marilyn im Flüsterton. „Aber im Gegenzug erwarte ich eine Antwort von euch! Was ist hier los? Was ist euch dazwischengekommen?“
 

„Nun... das schaut Ihr Euch vielleicht lieber selbst an“, antwortete der Hutmacher und fügte, als Marilyn sich durch das Gedränge an ihm vorbeiquetschte, ein warnendes „Seid bloß vorsichtig!“ hinzu. Das weiße Kaninchen blickte mit weit aufgerissenen Augen abwechselnd ihrer Majestät hinterher, zu den anderen Freaks, von denen es umgeben war, herüber, und an sich herunter auf seine Westentasche, in der die goldene Uhr steckte, als müsse es all seine Beherrschung aufbringen, sie nicht herauszuholen und darauf zu gucken. Manchmal, wenn er seine innere Unruhe nicht in den Griff bekam, schien Hasi kurz vor einem Anfall zu stehen. Irgendwann, dachte Alice, würde er keine Kontrolle mehr haben und zu einem zerstörerischen Werkaninchen werden. Und dann würde der wahre Weltuntergang bevorstehen, ganz sicher.
 

„Worüber denkt Ihr nach, Eure dunkle Majestät?“, vernahm er erneut die Stimme des Hutmachers, der noch immer lässig dastand, als könnte ihn nichts aus der Ruhe bringen, und beiläufig Piepwuff den Kopf tätschelte, der angeleint vor ihm im Gras saß und alles andere als lässig wirkte. Alice rang sich ein freundliches Lächeln ab.
 

„Über nichts Besonderes“, sagte er. „Ich habe nur gerade festgestellt, dass jetzt der Punkt überschritten ist, an dem... auch ich verrückt geworden bin.“
 

Der Hutmacher lachte leise, dafür aber mit einem umso breiteren Grinsen.
 

„Oh, welch ausgesprochenes Glück für uns! Ein neuer Wahnsinniger in unseren Reihen ist immer ein Grund zur Freude!“
 

Da er ohnehin nichts darauf zu antworten gewusst hätte, war es ihm nur recht, dass Marilyn in diesem Moment zu ihm und der restlichen Truppe zurückkehrte, nachdem er sich an den Mauern des Schlosses vorbeigeschlichen und eine Weile lang augenscheinlich in Richtung des Heckenlabyrinthes geschaut hatte. Sein Blick war ausdruckslos, aber auf eine Art, die Alice nur allzu gut kannte. So sah er immer aus, wenn irgendetwas ihn überforderte.
 

„Das dahinten...“, sagte er und zeigte in die betreffende Richtung. „Ich nehme an, das ist der Grund, weshalb ihr noch immer hier seid?“
 

„Jawohl, Eure Majestät!“, gab einer der anderen ernst zur Antwort – Wache Nummer Eins. „Sie versperren uns den Weg. Wir wissen weder, wo sie plötzlich herkommen, noch, was wir jetzt tun sollen.“
 

Marilyn legte eine Hand an die Stirn und wirkte, als wäre er soeben schwer in Erklärungsnot geraten.
 

„Ich kann euch verraten, wo sie plötzlich herkommen“, fing er an und hatte sofort sämtliche Aufmerksamkeit auf seiner Seite. „Das ist die Hammer-Armee. Sie steht in meinem Dienste... zumindest sollte sie das tun. Ähm...“ Er schien nach den richtigen Worten zu suchen. „Einige von euch können sich doch sicher an die Karten-Armee erinnern, die ich vor langer Zeit einmal aufgestellt hatte...?“
 

Nur wenige seiner Untergebenen antworteten mit einem zustimmenden Nicken. Genauer gesagt nur die beiden Wachen.
 

„Nun, die dummen Karten stellten sich jedenfalls als unfähig heraus... deshalb habe ich sie durch die Hammer-Armee ersetzt – von der ich euch nichts erzählt habe, weil ich unnötige Fragen und eine mögliche Panik bei den Angsthasen unter euch vermeiden wollte. Sie wäre ohnehin nur in äußersten Notfällen zum Einsatz gekommen! Das Problem ist nur, dass die Armee... einzig und allein auf General Floyds Wort hört. Er ist ihr Anführer. Und er ist zurzeit nicht er selbst.“
 

Ein angeregtes Gemurmel ging durch die Runde und Marilyns Befürchtung bezüglich der Panik schien sich, sehr zu seinem Leidwesen, zu bestätigen. Alice kam sich ein wenig seltsam vor, weil er der Einzige war, der noch keinen Blick auf das besagte 'Problem' geworfen hatte.
 

„Beruhigt euch!“, befahl die Königin, offenbar so beherrscht sie nur konnte. „Die Situation mag aussichtslos erscheinen, aber in wilde Hektik zu verfallen hilft uns auch nicht weiter! Die Hämmer wirken vielleicht riesig und bedrohlich, ja, das gebe ich zu. Aber sie sind seelenlose Wesen und haben weder Augen noch sonstige Sinne, abgesehen von ihrer Fähigkeit, auf Stimmen und Geräusche zu reagieren. Außerdem sind sie ziemlich langsam. Also reißt euch bitte zusammen!“
 

„Ich habe genug gehört. Das gucke ich mir jetzt selbst an“, sagte Alice, ungeachtet der allgemeinen Hysterie an den anderen vorbeigehend, die ihm scheinbar mit gemischten Gefühlen hinterherschauten, und wagte sich gerade so weit in die Nähe des Labyrinthes, wie es nötig war, um sich einen lebendigen Eindruck zu verschaffen. Tatsächlich stand dort eine Reihe von Hämmern vor dem Durchgang. Gigantische, respekteinflößende Hämmer. Alice war sich nicht sicher, ob es ihre reine Größe war, die ihn im Augenblick sprachlos machte, oder eher der Gedanke daran, dass sie wirklich ein Eigenleben entwickeln und sich wie eine echte Armee verhalten könnten. Er fragte sich, wie es möglich war, etwas von solch monumentalen Ausmaßen über Jahre hinweg vor seinen Mitmenschen zu verstecken, kam jedoch zu dem Schluss, dass es hier ohnehin nichts gab, das unmöglich war.
 

„... Gut. Das ist in der Tat ein kleines Problem“, gab er den anderen flüsternd und mehr an sich selbst gerichtet Recht, während er sich langsam und bedächtig rückwärts von den feindlich gesinnten Werkzeugen entfernte – als ihm schlagartig bewusst wurde, dass der achtbeinige Geselle aus dem Kerker noch immer unter seiner Kleidung saß... und sich offenbar gerade dazu entschlossen hatte, mit rasanter Geschwindigkeit weiter nach unten zu wandern.
 

„... Yikes!!“, hörte er seine eigene Stimme, die eher einem Quietschen glich und viel zu laut durch den Garten hallte, sodass es vermutlich auch der letzte Nagel oder Schraubendreher in Floyds militärischem Werkzeugkasten mitbekommen hatte. Über seinen eigenen peinlichen Ausrutscher verärgert blieb er starr auf dem Rasen stehen.
 

Ruhe. Die Ruhe vor dem Sturm, dachte er, und er glaubte, eine minimale Bewegung bei dem ihm am nächsten stehenden Hammer zu erkennen, bevor sich auch die restlichen nun deutlich sichtbar nacheinander zu ihm umwandten. Mit dem Gedanken, diese verfluchte Spinne auf der Stelle zerstückeln und verbrennen zu wollen, vernahm er das Gejammer des Weißen Ritters hinter sich, das gleichermaßen entsetzt und vorwurfsvoll über den Platz schmetterte.
 

„Du Tor...!“, rief er, als die Armee schleppend damit anfing, sich in die Richtung zu bewegen, in der sie gemeinsam warteten. „Weißt du, was du da angerichtet hast?!“
 

„Ich... ähm...“, stammelte Alice, von ihm zurück zu den Riesenhämmern blickend und dann erneut zu Ritter Weiß und dem Rest der Truppe. „Anstatt mir die Schuld zuzuschieben solltet ihr euch lieber so schnell ihr könnt hier rüberschwingen und zusehen, dass ihr ins Schloss kommt! Wir haben keine andere Wahl... Lauft!!“
 

Ein allgemeines entgeistertes Starren schlug ihm entgegen. Marilyn war der Erste, der zögerlich aus der Menge hervortrat.
 

„Er hat Recht, wir können hier nicht länger herumstehen! Der... General ist der Einzige, der die Armee aufhalten kann, und er ist im Schloss. Also folgt mir, solange diese Dinger noch weit genug von uns weg sind!“
 

Glücklicherweise schienen sie auf ihre Königin zu hören. Jedenfalls rannten sie ihr nun, ohne weiter nachzuhaken, hinterher, direkt auf die stampfend näherkommenden Kriegshämmer zu, nur um gerade noch rechtzeitig die Kurve zu kriegen und – manche mehr, manche weniger panisch – durch das schwarze Tor zu stürmen, das Marilyn ihnen unverzüglich öffnete. Alice war bereits dabei, es ihnen gleichzutun, als er aus dem Augenwinkel die beiden Vollidioten bemerkte, die sich noch immer nicht vom Fleck gerührt hatten, weil sie vermutlich vor Schock versteinert waren, und regungslos an der Stelle standen, an der die gesamte Gruppe sich bis vor wenigen Sekunden aufgehalten hatte – der Weiße Ritter und das weiße Kaninchen. Selbstverständlich. Was hatte er auch von den beiden erwartet.
 

„Braucht ihr eine Extra-Einladung?! Bewegt euch!“, rief er, allmählich doch selbst von einer gewissen Hektik ergriffen, ehe er ein wenig erleichtert die herbeieilenden Schritte registrierte und kurz darauf Marilyn neben sich vorfand, der ihn flüchtig mit einem ernsten Blick bedachte.
 

„Kümmere du dich um den Ritter!“, sagte er schnell. „Ich werde das weiße Kaninchen hineinbringen.“
 

„Verstanden“, entgegnete Alice, bevor er Marilyns Aufforderung nachkam, der bereits vorgelaufen war und sich Hasis Arm gegriffen hatte, um den Mick Jagger-Verschnitt bis zum Schloss hinter sich herzuschleifen. Alice folgte ihm und knöpfte sich Ritter Bon Jovi vor.
 

„Hey...!“, plärrte dieser bereits los. „Was soll denn das?!“
 

„Von alleine bewegt Ihr Euch ja nicht! Wollt Ihr lieber von denen dahinten zertrampelt werden?“, gab er zurück, während er angestrengt versuchte, mit Hasis Tempo mitzuhalten, der sich offenbar wesentlich widerstandsloser von Queen Manson mitnehmen ließ als es bei seinem eigenen 'Partner' der Fall war.
 

„... Nein, das will ich natürlich nicht, aber... musst du denn so grob zupacken? Wann lernst du endlich, mich zu respektieren?!“
 

„Dann, wenn Ihr gelernt habt... Euch nicht so anzustellen“, antwortete Alice atemlos, als er es im allerletzten Moment geschafft hatte, der Hammer-Armee, die unaufhaltsam und lärmend das Gras plattwalzte, gemeinsam mit dem Weißen Ritter zu entkommen und die Empfangshalle zu erreichen. Nur am Rande bemerkte er die uniformierte Person, die im selben Augenblick, in dem er durch das Tor schritt, in die entgegengesetzte Richtung an ihm vorbeiging und sich in aller Seelenruhe auf der Schwelle zum Garten vor den monströsen Hämmern positionierte.
 

„STOPP!“, befahl der General, laut genug, dass jedes der Werkzeuge es verstehen konnte, und trotzdem so gelassen, dass es mehr als surreal wirkte. Die Tatsache, dass die gesamte Armee aufgrund eines einzigen von ihm ausgesprochenen Wortes auf der Stelle anhielt, als würde es sich bei ihr um eine Horde dressierter Hunde handeln, trug nicht gerade dazu bei, dass das Szenario einen realeren Anschein machte. Alice konnte seinen Blick kaum von dem grotesken Bild vor sich abwenden, doch das Schauspiel, das gleichzeitig in der Halle stattfand und nicht viel weniger absurd erschien, lenkte ihn mit einem Mal ab.
 

Die Frauen. Er hatte sie beinahe vergessen.
 

„Was... Wie kann das sein...?“, brachte einer der anderen völlig perplex hervor; wer von ihnen es war, hätte er jedoch nicht sagen können. Der Anblick der weiblichen Geschöpfe hatte sie ohne Zweifel sofort in ihren Bann gezogen. Alice konnte beobachten, wie der Reihe nach jedem von ihnen langsam eine Art Licht aufzugehen schien. Nun, dem einen oder anderen vielleicht auch nicht. Der Märzhase stand mit irre verzerrten Gesichtszügen stocksteif in der Menge, eine der Frauen auf eine Art fixierend, die an Wahnsinn vermutlich nicht zu übertreffen war, und fing urplötzlich damit an, unkontrolliert schnaufende Laute von sich zu geben, während er, ausladend mit den Armen fuchtelnd, immer wieder zum Hutmacher sah, welcher ihn mühsam und mit scheinbar eher mäßig aufkommender Erkenntnis zurückhalten musste.
 

„Mmmm-Hhmmhhh! Mmmhhmm-Hmmhhhh!!“, machte der Hase undeutlich durch das Klebeband hindurch. Alice hatte den Verdacht, dass es „Maaaryyy! Maaaaaryyyyy!!“ heißen sollte – und sein Verdacht bestätigte sich, als er sah, dass die junge Frau, die er so durchdringend anstarrte, ihm mit einem nicht besonders vertrauenerweckenden Lächeln zuwinkte.
 

Der Märzhase war allerdings nicht der Einzige, der jemanden in der Menge zu erkennen schien. Der Nächste, den er einen halb ungläubigen und zur anderen Hälfte beinahe schon verzückten Blick auf eine der weiblichen Personen werfen sah, war Wache Nummer Eins. Zum ersten Mal sah er so etwas wie Freude in seinen Zügen, während er leise etwas sagte, das sich auf die Entfernung wie „Lalena“ anhörte. Er schien wie geblendet von der Frau auf der anderen Seite des Raumes. Bei Marilyns restlichen Untergebenen sah es nicht wesentlich besser aus. Sie alle standen wie in Trance in dem großen Saal, berauscht von dem Anblick der zierlichen Kreaturen, die überall um sie herum lauerten wie gierige Raubtiere. Sie waren in der Überzahl, fiel es ihm jetzt auf. Die Dienerinnen des Showmasters waren in der Überzahl.
 

Mit einem köstlich amüsierten Grinsen schlenderte dieser, nachdem er das Tor wieder geschlossen hatte, an ihm vorbei, durch die Augen des Generals jedes Detail des sich hier abspielenden Dramas ganz genau verinnerlichend, um sich daran zu weiden, wie der niederträchtige Plan, den er anscheinend bereits seit Langem geschmiedet hatte, endlich aufging. Was auch immer dahintersteckte... Er wusste es nicht. Aber eines war ihm klar:
 

Das Phantom hatte nicht nur Marilyn benutzt und tat nun dasselbe mit General Floyd. Nein. Es benutzte jeden von ihnen, spielte mit ihnen wie mit Marionetten, und das Wunderland war seine persönliche Bühne.
 

Alice wollte etwas sagen, wollte die anderen warnen vor der Falle, in die sie gerade mit Sicherheit tappten, doch Marilyn kam ihm zuvor.
 

„Ihr... Ihr müsst euch beherrschen!“, rief er, offenbar nach den richtigen Worten suchend, an die Männer gewandt. „Ich weiß, wie das für euch jetzt wahrscheinlich aussieht. Aber das ist ein Trick! Ihr dürft nicht darauf hereinfallen!“
 

„Ein Trick? Sind diese Frauen etwa nicht aus Fleisch und Blut?“, erwiderte der Hutmacher, inzwischen etwas weniger gelassen als üblich, womit er Marilyn ernsthaft in Bedrängnis zu bringen schien.
 

„... Doch. Ich schätze, das sind sie... Aber-“
 

„Gib dir keine Mühe!“, lachte das Phantom, ehe die Königin einen weiteren Erklärungsversuch starten konnte. „Willst du ihnen wirklich den Spaß verderben? Gerade jetzt, wo sie nach so langer Zeit endlich ihre Liebsten wiedersehen? Es ist leicht, sie zu beeindrucken, nicht wahr? Stelle ihnen eine Gruppe Frauen gegenüber, und alles andere um sie herum wird unwichtig.“ Marilyns von Hass getrübter Blick schien ihn bloß noch mehr zu amüsieren, als der falsche Floyd sich an die anderen richtete, die wie hypnotisiert zwischen ihm und den täuschend hübschen Zombies hin und herschauten. „Diese Frauen“, verkündete er, „sind selbstverständlich echt! Eure Königin, meine Freunde, ist eine Lügnerin! Sie gönnt euch nicht das Glück und eure Freude des Wiedersehens... weil sie es nicht kann. Aber ihr könnt es und ihr sollt es auch! Los! Begrüßt eure Freundinnen, die ihr so lange vermisst habt! Schließt euch in die Arme!“
 

„Nein...! Glaubt ihm kein Wort!“, versuchte Alice, sie umzustimmen, jedoch erfolglos. Seine Stimme ging in der Euphorie der anderen unter, die ihre Aufmerksamkeit einzig und allein noch den Frauen schenkten, welche sie angeblich seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen hatten. So gut wie jeder hatte mindestens eine im Visier, auf die er zielgerichtet zurannte und der er schließlich um den Hals fiel. Und traf das bei einem nicht zu, lag es an den übrigen Frauen, sich um ihn zu kümmern und ihn herzlich zu empfangen. Es hätte rührend sein können, all den Freunden und Paaren dabei zuzusehen, wie sie sich wiedertrafen... hätte Alice nicht das trügerische Funkeln in den Augen der Frauen bemerkt, während sie ihre Opfer ein wenig zu fest in ihre Arme schlossen – wahrscheinlich um sie gar nicht erst wieder gehen zu lassen.
 

„Wartet...! Was ist... Ich verstehe überhaupt nichts mehr!“, ertönte plötzlich eine Stimme aus dem Saal, der so voller Menschen war, als würde ein Ball oder etwas Ähnliches stattfinden. Sofort konnte er sie dem Schwarzen Ritter zuordnen, und als er sich in die Richtung wandte, aus der er ihn hatte rufen hören, sah er, dass auch er schon von einer blonden Schönheit in Beschlag genommen worden war. Allerdings war Ozzy zu seinem Erstaunen einer der Einzigen, wenn nicht sogar der Einzige, der ganz und gar nicht glücklich mit der derzeitigen Situation wirkte.
 

„Was genau versteht Ihr denn nicht, werter Ritter?“, fragte der General gespielt freundlich, während die attraktive Blondine – Alice würde später darüber nachdenken, woher ihr Gesicht ihm so bekannt vorkam – alles daran setzte, Ozzy mit ihrem Charme um den Finger zu wickeln. Dumm nur, dass der 'werte Ritter' sich davon kaum beeindrucken ließ, da er mit seinen Gedanken vollkommen woanders zu sein schien.
 

„Na... Gar nichts!!“, gab er, fast schon verzweifelt, könnte man meinen, zurück. „Herr General... Ich finde es ja unglaublich nett, was Sie hier für uns tun – auch, wenn ich mir wirklich nicht erklären kann, wo Sie die ganzen... verschollenen Frauen auf einmal aufgegabelt haben –, aber... was ist mit Black Beauty?“
 

Wie vom Blitz getroffen zuckte der Angesprochene bei der Erwähnung des Schweins zusammen. Es schien irgendetwas bei ihm ausgelöst zu haben.
 

„Black... Beauty?“, antwortete er, wobei seine Mimik sich schlagartig veränderte. „Ich, also... Wovon redet Ihr?“
 

„Sie wissen doch genau, wovon ich rede, Herr General!“, erwiderte Ozzy beleidigt, die Frau an seiner Seite komplett ignorierend. „Meine liebe Black Beauty... Sie war draußen im Garten, als ich sie das letzte Mal gesehen habe... Aber seit der Gerichtsverhandlung habe ich keine Ahnung, wo sie ist, und dann waren da diese komischen Hämmer... Machen Sie sich etwa keine Sorgen um sie? Ich dachte immer, Ihnen liegt etwas an ihr...?“
 

Richtig so! Macht weiter!, feuerte Alice den sonst so verplanten Ritter telepathisch an. Ob er es hören konnte wagte er zu bezweifeln, aber er war sich beinahe hundertprozentig sicher, dass Ozzys Worte bei dem ehemaligen Besitzer der Sau nicht ohne Wirkung blieben, wenn er sich dessen entgleitende Züge anschaute. Es war dasselbe wie mit Marilyn, als er selbst während des Prozesses versucht hatte, an dessen menschliche Seite zu appellieren, indem er ihn an persönliche Dinge erinnert hatte. Dinge, mit denen ein böses Phantom nichts anfangen konnte.
 

„Mir... ich... Das Schwein spielt jetzt überhaupt keine Rolle!“, schleuderte der General nicht sonderlich überzeugend zurück, schien sich dann jedoch wieder etwas zu fassen. „Schaut Euch um, edler Ritter! Gibt es jetzt nicht weitaus Wichtigeres als irgendwelche verlorengegangenen Schoßtiere? Ich bin sicher, Black Beauty wird auch... auf sich selbst aufpassen können.“
 

„Wie kann man nur so kalt sein?“, mischte sich unerwarteterweise nun auch der Weiße Ritter ein, der zu seinem Erstaunen anscheinend Mitleid mit seinem Rivalen verspürte. „Ich habe es schon immer geahnt, und jetzt bin ich mir absolut sicher – Sie haben kein Herz, Floyd!“
 

Das war wohl zu viel des Guten, dachte Alice, als er dessen wütende Reaktion darauf aus nächster Nähe mitansehen musste. Es war, als wäre etwas über ihn gekommen, das er eine Ewigkeit lang zurückgehalten hatte; und das Merkwürdige daran war, dass Alice nicht einmal sicher war, ob es in diesem Moment der Showmaster oder doch der wahre Floyd war, der aus ihm sprach.
 

„Ihr seid... Ihr seid jetzt still, alle beide! Was wisst Ihr denn schon?!“, rief er zur Antwort, doch Alice hätte schwören können, dass es nicht bloß an die beiden Ritter sondern an jeden Einzelnen in diesem Raum gerichtet war. Der kranke Ausdruck, mit dem er sich im Saal umblickte, hatte etwas seltsam Bedrückendes an sich. „Ich habe also kein Herz, ja...? Ist hier sonst noch jemand der Meinung, dass ich kein Herz habe?“
 

Ein allgemeines Schweigen, untermalt von gelegentlichem Kopfschütteln, war zu vernehmen.
 

„Hah. Das ist richtig. Nicht ich bin derjenige, der immer die Schuld trägt... Nicht ich, versteht ihr?“ Noch immer traute sich niemand, etwas zu sagen. Floyd hob den Blick, wodurch seine viel zu grell-gelbe Augenfarbe nun deutlich zu sehen war. „Ich will wissen, ob ihr das verstanden habt?!“, wiederholte er seine Frage nachdrücklich, woraufhin die Mehrheit unter ihnen mit einem verhaltenen „Ja“ oder einem Nicken antwortete. Ein schmales Lächeln formte sich auf seinen Lippen. „Gut. Dann sind wir schon einen Schritt weiter“, sagte er in einem wieder ruhigeren Tonfall, machte ein paar Schritte auf Marilyn zu und zeigte auf ihn wie auf einen Verbrecher, den er gerade auf frischer Tat ertappt hatte. „Denn das ist derjenige, der all euren Unmut verdient hätte!“
 

„Ich?“ Die Arme vor der Brust verschränkt trat Marilyn seinem Diener ebenfalls einige Schritte entgegen, sodass sie sich direkt gegenüberstanden. „Ist das dein Plan? Willst du mein gesamtes Volk gegen mich aufbringen, mich stürzen und meine Herrschaft übernehmen? Ist es das, was du willst? Oder machst du dir nur einen Spaß daraus, uns als Schachfiguren zu missbrauchen, mit denen du nach Belieben umspringen kannst?“
 

„Hmm... Schach. Welch treffender Vergleich“, lachte der General. „Die Königin mag auf dem Schachbrett die großartigste und mächtigste Figur sein... Aber was ist eine Königin, wenn sie von feindlichen Figuren umstellt ist?“
 

„Schluss damit!“, zischte Marilyn entschieden. „Du willst mich doch nicht wirklich herausfordern, oder? Komm zur Besinnung, Floyd! Lass dich von diesem Monster nicht unterkriegen!“
 

„Ich bin Floyd!“, donnerte er mit solch ehrlicher Überzeugung, dass Alice Mühe damit hatte, diese Aussage anzuzweifeln. Die Königin murmelte etwas, das er von seinem momentanen Standort aus nicht verstehen konnte, aber es sah danach aus, als würde sie fluchen, während ihr Gegenüber sich erneut ihren von den Frauen gefangen genommenen Männern widmete. „Seht ihr das?“, rief er mit einem spöttischen Unterton. „Eure Königin ist verwirrt... Die arme, arme Königin weiß nicht einmal, was sie eigentlich angestellt hat. Soll ich euch erleuchten? Soll ich Ihrer Majestät ein wenig auf die Sprünge helfen?“
 

„Nein... Hör auf...“, bat sie ihn leise, doch er beachtete sie nicht. Stattdessen erhob er seine Stimme und überließ Marilyn auf eine Art und Weise seinem Publikum, die Alice fast das Gefühl gab, einer Hexenverbrennung beizuwohnen.
 

„Eure Königin hat euch alle und auch sich selbst mit nichts als einem riesigen Schwindel leben lassen, jahrelang! Vielleicht jahrhundertelang! Ihr wisst es gar nicht, stimmt's? Dass ihr alle nur deshalb hier seid, weil sie euch aus euren ursprünglichen Welten herausgerissen hat... wie Seiten aus einem Buch? Ihr glaubt, ihr wäret ein Teil des Wunderlandes, alterslos und schon immer hier gewesen, nicht wahr? Haha... Das ist eine ihrer vielen Lügen. Die Wahrheit ist, dass sie von hier aus, von dieser Welt aus, Zugriff auf alle Zeit-Epochen, Dimensionen und Parallel-Dimensionen hat, die da draußen existieren seit auch das Wunderland existiert und die wir uns wahrscheinlich nicht einmal vorstellen können – und Sie in ihrem egoistischen Wahn jeden von euch aus seinem alten Leben hierher verschleppt hat, hierher, in das Zentrum des Irrsinns, um euch alle einzeln ihrer Sammlung an Dienern hinzuzufügen. Bloß konntet ihr das nicht verarbeiten, weil eure Erinnerungen verschwunden sind. Deshalb wisst ihr auch nicht mehr, dass es vor euch bereits eine... andere Bevölkerung gab. Eine Bevölkerung, die einst vom Wunderland selbst geboren wurde – und deren Männer eure gutmütige Königin eigenhändig restlos ausgelöscht hat.“
 

Nach und nach froren die Mienen der anderen um sie herum zu einem einzigen gemeinschaftlichen Ausdruck des Entsetzens ein, ungläubig und nicht fähig, dem eben Gesagten etwas entgegenzusetzen. Als wären ihre Gesichter augenblicklich zu Masken erstarrt waren sämtliche Augenpaare mit einem Mal eiskalt und ungnädig auf Marilyn gerichtet, der alleine dastand, in der Mitte des Raumes, umgeben von feindlich gesinnten Gemütern.
 

„Das... ist nicht wahr...“, brachte er schwach hervor, offensichtlich nicht willens, sich gegen die Menge aufzulehnen, die ihn, wie es aussah, mit ihren bloßen Blicken zu erdolchen versuchte. Floyd grinste. Alice wollte zu ihm und ihn davon abhalten, mit dem, was er tat, fortzufahren. Er wollte nicht sehen, wie irgendjemand sich daran erfreute, Marilyn derart ins Unglück zu stürzen. Das Problem war nur, dass er sich nicht bewegen konnte. Er kam nicht vom Fleck.
 

Wie eine Schachfigur, die jetzt nun mal nicht am Zug war, stand er auf seinem Feld und konnte nichts tun.
 

„Oh doch, das ist es... Majestät“, erwiderte der General höhnisch, lehnte sich noch etwas zu Marilyn vor und fügte ganz leise, trotz der Entfernung für ihn jedoch deutlich hörbar, hinzu: „Wie fühlt es sich an, seinem eigenen Volk hilflos ausgeliefert zu sein...?“
 

Marilyn sah ihn bloß betroffen an, weiter nichts. Vielleicht auch ein wenig schuldbewusst. Aber warum? War es etwa wirklich die Wahrheit gewesen, was Floyd eben gesagt hatte?
 

„Wollt ihr wissen, was eure großartige Königin mit euren Frauen gemacht hat, die erst jetzt wieder an eurer Seite stehen?“, rief der General abermals voll falscher Überschwänglichkeit. Sie antworteten ihm nicht, aber das hinderte ihn nicht daran, seine aufhetzende Rede fortzuführen, als wäre es bloß ein Plausch, den er mit seinen Nachbarn hielt. „Sie hat sie entführt... und eingesperrt. An einem Ort, den die meisten von euch wahrscheinlich nicht einmal kennen. Und warum das alles? Aus dem einfachen Grund, weil sie es nicht ertragen konnte, euch mit ihnen zusammen zu sehen, während sie selbst alleine war! Einsam und allein! Dabei ist sie es doch, die dafür verantwortlich ist, dass ihre... liebe und ach so gute Alicia einen frühen Tod fand...!“
 

„... Was?“, hörte er sich selbst fragen, während das eiserne Schweigen der anderen um ihn herum weiterhin anhielt, so als wäre es ihnen nur noch möglich zu sprechen, wenn man ihnen das Kommando dazu erteilte. Marilyn sah Floyd mit einer schrecklichen Mischung aus Enttäuschung, Trauer und Verständnislosigkeit an, was diesen offenbar dazu veranlasste, sich zu erklären.
 

„Oh... Wisst Ihr es denn nicht mehr, Eure Hoheit? Euer Gedächtnis muss ebenfalls sehr gelitten haben, wenn Ihr Euch daran nicht mehr erinnern könnt. Wahrscheinlich habt Ihr es verdrängt, das tut Ihr ja schließlich immer wieder gern“, sagte er, seine Worte so voll von Ironie, dass selbst Alice es kaum ertragen konnte. „Ihr habt es ja nicht mit Absicht getan, nicht wahr? Es war ein Versehen... Wenn man sich so nah am Abgrund aufhält, kann es eben passieren, dass man seinen Partner an die Leere verliert, hm? Eine kleine falsche Bewegung, und – ZACK! – ... es ist vorbei. Könnt ihr mit dieser Schuld leben?“
 

„Nein... Hör endlich auf damit...!“
 

„Soll sie mit dieser Schuld leben?“, wandte er sich wieder seinem manipulierten Publikum zu. „Sie ist blind, blind vor Macht! Wie kann eine egoistische Person wie sie für euch eine würdige Herrscherin sein? Das kann sie nicht! Sie verdient es nicht, habe ich nicht Recht?“
 

Alice glaubte sich im falschen Film, als die Massen, die den Saal erfüllten, ihre Stimmen zu einem gröhlenden Jubeln erhoben, das nicht viel später in ein feierliches, wenn auch monotones und sich grauenvoll oft wiederholendes „TOD DER KÖNIGIN!!“ überging. Immer wieder brüllten sie es und rissen im Takt ihre Arme in die Höhe. „Tod der Königin!! Tod der Königin!!“ Alice konnte es und wollte es nicht fassen. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er das Gefühl, einen Fehler im System gesehen zu haben – eine Person, die dieses furchtbare Spiel nicht mitspielte –, doch er hatte keine Gelegenheit mehr, sich darauf zu konzentrieren, als er Marilyn mit den Worten „Lebt wohl“ an sich vorbeilaufen sah... geradewegs in Richtung Schlosstor und bereits durch dieses hindurch verschwunden, bevor er es richtig hatte realisieren geschweigedenn ihn aufhalten können.
 

„Nicht...! Marilyn!“
 

Noch immer gröhlten sie ihren grausamen Satz, als hätten sie überhaupt nicht bemerkt, dass die Person, auf die sie es abgesehen hatten, längst den Raum verlassen hatte. Floyd wirkte zufrieden. Er hatte gewonnen. Die Königin war aus dem Spiel geworfen worden.
 

... Und nun lag es in seiner Hand, dass er ihn nicht auch noch Schachmatt setzte.
 

„Herr General! Herzlichen Glückwunsch!“
 

Irritiert wandte der augenscheinliche Sieger sich zu ihm um und musterte ihn skeptisch.
 

„Warum? Weshalb gratulierst du mir?“
 

„Weshalb sollte ich es nicht tun? Sie haben doch einen fairen Sieg ergattert, oder nicht?“, entgegnete Alice, reichte ihm die Hand und lächelte. Nur zögerlich ging der Andere auf diese Geste ein. „Ein kluger Schachzug von ihnen! Seine Feinde zu Verbündeten zu machen, indem man sich ein gemeinsames Opfer sucht... Das nenne ich professionell! Was waren Sie zuerst? Schachmeister oder Soldat? Naja, wie dem auch sei... Eigentlich haben Sie doch jetzt, wo das geklärt ist, genug Zeit, sich um Black Beauty zu kümmern, nicht wahr? Das arme Tier liegt nämlich schon seit Stunden todkrank hinter einem Busch herum und vegetiert elendig vor sich hin. Ich glaube, sie hat was Schlechtes gefressen...“
 

„Das... Das ist... Bitte was?!“
 

Jetzt bloß dranbleiben, sagte er sich gedanklich, ohne seinen Griff zu lockern, und schielte zu der Stelle, die ihm vor Marilyns Abschied schon kurz ins Auge gestochen war – der Systemfehler.
 

„Na, Ihre Sau... Black Beauty!“, gab er wie selbstverständlich zur Antwort. „Was würde wohl der Schwarze Ritter davon halten, wenn er wüsste, wie erbärmlich es ihr gerade geht? Wir sollten ihn besser darüber informieren. SCHWARZER RITTER!“
 

„... Nein! Lass das!“, knurrte Floyd, in dem Versuch, weitere Komplikationen schnellstmöglich abzuwenden, doch vergeblich. Ozzy hatte ihn bereits gehört.
 

„Was gibt es? Stimmt etwas nicht?“, kam es von ihm zurück. Auch jetzt klang er noch merklich besorgt.
 

„Das könnt Ihr laut sagen!“, rief Alice dem Ritter zu, der sich leider nicht zu ihm gesellen konnte, da es mittlerweile nicht nur eine sondern gleich drei Frauen waren, die ihn beharrlich festhielten. „Euer geliebtes Kriegs-Schwein, das ihr beide euch ja wohl irgendwie teilt, wenn ich das richtig verstanden habe, liegt quiekend und unter qualvollen Magenkrämpfen im Schlossgarten. Wenn sich nicht wenigstens einer von euch um sie kümmert, wird es sicher nicht gut für sie ausgehen...“
 

„Was...? Ist das dein Ernst?!“
 

„Ich höre euch nicht zu...!“, trällerte Floyd wie ein Kind, dem man etwas erzählte, das es nicht wissen wollte. Alice zog ihn noch etwas näher zu sich; er sollte bloß nicht auf die Idee kommen, sich aus dem Staub zu machen.
 

„Mein voller Ernst“, flüsterte er, diesmal an sein Gegenüber gerichtet anstatt an den Ritter. Die Menge hörte nicht auf, ihren ungerechten Satz zu brüllen. Und für diese Ungerechtigkeit sollte er bezahlen.
 

„Sie sind schuld, General Floyd...! Ich kann hier nicht weg, und Sie haben nichts unternommen, als ich Sie nach Black Beauty gefragt habe! Der Weiße Ritter hat Recht – Sie haben kein Herz!“
 

„Nein... das stimmt nicht! Lass mich los, ich will das nicht hören!“ Die gelbe Farbe verschwand aus seinen Augen und die Aura des Phantoms schien sich mehr und mehr von ihm zu lösen.
 

„Sie sind schuld, wenn Black Beauty etwas passiert! Nur Sie allein!!“
 

Ein zischendes Geräusch ertönte, begleitet von einem plötzlich aufblitzenden Licht – dann war es still. Floyd ging zu Boden; hinter ihm war der Showmaster, der bei der Trennung eine ziemlich unsanfte Landung hingelegt hatte. Alice sah die beiden wortlos an, noch zu sehr damit beschäftigt, zu realisieren, was eben eigentlich wirklich geschehen war. Allerdings blieb ihm nicht länger Zeit dazu. Der dröhnende Lärm, der mit einem Mal unmittelbar hinter dem Schlosstor aufkam, ließ restlos jeden im Saal erst verwirrt, dann schockiert zu dem frisch gestrichenen Eingang herüberblicken, als die Wände, das gesamte Gemäuer, in dem sie sich befanden, mit einer ungeheuer hohen Geschwindigkeit zu bröckeln begann.
 

Die Hämmer. Sie setzten ihren Marsch fort.

Kapitel 12 - Fehler im System-Teil 1

Jetzt ist es aus, dachte Alice mit einem seltsamen Gefühl der Leere. Das ist unser Ende.
 

Nachdem er es durch eine kleine Notlüge bezüglich Black Beauty, und mit Ozzys Hilfe, geschafft hatte, den vom Showmaster besessenen Floyd von der Macht des Phantoms zu erlösen, war der General mit einem erschöpften Seuzfen in sich zusammengesunken. Die Hämmer der königlichen Armee, die draußen vor dem Schloss gewartet hatten, mussten diesen Laut aus der Entfernung als Befehl missinterpretiert haben – anders konnte er sich ihr Verhalten jedenfalls nicht erklären –, und nun stampften sie drauf los, ohne Rücksicht auf Verluste dem Anwesen entgegen, während dessen Besitzer, die Königin höchstpersönlich, nicht einmal hier war. Alice hatte gehofft, dass sie nicht ernsthaft vorgehabt hatte, sich von der Klippe zu stürzen, um ihrer verlorenen Liebe, Alicia, in die Tiefe zu folgen. Er hatte gehofft, dass sie es sich noch einmal anders überlegen würde. Oder dass es bloß eine List von ihr war. Sie hätte sich schließlich von ihm verabschiedet, hätte sie vorgehabt, für immer zu gehen. Sie wäre nicht einfach an ihm vorbeigelaufen... oder?
 

Wo auch immer sie jetzt war – es war völlig egal. Sie würden das hier ohnehin nicht überleben. Die Erde erzitterte unter ihnen, die Armee rückte näher und näher, und in der nächsten Sekunde hatten sie bereits einen Teil des Eingangsbereiches eingerissen. Es ging viel zu schnell, um sie noch in irgendeiner Weise aufhalten zu können. Ein letztes Mal ließ Alice seinen Blick durch den Saal schweifen, blieb dabei an dem weißen Kaninchen hängen, das ihn merkwürdig intensiv ansah, nur einen winzigen Moment lang, dann wurde es plötzlich ruhig. Kein Geräusch war mehr zu vernehmen, keine einzige Bewegung – kein gar nichts.
 

„... Dass es so kurz und schmerzlos werden würde, hätte ich nicht erwartet“, murmelte er, als er sich langsam aus seiner geduckten Position erhob. Alles um ihn herum war schlagartig... stehengeblieben? „Warum kommt es mir nur so vor, als hätte ich eine solche Situation genauso schon mal erlebt?“
 

„Wir haben keine Zeit für Selbstgespräche! Beeilung, Agnes! Komm hierher!“
 

Das weiße Kaninchen. Natürlich. Den Tag, an dem es ihn mit seinem richtigen Namen ansprach, würde er im Kalender rot einkreisen. Falls so etwas wie ein Kalender hier überhaupt existierte.
 

„Hasi...!“, rief er, während er auf den Freak mit den langen Öhrchen zutrat und nebenbei interessiert all die erstarrten Gesichter beäugte. Selbst die Hämmer, die gerade im Begriff gewesen waren, alles und jeden, der ihnen im Weg stand, zu zerquetschen, waren mitten in ihrer Aktion versteinert – als wären sie Teil einer ziemlich morbiden Momentaufnahme. „Was ist passiert? Sind wir im Limbus gelandet?“
 

„Habe die Zeit angehalten!“, erklärte das Kaninchen hastig und deutete auf die Uhr in seiner Westentasche. „Habe dir dabei in die Augen gesehen, was bedeutet, dass du als Einziger mit mir hier bist. Und jetzt schnell! Wir müssen die Armee aufhalten!“
 

„Die Zeit angehalten?“, wiederholte er nachdenklich, als ihm auf einmal wieder einfiel, wann und wo er ein solches Szenario schon einmal erlebt hatte. „Ach so! Dann-“
 

„Nichts 'Dann'...! Konzentration! Die Zeitstarre hält nur zwei Minuten lang an, und eine davon ist schon fast um!!“, unterbrach Hasi ihn schroff und wippte ungeduldig von einem Bein aufs andere.
 

„Nur zwei Minuten?! Warum hast du das denn nicht gleich gesagt? Was soll ich tun?“, erwiderte Alice nun nicht weniger hektisch – immerhin ging es um Leben und Tod! – und beschloss, den Anderen später danach zu fragen, ob es sich bei der Kaninchenfrau, aus deren Griff er sich eben nur mühevoll hatte befreien können, um Angie handelte.
 

„Hilf mir, die Armee zu stoppen!“, antwortete Hasi, wandte sich einem der Werkzeuge bereits selbst zu und begann, sich mit aller Kraft dagegen zu stemmen. „Ich kann... diese Fähigkeit nur einmal täglich einsetzen... nngh! Es hängt jetzt also alles von uns beiden ab! Mach schnell!!“
 

„Ach du großer Mist... okay“, seufzte er, leistete dem Kaninchen Gesellschaft und tat es ihm gleich, mit einer gewissen Zufriedenheit dabei zusehend, wie der gigantische Hammer durch ihre Zusammenarbeit laut krachend nach hinten umkippte. „Super. Zu zweit schaffen das sogar Typen wie wir.“
 

Einen Augenblick nur starrte Hasi unheimlich fasziniert den am Boden liegenden Riesenhammer an, dann drehte er sich um.
 

„Keine Zeit, keine Zeit!“, keuchte er, während er sich voller Tatendrang dem Nächsten widmete. Alice half ihm so gut er konnte, einen nach dem anderen so schnell es nur irgendwie möglich war umzuwerfen und keines der schweren Mordinstrumente versehentlich in die falsche Richtung fallen zu lassen – und das war gar nicht so einfach, denn sie schwankten manchmal bedrohlich nahe an den anderen Freaks vorbei, die wie eine Reihe Statuen am Rand standen und von ihren Heldentaten nicht einmal etwas mitbekamen.
 

„Wie viel Zeit haben wir noch?“, fragte er ein wenig außer Atem, während er ein weiteres Element der Armee umstieß. Viele waren es nicht mehr. Trotzdem würde es ganz schön knapp werden...
 

„Nicht genug, um auf die Uhr zu schauen“, gab Hasi angestrengt zurück, rannte zum nächsten Hammer, der etwas weiter hinten stand, und warf sich beinahe gegen ihn, ohne darauf zu achten, ob er überhaupt richtig zielte. Sie konnten von Glück sagen, dass sich dort ohnehin so gut wie niemand befand und es noch einmal glatt gegangen war. Drei waren noch übrig, und tatsächlich schafften sie es in allerletzter Sekunde mit der Macht ihres starken Willens – und wahrscheinlich reichlich Adrenalin –, die Hämmer aufzuhalten. Die anderen waren bereits wieder aus ihrer Starre erwacht, als das letzte der Werkzeuge wie in Zeitlupe zu Boden fiel.
 

„... Geschafft“, flüsterte Alice, noch immer in dem Versuch zu realisieren, was er da gerade eigentlich getan hatte, und lächelte dann Hasi zu, der anscheinend schon wieder damit beschäftigt war, die Frau mit den flauschigen Öhrchen zu fixieren. „Tja... Was soll ich sagen...?“
 

„Am besten gar nichts“, erwiderte dieser mürrisch. „Keine Ursache!“
 

„Tse... Launisches Häschen.“
 

Das erschrockene Kreischen ihrer Mitmenschen riss Alice aus seinen Gedanken und beförderte ihn zurück ins eigentliche Geschehen. Offenbar waren sie nun wieder vollständig zu sich gekommen und – hoffentlich – auch aus dem beängstigenden Zustand der Trance erwacht, in den sie mehr und mehr verfallen waren, als der Showmaster, getarnt als Floyd, seine schreckliche Rede gehalten hatte, mit der er es zu seinem Entsetzen kurzzeitig bewerkstelligt hatte, fast die gesamte Bevölkerung des Wunderlandes gegen Marilyn aufzubringen. Nun lag er, offensichtlich zerknirscht und verwirrt über die unerwartete Wendung der Geschehnisse, ein paar Meter von ihm entfernt in der Nähe der großen Standuhr und bemühte sich, sich möglichst würdevoll wieder aufzurichten. Floyd hingegen kniete nicht weit von ihm auf dem Boden und machte keinerlei Anstalten, aufzustehen. Sein Blick war apathisch in die Leere gerichtet; er schien nicht ansprechbar.
 

„Alles in Ordnung...?“, fragte Alice, während er auf ihn zuschritt, nun doch etwas besorgt, obwohl der General ihm bisher nicht unbedingt einen Grund dazu gegeben hatte, ihn sonderlich zu mögen. Aber jetzt, da er bloß schweigend und mit niedergeschlagener Miene zu ihm aufsah, hatte er nichts mehr von dem so grimmigen Eisklotz an sich, den er sonst immer verkörperte. „Kommen Sie schon... Wollen Sie nicht aufstehen und sich... um ihre Armee kümmern, die besiegt dahinten rumliegt?“
 

„Niemand wird sich jetzt um irgendwen kümmern!“, grollte eine wütende Stimme, bevor Floyd selbst hätte reagieren können. Das Phantom. Es wirkte geschwächt – und das schien es nicht auf sich sitzen lassen zu können. „Was glaubt ihr, wer ihr seid, mich hinters Licht führen zu wollen? Naive Würmer! Denkt ihr wirklich, ich würde mich so leicht geschlagen geben?!“
 

„Wer... Wer ist dieser Kerl?“, vernahm Alice eine weitere Stimme, die ganz zu seiner Überraschung einer der Frauen hinter ihm zu gehören schien... und mit einem Mal so gar nicht mehr nach dem Gefauche einer untoten Raubkatze klang. Viel eher klang es nach der müden und ängstlichen Frage von jemandem, der einen sehr langen Schlaf hinter sich hatte und unmittelbar darauf mit etwas unsagbar Fürchterlichem konfrontiert wurde.
 

„Ich habe keine Ahnung...!“, antwortete eine andere ebenso verstört. „Was... machen wir hier überhaupt?“
 

Konnte es tatsächlich sein, dass sie genauso zu den Opfern des Showmasters gehörten wie Marilyn und er und all die anderen? Dass sie bis eben unter seiner Kontrolle gestanden hatten und nur deshalb jetzt zur Vernunft kamen, weil er, der sie in der Hand hatte, aus der Fassung geraten war?
 

„Passt auf! Dieser Kerl hat euch irgendeiner Art... Gehirnwäsche unterzogen!“, rief Alice den aufgewühlten Frauen zu, die ihn allesamt mit demselben verständnislosen Blick musterten, ehe sie den Saal flüchtig mit den Augen nach irgendjemandem abzusuchen schienen – vermutlich nach Marilyn. „Die Königin ist... nicht mehr da! Er hat sie von hier vertrieben und versucht, uns gegeneinander aufzuhetzen! Ihr dürft ihm nicht vertrauen, egal, was er sagt!“
 

Unterbrochen von einem tiefen Gelächter richtete Alice seine Aufmerksamkeit wieder auf das Phantom, als die Halle mit zunehmender Geschwindigkeit von einer alles verschlingenden Dunkelheit erfüllt wurde. Keine gewöhnliche Dunkelheit, wie die der Nacht – sondern eine pechschwarze abscheuliche Dunkelheit, die kein bisschen Platz für einen Funken Licht ließ, und sich ausbreitete, als wolle sie jeden von ihnen langsam und qualvoll in sich aufsaugen. Es war ein beklemmendes Gefühl.
 

„Haha... Habt ihr das gehört? Ihr dürft mir nicht vertrauen, sagt er“, lachte das Phantom, das als Einziger in diesem Raum nicht komplett von der Schwärze bedeckt worden war, und streckte seine Arme in die Luft, nur um sie danach mit einer schwungvollen Bewegung wieder zu senken und auf halber Höhe vor sich ruhen zu lassen. Im selben Moment schrien sie alle – nur ihn selbst und das Gespenst ausgenommen – entgeistert auf. „Hört auf ihn, er hat Recht! Mir zu vertrauen ist ein Fehler, den man üblicherweise nur einmal begeht!“
 

Eine unheilvolle Stille hatte sich auf einen Schlag in den Saal gelegt, nur selten durchbrochen von vereinzeltem Wimmern und undeutlichen Wortfetzen, die von Marilyns Untergebenen rührten und meist nach kurzer Zeit wieder in der Finsternis untergingen. Ganz schwach konnte er ihre Silhouetten erkennen. Sie schienen nicht mehr bei Sinnen zu sein; ihre Bewegungen waren so konfus, als würden sie vor Dingen zurückweichen, die überhaupt nicht da waren.
 

„Herrlich...!“, kicherte das Phantom amüsiert, während es seine persönlichen Schachfiguren eingehend betrachtete. „Ist es nicht herrlich, wie leicht diese Narren sich täuschen lassen? Alles, was sie jetzt noch sehen, sind ihre schlimmsten Albträume und Befürchtungen, die für sie scheinbar gerade tragische Realität werden. Wie bedauerlich, dass sie dumm genug sind, darauf hereinzufallen.“
 

„Was sind Sie eigentlich für ein Unmensch? Sich derartig an dem Leiden anderer zu erfreuen... Wie auch immer Sie das anstellen, hören Sie sofort auf damit!“
 

„Alice... mein Junge... Wird es dir nicht langsam langweilig, den immer rechtschaffenen Helden zu spielen?“, fragte der Showmaster, trat näher an ihn heran und legte ihm freundschaftlich eine Hand auf die Schulter. „Schau mal... Diese erbärmlichen, kleinen Menschen, die du so heroisch zu verteidigen versuchst, sind die Mühe doch gar nicht wert. Jeder hält sich für etwas Besonderes, und doch tun sie ihr Leben lang nichts anderes als darum zu kämpfen, ihren festen Platz unter der Herrschaft ihrer Königin zu behalten und ihr die Stiefel zu küssen. Sie sind alle gleich. Denkst du nicht, dass du zu Besserem berufen bist? Probiere es doch einmal aus... Sieh dir ihre lächerlichen Albträume an und überzeuge dich selbst!“
 

„Ich will das aber nicht sehen! Ihre Albträume... Das ist ihre Privatsache und geht mich gar nichts an!“, gab er entschieden zur Antwort. Der Showmaster lächelte bloß.
 

„Bist du dir da sicher? Möchtest du als Held nicht die Ängste derer, die du zu beschützen versuchst, kennen? Sie dir mit eigenen Augen ansehen? Sie sind zum Schießen, das verspreche ich dir! Dieser Hofnarr zum Beispiel, der sich davor fürchtet, niemand würde mehr über seine Witze lachen... Jetzt lassen sie ihn alleine, weil er nicht mehr gebraucht wird, und selbst die zarten Blumen um ihn herum verwelken. Welch ein Trauerspiel... Und das weiße Kaninchen erst! Sieh selbst, Alice!“
 

Plötzlich war das Kaninchen von einem hellen Leuchten umgeben, fast so, als würde es von einem Scheinwerfer angestrahlt werden, der unsichtbar irgendwo an der Decke hing.
 

Es rannte. Es rannte mit verzweifelter Miene auf ein Licht zu, das sich in der Ferne von der Dunkelheit abhob, aber kam nicht von der Stelle, entfernte sich sogar mit jedem Schritt, den es geradeaus machte, von dem Licht anstatt sich ihm zu nähern. Als es schließlich anhielt, vollkommen aus der Puste und sichtlich nervös, konnte Alice nicht länger untätig herumstehen und lief zu ihm hin.
 

„Es ist nur eine Illusion! Da ist kein Licht, das du erreichen musst!“, sagte er, doch das Kaninchen beachtete ihn nicht.
 

„Zu spät“, murmelte es, sank zu Boden und scherte sich scheinbar nicht einmal darum, als die goldene Uhr aus seiner Tasche fiel und klirrend zerbrach. „Viel zu spät... Viel zu spät!“
 

Alice glaubte fast zu spüren, wie Hasis Nervosität auf ihn überging, als er sah, wie erst links und rechts von ihnen und anschließend auch über ihren Köpfen unzählige Uhren erschienen. Uhren in allen Formen, Farben und Größen, und sie alle tickten, laut und unterschiedlich schnell. Sie waren überall; und dann, wie auf Befehl, verstummte das Ticken und sie begannen zu klingeln, gleichzeitig, schrill, ehe sie zu einer wabernden Masse zerflossen und ineinander verliefen, ohne ihr grelles Klingeln zu unterbrechen, das wie ein unerträgliches Echo aus allen Richtungen widerhallte. Es war, als wäre er in einem surrealen Gemälde gefangen, und er kam sich verlogen dabei vor, in einem fremden Traum herumzulaufen, als wäre es sein eigener. Er wollte weg von hier und den Wahnsinn beenden, rannte jedoch stattdessen von Hasis Albtraum gleich in den nächsten. In den des Weißen Ritters.
 

„Dieser Idiot...!“, murmelte dieser, irgendetwas zwischen resigniert, verärgert und zutiefst beleidigt, während er nach vorne blickte, wo, wie aus dem Nichts entstanden, der Schwarze Ritter zu sehen war – umgeben von Wache Nummer Eins, Wache Nummer Zwei und der Herzkönigin – und mit einem herablassenden Gesichtsausdruck zu ihm herüberschaute. „Dieser vermaledeite Idiot...! Wie ich ihn hasse!!“
 

Die Königin schien ihn zu loben; zumindest war es das, was Alice annahm, als er die vier dort vorne beobachtete. Sie lächelte. Ein ehrliches Lächeln, das er bisher eher selten bei ihr gesehen hatte, wenn es jemand anderem galt als ihm selbst. Die beiden Wachen blickten ihm bewundernd hinterher, als er an Alice vorbei auf seinen Rivalen zuschritt und diesen abschätzig musterte.
 

„Na, wie geht es unserem kleinen Jammerlappen denn so? Jetzt, wo er einsehen muss, dass er endgültig verloren hat?“, erkundigte sich Ozzy in einem ungewohnt arroganten Tonfall, warf einen kurzen Blick nach hinten zu Marilyn und wandte sich dann wieder dem anderen Ritter zu. „Ihre Majestät hat mir gerade verraten, dass sie eine Entscheidung getroffen hat. Sie will Euch hier nicht mehr sehen. Denn sie hat erkannt, dass ich eindeutig der Bessere von uns beiden bin und Ihr es nicht länger würdig seid, ihr noch unter die Augen zu treten.“
 

„Das ist nicht fair...!“, erwiderte der Weiße Ritter niedergeschlagen und fassungslos. „Ich habe nichts falsch gemacht! Was bitte soll der Grund für diese Entscheidung sein?!“
 

Ozzy grinste triumphierend.
 

„Tja, wisst Ihr... Der Grund ist der, dass ich ihrer Hoheit jeden Wunsch von den Lippen ablese – und damit meine ich wirklich jeden –, und Ihr nicht einmal Manns genug seid, Euch ihr auf mehr als zwei Meter zu nähern. Einen solch ängstlichen Ritter wie Euch kann einfach niemand gebrauchen! Ihr solltet Euch einen anderen Job suchen. Vielleicht hat die Königin ja Gnade und lässt Euch hier bleiben, wenn Ihr Wache Nummer Zwei dabei helft, die Zimmer des Schlosses immer ordentlich zu putzen.“
 

Mit diesen Worten verschwand der Schwarze Ritter und ließ seinen Rivalen alleine dastehen, der einen Moment lang stillschweigend den Boden fixierte, bevor er ihm etwas hinterherrief: „Es war schon immer egal, wie sehr ich mich angestrengt habe, nicht wahr? Weil die Königin Euch nämlich von Anfang an bevorzugt hat und Ihr mich nie als echten Gegner ansehen konntet... Aber irgendwann... irgendwann werde ich es Euch zeigen!“
 

Dann wurde er von der Finsternis verschluckt. Gerne hätte er ihm klargemacht, wie absurd und unbegründet seine Ängste eigentlich waren, doch was hätte es genützt? Der Weiße Ritter hatte ihn genauso wenig beachtet wie zuvor das weiße Kaninchen. Sie schienen ihn weder sehen noch hören zu können, weil sie außer ihren Halluzinationen vermutlich nichts wahrnahmen. Alice versuchte, sich in der unnatürlichen Schwärze, die den Saal umhüllte, zu orientieren, musste jedoch schnell feststellen, dass es keinen Sinn hatte. Es gab keinen Ausweg. Die einzige Lichtquelle, die er in dieser endlosen Dunkelheit ausmachen konnte, war der leuchtende Schein, der jedes Mal einen neuen Albtraum einleitete und sich nun um den Schwarzen Ritter gelegt hatte.
 

Alice hatte bereits geahnt, was ihn in Ozzys Traum erwarten würde, und er sah sich in seiner Annahme bestätigt, als er den Ritter trauernd hinter einem Strauch im Gras kniend vorfand. Neben ihm lag Black Beauty. Sie rührte sich nicht. Wahrscheinlich hatte seine Sorge um das Tier sich so weit gesteigert, dass sie innerhalb der letzten Minuten zu seiner allerschlimmsten Befürchtung herangewachsen war und sich nun, in der vom Showmaster herbeigerufenen Welt der Illusionen, frei entfalten und greifbar werden konnte. Das Grausamste daran war nicht einmal, dass er selbst mit ziemlicher Sicherheit verantwortlich für diesen Albtraum war. Sondern vielmehr, dass er nichts dagegen tun konnte, nichts, als zuzusehen, wie jeder von ihnen mit seinem persönlichsten Schrecken in Berührung kam, gegen den er sich nicht zu wehren vermochte. Auch bei Wachmann Nummer Eins, der nirgendwo hingehen konnte, ohne auf Schritt und Tritt von einem unheimlichen Schatten verfolgt zu werden, und bei der Raupe, deren heimischer Bereich in Flammen stand und langsam niederbrannte, während sie machtlos daneben kauerte, war jegliche Mühe umsonst.
 

Der Nächste, der von dem unsichtbaren Scheinwerfer ins Rampenlicht gerückt wurde, war General Floyd. Eigentlich hatte er heute bereits lange genug unfreiwillig im Mittelpunkt gestanden, dachte Alice, als er bemerkte, dass der General irgendwie anders aussah als sonst. Nicht nur, dass er seine Uniform plötzlich nicht mehr trug... Er wirkte auch um einiges schmächtiger als zuvor. Außerdem schien er etwas in seinen Armen zu halten. Alice hielt es zunächst für ein kleines Bündel. Bei näherem Betrachten jedoch stellte es sich als schwarzes Ferkel heraus.
 

„Oooh... Hast du einen Freund gefunden, Floyd?“, kicherte eine hohe Stimme, die er im Augenblick niemandem zuordnen konnte, die aber eindeutig einer Frau gehörte. Wenige Sekunden später stand sie vor ihm, vor ihm und dem General, und ging spöttischen Blickes auf Letzteren zu, um das Tier in seinen Armen genauer begutachten zu können. „Ein Schwein? Na, da hast du dir ja endlich den richtigen Gesprächspartner gesucht, was?“
 

„Sie war... alleine im... Wald. Deshalb... h-habe ich sie aufgenommen. Sie... brauchte Milch“, gab er seltsam schwerfälig zurück und trat zögerlich einen Schritt nach hinten, während er das Tier noch etwas fester an sich drückte. Die Frau fing an, lauthals zu lachen.
 

„Hast du das gehört, Tommy?“, rief sie, über die Schulter blickend an einen jungen Mann gerichtet, der ihr optisch auffallend ähnelte. „Floyd ist jetzt zur Schweinemama geworden!“
 

„Das Kind tut mir jetzt schon leid“, grinste Tommy mit demselben Spott zu ihr herüber. „Was soll er ihm denn beibringen, wo er doch selbst nichts kann...? Armes Schwein.“
 

„Ich b-bringe ihr nichts bei. Ich... füttere sie nur“, verteidigte er sich, allerdings noch immer recht zurückhaltend, und sah dann zu Boden. „Sie ist... ein besonderes Schwein. Sie k-kann nämlich... fliegen.“
 

Tommy und sein weibliches Gegenstück wandten sich prustend einander zu.
 

„Sie kann also fliegen. Was sagt man dazu, Gina?“
 

„Ich würde sagen, wenn sie fliegen kann, dann sollte sie uns das mal vorführen, oder?“, erwiderte die Frau, deren Name offenbar Gina lautete, ehe sie Floyd, der nicht rechtzeitig reagieren konnte, das Ferkel entriss und es demonstrativ in die Luft hielt. „Vielleicht braucht sie eine kleine Hilfestellung, um loszufliegen. Soll ich sie mal hochwerfen?“
 

„G-Gib sie mir z-z-zurück!“, forderte Floyd inzwischen sichtlich aufgebracht. „Sie w-wird dich beißen, wenn... wenn du s-so weitermachst...!“
 

„Jetzt hab' ich aber Angst!“, höhnte Gina und drehte sich überrascht um, als eine weitere Person die Bildfläche betrat. Ein zierliches Mädchen, nicht älter als siebzehn, mit wallendem goldenen Haar. „Hi, Sunny!“, begrüßte sie die Andere, die jedoch nur zwischen ihnen hin und hersah und abfällig die Nase rümpfte.
 

„Ihr sollt Floyd doch nicht ärgern“, sagte das Mädchen – Sunny – schließlich, ohne die beiden, mit denen es sprach, anzuschauen. „Der arme Versager hat es ohnehin schwer genug.“
 

„Er behauptet, seine Sau könne fliegen“, entgegnete Tommy in einem hämischen Tonfall. Sunny warf ihm einen schwer zu deutenden Blick zu, dann beobachtete sie weiterhin Floyd, der vergeblich versuchte, Gina das Ferkel wieder abzunehmen.
 

„Fliegen?“, fragte sie nüchtern. „Schade, dass sie nicht sprechen kann. Dann könnte er noch was von ihr lernen.“
 

„Hey! Was treibt ihr da?“, ertönten plötzlich zwei Stimmen wie aus einem Munde, vor denen Gina sich so zu erschrecken schien, dass sie blitzschnell zurückwich und das Ferkel einfach fallen ließ. Glücklicherweise landete es weich auf seinen Beinen im Gras, ehe es laut grunzend zu Floyd zurücktapste.
 

„Ich hab' nichts gemacht!“, kreischte sie wie automatisch, als die beiden, von denen sie überrascht wurde, näher an die kleine Gruppe herantraten. Es waren...
 

„The Starchild und The Spaceman!“, sagte Alice leise zu sich selbst, als er die Zwei nach einer gefühlten Ewigkeit zum ersten Mal wiedersah – wenn auch nur in einer makaberen Halluzination, die er von außen betrachtete... als würde er durch ein Fenster in die Angelegenheiten anderer hineinschauen, die er eigentlich niemals hätte wissen dürfen.
 

„Das sieht für mich aber ganz anders aus, meine Liebe“, stellte The Starchild mit seiner viel zu freundlichen Wesensart fest, während sein Zwilling, eine Hand in die Hüfte gestemmt und zustimmend nickend, daneben stand. Wie irgendjemand die beiden ernst nehmen konnte, war ihm noch immer ein Rätsel.
 

„Floyd ist schuld!“, brachte Gina trotzig hervor und zeigte schamlos auf ihr Gegenüber. „Er hat mich mit diesem dreckigen Schwein belästigt und mich nicht in Ruhe gelassen, egal, wie oft ich ihm gesagt habe, dass ich unter einer Tierhaar-Allergie leide...!“
 

Mühsam konnte Alice sich ein Lachen verkneifen. Wie hinterhältig konnte man denn bitte sein?
 

„Das glaubst du ja wohl selbst nicht, oder?“, gab The Spaceman zurück, wenigstens mit so etwas wie einem winzigen Hauch von Strenge – wobei seiner Ansicht nach deutlich mehr davon angebracht gewesen wäre. „Wir sind nicht dumm, Liebes. Wir wissen es, wenn uns jemand anlügt.“
 

„So ist es“, pflichtete The Starchild bei. „Ihr geht lieber wieder auf die dunkle Seite des Spiegels zurück, wo ihr auch hingehört. Und du, Tommy, kannst den Mädchen gleich folgen... husch, husch!“
 

„Husch, husch“, wiederholte Alice flüsternd und sah mit einer gewissen Genugtuung dabei zu, wie die drei endlich Leine zogen – nicht ohne im Gehen ein paar mürrische Blicke auf Floyd zu werfen, der jetzt nur noch mit seinem neuen Haustier und den Zwillingen dastand. Zögerlich sah er die beiden an, fast, als hätte er ein schlechtes Gewissen.
 

„Ihr... müsst das nicht immer tun“, sagte er und schaute dann weg. „Das ist m-mein eigenes Problem.“
 

„Es ist unsere Aufgabe, das zu tun“, erklärte The Starchild lächelnd. „Wir sind dafür zuständig, die Ordnung zu bewahren und uns um Neuankömmlinge zu kümmern.“
 

„Ich bin aber k-kein Neuankömmling!“, wandte Floyd wütend ein. „Ich bin schon seit... Langem hier... Noch länger als... Tommy und Gina. Und trotzdem... habe ich mich noch nicht... hier zurechtgefunden.“
 

„Es liegt nicht an dir“, sagte The Spaceman ruhig. „Manche brauchen eben länger, und bei anderen geht es schneller. Du bist nicht der Einzige, der sich noch einleben muss. Die Kinder des Wunderlandes werden aus der Fantasie der Menschen dort draußen geboren und müssen erst einmal zu sich selbst finden. Es ist nur natürlich, dass ihr eure Zeit benötigt, um heranzureifen und unsere Welt mit all ihren Facetten verstehen zu lernen.“
 

„Ich glaube... ich werde es nie verstehen“, gab Floyd leise zur Antwort. „Ich... existiere nur, damit die anderen s-sich... über mich lustig machen können...“
 

Verdammt, dachte Alice augenblicklich, als ihm einfiel, mit welchen Worten Ozzy und er den Showmaster aus Floyds Gedanken vertrieben hatten – nicht gerade einfühlsame Worte, wenn er bedachte, wie seine Vergangenheit scheinbar ausgesehen hatte. Trotzdem war es notwendig gewesen. Und er hatte schließlich nicht ahnen können, dass es einmal Zeiten gegeben hatte, in denen der General... Er hatte ihn völlig falsch eingeschätzt.
 

„Nimm es nicht zu schwer. Auch du wirst früher oder später deinen Platz bei uns finden!“, fuhr The Spaceman unbeirrt fort, und sein Bruder fügte aufmunternd hinzu: „Denke immer daran, dass das Königspaar dich genauso achtet wie alle anderen, die hier leben!“
 

Damit verschwanden die Zwillinge und ließen Floyd alleine zurück, ohne ihm jedoch wirklich geholfen zu haben, wie es aussah. Sie hatten ihre Schützlinge fortgeschickt, damit sie ihn in Ruhe ließen, ja. Aber seinen Stolz wiederherzustellen... Das konnten selbst sie nicht innerhalb weniger Minuten bewerkstelligen.
 

Alice konnte sehen, wie der Schauplatz – bisher schien das Geschehen sich in irgendeinem Teil des Schlossgartens abgespielt zu haben – sich auflöste und Stück für Stück zu einer neuen Kulisse formte, zu einer dunklen, aber ebenfalls nicht unbekannten Kulisse. Ein Raum. Die Beleuchtung war ausgeschaltet, nur schwaches Licht der vermutlich gerade untergehenden Sonne drang durch das Fenster herein.
 

„Das Königspaar“, seufzte Floyd, der in der Mitte des Raumes stand, nun ohne sein Ferkel, und einen Gegenstand fixierte – wahrscheinlich einen Spiegel; es war schwer zu erkennen, denn Alice sah ihn nur von der Seite –, bevor er eine Hand nach diesem ausstreckte und hindurchgriff. Es musste sich um Marilyns Spiegel handeln, wenn dies möglich war. Er befand sich also in seinem Gemach. „Sie haben Unrecht. Das Königspaar... interessiert sich nicht für mich.“
 

Einen Moment lang blickte er zur Seite und ließ von dem Glas ab, dann sah er wieder hinein, lange und intensiv, so als versuche er angestrengt, sich selbst darin zu erkennen.
 

„Vielleicht... stimmt es, was G-Gina und die anderen sagen. Ich bin... selbst schuld. Weil ich einfach n-nicht hierhergehöre. Weder auf die helle... noch auf die dunkle Seite...“
 

Noch immer betrachtete er sich selbst wie ein seltenes Tier, das er zuvor noch nie gesehen hatte, bis der Ausdruck in seinen Augen plötzlich ängstlich wurde und er sich zwei Schritte von dem Spiegel entfernte, als habe er auf einmal etwas Furchteinflößendes darin entdeckt. Alice trat hinter ihn, um zu sehen, was Floyd sah, und musste bei dem Anblick selbst schlucken. Zum einen wegen der abscheulichen Gestalten, die sich in dem Glas spiegelten, obwohl sie nirgends in diesem Raum wirklich zu sehen waren, und zum anderen wegen seiner eigenen Reflektion, die auch Floyd dazu zu veranlassen schien, sich erschrocken zu ihm umzudrehen.
 

„E-Eure M-M-Majestät...!“, stammelte er, als sie sich nun direkt gegenüberstanden. Tatsächlich. Er musste ihn für Alicia halten. Alice schaute an sich herunter, konnte allerdings, entgegen dem, was seine Spiegelung zeigte, nicht feststellen, dass er wie seine Vorgängerin aussah. Andererseits war das hier Floyds Albtraum und auch dessen Wahrnehmung, die er im Spiegel gesehen hatte. Es war erstaunlich genug, dass er ihn überhaupt sehen konnte. „I-Ich... Ich wollte nicht u-ungefragt... Ich meine-“
 

„Kein Grund, nervös zu werden“, unterbrach Alice seine mühevollen Erklärungsversuche schnell. Er hatte das starke Gefühl, eigentlich noch mehr sagen zu müssen. Aber was? Die Situation war dermaßen absurd, dass ihm für den Moment die Worte fehlten.
 

„Eure H-Hoheit... Ich... Verzeiht mir!“, übernahm Floyd nach einer Weile des Schweigens wieder das Reden – jedoch bloß für ein paar Sekunden, denn kurz darauf lief er starr an ihm vorbei, offenbar darauf bedacht, ihn nicht länger als nötig anzusehen. „Ich werde s-s-sofort wieder gehen.“
 

„Nein, warte...!“
 

Überrascht blieb er stehen, noch immer in dem Versuch, Augenkontakt möglichst zu vermeiden.
 

„Werdet Ihr... es dem König sagen...?“, fragte er vorsichtig. „D-Dass ich unerlaubt hier war? Er wird... böse auf mich sein, richtig?“
 

„Dem König? Du meinst...“ Richtig. Marilyn war zu Alicias Lebzeiten noch der König gewesen. Ob seine Wandlung zur Herzkönigin etwas mit ihrem Tod zu tun gehabt hatte? „... Nein. Ich werde ihm nichts sagen, versprochen. Aber...“ Erneut sah er zu dem Spiegel, der mittlerweile nichts Ungewöhnliches mehr aufwies, und wandte sich dann wieder Floyd zu. „Diese Wesen... Da waren vorhin seltsame Wesen in dem Spiegel. Was... hat das zu bedeuten?“
 

„Ihr h-habt sie auch... gesehen?“, erwiderte sein Gegenüber aufgeregt und näherte sich ihm nach kurzem Zögern wieder ein wenig – allerdings ohne ihn anzuschauen. „Ich, ähm... Wie haben sie ausgesehen? Die W-Wesen, m-meine ich... Was habt... Ihr genau g-gesehen?“
 

„Naja, wie soll ich das beschreiben... Es waren keine Menschen, aber ich weiß auch nicht, was es sonst darstellen sollte. Komische, verformte Dinger mit gruseligen Fratzen... Siehst du sowas öfter?“
 

„N-Nun... äähm...“, war alles, was er zur Antwort bekam. Er hatte nicht sonderlich viel erwartet, aber ein klein wenig aufschlussreicher hätte es durchaus sein dürfen.
 

„Herrje, was ist denn los mit dir? Kannst du mich nicht wenigstens angucken, wenn du mit mir sprichst?“, fragte er, hatte jedoch gleich das Gefühl, etwas Falsches gesagt zu haben, als er sah, wie Floyd betreten in Richtung der Wand starrte. „... Schon gut. Du brauchst mich nicht angucken, wenn dir das, ähm... unangenehm ist.“
 

„Ihr seid so... nett zu mir“, sagte Floyd leise, sodass er es gerade eben verstehen konnte. „N-Normalerweise seid Ihr... das nicht.“
 

Nicht?, dachte Alice, verkniff sich aber, es auszusprechen. Sollte das heißen... Unmöglich. Alicia, die Königin, konnte doch unmöglich genauso gemein zu ihm gewesen sein wie ihre Untergebenen...?
 

„Hör zu, Floyd...“, begann er, nachdem er eine Weile darüber nachgedacht hatte, wie er es formulieren sollte, und letztlich doch zu keinem wirklichen Ergebnis gekommen war. „Ich weiß nicht, wie ich das jetzt erklären soll, und hoffe, du glaubst mir einfach... Ich bin nicht Alicia. Und das hier ist auch nicht echt. Es ist nur eine Illusion, die unser gemeinsamer Feind heraufbeschworen hat, um uns zu verwirren. Ich bin Alice, und du... du bist der General. Okay? Du musst dich nicht zurückziehen oder dich herumschubsen lassen. Du bist der General in Marilyns- Ich meine, in der königlichen Gefolgschaft – und jeder hier hat Respekt vor dir. Eine ganze Menge sogar.“
 

„Alice...? Aber... was ist m-mit den... anderen? Ich k-kann das nicht glauben! Wer hat... vor mir denn schon Respekt...?“
 

„Floyd! Das hier ist ein Albtraum, in dem wir beide gefangen sind, weil unser Feind mit unfairen Mitteln spielt...! 'Die anderen' sind längst nicht mehr dieselben wie früher!“ Einen Moment überlegte er, bevor er schließlich den Abstand zwischen sich und dem General weiter verringerte und ihn dazu zwang, ihm in die Augen zu sehen. „Sie müssen sich erinnern! Ich bin der Auserwählte...! Sie können mich nicht leiden und haben in einem Prozess gegen mich ausgesagt. Und... und Black Beauty! Ihr fliegendes Schwein, das die meiste Zeit über als Reittier des Schwarzen Ritters unterwegs ist... Das müssen Sie doch noch wissen, oder?“
 

„B-Black Beauty? Dieser Name...“, murmelte Floyd, als hätte er tatsächlich eine Eingebung. „Und der... Schwarze Ritter? Irgendwie... kommt mir das bekannt vor...“
 

„Ja, richtig. Lassen Sie sich von den Spielchen dieses Psychopathen nicht verunsichern!“, sagte Alice ermutigend. „Es ist nur eine Halluzination. Wachen Sie auf, General Floyd!“
 

Einen viel zu lang scheinenden Augenblick lang sah dieser mit einer unheimlichen Leere in den Augen an ihm vorbei, dann knickte er plötzlich ein und sank vor ihm auf den Boden, die Arme vor dem Gesicht verschränkt, so als wären da noch immer düstere Visionen, die nur er wahrnahm und die er verzweifelt versuchte beiseitezuschieben.
 

„Die... Die anderen...“, brachte er scheinbar geistesabwesend hervor; es sah aus, als würde er sich auf irgendetwas konzentrieren. „Gina und die restlichen Frauen... Ich habe sie gesehen... im Kerker der Kehrseite...“ Er zögerte kurz, bevor er weitersprach. „Ich war es, der sie freigelassen hat...“
 

Alice brauchte einen Moment, um zu begreifen, wovon er redete. Offenbar waren dem General einige Dinge aus der Gegenwart wieder eingefallen. Es dauerte ein wenig, bis er sich zusammenreimen konnte, in welchem Kontext all diese Faktoren zueinander standen. Wahrscheinlich hatten die Illusionen des Showmasters auch auf ihn ihren Einfluss – jedenfalls schien es zunehmend schwieriger zu werden, bei all dem Durcheinander den Überblick über das Hier und Jetzt zu behalten.
 

„Ich habe das alles getan“, flüsterte Floyd, dessen Stimme inzwischen wieder mehr danach klang, wie sie sich für gewöhnlich anhörte – allerdings hatte Alice ihn zuvor noch nie derart bestürzt erlebt. „Ich bin schuld an dem Chaos, das jetzt hier herrscht...!“
 

„Das ist nicht wahr!“, unterbrach er diesen Gedankengang rasch. „Sie können nichts dafür, was passiert ist. Das Phantom hatte Sie vollständig unter seiner Kontrolle!“
 

„... Nicht vollständig“, erwiderte er gerade laut genug, dass es zu verstehen war. Vielleicht hatte er es auch weniger gehört als von seinen Lippen abgelesen.
 

Was hatte all das zu bedeuten? Wenn es stimmte, was das Phantom gesagt hatte, und Marilyn die Frauen des Wunderlandes vor langer Zeit auf die Kehrseite entführt und dort eingesperrt hatte, Floyd sie nun, vom Showmaster gesteuert, wieder freigelassen hatte... diese aber, zumindest seinem Traum zufolge, früher einmal normale Menschen – und keine Zombies – gewesen waren...
 

Ich glaube, ich bin in den kompliziertesten Mist hineingeraten, der irgendjemandem auf diesem verfluchten Planeten nur passieren kann, ging es ihm mit einem Mal durch den Kopf, wobei die Bezeichnung 'Planet' vermutlich mehr als unangemessen war, wenn man sich nicht einmal sicher sein konnte, ob man sich überhaupt noch im selben Universum befand, in dem auch die Erde zu finden war.
 

Alice dachte daran zurück, wie das weiße Kaninchen ihn hierhergeführt hatte, und dann daran, wie er auf dem Weg zum Schloss ein seltsames Rätsel nach dem nächsten hatte lösen müssen, bevor ihm die Ehre zuteil geworden war, die Herzkönigin persönlich kennenzulernen. Er dachte an seine Ankunft bei Hofe und an all die vertrauten Gesichter, von denen er empfangen worden war. Und plötzlich fiel ihm Charlie ein.
 

„Charlie...“ Floyd war derjenige gewesen, der das Verschwinden der Schlange als erstes bemerkt hatte. Er und anschließend auch die Königin hatten überall gesucht, jedoch im ganzen Schloss keine Spur von ihr gefunden. Im ganzen Schloss, bis auf... „Natürlich! Warum ist diese Idee mir nicht schon vorher gekommen?“
 

„Was...? Wie bitte?“
 

„Vielen Dank, General! Sie haben mir sehr geholfen!“, sagte er lächelnd, was Floyd maßlos zu verwirren schien, ehe er einige Schritte hinaus in die nun nicht mehr ganz so aussichtslose Dunkelheit trat, wo er langsam und vorsichtig nach der Wand suchte, von der aus er sich, wenn er sich nur genug Mühe gab, bis zu der großen Treppe würde vorantasten können, die zu den königlichen Gemächern führte. Und von dort aus... von dort aus würde er auf die Kehrseite gelangen. Dorthin, wo die Dunkelheit allem Anschein nach ihren Ursprung hatte.
 

Obwohl noch immer nicht viel mehr als schwache Umrisse zu erkennen waren, glaubte er, seinem Ziel immerhin ein Stück weit näher gekommen zu sein, als er, wie aus dem Nichts, das Geräusch auf den Boden treffender Absätze hinter sich vernahm. Schon bevor er sich umdrehte, wusste er, wer es war, der dieses Geräusch verursachte.
 

„Marilyn...!“
 

Tatsächlich war er dort, nur etwa einen halben Meter von ihm entfernt, unverändert – so als wäre er die ganze Zeit über hier gewesen. Still wie eine Statue stand er vor ihm und musterte ihn mit seinen puppenhaften Augen, so wie er es schon immer getan hatte. Es kam ihm vor, als hätte er ihn eine Ewigkeit nicht mehr gesehen.
 

„Wer hat dir eigentlich erlaubt, mich so zu nennen?“
 

„Was?“ Irritiert wandte er den Blick kurz von der Königin ab, bevor er sie lachend wieder ansah. „Oh, verzeiht meine Unhöflichkeit... Eure Hoheit. Ich hoffe, es geht Euch gut?“
 

Ein kaltes Lächeln zierte das Gesicht ihrer Majestät, als sie wortlos und erhobenen Hauptes an ihm vorbeischritt. Erst als sie inmitten der Finsternis stehenblieb, antwortete sie ihm mit monotoner Stimme.
 

„Mir geht es blendend. Hast du vielleicht etwas anderes erwartet? So schnell gebe ich mich nicht geschlagen – schließlich bin ich die Herrscherin dieser Welt.“ Einen Moment lang fragte er sich, worauf sie hinauswollte, bis sie ohne auch nur einen Hauch von Emotionen fortfuhr. „Du solltest dir lieber Sorgen um dich selbst machen, Alice. Mich aus dem Spiel zu werfen, erfordert mehr als ein lächerliches Spukgespenst und einen General mit Minderwertigkeitskomplexen. Du hingegen... bist hoffnungslos verloren, wenn ich dir nicht helfe“, und nicht viel später fügte sie etwas leiser hinzu: „Du glaubst doch nicht im Ernst, dass du Alicia auch nur ansatzweise ersetzen könntest.“
 

Dann ging sie, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, und verschwand in der tiefen Schwärze, nichts als den langsam im Saal verklingenden Nachhall ihrer Schritte zurücklassend. Und nicht nur ihre Schritte hallten wie in einer grauenvollen Endlosschleife immer wieder nach – auch ihre Worte.
 

Du kannst Alicia nicht ersetzen.
 

Es war nicht ihr exakter Wortlaut gewesen, aber genau das war es, worauf es hinauslief.
 

Du bist nicht sie, also bist du für mich n i e m a n d.
 

„Nein... Das kann nicht sein... Sie würde so etwas nicht sagen!“ Sie verhielt sich zwar manchmal kalt – aber nicht so kalt. Das war einfach nicht ihre Art... oder? „Nein, niemals! Das muss ein Albtraum sein...! Die Träume der anderen haben auch real ausgesehen, und trotzdem waren sie es nicht...“ Ja, genau. Eigentlich lag es auf der Hand. Warum sollte auch ausgerechnet er von den Intrigen des Showmasters verschont bleiben? Die Königin, mit der er eben gesprochen hatte, war nicht die Echte gewesen sondern bloße Einbildung. Ein Trick. Schließlich hätte er auch das Zuschlagen des Schlosstores hören müssen, wäre sie wirklich wieder hereingekommen. Wenn er darüber nachdachte, ließ das alles nur den Schluss zu, dass er nun ebenfalls ein Opfer der Schreckensillusionen geworden war. Nur eines gefiel ihm nicht an dieser Erkenntnis... „Egal. Es war nicht echt. Denk nicht weiter darüber nach und finde diese verdammte Treppe...!“
 

Wenn er schon dazu auserkoren war, das Wunderland mit all seinen Bewohnern vor dem Untergang zu bewahren, dann war jetzt der Zeitpunkt gekommen, dies zu tun – bevor es endgültig zu spät war.

Kapitel 13 - Fehler im System-Teil 2

Es war nicht ganz einfach gewesen. Seit Floyds Halluzination – und seiner eigenen – hatte er zu keinem der fremden Albträume mehr Zutritt gehabt. Einerseits befand er das als erleichternd, da er höchstwahrscheinlich ohnehin viel zu viel gesehen hatte, doch andererseits bedeutete es auch, dass das magische Licht, von dem die anderen jedes Mal umgeben gewesen waren, wenn das Phantom ihn in ihre Gedanken gelassen hatte, ausblieb und er verstärkt darauf Acht geben musste, bei der Finsternis in niemanden hineinzulaufen. Trotzdem hatte er es geschafft, sich bis zu der Tür zu tasten, hinter der sich, seiner Erinnerung nach, Marilyns Gemach verbarg. Jedenfalls hoffte er, dass es die richtige Tür war und dass der Rest des Weges nicht noch mehr Komplikationen für ihn bereithalten würde.
 

Mit Sicherheit wird es noch um einiges komplizierter werden. Es gibt keinen Grund, warum er mich jetzt einfach so davonkommen lassen sollte, dachte Alice und sah diesen Gedanken im nächsten Moment bestätigt, als er die Tür öffnete und den magischen Spiegel erblickte, der den sonst dunklen Raum mit einem unheilvollen Leuchten erhellte, so als habe er nur auf ihn gewartet.
 

Wieder war er im Begriff, den gefährlichsten und verbotensten Teil des Schlosses zu betreten, ohne dass die Königin etwas davon wusste, und fühlte sich unweigerlich an das erste Mal erinnert, das er sich an den seltsamen Ort hinter der Glasscheibe gewagt hatte. Obwohl es erst einige Stunden zurücklag, erschien es ihm, als seien bereits Tage oder Wochen seitdem vergangen. Nein, vielmehr war es, als läge ein ganzes Leben zwischen diesem und dem letzten Mal. Nach allem, was er in der Zwischenzeit erfahren hatte, wirkte es geradezu absurd, dass es sich dabei noch immer um denselben Tag handeln sollte.
 

Ein vertrautes, jedoch nicht unbedingt angenehmes Gefühl erfasste ihn, als er durch das Glas auf die andere Seite trat und sich in die spiegelverkehrte Empfangshalle begab. Es war nicht deshalb unangenehm, weil die Räumlichkeiten keinerlei Einrichtung und Farbe besaßen – auch wenn das nicht gerade zu einer wärmeren Atmosphäre beitrug. Es lag eher an dem Wissen über diese Welt und über das Königspaar, das er inzwischen erworben hatte. Alicia. Sie hatte hier gewohnt. Gemeinsam mit dem ganzen Rest der Kehrseite war sie hier als Marilyns Gegenstück zum Leben erwacht; als Kontrast zu ihm und seiner Seite des Schlosses. So war es gewesen, nicht wahr?
 

... Bis ihr Leben ein tragisches Ende gefunden und der Tod sich in allen Winkeln der Spiegelwelt ausgebreitet hatte, leise und bedrohlich und nur darauf aus, weitere ahnungslose Opfer zu sich zu locken.
 

„Ich sollte wirklich aufhören, so etwas zu denken“, sagte er zu sich selbst, während er die Treppe in den Eingangsbereich hinunterschritt, deren Stufen dabei ein noch lauteres Ächzen von sich zu geben schienen als beim letzten Mal, das er hier entlanggegangen war. Er versuchte, sich einzureden, dass es reine Einbildung sei, doch leider machte die Treppe ihm einen Strich durch die Rechnung, noch bevor er den Boden erreicht hatte. Mit einem fiesen Knacken war die Stufe unter ihm in sich zusammengekracht, und ehe er sich versah, hing er über einem klaffenden Abgrund mitten im Nirvana, mit nichts als einem schmalen Holzstreifen über sich, an dem er sich festhalten konnte. Es musste ein Stück von der nächsten Stufe sein, das glücklicherweise nicht abgebrochen war und ihn nun davon abhielt, zu fallen.
 

„Verdammt, so ein riesiger Mist...“, fluchte er tonlos, warf einen Blick nach unten, wo die erschreckende dunkle Tiefe bereits auf ihn zu lauern schien, und stellte dann beunruhigt fest, dass Szenen wie diese, in denen er wenig erfreuliche Bekanntschaften mit tiefen Abgründen machte, ihn seit geraumer Zeit mit einer beachtlichen Aufdringlichkeit verfolgten. „Augenblick mal... Szenen wie diese...?“
 

Was, wenn auch seine jetzige Lage bloß eine böse Illusion war? Ein Teil seines persönlichen Albtraums, der ihn noch immer nicht losgelassen hatte? Es gab nur eine Möglichkeit, das herauszufinden...
 

Alice schloss die Augen – und ließ los. Für einige Sekunden fühlte es sich tatsächlich ekelhaft schwindelerregend an, allerdings eher auf eine Art, als wäre er aus einem Zustand zwischen Schlaf und Realität herausgeschleudert worden. Und als er die Augen öffnete, stand er wieder auf der Stufe, genau wie zuvor. Sie war nicht zusammengekracht. Alles war beim Alten.
 

„Hah! Nicht mit mir!“, lachte er triumphierend, ehe er die letzten Stufen ebenfalls schnellstmöglich hinter sich brachte und sich schließlich noch einmal skeptisch zu der Treppe des Grauens umdrehte. „Ist ja auch eigentlich echt unlogisch. Nur weil das alte Teil einstürzt, tut sich darunter nicht plötzlich ein gigantischer Höllenschlund auf... hoffe ich zumindest.“
 

Kaum hatte er den Schock von eben halbwegs überwunden, war das nächste Phänomen zur Stelle, das ihm einen Schrecken einjagte, weil es ungefähr das Letzte war, womit er gerade jetzt gerechnet hatte.
 

Der Hutmacher und die Haselmaus. Auf einmal standen sie vor ihm, als er vorgehabt hatte, seinen Weg fortzusetzen, ein überaus dubioses Lächeln in ihren Gesichtern und in einer Weise auf ihn fixiert, die nichts Gutes vermuten ließ.
 

„Na... Eure dunkle Majestät?“, grinste der Hutmacher und zog seinen Köter an dessen Leine etwas näher zu sich. Piepwuff hielt einen knallroten Gummiknochen in der Hand, den er umklammerte, als wolle er damit jemanden erschlagen. „Was treibt Ihr denn hier Schönes? Vertrauensübungen?“
 

Alice war sich nicht sicher, weshalb, doch aus irgendeinem Grund wollte ihm auf die Schnelle keine passende Antwort darauf einfallen. Vielleicht war er auch bloß zu abgelenkt von den quietschenden Lauten, die Piepwuff unaufhörlich aus seinem verdächtigen Spielzeug herausquetschte.
 

„Ihr wisst, dass solche nicht ratsam sind, wenn niemand hinter Euch steht, nicht wahr?“, wisperte dieser geheimnisvoll, schielte dann zu seinem augenscheinlichen Herrchen und überreichte ihm den roten Knochen – offenbar, damit er ihn warf. Genau das tat der Hutmacher auch sogleich, woraufhin sein fehlgeleitetes Haustier mit einer verstörenden Besessenheit dem nervtötenden Quietschding hinterherhetzte. Ein, selbst für wunderländische Verhältnisse, skurriler Anblick, fand Alice.
 

„Ihr solltet auf die Haselmaus hören“, sagte sein Gegenüber, kichernd wie eine alte Hexe. „Sie irrt sich äußerst selten.“
 

„Sehr schön, wirklich. Habt ihr noch mehr solcher tollen Ratschläge für mich parat?“, fragte er zynisch, was den Anderen lediglich noch vergnügter zum Kichern brachte.
 

„Und ob!“, erwiderte er, als Piepwuff auf allen Vieren und mit dem Knochen zwischen den Zähnen zu ihm zurückgetrabt kam. „Wollt Ihr noch einen hören? Ich verspreche, er wird auch ganz bestimmt hilfreich sein!“
 

„Kann's kaum erwarten. Raus damit.“
 

„Also, mein persönlicher Rat an Euch, Majestät“, lachte der Hutmacher und deutete so etwas wie eine Verbeugung an. „Verlasst Euch niemals auf das, was eine verrückte Wahnvorstellung mit Zylinder euch erzählt. Ihr könntet es bereuen... oder auch nicht. Hihihi...!“
 

„Man kann nie wissen, was sich in den Schatten der eigenen Seele versteckt hält“, fügte Piepwuff hinzu, nachdem er sein angekautes Spielzeug vor sich abgelegt hatte. „Passt gut auf, wo Ihr hintretet.“
 

„Ja... danke“, gab Alice nach einigem Zögern misstrauisch zurück, wandte sich dann von den beiden ab und überlegte nur kurz, durch welche Tür er als nächstes zu gehen hatte, um in den Keller zu gelangen, bevor er sich ziemlich sicher war, die Antwort zu kennen, und zielgerichtet auf ebendiese Tür zusteuerte – zumindest hätte er das getan, wäre nicht urplötzlich das Geräusch klirrender Ketten, untermalt von einem vollkommen irren „Mmmmmhhmppfff!!“, dazwischengekommen, das unmittelbar neben ihm ertönte, als er gerade im Begriff gewesen war, an der Treppe vorbeizugehen, und ihn dazu veranlasste, einen raschen Satz nach hinten zu machen. Er hätte schwören können, dass bis eben niemand dort gewesen war; niemand, bis auf die zwei Freaks, die nun offenbar köstlich amüsiert zu ihm herübersahen, während ihr noch immer mit Klebeband geknebelter und seitlich an das Treppengeländer geketteter Mitbewohner ihn aus bedenklich weit aufgerissenen Augen musterte. Der Märzhase. Gefesselt wie ein Sträfling und furchteinflößender als ein kannibalistischer Psychiater in einem Hochsicherheitstrakt.
 

„Ach du Schande“, keuchte er, bemüht, die Ruhe zu bewahren, als er registrierte, dass der Irre, der für seinen Geschmack eindeutig zu dicht bei ihm stand, Fishs Kostüm trug. „... Was hat das zu bedeuten? Woher... hat er diese Sachen?“
 

„Oh, seid Ihr sicher, dass Ihr das wissen wollt, Majestät?“, entgegnete der Hutmacher viel zu fröhlich und hätte Alice mittlerweile sicher längst zur Weißglut gebracht, wäre er nicht eine solch geduldige Person gewesen.
 

„Ja, ich bin mir sogar sehr sicher, dass ich das wissen will. Und hör auf mit diesem ständigen 'Majestät'!“
 

„Nun gut, Majestät“, grinste der Hutmacher belustigt. „Sagen wir es mal so... Unser guter Freund, der Märzhase, fühlte sich ein wenig hungrig. Und als unser allerseits geschätzter Spaßvogel Fish ihm über den Weg lief, kam er schnell zu der Ansicht, dass er sich an seinem schnuckeligen Kostüm den Magen verderben würde. Er verträgt Glöckchen nicht so gut, wisst Ihr?“
 

„Er hat sozusagen... einen Narren an ihm gefressen“, ergänzte Piepwuff und fügte schließlich ebenso trocken hinzu: „Was meint Ihr, weshalb dieser todsichere Streifen in seinem Gesicht klebt?“
 

Alice konnte sich nicht entscheiden, ob er dieser Geschichte glauben und schnell das Weite suchen oder einfach stehenbleiben und darüber lachen sollte. Solange niemand von ihm erwartete, sich mit dem unzurechnungsfähigen Häschen zusammenzutun, um Buffalo Bill zu schnappen, gab es keinen Grund zur Sorge, aber da er in dieser Welt langsam aber sicher so gut wie nichts mehr ausschließen konnte und es ihm auch ganz und gar nicht gefiel, wie der Hase, begleitet vom leisen Klingeln der Glöckchen, immer näher an ihn heranschlich, beschloss er, die drei Gestörten vorerst alleine zu lassen und sein eigentliches Vorhaben fortzuführen.
 

„Alles okay. Mir geht es gut. Ich werde mir das so lange einreden, bis ich es selbst glaube“, murmelte er, während er mit Bedacht die Kellertreppe hinunterschritt, die genauso grau war wie alles andere um ihn herum. Vielleicht würde er sich später Gedanken darüber machen, was es über ihn aussagte, dass er all diese Dinge halluzinierte, und ob es tröstlich sein sollte oder eher nicht, falls besagte Dinge möglicherweise doch nicht seiner Fantasie entsprangen sondern wirklich real waren. Schließlich gab es keine Garantie dafür, dass auf der Kehrseite nicht tatsächlich eine Kopie der Teegesellschaft existierte, deren fleischfressender Märzhase sich aus einer Laune heraus eine bemitleidenswerte Fish-Kopie einverleibt hatte. „Ich bin nicht verrückt. Und wenn doch, ist es halb so schlimm. Verrückte schreiben bessere Musik.“
 

Die ungeheuer triste Kälte des schmalen Ganges brachte ihm einen unwohlen Schauer ein, vor allem, da er sich nur zu lebhaft daran erinnert fühlte, wie er heute Morgen bereits an diesem Ort gewesen war – bevor der Showmaster und die kreischenden Stimmen seiner eigens manipulierten Frauen ihn schleunigst wieder von hier vertrieben hatten. Dieses Mal waren weder der Showmaster noch irgendwelche Frauen hier unten, denn sie hielten sich restlos alle drüben, auf der anderen Seite des Schlosses, auf. Vermutlich war es auf der Kehrseite, trotz der stetigen Farblosigkeit, momentan sogar noch erträglicher als dort. Hier war wenigstens überhaupt etwas zu sehen.
 

„Charlie...?“, rief er verhalten, in der Hoffnung, die Schlange würde ihn hören und ihm irgendein Zeichen geben, in welchem Raum sie sich befand. Doch nichts. Es war totenstill. „Charlie, bist du hier irgendwo? Ich bin es, Alice...!“
 

„... cccchhh... hh... sssss...“
 

„Was?“ War das etwa tatsächlich eine Antwort gewesen? Nur aus welcher Richtung war sie gekommen? „Charlie?“, fragte er noch einmal, als er die schwere Kerkertür öffnete, für die er, zu seiner Erleichterung, anscheinend keinen Schlüssel benötigte – und beinahe vergaß zu atmen, als er einen Blick in die kleine Zelle erhaschte. Die Wesen... Sie waren dort drin. Die schaurigen Figuren, die ihm nur flüchtig in Floyds Albtraum aufgefallen waren. Nein, 'schaurig' war gar kein Ausdruck für die missgestalteten Dinger, die eng aneinandergedrängt vor den steinigen Wänden der Zelle lungerten und ihn aus leblosen Augenhöhlen anstarrten, so als würden sie überlegen, was sie mit ihm anstellen sollten, jetzt, da er sie gefunden hatte. Von Nahem wirkten sie noch abstoßender als beim letzten Mal, das er sie bloß verschwommen in der Spiegelung hatte sehen können. Jetzt standen sie vor ihm. Floyds Ängste schienen unterbewusst auf ihn übergegangen zu sein, eine andere Erklärung hierfür wollte ihm jedenfalls nicht einfallen. „Okay... Lasst euch nicht stören, Leute. Ich bin auch schon wieder weg. Macht's gut... und so!“
 

Mit einem lauten Knall hatte er die Tür wieder geschlossen, bevor eine der Kreaturen auch nur ein einziges Mal hätte blinzeln können – wobei er ohnehin anzweifelte, dass sie das konnten. Zum Blinzeln brauchte man, seines Wissens nach, Augenlider, und er war sich ziemlich sicher, solche nicht in deren maskenhaften Gesichtern gesehen zu haben.
 

„Wenn das so weitergeht, lasse ich mich freiwillig in einer Gummizelle einschließen“, sagte er zu sich selbst, inständig hoffend, dass er lebend wieder hier herauskommen würde. „Aber ich sollte es positiv sehen: Viel schlimmer kann es nicht mehr werden. Ich bin alleine in einem verlassenen, kalten Keller, umgeben von ein paar Freaks und Monstern, die mich im besten Fall vermutlich fressen werden, wenn ich mich nicht in Sicherheit bringe, und zweifle noch dazu an meinem Verstand, weil all dieser Horrorkram, als Krönung des Ganzen, wahrscheinlich... meiner eigenen Fantasie entstammt...! Was für ein Spaß, ich lache darüber, HAHAHA!“
 

„Alicccce...!“
 

„Charlie?! Oh, bitte sag mir, dass das keine Einbildung war...!“ Das Zischen war definitiv nicht aus dem Kerker gekommen, also brauchte er diesen Raum auch nicht genauer zu untersuchen. Wenigstens das. „Wo bist du, Charlie?“
 

„... ccchhhh bin... bssstellkammer...!“, vernahm er die Antwort, leise und sehr undeutlich, aber er vermutete stark, dass es „Ich bin in der Abstellkammer“ heißen sollte. Schnell öffnete er eine der beiden übrigen Türen, die er hier unten ausmachen konnte, und hatte offenbar Glück. Kein weiterer Freak, Geist oder sonst etwas in dieser Richtung schien sich dahinter zu verbergen. Stattdessen entdeckte er sofort Charlie, der zusammengerollt auf dem Boden lag und sich, sobald er ihn erblickte, freudig aufrichtete und zu ihm hinkroch. Alice war froh zu sehen, dass er scheinbar unversehrt war.
 

„Charlie! Ich glaub's nicht, ich habe dich wirklich gefunden!“
 

„Ichhh wusssssste, du würdessst früher oder ssspäter hierherkommen!“, zischte die Schlange, als er sich zu ihr herunterbeugte und sie sich in gewohnter Manier um die Schultern hängte. „Eigentlichhh hatte ichhh ja schhhon beim ersssten Mal, dassss du hier warssst, gehofft, du würdessst mich befreien... Aber meine Ssstimme war wohl zzzu leissse und wurde von den Frauen übertönt...“
 

„Du warst heute Morgen schon hier drin?“, hakte er nach und dachte daran, wie aufgelöst Marilyn gewesen war, als er Charlies Abwesenheit registriert hatte. „Alle haben nach dir gesucht und sich Sorgen gemacht! Was hast du überhaupt in dieser Kammer verloren?“
 

„Dasss issst... eine lange Geschhhichte. Die beiden Ritter... Ichhh bin, aufgrund einer Vorahnung, heimlichhh zzzu ihnen in den Kerker-“
 

„Ich weiß. Fish hat mir davon erzählt. Was ist danach passiert?“
 

„Oh. Nun, ichhh... wollte michhh nur für einen Moment auf der Kehrssseite verssstecken, um nach dem Rechhhten zu sssehen, und dann wieder zzzu euch zzzurückkehren“, erklärte Charlie und klang plötzlich sehr verärgert. „Diessser schhhreckliche Kerl war leider auch hier – und hat michhh kurzzzerhand eingesssperrt. Unzzzählige Male habe ichhh versssucht, die Klinke herunterzzzudrücken, aber ichhh konnte esss nichhht... und kam nichhht mehr hier rausss.“
 

„Das klingt ja wirklich schlimm“, bekundete Alice mitleidig und beherrschte sich gerade rechtzeitig, seinem Gesprächspartner den Kopf zu tätscheln. Manchmal vergaß er, dass Charlie mehr als eine gewöhnliche Schlange war und dass er das Haustier der Königin besser mit Respekt behandelte. „Also, ähm... Der Showmaster war es, der dich hier eingesperrt hat, richtig?“
 

„Er issst nichhht der Shhhowmassster. Und er issst auch nichhht Missster Priccce. Dasss sssind nichtsss weiter alsss Namen, die er sssich ausssgedacht hat, um unsss zzzu täuschhhen“, entgegnete Charlie bitter. „Ichhh fürchhhte, ssseine wahre Identität übersssteigt die Vorssstellungssskraft unssseresss Volkesss bei Weitem... Wir müssssssen ihn aufhalten, bevor esss eine Katassstrophe gibt!“
 

„Bin ganz deiner Meinung. Wir sollten keine Zeit verlieren, die anderen sind in großer Gefahr!“, stimmte er ihm zu und war bereits dabei, gemeinsam mit ihm die kleine Kammer zu verlassen, als ihm schlagartig etwas auffiel. Diese Situation... Hatte er nicht etwas Ähnliches erlebt, kurz nachdem er sich das erste Mal mit der Königin unterhalten hatte? Als sie ihm dieses Schlafmittel untergemischt hatte... „Sag mal, Charlie... Du hast doch vorhin von einer Vorahnung gesprochen. Ich habe das Gefühl, dass ich vielleicht auch so etwas hatte, allerdings in Form eines Traumes. In diesem Traum hast du zu mir gesagt, dass wir in Gefahr seien... und dann hast du mir verraten, dass du in Wirklichkeit, naja, gar keine Schlange bist. Ist das wahr?“
 

Der Ausdruck, mit dem das Tier ihn nun ansah, war schwer zu deuten, und die Tatsache, dass es nicht sofort antwortete, gab ihm gewissermaßen zu denken.
 

„Dasss werde ichhh dir ein anderesss Mal erklären, versssprochen. Aber jetzzzt issst nichhht der richhhtige Augenblick dafür, tut mir furchhhtbar leid“, erwiderte Charlie entschuldigend, und Alice bemühte sich so gut er konnte, ihm das zu glauben. Der Augenblick war sicherlich nicht gerade der Passendste, das musste er zugeben. Und den Gedanken, der ihm eben für einen winzigen Moment durch den Kopf gegangen war – den Gedanken, Charlie könnte etwas mit all dem Unheil zu tun haben – verwarf er genauso schnell wieder, wie er gekommen war. Niemals könnte jemand wie er dem Wunderland etwas Böses wollen. Oder?
 

Spinn nicht rum, Alice!, ermahnte er sich selbst und beschloss, die Sache vorerst auf sich beruhen zu lassen, während er die Treppe ins Erdgeschoss raschen Schrittes wieder hinaufstieg, die Tür öffnete – und mit einem Mal vor einem vollkommen unerwarteten Hindernis stand.
 

Eine Mauer. Eine riesige weiße Mauer.
 

„Was zum...? Was bitteschön ist das für ein schlechter Scherz?“
 

„Wie? Wasss meinsssst du?“, gab Charlie verständnislos zurück. Alice sah ihn vollends irritiert an.
 

„Ist doch klar, was ich meine... Warum ist der Durchgang zur Empfangshalle plötzlich zugemauert?!“ In der Hoffnung, es würde sich dabei wieder um eine seiner eigenwilligen Halluzinationen handeln, schlug er versuchsweise mit der flachen Hand vor die Wand, jedoch ohne jegliche Auswirkungen. Sie war genauso standhaft wie eine echte Mauer. Er konnte weder hindurchfassen noch sie auf diese Weise zum Einsturz bringen. „Sieht es für dich gerade zufällig so aus, als würde ich die Luft vermöbeln?“
 

„Exxxakt danach sssieht esss ausss, ja“, gab Charlie merklich verwirrt zur Antwort. Seufzend trat Alice ein Stück zurück, betrachtete das riesenhafte Problem eingehend und überlegte angestrengt, wodurch ein solches Hindernis sich wohl aus dem Weg räumen lassen könnte. Irgendeine Lösung musste es geben – hoffentlich.
 

„Was ist mit dir, Charlie? Kannst du nicht durch die Tür kriechen und von außen versuchen, mich irgendwie zu unterstützen?“
 

„Ssselbssstverssständlichhh“, zischte sein Partner optimistisch, ehe er sich ohne Weiteres durch eine kleine Lücke zwischen den Steinen schlängelte, die sich sofort wieder schloss, sobald er auf die andere Seite der Mauer gelangt war. „Und wie sssoll ichhh dichhh jetzzzt unterssstützzzen?“
 

Interessant. Für Charlie schien die Wand tatsächlich nicht zu existieren – zumindest schien sie ihn nicht aufhalten zu können.
 

Warum ließ er sich dann von ihr aufhalten?
 

„Ich habe genug von diesen faulen Tricks!“, sagte er entschieden, konstant die Stelle fixierend, an der eben noch ein Loch gewesen war. Jetzt war dort nichts mehr. Kein einziger Spalt. Kein einziger Schwachpunkt in der absolut dichten Barriere. „Dieses dämliche Ding steht hier nur wegen mir! Aus dem einfachen Grund, damit ich nicht zu den anderen zurück kann. Ganz genau so ist es. Aber weißt du was, Alice? Das dämliche Ding gibt es nur in deiner Einbildung! Genau wie auch die widerlichen Biester in der Zelle, die durchgedrehte Teegesellschaft von vorhin und... die falsche Herzkönigin... Es ist verdammt nochmal nicht echt!“
 

Einen Moment lang konnte er seinen Augen beinahe nicht trauen, als in einem der Ziegel, die er so starr betrachtete, unversehens ein kleiner Riss entstanden war. Seine Wahrnehmung mochte vielleicht etwas gelitten haben, aber mit absoluter Sicherheit war dort vorher kein Riss gewesen.
 

„Allesss in Ordnung mit dir?“, hörte er Charlie von der anderen Seite aus fragen. „Du sssiehssst ein wenig... besssorgnissserregend ausss.“
 

„Ja, es ist nur... Ich glaube, ich habe gerade eine Idee.“ Konnte es wirklich sein, dass die Mauer mit seinen eigenen Gedanken in Verbindung stand? „Das ist es! Wenn ich meinen Geist von der Blockade des Showmasters befreie, fängt auch die Blockade, die hier vor mir steht, langsam an zu bröckeln...!“
 

„... Bissst du sssichhher, dassss esss dir gut geht, Aliccce?“
 

„Hundertprozentig sicher. Mir geht es fantastisch!“, antwortete er etwas lauter. „Außerdem gibt es noch etwas, dessen ich mir jetzt sicher bin. Und zwar, dass ich nicht verrückt bin, egal, was dieser Showmaster mir weismachen will! Er ist verantwortlich für all die Albträume, er und niemand sonst! Aber das spielt keine Rolle, denn es gibt keinen Grund dazu, sich von etwas in die Flucht schlagen zu lassen, das nicht einmal da ist. Weder die vielen tickenden Uhren, die das weiße Kaninchen heimgesucht haben...“, ein weiterer Stein begann zu bröckeln, „... noch die endgültige Niederlage und der anschließende Rauswurf des Weißen Ritters...“, und ein weiterer, „... noch die Tragödie um Black Beauty waren real. Nichts von all dem war real!“
 

Nach und nach bildeten sich Sprünge in jedem der Steine. Je mehr er sich selbst davon überzeugte, dass all die scheinbar unüberwindbaren Schwierigkeiten nichts als Fantasien waren, die sich in der nächsten Sekunde in Luft auflösen konnten, desto mehr Risse fraßen sich in die Mauer. Trotzdem stand sie noch – denn derjenige, der sie erschaffen hatte, war noch nicht aus dem Schneider.
 

„Floyd“, sagte er leise. Er war die wahre Ursache für diese Barriere. General Floyd. Der Einzige, der ihn selbst während seines Albtraumes hatte sehen und mit ihm sprechen können. Er war anders als die anderen... aber das musste nicht unbedingt von Nachteil sein. „Sie haben diese Wand errichtet, General Floyd. Vielleicht nicht bewusst, aber Sie sind der Grund dafür, dass sie hier steht. Das bedeutet... wir beide müssen uns jetzt darum kümmern, dass sie wieder verschwindet.“
 

Alice dachte an Gina und ihre Freunde und an das Gespött, dem der General jeden Tag durch die Kinder des Wunderlandes ausgesetzt gewesen war. Kinder. Ja, das waren sie in der Tat. Und es war allgemein bekannt, dass Kinder manchmal grausam sein konnten.
 

Er sah die Szene erneut vor sich, jedes Detail, als sei all das nicht Vergangenheit sondern noch immer präsent. Genau genommen war es das auch, schließlich schien es Floyd auch jetzt noch zu verfolgen. Alicia. Sie verfolgte ihn ebenfalls, selbst nach so langer Zeit. Wahrscheinlich trug sie mehr Schuld an seinem Dilemma als sie es sich jemals hätte eingestehen können. Sie... oder er selbst?
 

Ich bin Alicia.
 

Er war sie – oder war es zumindest einmal gewesen. Hieß das also, dass Floyd ihm gegenüber deshalb von Anfang an so misstrauisch gewesen war?
 

Aber... das ist vorbei! Was ich früher war, hat nichts mit heute zu tun...!
 

Es half nichts. Wenn sie diesen Konflikt nicht aus der Welt schafften, würde er auf ewig bestehen. Er musste mit ihm reden. Jetzt sofort. Er musste zu ihm gehen und es ihm sagen.
 

„Floyd?“
 

„E-Eure Majestät...!“
 

Ich bin sie.
 

„Haben sie dir... Schwierigkeiten gemacht?“
 

„N-Nicht der Rede wert. Sie haben s-sich ja wieder verzogen. Wie... immer.“
 

Los, sag es ihm!
 

„Sie sind... die Geister, die dir keine Ruhe lassen, nicht wahr?“
 

Das war nicht, was ich ihm sagen wollte...!
 

„G-Geister? Ihr m-meint doch nicht...Woher... wisst Ihr davon? Niemand a-außer mir sieht d-d-diese Wesen!“
 

„Das stimmt nicht. Ob du es glaubst oder nicht, ich sehe sie auch. Du und ich... wir sind nicht so unterschiedlich, wie du denkst.“
 

Stille. Sie beide standen stillschweigend im Schlossgarten, allein, umgeben von nichts als der Idylle, den Sträuchern und Blumen, die das Anwesen zierten. Floyd sah sie an, mit einem Ausdruck, der alles sagte und gleichzeitig nichts. Alicia versuchte, seinem Blick standzuhalten, obwohl sie das Bedürfnis verspürte, wegzuschauen.
 

„Seht Ihr... den blauen Himmel? Die grünen Wiesen?“, fragte er, offensichtlich darauf konzentriert, die Worte fehlerfrei herauszubringen. „Für Euch... ist es Zuhause. Heimat. Ein Paradies... stimmt's? Aber für mich... ist es... die Hölle.“
 

Jetzt war sie diejenige, die eine Weile lang betreten schwieg, weil sie mit der Wahl ihrer Worte keinen schwerwiegenden Fehler begehen wollte.
 

„... Nicht nur für dich“, antwortete sie irgendwann leise, als Floyds intensiver Blick für sie nicht länger zu ertragen war. „Weißt du... Auch ich fühle mich manchmal gefangen in der Dunkelheit, aus der ich komme. Meine Welt liegt in den Schatten. Ich bin nichts als ein Spiegelbild. Du hingegen hast wenigstens... den blauen Himmel und die grünen Wiesen...“
 

Erstaunt musterte er sie, jedoch nur kurz. Dann wandte er den Blick von ihr ab.
 

„I-Ihr... Ihr versteht... mich also? Ihr hasst... mich in Wirklichkeit... gar nicht?“
 

„Selbstverständlich tue ich das nicht. Wie könnte ich denn?“, entgegnete sie lächelnd, erleichtert, offenbar nichts Verkehrtes gesagt zu haben. „Ich habe... vieles falsch gemacht, Floyd. Wir beide... wir sind nur zwei verlorene Seelen inmitten einer großen, fremden Welt. Wir können so weitermachen wie bisher und uns Jahr für Jahr im Kreis bewegen, ohne den eigentlichen Sinn unserer Existenz herausgefunden zu haben. Aber wir könnten auch von vorne anfangen, uns besser kennenlernen und versuchen, uns mit der Welt, in der wir leben, anzufreunden. Was sagst du?“ Hoffnungsvoll reichte sie ihm eine Hand, als Geste der Versöhnung. „Es... tut mir leid.“
 

Schüchtern sah er zu ihr auf und erwiderte ihr Lächeln, erst zögerlich, doch sie erkannte, dass er es ernst meinte. Und dann nahm er ihre Hand.
 

„Ich... verzeihe Euch, Majestät“, flüsterte er kaum hörbar. Im selben Moment vernahm sie ein lautes Krachen, als die Mauer um sie herum Stein für Stein in sich zusammenfiel.
 


 

„Wassss issst losss, Aliccce?“
 

Charlies Stimme holte ihn zurück in ihre gegenwärtige Lage auf der Schwelle zwischen dem verdrehten Keller und der Empfangshalle. Die Ziegel waren verschwunden, so als wären sie nie da gewesen. Der Durchgang war frei.
 

„Ich habe es geschafft...!“
 

„Wasss geschhhafft? Habe ichhh wasss verpasssssst?“, gab Charlie fragenden Blickes zurück, als Alice eilig an ihm vorbei durch die Tür und danach auf die große Treppe zulief.
 

„Erzähle ich dir später! Komm mit, wir müssen uns beeilen...!“
 

„Besssssser wäre esss. Wir haben genug Zzzeit verloren!“, hörte er ihn hinter sich antworten, als die Schlange ihm folgte und sie gemeinsam durch Alicias Gemach und anschließend durch den Spiegel traten und die Kehrseite somit vorerst hinter sich ließen.
 

Nicht nur er hatte es geschafft... Er hatte entscheidende Hilfe von jemandem bekommen, auch wenn dieser Jemand nicht mit ihm im selben Raum gewesen war.
 

Alice öffnete die Tür zum Empfangssaal der hellen Seite des Schlosses und blinzelte überrascht, als er sah, dass es dort tatsächlich wieder hell geworden war. Und das war nicht das einzige, was er feststellte, als sein Blick in der Mitte des Saales hängenblieb, wo das Phantom ihn bereits seelenruhig erwartet zu haben schien. Allerdings war es nun nicht mehr alleine.
 

„Der Auserwählte...! Welch eine Freude, dich hier zu sehen! Oh, na sowas... Wo hast du denn die hübsche Schlange gefunden?“, rief der Showmaster ihm gespielt verwundert zu. Alice verzog angewidert das Gesicht bei dieser grenzenlosen Heuchlerei.
 

„Da können Sie drei Mal raten“, rief er, noch immer vor dem Geländer stehend, zurück. „Sagen Sie mal... Das sind doch Ihre beiden Wachhunde, die ich da neben Ihnen sehe. Mussten Sie sich Hilfe holen, weil Sie alleine nicht mehr zurechtgekommen sind?“
 

Das Phantom lachte düster.
 

„Oh nein, ganz und gar nicht“, grinste es und tauschte einen belustigten Blick mit seinen persönlichen Bodyguards – Ziggy Stardust und dem Vierten im Bunde der KISS-Truppe – aus. „Ich finde es bloß viel zu amüsant, euch lächerliche Versammlung an Möchtegern-Helden mit euren eigenen Waffen zu schlagen, um es nicht zu tun. Und was würde sich da besser anbieten, als zwei brave und ach so gute Bürger eures famosen Volkes ein wenig Arbeit für mich erledigen zu lassen? Sie tun alles, was ich sage. Und wisst ihr auch, warum sie das tun? Weil ihre angeblich so reinen Seelen schwach genug sind, sich jemandem zu unterwerfen, sobald er ihnen das Blaue vom Himmel verspricht. Die Seelen der Menschen waren schon immer schwach wie nichts anderes. Und genau deshalb seid ihr einem schrecklichen Untergang geweiht! Gebt es zu... Ihr wusstet, dass es früher oder später so kommen würde. Und ihr wollt es nicht anders!“
 

„Sie sind ja vollkommen krank, so zu reden!“, erwiderte er, fest dazu entschlossen, dem Ganzen endlich ein Ende zu setzen. „Ich weiß zwar nicht, was sie mit ihren hinterhältigen Plänen bezwecken wollen, aber ich werde alles daran setzen, zu verhindern, dass Sie meinem Volk irgendetwas antun!“
 

„... Aliccce!“, zischte Charlie leise, es klang beinahe ein wenig gerührt. Der Showmaster brach in schallendes Gelächter aus, offenbar wenig beeindruckt von seiner Entschlossenheit und der Tatsache, dass Marilyns Untergebene eindeutig in der Überzahl waren – erst recht, seit auch die Frauen wieder zur Besinnung gekommen waren.
 

„Junge! Bist du denn wirklich so verblendet?“, brachte er zwischen dem irren Gekicher hervor. „Es tut nichts zur Sache, wie viel Euphorie du und deine kleinen Freunde aufbringen, um sich gegen mich aufzulehnen. Ohne eure Königin seid ihr nichts! Da ihr ohnehin nicht den Hauch einer Chance gegen mich habt, tätet ihr besser daran, euch einfach zu ergeben. Aber weil ich auch ebenso gut wie ihr weiß, dass ihr das nicht tun werdet, nach allem, was ihr inzwischen mitbekommen habt... bleibt mir eben nur noch, euch zu vernichten!“ Mit einer Geste in Richtung seiner beiden Sklaven trat er ein paar Schritte zurück, wohl um ihnen den Vortritt zu lassen. „Los, meine treuen Diener! Habt ein bisschen Spaß mit diesen Trotteln und liefert mir eine nette Show!“
 

„Nein, das werden wir nicht“, gab der schwarzweiße Dämon zu seiner Linken unerwartet zur Antwort. Nicht nur das Phantom selbst, auch Ziggy starrte ihn fassungslos an.
 

„Was ist denn auf einmal in dich gefahren, dich unserem Meister zu widersetzen?!“, empörte er sich lautstark, was sein Partner jedoch bloß mit einem Lächeln quittierte, etwas Abstand zwischen sich und die anderen beiden brachte und schließlich zwei Mal in die Hände klatschte. Alice konnte nicht leugnen, dass es ihn ein weiteres Mal in der kurzen Zeit, seit er aus dem Spiegel zurückgekehrt war, nicht wenig überraschte, als er plötzlich nicht nur einen schwarzweißen Freak in der Halle zählte sondern gleich vier. Die Grinsekatze sowie die Zwillinge standen von einem Moment auf den anderen bei ihrem dämonischen Artgenossen und komplettierten somit das Quartett.
 

„Schön, dich wiederzusehen, Bruder!“, hörte er The Catman freudig schnurren.
 

„Wir waren lange nicht mehr vollzählig“, fügten The Starchild und The Spaceman gleichzeitig hinzu. The Demon nickte bestätigend, anscheinend ebenfalls erfreut über die Zusammenkunft mit den anderen dreien.
 

„Entschuldigt, dass ich euch so lange alleine gelassen habe... Aber ich musste meine Rolle nun mal so überzeugend spielen wie möglich“, erklärte er ruhig, ehe er sich wieder dem Showmaster zuwandte, dem er offenbar doch nicht ganz so treu ergeben war wie es zunächst den Eindruck erweckt hatte. „Sie, Sir, müssen von jetzt an wohl ohne mich klarkommen! Nun, zumindest so lange, bis wir Sie aufgehalten haben. Es versteht sich von selbst, dass wir Sie nicht mit Ihren finsteren Machenschaften durchkommen lassen werden, nehme ich an.“
 

„Was... was geht hier vor?! Du hast mich die ganze Zeit über hintergangen? Hast du mich etwa ausspioniert?“, knurrte das Phantom sichtlich wütend, während Ziggy nicht recht zu wissen schien, was er mit der Situation anfangen sollte. The Demon grinste wissend.
 

„Haben Sie wirklich geglaubt, ich würde mich so leicht manipulieren lassen? Ich bin einer der vier Schutzpatronen des Wunderlandes, falls Sie es vergessen haben!“, entgegnete er, was die anderen drei als Anlass sahen, noch dichter mit ihm zusammenzurücken. Dann deutete er auf Ziggy und wandte sich mit lauter Stimme an das gesamte Volk. „Hört zu! Mich hat er nicht manipuliert... aber ihn! Er ist kein Diener des Phantoms sondern bloß eines seiner Opfer! Erinnert ihr euch an Major Tom, der vor Langem spurlos verschwand? Er ist Major Tom! Die Wahrheit ist, dass er sich seit einer Ewigkeit versteckt gehalten hat... Und der Grund dafür ist niemand anderes als derjenige, der auch für den Rest unseres Verderbens verantwortlich ist: Der Showmaster, der seit Jahren hintergründig versucht, uns seinem Willen zu unterwerfen und die Herrschaft über unsere Welt zu erlangen!“
 

„Er ist und war auch noch niemals das, was er vorgibt zu sein“, ergänzte The Catman. „Er ist ein Meister der Illusionen, aber seine Macht reichte nicht an die unserer Königin heran. Deshalb hat er sich immer wieder in ihren Geist geschlichen und sie für seine bösen Zwecke benutzt. Er selbst ist das Böse in seiner reinsten Form!“
 

„So ist es. Ihr dürft ihm niemals trauen!“, fuhr The Demon fort. „Er ist auch der eigentliche Grund für das Verschwinden der Frauen! Unsere liebe Herzkönigin hat sie nicht aus freien Stücken entführt und eingesperrt... Sie war vom Bösen besessen, ohne es zu merken, genau wie auch Ziggy es jetzt ist. Und soll ich euch verraten, wozu ihr eingesperrt worden wart, meine Damen? Die Absicht dieses Ungetüms war es, euch nach und nach zu willenlosen Tieren zu machen und euch irgendwann, wenn ihm danach zumute gewesen wäre, auf eure Männer zu hetzen, nur um sich an dem entsetzlichen Chaos zu ergötzen, das sich unter diesen Umständen in unserer Gemeinschaft ausgebreitet hätte. Und dann, in der zerstörten Welt, die von unserem einstigen, schönen Wunderland noch übrig geblieben wäre, hätte er regiert. Mit euch, als seinen loyalen Untertaninnen, an seiner Seite... in einem gesetzlosen Reich des Grauens.“
 

„Bist du nun fertig?“
 

Gleichmütig wie eh und je stand das Phantom den Vieren gegenüber, den scheinbar aus der Versenkung zurückgekehrten Major Tom an seiner Seite, der, wie es aussah, noch damit beschäftigt war, das eben Gesagte zu verarbeiten, ignorierend, und machte keine Anstalten, den Anschuldigungen der Brüder etwas entgegenzusetzen. Um sie herum war längst das reinste Durcheinander ausgebrochen, spätestens seit die Männer und Frauen des Wunderlandes ansatzweise begriffen hatten, wie skrupellos schon von Anfang an mit ihnen gespielt wurde.
 

„... Ja. Ich denke, das bin ich“, antwortete The Demon ebenso gelassen wie sein Gegenüber – es war, als würden sie einen stillen Kampf austragen; einen Kampf darum, wer die beherrschte Fassade länger aufrechterhalten konnte. Es war nur eine Frage der Zeit.
 

„Fabelhaft. Das zarte Geschöpf, das von euch Charlie genannt wird, scheint nicht die einzige falsche Schlange zu sein, die sich hier herumtreibt“, sagte der Showmaster mit einem angedeuteten Lächeln, ehe er nun doch neben sich zu seinem verbliebenen Diener blickte. „Wie sieht es mit dir aus? Willst du mich auch hintergehen und dich dem Verband der Schwächlinge anschließen?“
 

„Nun ja... ich... Ihr versteht sicher, dass-“
 

„Geh schon! Los!“, unterbrach er den Anderen grollend, missmutig dabei zusehend, wie dieser hektisch die Fronten wechselte, und nahm mit jeder weiteren verstreichenden Sekunde immer unmenschlichere Züge an. „Ihr glaubt, ihr könntet meine Pläne vereiteln, indem ihr euch zusammenrauft und die starke Gemeinde spielt? Haha... Größenwahnsinnig seid ihr!“
 

„Kommt alle sofort her und stellt euch zu uns!“, rief die Grinsekatze mit einer Ernsthaftigkeit, die Alice noch nie bei ihr gehört hatte, an das gesamte im Saal verstreute Volk gerichtet. „Ihr müsst euch beeilen! Kommt hierher, schnell!!“
 

„Tu, wasss er ssssagt, Aliccce!“, zischte Charlie und war bereits dabei, es den anderen gleichzutun, die wie wild zu den vier Brüdern stürmten und sich mit angsterfüllten Gesichtern bei ihnen versammelten. Alice wartete nicht länger, seiner Aufforderung zu folgen, und gesellte sich so schnell er konnte zu der restlichen Bevölkerung, unsicher, was er von der seltsamen Aktion halten sollte. Doch bevor er Gelegenheit hatte, über den Sinn dieser Versammlung nachzudenken, bemerkte er den weiß glimmenden Schein, der sich wie ein riesiger Lampenschirm über ihnen formte, sich langsam manifestierte und um sie legte, während die Vier in ihrer Mitte um höchste Konzentration bemüht schienen. Wahrscheinlich handelte es sich bei dem leuchtenden Gebilde um eine Art Schutzschild, den sie mit vereinter Kraft schufen, um den drohenden Zorn des Phantoms von sich und den anderen abzuwenden – fast, als befänden sie sich mitten in der Kampf-Szene eines japanischen Action-Films.
 

„Wenn ihr hier stehen bleibt... kann er euch nichts anhaben!“, erklärte die Katze, offenbar unter großer Anstrengung. „Solange dieser Schild besteht, seid ihr sicher...!“
 

„Und wie lange könnt ihr den Schild erhalten?“, fragte Alice vorsichtig. „Ihr seht so aus, als wäre das nicht gerade ein Kinderspiel...“
 

„Keine Sorge!“, erwiderte The Starchild gekonnt beschwichtigend, wenn auch ebenfalls sichtlich angestrengt. „Lange genug, um uns zu überlegen... wie wir aus dieser verzwickten Sache wieder herauskommen.“
 

„Gut, aber was, wenn uns nicht einfällt, wie wir da wieder rauskommen?“, brachte sich nun auch eine der Frauen in die Konversation ein und sprach damit genau das aus, was Alice eine Sekunde zuvor beinahe im selben Wortlaut durch den Kopf gegangen war. Der Showmaster, dessen äußere Erscheinung inzwischen so gut wie nichts mehr mit seinem vorherigen Aussehen gemeinsam hatte, grinste, während er sich dem beeindruckenden Lichtschirm näherte und seine Arme hob – die gleiche Geste, die Alice bei ihm hatte beobachten können, als er die albtraumhaften Illusionen bei ihnen hervorgerufen hatte.
 

„Ihr habt eine Kleinigkeit nicht bedacht“, sagte er mit einer Stimme, die jeden von ihnen auf der Stelle zusammenfahren ließ, und lachte voll gehässiger Freude, als nicht nur erneut das Licht des Kronleuchters erlosch, sondern auch das Leuchten des Schutzschirms mit einem Mal verblasste. „Vor euren eigenen Ängsten kann auch der größte Schild euch nicht beschützen, ihr Narren!“
 

Damit zerbrach das gesamte Schloss in seine Einzelteile, zerfiel zu Staub, sengend und qualmend, bis nichts mehr zurückblieb als brennende Trümmer, Schutt und Asche.
 

Rauch vernebelte seine Sicht, als er Schreie hörte. Es war heiß. Auf einen Schlag war es so extrem heiß geworden, dass selbst die Temperatur am sonnigsten Tag auf einer tropischen Insel nicht entfernt hätte mithalten können.
 

Alice versuchte, den Rauch zu vertreiben und zwischen den grauen Schwaden etwas zu erkennen. Allerdings war das, was sich ihm offenbarte, als seine Sicht zunehmend klarer wurde, dermaßen schockierend, dass er für den Moment nichts tun konnte, außer starr inmitten des Schlachtfeldes zu stehen und die Ruinen zu betrachten, die unglaublicherweise kurz zuvor noch das Schloss der Herzkönigin gewesen waren.
 

Das Dach war abgerissen. Doch diese Tatsache an sich war nicht einmal das eigentliche Übel an seiner Feststellung – wesentlich beängstigender war der Anblick des Himmels, der trüb und bedrohlich über ihnen hing, so als würde er jeden Augenblick auf sie hinabstürzen, durchzogen von dicken schwarzen Wolken, die jedoch nur Teile des bräunlich-orange glühenden Firmaments verdecken konnten. Es sah aus, als sei nicht weit von ihnen ein Vulkan ausgebrochen. Nein, schlimmer als das – der Ausblick nahm vielmehr apokalyptische Ausmaße an, je länger er sich in der verwüsteten Gegend umschaute.
 

Vereinzelt entdeckte er Personen zwischen den Trümmern. Wache Nummer Zwei und das weiße Kaninchen waren irgendwo dort, wo, seiner Erinnerung zufolge, einmal das Schlosstor gewesen war, doch kamen nicht mehr vom Fleck, da die kahlen Äste einer merkwürdigen Pflanze, die aus den breiten Rissen im Boden wuchs, sich verselbstständigt und um ihre Arme geschlungen hatten. Eine der Frauen, die er auf die Entfernung nicht zuordnen konnte, kam ihnen zur Hilfe, wurde jedoch selbst bei dem Versuch, die beiden zu befreien, von der Pflanze in Beschlag genommen. Die anderen waren überall verteilt in der bedrückenden Landschaft und rannten panisch umher, auf der vergeblichen Suche nach einem Ausweg, den es nirgends weit und breit gab. Irgendwoher wusste er, dass dieser Albtraum ausnahmsweise vollkommen ausweglos war.
 

Nein! Aufgeben kommt nicht in Frage!
 

Es musste einen Weg geben. So schwer dieser möglicherweise auch zu finden war, aber es musste einfach einen geben. Es war immer noch bloß eine Illusion... oder?
 

„Richtig...! Es ist eine Illusion, nicht anders als die von vorher, die ich mir nacheinander angesehen habe. Mit dem einzigen Unterschied, dass... wir uns diese hier teilen.“
 

Er durfte sich von etwas, das nicht einmal real war, nicht aus dem Konzept bringen lassen, schon gar nicht jetzt. Wenn er es auf der Kehrseite geschafft hatte, all den hinterlistigen Fallen und Hindernissen zu trotzen, dann konnte er es auch hier!
 

Alice ging in Richtung des nicht mehr vorhandenen Schlosstores, um Charlie ausfindig zu machen, den er in dem Gedränge bedauerlicherweise schon wieder verloren hatte – zumindest war das sein Vorhaben gewesen. Leider musste er genauso schnell, wie er den Entschluss gefasst hatte, einsehen, dass er nicht weit kam, als unmittelbar vor ihm eine breite Flammenwand auftauchte, die ihm den Weg versperrte und noch dazu eine verfluchte Hitze ausstrahlte. Die plötzlich erschienene Mauer im Keller war für seinen Geschmack rätselhaft genug gewesen. Aber sie hatte wenigstens nicht gebrannt.
 

„Das kann ja wohl nicht wahr sein...!“, murmelte er und erinnerte sich dann daran, dass es das tatsächlich nicht war. Trotzdem konnte er die Hitze spüren, als seien die Flammen wirklich da; als sei all das mehr als eine bloße Illusion, die sich in seinen Gedanken abspielte. Er drehte sich um, bereits in Erwartung der nächsten unfairen Intrige, die ihn daran hindern würde, auch nur irgendetwas auszurichten. Und er behielt Recht.
 

„Na? Wo wollen wir denn hin, Eure Majestät?“
 

Er war es. Der Showmaster – oder eher das, was von ihm übrig geblieben war. Seine Erscheinung glich nun mehr einem Monster als einem simplen Phantom; die Wesen im Kerker waren nichts als ein Witz gegen ihn. Es war furchteinflößender als alles, was er bisher gesehen hatte.
 

„Wo ist denn auf einmal Eure vorbildliche Entschlossenheit hin? Ich dachte, Ihr wolltet alles daran setzen, Euer Volk zu beschützen?“
 

Alice trat reflexartig einen Schritt zurück, als die Gestalt, die beinahe eins mit den Flammen zu sein schien, immer näher kam. Gefährlich nahe.
 

„Das will ich auch immer noch...!“, erwiderte er eindeutig nicht überzeugend genug, während er dem Monster vor sich wie automatisch zu entkommen versuchte, einen langsamen Schritt nach dem anderen rückwärts ging, um nicht mit der feurigen Präsenz seines Gegenübers in Kontakt zu geraten – und im nächsten Moment derart ungünstig über eine Unebenheit in dem viel zu brüchigen Boden stolperte, dass er sich unversehens auf selbigem wiederfand, so ausgeliefert wie man seinem Verfolger in einem bösen Albtraum nur eben sein konnte.
 

Jetzt habe ich ein Problem, dachte er, als er in die siegessicheren schwarzen Augen des einstigen Showmasters blickte, der sich so schnell auf seine Höhe begeben und ihn gepackt hatte, dass es unmöglich gewesen war, ihm noch in irgendeiner Weise auszuweichen.
 

„Es sieht schlecht für uns aus, nicht wahr... Majestät?“
 

Ganz ruhig, sagte er sich. Es muss einen Haken geben.
 

Irgendwo gab es einen Defekt, einen Fehler in den Berechnungen des Feindes, so wie es ihn auch zuvor gegeben hatte, als dessen Hetzrede gegen die Königin trotz des anfänglichen Erfolges letztlich fehlgeschlagen war.
 

„Ist es nicht traurig, wenn man sich seine Niederlage eingestehen muss?“
 

Jemand lief an ihnen vorbei. Alice bemühte sich, einen möglichst unauffälligen Blick auf die Person zu erhaschen. Und er erkannte sie. General Floyd.
 

„Ihr habt mich kürzlich gefragt, wie ich ein solcher Unmensch sein kann...“
 

Er stand vor ihnen, nur wenige Meter entfernt. Floyd. Und er sah zu ihm hinunter. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm.
 

„... aber ich habe niemals behauptet, ein Mensch zu sein... großer Auserwählter.“
 

Wollte er ihm etwas sagen? Er konnte ihn nicht verstehen... Wollte Floyd ihm etwas mitteilen?
 

„Ich werde Euch eliminieren, Majestät, Euch ein für allemal aus dem Weg räumen...“
 

Jetzt sah er zur Seite; wohin genau, konnte Alice nicht sagen. Floyd schaute einfach nur wie gebannt zur Seite. Vielleicht zu einem der offenen Räume, die in dieser Richtung lagen.
 

„... so wie ich es auch mit Alicia getan habe!“
 

Er ging fort. Er ging in den offenen Raum, den er eben fixiert hatte, und ließ ihn allein. Nur gedämpft nahm Alice die Worte wahr, die Worte des Monsters, das ihn zwischen den lodernden Flammen gefangen hielt. Mit jedem Wort, das es aussprach, schien die grauenvolle Hitze weiter zuzunehmen.
 

„Doch vorher wirst du, nein, werdet ihr alle in eurer persönlichen Hölle schmoren... so wie auch ich es eine Ewigkeit lang tun musste!“
 

Warum hatte er die anderen nicht beschützen können? War es nicht seine Aufgabe gewesen, das zu tun?
 

„Niemand von euch weiß, wie es ist, eine Unendlichkeit im Nirvana zu verbringen! Gestraft zu sein mit nichts... als der Leere!“
 

Die Leere...? Redete er von der Klippe, die sich inzwischen wahrscheinlich auch Marilyn hinuntergestürzt hatte?
 

Marilyn... Was hätte er an seiner Stelle wohl getan? Beinahe glaubte er, ihn vor sich zu sehen. Wie er schleichend auf ihn zukam, irgendeinen glänzenden Gegenstand in der Hand haltend, und sich dem Monster unbemerkt von hinten näherte.
 

„Wer von euch feigen Würmern war es, der mich ihr hinterhergeschickt hat?“
 

Noch immer wusste er nicht, wovon es sprach. Hinterhergeschickt? Marilyn wirkte nicht weniger perplex, wenn nicht sogar entsetzt, als er seinen Gegenstand – einen Eiszapfen – fester umschloss und noch einen letzten Schritt näher an die flammende Gestalt herantrat. Floyd stand neben ihm. Eigentlich schienen sie viel zu real, um seiner Einbildung zu entstammen... aber das musste täuschen.
 

Alice schloss die Augen und rechnete damit, niemanden mehr dort zu sehen, wenn er sie wieder öffnete. Allerdings hatte er sich geirrt. Sie waren immer noch da, genauso lebendig wie zuvor.
 

„Egal, wer es war... Ich werde Rache nehmen, schreckliche Rache, und du, mein Junge, wirst als Erstes büßen!“
 

Mit einem Mal wurde ihm klar, dass es keine Wahnvorstellung war. Marilyn, der sich nur knapp außerhalb seiner Reichweite befand – er war echt! Er stand wirklich dort, neben Floyd und hinter der Kreatur, die offenbar im Begriff war, zum endgültigen Gnadenstoß auszuholen, und vollführte bedächtig, ohne einen Hauch von Skrupel in seinen Augen, genau dieselbe Bewegung, fast synchron, mit dem auf den glühenden Rücken vor sich gerichteten Eiszapfen in seiner Hand.
 

„Richte der Königin meine Grüße aus!“, schrie die Bestie, markerschütternd wie das Grollen eines Gewitters, und ließ ihre brennende Klaue schwungvoll hinabsinken. Im selben Atemzug bohrte sich die eisige Spitze seines Nicht-Geburtstags-Geschenks, das Marilyn für ihn aufbewahrt hatte, durch die Flammen, teilte sie in der Mitte und schmolz anschließend mit rapider Geschwindigkeit zu einer rauchenden Pfütze, umgeben von dicken grauen Schwaden, die vorbeizogen wie ein letztes Zeichen des Kampfes, den sie bestritten hatten. Und kurz darauf... war alles kalt.

Kapitel 14 - Königin und König

Dichter Nebel hing in der Luft, wie ein Schleier, der sich sanft über den demolierten Schauplatz legte – oder ein Vorhang, der langsam heruntergelassen wurde, um dem Publikum das Ende der Show zu verkünden. Nur gemächlich klärte sich die Sicht und gab den Blick auf den Empfangssaal frei, dessen Eingangsbereich zwar sichtlich unter dem Einbrechen der Hammer-Armee gelitten hatte, der aber ansonsten glücklicherweise nun wieder so aussah wie vorher. Keine Flammen. Kein abgerissenes Dach. Sie schienen die Apokalypse wie durch ein Wunder überlebt zu haben.
 

Farblose Tropfen lösten sich von dem schmelzenden Etwas, das Marilyn noch immer fest mit einer Hand umklammert hielt, und fielen zu Boden, wo bis vor wenigen Augenblicken die lodernde Präsenz des Dämons gewesen war. Des Dämons, der sich selbst 'Showmaster' genannt hatte. Jetzt war dort nichts mehr, nichts als eine Pfütze, die irgendjemand vermutlich sehr bald wegwischen würde, um auch den letzten Beweis des Grauens, das bis eben unter ihnen existiert hatte, endgültig zu beseitigen.
 

„Es ist vorbei“, flüsterte die Königin, ließ ihren Arm sinken, mit dem sie die böse Kreatur im letzten Augenblick zur Strecke gebracht hatte, und betrachtete ausdruckslos das Eiswasser, das sich auf den Fliesen inzwischen angesammelt hatte. „Er ist fort.“
 

„Ihr habt es geschafft, Majestät“, sagte Floyd nach einer Weile anerkennend. Marilyn sah ihn nicht an. Seine Augen waren starr auf die Pfütze gerichtet, bis er den Blick ein Stück hob und zu ihm sah. Alice beeilte sich, vom Boden aufzustehen, an dem das Monster ihn mit seinen scharfen Klauen festgenagelt hatte, und war dankbar, als Marilyn ihm hilfsbereit eine Hand reichte.
 

„Ihr habt... mir das Leben gerettet“, brachte er irgendwann nur zögerlich hervor. Das zu realisieren hatte einen Moment gedauert. Aber es stimmte – wäre Marilyn nicht gewesen, hätte dieses Ungeheuer ihn, um es mit dessen Worten auszudrücken, eliminiert. Wahrscheinlich war er dem Schicksal seiner Vorgängerin so knapp entgangen, wie es nur gerade möglich gewesen war.
 

„Selbstverständlich habe ich das. Es war meine Pflicht, das zu tun“, antwortete die Königin und fügte dann ganz leise hinzu: „Er hatte Alicia auf dem Gewissen“.
 

Alice erinnerte sich an das, was das Monster zuletzt in der Hitze des Gefechts zu ihm gesagt hatte. Er hatte es nur verschwommen mitbekommen, weil die Flammen trotz ihrer Falschheit seine Sinne getrübt hatten, aber jetzt, wo sie darüber sprachen, fiel es ihm wieder ein.
 

„Ja, das hatte er. Es war kein Selbstmord und auch kein Unfall“, sagte er und hatte beinahe das Gefühl, das Ende seines früheren Lebens noch einmal vor sich zu sehen. „Er war es, der sie von der Klippe gestoßen hat.“
 

„Das werde ich ihm nie verzeihen“, zischte Marilyn verächtlich, ehe er einige Sekunden lang schwieg und dann fragenden Blickes zur Seite sah. „Aber was meinte er wohl... mit 'hinterhergeschickt'? Was er zu dir gesagt hat, hat sich so angehört, als sei...“ Er überlegte kurz, bevor er seinen Satz beendete. „... Als sei er selbst nach seinem Mord an Alicia von jemandem dort hinuntergestoßen worden...“
 

„So hat es sich angehört, ja“, pflichtete Alice bei. „Er sprach von der Leere, mit der er eine Ewigkeit lang gestraft war...“
 

„Ich habe das Gefühl, wir werden niemals erfahren, was das alles eigentlich wirklich zu-“
 

„Eure Hoheit!“, wurde die Königin jäh unterbrochen, als die anderen, die sich während der Illusion in dem panischen Durcheinander verloren hatten, begleitet von einem aufgeregten Stimmengewirr auf sie zutraten. Ironischerweise war es ein wenig ungewohnt, plötzlich eine solche Menschenmasse vor sich zu sehen. Immerhin hatte die Anzahl an Bewohnern des Wunderlandes sich auf einen Schlag mehr als verdoppelt, seit die Frauen zurück waren – wenn nicht sogar verdreifacht. Es war schwer zu sagen, denn bei dem bunten Gedränge männlicher und weiblicher Freaks, die ihm zu einem großen Teil nicht einmal unbekannt schienen, konnte man sich nicht sonderlich gut aufs Zählen konzentrieren.
 

„Ist er verschwunden?“, fragte Wache Nummer Eins mit ernster Miene, während das weiße Kaninchen und der Märzhase, der glücklicherweise seine eigene Kleidung und nicht Fishs Kostüm trug, sich anscheinend desorientiert in der Halle umsahen. Fish musterte seine scheinbar neu hinzugekommenen Mitbürgerinnen, als stünde er vor einem der sieben Weltwunder, während diese selbst eindeutig überfordert mit ihrer derzeitigen Lage zu sein schienen.
 

„Was um alles in der Welt ist hier eigentlich passiert? Ich verstehe überhaupt nichts mehr!“, entrüstete sich eine von ihnen – eine junge Frau mit wilder blonder Mähne und einigen anderen Merkmalen, die darauf schließen ließen, dass sie wohl so etwas wie eine Löwin darstellen sollte. „Erst waren wir im Dunkeln eingeschlossen, dann... waren wir nicht mehr bei Sinnen, wenn ich das richtig verstehe... dann hat sich der Saal in die Hölle verwandelt... und jetzt ist plötzlich alles wieder so wie vorher?! Kann mich mal bitte jemand aufklären, was hier abgeht?“
 

„Er hat unseren schlimmsten Albtraum wahr werden lassen, so wie er es auch zuvor schon einzeln mit euch getan hat“, erklärte The Catman, der gemeinsam mit seinen drei Brüdern aus der Menge hervortrat. „Jeder von uns hat eine ganz persönliche Angst, der er sich stellen musste, als das Monster sie für euch augenscheinlich zum Leben erweckt hat. Aber der Anblick eines zerstörten, toten Wunderlandes... Das ist die Angst, die wir alle miteinander teilen.“
 

Sowohl bestürzte und schockierte als auch erleichterte oder gänzlich emotionslose Mienen gingen durch die Runde, und es machte den Anschein, als wolle jeder eigentlich noch etwas sagen, allerdings nicht wissend, wie er oder sie es ausdrücken sollte. Verständlich – schließlich hatte jeder für sich das reinste Verwirrspiel durchgemacht, und das über eine beträchtliche Zeit hinweg. Er, als der Auserwählte, hatte im Grunde am wenigsten von all dem mitbekommen, obwohl er beinahe das Gefühl hatte, genauso lang in die Rätsel und Mysterien dieser Welt verstrickt gewesen zu sein wie die anderen. Besonders eine Frage ließ ihm jetzt, da sein Verstand nicht mehr durch den Einfluss des Showmasters beeinträchtigt war, keine Ruhe.
 

„Ähem... Verzeiht, dass ich euer verstörtes Schweigen unterbreche, aber... es gibt da etwas, das mich wirklich brennend interessiert“, räusperte er sich verhalten, womit er jedoch sofort sämtliche Aufmerksamkeit auf sich gelenkt hatte. Fast hätte er vergessen, dass er für die Damen ebenso ein Fremder war wie sie es für ihn waren – zumindest zum Teil. „Naja, also... Eure Hoheit...“, fuhr er an Marilyn gewandt fort, ein wenig unsicher, wie er seine Gedanken in vernünftige Worte fassen sollte. „Ich will Euch auf keinen Fall beleidigen, aber... ich muss zugeben, dass ich mir zwischenzeitlich leichte Sorgen um Euren Zustand gemacht habe. Das heißt... ich hielt Euch für-“
 

„Du willst wissen, wie ich auf einmal wieder hierhergelangen konnte, nachdem ich das Schloss verlassen hatte, richtig?“, beendete die Königin seine Frage für ihn.
 

„... Ja. Genau das würde ich gern wissen.“
 

Unglaublich. Erst jetzt, wo er sie wiedersah, wurde ihm bewusst, wie froh er darüber war, dass es ihr gut ging. Marilyn lächelte schmal.
 

„Ich hatte nie vor, mich von der Klippe zu stürzen. Aber er sollte denken, er sei mich losgeworden, weil ich die Hoffnung hatte, er würde dann vielleicht leichtsinniger werden. Offenbar hatte ich Recht“, sagte er ruhig, und Alice hätte sich selbst am liebsten dafür ausgelacht, dass er auch nur in Erwägung gezogen hatte, die Herzkönigin könne sich umgebracht haben. „Der Rest war, ehrlich gesagt, recht naheliegend. Im Schlossgarten habe ich eine Weile darüber nachgedacht, wie ich nun am besten sinnvoll vorgehen sollte, und da ich von dort draußen ohnehin nichts hätte ausrichten können, habe ich mich als Erstes zurück ins Schloss geschlichen – rückwärts durch den Notausgang. Ich hatte Glück, dass niemand meine Rückkehr bemerkte, da ausnahmslos jeder von euch – das Monster eingeschlossen – in diesem Moment zu sehr mit den Illusionen beschäftigt war. Als es mich jedoch beinahe entdeckt hätte, habe ich mich in der Küche versteckt, um mir dort irgendetwas einfallen zu lassen... bis die Räume sich plötzlich veränderten und mein schönes Schloss nur noch aus Schutt und Asche bestand. Alles stand in Flammen... Ich war wie gelähmt.“ Kurz warf er einen Blick neben sich auf Floyd, der es offenbar vorzog, in eine andere Richtung zu schauen, ehe Marilyn etwas zurückhaltender weitersprach. „Nun... Hätte Floyd mich nicht irgendwie gefunden und mich davon überzeugt, dass die Umgebung sich bloß in unserer Vorstellung verändert hat... und mich außerdem darüber informiert, dass du in akuter Gefahr schwebst, wenn ich nicht schnellstens etwas unternehme... Ich weiß nicht, wie es dann ausgegangen wäre.“
 

Überrascht sah Alice von Marilyn zu Floyd, die scheinbar beide für seine Rettung, nein, für die Rettung des gesamten Landes verantwortlich waren. Letzterer schien allerdings nur mäßig begeistert über die Bewunderung, die ihm nun galt.
 

„Sag mal...“, begann die Königin zögerlich, wieder an den General gerichtet. „Wie kommt es eigentlich, dass du von der Illusion gar nicht betroffen warst?“
 

Floyd schien sich zunehmend unwohler zu fühlen, je länger die Königin und ihre restlichen Untergebenen zu ihm sahen und auf eine Antwort warteten. Alice bezweifelte allmählich, dass sie überhaupt noch irgendeine Art von Antwort von ihm bekommen würden. Marilyn wandte sich seufzend zur Seite.
 

„Ich verstehe“, sagte er mit einem bitteren Unterton in seiner Stimme. „Du konntest die Illusion nicht wahrnehmen, stimmt's? Weil ein Wunderland in Trümmern für dich nun mal kein Albtraum ist. Mich würde es nicht einmal wundern, wenn der Untergang unserer Welt etwas wäre, das du dir manchmal herbeigesehnt hast...“
 

Schneller als er hätte reagieren können, hatte die Bewunderung, mit der die anderen Floyd bis eben betrachtet hatten, sich in blankes Entsetzen verwandelt, und Alice fühlte sich unweigerlich an dessen unangenehme Vergangenheit erinnert, als er sah, von welch vorwurfsvollen Blicken der General schlagartig umgeben war. Blicke, die mehr sagten als tausend Worte.
 

„Hört auf, ihn so böse anzuschauen!“, mischte er sich ein, bevor sie Floyd noch ernsthaft in Bedrängnis bringen konnten. „Seine Träume oder Albträume gehen weder euch noch mich etwas an. Tatsache ist, dass wir ohne ihn jetzt nicht mehr hier wären. Wir stehen alle in seiner Schuld!“
 

Zu spät. Eine Art allgemeines Unbehagen hatte sich in der Runde ausgebreitet. Niemand schien sich zu trauen, irgendetwas darauf zu erwidern – bis sich endlich einer aus der Menge in das Gespräch einbrachte, den er um ein Haar schon wieder vergessen hätte. Ziggy.
 

„Wer auch immer dafür gesorgt hat, dass hier Ruhe einkehrt“, sagte er ehrfürchtig an niemand Bestimmten gerichtet, „... Derjenige hat meinen Respekt. Ich bin nicht einmal im Entferntesten gegen die Macht dieser Bestie angekommen...“
 

Obwohl jeder der hier Anwesenden etwas darauf erwidern zu wollen schien, war es Marilyn, der als Erstes das Wort ergriff.
 

„Ich... erinnere mich an dich!“, murmelte er feststellend, während er ein paar Schritte auf seinen offenbar lange verschollenen Diener zutrat. „Ziemlich dunkel, aber ich erinnere mich... Du bist eines Tages plötzlich verschwunden und nie zurückgekommen. Aber hast du nicht... damals irgendwie anders ausgesehen? Es ist so lange her...“
 

„Wisst Ihr, Majestät“, begann Ziggy mit einem schwer zu deutenden Ausdruck in den Augen. „Ich habe tatsächlich einmal anders ausgesehen, und es ehrt mich, dass ihr das erkennt. Aber dass Ihr selbst der Auslöser dafür wart, dass ich mir eine neue Identität aufbauen und mich verstecken musste, scheint Euch nicht mehr besonders gegenwärtig zu sein, nicht wahr?“
 

„Verurteile nicht unsere Königin, Major Tom“, sagte The Demon in einem sanften Tonfall. Marilyn wirkte fast, als wisse er nicht einmal, worum es überhaupt ging. „Was sie damals, nach Alicias Tod, getan hat, wäre sicherlich unverzeihlich gewesen – hätte sie nicht unter dem ständigen Einfluss des Showmasters gestanden, so wie es auch dir wiederfahren ist, mein Freund. Seit seiner Wiederauferstehung aus der Leere hatte er sich Rache geschworen und hatte kein anderes Ziel, als uns ins Verderben zu stürzen und das Wunderland nach seinen eigenen Vorstellungen zu formen. Er war ein Geist. Es war ihm ein Leichtes, andere zu manipulieren und für seine Zwecke zu missbrauchen.“
 

„Das Schicksal unserer ersten Bevölkerung wird niemand jemals wiedergutmachen können“, ergänzte The Starchild ernst. „Aber nicht unsere Königin ist diejenige, der unser Unmut gelten sollte, sondern einzig und allein die schreckliche Kreatur, die sich einst in unsere friedliche Gemeinschaft geschlichen und nichts als Unruhe gestiftet hat. Es ist ein Segen, dass sie nun endlich ein für allemal unsere Welt verlassen hat.“
 

Dem schienen ausnahmsweise restlos alle zuzustimmen. Bloß Marilyn schien schwer mit sich zu hadern, als ihm bewusst wurde, was all diese Faktoren zusammengerechnet bedeuteten.
 

„Dann stimmt es also, was General Floyd unter dem Einfluss des Phantoms verkündet hat“, sagte er mehr zu sich selbst als zu einem der anderen. „Die Männer der ersten Bevölkerung... Ich habe sie alle der Reihe nach kaltblütig ermordet... Jede Nacht... Das waren keine bösen Träume. Ich habe das wirklich getan...!“
 

„Es ist nicht Eure Schuld, Majestät! Ihr hattet keine Kontrolle über Euer Handeln!“, unterbrach der General Marilyns Selbstzweifel rasch. „Glaubt mir, ich habe selbst erfahren, wie schwierig es ist, sich gegen etwas zu wehren, das man nicht einmal sehen kann und das derart düstere Intentionen hegt. Es ist nahezu unmöglich. Wir sollten... einfach froh sein, dass Dinge wie Krieg und Rache von jetzt an der Vergangenheit angehören.“
 

„... Dich habe ich am Leben gelassen“, erwiderte Marilyn zusammenhangslos, offenbar geistig noch immer mit seinen früheren Vergehen beschäftigt – was Alice voll und ganz nachvollziehen konnte. Selbst wenn man von einer fremden Macht angetrieben wurde, war es mit Sicherheit alles andere als leicht, Taten wie diese am Ende zu verantworten. Floyd lächelte schwach.
 

„Das habt Ihr“, sagte er leise. „Als Anführer der Armee war ich wohl unentbehrlich, egal, für welche Seite.“
 

„Das heißt...“, begann The Spaceman, während er die gesamte dort versammelte Gruppe beäugte und den Kopf schief legte, „... General Floyd und Major Tom, den wir nun als Ziggy Stardust wieder in unseren Reihen begrüßen dürfen, sind die letzten beiden Männer, die uns aus der ersten Bevölkerung noch geblieben sind.“
 

„Na, dann wisst ihr ja, was ihr mit den Frauen aus der ersten Bevölkerung jetzt zu tun habt“, kommentierte Alice ironisch an die besagten letzten beiden Männer gewandt, die ihn jedoch bloß irritiert ansahen, so als haben sie nicht den Hauch einer Ahnung, wovon er redete. Sein Fehler. Vermutlich war es in einer Welt wie dieser, in der die Bewohner aus dem Nichts oder von wer-weiß-wo stammten, ohnehin überflüssig, sich zu reproduzieren. „Wo wir schon beim Thema sind... Könnte mir jetzt mal jemand erklären, was es mit dieser ersten und zweiten Bevölkerung eigentlich auf sich hat? Ich frage mich das schon die ganze Zeit! Wer seid ihr wirklich, wo kommt ihr her und... was ist das Wunderland in Wahrheit für ein Ort? Ich denke, als Nachfolger eurer ehemaligen Königin habe ich ein Recht darauf, das zu erfahren, oder etwa nicht?“
 

„Ehrlich gesagt wüsste ich das auch gerne mal!“, meldete sich unerwartet der Hutmacher zu Wort, den das Ganze erstaunlicherweise genauso zu verwirren schien wie ihn selbst. „Eigentlich bin ich ja niemand, der sich groß darum schert, warum irgendwelche Umstände so sind, wie sie sind. Aber dass derart plötzlich eine solch beachtliche Menge an Frauen in unser Leben tritt, wo mein werter Genosse, die Haselmaus, und ich unseren lieben Mitbewohner, den Märzhasen, doch immer für... nun ja, etwas durcheinander hielten, weil er in einem angeblich frauenlosen Land unentwegt nach einer gewissen Mary suchte... Das macht selbst mich etwas stutzig.“
 

„Ich fürchte, da müssen wir etwas weiter ausholen“, konstatierte The Demon mit einer bittenden Geste in Richtung der Königin, die zunächst unschlüssig zu ihm herübersah. „Eure Hoheit, Ihr wart die erste Person, die das Licht unserer Welt erblickt hat! Würdet Ihr den Unwissenden unter uns wohl etwas Klarheit verschaffen?“
 

Marilyn wirkte glücklicherweise wieder ein wenig gefasster als zuvor, während er sich nachdenklich in der Menge umzublicken schien und seinen Blick dann aus irgendeinem Grund auf Charlie ruhen ließ. Bis gerade eben hatte Alice die Schlange nicht einmal bemerkt, allerdings wunderte ihn das kaum. Ihm war bereits seit Längerem aufgefallen, dass Charlie sich scheinbar bevorzugt im Hintergrund hielt.
 

„Nun, ich denke, es ist in der Tat angemessen, euch über eure Herkunft zu erleuchten“, entgegnete Marilyn an sein versammeltes Volk gewandt, jedoch immer wieder subtil zu seinem Haustier schielend. „Allerdings gibt es da etwas, das ich bisher vor euch allen verheimlicht habe. Vielleicht ist es jetzt an der Zeit, es euch zu sagen... auch wenn mein guter und treuer Gefährte Charlie mir immer verboten hat, ein Wort darüber zu verlieren, aus Angst, es könnte euer Verhältnis zu ihm und mir gravierend beeinflussen. Für meine Begriffe ist er einfach viel zu bescheiden. Was sagst du, Charlie? Erteilst du mir endlich die Erlaubnis, ihnen die Wahrheit zu sagen?“
 

„Wie könnte ichhh esss ihnen jetzzzzt noch verwehren...?“, seufzte Charlie, kroch ein Stück weit zu seinem Besitzer herüber und schaute zu ihm auf, mit einer seltsamen Vertrautheit in seinen leuchtenden Reptilienaugen. „Tut, wasss Ihr nicht lassssssen könnt.“
 

„Wovon redet ihr beiden?“, fragte einer der vier Brüder verdutzt. Alice war sich nicht sicher, welcher von ihnen es war; er selbst war zu sehr auf ihre Majestät und deren königliche Schlange fixiert, als Marilyn mit einem auf eine gewisse Weise stolzen Lächeln zu einer Antwort ansetzte.
 

„Charlie ist nicht, wie ihr bisher wahrscheinlich annahmt, bloß mein Haustier. Er ist wesentlich mehr als das. In Wirklichkeit ist er... mein Vater.“
 

Einen wahnsinnig absurden Moment lang war es vollkommen still, bis die Haselmaus das erwartungsvolle Schweigen mit ihrer üblichen nur so vor Trockenheit strotzenden Stimme durchbrach.
 

„Die Ähnlichkeit ist unverkennbar.“
 

„Wer is' die Mutter?“, fragte die Raupe mit einem Grinsen, das breiter nicht hätte sein können. Es war offensichtlich, dass die Reaktionen seiner Untertanen Marilyn überaus amüsierten, während Charlie die Königin mit einem Blick ansah, der fast danach ausgesehen hätte, als würde er in der nächsten Sekunde genervt den Kopf schütteln, hätte Alice nicht gewusst, dass Charlie ein viel zu ausgeglichenes Gemüt besaß, um schnell genervt zu sein.
 

„Er ist nicht direkt mein Vater“, erklärte Marilyn nun, was ihn kein bisschen überraschte – eine derartige Verwandschaft wäre selbst in einer Welt wie dieser zu wunderlich gewesen. Von Marilyns anschließender Erklärung hingegen konnte Alice sicherlich nicht behaupten, sie auch nur in irgendeiner Weise erwartet zu haben. „Viel eher ist er mein Schöpfer, der mich als ersten Menschen seiner mystischen Welt hinzufügte. Wenn man so will, könnte man sagen, er ist unser aller Vater, denn nur dank ihm ist es uns möglich, auf diesem Boden zu wandeln. Das Schloss, die Pflanzen, die Sonne... all das hat Charlie erschaffen.“
 

„Genug davon, Majessstät!“, zischte Charlie merklich verlegen dazwischen. „Wäre ichhhh nichhht von Natur ausss rot, wäre ichhh esss jetzzzt geworden...“
 

„Ach du große- Das bedeutet ja... Ich bin so ein Idiot!“
 

Marilyn trat irritiert zur Seite, als Alice ehrfürchtig auf dessen als Haustier getarnten Schöpfer zuschritt und sich mit einer tiefen Verbeugung vor ihm auf den Fliesen niederließ.
 

„Verzeih mir meine Unhöflichkeit! Bei der Andeutung, du seiest in Wirklichkeit keine Schlange, war doch tatsächlich mein erster Gedanke, du könntest etwas mit dem Phantom zu schaffen haben... Dabei hast du – habt Ihr – meinen Respekt nun wirklich mehr als verdient! Wie soll ich Euch jetzt nennen? 'Meister'?“
 

Sein Gegenüber starrte ihn bloß aus großen, überforderten Augen an und seufzte abermals.
 

„Danke, aber ichhh finde 'Chhharlie' eigentlichhh absssolut in Ordnung“, antwortete er, ehe er sich mit flüsternder Stimme wieder der Königin zuwandte. „Genau dessshalb, Majessstät, hättet Ihr esss für Euchhh behalten sssollen.“
 

„Moment“, hörte Alice den Weißen Ritter von irgendwo neben oder hinter sich in der Menge einwerfen. „Soll das heißen... Wir alle stammen ursprünglich... von Eurer Schlange Charlie ab? Verstehe ich das richtig?“
 

Ein angeregtes Gemurmel hatte begonnen, sich in der Gruppe zu entfalten. Im Grunde genommen war es seit der Rückkehr der Frauen die ganze Zeit über unruhig unter ihnen gewesen – was vollkommen nachvollziehbar war, schließlich hatten sie und die Männer sich vermutlich einiges zu erzählen –, doch nun hatte die Unruhe ein neues Maß angenommen. Es ging weit über das stetige Stimmengewirr hinaus, das den Saal während der Gerichtsverhandlung erfüllt hatte.
 

„Das ist nicht ganz korrekt“, gab Marilyn ungewohnt freundlich zur Antwort, wenn man bedachte, dass er seinen Gesprächspartner in der letzten Nacht noch hatte köpfen wollen. „Weder ihr aus der zweiten Bevölkerung, mein lieber Ritter, noch die erste Bevölkerung stammen von Charlie persönlich ab. Jedoch hätte die erste Bevölkerung sich gar nicht erst entwickeln können, hätte er das Wunderland nicht aus den Wunschvorstellungen der Menschen dort draußen kreiert. Vielleicht solltest du es selbst erklären, Charlie. Immerhin warst du als Einziger dabei!“
 

„Alsssso gut“, willigte er letztlich doch ein. „Aber lasssssst unsss doch dazzzu in den Garten gehen. Esss könnte etwasss länger dauern, all dasss ausssszzzuführen, und hier drin wird esss mir langsssam zzzu unbequem.“
 

Damit war jeder einverstanden, und so hatten sie sich kurz darauf alle gemeinsam in einem großflächigen Teil des Schlossgartens eingefunden, wo sie sich im Kreis angereiht entweder auf Stühlen oder auf der Wiese niedergelassen hatten, während Charlie seine beeindruckende Geschichte erzählte und dabei kein Detail ausließ. Obwohl es auf Dauer ein wenig anstrengend war, ihm zuzuhören – gerade bei Sätzen, die zu viele Zischlaute beinhalteten –, hätte Alice in diesem Augenblick nichts lieber getan, als seinen Erzählungen zu lauschen, jetzt da die Gefahr gebannt und die Bewohner des Wunderlandes sowohl wieder beisammen als auch in Sicherheit waren.
 

Es war schlichtweg unglaublich, was sie von Charlie erfuhren. Zumindest für ihn war es das; ob die anderen es als genauso faszinierend empfanden, konnte er natürlich nicht sagen. Offenbar war die Welt, aus der er gekommen war, bevor es ihn hierher verschlagen hatte – die 'Realität', wie er sie bis vor Kurzem noch genannt hätte –, bei Weitem nicht die Einzige ihrer Art. Wenn es stimmte, was Charlie erzählte, musste es unendlich viele solcher Welten geben, die parallel zueinander in verschiedenen Dimensionen, abgelegen vom Wunderland, existierten. Jede dieser Welten unterschied sich von den anderen, und wenn es nur eine winzige Kleinigkeit war. Keine von ihnen war exakt gleich – und somit gab es auch jeden von ihnen, die sie nun versammelt hier beieinander saßen, in vielfacher Ausführung dort draußen, keiner genau wie der andere. (Auf seine Frage hin, ob es also auch ihn selbst in unendlich vielen Variationen gäbe, von denen mindestens einer möglicherweise sogar niemals berühmt geworden war, hatte Marilyn grinsend geantwortet: „Davon kannst du ausgehen. Und mit Sicherheit gibt es sogar einige Universen, in denen du sesshaft und verheiratet bist!“) Charlie, der am Anfang, seiner eigenen Aussage nach, weder einen Namen noch eine körperliche Hülle besessen hatte, war, unbemerkt von den Menschen, in deren verschiedene Epochen und Dimensionen aufgebrochen, um Kraft aus den Fantasien der dort lebenden Wesen zu schöpfen. Aus dieser reinen Kraft war letztendlich das Wunderland und mit ihm der Herzkönig inmitten all der Paralleldimensionen entstanden, dem Charlie, als sein Werk zu seiner Zufriedenheit verrichtet war, einen Großteil seiner Macht übertragen hatte, bevor er sich dazu entschloss, in Form einer nahezu gewöhnlichen Schlange – von seiner Fähigkeit, zu sprechen, einmal abgesehen – als Bestandteil seiner eigens erschaffenen Welt weiterzuleben. Die Tatsache, dass er sich bei der Schöpfung dieser Welt hauptsächlich an bekannten Musikern orientiert hatte – woher er die Inspiration für das Aussehen des Königs genommen hatte, war schließlich offensichtlich – fand Alice besonders amüsant. Auch die anderen, die später aus dem sich selbstständig weiterentwickelnden Wunderland hervorgegangen waren und allgemein als 'Erste Bevölkerung' bezeichnet wurden, waren beinahe ausschließlich Teil der Fleisch gewordenen Gedanken seiner rockenden Kollegen. Was genau das über Charlie aussagte, war vielleicht fraglich, aber es machte ihn jedenfalls für Alice in jeglicher Hinsicht noch sympathischer.
 

Mit der zweiten Bevölkerung verhielt es sich hingegen wesentlich weniger legitim. Nachdem Alicia, die als Gegenstück des Herzkönigs – als Pikkönigin und Herrscherin der Nacht – kurz nach ihm zum Leben erwacht war, um gemeinsam mit ihm über den hellen und dunklen Bereich auf beiden Seiten des Spiegels zu regieren, geriet die mühsam aufrechterhaltene Ordnung des Landes irgendwann langsam aber sicher ins Wanken, als sie anfing, sich für die Dimensionen fernab ihrer eigenen Welt zu interessieren. Obwohl es ihnen strikt untersagt gewesen war, das Wunderland zu verlassen und jemanden von außerhalb hineinzuführen, überwog schließlich ihre Neugierde. Sie nutzte ihre dunkle Macht, um in die für sie so faszinierenden Paralleluniversen zu gelangen, die sie jedes Mal so lange unsicher machte, bis es ihr langweilig wurde, und sie schließlich aus jeder Welt, die sie besucht hatte, eine für sie besonders interessante Person mit nach Hause brachte – unter anderem scheinbar das weiße Kaninchen (welches nach seinem Leben als Sänger, Charlies Aussagen zufolge, mit rapider Geschwindigkeit seine neue Rolle im Wunderland eingenommen hatte), den Märzhasen, die beiden Wachen und einige der Frauen, die zuvor, wie es aussah, ebenfalls überwiegend Sängerinnen gewesen waren. Leider hatte sich unter diesen Personen wohl auch die niederträchtige Kreatur befunden, die Alicias Leben, getarnt als Mister Price, ein tragisches Ende verschafft hatte... was wiederum Marilyn, der ihren Tod zu diesem Zeitpunkt als durch ihren zu weit fortgeschrittenen Wahnsinn verursachten Selbstmord einstufte, dazu bewog, das Leben seiner Geliebten fortzuführen, im Versuch, sie zu ersetzen, und die Dinge zu tun, die auch sie zuvor getan hatte.
 

So kam es, dass er, der von nun an die Herzkönigin verkörperte, einen Neuanfang startete und damit begann, Menschen aus fremden Dimensionen zu entführen, so wie es auch die dunkle Königin so oft vollbracht hatte, um sich aus ihnen ein neues, ein besseres Volk aufzubauen – während der böse Geist der Kreatur, der inzwischen längst still und heimlich zurückgekehrt war, bereits, ohne dass es jemand ahnte, seine Finger im Spiel hatte und die schreckliche Trauer ihrer Hoheit zu seinem eigenen Vorteil nutzte...
 

„... Das ist aber eine komplizierte Geschichte. Ich glaube, ich hab's nicht verstanden“, hörte Alice den Schwarzen Ritter nach einer Weile schmollen. Selbstverständlich ließ die überhebliche Antwort des Weißen Ritters nicht lange auf sich warten.
 

„Immer muss man Euch alles zwei Mal erklären!“, höhnte dieser arrogant wie eh und je. „Die erste Bevölkerung setzte sich aus Fantasiefiguren zusammen, während die zweite Bevölkerung, zu der wir beide gehören, aus irgendwelchen wichtigen Leuten besteht, die in ihrer ursprünglichen Welt jetzt... fehlen? Ähm...“
 

„Seht Ihr, Frau Weiß? Ihr habt es auch nicht verstanden“, gab Ritter Schwarz scheinbar zufrieden zurück und lehnte sich, begleitet von einem glücklichen Seufzer, an Black Beauty, die neben ihm im Gras saß und ebenso glücklich zurückgrunzte. General Floyd, der mit verschränkten Armen auf der anderen Seite neben der Sau stand, tat auffallend unbeteiligt, doch Alice entgingen nicht die wehmütigen Blicke, die er dem Tier immer wieder zuwarf. Fast wirkte es, als hielte er sich gezwungenermaßen zurück, um das offensichtliche Glück der beiden Weggefährten nicht zu stören.
 

„Nun, wisssssst ihr...“, zischte Charlie, „... die Vermutung desss Weissssssen Rittersss issst nichhht einmal falschhh. Ihr wurdet ausss euren alten Welten herausssgeholt, habt eure ursssprünglichhhe Identität vergessssssen und ssseid, wie ihr ssseht, noch immer hier. Daher issst esss naheliegend, dassssss ihr dort, wo ihr herkamt, nun ja, ssseitdem fehlt. Ssselbssstverssständlichhh hat dasss in der einen oder anderen Dimensssion für einen riesssigen Ssskandal gesssorgt, aber wasss sssoll ichhh machen? Ichhh bin blossss eine gewöhnlichhhe Schhhlange!“
 

Marilyn, der Charlies penetrant auf ihm lastenden Blick registrierte, fuchtelte abwehrend mit den Armen vor sich herum.
 

„Ich weiß, ich weiß, es war falsch von mir, gegen die Verbote zu verstoßen...! Aber jetzt kann ich es nicht mehr rückgängig machen... Ich verspreche, es kommt nie wieder vor!“
 

„Gut zzzu wissssssen, Eure Hoheit“, erwiderte Charlie gespielt streng, ehe er sich wieder Marilyns Untergebenen zuwandte und unbeirrt weitersprach. „Dasss issst übrigensss auch der Grund, wessshalb manchhhe von euchhh – genauer gesssagt: der Hutmacher, die Hassselmausss und mein guter Freund Fishhh – nichhhtsss von den Frauen wusssssten. Alsss ihr hierher rekrutiert wurdet, waren diessse bedauerlichhherweissse bereitsss im Kerker der Kehrssseite eingesssperrt.“
 

„So ist das also“, murmelte der Hutmacher daraufhin feststellend. „Erstaunlich. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass ich einmal etwas anderes getan habe, als Hüte zu machen, Tee zu trinken und zu backen.“
 

„Es ist wahrlich alles ganz ausgesprochen erstaunlich, aber ich wäre dafür, die Vergangenheit nun ruhen zu lassen“, brachte Marilyn mit einem scheinbar leicht nervösen Lächeln hervor und lenkte so die Aufmerksamkeit seiner Untertanen wieder auf sich. „Wisst ihr was? Ich habe eine grandiose Idee! Wie wäre es, wenn wir zur Feier des Tages und unseres Sieges über das Böse heute Abend ein Fest in der Empfangshalle veranstalten würden? Bis dahin haben wir Zeit, noch etwas aufzuräumen und das Chaos weitestgehend zu beseitigen... Oh! Wir könnten Platz schaffen und die Halle als Ballsaal nutzen! Was haltet ihr davon?“
 

„Ich würde sagen, das ist der erste vernünftige Vorschlag, den ich heute höre!“, antwortete prompt eine der Damen – eine stämmigere Lady in einem weiten dunkelgrünen Glitzerkleid, aus deren Schulterblättern bunte, hinter ihrem Rücken zusammengefaltete Schmetterlingsflügel wuchsen –, bevor irgendein männlicher Vertreter der Truppe diesen Vorschlag überhaupt wirklich verarbeiten konnte, wie es aussah. Eine andere Dame, deren Kleidung und Haare über und über mit neonfarbenen Federn bedeckt waren, schloss sich ihr voller Euphorie und mit den Worten „Das klingt nicht nur 'vernünftig', das klingt oberaffentittengeil!“ an, woraufhin der größte Anteil an Frauen unter ihnen in einen schrillen Zustand der Freude verfiel, während ihre männlichen Mitbürger Marilyns Idee nachträglich mit einem mehr oder weniger optimistischen Nicken zustimmten. Typisch, dachte Alice. Manche Dinge, wie beispielsweise das kuriose Phänomen 'Männer und Frauen', änderten sich wohl nie, nicht einmal an einem verqueren Ort wie diesem.
 

Was soll's, sagte er sich, als er sah, wie glücklich die Ladies über die Planung des kommenden Abends schienen, und musste selbst lächeln. Nach allem, was sie nun durchgemacht hatten, hatten sie sich ein wenig Spaß redlich verdient – und zugegebenermaßen war die Aussicht auf einen fröhlichen Ausklang des Tages im Schloss, ohne dass irgendein rachsüchtiger, böser Geist dazwischenfunkte, tatsächlich nicht das Schlechteste.
 

„Also gut! So machen wir es!“, beschloss die Königin überschwänglich, erhob sich andächtig von ihrem Platz auf einem der Gartenstühle und strich ihr ohnehin makellos sitzendes Kleid glatt, ehe sie sich ein paar Schritte Richtung Schloss bewegte. „Heute Abend... Sagen wir, wenn die Sonne in diesem Bereich nicht mehr zu sehen ist und der Himmel langsam dunkel wird, treffen wir uns alle zusammen in der Empfangshalle, die ich mithilfe meiner treuen Höflinge bis dahin wieder etwas herrichten werde. Solange könnt ihr erst einmal gehen, wohin ihr wollt. Ruht euch aus! Ach, bis auf... einige von euch, die ich gern um den einen oder anderen kleinen Gefallen bitten würde. Ich habe da bereits gewisse Vorstellungen, wie ihr auf eure ganz persönliche Art zu der Vollkommenheit unserer Feier beitragen könnt!“
 

Alice wartete einen Moment ab, ob sein Name fiel, als Marilyn die betreffenden Personen sichtlich vorfreudig aufzählte und zu sich bat, um alles weitere mit ihnen zu besprechen. Anscheinend gehörte er jedoch ausnahmsweise nicht zu den ausgewählten Helfern, deren 'kleine Gefallen' das Fest perfektionieren sollten. Gewissermaßen war er froh darüber. Nach all dem Trubel war es wirklich erleichternd, einmal nicht dringend gebraucht zu werden. Er sah, wie die Königin sich, umgeben von Fish, dem Hutmacher und einigen anderen ihrer Diener, gemächlichen Schrittes zur Halle aufmachte und gedämpft mit ihnen sprach, während die übrigen Bewohner des Wunderlandes zurückblieben, sich zunächst unschlüssige Blicke zuwarfen und sich dann offenbar entweder dazu entschlossen, sich die Zeit am Hof zu vertreiben oder nach Hause zu gehen. General Floyd, der eigentlich zu den von Marilyn aufgerufenen Personen zählte, stand noch immer am selben Fleck, an dem auch der Schwarze Ritter und Black Beauty sich bis vor Kurzem aufgehalten hatten, schaute scheinbar unsicher zu ihm herüber und ging schließlich auf ihn zu, als der Platz zunehmend leerer wurde. Alice hoffte, dass er es ihm nicht übel nahm, wie viel von seiner Privatsphäre er kürzlich unfreiwilligerweise über ihn in Erfahrung gebracht hatte, und fragte sich im selben Moment, ob Floyd das Szenario mit Alicia in seinen Gedanken wohl genauso wahrgenommen hatte wie es bei ihm selbst im Kerker der Kehrseite der Fall gewesen war.
 

„Ähm... Alice, richtig?“, sagte er zögerlich, als sie sich nun unmittelbar gegenüberstanden. Tatsächlich war es, wenn er sich nicht täuschte, das erste Mal, dass der General ihn mit seinem Namen ansprach. „Eigentlich sollte ich dafür sorgen, dass die Hämmer meiner Armee, die noch immer besiegt im Eingang der Halle herumliegen, von dort verschwinden. Aber vorher... wollte ich mich bei dir bedanken.“
 

Ein wenig überrascht sah Alice ihn an, doch Floyd blickte bloß zur Seite, so wie er es auch in seinem Albtraum stetig getan hatte, in dem sie sich unter etwas anderen Umständen begegnet waren.
 

„Ich weiß... Ich war bisher nicht sonderlich freundlich zu dir. Ich schätze, das liegt daran, dass du mich von Anfang an zu sehr an... die dunkle Königin erinnert hast“, fuhr er mit leiser Stimme fort, was Alice in seiner Annahme nur bestätigte. „Aber du hast mich eines Besseren belehrt. Sowohl Alicia als auch du habt eine Chance verdient, von vorn anzufangen, stimmt's?“
 

„Ich denke, da haben Sie Recht. Jeder hat eine zweite Chance verdient... zumindest fast jeder“, antwortete Alice lächelnd, bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, dass auch er die Situation als etwas befremdlich empfand. „Aber sagen Sie... Eines würde ich gern von Ihnen wissen, wenn Sie mir die Frage gestatten: Wenn es wirklich stimmt, dass Sie als einziger Überlebender der ersten Bevölkerung, der die ganze Zeit über am Hof tätig war, alles mitbekommen haben... ist Ihnen da nie der Gedanke gekommen, die Herzkönigin darauf anzusprechen, was sie mit all den Frauen und mit den Männern Ihrer Generation angestellt hat? Es muss für Sie doch verdächtig gewirkt haben, als alle der Reihe nach verschwunden sind, oder nicht?“
 

„Auf jeden Fall hat es das!“, erwiderte Floyd sofort. „Es hat sogar höchst verdächtig gewirkt. Aber, so absurd das auch klingen mag, außer mir ist es niemandem aufgefallen. Wahrscheinlich weil meine werten Kollegen der zweiten Bevölkerung nicht von Natur aus auf ein Leben im Wunderland ausgelegt und unterbewusst alleine schon zu sehr damit beschäftigt sind, ihren eigenen Wahnsinn halbwegs im Griff zu behalten, als dass sie es bemerken könnten, wenn etwas um sie herum nicht so ist, wie es sein sollte. Und ich... ich wollte nicht derjenige sein, der das Handeln unserer Königin in Frage stellt oder ihr gar etwas Böses andichtet...“ Kurz sah Floyd ihn direkt an, bevor er scheinbar irgendeinen unbestimmten Punkt neben ihm fixierte. „Ich hatte alles dafür getan, meinen Rang als General von ihr zu erlangen, und wollte diesen nicht gleich wieder durch ein falsches Wort aufs Spiel setzen... verstehst du? Hätte sie mich gefeuert, wäre ich wieder zu dem geworden, was ich... vorher war...“
 

„Ich verstehe das sehr gut“, sagte Alice absolut ehrlich. Floyd schien ob dieser Worte auf eine Weise unheimlich gerührt zu sein, auch wenn er das nicht gänzlich offen zeigte – Alice war sich beinahe sicher, dass es ihn nicht kalt ließ. „Ich bin zwar erst seit gestern hier, und es gibt sicherlich einiges, das ich noch nicht über euch und eure Welt weiß... Aber manches ist hier, im Wunderland, ganz genauso wie dort, wo ich herkomme. Und falls ich tatsächlich bei euch bleiben sollte, verspreche ich, dass ich, wenn es sein muss, höchstpersönlich für eine Sache Sorge tragen werde, die, wenn Sie mich fragen, überall gleich sein sollte – für den Frieden. Sollte irgendeiner es dann noch wagen, den Frieden auf welche Art auch immer zu stören, kann er sich auf ein unangenehmes Zusammentreffen mit mir gefasst machen.“
 

Jetzt war Floyd derjenige, der aus ehrlichster Überzeugung lächelte und sogar, wenn auch etwas verhalten, lachte – bisher hatte Alice ihm nicht einmal zugetraut, das zu können.
 

„Ich bin sicher, niemand möchte ein solches Zusammentreffen erleben“, entgegnete der General für seine Verhältnisse heiter und schaute dann in die Richtung, in die Marilyn sich mit seinen Untergebenen verzogen hatte. „Übrigens... Falls du noch etwas mehr über uns und unsere Welt erfahren willst, jetzt wo du darüber nachdenkst, hierzubleiben... Frag doch mal den Narren, ob er dir das schlaue Buch, das er die ganze Zeit mit sich herumträgt, eine Weile lang überlässt!“
 

Es dauerte einen Moment, bis Alice begriff, von welchem Buch er redete. Jedoch fiel ihm schnell ein, dass es im Zusammenhang mit Fish nur eines geben konnte, das er meinte.
 

„Natürlich. Keine schlechte Idee. Immerhin steht mir dieses nette Büchlein sowieso zu, nach der sensationellen Show, die ich Fish und seinen lustigen Freunden dafür geboten habe.“
 

Floyd musterte ihn mit einem amüsanten Blick, der irgendetwas zwischen „Was zum Teufel soll das nun bedeuten?“ und „Ich will es eigentlich gar nicht wissen...“ ausdrückte. Dann beeilte er sich, die demolierte Empfangshalle aufzusuchen, und Alice folgte ihm, um einen kleinen Abstecher zu Marilyns Hofnarren zu unternehmen.
 


 

„Interessant“, sagte er zu sich selbst, als er über den Rand des Buches, das er in Händen hielt, hinwegsah, und war sich nicht einmal sicher, ob es sich auf den Inhalt des antiken Werkes oder auf das skurrile Schauspiel vor seinen Augen bezog. Seit einer Weile saß Alice nun schon hier, in der Nähe der Bodenklappe, die durch den Notausgang zum Keller führte, und versuchte zu lesen. Er hatte sich diese Stelle ausgesucht, weil es hier besonders viele Laternen gab, die bei Nacht die Umgebung beleuchteten. So hatte er, wenn es langsam dunkel wurde, immer noch genug Licht, um die in verschnörkelter Schrift gemalten Buchstaben erkennen zu können.
 

Allerdings gab es genügend andere Umstände, die ihn vom Lesen abhielten. Ein Großteil der anderen hatte den Hof zwar inzwischen verlassen, jedoch bei Weitem nicht alle. Und diejenigen, die beschlossen hatten, bis zum Abend im Schlossgarten zu verweilen, setzten scheinbar alles daran, ihn von seinem Vorhaben, sich ein wenig über die Geschichte des Wunderlandes zu informieren, abzubringen. Mit voller Absicht. Oder vielleicht auch nicht.
 

Natürlich war ihm bewusst gewesen, dass es nicht gerade ruhiger werden würde, wenn die zuvor isolierten Frauen sich nun auch noch unter das Volk mischten... aber dass sie offenbar nichts Besseres zu tun hatten, als schrill vor sich hinträllernd auf der Wiese hin und her zu laufen, nur um sich dann und wann kichernd hinzuhocken und ein paar Blumen zu pflücken, sich in einer Lautstärke, die beinahe kriminell war, mit den hier verbliebenen Männern zu unterhalten, und – je nachdem, welches Tier sie verkörperten – entweder unentwegt aggressiv-gröhlende Geräusche von sich zu geben, mehrere Runden im Kreis zu hoppeln oder sich inbrünstig im Gras zu wälzen, war nicht gerade sehr förderlich für seine Konzentration. Ab und an hatte er gehört, wie nacheinander ein paar der Damen auf ihn aufmerksam geworden waren und sich so etwas zugeflüstert hatten wie „Hey, wer ist eigentlich der wahnsinnig gutaussehende Typ dahinten?“ – möglicherweise war es auch ein etwas anderer Wortlaut gewesen –, was die bei ihnen stehenden Männer meist mit „Stör ihn jetzt nicht, er liest!“ beantwortet hatten. Im Prinzip sehr entgegenkommend von ihnen, fand Alice. Nur half es nicht sonderlich viel, bei einem derart wilden Haufen Freaks, der ohnehin das vorprogrammierte Chaos verhieß.
 

Aktuell war eine junge Brünette mit wölfischen Attributen wenige Meter von ihm entfernt damit beschäftigt, das aufgesprungene Ei, das einmal Humpty Dumpty gewesen war, in einem eben erst gegrabenen Erdloch zu verbuddeln. Keine Minute nachdem sie sich scheinbar zufrieden von dannen gemacht hatte, wurde besagtes Ei von einer Blondine mit Fuchs-Schwanz wieder ausgegraben, die, trotz ihres zierlichen Aussehens, außerordentlich beherzt in der Erde wühlte, ehe sie das Objekt wie ein gerade erlegtes Beutetier in den Mund nahm und auf allen Vieren davonstolzierte. Wenigstens war Humpty Dumpty nicht mehr imstande, sich in irgendeiner Form zu wehren. Dessen frappant nervtötendes Geschrei auch noch ertragen zu müssen, wäre wirklich etwas zu viel des Guten gewesen.
 

Alice richtete seinen Blick erneut auf die dicht beschriebenen Seiten vor sich, die Sätze noch einmal flüchtig überfliegend, bis er die Stelle wiedergefunden hatte, an der er hängengeblieben war.
 

»Mehrere Tage ist es inzwischen her, dass ich den letzten Eintrag verfasst habe. Ich weiß, dass meine Aufgabe eigentlich lautete, jeden Tag wenigstens ein paar Zeilen zu schreiben, aber wir alle hatten einen großen Verlust zu verarbeiten. Unsere Königin, Alicia, Herrscherin der Schatten und Gemahlin des Königs – sie hat uns verlassen. Für immer.

Niemand weiß, wie es sich zugetragen hat, aber jeder hat seine eigenen Spekulationen. Es wird gemunkelt, sie habe sich das Leben genommen, weil einige ihrer Untergebenen sich, aufgrund ihrer häufigen Regelverstöße, von ihr abgewandt hatten. Doch sollte ich dem Glauben schenken?

Jeden Morgen steht unser König an der Klippe, blickt in die Ferne, um die Sonne zu beobachten, und zieht sich erst dann in sein Schloss zurück, wenn er weiß, dass sie aufgegangen ist. Der alte Glanz ist aus seinen Augen verschwunden, doch wenn er die Sonne betrachtet, scheint ein winziger Hoffnungsschimmer in ihm aufzuflammen. Als ginge ein Teil ihrer Wärme auf ihn über. In jener Nacht – der Nacht ihres Todes – ließ die Sonne auf sich warten. Der König wartete stundenlang, bewegte sich nicht von der Stelle, tat nichts, als starr in den schwarzen Himmel zu schauen. An jenem Morgen hatte die Sonne ihn vergessen.

Ist es überhaupt noch richtig, ihn so zu nennen? Unseren K ö n i g ? Oder ist es am Ende falsch von mir, ihn als solchen zu bezeichnen?

Seit sie fort ist und er allein über das Wunderland regiert, scheint er immer mehr zu versuchen, ihre Rolle einzunehmen und fortan das Königspaar in sich selbst zu vereinen. Er trägt ihre Kleider. Er hat sie zur Hälfte rot eingefärbt und trägt sie mit Würde, doch ohne jegliche Emotionen in seinen Zügen. Nicht einmal mehr seinen Namen dürfen wir aussprechen, weil er nichts will als zu vergessen. Er ist vollkommen kalt geworden.

Nun fragen wir, meine Brüder und ich, uns: Wie wird es weitergehen? Was soll aus uns werden, jetzt, da er, der ehemalige Herzkönig, alles, was ihm lieb war, verloren hat? Jetzt, da er, der unsere Welt stets mit so viel Güte erfüllte, zu einer Königin des Schreckens heranwächst? Sollen wir warten und das Risiko eingehen, dass er mehr und mehr von seinem früheren Selbst verliert, mit jedem weiteren verstreichenden Tag? Oder sollen wir einschreiten, wir vier, die wir doch eigentlich nicht das Recht haben, uns in die Angelegenheiten unseres Schöpfers einzumischen? Zu meiner Schande muss ich gestehen... ich weiß es nicht...«
 

„Na? Macht es dem Auserwählten etwa Freude, in fremden Tagebüchern zu lesen?“
 

Aufgeschreckt durch die unerwartete Stimme hinter sich, drehte er sich um und fand sich plötzlich Auge in Auge mit dem Hochgewachsensten der KISS-Truppe wieder, der ihn jedoch bloß mit einem belustigten Grinsen ansah.
 

„Nun ja“, entgegnete Alice zögerlich. „Es ist eher so, dass ich der Ansicht bin, bisher noch nicht genug über das Wunderland zu wissen, um- Warte mal... Bist du vielleicht der eigentliche Besitzer dieses Tagebuches?“
 

The Demon setzte einen fragenden Blick auf.
 

„Darauf kommst du erst jetzt? Ich hatte gedacht, das sei offensichtlich!“, gab er übertrieben erstaunt zurück und zog dann mit den Worten „Ich habe übrigens ein Geschenk für dich!“ etwas Schwarzes hinter seinem Rücken hervor, das Alice erst definieren konnte, als sein Gegenüber es ihm vors Gesicht hielt. Ein Anzug, wie es aussah. Ordentlich zusammengefaltet und mit allem, was dazugehört.
 

„Das ist wirklich für mich? Hat die Königin dich geschickt, mir das zu bringen...?“
 

„Oh ja, das hat sie“, antwortete The Demon gut gelaunt und machte dann, besser als Alice es für möglich gehalten hätte, Marilyns Tonfall nach. „'Sei so gut und überreiche das Alice, wenn du ihn siehst! Sag ihm, er möge es bitte anziehen, damit er auf unserem Ball auch angemessen gekleidet ist. Ach, und richte ihm meine herzlichsten Grüße aus, hihi'. Das hat sie zu mir gesagt. Du solltest ihr Geschenk annehmen. Ich glaube, sie wollte sich für den Abend ebenfalls schick machen!“
 

„Tatsächlich?“ Warum nur hatte er schon wieder den knapp bekleideten Marilyn vor Augen, den er aus seiner alten Welt kannte? „Ähm... Apropos 'Königin'... Wenn dieses Tagebuch wirklich dir gehört, kannst du mir sicher auch eine Frage beantworten?“
 

„Aber gerne doch! Was möchtest du wissen?“
 

Alice dachte an die letzten paar Zeilen, die er eben gelesen und die ihn nun doch ein wenig verwirrt hatten.
 

„In einem der älteren Einträge hast du die Königin – oder den König, was auch immer – als euren 'Schöpfer' bezeichnet. Aber ich dachte, Charlie wäre derjenige, der diese Welt erschaffen hat...? Habe ich mal wieder irgendwas nicht mitgekriegt?“
 

„Ach, das meinst du!“, lachte The Demon sichtlich unterhalten. „Nein, nein, es stimmt wohl, dass Charlie die Grundlage für das alles gelegt hat. Aber es ist so, dass meine Brüder und ich nicht wie der Rest der ersten Bevölkerung vom Wunderland selbst geboren worden sind. Wir sind vor langer Zeit aus der magischen Verbindung zwischen Herzkönig und Pikkönigin hervorgegangen. Ihre reine Liebe zueinander hat uns sozusagen ins Leben gerufen, um sie auf ewig beschützen und den Frieden unserer Welt erhalten zu können. Zumindest haben sie uns das später so erklärt.“ Er kicherte wie ein kleiner Junge und fügte dann hinzu: „Wenn man so will, könnte man sagen, sie waren unsere Eltern.“
 

„... Eltern!“, brachte Alice in einem hoffentlich nicht allzu überforderten Tonfall hervor. „Das würde ja bedeuten, dass ich die Wiedergeburt eurer-“
 

„Ganz genau so ist es, Mami!“, strahlte The Demon ihn förmlich an. Alice wich aus Reflex zwei Schritte zurück.
 

„Große Güte“, murmelte er so beherrscht wie nur möglich. „Und ich habe gestern für diese verdammte Karte noch mit dir geflirtet...! Das ist zu viel für mich.“
 

„Oh, aber Auserwählter! Kein Grund zur Sorge! Alicia war nicht unsere biologische Mutter, falls du das denkst. Im Gegensatz zu der Welt, aus der du kommst, ist so etwas bei uns gar nicht möglich“, erklärte der Freak zu seiner Erleichterung, schien sich jedoch über seine etwas voreilige Reaktion zu amüsieren. „Außerdem hast du vor mir ohnehin nichts zu befürchten“, ergänzte er grinsend. „Ich bin in festen Händen.“
 

„In festen... Dann... Oh.“
 

„Ja, richtig. Es gibt überhaupt kein Problem. Und jetzt nimm schon den Anzug, oder willst du ihn etwa nicht? Er ist maßgefertigt!“, machte er ihn erneut auf die zusammengelegten Kleider aufmerksam, die er ihm noch immer entgegenstreckte.
 

„... Doch. Selbstverständlich“, antwortete Alice, die augenblicklich aufkommende Frage in seinem Kopf, wer das Teil denn seit seiner Ankunft für ihn maßgeschneidert haben sollte, ignorierend, und nahm sein Geschenk prüfenden Blickes an sich. Dann stach ihm das Buch in seiner anderen Hand wieder ins Auge und er bemerkte, wie dunkel es inzwischen bereits geworden war. Seit er sich hier hingesetzt hatte, musste eine ganze Weile vergangen sein. Die Laternen ringsherum hatten schon angefangen zu leuchten, wenn auch nur sehr schwach. Es sah aus, als schwebten hunderte winzige Glühwürmchen in den Gefäßen, die den Lampen, je später es wurde, nach und nach ihr Licht spendeten. „Die Zeit ist fast um“, sagte er geistesabwesend. „Das Buch...! Du willst es sicher zurück haben, oder?“
 

The Demon winkte ab.
 

„Am Ende des Tages hätte ich es gern für einen Moment wieder. Ansonsten bin ich sicher, dass es bei dir gut aufgehoben ist!“, erwiderte er lächelnd, wandte sich zum Gehen und rief ihm noch ein paar letzte Worte zu, bevor er verschwand: „Ich habe immerhin nicht umsonst dafür gesorgt, dass es in deiner Obhut landet!“ Danach war er weg, und Alice blieb allein im schummrigen Licht der frühen Dämmerung zurück. Kurz warf er einen nachdenklichen Blick in den Himmel, die Worte des Anderen noch einmal im Geiste wiederholend, als er die kühle Abendluft registrierte und nebenbei feststellte, dass einige seiner Mitmenschen scheinbar schon hineingegangen waren.
 

„Also gut“, sagte er schließlich leise zu sich selbst. „Vielleicht sollte ich mich dann auch langsam fertig machen.“
 


 

Die Stimmung in der Empfangshalle war überwältigend. Verglichen mit der festlichen und, trotz all der im Saal herumspringenden Verrückten, erhabenen Atmosphäre, die hier herrschte, war es draußen beinahe beschaulich zugegangen.
 

Obwohl der Eingangsbereich sichtlichen Schaden erlitten hatte – das Schlosstor war vollkommen zerstört worden, sodass man vom Garten aus nun direkt in das Gebäude schauen konnte –, hatten Marilyn und seine Diener es bewerkstelligt, dem Raum ein feierliches Aussehen zu verleihen, das einen förmlich dazu einlud, es sich gemütlich zu machen und den Abend in vollen Zügen zu genießen. Mehrere Tische standen aneinandergereiht und mit reichlich beeindruckenden Speisen verziert am Rand. Hin und wieder entdeckte er in dem Getümmel eine Maid, die, gekleidet in ein niedliches schwarzweißes Gewand und ausgerüstet mit einem Tablett, zwischen den ausgelassen miteinander plaudernden Leuten umherstreifte. Genauer gesagt waren es sogar drei Maids, wenn er sich nicht verzählt hatte. Von irgendwo weiter hinten im Saal ertönte Musik – die sanften Klänge einer Geige –, die er zwar im Augenblick nicht zuordnen konnte, jedoch für passend zum restlichen Ambiente empfand. Es waren durch und durch gute Voraussetzungen für eine vernünftige Party.
 

Nachdem er mit dem Lesen der Tagebuchseite, bei der er angelangt war, als The Demon ihn unterbrochen hatte, fertig geworden war, hatte er einen Grashalm von der Wiese gepflückt und in das Buch gesteckt, um sich die Stelle besser merken zu können. Weil er es als ziemlich unhöflich erachtete, das Buch unbeaufsichtigt liegen zu lassen, jetzt, da er wusste, dass sein eigentlicher Besitzer ihm diesbezüglich so viel Vertrauen entgegenbrachte, hatte er es kurzerhand mitgenommen und in einer recht großen Innentasche seines Anzuges verstaut, der ihm erfreulicherweise tatsächlich wie angegossen passte. Zwar hatte er einen Moment warten müssen, bevor er dazu gekommen war, sich umzuziehen, weil zu dem Zeitpunkt, zu dem er das Badezimmer betreten hatte, bereits drei Damen in ebendiesem damit beschäftigt gewesen waren, sich zu schminken und jeweils eine Zigarette zu rauchen – zwei von ihnen glaubte er, als Gina und Sunny erkannt zu haben, die Dritte hatte er noch nie zuvor gesehen –, doch danach waren sie so zuvorkommend gewesen, ihm den Raum zu überlassen, und hatten sich zügig von dort verzogen; nicht, ohne im Vorbeigehen kichernd miteinander zu tuscheln. Alice hatte nur die Wörter 'Auserwählter', 'Königin' und 'ultra-charmant' heraushören können. Auf wen genau sich Letzteres bezogen hatte, wusste er nicht, aber er vermutete, auf ihn.
 

Ultra-charmant wäre es auch, wenn irgendwer mir sagen würde, was ich jetzt tun soll, dachte er, das lange Herumstehen allmählich müde werdend, und blickte sich in der Menge nach einer halbwegs umgänglichen Person um, die er gegebenenfalls ansprechen könnte, wenn schon sonst nichts passierte. Allerdings verwarf er seinen Entschluss genauso schnell wie er ihn gefasst hatte, weil dieses Vorhaben in genau dem Augenblick unwichtig wurde, in dem er Marilyn, gehüllt in ein ausladendes, wahnsinnig schönes Ballkleid, auf sich zukommen sah. Es war nicht schwarz-rot, was ihm seltsamerweise sofort auffiel. Es war von oben bis unten in einem edlen Rot-Ton gehalten, der außerordentlich gut mit Marilyns Haarfarbe harmonierte.
 

„Alice!“, stieß die Königin beschwingt aus, als sie sich, offenbar fröhlich gestimmt, zu ihm gesellte und ihn somit aus seinen etwas zweifelhaften Gedanken riss. „Da bist du ja! Du siehst fantastisch aus!“
 

„Ich würde ja sagen 'Ich weiß'...“, entgegnete er gespielt abgeklärt, „... aber weil Ihr es seid, antworte ich mal mit einem geschmeichelten 'Vielen Dank'.“
 

Marilyn grinste breit, und er fragte sich, ob er da eben wirklich das Richtige gesagt hatte, beschloss jedoch, es einfach dabei zu belassen. Ihm hatte er es zu verdanken, dass er heute nicht zu einem Haufen Asche verarbeitet worden war und nun überhaupt hier, auf dem königlichen Ball, anwesend sein konnte. Da war es nur normal, ein wenig nervös zu sein, oder...?
 

„Warum gehen wir nicht erst einmal zum Buffet rüber? Da können wir uns weitaus besser unterhalten als hier!“, schlug Marilyn vor und wirkte dabei fast wie ein Geburtstagskind, das es nicht erwarten konnte, die Kerzen auszupusten und all die Dinge zu tun, die auf dem Programm standen. Nichtsdestotrotz klang sein Vorschlag nach einer guten Idee, denn das bedeutete auch, dass sie sich hinsetzen würden – und er hatte langsam aber sicher wirklich lange genug herumgestanden.
 

„Hört sich super an!“, antwortete er zufrieden und wandte sich in Richtung der aneinandergereihten Tische, vor denen auch einige Stühle sorgfältig nebeneinander platziert waren. Dann wandte er sich noch einmal Marilyn zu, der ihm bestätigend zunickte, ehe sie sich dem festlichen Bankett widmeten und auf zwei Stühlen, nicht weit von der Geigenmusik, Platz nahmen. Erst jetzt bemerkte Alice, dass es Fish war, der dort vorne, wie vor seinem kleinen Blumen-Publikum, auf der freien Fläche stand und mit geschlossenen Augen,völlig vertieft in seine eigene Melodie, das Instrument spielte. Einerseits hatte er von dem Narren nicht unbedingt erwartet, eine solch melancholische Seite an sich zu haben, aber andererseits überraschte es ihn aus irgendeinem Grund auch nicht sonderlich.
 

„Schön, nicht? Die Melodie, meine ich“, kommentierte Marilyn mit verträumtem Blick und winkte eine der Maids, die sich gerade zufällig in ihrer Nähe aufhielt, zu sich herüber. „Der Märzhase hätte eigentlich bei ihm stehen und ihn mit seiner Querflöte begleiten sollen, aber noch ist er nicht erschienen. Wahrscheinlich wurde er auf dem Weg hierher wieder einmal von einer bösen Eule oder einem tollwütigen Pinguin abgefangen... Kennen wir ja alles.“
 

„Ihr lasst Euch heute Abend von nichts mehr die Laune verderben, was?“, erwiderte Alice, gewissermaßen erleichtert darüber, die Königin einmal so ausgeglichen zu erleben. Marilyn lächelte bloß, bevor er die blonde Lady in dem hübschen Maidkleid freundlich in Empfang nahm, als sie mit ihrem Tablett und einem geübten Hüftschwung auf sie beide zustöckelte.
 

„Was darf es sein?“, fragte sie höflich und blickte zwei Mal strahlend zwischen ihnen hin und her.
 

„Punsch“, gab Marilyn zurück, mit einer ebenfalls fragenden Geste in seine Richtung, die Alice spontan mit einem Nicken beantwortete. „Zwei Gläser wären nett!“, beendete die Königin ihre Bestellung, was die Dame mit einer Verbeugung zur Kenntnis nahm, bevor Alice beobachten konnte, wie sie einige Meter weiter zum anderen Ende der Tischreihe lief, wo ein großes, offenbar mit Punsch gefülltes Gefäß stand, und zwei leere Gläser zückte.
 

„... Wenn die Getränke sowieso hier stehen, warum brauchen wir dann eine Kellnerin, die uns was bringt?“
 

„Gegenfrage“, sagte Marilyn amüsiert. „Warum sollen wir uns selbst etwas holen, wenn wir es uns auch von einer süßen Maid bringen lassen können?“
 

Alice lachte kaum merklich.
 

„Einleuchtend“, entgegnete er knapp, als die blonde Dame mit einem vollen Tablett zu ihnen zurückkehrte und die Gläser mit einer schwungvollen Bewegung vor ihnen abstellte. Wie sie es schaffte, dass trotzdem nichts überschwappte, war ihm ein Rätsel.
 

„Bittesehr!“, flötete sie sichtbar munter. „Darf es sonst noch etwas sein?“
 

„Nein, danke, im Moment nicht“, antwortete Marilyn für sich, wogegen auch er nichts einzuwenden hatte, und warf ihr einen semi-subtilen Blick hinterher, als sie hüftschwingend und mit klackernden Absätzen wieder davonzog. Alice schaute zur Seite, bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, dass der heutige Tag ihn wohl doch mehr mitgenommen hatte, als er es zugeben wollte. Er sah die Raupe nicht weit von seinem Platz über den Boden kriechen, leise vor sich hinjammernd, weil sie ihre Pfeife scheinbar nirgends finden konnte, und ein paar Schritte weiter Black Beauty, die wie ein Hund neben dem Schwarzen Ritter saß, brav darauf wartend, dass dieser ihr irgendwann den Befehl zum Aufstehen erteilte. Es war nichts Besonderes – schließlich hatte er während seiner Zeit am Hof schon weitaus wunderlichere Dinge zu Gesicht bekommen. Und doch wirkte all das auf ihn im Augenblick so surreal, dass es ihm beinahe so vorkam, als sei es bloß irgendeine Art von Einbildung. Er hätte nicht einmal wirklich erklären können, weshalb. Es war schlichtweg... zu viel, um der Realität zu entsprechen.
 

„Geht es dir gut?“, hörte er Marilyn plötzlich fragen, der sich scheinbar ein wenig besorgt zu ihm vorgelehnt hatte. „Du wirkst irgendwie... abwesend.“
 

„Nein, nein. Ist schon okay“, erwiderte Alice und zwang sich zu einem möglichst überzeugenden Lächeln. „Ich glaube, ich muss nur erst mal ein bisschen runterkommen. Nach allem, was heute passiert ist, bin ich etwas durcheinander... Die ganzen Albträume, diese Sache mit den Frauen... und dann die vielen neuen Informationen über Euch und Euer Land... Das ist nicht ganz so leicht zu verarbeiten, wisst Ihr?“
 

„Oh... das- Aber natürlich verstehe ich das“, sagte Marilyn in einem ungewohnt mitfühlenden Tonfall. „Ich bin mir ja selbst nicht sicher, was ich über all das denken soll. Die Frauen sind zwar wieder da, aber ob sie je wieder genauso sein werden wie früher, steht in den Sternen. Schließlich ist ihnen eine nicht unwesentliche Zeitspanne ihrer bisherigen Existenz entrissen worden, als sie gefangen gehalten wurden... Wahrscheinlich haben sie selbst noch nicht vollständig erfasst, was eigentlich mit ihnen und dem restlichen Volk geschehen ist.“ Er machte eine kurze Pause, während der er bloß apathisch zu Boden starrte, bevor er mit einem anderen Thema fortfuhr. „Sag mal, diese Albträume... Verstehe ich das richtig, dass jeder von euch durch den Fluch des Phantoms mit seiner eigenen größten Angst konfrontiert wurde und du dir die Halluzinationen der anderen als Einziger der Reihe nach ansehen konntest?“
 

„Ich habe mir das nicht ausgesucht, falls Ihr das denkt!“, stellte er rasch klar, damit die Königin ihn nicht für einen Spanner hielt, der sich gern in den Privatangelegenheiten seiner Mitmenschen herumtreibt. „Eigentlich wollte ich diese ganzen Albträume gar nicht kennen, aber ich hatte keine Wahl... Ja, es stimmt, dass ich sie mir angesehen habe. Und vergessen können werde ich sie so schnell wohl nicht.“
 

„Das kann ich mir vorstellen“, entgegnete Marilyn mit einer merkwürdigen Mischung aus Faszination und Mitleid, dann musterte er ihn scheinbar interessiert. „Was ich mich gerade frage, ist... Ich will nicht unverschämt sein, aber es gab doch sicher auch eine solche Illusion, die nur du wahrnehmen konntest, richtig? Dein eigener... persönlicher Albtraum?“
 

Und genau das hatte er vermeiden wollen.
 

„Ähm... ja, den gab es auch, richtig“, antwortete er zögerlich, in der Hoffnung, Marilyn würde nicht weiter nachhaken – was höchst unwahrscheinlich war, das wusste er selbst. Aber solange er nicht explizit danach gefragt wurde, brauchte er auch nicht weiter darauf einzugehen, nicht wahr?
 

„Und?“, sagte Marilyn. „Was war dein persönlicher Albtraum?“
 

Wie er diese Königin und ihre scheußliche Neugierde doch verfluchte.
 

„Nun, wenn Ihr es unbedingt wissen wollt... Es waren mehrere Dinge, die da zusammenkamen. Eine einstürzende Treppe, die sich in einen furchteinflößenden dunklen Abgrund verwandelt; eine alternative Version der Teegesellschaft, die sich noch eigenwilliger verhält als es die drei Originale schon tun – sowas eben.“
 

Das war nicht einmal gelogen. Dass er den Teil, der ihre Hoheit selbst betraf, verschwiegen hatte, konnte niemand nachweisen – immerhin hatte es außer ihm niemand gesehen. Marilyn sah ihn schief an und setzte eine skeptische Miene auf.
 

„Du hast Angst vor der Teegesellschaft?“, fragte er unterschwellig erheitert, jedoch nicht unterschwellig genug, als dass Alice es hätte überhören können. „Gut, ich gebe zu, man muss sich erst einmal an sie gewöhnen. Aber wenn man den ersten Schock überwunden hat, merkt man schnell, dass sie eigentlich harmlos sind.“
 

„Ja... Wahrscheinlich habt Ihr Recht“, gab er zurück, nicht sicher, ob Marilyns Reaktion ihn peinlich berührt oder eher erleichtert sein lassen sollte. „Aber wie dem auch sei... Wir brauchen uns keine Sorgen mehr zu machen, denn jetzt ist ja alles wieder fast beim Alten, oder?“
 

„In der Tat. Es ist alles fast beim Alten“, sagte Marilyn, ein kaum sichtbares Lächeln auf den Lippen, und blickte mit einem nachdenklichen Ausdruck in den Augen nach vorn. Im selben Moment glaubte Alice, eine panisch keuchende Figur auf allen Vieren vorbeihechten zu sehen – es sah aus wie die Grinsekatze –, gefolgt von einem bemerkenswert aggressiv dreinschauenden Piepwuff, der ein großes Stück Käse zwischen den Zähnen mit sich herumschleppte, und einem anschließenden lauten Scheppern, als die beiden wieder aus seinem Sichtfeld verschwunden waren. Das Lächeln der Königin wurde augenblicklich um einiges deutlicher, bis sie sich ihm schließlich lachend und mit erhobenem Glas zuwandte. „Darauf stoßen wir an!“
 

Alice erwiderte ihre Geste guten Gewissens, die düsteren Gedanken, die ihn vor wenigen Minuten noch geplagt hatten, einfach beiseiteschiebend. Sicherlich hatte er – nein, nicht nur er sondern sie alle – einen turbulenten Tag hinter sich. Aber jetzt waren sie hier, auf dem königlichen Fest, das zu Ehren ihres gemeinsamen Triumphes stattfand, und hatten alle Zeit der Welt, sich von diesen Turbulenzen zu erholen.
 

„Auf das Wunderland!“, sagte er in einem solch feierlichen Tonfall, dass es ihn selbst kurz überraschte, und blendete für den Moment sämtliche negativen Dinge, die ihnen heute widerfahren waren, aus. In dieser Sekunde zählte einzig und allein, was sie gewonnen hatten, und nichts anderes.
 

„Auf das Wunderland“, wiederholte Marilyn und setzte in all seiner hoheitlichen Eleganz zum Trinken an, als sich mit einem Mal völlig überstürzt und atemlos eine wohlbekannte Gestalt aus der Menge zu ihnen hervordrängelte, das Instrument in ihrer Hand wie einen Speer umschlossen und die Königin aus riesigen, geweiteten Augen fixierend.
 

„Eure Majestät...! Da... Da bin ich!!“
 

„Das sehe ich“, antwortete Marilyn, während er den erschöpft vor sich hin hechelnden Märzhasen, der den Klebebandstreifen in seinem Gesicht offenbar wieder losgeworden war, eingehend betrachtete. „Du hast dir ganz schön Zeit gelassen. Was hat dich aufgehalten?“
 

„Meine Flöte, Majestät!“, schrie der Hase aufgebracht, wobei seine Augen, zu Alice' Erstaunen, noch größer wurden. „Meine... Meine liebe und gute Flöte!!“
 

„... Deine Flöte hat dich aufgehalten?“, erwiderte Marilyn nach einer Weile des Schweigens, und Alice konnte nicht anders, als sich vorzustellen, wie besagte Flöte ein Eigenleben entwickelt, nur um dem Märzhasen, fies wie sie war, den Weg zu versperren. Er verkniff sich ein Lachen, während er einen Schluck von dem noch warmen Punsch probierte.
 

„Oh nein, Majestät, ganz im Gegenteil! Ich weiß, dass sie das, nun, ganz gewiss niemals tun würde!“, verteidigte Märzi sein Instrument, als handelte es sich dabei nicht um ein solches sondern vielmehr um seine Tochter oder etwas Ähnliches, und beäugte es dann, als würde er auch genau das darin sehen. Alice zog es ausnahmsweise vor, nicht intensiver darüber nachzudenken, und hielt stattdessen Ausschau nach der Speise, die, zwischen all den anderen auf dem Tisch zur Schau gestellten Desserts, diesen besonders einprägsamen Duft verströmte, den er schon die ganze Zeit über einatmete. Nach Kurzem war er sich recht sicher, es herausgefunden zu haben. Der Kuchen. „Jemand hat sie versteckt!!“, hörte er den Märzhasen plötzlich entrüstet ausrufen. „Irgendein... herzloser Bösewicht hat sie einfach eiskalt vor mir versteckt...! Könnt Ihr das glauben, Majestät?!“
 

„Das glaube ich gern, ja“, sagte Marilyn, genehmigte sich nun auch einen Schluck seines Getränks und warf ebenfalls einen prüfenden Blick auf die Süßspeisen. „Hast du schon deine Mitbewohner in Betracht gezogen? Es würde mich nicht wundern, wenn sie zumindest einen Versuch gewagt hätten, dich kurzzeitig von deiner... Flöte zu trennen. Du darfst übrigens gern zugreifen, Alice! Den Kuchen kann ich nur wärmstens empfehlen!“
 

„Vielen Dank, Eure Hoheit! Ich hole mir nur schnell einen Teller“, entgegnete er, ehe er aufstand, sich an dem Märzhasen, der anscheinend nicht auf die Idee kam, ihm ein wenig Platz zu machen, vorbeiquetschte – Alice hörte ihn im Vorbeigehen noch so etwas antworten wie „Ich habe ja stark das Känguru im Verdacht...!“ – und sich vom hinteren Ende der Tischreihe einen kleinen goldenen Teller sowie eine Kuchengabel desselben Materials nahm. Als er mit dem Besteck an seinen Platz zurückkehrte, war der Märzhase bereits dabei, sich zu der freien Fläche zu begeben, dorthin, wo auch Fish kontinuierlich in seinem Geigenspiel versunken war.
 

„Falls er vorhat, so unkontrolliert in das Teil zu pusten wie beim letzten Mal, das ich bei ihm zu Besuch war, wird das ein experimentelles Hörvergnügen“, gab Alice zu bedenken, während er sich, wieder auf dem Stuhl neben der Königin sitzend, ein Stück des fantastisch duftenden Kuchens zu Gemüte führte. „Ich hoffe, er wird sich ein bisschen- Mhmm... Das ist... verflucht gut!“
 

„Wonach schmeckt der Kuchen?“, fragte Marilyn seltsam erwartungsvoll. Alice schielte irritiert zu ihm herüber.
 

„Hauptsächlich nach Schokolade und Nuss... und hintergründig noch nach etwas anderem, das ich nicht so genau definieren kann“, versuchte er, das einzigartige Geschmackserlebnis zu beschreiben, nachdem er das bereits zweite Stück heruntergeschluckt hatte. „Aber wie könnt Ihr mir überhaupt einen Kuchen empfehlen, von dem Ihr nicht selbst vorher gekostet habt...?“
 

„Oh, das ist ganz einfach“, grinste Marilyn und nippte an seinem Getränk. „Ich brauche gar nicht erst davon zu kosten. Ich habe prinzipiell großes Vertrauen in alles, was unser feiner Hutmacher aufs Blech zaubert.“
 

„Der Hutmacher hat das gebacken? Das sagt Ihr mir erst jetzt?“, erwiderte Alice etwas empörter als er es beabsichtigt hatte, womit er sein Gegenüber jedoch bloß erst recht zum Lachen brachte.
 

„Ich verstehe deine Aufregung nicht... Der Hutmacher ist der beste Bäcker, den das Wunderland zu bieten hat!“, sagte Marilyn wie selbstverständlich, und Alice beherrschte sich, den Kommentar, der ihm sofort auf den Lippen lag, für sich zu behalten. Bei dieser Königin war er sich ohnehin nie sicher, wann sie etwas ironisch meinte und wann nicht. Eigentlich hatte beinahe alles, was sie sagte, einen dezent ironischen Unterton. „Ach! Hör mal!“, rief sie urplötzlich mit solch ehrlicher Begeisterung, als wolle sie seine Gedankengänge von eben Lügen strafen. „Die beiden Hofnarren haben endlich gemeinsam zu musizieren begonnen! Entschuldige mich kurz! Das ist mein Stichwort.“
 

Leicht skeptisch beobachtete er ihre Majestät dabei, wie sie sich offensichtlich gut gelaunt von ihrem Platz erhob und die Menschenmengen, die in rege Unterhaltungen vertieft überall im Saal verstreut waren, mit feierlicher Stimme zum Tanzen aufforderte. Nicht sicher, ob die daraufhin entstandene allgemeine Euphorie, die auf einen Schlag um ihn herum herrschte, das Szenario weniger oder noch mehr wie einen Traum erscheinen ließ, schnitt Alice sich ein weiteres Stück des hervorragenden Kuchens ab. Auf irgendeine spezielle Weise hatte dessen Geschmack eine beruhigende Wirkung auf ihn – allerdings konnte es auch gut sein, dass dieses Gefühl auf die Inhaltstoffe des Gebäcks zurückzuführen war, jetzt wo er dessen Herkunft kannte. Marilyn setzte sich mit einem zufriedenen Lächeln wieder, als die Empfangshalle sich tatsächlich nach und nach in einen Ballsaal verwandelte.
 

„Toll, nicht wahr? Zu sehen, wie sie nach so langer Zeit wieder zueinandergefunden haben... Das macht mich ehrlich glücklich.“
 

„Ihr meint die Männer und Frauen, die sich jetzt endlich wiedersehen? Ja, das ist wirklich schön. Fast wie eine Art Happy End“, stimmte Alice zu, mit einer beinahe ungewohnten Ausgeglichenheit dabei zusehend, wie jeder der wunderländischen Freaks sich einen Partner suchte und sich mit diesem zusammen im Rhythmus der Musik bewegte. Das Weiße Kaninchen tanzte mit seiner geliebten Angie, der Hutmacher mit der Frau, die Alice als Sunny identifizierte. Ziggy reichte einer Dame, die eine gewisse optische Ähnlichkeit zu ihm aufwies, die Hand und entführte sie in einen etwas weniger belebten Winkel des Saales. Sogar Wachmann Nummer Eins wirkte beim innigen Tanz mit der Frau, die er Lalena genannt hatte, als sei seine stets eingefrorene Miene durch das flammende Feuer der Liebe aufgetaut – auch wenn das eine etwas übertriebene Formulierung sein mochte.
 

„Ja, das ist es“, sagte Marilyn ruhig, ehe er sich ihm abrupt gespannten Blickes zuwandte. „Und? Verrätst du mir jetzt, wie dein persönlicher Albtraum aussah?“
 

„... Das habe ich Euch doch schon verraten“, seufzte Alice, bevor er sich den letzten Bissen des außergewöhnlichen Hutmacher-Gebäcks einverleibte. Marilyn verzog schmollend das Gesicht.
 

„Aber das war doch längst nicht alles, stimmt's?“, bohrte er aufdringlich weiter und machte dann eine Geste in Richtung der Süßspeisen. „Hey, nimm doch noch ein Stück Kuchen! Es ist genug da.“
 

„Ach, so ist das also! Ihr wollt mich abfüllen, damit ich lockerer werde, was? Ganz schön durchtrieben, Eure Majestät.“
 

„Das ist alkoholfreier Punsch. Ich will nicht riskieren, Personen wie unsere beiden Ritter auch noch im beschwipsten Zustand zu erleben. Nicht auszudenken, wenn sie lallend aufeinander losgehen würden“, scherzte Marilyn, während er Fish und den Märzhasen eine Weile lang aus halb geschlossenen Augen betrachtete, scheinbar ein wenig nachdenklich auf deren Musik konzentriert. Alice richtete den Blick auf das halb-leere Glas, das vor ihm stand.
 

„Ich habe dabei auch eigentlich nicht an den Punsch gedacht.“
 

Ein paar Minuten vergingen, in denen keiner von ihnen etwas sagte. Beide starrten sie schweigend vor sich hin, nichts als die simple Melodie wahrnehmend, die fortwährend den großen Saal erfüllte, bis Marilyn die angespannte Stille schließlich durchbrach, indem er abermals von seinem Platz aufstand.
 

„Ich habe eine Idee“, erklärte er kurz angebunden, ehe er seinen Stuhl an den Tisch rückte und bedächtigen Schrittes an ihm vorbeiging. „Warte hier auf mich!“
 

Ohne sich die Mühe zu machen, etwas darauf zu erwidern – Marilyn war ohnehin viel zu schnell verschwunden, als dass er es noch hätte hören können –, schaute Alice ihm hinterher, als er auf die beiden Narren zutrat, die er bis eben noch so fasziniert betrachtet hatte, und einen Zettel hervorzog, den er Fish vors Gesicht hielt, nachdem dieser sein Geigenspiel für den Moment unterbrochen hatte. Der Märzhase hingegen ließ sich nicht im Geringsten davon stören und flötete unbeirrt weiter, so als habe er nicht einmal bemerkt, dass sein Partner sich gerade mit der Königin unterhielt. Von Weitem wirkte ihr Anblick in dem roten Ballkleid beinahe unwirklich schön, selbst in dem Wissen, wer sie war und was sie getan hatte. Im Augenblick war sie schlicht und ergreifend die Herzkönigin, die Herrscherin des Wunderlandes, die alles dafür tat, die alte Harmonie wiederherzustellen und für das Wohl ihres Volkes zu sorgen. Wobei... Hatte es hier überhaupt jemals so etwas wie wahre Harmonie gegeben?
 

Unwillkürlich schweifte sein Blick zu Floyd, der nahe des Banketts inmitten der Menge stand, von der er sich gewissermaßen abhob, da er der Einzige war, der sich nicht bewegte. Erst bei genauerem Hinsehen registrierte Alice, dass er Gina ansah, die ihm gegenüberstand und anscheinend mit ihm redete. Nur bruchstückhaft konnte er verstehen, was sie sagte, aber ihre Mimik und Gestik sprachen für sich.
 

„Ich tanze nicht“, hörte er Floyd daraufhin entschieden klarstellen, was sie mit einer bloßen Handbewegung abtat. Inzwischen war die Musik vollständig verstummt. Sowohl der Märzhase als auch Fish starrten wie gebannt auf das Blatt Papier, das die Königin ihnen gegeben hatte.
 

„Du bist viel zu ernst“, konnte er nun auch Ginas Worte erfassen. „Als starker, verantwortungsbewusster General hast du doch sicher genug Gelegenheit, einen auf streng zu machen. Zieh doch mal deine... hübsche Uniform aus und hab ein bisschen Spaß!“
 

„Ich habe gesagt, ich tanze nicht!“, wiederholte Floyd in einem schärferen, unmissverständlichen Tonfall. Gina, die sich ihm zuvor auf eine ebenso unmissverständliche Weise genähert hatte, wich einen Schritt zurück. „Die einzige Person, mit der ich das jemals tun würde...“, fügte er so leise hinzu, dass Alice es lediglich erahnen konnte, „... steht mir nicht... zur Verfügung.“
 

Einen letzten ungnädigen Blick auf ihn werfend, blieb Gina einige Sekunden lang wie erstarrt dort stehen, dann drehte sie sich erhobenen Hauptes um und ließ Floyd alleine zurück, der jedoch keine Miene verzog. Auch nicht, als die Musik erneut anfing, die Halle zu erfüllen, und damit all die umstehenden Paare ein weiteres Mal begeistert zum Tanzen brachte. Alice kannte dieses Stück. Er wusste nicht genau, woher, doch als die ersten Takte der Geige erklangen und der Märzhase kurz darauf mit seiner Flöte einsetzte, wurde er das Gefühl, dieses Lied irgendwann bereits deutlich mehr als nur einmal gehört zu haben, immer weniger los.
 

Eigenartig, dachte er, wie leicht ein paar Töne doch die gesamte Umgebung auf eine Art vertrauter erscheinen lassen konnten.
 

„Das wäre erledigt!“, vernahm er unerwartet eine heitere Stimme neben sich. Offenbar war er so in Gedanken versunken gewesen, dass er kurzzeitig überhaupt nichts mehr mitbekommen hatte.
 

„Marily-“, entfuhr es ihm wie automatisch, als er die Königin bemerkte, die bereits zu ihm zurückgekommen war, unterbrach sich selbst jedoch rasch. „Entschuldigt. Ich muss mir das wirklich abgewöhnen...“
 

„Wie meinst du das?“, fragte Marilyn zu seiner Verwunderung. Alice erinnerte sich an den letzten Tagebuch-Eintrag, den er gelesen und der bestimmte Informationen über Marilyns Krise nach Alicias Tod beinhaltet hatte.
 

„Na... Euer Name“, gab er unsicher zurück. „Ihr wollt doch von Eurem Volk schon seit Langem nicht mehr so genannt werden...?“
 

Marilyn lächelte, als habe er mit dieser Antwort gerechnet.
 

„Das stimmt“, sagte er und reichte ihm, wie um ihm beim Aufstehen zu helfen, eine Hand. „Du bist aber nicht 'mein Volk'.“ Fragend sah Alice zu ihm auf, weil er nicht den Hauch einer Ahnung hatte, wie er diese Geste interpretieren sollte. „Komm schon!“, forderte Marilyn ihn auf; es klang fast etwas enttäuscht. „Willst du etwa nicht?“
 

„Was soll ich nicht wollen?“
 

„Überlege doch mal“, entgegnete Marilyn rätselhaft und mit noch immer ausgestrecktem Arm. „Was tun denn all die anderen gerade so hingebungsvoll um uns herum?“
 

„... Ihr wollt, dass ich mit Euch tanze?“
 

„Richtig geraten!“, rief ihre Hoheit nun mit sichtlich ungehaltener Vorfreude – als sei sie absolut fest davon überzeugt, dass er ohnehin nicht würde ablehnen können. „Komm, das wird ein Spaß! Nur ein kleines, selbstverständlich rein platonisches Tänzchen!“
 

„'Rein platonisch', sicher“, lachte Alice, gedanklich bereits abwägend, ob es überhaupt irgendeine Chance für ihn gab, sich aus dieser Situation zu befreien, ohne die Königin ernsthaft zu kränken – allerdings war das Ergebnis seiner Überlegungen, dass es eigentlich keinen wirklichen Grund gab, ihr diesen Wunsch abzuschlagen. „Von mir aus“, sagte er schließlich, nahm ihre Hand und bemühte sich, den penetranten Blick zu ignorieren, mit dem sie ihn nun musterte und der ganz klar nicht mehr und nicht weniger bedeutete als „Ich wusste, du kannst mir nicht widerstehen“. Jedoch gestaltete sich das Igonieren als relativ anstrengend, wenn man bedachte, dass sie sich jetzt unmittelbar gegenüberstanden.
 

„Ich wusste, du kannst mir nicht widerstehen“, grinste Marilyn wenige Sekunden später, ehe er ihn mit spürbarem Elan zu einer einigermaßen freien Fläche abseits der Tische zerrte.
 

„Großartig“, murrte Alice, der sich schon jetzt fragte, ob es wirklich so klug gewesen war, in dieses Vorhaben einzuwilligen. „Wir haben aber noch nicht vereinbart, wer führen soll.“
 

„Oh“, machte Marilyn überrascht. „Ich nahm an, es stünde außer Zweifel, dass ich das übernehme.“
 

„Natürlich. Warum frage ich überhaupt... Ihr seid ja auch nicht derjenige von uns beiden, der ein Kleid trägt.“
 

„Wenn das alles ist, was du einzuwenden hast... Es gibt genug Gründe, die eindeutig dafür sprechen, dass du mich das machen lässt“, erwiderte die Königin gewohnt überheblich. „Erstens: Ich bin größer als du. Zweitens: Mit großer Wahrscheinlichkeit habe ich mehr Erfahrung darin als du. Drittens: Weißt du überhaupt, wie man führt?“
 

„Okay, okay. Zugegeben, das sind schlagende Argumente.“
 

„Ich weiß. Wenn du dich also bitte in Position bringen würdest!“
 

Den Gedanken, der sich ihm unweigerlich aufdrängte – die Frage, ob diese fulminante Zweideutigkeit bloße Einbildung oder Marilyns Absicht war –, in den Hintergrund schiebend, versuchte er, einen ausreichend intensiven Blick auf eines der anderen Tanzpaare zu erhaschen, um sich einzuprägen, wie genau diese Position auszusehen hatte. Im nächsten Moment konnte er sich nicht entscheiden, ob ihn eher die Frage beschäftigen sollte, warum er nie einen Tanzkurs belegt hatte, oder die, ob es nicht doch besser gewesen wäre, ein weiteres Stück von dem Beruhigungskuchen zu sich zu nehmen, als er so platonisch wie möglich einen Arm um die Schultern der Königin legte, während Marilyn offenbar bereits sehr gut wusste, welchen Griff er anwenden musste, um ihn am Fliehen zu hindern. Womöglich konnte er ihm ansehen, dass er sich im Augenblick deutlich unbeholfener fühlte als er es beispielsweise auf der Flucht vor den Kriegshämmern getan hatte. Aber im Grunde spielte das keine Rolle. Immerhin war das in einer derart absurden Situation nur allzu verständlich.
 

„Ich hätte nicht gedacht, dass du dich so ungeschickt anstellen würdest“, spottete Marilyn mit gedämpfter Stimme, wohl um die besondere Atmosphäre nicht zu zerstören. „Achtest du eigentlich auch zwischendurch mal auf den Takt?“
 

„Verzeiht“, antwortete Alice, bevor er absichtlich zwei dermaßen unrhythmische Schritte hinlegte, dass ein Fremder ihn vermutlich für vollkommen unmusikalisch gehalten hätte. „Es kann ja nicht jeder ein so überragend erfahrener Tänzer sein wie Ihr.“
 

Marilyn seufzte dramatisch.
 

„Mein Fehler. Ich hätte nicht von dir erwarten sollen, dieselben tänzerischen Fähigkeiten zu besitzen wie Alicia.“
 

Ein nicht von der Hand zu weisendes Unbehagen überkam ihn, als Marilyn diesen Namen aussprach. Anfangs war es eine so subtile Empfindung gewesen, dass er sich nicht viel dabei gedacht hatte. Doch mittlerweile merkte er jedes Mal, wenn dieser verdammte Name fiel, dass er sich irgendwo in den Tiefen seines Unterbewusstseins wünschte, es hätte die hochgeschätzte dunkle Königin niemals gegeben. Vielleicht war es schwachsinnig, das zu denken – immerhin war es ja wohl allein durch ihre damalige Existenz möglich, dass er selbst nun hier war. Trotzdem konnte er nicht leugnen, dass irgendetwas ihn gewaltig daran störte, wenn jemand – insbesondere Marilyn – diesen Namen bei jeder unpassenden Gelegenheit erwähnte.
 

„Alles in Ordnung?“, hörte er seinen Tanzpartner irgendwann leise fragen. „Habe ich etwas Falsches gesagt?“
 

Erst jetzt fiel ihm auf, dass er über einen vermutlich auffallend langen Zeitraum hinweg vollkommen die Musik und ihre derzeitige Beschäftigung vergessen hatte. Die Zutaten des eigenartigen Zauberkuchens hatten ihm wohl doch mehr zugesetzt als er gedacht hatte.
 

„Nein, schon okay“, sagte Alice, konzentrierte sich darauf, zu lächeln, und setzte seinen Tanz – wenn man diesen überhaupt als solchen bezeichnen konnte – fort, als sei nichts gewesen. „Ich weiß, wie Ihr die ganze Sache betrachtet. Ich, als der Auserwählte, bin schon ziemlich toll und habe außerdem einiges auf mich genommen, um Euch und Euer Land vor dem Bösen zu beschützen. Aber gegen Alicia bin ich natürlich nichts. Damit habe ich auch gar kein Problem, ehrlich! Mir tut es nur wahnsinnig leid für Euch, dass ich Eurer Alicia nicht das Wasser reichen kann. Schade, dass sie nicht höchstpersönlich zu Euch zurückgekehrt ist, was?“
 

Jetzt war Marilyn derjenige, der bestürzt innehielt und ihn ansah, als habe ihn plötzlich eine schwerwiegende Erkenntnis getroffen. Und leider war er nicht der Einzige, der das tat. Alice zählte mindestens fünf weitere Personen, die ihren völlig unnötigen, kleinen Konflikt offenbar mitbekommen hatten und nun mit unübersehbarer Neugierde zu ihnen herüberschauten.
 

„Oh je... Ich glaube, ich muss mich bei dir entschuldigen“, sagte Marilyn, nachdem er ihn losgelassen und sie beide ihre Tätigkeit vorerst unterbrochen hatten. Die Paare ringsherum waren entweder zu sehr auf sich selbst fixiert, um darauf zu achten, was in einem Umkreis von mehr als einem halben Meter von ihnen geschah, oder sie taten so, als würde es sie nicht interessieren, obwohl ganz eindeutig zu sehen war, dass sie immer wieder einen flüchtigen Blick auf ihn und die Königin warfen. Marilyn schien noch nach den richtigen Worten zu suchen, jedenfalls verging eine Weile, bis er endlich, wenn auch zögerlich, weitersprach. „Alicia... war früher mein Ein und Alles“, brachte er schwermütig hervor. „Natürlich denke ich noch oft an sie. Niemals hätte sie unsere Welt bereits so früh verlassen dürfen. Es ist einfach alles ganz anders gekommen als ich es damals erwartet hätte...“ Er schwieg einen Moment. Tatsächlich wirkte er mit einem Mal sichtlich bedrückt. „Trotzdem“, sagte er irgendwann ernst, „nehme ich den Lauf der Dinge so an, wie das Schicksal es will. Und nicht nur ich – auch all die anderen. Alicia ist nicht mehr da, aber dafür bist du jetzt hier. Ich wollte dich nicht mit ihr vergleichen... Da habe ich mich wohl einfach unglücklich ausgedrückt. Auch wenn du ihre Wiedergeburt bist und auf den ersten Blick noch so viel mit ihr gemeinsam hast, seid ihr völlig verschieden. Und das ist auch gut so! Du hast wirklich viel für uns getan, und das in so kurzer Zeit. Es stimmt nicht, dass ich Alicia dir gegenüber bevorzuge, das musst du mir glauben...!“
 

„Wie soll ich Euch das glauben? Mit Alicia habt Ihr alles geteilt und jede freie Minute verbracht. Mich kennt Ihr erst seit gestern...! Ich glaube kaum, dass- Ich meine...“ Alice stockte, als er realisierte, dass das Ganze mehr und mehr die Gestalt einer schlechten Eifersuchtsszene annahm. Marilyn sah ihn in merklich gespannter Erwartung an. „Was ich damit nur sagen will, ist... Ihr wart der Herzkönig, und sie war die Pikkönigin, die mit Euch gemeinsam über das Wunderland regiert hat. Mir ist klar, dass Ihr unvergessliche Erinnerungen mit ihr verbindet, und ich verlange auch nicht, dass Ihr diese Erinnerungen aufgebt. Das wäre anmaßend, und außerdem... sind sie ebenso ein Teil von mir wie sie es von Euch sind. Es wäre nur schön, wenn Ihr nicht ganz so oft... oder zumindest... nun ja-“
 

„Weißt du was, Alice? Ich habe eine unheimlich gute Idee!“, rief Marilyn, bevor er das sinnlose Gewirr, das eigentlich ein Satz hätte werden sollen, beenden konnte. „Wenn du willst, werde ich dafür sorgen, dass du ab sofort Alicias direkte Nachfolge antrittst. Als Beweis, sozusagen, dass ich in deine Fähigkeiten vertraue und dich genauso schätze wie sie. Ich mache dich einfach zu meinem König – dann wird dich hier garantiert jeder gebührend respektieren und du wirst hohes Ansehen genießen. Wir werden über das Land herrschen und uns um unser Volk kümmern und – ooh! Selbstverständlich werden wir das alles mit einer Hochzeit besiegeln!“
 

Ein bizarres Schweigen breitete sich für einen kurzen, aber nachhaltigen Moment zwischen ihnen aus.
 

„... Ihr hattet heute schon einige Ideen, aber diese ist in der Tat die Unheimlichste“, bemerkte Alice, als er seine Stimme wiedergefunden hatte, die ihm nach Marilyns Rede kurzzeitig abhanden gekommen war. Marilyn schien seine Aussage als verschleierte Zustimmung zu deuten; jedenfalls ließ sein vergnügtes Gekicher darauf schließen, dass er sein skurriles vorhaben geistig bereits plante.
 

„Ja... Ja, das ist perfekt!“, hörte er ihn auf eine äußerst beunruhigende Weise vor sich hinmurmeln. „Das muss ich sofort unserem Volk verkünden! Sie sollten von unserem wunderbaren Entschluss erfahren!“
 

Unserem Entschl- Große Güte, wartet doch mal!“
 

„Hört bitte alle her!“, rief Marilyn bereits an die gesamte in der Empfangshalle anwesende Menge gerichtet. „Ich habe euch etwas Wichtiges mitzuteilen!“
 

Bevor er es hätte verhindern können, wandten sich die anderen nach und nach mit sichtbarem Interesse ihrer Königin zu und schienen aufmerksam darauf zu warten, was sie zu sagen hatte. Alice dachte darüber nach, lauthals etwas zu singen, das ihre großartige Nachricht übertönen würde. Allerdings kam ihm dieser Einfall ein klein wenig zu spät.
 

„Wie ihr nun alle wisst...“, begann Marilyn in einem feierlichen Tonfall, „... gab es Zeiten, in denen ich nicht der alleinige Herrscher dieser Welt war sondern nur ein halber Teil des Ganzen. Die andere Hälfte war meine liebe Gemahlin, die für den Bereich hinter dem Spiegel zuständig war. Ich denke, ich spreche auch in eurem Namen, wenn ich sage, dass wir nun, nach all den Komplikationen und Schwierigkeiten, dazu bereit sind, dem Wunderland zu neuem Glanz zu verhelfen, indem wir die alten Zeiten wieder aufleben lassen. Und wie ihr euch jetzt vielleicht denken könnt, kann ich das einzig und allein bewerkstelligen, indem ich eine erneute Bindung zu jemandem eingehe, der dieser Verantwortung ebenso gewachsen ist.“
 

Das ist nicht Euer Ernst, dachte Alice, als Marilyn ihn mit einem kleinen Schubs nach vorne in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit beförderte. Sagt mir, dass das nicht Euer Ernst ist...!
 

„Hier steht euer neuer König!“, verkündete die große Herrscherin des Wunderlandes mit einer Stimme, die geradezu vor Stolz und Euphorie strotzte. „Alice wird von jetzt an mit mir gemeinsam für das Wohl unseres Landes sorgen und seinen rechtmäßigen Platz an meiner Seite einnehmen. Verneigt euch vor unserem Auserwählten!“
 

Das werden sie doch sowieso nicht tun, ging es ihm unweigerlich durch den Kopf, doch dieser Gedanke wurde nahezu im selben Atemzug widerlegt, in dem er ihn gefasst hatte. Nur einen Augenblick, nachdem Marilyn seine Gefolgschaft dazu aufgefordert hatte, kamen die ersten seiner Diener dem Befehl nach; und das Erstaunliche daran war, dass es nicht einmal so wirkte, als würden sie einen Befehl befolgen – vielmehr sah es danach aus, als würden sie tatsächlich aus freien Stücken und aus tiefster Überzeugung vor ihm niederknien. Einer nach dem anderen beugten sie sich vor ihm auf den Boden, manche vielleicht ein wenig zögerlich und mit einem Anflug von Verwunderung in den Augen, aber bei keinem von ihnen wirkte es gezwungen; und schon bald sah er sich von einer scheinbar riesigen Masse auf den Fliesen kniender und voll Demut zu ihm aufschauender Diener umgeben.
 

Die Musik war verstummt, seit einer Weile schon. Seit wann genau, hätte er nicht sagen können.
 

Ausnahmslos knieten sie dort, in der großen Halle, und irgendwann, als er glaubte, dass es grotesker nicht mehr werden könne, hörte er einen von ihnen etwas in den Raum rufen. Einen Satz, den er sicher schon in unzähligen Geschichten gelesen oder gehört hatte, den er jedoch niemals auch nur ansatzweise gewagt hätte, mit sich selbst in Verbindung zu bringen, und nach nur wenigen Sekunden hatte dieser eine simple Satz sich in ein einstimmiges Jubeln der Begeisterung verwandelt, dem nicht einmal mehr eine bestimmte Richtung zuzuordnen war.
 

„Lang lebe der König!!“, gröhlten sie wie aus einem Munde. Immer wieder. „Lang lebe der König!!“
 

„Das... kann nicht sein“, war alles, was Alice in diesem Moment hervorbrachte. Zu mehr fühlte er sich nicht imstande und er meinte beinahe zu spüren, wie das Geschehen, der Saal, das Gejubel und all die vielen Menschen um ihn herum Stück für Stück mehr von ihrer Greifbarkeit verloren. Wie sich alles von ihm entfernte.
 

„Lang lebe das Königspaar!!“
 

Das konnte nicht sein. Das war zu absurd. Nie im Leben konnte das gerade wirklich passieren.
 

„Siehst du, Alice?“, vernahm er Marilyns Stimme, als die Königin neben ihn trat. „Sie verehren dich! Sie feiern deine Krönung und unseren Sieg, den wir nur durch dich letztendlich erlangen konnten!“
 

„Das glaube ich nicht...! Das ist... doch nur ein Traum, oder? Ja, bestimmt. Gleich wache ich auf...“
 

„Aber nein, Alice! Das ist kein Traum“, lachte Marilyn und machte dann ein leicht besorgtes Gesicht. „Wünschst du dir etwa, es wäre einer?“
 

„Ich... Nein, das heißt... Ich weiß es nicht“, antwortete er, während die Ausrufe der anderen, die von allen Seiten durch die Halle dröhnten, immer verschwommener zu werden schienen. Nur vage bemerkte er, wie Marilyn sich fast schon schüchtern, könnte man meinen, zu ihm vorlehnte und mit einem unsicheren Lächeln wieder das Wort an ihn richtete.
 

„Ich weiß, das kommt sehr plötzlich... und ich will dich wirklich zu nichts drängen“, sagte er, was an sich schon wie ein einziger Widerspruch klang. „Aber ich habe große Hoffnungen, dass wir in eine strahlende Zukunft blicken werden, wenn wir beide von jetzt an gemeinsam weitermachen. Deshalb frage ich dich... Willst du deine neue Rolle als König des Wunderlandes antreten und... nun... mich zu deinem Gemahl nehmen?“
 

„Ich... ähm...“ Warum mussten sie ihn alle so schrecklich erwartungsvoll ansehen? War nicht allein diese Frage schon überlastend genug? „Wisst Ihr... also... Ich glaube, mir ist... irgendwie komisch...“
 

„Das verstehe ich“, hörte er Marilyn mit sanfter Stimme erwidern, bevor das Bild kippte und er die Königin mit einem Mal aus einer anderen Perspektive betrachtete. Ein seltsamer Anblick, sie schlagartig so in Sorge zu sehen, und das noch dazu von so weit unten aus.
 

„Alice...?“, war das Letzte, das zu ihm durchdrang, als die Kulisse vor seinen Augen in einer beruhigenden Schwärze versank. „Bist du okay, Alice?“

Epilog - Brutal Planet

„Alice...?“
 

Sein Name. Jemand sagte seinen Namen.
 

„Bist du noch ansprechbar, Alice?“
 

Die Stimme war nicht unbekannt. Wem gehörte sie? Es musste eine Ewigkeit her sein, dass er sie das letzte Mal gehört hatte...
 

„Mann, der wird gar nicht wach. Glaubt ihr, ich könnte ihn doublen, falls er beim nächsten Konzert immer noch pennt?“
 

Moment... 'Konzert'? 'Falls er immer noch pennt'? Und diese Stimme... Irgendwie klang sie nach...
 

„... Ryan?“
 

„Wow, du bist aufgewacht! Dann wird das wohl doch nichts mit dem Doublen. Schade!“
 

„Du hast ganz schön tief geschlafen. Wir dachten schon, du kommst gar nicht mehr zu dir. Hast zwischendurch ganz schön gruselig ausgesehen...“
 

„Geschlafen? Aber...“
 

Dann war das alles also wirklich nur ein Traum gewesen? Das Wunderland, das Schloss, die Kehrseite... die Königin... All das hatte sich bloß in seinem Kopf abgespielt?
 

Alice sah in die irritierten Gesichter seiner Bandmitglieder, die ihn musterten, als sei er soeben aus einer fremden Dimension zu ihnen zurückgekehrt – was gewissermaßen ja sogar stimmte. Nur dass die Rückkehr für seinen Geschmack ein wenig zu ruckartig verlaufen war. Oder... war er vielleicht auch gerade im richtigen Moment wieder in seinem Tourbus gelandet?
 

Alles sah ganz genauso aus, wie er es aus der Zeit vor seiner Reise durch die verwunschene Welt der Freaks in Erinnerung hatte. Und doch – er hätte schwören können, dass er sich bis eben tatsächlich noch auf dem königlichen Ball befunden hatte, umgeben von der jubelnden Menge, während er Marilyn gegenüberstand, der ihm gerade so etwas wie einen...
 

„Großer Gott“, entfuhr es ihm, als er das unfassbare Szenario wieder klar und deutlich vor seinem inneren Auge sah. „Marilyn hat mir... einen Heiratsantrag gemacht...“
 

„Marilyn?“, hörte er Eric fragend wiederholen. „Monroe oder Manson?“
 

„Das wollt ihr überhaupt nicht wissen“, antwortete Alice und musste ein wenig lachen. Warum, wusste er selbst nicht so genau.
 

„Ich wäre ja für Manson“, sagte Ryan mit einem amüsierten Grinsen. „Ich meine... Das würde optisch voll cool aussehen. Wie ein... bildhübsches Traumpaar aus Transsylvanien.“
 

„Ich finde, es würde eher akustisch danach aussehen.“
 

„Ach, halt die Klappe, Eric. Dich hab ich nicht gefragt.“
 

„Wo ihr schon von Marilyn Manson redet...“, meldete sich jetzt auch Pete zu Wort, der sich bisher eher im Hintergrund gehalten hatte. „Mir fällt gerade etwas Komisches ein. Vorhin musste ich ganz plötzlich, total zusammenhangslos, an... Mick Jagger denken. Aber nicht so, dass er mir einfach aus irgendeinem Grund eingefallen wäre – eher so, als wäre er... wie soll ich sagen... als wäre er hier gewesen.“
 

Alice überkam ein merkwürdiges Gefühl, als er die beunruhigten Mienen seiner Kollegen erblickte. Irgendetwas stimmte hier nicht. Irgendetwas stimmte ganz gewaltig nicht.
 

„Mick Jagger?“, gab Eric mit einem schwer zu deutenden Unterton zurück. „Das ist... interessant. Ich musste vorhin auch an ihn denken. Haben wir vielleicht kurz über ihn gesprochen und es danach wieder vergessen?“
 

„Nein, haben wir nicht“, entgegnete Pete überzeugt. „Ich wüsste es, wenn wir über ihn gesprochen hätten.“
 

„Was ist mit dir, Ryan?“, wandte sich Eric an den Gitarristen, der ihn jedoch nur zögerlich und mit einem eigenartigen Blick anschaute. „Hattest du auch eine geistige Zusammenkunft mit Mick Jagger?“
 

Ryan wirkte mit einem Mal nur noch zum Teil amüsiert – zu einem wesentlich größeren Teil schien er nun nachdenklich und verwirrt.
 

„Naja, ich...“, murmelte er langsam. „Fragt mich nicht, warum, aber ich musste ihn mir in einem total albernen Hasenkostüm vorstellen.“
 

Okay. Das konnte nun definitiv kein Zufall mehr sein!
 

„Entschuldigt mich... Ich muss mal kurz etwas nachsehen.“
 

„Tu das, aber pass auf, dass kein verkleidetes Rolling Stones-Member auf dich lauert!“, rief Eric ihm hinterher, als Alice sich mit bedenklich wankenden Bewegungen von seinem Platz erhob und mit einer kuriosen Vorahnung den schmalen Gang des Busses entlanglief, bis er am hinteren Ende des Raumes angelangt war... an der Stelle, an der er erwartet hatte, die geheime Bodenklappe vorzufinden. Aber dort war keine Bodenklappe. Nichts. Keine Spur. Das Portal, das ihn wie durch Magie in die fantastischen Weiten des Wunderlandes geführt hatte und mit dem seine persönliche Geschichte als Auserwählter und heroischer Weltenretter begonnen hatte – es war einfach verschwunden.
 

„Seltsam“, sagte er flüsternd zu sich selbst, während er langsamen Schrittes zu den anderen zurückging und schließlich auf halbem Wege neben den Sitzplätzen stehenblieb. „Wirklich seltsam.“
 

„Und? Hast du was Spannendes gefunden?“
 

Pete schaute wie gebannt zwischen ihm und der Stelle, an der das Portal hätte sein müssen, hin und her, während Eric und Ryan offenbar gerade eine Konversation darüber abschlossen, wie verrückt die Welt doch manchmal sei, und anschließend im Duett anfingen, 'Brutal Planet' zu gröhlen.
 

„Nein... habe ich nicht“, erwiderte Alice noch immer abwesend. „Das ist es ja gerade.“
 

Den verständnislosen Blick seines Gegenübers nicht weiter beachtend, versuchte er gedanklich angestrengt, irgendeinen auch nur halbwegs sinnvollen Zusammenhang zwischen all diesen unerklärlichen Dingen herzustellen, musste jedoch schnell feststellen, dass er nur daran scheitern konnte, solange sein Drummer und Gitarrist den Refrain dieses Songs mit einer derartigen Inbrunst durch den Bus schmetterten. Außerdem hatte er bereits seit er aufgewacht war ein ganz anderes Lied im Kopf, das jedes Mal wieder von Neuem begann, sobald es sich dem Ende neigte, und das selbst von dem enthusiastischen Gebrüll seiner Bandmitglieder nicht übertönt werden konnte.
 

Sweet Dreams.
 

Zwar wollte sich ihm nicht ganz erschließen, weshalb, aber die Melodie dieses Liedes schien wie in einer verfluchten Endlosschleife in seinem Gedächtnis widerzuhallen. Das Merkwürdigste daran war jedoch, dass er die Version, in der sie ihn so unaufhörlich verfolgte, nicht einmal kannte. Es klang, als würde sie von einer Flöte und einer Geige gespielt werden.
 

„Sag mal, ist alles okay bei dir? Du benimmst dich irgendwie so komisch“, riss Erics Stimme ihn aus seinen Gedanken, nachdem er sein Duett mit Ryan offenbar unterbrochen hatte. Dann wedelte er mit der fast leeren Wasserflasche herum, die er schon die ganze Zeit über in der Hand hielt. „Vielleicht brauchst du eine kleine Abkühlung?“
 

„Danke, aber- Obwohl... Ich glaube, eine Abkühlung könnte tatsächlich nicht schaden“, antwortete Alice, ehe er die anderen mit den Worten „Bin gleich wieder da!“ alleine im Hauptbereich des Busses zurückließ und sich, für einen kleinen Moment der Ruhe, in den Badezimmerteil begab.
 

Ein irgendwie unbehagliches Gefühl erfasste ihn, als er die Tür hinter sich zuschlug und seinen Blick durch den Raum schweifen ließ. Er war schon etliche Male in diesem Badezimmer und in jedem anderen Bereich des Tourbusses gewesen – und doch wirkte es so befremdlich, als läge es Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, zurück, dass er sich das letzte Mal hier aufgehalten hatte. Es wirkte falsch. Es war nicht mehr dasselbe. Seit seinem sonderbaren Traum war das alles nicht mehr dasselbe.
 

Und wenn es doch kein Traum war?, hörte er seine eigene Stimme von irgendwo in seinem Unterbewusstsein aus fragen. Kurz zögerte er, bevor er sich vor das Waschbecken stellte, um sich mit etwas kaltem Wasser zu erfrischen.
 

„Nein“, sagte er entschieden, als er den Hahn so weit nach rechts aufdrehte wie möglich. „Völliger Blödsinn. Aus dem Alter, in dem man an solche Sachen glaubt, bin ich eigentlich raus.“
 

Es gab für alles eine Erklärung, und sicher gab es auch hierfür eine. Eine, die nicht implizierte, dass es sich dabei um die Realität gehandelt hatte – denn das wäre nun wirklich absurd. Ein Land voll sprechender Tiere, singender Blumen und umnachteter Musiker-Duplikate? Wahrscheinlich war ihm bloß die Hitze nicht gut bekommen. Es war wirklich unerträglich heiß heute.
 

Alice ließ ein wenig von dem kalten Wasser in seine Hände laufen, das er sich anschließend ins Gesicht kippte, in der Hoffnung, dadurch wieder einen etwas klareren Verstand zu erlangen. Die Tropfen plätscherten so unaufhaltsam und laut vor sich hin, dass sie beinahe den Eindruck eines tristen Regenschauers erweckten.
 

„Ich sollte mir... von einem Hirngespinst nicht solche Angst einjagen lassen.“
 

„Oh, welch traurige Worte, mein Junge“, ertönte, wie aus dem Nichts, eine wohlbekannte Stimme, die ihn auf der Stelle erschrocken zusammenfahren ließ. „Was würde Charlie wohl sagen, wenn er das hören könnte?“
 

Panisch blickte er sich nach allen Seiten in dem kleinen Zimmer um, konnte jedoch nirgends jemanden entdecken. Eigentlich war es auch unmöglich. Hier konnte sich niemand verstecken. Bestimmt halluzinierte er nur, weil er einen harten Tag hinter sich hatte.
 

Alles ist gut... Das war nur Einbildung, dachte er, wollte sich gerade mit dem Gedanken zufriedengeben, dass er bloß etwas neben sich stand, sich ein Handtuch greifen und dann in den Wohnbereich zurückkehren – als er ihn plötzlich sah.
 

Er war im Spiegel.
 

„Das... kann nicht sein“, brachte er fassungslos hervor, als er vollkommen starr das Glas vor sich fixierte. Nur für den Bruchteil einer Sekunde war er dort zu sehen gewesen; viel zu kurz eigentlich, um ihn genau definieren zu können. Und doch hatte er alles an ihm erkannt – das spöttische Grinsen in seinem bleichen Gesicht, die altertümliche dunkle Kleidung... und das grelle Leuchten in seinen Augen, mit denen er ihn für den winzigen Moment, in dem er da gewesen war, regelrecht durchbohrt zu haben schien, bevor er ihn lange nach seinem Verschwinden noch drei letzte Worte flüstern hörte, die ihn anstatt der Melodie, die ihm bis eben noch unentwegt im Geiste herumgeschwebt war, nun sicher mindestens zwei Wochen lang verfolgen würden:
 

„Süße Träume, Alice.“
 

Einige Minuten lang stand er noch dort, ohne sich zu bewegen oder irgendetwas anderes zu tun als seine eigenen eingefrorenen Gesichtszüge zu betrachten, die sich vor ihm in der Glasscheibe spiegelten und sich allmählich zu einem zweifelhaften Lächeln formten. Dann nahm er sich das Handtuch, trocknete sich ab und ging, ohne ein weiteres Wort über die seltsamen Geschehnisse zu verlieren, zu den anderen zurück.
 

Vielleicht war er verrückt. Aber das war in Ordnung. Denn jeder hier war verrückt.
 


 


 

To be continued...


Nachwort zu diesem Kapitel:
Wer übrigens eine lebhaftere Vorstellung von der Herzkönigin haben will, kann bei Google-Bilder „Mechanical Animals Era“ eingeben. ^^

Oh, und... nein. Ich bin nicht Charlie. XD Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (37)
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Von:  Jarhara
2017-03-04T09:01:39+00:00 04.03.2017 10:01
Oh gott! Alice Cooper im Wunderland... dass jemand tatsächlich sowas schreibt^^
Ich hatte vor einer weile ein paar blöde witze mit einem Freund gemacht bis er plötzlich meinte "wie wäre es mit: Alice Cooper im Wunderland?" Wir haben das ganze versuch etwas weiter zu spinnen aber wir hatten immer nur das classiche Wunderland im Kopf, dass du die Charactere passend zu Alice neu besetzt hast macht das ganze noch besser als unsere wildesten ideen^^... ich kanns immernoch nicht glauben, dass es das echt gibt... wir haben doch nur witze gemacht... ^^
ich bin jedenfals sehr gespannt, was noch alles passiert, und wie die Wunderland-Bewohner besetzt sind
Antwort von:  Drachenprinz
04.03.2017 13:20
Na, das ist doch gerade echt eine tolle Überraschung! :D Meistens rechne ich nicht wirklich mit Kommentaren zu dieser Fanfiktion, weil... naja, die meisten 'jungen Leute von heute' kennen sich mit den alten Rockern von früher ja leider nicht so gut aus oder interessieren sich auch nicht wirklich dafür. x'D Da fühle ich mich manchmal ein wenig alleine, weil mein Herz so an den 70ern und 80ern hängt, obwohl ich die nie selber miterleben durfte. Aber schön, dass du zu meiner bescheuerten Geschichte gefunden hast! ^^
Ungefähr aus dem gleichen Gedanken heraus ist meine Idee auch entstanden. XD Ursprünglich sollte es nur ein kleiner One Shot werden... naja, es wurde dann etwas mehr. :'D
Auf alle Fälle habe ich mich sehr über deinen Kommentar gefreut und würde mich natürlich noch mehr freuen, wenn du vielleicht dran bleibst. ^.^

Liebe Grüße!
Antwort von:  Jarhara
04.03.2017 13:34
ja, das kenne ich.... ich höre viel zu viel 80er Rock und Metal... hatte neulich schon angst, dass ich auf dem "Pretty Maids" Konzert alleine unter alten Läuten bin...^^
Diese Fanfic ist echt super und es sollte echt mehr von der Art geben
Von:  Sky-
2016-08-03T14:34:27+00:00 03.08.2016 16:34
Nun ist Alice endlich wieder in seiner Welt und nun stellt sich die Frage: ist es nur ein Traum gewesen? Hat er das alles wirklich erlebt oder ist er tatsächlich verrückt?

Als ich ganz zu Anfang deiner FF den Titel las, dachte ich mir: okay, ist nichts Anspruchsvolles und ein netter Zeitvertreib für zwischendurch. Ich bin nicht mit den höchsten Erwartungen an diese Geschichte herangegangen, vor allem wenn man die bescheuertste Interpretation ever liest, dann erwartet man auch nicht sonderlich Tiefgründiges sondern hauptsächlich eine ziemlich überzogene Parodie. Aber mit der Zeit habe ich gemerkt, dass sich mehr hinter der Fassade verbirgt. Eine sehr vielschichtige, interessant gestaltete und clever ausgetüftelte Neuinterpretation mit innovativen Elementen, tiefsinnigen Momenten und teilweise auch düsterer Atmosphäre. Wenn man die Geschichte so da stehen lassen würde ohne eine Fortsetzung, hätte man immer noch sehr viel Stoff für Interpretationen und Theorien. Wer ist das Phantom und woher stammt Charlie? Wenn er es war, der das Wunderland erschaffen hat, gibt es ähnliche Wesen wie ihn, die auch andere Welten erschaffen haben oder ist er der Einzige seiner Art?
Dafür, dass ich mit recht wenig Erwartungen an diese FF herangegangen bin, muss ich jetzt zugeben, dass sie eine der besten ist, die ich bis jetzt hier auf Animexx gelesen habe. Nun gut, für gewöhnlich lese ich auch eher Yaois, aber ich habe auch andere Neuinterpretationen altbekannter Geschichten gelesen, aber die waren eher als eine Parodie gehalten, die hauptsächlich lustig sein sollte. Hier aber haben wir etwas sehr Vielschichtiges und man merkt deutlich, dass sehr viel Arbeit und Hirnschmal darin steckt. Teilweise kam es mir wirklich vor, als würde sich alles wie ein Film vor meinen Augen abspielen.

Ich kann nur immer wieder sagen: das ist eine wirklich grandiose Geschichte und ich werde mir als nächstes deine Fortsetzung vorknöpfen. Aber dieses Mal weiß ich von vornherein, auf was für einen Mindfuck ich mich einlasse^^

Antwort von:  Drachenprinz
03.08.2016 17:37
Du weißt gar nicht, wie glücklich du mich mit diesem Kommentar gemacht hast! Es hat ungefähr 'ne Minute gedauert, bis das ganze Lob zu meinem Hirn vorgedrungen ist, ich nur noch total blöd grinsend hier saß und "Danke, danke, danke!!!" vor mich hin gesagt habe. XD
Nein, ernsthaft. Ich weiß, dass der Titel nicht so vielversprechend ist, aber das liegt daran, dass die Fanfic ursprünglich auch nicht im Entferntesten so geplant war, wie sie schlussendlich geworden ist. Ganz am Anfang war sie sogar nur als One Shot gedacht, in dem ich halt einfach die "Alice im Wunderland"-Geschichte mit ein paar Promis nacherzähle. Aber irgendwie hat sich das dann so ergeben und der Rest entstand wie von alleine. Ich fühle mich echt richtig geschmeichelt und bin total froh, dass die Story dir bis zum Ende hin so gefallen hat und du sogar sagst, es sei, von deinen geringen Erwartungen aus gesehen, eine der besten Fanfiktions, die du hier bisher gelesen hast. Wow, was für ein tolles Kompliment. *-* Da backe ich mir ja echt 'nen Stolzkeks. xD Schön zu hören, dass meine Arbeit sich anscheinend gelohnt hat. So einen Kommentar zu bekommen (eigentlich waren es ja sogar drei nacheinander), ist echt Motivation pur. ^.^

Ich würde mich sehr freuen, bei der Fortsetzung weiterhin von dir zu hören. Und ja, es wird definitiv genauso mindfuckig (was für ein Wort) weitergehen wie im ersten Teil. :D
Antwort von:  Sky-
03.08.2016 17:48
Ich bin nur ehrlich. Ich habe natürlich gewisse Ansprüche, die ich an eine Geschichte stelle. Und das wären vom rein sachlichen Teil ein guter Schreibstil und eine zumindest größtenteils einwandfreie Rechtschreibung. Ich bin zwar auch nicht perfekt, aber ich finde es anstrengend, FFs zu lesen, die wirken, als wären sie von einem 12-jährigen geschrieben worden. Das macht einfach keinen Spaß. Ich hatte zwar auch mal eine andere Geschichte gelesen, die mich sehr in den Bann gezogen hat, aber das waren halt altbekannte Charaktere, aber hier sticht besonders die Idee dahinter, die Wunderland-Crew mit Promis zu besetzen, die der älteren Generation angehören und damit ein gewisses Allgemeinwissen vorhanden sein muss, um die meisten von ihnen wiederzuerkennen. Andere würden wahrscheinlich Stars von heute nehmen, weil sie die alten schon gar nicht mehr kennen. Darin lag auch noch mal ein ganz besonderer Reiz für mich. Und natürlich gab es in dieser Geschichte die heimlichen Helden, die sehr viel dazu beigetragen haben, dass die FF so ein großer Erfolg ist (Damit meine ich vor allem Ozzy, Bon Jovi und Black Beauty. Dieses Dreiergespann ist einfach nur liebenswert XD)
Wenn ich eine sehr gute Fanfiction sehe, dann bleibe ich natürlich auch dran und spreche meine ehrliche Meinung dazu aus. Und es ist halt meine Meinung, dass diese Neuinterpretation von Alice im Wunderland eine wirklich grandiose Leistung ist und ich meinen imaginären Hut ziehe^^
Von:  Sky-
2016-08-03T14:13:19+00:00 03.08.2016 16:13
Oh mein Gott war das mal ein langes Kapitel. Ich habe mir dieses Mal wirklich einiges an Notizen machen müssen, damit ich nicht die Hälfte wieder vergesse, die ich kommentieren wollte XD

Na endlich ist der ganze Spuk vorbei und es kehrt wieder Frieden ins Wunderland ein. Und endlich gibt es eine Erklärung dafür, was im Promi-Irrenhaus vor sich geht. Das muss gebührend mit der passenden Musik gefeiert werden: https://www.youtube.com/watch?v=usfiAsWR4qU

Jetzt fügen sich die Puzzleteile zu einem ganzen Bild zusammen: Alicia wurde übermütig und fing an, Leute aus anderen Welten zu verschleppen und ins Wunderland zu bringen, darunter auch „Vincent Price“, der dann Alicia in die Leere stieß und Marilyn nahm quasi ihren Platz ein und wurde zur Herzkönigin. Das Phantom begann von ihr Besitz zu ergreifen und zwang sie, die ursprüngliche Bevölkerung des Wunderlandes zu töten und die Frauen wegzusperren.

Ich finde die Idee, dass es mehrere Dimensionen und Universen gibt, sehr interessant und hätte nie für möglich gehalten, dass es sie auch in einer Wunderlandgeschichte geben könnte. Ich war immer der Meinung, dass Alice in der originalen Geschichte eine blühende Fantasie hat. Aber jetzt muss ich dir mal ein paar ernste Takte sagen: wegen dir habe ich meinen Monitor mit Cola vollgespritzt weil ich mich nicht mehr zurückhalten konnte, als ich las dass Charlie Marilyns Vater ist. Heilige Scheiße was hatte ich da für Bilder in meinem Kopf gehabt. Und Meister Raupes Frage wer denn die Mutter sei, war genau meine Frage gewesen. Alter Schwede warum muss sich Marilyn immer so ungünstig ausdrücken?!

Dass das unscheinbare Haustier Charlie in Wahrheit der Schöpfer des Wunderlandes ist, finde ich echt interessant. Normalerweise verbindet man mit Schlangen ja eher, dass sie das Böse verkörpern. Aber andererseits symbolisieren Schlangen in manchen Kulturen auch den Kosmos, die Weisheit und die Ewigkeit dar. Da ist eine Schlange ja ein sehr treffendes Symbol. Und mal wieder erinnert mich das alles an irgendeine andere Lektüre. Ich bin mir nicht ganz so sicher aber Stephen Kings „Es“ hatte so etwas Ähnliches. Das Monster „Es“ verkörperte das Böse und stammte aus einer anderen Welt. Und es nahm immer eine andere Gestalt an. Entweder die eines Clowns oder der größten Angst seines Opfers. Und in dieser Geschichte gab es die Theorie, dass das ganze Universum von einer Art Schildkröte erschaffen wurde. War ein bisschen konfus und gewöhnungsbedürftig gewesen, aber auch sehr interessant. Sorry wenn ich dich ständig mit irgendwelchen Vergleichen nerve. >.<“

Letzten Endes ist alles gut ausgegangen und es herrscht wieder gute Stimmung im Wunderland. Wobei ich es aber irgendwie süß finde, dass Alice eifersüchtig reagiert hat, als Marilyn von Alicia sprach. Da waren ja schon eine gewisse Stimmung zwischen den beiden da und die Krönung war ja echt, als Marilyn sich in den Kopf setzte, Alice zu heiraten, um ihn zum König zu machen. Alter Schwede was habe ich mir da einen abgelacht. Aber andererseits… inzwischen könnte ich mir diese Kombination ja tatsächlich irgendwie vorstellen. Ein süßes Paar wären sie mit Sicherheit.

Ach ja und noch etwas: der Hutmacher soll der beste Bäcker im Wunderland sein?! Da muss er aber noch mal Nachhilfe im Keksbacken nehmen. Vielleicht sollte er einen Kurs an der Volkshochschule besuchen: Keksbacken für Anfänger XD

Antwort von:  Drachenprinz
03.08.2016 17:28
Ich hatte echt 'nen Lachanfall bei der Musik, die das Ganze unterstreichen soll. "Haaallelujah!" Ja, genau. XDD Super! Aber irgendwie lief sowas Ähnliches auch in meinem Kopf, als ich mit dieser Geschichte fertig geworden bin, weil ich niemals gedacht hätte, dass ich mal sowas Langes bis zum Ende schaffen würde. (Noch vor zwei Jahren ungefähr hatte ich sehr wenig Ausdauer beim Schreiben und war auch echt lahm, daher hätte ich mir das nie erträumt.) Ist schon irgendwie komisch, nach ungefähr einem Jahr, das man so eine Geschichte schreibt, plötzlich fertig zu sein. Aber dafür gibt es ja noch die Fortsetzung. :D

Ich bin wirklich froh, dass das Ende und die Auflösung dieses ganzen Verwirrspiels dir gefallen hat und es anscheinend auch doch nicht so wirr und unverständlich war, wie ich dachte. Du hast alles richtig interpretiert, also ist es mir wohl doch gelungen, die Erklärung anständig zu formulieren. xD Auch wenn sich das ziemlich hingezogen hat.
Oh, tut mir leid, dass dein Monitor wegen mir (oder wegen Marilyn?) jetzt Colaspritzer abbekommen hat. XD Tja, Marilyn und Alice haben eben beide manchmal ein Talent dafür, sich ungünstig auszudrücken, da kann man nichts machen. :D
"ES" kenne ich auch, allerdings habe ich nur den Film gesehen. xD Meine Schwester besitzt das Buch, daher weiß ich also auch über Sachen Bescheid, die man im Film nicht direkt erfährt. Und ja, ich muss ehrlich gestehen, dass einige Elemente aus "ES" mich immer wieder in meinen Geschichten inspirieren. Als ich im vierten Kapitel zum Beispiel die Szene geschrieben habe, in der der Showmaster plötzlich mit den Ballons auf der Lichtung steht, sollte das auch so eine Art Anspielung an den Clown sein. XD Das mit Charlie und der Schildkröte ist allerdings eher Zufall. Stimmt, das kann man in gewisser Weise auch miteinander vergleichen. Und du nervst mich nicht damit, ganz im Gegenteil! Ich fühle mich geehrt, wenn meine Sachen mit solchen Meisterwerken verglichen werden. ^///^

Das Ende zu schreiben hat mir auch ziemlich viel Freude bereitet, gerade weil ich die beiden ja so gerne shippe. XD Das Ding ist: Normalerweise würde ich keine Fanfics veröffentlichen, in denen ich reale Personen shippe, weil ich dann immer irgendwie im Hinterkopf hätte "Boah, was ist, wenn die aus irgendeinem Grund ein bisschen Deutsch können, das zufällig finden und lesen und danach nur ihren Kopf gegen die Wand hauen wollen?!" Aber da das hier schließlich nicht der echte Marilyn Manson sein soll sondern nur ein von einem freakigen Gott erschaffener Typ, der genauso aussieht und den gleichen Vornamen hat, und da Alice im Prinzip auch nicht der Gleiche ist wie in Echt sondern der aus einer anderen Dimension... joah, ich habe getrickst, also geht das für mich klar. XD

Selbstverständlich werde ich deine anderen beiden lieben Kommentare auch noch eben beantworten. :)
Antwort von:  Sky-
03.08.2016 17:36
Ja im Nachhinein habe ich mich schon irgendwie gewundert, warum der Showmaster die Luftballons bei sich hatte. Zuerst hatte ich diese Anspielung nicht verstanden, aber als er immer mehr diese Züge von "ES" annahm, da dachte ich mir: Yo, das kennste doch irgendwo her!

Dass du so etwas lieber vermeiden willst, reale Personen zu shippen, kann ich gut verstehen. Wobei ich aber denke, dass es genug Fangirls da draußen gibt, die diesen Job für uns schon erledigen XD
Von:  Sky-
2016-08-02T20:54:31+00:00 02.08.2016 22:54
Ich glaube, wir haben jetzt den Punkt erreicht wo aus „Alice im Wunderland“ endgültig „Alice im Horrorkabinett“ geworden ist. Alter Schwede die Kehrseite hat es ja echt in sich. Der Hutmacher quasselt so konfus wie sonst aber der Märzhase… dieser gemeingefährliche Psychohase hat Fish gefressen?! Seit wann sind Hasen denn unter die Fleischfresser gegangen? Wobei ich mich ja echt frage, ob es sich bei dem Märzhasen jetzt nur um ein tollwütiges fleischfressendes Häschen handelt, oder um einen durchgedrehten Kannibalen. Bei den Tieren des Wunderlandes bin ich mir ja nie sicher, ob es wirklich Tiere sind, oder Leute die sich gerne verkleiden XD

Die Buffalo Bill Anspielung war klasse, wobei ich aber eher glaube, dass es schon den Märzhasen und den Hutmacher zusammen braucht, um Hannibal Lecter Konkurrenz zu machen. Dazu braucht es den scheinbar mordlustigen Wahnsinn des Hasen und das konfuse Psychogerede des Hutmachers.

Trotz dieser Horrorszenen hat sich Alice ja erstaunlich tapfer gehalten. Besonders seine Reaktion auf die Gestalten in der Zelle war einfach zum Schießen. Diese Reaktion habe ich immer, wenn ich irgendjemanden in einer äußerst peinlichen Situation erwische. Und bei meinem Pech passiert mir das öfter als mir lieb ist.

Und jetzt fügt sich langsam alles zusammen. Alicia wurde also tatsächlich vom Showmaster umgebracht und nachdem Marilyn durch diesen Verlust angreifbar wurde, war das die perfekte Gelegenheit für das Phantom, um ihn zu manipulieren. Das erklärt die starken Gefühlsschwankungen bei ihm und wieso er sich so widersprüchlich verhält. Also ist er doch nicht schwanger? Naja, hätte ja mal sein können XD

Und endlich kommt der mysteriöse Eiszapfen endlich zum Einsatz. Ich hatte mich nur schwach an ihn erinnert, weil ich mir dachte „Was zum Teufel soll der Scheiß eigentlich?“ aber dass ein so überflüssiger und unscheinbarer Gegenstand plötzlich in so einer Situation zum Einsatz kommt, das ist wirklich clever durchdacht. Irgendwo hatte ich mal einen Film gesehen gehabt, wo jemand einen scheinbar völlig nutzlosen Gegenstand bekommen hat und dieser ihm später das Leben gerettet hat. Leider kann ich mich nicht mehr daran erinnern, welcher das war. >.<“

Antwort von:  Drachenprinz
03.08.2016 01:05
Haha, ja, ich mag es, hin und wieder Horrorelemente in meine Geschichten einzustreuen. xD
Was die Tiere des Wunderlandes angeht (also Mick Jagger oder die Grinsekatze), sind es halt eher Menschen, denen aber Tiermerkmale wachsen. Wie bei einem Catboy oder so. ^^ Verkleidungen sind das also nicht (außer im Prolog, wo Mick Jagger nur ein Hasenkostüm an hatte... allerdings befand er sich da ja auch noch nicht im Wunderland, vielleicht tritt dieses Phänomen in der anderen Welt außer Kraft?)

Du hast Recht, der Märzhase und der Hutmacher miteinander fusioniert würden sowas wie Hannibal Lecter ergeben, wenn man so will. :D Wow, krass. Jetzt weiß ich, wie Hannibal Lecter entstand. Er kam ursprünglich aus dem Wunderland. *lol*

Ich kann mir die Reaktion gut vorstellen in so einer Situation, wie du es beschreibst. XD

Jaaa, so langsam aber sicher klärt sich alles auf. Eine Erleichterung, was? Marilyn ist doch nicht schwanger. :D (Selbst unter der Voraussetzung, dass das funktionieren würde, frage ich mich gerade, wer ihn denn hätte schwängern sollen... Der Showmaster? D: Hilfe!) Aber hätte ja immer mal sein können. XD

Hehe, yo, der Eiszapfen. Ich glaube, als der im zweiten Kapitel das erste Mal vorkam, hatte ich mir noch nichts weiter dabei gedacht, aber dann hatte ich irgendwie auch schon ziemlich schnell beschlossen, den irgendwann nochmal wichtig werden zu lassen. Ich finde es auch cool, wenn irgendwas zunächst keinen Sinn zu machen scheint, aber irgendwann doch noch eine Bedeutung bekommt. xD

Danke wieder für deinen tollen Kommentar! Jetzt hast du es ja fast geschafft mit der FF. ^^
Von:  Sky-
2016-07-31T09:06:44+00:00 31.07.2016 11:06
Wow, es wird immer interessanter und spannender. Das Phantom scheint jetzt alle möglichen Register zu ziehen, um die Bewohner des Wunderlandes unter seine Kontrolle zu bringen. Nachdem er schon von General Floyd Besitz ergriffen hat, zieht er jetzt die große Show auf und beginnt mit den Ängsten der Bewohner zu spielen. Wirklich heimtückisch aber nachdem die Masche mit den Frauen nicht mehr geklappt hat, musste er sich halt etwas Neues einfallen lassen. Aber eines interessiert mich schon und zwar die Alptraumszene von General Floyd. Okay, es sind mehrere: ich hätte nicht erwartet, dass er damals ein stotternder Angsthase war, der sich von allen herumschupsen lässt. Hinter seinem selbstsicheren und teilweise auch unausstehlichen Charakter scheint sich offenbar ein ziemlich angekratztes Ego zu verbergen.

Und das Zitat, dass die Kinder des Wunderlandes aus den Träumen und Fantasien der Menschen geboren werden, erinnert mich an die Unendliche Geschichte, wie auch schon im Kapitel, wo die Leere aufgetaucht ist. Da hängt das Leben und die Existenz Phantasiens auch von den Träumen von Menschen ab. Aber diese Aussage widerspricht sich doch irgendwie mit der letzten Offenbarung, dass die Bewohner des Wunderlandes aus einer anderen Welt stammen. Das ist jetzt ein bisschen konfus…

Und endlich haben wir die Antwort, was unser Hasi mit ADHS und schlechtem Namensgedächtnis mit der Uhr will. Clever von ihm, die Zeit anzuhalten. Hätte ich ihm fast gar nicht zugetraut, weil die Hasen des Wunderlandes irgendwie am verrücktesten erscheinen.

Antwort von:  Drachenprinz
31.07.2016 14:30
Die Szene mit den Albträumen fand ich auch irgendwie interessant zu schreiben, weil ich da mal Gelegenheit hatte, mir zu überlegen, wovor die einzelnen Wunderlandbewohner wohl am meisten Angst hätten. Hehe, ja... General Floyd ist nach diesem Kapitel sogar zu meinem Liebling in der Geschichte geworden. xD Ich mag es allgemein, wenn man irgendwann unerwarteterweise etwas über einen Charakter erfährt, womit man überhaupt nicht gerechnet hat. Darum versuche ich auch selber immer gern, sowas unterzubringen.

Jetzt vergleichst du meine Story schon zum zweiten Mal mit der Unendlichen Geschichte. *-* Ich glaube, ich muss mir diesen Film irgendwann dringend nochmal ansehen... Das letzte Mal ist seeehr lang her, und da habe ich den nur so halb gesehen. Ich weiß fast gar nichts mehr darüber, aber so wie du es beschreibst, klingt das sehr schön.
Was es mit der Bevölkerung auf sich hat, wird sich am Ende noch aufklären, keine Sorge. Es wirkt jetzt vielleicht etwas konfus, das gebe ich zu, aber das hat seinen Grund. ^^

Und ja, jetzt wo du es so sagst... Die Hasen haben irgendwie das größte Rad ab, stimmt. XD
Antwort von:  Sky-
31.07.2016 14:38
Jep, selbst der Hutmacher scheint mir mehr bei Verstand zu sein und er ist der „verrückte Hutmacher“, das sollte einem schon zu denken geben. Aber vielleicht haben Hasen im Wunderland allgemein ein ziemliches Spatzenhirn XD

Stimmt, seltsamerweise komme ich immer wieder mit Vergleichen zu Matrix und der Unendlichen Geschichte. Vielleicht, weil mir die Geschichte so deutlich im Gedächtnis geblieben ist? Keine Ahnung^^“
Von:  Sky-
2016-07-30T16:45:33+00:00 30.07.2016 18:45
Oh, das nenne ich jetzt aber mal eine Überraschung, dass nicht die Drag Queen mit hormonbedingten (?) Stimmungsschwankungen der Bösewicht ist, sondern der Showmaster alias Vincent Price. Irgendwie hatte ich mir so gedacht, dass er heimlich im Hintergrund die Fäden zieht. Und seine Aussage, dass er jeder im Wunderland sein kann und plötzlich General Floyd übernommen hat, erinnert mich irgendwie an diese Agentengeschichte aus den Matrixfilmen. Kann das etwa sein, dass das Wunderland eine Art fehlerhafte und abstrakte Version der Matrix ist? Nun in dem Fall würde es einen Sinn ergeben, dass nichts in dieser Welt einen Sinn ergibt.

Und als wäre es nicht schon genug, dass der Showmaster den Palast übernommen hat, nein jetzt greift auch noch eine Armee von Zombiefrauen an. Aber interessant, dass er sich unter seinem wirklichen Namen vorgestellt hat, obwohl alle anderen im Wunderland ihre wahren Namen vergessen haben. Das ist schon recht merkwürdig (sorry aber jetzt muss ich gerade an den Architekt aus Matrix denken. Irgendwie bleibt das gerade bei mir haften XD). Interessant fand ich auch die Behauptung des Showmasters, was Marilyn getan hat, nämlich dass die wahren Bewohner des Wunderlandes alle tot sind und dann durch neue ersetzt wurden. Und nach Alicias Tod wurde Marilyn so eifersüchtig auf alle glücklichen Paare, dass er entschied, jegliche Beziehungen zu zerstören, damit er nicht der Einzige ist, der ohne Partnerin leben muss. Und dann ist er irgendwann zur Königin geworden, aus welchem Grund auch immer. Vielleicht, weil er dadurch, dass er sich selbst zur Frau erklärt, von allen im Wunderland geliebt werden würde? Tja, wer weiß… Allerdings wäre auch die Theorie denkbar, dass der Showmaster die Frauen erschaffen hat, um die Bewohner des Wunderlandes nach seinem Willen zu manipulieren. Hoffentlich erfahre ich bald mehr. Wobei ich aber noch anmerken muss: ich kann mir partout nicht vorstellen, wie ausgerechnet Alice die Frau in der Beziehung ist und Marylin der Mann. Das ist so schräg und verrückt. Eigentlich total passend für das Wunderland.

Dass Ozzy der Einzige ist, der scheinbar gegen die Manipulation des Showmasters immun ist, wundert mich fast gar nicht. So fixiert wie er auf sein geliebtes Kriegsschwein ist, wären Frauen wahrscheinlich das Letzte, woran er denken würde.
Antwort von:  Drachenprinz
30.07.2016 23:19
Dass du meine Version des Wunderlandes mit Matrix in Verbindung bringst, finde ich irgendwie echt cool, da ich diese ganze Matrix-Sache auch sehr faszinierend finde. Allerdings habe ich den ersten und zweiten Teil erst einmal gesehen und das ist schon was länger her, daher habe ich gerade auch nicht mehr auf dem Schirm, wer dieser Architekt ist, von dem du redest. ._. Wenn der Showmaster dich an ihn erinnert, gehe ich aber davon aus, dass es da Ähnlichkeiten zwischen den beiden gibt?
Allgemein finde ich deine Theorien richtig gut. Ach je, da hoffe ich ja, dass meine richtige Auflösung am Ende mit deinen ganzen Theorien auch mithalten kann. :D Ich hoffe, es ist dann hinterher auch verständlich genug, was da alles passiert ist und was genau eigentlich mit Marilyn los ist/war. Meine Schwester hat die Fanfic nämlich auch gelesen und hat ebenfalls recht lange gebraucht, bis sie da einigermaßen durchgestiegen ist. Daher nehme ich an, dass ich es vielleicht nicht unmissverständlich genug habe daraus hervorgehen lassen. XD' Aber mal abwarten. ^^
Oh, ich kann mir diese Rollenverteilung bei den beiden ehrlich gesagt sehr gut vorstellen. :D Marilyn benimmt sich zwar oft ziemlich weibisch, das stimmt, aber er ist andererseits auch eindeutig der Dominantere von beiden. Alice stelle ich mir (zumindest in meiner Story hier) eher wie so 'nen heimlichen, kleinen Masochisten vor. ;D Daher passt das in meinem Kopf schon. ^^
Lol, ja, also... Meine Schwester vertritt ja die Ansicht, dass Ozzy eine glückliche Beziehung mit Black Beauty führt, wenn er sich nicht gerade mit dem Weißen Ritter vergnügt. Von daher ist es gut vorstellbar, dass er nicht so viel für irgendwelche Frauen übrig hat. XDD

Vielen Dank wieder für deinen interessanten Kommentar und bis dann!
Antwort von:  Sky-
30.07.2016 23:29
Die Matrixfilme habe ich auch nicht mehr hundertprozentig auf der Kette, aber der Architekt war, soweit ich weiß, derjenige, der die Matrix erschaffen hat und diese kontrolliert. Der Auserwählte Neo ist eine auftretende Anomalie, die selbst der Architekt nicht beheben konnte, weshalb er keine Macht über ihn hat. Deswegen dachte ich, dass das irgendwie mit der Wunderlandgeschichte passt, da der gute Vincent Price offenbar jeden im Wunderland manipulieren kann, nur nicht den Auserwählten.

Nun, aus deiner Sicht gesehen ist die Rollenverteilung tatsächlich nicht ganz so undenkbar. Trotzdem kriege ich jedes Mal, wenn ich mir Alice Cooper in Frauenklamotten vorstelle, einen Lachkrampf. Rein äußerlich passt die Frauenrolle bei Marilyn irgendwie besser. Aber vom Charakter her ist es ja tatsächlich wieder etwas anders^^

Deine Schwester hat ja echt interessante Vorstellungen. Eine Dreiecksbeziehung zwischen einem Jammerlappen, seinem Rivalen und einem Schwein. Klingt nach einer perfekten Beschreibung des Twilight-Liebesdramas XD
Antwort von:  Drachenprinz
31.07.2016 14:22
Das klingt tatsächlich wie etwas, das auch zum Wunderland passen würde, stimmt. Hm, jetzt habe ich total Lust gekriegt, mal wieder Matrix zu gucken. xD Ich liebe solche Existenz-Theorien und so'n Zeug. Da kann man immer so schön drüber philosophieren und sich eigentlich nie wirklich sicher sein, ob es in Echt nicht wirklich auch so ist. Auch wenn die Vorstellung schon etwas unheimlich wäre... Ich würde nicht in dieser komischen Matrix-Maschine da aufwachen wollen, nur um festzustellen, dass ich mit ganz vielen Schläuchen verkabelt bin und mein ganzes Leben nur 'ne Halluzination war. o__O

Also, DAZU muss ich aber mal eben loswerden, dass das mit Alice und den Frauenklamotten gar nicht mal unbedingt nur meiner Fantasie entspringt! XD Gerade in den Siebzigern und Achtzigern hat er wirklich öfter mal Frauensachen getragen, und es gibt viele Videos und Bilder, bei denen man das Gefühl bekommen könnte, er sei gerade vom CSD gekommen oder so. :D Aber gut, ich weiß, dass die meisten ihn eher aus der 'Poison'-Zeit kennen und das deshalb nicht wissen, daher verstehe ich, dass dir diese Vorstellung erst mal komisch vorkommt. xD

Bei deinem Kommentar mit der Dreiecksbeziehung und Twilight musste ich so lachen, ganz ehrlich. Bella ist das Schwein. Ja, das ist eindeutig passend. X'DD Du hast echt tolle Vergleiche auf Lager, Mann oh Mann. :D
Antwort von:  Sky-
31.07.2016 14:34
Hm, ja ich kenne Alice Cooper tatsächlich eher aus späteren Zeiten. Aber dass er mal tatsächlich damals Frauenkleider getragen hat, ist interessant. Da muss ich mal ein wenig meine allwissende Suchmaschine befragen, vielleicht finde ich ja noch ein paar Bilder aus dieser Zeit^^

Ach ich habe immer ziemlich fiese Vergleiche auf Lager, vor allem wenn mir irgendetwas gegen den Strich geht. Ich mache mich halt über Twilight und seinen schwulen Glitzerfeen oder Shades of Grey lustig. Ich hab nur Ausschnitte gesehen und mich so beömmelt, weil die Ana tatsächlich gefragt hat, was Analplugs sind und was man damit macht. Als ob sich der Name nicht schon aus dem Kontext erschließen würde… Das ist genauso wie dieser eine Dialog, von dem ich aber nicht mehr weiß, aus welchem Film der stammt:

„Was ist das?“
„Das ist blaues Licht.“
„Und was macht es?“
„Es leuchtet blau.“

Naja, die Filme sind zwar schrottig, aber selbst zum Trash taugen die nichts. Denn Trashfilme sind so schlecht, dass sie wieder lustig sind. Und das war meiner Meinung nach nur der zweite Teil von Twilight. Ich dachte allen Ernstes, das wäre eine schlechte Parodie auf die Story…
Von:  Sky-
2016-07-29T18:39:37+00:00 29.07.2016 20:39
Ach ja der Prozess. Der berühmte Prozess aus Alice im Wunderland wo wirklich alles drunter und drüber ging. Ich erinnere mich noch sehr gut als die Herzkönigin im Disneyfilm gesagt hatte „Erst die Verurteilung, die Verhandlung kommt später!“ Damals habe ich das als kleines Kind noch nicht verstanden aber jetzt denke ich mir so: ist das vielleicht eine Anspielung darauf, dass die gesamte Geschichte eine versteckte Anspielung auf eine Diktatur ist, nur halt als Märchen verpackt?

Dass Alice plötzlich aus heiterem Himmel angeklagt wird, obwohl er sonst so dicke mit der Queen war, wundert mich wahrscheinlich genauso wie ihn. Wahrscheinlich hat Marilyn seine Tage? Bei dem weiß man ja eh momentan nicht, was er eigentlich ist. Und dass nicht einmal Ritterchen Weiß als Staatsanwalt wusste, wofür Alice überhaupt angeklagt werden soll, war echt zum Schießen. So planlos ist wirklich kein Gericht der Welt, selbst in einer Diktatur kann man sich besseres einfallen lassen XD

Ich würde ja mal echt gerne wissen, wieso Marilyn so empfindlich auf seinen Namen reagiert. Meine erste Eingebung wäre: weil er verdammt noch mal Marilyn heißt. Welcher Typ will denn bitte wie ein Mädchen heißen? Andererseits hätte sich Alice dann ja wohl auch wie eine bipolare Frau aufführen müssen, die von Schwangerschaftshormonen geplagt wird… Und ich bin echt auf die Auflösung gespannt, warum Marilyn plötzlich die Königin ist. Mein erster Gedanke ist, dass es seine verdrehte Art der Trauerbewältigung ist. Der zweite Gedanke wäre, dass er wirklich eine Transe ist und der dritte Gedanke: Weil er einen gewaltigen Knacks im Oberstübchen hat. So wie die anderen auch.

Die Erkenntnis, dass die Leute aus dem Wunderland nicht aus dieser Welt stammen, habe ich ja schon bereits vermutet, allerdings stellt sich nun die Frage, warum sie dort sind und wie sie dorthin gelangt sind. Ich werde einfach das Gefühl nicht los als würde der Showmaster eine Rolle spielen. Es muss ja einen Grund geben, warum er „Showmaster“ heißt. Vielleicht ist das Wunderland für ihn ja eine bizarre Version einer Truman-Show. Oder vielleicht habe ich auch einfach viel zu viel Fantasie XD
Antwort von:  Drachenprinz
29.07.2016 23:23
Cool, du hast ja schon weitergelesen. ^^ Vielen Dank wieder für deine ausführlichen Kommentare!
Bei der Punch and Judy-Szene habe ich mich auch ziemlich amüsiert. xD Ich bin mir nicht sicher, wie ich die Puppe in Alice' Situation gespielt hätte. Das ist ja das Schöne an Improvisation: Man weiß nie, was passiert. XD

Deine Theorien, was es mit Marilyn und Alicia und der ganzen Sache auf sich hat, finde ich natürlich sehr interessant und auch cool, was du dir da für Gedanken drüber machst. Aber dazu werde ich jetzt selbstverständlich erst mal nichts sagen, um nicht zu spoilern. ^^ Spätestens im letzten Kapitel gibt es für fast alles eine Auflösung - jedenfalls habe ich mich beim Schreiben bemüht, das ganze Wirrwarr irgendwie einigermaßen verständlich aufzulösen. xD
Deine Vermutung, dass Marilyn seine Tage hat, finde ich übrigens auch köstlich. XDD Ja, könnte ja immer mal sein. Man kann ja nie wissen. Bei Alice wäre es allerdings schlimmer, wenn er seine Tage hätte, immerhin latscht er da ja die ganze Zeit mehr oder weniger unten ohne durch die Gegend, abgesehen von dem Rock... (ähm... okay, darüber denke ich jetzt nicht weiter nach XD)
Oh, und das, was du da zur Original-Alice im Wunderland-Geschichte sagst, mit der Diktatur... Das ist auch gar keine schlechte Theorie. ö.ö Der Gedanke ist mir tatsächlich noch nie gekommen, obwohl ich der absolute Alice im Wunderland-Fan schlechthin bin und auch dieses Jahr endlich mal das Buch von Lewis Carroll gelesen habe. Stimmt, so könnte man das auf jeden Fall interpretieren. Faszinierend, wenn man mal darüber nachdenkt, welche 'versteckten' Botschaften man in Märchen und Kindergeschichten teilweise findet und was für Anspielungen es da häufig an die reale Welt gibt. Ich analysiere sowas irgendwie auch total gerne. xD
Antwort von:  Sky-
29.07.2016 23:30
Danke, jetzt habe ich wegen dir das absolute Kopfkino mit Alice und dem Rock. Ich glaube die Bilder kriege ich nie wieder aus dem Kopf >.<"

Das Buch habe ich noch nicht gelesen, wollte es mir aber irgendwann mal besorgen und lesen, wenn ich mal Zeit und Ruhe habe. Bei so konfusen Geschichten brauche ich immer wieder vollste Konzentration, um auch so gut es geht mit der Story mitzukommen. Ich habe mir ja auch die Videoreihe "Don't Hug Me I'm Scared" mindestens zehn Mal durchschauen müssen um den ganzen Sinn dahinter zu verstehen.

Du hattest ja schon erwähnt, dass du an einer Fortsetzung arbeiten willst. Also da kannst du garantiert mit mir als Leser rechnen^^
Antwort von:  Drachenprinz
29.07.2016 23:57
Sorry! XD Ich muss selber versuchen, diese schrecklichen Bilder wieder aus dem Kopf zu kriegen! :'D

Das Buch habe ich mir Anfang des Jahres spontan in der Mayerschen gekauft, weil sie da bei den englischen Büchern so eine Auswahl an berühmten Kindergeschichten und Sagen hatten (und immer noch haben). Da war auch, glaube ich, Peter Pan und The Wizard of Oz dabei. Und ironischerweise auch Black Beauty. XD
'Don't hug me I'm scared' kenne ich nicht, aber klingt interessant. :D Manchmal muss ich etwas auch mehrmals lesen/schauen, um wirklich durchzusteigen, das kenne ich.

Ja, also, an der Fortsetzung schreibe ich schon seit Frühling und bin schon bei Kapitel 4. :D Jetzt am Montag fange ich aber damit an, es hier hochzuladen. ^^ Den Prolog erst mal, und dann schaue ich, wie regelmäßig ich die nächsten Kapitel uploade.
Falls du bei deiner Petboy-Geschichte auch eine Fortsetzung oder Sidestory oder sowas planst (ich bin mir nicht sicher, ob du da mal sowas erwähnt hattest?), kannst du auf jeden Fall auch wieder mit mir als Leser und Reviewer rechnen. ^.^
Antwort von:  Sky-
30.07.2016 00:08
Ich denke mal, dass ich mir das Buch als E-Book runterladen werde. Mein ist zu klein für Bücher, die werden von vornherein für meine DVDs und meine Tokyo Ghoul Mangas reserviert^^
Und wenn du schon so bald mit der Fortsetzung anfängst, dann muss ich mich auf jeden Fall mit dem Lesen ranhalten. Was meine Geschichte angeht, da habe ich tatsächlich eine Side Story mit Cypher und Hunter geplant weil die beiden bei manchen Lesern sogar noch beliebter sind als Leron und Simon (vermutlich weil sie auf eine süße Art und Weise verrückt sind). Da sich aber Petboy Contract noch etwas hinzieht, wird das noch warten müssen. Ich habe noch so viel geplant, dass ich langsam das Gefühl habe, es wird erst ab 60 Kapiteln Schluss sein XD
Antwort von:  Sky-
30.07.2016 00:10
*Ich wollte schreiben "Mein Zimmer ist zu klein" aber mal wieder spackt diese Autokorrektur von meinem Handy rum ><
Antwort von:  Drachenprinz
30.07.2016 00:21
Oh, das verstehe ich gut. Bei mir im Zimmer ist auch schon alles so voll mit Mangas, DVDs, Games und irgendwelchen Metal-Zeitschriften, dass ich langsam auch echt nicht mehr weiß, wo ich noch irgendwas Neues unterbringen soll. :'D (Kein Problem wegen der Autokorrektur! xD)
Du musst ja nicht sofort am Montag den Prolog der Fortsetzung lesen, wenn du hier noch nicht fertig bist. Hetz dich nicht! Ich freue mich schon voll, dass du das überhaupt weiterverfolgen willst. :D Nur solltest du dir die Charakterübersicht, die ich bei meiner Fortsetzung machen werde, besser nicht anschauen, bevor du den ersten Teil zu Ende gelesen hast, weil die Charakterbeschreibungen halt massive Spoiler für die Entwicklung der ersten Story enthalten werden. Aber das werde ich dann da auch als Warnung nochmal in die Kurzbeschreibung schreiben. xD
Hunter und Cypher kenne ich bisher nur von den Bildern, finde aber, dass sie sehr cool aussehen und bin auch schon total gespannt auf sie. ^^ Eine Sidestory zu den beiden würde ich also definitiv gerne lesen, sobald du dazu kommst. Aber zuerst lese ich natürlich die Hauptstory weiter. Ich glaube, das mache ich jetzt auch direkt mal. :D
Antwort von:  Sky-
30.07.2016 01:05
Cypher und Hunter kommen ab Kapitel 20 dazu und bilden danach einen festen Bestandteil im weiteren Verlauf der Geschichte. Also dauert es noch ein bisschen bis dahin.

Okay, dann weiß ich schon mal mit der Beschreibung Bescheid, aber ich denke sowieso, dass ich da erst reinschauen werde, wenn ich mit dem ersten Teil fertig bin. Morgen bzw. in ein paar Stunden werde ich definitiv weiterlesen
Von:  Sky-
2016-07-29T15:53:58+00:00 29.07.2016 17:53
Ach ja, Alice hat wirklich einen abwechslungsreichen Alltag im Wunderland. Wenn er mal nicht mit der perversen Königin zusammenhängt oder den Ritterkindergarten betreuen muss, muss er auch noch einen Höllenritt auf einer Sau über sich ergehen lassen und sich wortwörtlich zum Hampelmann beim Kasperletheater für bekiffte Blumen machen. Und dass er die Geschichte von Punch und Judy so enden lassen würde, war ja irgendwie vorhersehbar. Um nicht genauso verrückt zu werden wie alle anderen, hilft es wahrscheinlich nur, der ganzen Situation mit morbidem Sarkasmus entgegenzutreten. Wäre wahrscheinlich auch meine Reaktion gewesen, wenn ich in diesem Irrenhaus gelandet wäre.

Und das Tagebuch ist ziemlich interessant, wenn auch gleich unzählige neue Fragen aufkommen. Vor allem aber verwirrt mich der letzte Absatz: Marylin als Königin ist eigentlich der Mann und Alice die Frau? Okay, das ist jetzt wirklich Mindfuck vom allerfeinsten. Jetzt kapiere ich überhaupt nichts mehr XD
Antwort von:  Sky-
29.07.2016 18:06
Das Einzige, was mir zu Alices Erkenntnis einfallen würde ist:

Als die Königin Alicia in die Leere gesprungen ist und dann zu Alice wurde, hat der König irgendwie den Verlust nicht verkraftet und ist daraufhin offenbar zum Transvestiten mutiert und hat sich zur Königin erklärt um den Verlust besser zu verkraften?! Naja, nicht gerade die herkömmliche Art mit Trauer umzugehen, aber wem es hilft…
Von:  Sky-
2016-07-29T11:22:55+00:00 29.07.2016 13:22
Nach all der Zeit habe ich endlich mal wieder Zeit, Ruhe und Konzentration um wieder zum Promi-Irrenhaus a.k.a. Wunderland zurückzukehren und fühle mich natürlich sofort wieder wie auf einem Drogentrip. Wie hätte es auch anders sein können? XD

Der Showmaster gibt mir immer mehr Rätsel auf. Ich wüsste echt nur zu gerne was seine Rolle in diesem Spiel ist und was hier eigentlich abgeht. Fakt ist jedenfalls, dass irgendetwas in dem Wunderland bewirkt, dass Alice mehr und mehr seine Erinnerungen verliert und damit wie "sie" wird. Vielleicht die erste Alice? Tja wer weiß. Wenn schon der Auserwählte nicht durchblickt, wie soll der Leser das denn bewerkstelligen?

Und Marilyns perverse Gedanken waren natürlich wieder absoluter Hammer. Manchmal frage ich mich aber auch echt, ob er das nicht vielleicht mit Absicht macht, dass er immer sogleich an das Falsche denkt. Jetzt denkt er doch echt, Alice spielt fünf gegen Willy wenn er ihn mal für ein paar Minuten alleine lässt. Armer Alice, jetzt hat er einen gewissen Ruf bei der Königin weg.

Marylins Vorschlag zur Paartherapie für Ozzy und Bon Jovi finde ich gar nicht mal so schlecht. So wie die sich immer am Zanken sind und sich wie Kleinkinder verhalten, wechseln sie immer vom alten Ehepaar zu Kleinkindern, die sich um Spielzeug im Sandkasten streiten. Wundert mich echt, dass die noch ihren Job haben aber andererseits drehen ja alle im Wunderland ein wenig am Rad, da sollte mich doch eigentlich nichts mehr erstaunen. Bei deiner Cluedo Anspielung mit Frau Weiß musste ich übrigens schmunzeln: als Kind habe ich ziemlich oft Cluedo mit meiner Familie gespielt und jedes Mal war Frau Weiß die Täterin. Zufall oder doch eine Verschwörung höherer Mächte?

Ich werde auf jeden Fall noch die nächsten Kapitel weiterlesen und meinen Senf dazu abgeben. Ich will nämlich endlich wissen, was in diesem Promi-Irrenhaus eigentlich abgeht^^
Antwort von:  Drachenprinz
29.07.2016 14:55
Hey, freut mich echt, auch hier mal wieder von dir zu hören! :D Schön, dass meine Alice im Wunderland-Fanfic dir noch gefällt und du weiterliest! (Im Moment schreibe ich übrigens an der Fortsetzung 'Alice hinter den Spiegeln', die ich am Montag anfangen werde, hier upzuloaden. xD)

Tjaaa, nicht nur der Auserwählte und die Leser blicken nicht durch sondern auch mir ging es teilweise so. XD Die Ideen kamen mir zu einem sehr großen Teil spontan beim Schreiben, also hoffe ich, dass ich das alles bis zum Ende noch EINIGERMAßEN übersichtlich und sinnvoll hinbekommen habe... Na gut, das mit dem 'sinnvoll' lassen wir lieber mal außer Acht. :'D

Als ich deinen Kommentar mit 'Fünf gegen Willy' grad gelesen habe, musste ich mich echt wegschmeißen. XDDD Ja, Marilyn denkt eben manchmal ein wenig... eindimensional bei sowas. Oder eigentlich bei allem. Höhö. Und mit dem Schwarzen und Weißen Ritter hatte ich auch immer sehr viel Spaß. Schön, dass ich dich mit der Cluedo-Anspielung an deine Kindheit erinnern konnte. :) Bestimmt waren das höhere Mächte! Frau Weiß ist einfach abgrundtief böse!! So muss es sein.

Wenn du weiterhin dranbleibst, freut mich das natürlich sehr. Dein Feedback fand ich bisher immer sehr amüsant. ^_^ Bis zum nächsten Kommentar in deiner oder meiner Geschichte! XD
Von:  Sky-
2016-05-09T12:00:33+00:00 09.05.2016 14:00
Schweine gehören in die Luft und nicht auf den Boden!

An dieser Stelle hab ich mich so was von weggeschmissen. Geiles Argument, dem kann man nichts entgegensetzen. Aber die Szene an der Klippe war sehr interessant. Erinnerte mich ein wenig an meine Kindheitslektüre "Die Unendliche Geschichte". Und die hatte schon was ziemlich tiefsinniges.
Antwort von:  Drachenprinz
09.05.2016 16:42
*lol* Natürlich gehören Schweine in die Luft. Das weiß doch jedes Kind, oder? XD Ich muss aber zugeben, dass das nicht komplett meine eigene Idee/Erfindung war, sondern dass mich das Plattencover von 'Animals' (einem Pink Floyd-Album) dazu inspiriert hat... weil da eben Fotos von einem fliegenden Schwein zu sehen sind. ^^
Und dass du meine Fanfic hier mehr oder weniger mit 'Die Unendliche Geschichte' vergleichst, ist mal ein megageiles Kompliment. Dankeschön! :D


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