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Alice im Wunderland - Die bescheuertste Interpretation ever

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Kapitel 7 - Böses Erwachen

Alice atmete erleichtert aus, als Fish die metallenen Fesseln löste, mit denen er an die Mauer des Kerkers gekettet gewesen war – und das über einen wohl nicht gerade kurzen Zeitraum hinweg, wie ihm nun merklich bewusst wurde. Bei dem Versuch, seine Arme zu bewegen, musste er schnell feststellen, dass das Tragen der verdammten Schnallen nicht spurlos an ihm vorübergegangen war. Trotzdem war er froh, die Dinger endlich losgeworden zu sein. Vorerst.
 

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll... Danke. Ich glaube, ich war nicht weit davon entfernt, wahnsinnig zu werden“, flüsterte er an seinen Retter gewandt und warf dann einen flüchtigen Blick auf Charlie, den er, wenn er sich recht erinnerte, seit seinem fragwürdigen Traum nicht mehr gesehen hatte. „... Darf ich fragen, wie ihr es schaffen konntet, mich zu befreien? Ich meine... Wo habt ihr den Schlüssel her? Ich hätte schwören können, dass die Herzkönigin höchstpersönlich darauf aufpasst...“
 

„Da habt Ihr vollkommen Recht!“, antwortete Fish ebenso gedämpft. „Deshalb bin ich auch ein nicht von der Hand zu weisendes Risiko eingegangen, als ich ihn ihrer Hoheit gestohlen habe. Hätte sie mich dabei erwischt... oh, ich sage Euch, das wäre mein Ende gewesen!“
 

„Dem ssstimme ich zzzu“, pflichtete Charlie bitter bei.
 

„Aber... wenn es so gefährlich war, an den Schlüssel zu kommen, wieso habt ihr das dann getan? Wollt ihr wirklich euer Leben für mich aufs Spiel setzen?“
 

„Euer Wohlbefinden, geehrter Auserwählter, ist wichtiger als mein Leben“, erklärte der Narr und gab Alice damit, falls das nicht ohnehin schon seit er diese Welt betreten hatte der Fall war, endgültig das Gefühl, im falschen Film zu sein. Doch offenbar hatte er noch mehr dazu zu sagen. „Wisst Ihr... Unsere Königin hat sich verändert. Es soll Zeiten gegeben haben, in denen sie eine sanftmütige und gutherzige Person war. Ich selbst habe diese Zeiten zwar nicht miterlebt, aber...“ Er stockte einen Moment, ehe er seinen Satz an anderer Stelle fortführte. „Nun, ich weiß jedenfalls, dass irgendetwas mit ihrer Majestät nicht stimmt. Jeder, der noch einigermaßen klar bei Verstand ist, weiß es. Und Ihr... Ihr seid derjenige, der ihr helfen muss, wieder so zu werden wie früher! Außerdem kann ich es nicht mitansehen, wie sie mit Charlie umspringt... In Euch habe ich, ehrlich gesagt, mehr Vertrauen.“
 

„Mit Charlie? Dann... Ich verstehe. Ich hatte ja schon so eine leise Befürchtung. Dann warst also wirklich du dieses Seil, mit dem die Mörderpuppe, ich meine... die Königin mich festgehalten hat...?“, vergewisserte sich Alice, auf Charlies bejahendes Nicken hin betroffen zur Seite schauend. „Ihr eigenes Haustier für so etwas zu benutzen... Das nenne ich egoistisch.“
 

„Bitte nimm esss ihr nicht übel!“, zischte die Schlange, als würde sie über ein fehlgeleitetes Kind sprechen. „Sssie meint esss nicht bössse, da bin ich sssicher...“
 

„Wie kannst du sie auch noch verteidigen, Charlie? Nach allem, was sie sich inzwischen geleistet hat... Sie ist völlig unberechenbar!“
 

„Zügelt Eure Stimme, Auserwählter! Wir dürfen unter keinen Umständen gehört werden!“, erinnerte ihn Fish, was er mit einem geflüsterten „Sorry“ zur Kenntnis nahm. Dann blickte sein Gegenüber zu einer der Wände hinüber, als gäbe es dort irgendetwas Besonderes zu sehen. „Folgt mir! Ich werde Euch hier herausbringen. Es gibt einen Notausgang, der in den Schlossgarten führt.“
 

„So? Wozu benötigt ein Kerker denn einen Notausgang?“
 

„Hauptsächlich für Notfälle“, erwiderte der Narr. Durchaus einleuchtend. „Für Euch mache ich eine Ausnahme. Wenn Ihr leise mit mir mitkommt, kommen wir vielleicht heil davon.“
 

'Vielleicht'..., dachte Alice, während er Fish hinterherschlich und vor der Wand stehenblieb, die er zuvor so fasziniert fixiert hatte. Klingt nach guten Aussichten.
 

Anscheinend befand sich eine geheime Luke in der Mauer, durch die man wieder an die Oberfläche gelangen konnte. Schweigend beobachtete er, wie Fish diese öffnete, sich auf den Boden herunterbeugte und den schmalen Durchgang entlangkroch, ehe er seinem Beispiel ein wenig skeptisch folgte. Wenigstens für Charlie stellte es kein Problem dar, den Gang zu passieren.
 

Glücklicherweise hatten sie nach wenigen Metern eine Leiter erreicht, die zuerst Fish gemeinsam mit der königlichen Schlange hinaufkletterte, und dann er selbst. Nicht viel später fand er sich in einem Teil des Schlossgartens wieder, der ihm bisher unbekannt gewesen war – allerdings hatte er natürlich auch noch nicht viel Gelegenheit dazu gehabt, sich hier draußen genauer umzusehen. Was er jedoch sofort feststellte, war, dass Charlie vollkommen Recht hatte, was den Garten bei Nacht betraf: Er war wirklich außerordentlich schön. Durch die vielen Lichter, die überall zwischen den Pflanzen verteilt waren und diese in der Dunkelheit beleuchteten, kamen die Rosen in all ihrer Pracht noch besser zur Geltung als am Tag.
 

Rosen... Wieder musste er an den seltsamen Trick denken, mit dem Marilyn auf seinem Zimmer versucht hatte, ihn zu beeindrucken. Oder war es am Ende überhaupt kein Trick gewesen? So egoman und kalt er sich auch immer geben mochte, in diesem Moment hatte er irgendwie bloß traurig gewirkt.
 

„Nein“, sagte er leise zu sich selbst. „Zerbrich dir nicht den Kopf darüber. Aus dem Typen wirst du sowieso nicht schlau...“
 

„Wie bitte? Habt Ihr mit mir gesprochen?“, unterbrach Fish seine Gedanken, nachdem er die Geheimtür offenbar wieder geschlossen hatte. Charlie war inzwischen ein Stück vorausgekrochen und neigte sich ihnen zu, so als würde er auf sie beide warten.
 

„... Nein, ich habe nur... Nicht so wichtig“, murmelte Alice, blickte sich kurz in der Gegend um und sah Fish dann fragend an. „Wo soll ich jetzt eigentlich hin? Im Schloss wird man mich doch sofort wieder festnehmen, oder nicht...? Was ist mit den Wachen?“
 

„Nun ja, also...“, druckste sein Gegenüber schuldbewusst lächelnd herum. „Das ist mir auch gerade eben eingefallen. Ich fürchte, Ihr müsst im Garten nächtigen...! Aber falls es Euch ein Trost ist: Ihr seid nicht alleine. Der Schwarze Ritter verbringt die heutige Nacht ebenfalls hier draußen.“
 

„Der Schwarze Ritter?“, wiederholte er, während er ruhigen Schrittes Charlie folgte. „Was hat er angestellt?“
 

„Ich habe zutiefst versagt“, hörte er besagten Ritter unerwarteterweise selbst antworten, als er ihn kurz darauf angelehnt an seine Kriegs-Sau und mit niedergeschlagenem Blick auf dem Boden entdeckte. Alice überlegte einen Moment, ehe er sich neben ihm und dem Schwein im Gras niederließ. Ob seine Sachen dabei schmutzig wurden konnte ihm ja egal sein – schließlich gehörten sie nicht ihm.
 

„Was ist passiert, Ritter Schleim? Habt Ihr zu viel geschleimt und wurdet daraufhin rausgeworfen?“
 

Ozzy seufzte tief und schaute zu ihm herüber wie ein verstoßenes schwarzes Kätzchen.
 

„Nicht ganz... Ihre launische Majestät hat ein Bad genommen und sich dazu einen guten Wein gewünscht. Offenbar habe ich ihr den Falschen gebracht... und das hat sie so sehr verärgert, dass sie mich vor die Tür gesetzt hat...“
 

„Nur deswegen?“ Alice setzte eine enttäuschte Miene auf. „Ich hatte schon gedacht, sie hätte Euch beim Spannen erwischt... oder Ihr wäret unangemeldet zu ihr in die Wanne gestiegen.“
 

„Um Himmels Willen, was sagst du denn da?! So etwas würde ich niemals tun...!“, rief Ritterchen Schwarz empört und drehte sich seltsam eilig von ihm weg – wahrscheinlich war diese Vorstellung ein wenig zu viel für ihn. „Ich habe sie nicht einmal angesehen, nur damit du es weißt...! Dieses Anblickes bin ich doch nicht ansatzweise würdig!“
 

„Wollt Ihr mit mir tauschen? Dann würdet Ihr sicherlich weitaus mehr Anblicke geboten bekommen als Ihr verkraften könnt“, scherzte Alice so amüsiert wie er es in seiner derzeitigen Lage nur sein konnte und wandte sich dann wieder Fish zu, der zusammen mit Charlie etwas abseits stand. Mit Ozzy war momentan wohl ohnehin nichts anzufangen. „Sag mal... Ich fühle mich dir ja wirklich verbunden, weil du mich aus dieser stickigen Knastzelle geholt hast. Aber wie soll ich denn seelenruhig hier schlafen, wenn wir jederzeit gesehen werden könnten? Gibt es nicht Riesenärger, wenn auffliegt, dass du den Schlüssel gestohlen hast?“
 

„Oh, macht Euch darum mal keine Sorgen!“, winkte der Hofnarr schnell ab. „Zurzeit ist Wache Nummer Zwei nachts dafür zuständig, draußen den Überblick zu behalten. Er ist also der Einzige, der uns hier finden könnte, und selbst wenn er das tun sollte wäre es nicht allzu schlimm. Ich bin sicher, er würde ein Auge zudrücken... im Gegensatz zu Wache Nummer Eins und General Floyd. Die beiden verstehen leider weniger Spaß...“
 

„General Floyd? Na, herrlich... Jetzt fühle ich mich doch gleich viel wohler.“
 

Fish warf ihm einen entschuldigenden Blick zu und schaute dann um die Ecke, wie um sich zu vergewissern, dass außer dem Wachmann mit dem Putzfimmel auch wirklich niemand anwesend war, bevor er wieder zu ihm herübersah.
 

„Wisst Ihr was? Legt Euch einfach ganz beruhigt schlafen! Bis morgen früh habe ich mir überlegt, wie wir das Ganze regeln. Verlasst Euch auf mich!“, sagte er in einem vermutlich zuversichtlicheren Tonfall als es der Wahrheit entsprach. „Ich werde in der Nähe bleiben und aufpassen, dass keiner uns sieht... Versprochen!“
 

„Wenn das so ist... von mir aus“, gab Alice müde zurück, während er versuchte, es sich etwa einen Meter neben Ozzy und seiner Sau gemütlich zu machen – sofern das ohne die geringste Bettwäsche oder eine Matratze überhaupt möglich war. Allerdings konnte er nicht abstreiten, dass ein paar Stunden Schlaf ihm mittlerweile mehr als gelegen kämen. Schließlich war er, seit er im Reich dieser Freaks gelandet war, nur selten zur Ruhe kommen, und die wahrscheinlich kurze Zeitspanne, in der Marilyns Schlafmittel gewirkt hatte, war nicht sonderlich erholsam gewesen. Ohne länger darüber nachzudenken legte er sich auf die Seite und merkte, kaum dass er die Augen geschlossen hatte, wie sämtliche Geräusche um ihn herum nach und nach verstummten, bis es vollkommen ruhig war. Angenehm ruhig...
 

Ein plötzlicher Schrei, unmittelbar gefolgt von einem weiteren, riss ihn aus der wundervollen Stille, die er bis gerade eben noch so genossen hatte, und machte seine naive Illusion, endlich einmal ungestört durchschlafen zu können, gnadenlos zunichte.
 

Reflexartig richtete Alice sich auf, undeutlich etwas nuschelnd, das er selbst nicht einmal verstand, und verspürte einige Sekunden lang nichts als den Wunsch, sich ein Grab zu schaufeln, in das er sich auf ewig zurückziehen konnte. Dann blinzelte er irritiert in Richtung der panischen Stimmen und brauchte einen Moment, um das Bild vor seinen Augen zu verarbeiten.
 

Der Weiße Ritter... ertappt dreinschauend auf dem Boden kniend und über den Schwarzen Ritter gelehnt, der ihn wiederum erschrocken anstarrte, so als wäre er selbst eben erst aufgewacht.
 

„... Was, um alles in dieser verfluchten Welt, veranstaltet ihr hier? Es ist mitten in der Nacht...!“
 

„Das wüsste ich auch gerne“, stimmte Fish zu, der mit einer Gießkanne vor den beiden stand und sie verständnislos musterte.
 

„Ich auch...!“, fügte Ozzy hörbar erwartungsvoll an seinen Rivalen gewandt hinzu, der ihn kurz verdattert ansah, bevor er sich überstürzt aus seiner äußerst fragwürdigen Position erhob und abwehrend mit den Armen vor sich herumfuchtelte.
 

„Das... ääh... das ist ein Missverständnis!“, war alles, was er verdächtig nervös hervorbrachte, während er subtil zu der schwarzen Sau herüberschielte, die ihrem Besitzer die bisherige Nacht über als Kissen gedient hatte und nun demonstrativ grunzend aufgesprungen war. Alice konnte sich nicht entscheiden, ob sie eher beunruhigt oder hungrig aussah.
 

„Ein Missverständnis...? Was hattet Ihr denn bitte vor?“ Mit einem Mal hielt Ozzy den Atem an, so als hätte er den Plan des Anderen schlagartig durchschaut, und machte ein entsetztes Gesicht. „Ihr... Ihr wolltet Euch an Black Beauty vergehen...!“
 

„Wie bitte?! Das ist ja unerhört! Wie kommt Ihr nur auf eine dermaßen absurde Idee?!“
 

„Ganz einfach: Ihr habt Euch einsam gefühlt, weil niemand da war, der Eure nicht vorhandene Schönheit bewundern konnte... und da Ihr weit und breit keine Frau gefunden habt, die Euch Gesellschaft leisten könnte, ist Euch sofort meine gute und treue Weggefährtin in den Sinn gekommen! Ihr müsst schon zugeben... sie ist ein überaus liebreizendes Schwein, nicht wahr?“
 

Liebreizend? Pah, da muss ich lachen! Das kann sie überhaupt nicht sein, Ihr paranoides Abbild eines Ritters... Dafür ähnelt sie Euch viel zu sehr.“
 

„Hast du das gehört, Black Beauty? Er findet, wir sehen uns ähnlich!“
 

Wortlos verfolgte Alice das Schauspiel, das ihn zu solch einer unmenschlichen Stunde – wie spät genau es auch immer sein mochte – vom Schlafen abhielt. Ein wenig fühlte er sich an eine schlechte Talkshow erinnert, aus der er nicht entkommen konnte. Es hätte beinahe unterhaltsam sein können, wenn es nur nicht so traurig gewesen wäre.
 

„Nun aber raus mit der Sprache... Was macht Ihr hier, Weißer Ritter?“, meldete sich auch Fish wieder zu Wort. „Ich war höchstens fünf Minuten weg, um nach den Blumen zu schauen, und dann sehe ich das! Hat die Uhr etwa schon Ritternacht geschlagen?“
 

„Haha, Ritternacht, hahaha!“, kicherte Ozzy und räusperte sich, als er merkte, dass er der Einzige war, der sich halbtot lachte. Der Bon Jovi-Verschnitt blickte ihn strafend an, ehe er einen Versuch startete, seine Situation schonend zu erklären.
 

„Tja, also... Das war so“, begann er zögerlich. „Ich habe lange nachgedacht und bin zu dem Schluss gekommen, dass ich etwas tun muss, um meine Ehre wiederherzustellen, die... über die Jahre hinweg bedauerlicherweise aus verschiedenen Gründen verloren gegangen ist. Genauso wie mein edles Ross, das Eure angeblich so liebreizende Sau damals verspeist hat!“ Ozzy schien etwas zu seiner Verteidigung sagen zu wollen, schaffte es jedoch nicht, Bon Jovi in seiner tragischen Rede zu unterbrechen. „Ich kam also zu der Ansicht, dass es doch ein guter Einstieg in mein neues Dasein als Respektsperson wäre, wenn ich... Euer Schwein auf unbestimmte Zeit entführen und es Euch somit richtig heimzahlen würde. Aber ganz bestimmt hatte ich nicht vor, der Sau irgendetwas zu tun! Ich bin ja kein Unmensch... Vielleicht hätte ich sie Euch sogar zurückgegeben, wenn Ihr mich ein bisschen angefleht hättet.“
 

„Das soll wohl ein Witz sein...! Ihr wolltet Black Beauty verschleppen? Was hat sie Euch denn getan?“, warf Ritterchen Schwarz kleinlaut ein. Ritterchen Weiß sah ihn entrüstet an, bevor er seinen Erzfeind wild gestikulierend und mit viel zu präsenter Stimme ankeifte.
 

„Hört Ihr mir eigentlich jemals in diesem Leben zu...? Argh!! Ich habe es satt! All die ewigen Erniedrigungen... Aber damit ist jetzt Schluss! Das lasse ich mir nicht länger gefallen, weder von Euch noch von... unserer elenden Gruselkönigin!“
 

„Ähem...!“, machte Alice nach einer Weile des Schweigens vernehmlich auf sich aufmerksam. „Ich will Euch ja nicht aufhalten, wenn Ihr Eurem wahrscheinlich tief verankerten Ärger Luft machen wollt, ehrenwerter Weißer Ritter... Aber könntet Ihr das vielleicht auf später verschieben? Wenn die 'elende Gruselkönigin' uns hört sieht es nicht nur für Euch sondern für uns alle schlecht aus...“
 

„Was für ein fürchterliches Pech!“, ertönte urplötzlich eine wohlbekannte Stimme, die ihm unweigerlich einen kalten Schauer einbrachte. „Sie hat euch bereits gehört!“
 

Wie die personifizierte Bedrohung, die in der Ecke eines leisen Albtraums lauert, näherte sich Marilyn ihren Schlafplätzen, zu seiner Linken Wache Nummer Eins, die Alice noch immer nicht richtig zuordnen konnte – möglicherweise weil ihr Äußeres nicht so extrem hervorstach wie es beispielsweise bei Wache Nummer Zwei oder Ozzy der Fall war –, und zu seiner Rechten der übrige Typ, dem er bisher nicht viel Beachtung geschenkt hatte – im Gegensatz zu jetzt, denn anstatt des eher unauffälligen Outfits, das er zuletzt getragen hatte, erschien er nun in einer beeindruckenden dunklen Uniform. Offenbar General Floyd.
 

„Eure Hoheit...!“, platzte es schrill aus Bon Jovi heraus, als er sich hektisch in Richtung der Herzkönigin wandte, die, zu seinem eigenen Erstaunen, selbst um diese Uhrzeit in voller Montur bei ihnen auftauchte . „Ich, äh... das, was ich da eben gesagt habe... das war nur-“
 

„Ruhe jetzt!“, herrschte sie ihn an. „Ich kann dein Gestammel nicht mehr hören!“
 

„V-Verzeiht mir, Majestät...“, brachte er nicht weniger jämmerlich hervor. Im Gegenteil. Marilyn sah ihn streng an, eine Hand in die Hüfte gestemmt, in dasselbe schwarzrote Kleid gehüllt wie den kompletten vergangenen Tag über.
 

„Komm her.“
 

„... Was?“
 

„Ich habe gesagt, du sollst deinen ritterlichen Hintern hierher bewegen, und zwar sofort!“, wiederholte er energisch, was den sonst so selbstbewussten Weißen Ritter dazu veranlasste, ängstlich einen Schritt zurückzuweichen, bevor er Marilyns Aufforderung schließlich nachkam und widerwillig auf ihn zutrat.
 

„Und jetzt verrate mir eines, mein lieber Ritter... Was hat dich dazu verleitet, genau jetzt, wo jeder vernünftige Mensch, der nicht gerade eine unfähige Wache ist, schläft, meinen Schlossgarten zu betreten und derartigen Lärm zu machen?“
 

„Nun... das war... Eigentlich wollte ich bloß-“
 

„Gibt es einen wichtigen Grund, der dich dazu gezwungen hat, herzukommen?“
 

„N-Nein...“
 

„Kannst du dich daran erinnern, dass ich dich darum gebeten habe, herzukommen?“
 

„Nein, Majestät...“
 

„Richtig. Das habe ich auch nicht. Und weißt du, was das bedeutet? Das bedeutet, dass du hier nichts verloren hast. Nicht mehr und nicht weniger“, entgegnete Marilyn und setzte einen nachdenklichen Blick auf, ehe er mit einem unheimlichen Grinsen weitersprach. „Weißt du was? Da du anscheinend zu kopflos bist, um meine gewöhnlichen Strafen zu verinnerlichen, glaube ich, dass ich dieses Mal mit härteren Mitteln aufwarten muss. Apropos 'kopflos'... Wäre das nicht ein gutes Stichwort?“
 

Entgeistert starrte der Weiße Ritter seine verhasste Königin an, die mit einem herrisch befohlenen „Festnehmen!“ dafür sorgte, dass Wache Nummer Eins und General Floyd ihn umgehend am Flüchten hinderten. Unsicher, ob das wirklich deren Ernst war, beobachtete Alice das Szenario nun doch ein wenig mitleidig und fassungslos darüber, wie unsagbar kaltherzig sich Marilyn gegenüber seinen Untergebenen doch zeigen konnte.
 

„Bitte, Eure Majestät...! Das könnt Ihr nicht machen!“, schaltete sich Ozzy dazwischen, offenbar ebenfalls schockiert über die Skrupellosigkeit seiner Königin. „Ich gebe Euch ja Recht, dass sein hochgestochenes Gerede nur schwer zu ertragen ist, aber... das, was Ihr da vorhabt... Ist das nicht etwas zu hart?“
 

„Du, Schwarzer Ritter, solltest dich gepflegt zurückhalten!“, meldete sich nun auch General Floyd zu Wort – das erste Mal, das er ihn etwas sagen hörte. „Denkst du, ich sehe nicht, wie dilettantisch du mit Black Beauty umgehst? Ich habe dir mein kostbares Tier nicht zum Geschenk gemacht, damit du es wie einen Schoßhund behandelst! Tausendmal habe ich es dir schon gesagt: Schweine gehören in die Luft und nicht auf den Boden!“
 

„Das habt Ihr erwähnt, ja... Aber ehrlich gesagt, General, macht Black Beauty auf mich den Eindruck, als würde sie sich... nun ja, auf dem Boden viel wohler fühlen!“
 

„Du hast sie ja auch noch nie in ihrer natürlichen Umgebung erlebt! Wenn du wüsstest, wie glücklich sie ist, wenn sie sich frei in den Lüften entfalten kann, würdest du nicht so daherreden.“
 

„... Entschuldigt, aber würdet ihr eure Schweine-Gespräche vielleicht wann anders fortführen? Denkt ihr nicht, dass es gerade weitaus Wichtigeres gibt?“, unterbrach Alice die absurden Uneinigkeiten der beiden rasch und warf einen bedeutsamen Blick auf den Weißen Ritter, der diesen mit verzweifelter Miene erwiderte, während er noch immer ziemlich grob von den königlichen Bediensteten festgehalten wurde. „Ich muss Ozz-... dem Schwarzen Ritter zustimmen. Ich kann diesen Kerl da zwar nicht übermäßig gut leiden und kann voll und ganz verstehen, dass er Euch auf die Nerven geht, Majestät, aber ihn deswegen gleich umbringen?“ Unpassenderweise musste er ein wenig lachen, als er einen nicht ganz ernst gemeinten Vorschlag aussprach. „Wenn Ihr Euren Zorn schon an jemandem auslassen wollt, dann nehmt doch mich. Ich bin es gewohnt, geköpft zu werden.“
 

„Wie kannst du das gewohnt sein? Eine Enthauptung erlebt man für gewöhnlich nur einmal...!“, erwiderte Marilyn mit einem Unterton, der ihm nicht recht gefiel.
 

„Ich habe so meine Methoden“, gab er möglichst unbeeindruckt zurück und blickte sich in der Runde um. Fish schien das Desaster aus sicherer Entfernung zu beobachten, Charlie war, was ihm jetzt erst bewusst wurde, bereits seit Längerem nicht mehr hier. Wo die Schlange sich schon wieder herumtrieb war ihm jedoch schleierhaft. „Nichtsdestotrotz... Selbst wenn Ihr die Herrscherin über das Wunderland seid und alle Macht der Welt habt, berechtigt Euch das nicht dazu, leichtfertig über das Leben Anderer zu entscheiden. Der Schwarze Ritter ist meiner Meinung und ich bin sicher, Fish ist es auch.“
 

„Fish? Wer ist Fish?“, lachte die Herzkönigin dunkel, ehe sie mit einem latent irren Gesichtsausdruck zwischen ihm und dem Narren hin und her schielte. „Ach, den nutzlosen Spaßvogel, der so auffallend unbeteiligt hinter dir steht, meinst du? Diesen wahnsinnig witzigen Taugenichts, der mir jeden Tag den loyalen Hofnarren vorspielt, nur um mich dann eines Nachts schamlos zu hintergehen?“
 

„Ich bin untröstlich, Eure Hoheit, ehrlich...!“, brachte sich Fish nun endlich auch in das Geschehen ein. „Aber Ihr müsst einsehen, dass Ihr ihn – Alice! – noch braucht und Ihr nicht riskieren solltet, ihn zu vergraulen, indem Ihr ihn einsperren lasst, Hoheit...“
 

„Gar nichts muss ich! Willst du mir befehlen, was ich zu tun habe?!“, donnerte sie, Fishs unsichere Erklärungsversuche eiskalt ignorierend. „Du brauchst dich nicht mehr bemühen, mich in irgendeiner Weise milder zu stimmen. Du bist hiermit entlassen! Ich will dich hier nicht mehr sehen, hast du verstanden?“
 

„Aber...! Ihr...“
 

„Geh jetzt! Ich brauche keinen Verräter auf meinem Hof! Erst recht keinen, der mir noch Vorhaltungen macht...!“
 

Bestürzt sah Alice dem Narren hinterher, als er irgendwann, nachdem er eine kleine Weile lang bloß sprachlos dagestanden und seine Herrin starr fixiert hatte, tatsächlich langsam auf den Irrgarten zuschritt und das Grundstück verließ. Das Letzte, was von ihm zu hören war, war das leise Klingeln seiner Glöckchen, bevor er endgültig von der Bildfläche verschwand.
 

Wann genau war die Geschichte, die sich hier abspielte und in die er so hoffnungslos verwickelt war, eigentlich zu einem derartigen Drama geworden?
 

Fish wurde entlassen, nur weil er ihm hatte helfen wollen... und um den Weißen Ritter stand es sogar noch wesentlich schlimmer. Was war es, das diese Königin zu einer solch gnadenlosen Kreatur gemach hatte?
 

Gewissermaßen ironisch, dachte Alice, dass ausgerechnet sie Herzkönigin genannt wurde, wo es, zumindest in diesem Moment, keine herzlosere Person gab, die ihm hätte einfallen wollen.
 

„Majestät! Wie sollen wir mit unserem Gefangenen verfahren?“, hörte er einen der beiden fragen, die Ritter Bon Jovi noch immer festhielten, der wiederum nur kaum merklich wimmernd an Ort und Stelle stand, offenbar darauf wartend, dass endlich offiziell über ihn gerichtet wurde.
 

„Nun... Wie ich bereits sagte, wird er...“, begann Marilyn, bedachte sein Opfer mit einem flüchtigen Blick und schaute dann zu ihm herüber, als Alice mit einem bittenden Ausdruck in seinen Augen versuchte, ihn dazu zu bewegen, sein Urteil noch einmal zu überdenken. Marilyn zögerte kurz. „Ach... was soll's! Werft ihn einfach in den Kerker! Hauptsache, er verschwindet aus meinem Sichtfeld...!“
 

Zwar fürs Erste erleichtert darüber, anscheinend doch keine feierliche Hinrichtung miterleben zu müssen, beschäftigte ihn dennoch wenig später der Gedanke, wie es jetzt weitergehen würde. Welche ungerechten Entscheidungen die scheinbar so unnahbare Herzkönigin noch fällen würde. Hatte er überhaupt einen Einfluss auf das, was sie in ihrem eigenen Königreich tat? Oder war es nicht im Grunde völlig egal, ob er hier war oder nicht? Am Ende würde sie doch ohnehin ihren Willen durchsetzen; wenn es sein musste mit Gewalt. Einfach weil sie es konnte.
 

„Ihn könnt ihr übrigens gleich mit in den Kerker stecken“, bemerkte sie beiläufig, an ihre persönlichen Leibwächter gerichtet, mit einer Handbewegung in Richtung des Schwarzen Ritters. „Ich habe für heute genug von irgendwelchen Rittern, die ihr unzumutbares Rumgekreische nicht unter Kontrolle bekommen.“
 

„Aber Majestät...!“, entfuhr es Ozzy beleidigt. „Ich soll in die Zelle? Mit dem da...?“
 

„Aha, so ist das also! Gerade setzt Ihr Euch noch aufopferungsvoll für mich ein, aber kaum dass Ihr Euch die Zelle mit mir teilen sollt, tut Ihr so, als wäre es die schrecklichste Strafe der Welt... Seid doch froh, dass Ihr nicht alleine hinein müsst!“, gab der Weiße Ritter schmollend an seinen Erzfeind gewandt zurück.
 

„Froh soll ich sein? Natürlich ist das eine Strafe... für jemanden, der vollkommen unschuldig ist!“
 

„Ihr könnt das Wort 'unschuldig' doch nicht einmal buchstabieren...“
 

„Schluss damit!“, rief Marilyn dazwischen, bevor einer der beiden einen weiteren Ton von sich geben konnte. „Das hält man ja im Kopf nicht aus! Ihr zwei seid wie ein altes Ehepaar... Vielleicht solltet ihr mal eine Partnertherapie in Erwägung ziehen, oder wie diese albernen Angelegenheiten sich auch nennen...! Wache Nummer Eins! General Floyd! Führt die beiden ab, damit sie ihre dämlichen Streitigkeiten endlich ausdiskutieren oder sich von mir aus auch zu Tode nerven können...! Mir soll es egal sein.“
 

Ein wenig missmutig sah Alice dabei zu, wie beide Ritter gleichzeitig ins Schloss gebracht wurden; Ozzy von der stets ernst dreinschauenden Wache, und Bon Jovi von dem geheimnisvollen General. Marilyn ging vermutlich davon aus, dass sie ohnehin keinen Widerstand leisten würden und es deshalb reichte, wenn sich jeweils einer seiner Diener um einen von ihnen beiden kümmerte. Und offenbar lag er damit richtig.
 

„Unsere Königin hat sich verändert. Es soll Zeiten gegeben haben, in denen sie eine sanftmütige und gutherzige Person war“, kamen ihm Fishs Worte wieder in den Sinn.
 

Wann soll das gewesen sein, dachte er, während er die Herrscherin des Wunderlandes ausgiebig musterte. An ihr war nicht ansatzweise etwas Sanftmütiges. Wie sollte er allein es schaffen, sie zur Vernunft zu bringen, damit sie wieder so werden würde wie früher? Nur weil er aus Gründen, die er noch immer nicht herausgefunden hatte, 'der Auserwählte' genannt wurde, sollte es an ihm liegen, die Komplikationen dieser irrsinnigen Welt geradezubiegen? Im Augenblick erschien ihm das schlicht wie eine unlösbare Aufgabe.
 

„Du siehst nachdenklich aus, Alice“, brach Marilyn das Schweigen irgendwann, und er registrierte, dass die Königin und er die Einzigen waren, die noch hier standen. Alle anderen waren gegangen.
 

„Ja, wisst Ihr... das bin ich auch“, gab er ruhig zurück und sah sein Gegenüber fest an, ohne sich von der Stelle zu bewegen. „Ich versuche zu begreifen, was in Eurer Vergangenheit geschehen sein muss, das Euch zu dem gemacht hat, was Ihr jetzt seid. Ihr wart nicht immer so, stimmt's? So... verbittert.“
 

Für den Bruchteil einer Sekunde glaubte er, dem Anderen so etwas wie Verwunderung anzusehen, dann schaute er mit leerem Blick zur Seite.
 

„Ihr wollt wohl nicht darüber sprechen, was? Kein Problem. Ich werde so lange hier stehen bleiben, bis Ihr mir sagt, was mit Euch los ist.“
 

„Reine Zeitverschwendung! Du... würdest es sowieso nicht verstehen...“, entgegnete Marilyn weniger kalt als er es erwartet hatte.
 

„Ich kann es auch nicht verstehen, wenn Ihr Euch ständig vor mir und allen anderen verschließt! Warum seid Ihr nicht einfach ein einziges Mal ehrlich zu mir anstatt mir ewig etwas vorzumachen? Ob Ihr es glaubt oder nicht, ich bin mir sicher, dass Ihr in Wahrheit nicht die grausame Person seid, die Ihr vorgebt zu sein...!“
 

„Es ist schön, dass du dir da so sicher bist. Ich selbst bin es nämlich nicht“, sagte die Königin in einem eigenartigen Tonfall, den er zuvor noch nicht bei ihr gehört hatte. Beinahe klang es, als besäße sie tatsächlich einen Hauch von Gefühlen, den sie selbst im Laufe der Zeit schon längst verdrängt hatte. „Wenn du glaubst, mich bereits so gut zu kennen, dass du mir sagen kannst, wer ich bin... dann finde ich das beeindruckend.“
 

Überrascht sah er ihr nach, als sie ihn nach kurzem Zögern alleine dort stehen ließ und ganz wie die anmutige Erscheinung, die sie war, langsamen Schrittes irgendwo in einem dunklen Winkel des Schlossgartens verschwand. Nahezu im selben Moment bemerkte Alice, wie die beiden Wächter zurückkehrten, nachdem sie anscheinend ihre Gefangenen in den Kerker geschafft hatten, und ihrer Herrin irritiert hinterherstarrten, nur um schließlich mit grimmigen Gesichtern auf ihn zuzutreten, so als wäre er für das alles verantwortlich.
 

„Du...!“, knurrte Wache Nummer Eins. „Hast du die Königin etwa verärgert?“
 

„Ich weiß bei Weitem nicht, wie Ihr darauf kommt. Ich habe überhaupt nichts gemacht und es läge mir absolut fern, die Königin absichtlich zu verärgern.“
 

„Oh, noch so ein armes Unschuldslamm, das 'überhaupt nichts gemacht' haben will“, seufzte General Floyd und trat ihm dann mit erhobenem Zeigefinger gegenüber. „Hör zu, mein Freund... Jeder ist auf seine eigene Weise schuldig. Dich eingeschlossen. Also antworte mir: Weshalb ist die Königin eben so dramatisch an uns vorbeigerauscht, ohne ein Wort zu sagen?“
 

„Weil sie nun mal eine Vorliebe für Dramatik hat. Und Ihr offenbar auch“, hätte Alice beinahe geantwortet, verkniff es sich jedoch rechtzeitig. In seiner jetzigen Situation käme das vermutlich nicht sonderlich gut an.
 

„Alles, was ich getan habe, ist, sie zu fragen, was mit ihr los ist“, antwortete er schließlich wahrheitsgemäß. „Ich wollte wissen, warum sie andauernd so böse und gleichgültig tut, sonst nichts. Ist das ein Verbrechen?“
 

Stille. Den Blicken der beiden nach zu urteilen beantwortete das seine Frage mit einem 'Ja'.
 

„Welch schwarze Nacht für uns... Dieser Einfaltspinsel stürzt uns alle in unser Verderben“, murmelte Wache Nummer Eins betreten, mit einem Gesicht, als hätte bereits sein letztes Stündlein geschlagen. „Der Königin derart nahezutreten... Böse... Ja, ein böses Ende wird es mit Sicherheit geben, wenn das so weitergeht...!“
 

„Sie hat nicht-“
 

„Schweig!“, unterbrach die Wache ihn schroff. „Wenn du nicht aufhörst, dich in Angelegenheiten einzumischen, die dich nichts angehen, wirst du uns allen den Tod bringen! Du hast ja keine Ahnung von unserer Königin... Wer bist du, dass du es wagst, ihre Handlungen in Frage zu stellen?!“
 

„Jetzt reicht es mir! Das Ganze geht mich sehr wohl etwas an! Mir ist es sowas von egal, ob ihr vor eurer ach so gefürchteten Herrscherin rumkriecht wie irgendwelche Insekten... Sie ist ein Mensch, genau wie ihr anderen auch! Bin ich denn hier der Einzige, der noch einen Funken Selbstachtung hat?“, erwiderte Alice aufgebracht, ging demonstrativ an dem entsetzten Wachmann vorbei und drehte sich schließlich noch einmal zu ihm um. „Ich glaube, ihr seid diejenigen, die keine Ahnung von ihrer Königin haben... und nicht ich. Und im Übrigen werde ich sie jetzt suchen und mit ihr reden – ob es euch passt oder nicht!“
 

„Bist du lebensmüde? Das-“
 

„Ist gut. Lass ihn gehen“, hörte er General Floyd ruhig zu seinem Kollegen sagen. Ganz zu seinem Erstaunen schien er ihn nicht weiterhin aufhalten zu wollen. Gut. Sollte ihm nur recht sein. Sich mit den verblendeten Dienern dieses Hofes anzulegen war ohnehin sinnlos wie eh und je.
 

Ohne genau zu wissen, wohin er überhaupt ging, lief Alice durch den, wie ihm jetzt allzu bewusst wurde, wirklich riesigen Schlossgarten, bemüht, trotz der Dunkelheit niemanden zu übersehen. Wobei es so dunkel eigentlich gar nicht einmal war. Die unzähligen kleinen Laternen beleuchteten den Weg mehr als ausreichend, um sich auch nachts zurechtzufinden – sofern man sich hier auskannte –, und außerdem hatte sich der Himmel über dem Anwesen mittlerweile merklich erhellt. Möglicherweise war es bereits nicht mehr lange hin, bis die Sonne aufging.
 

Aus irgendeinem Grund konnte er sich nicht im Entferntesten vorstellen, wie lange er inzwischen schon ziellos durch den königlichen Garten gestreift war, als er nach einer Weile tatsächlich glaubte, so skurril es auch klingen mochte, das Ende erreicht zu haben. Jedoch nicht bloß das Ende dieses Grundstückes. Nein, das Ende dieser Welt.
 

Es waren keine Bäume und Sträucher dort, die den Garten von dem umliegenden Teil des Landes abgrenzten. Es gab auch keinen Zaun. Nichts. Dort war schlicht und einfach nichts.
 

Und ganz am Rande des Abgrundes zur unendlichen Leere sah er sie stehen, den Blick in die Ferne gerichtet und still wie eine Statue – die Herzkönigin. Wortlos ging er auf sie zu, nicht sicher, ob sie ihn überhaupt bemerkte. Allerdings klärte sich diese Frage, als sie ihn, ohne den Blick von dem gigantischen Nichts abzuwenden, mit leiser Stimme ansprach.
 

„Nett, dass du gekommen bist, Alice“, sagte sie. „Willst du mir etwa freiwillig Gesellschaft leisten?“
 

Ein wenig schuldbewusst hielt er inne und redete sich ein, dass sie nicht gerade viel dafür getan hatte, den Eindruck einer vertrauenswürdigen Person zu erwecken, der man gerne Gesellschaft leistete, schritt schließlich aber doch die letzten wenigen Meter auf den eigenartigen Abgrund zu, als er zu dem Schluss kam, dass diese Gedanken zu keinem Ergebnis führten.
 

„Ich bin gekommen, weil... alles andere mir falsch erschien“, antwortete er knapp. Die Königin lächelte.
 

„Weißt du, wo du hier bist?“, fragte sie und sah ihn kurz an, ehe sie wieder geradeaus blickte. „Was das hier für ein Ort ist...?“
 

„Nein“, gab er zurück, verwirrt und gleichermaßen fasziniert von dem unerwarteten Anblick. „Ich kann es nur vermuten, aber wissen tue ich es nicht.“
 

„Das hier“, sagte Marilyn seltsam stolz, „ist die Grenze des Wunderlandes. Der Punkt, an dem es endet.“ Es wirkte schon beinahe unheimlich melancholisch, als er mit gesenktem Blick weitersprach. „Ich liebe diesen Ort. Und genauso sehr wie ich ihn liebe hasse ich ihn.“
 

Alice äußerte sich nicht. Viel zu surreal war dieses Szenario, als dass ihm auf die Schnelle eine passende Antwort eingefallen wäre. Marilyn streckte eine Hand aus und lehnte sich ein Stück nach vorne.
 

„Passt auf...! Ihr fallt noch da runter...“, hatte er bereits gesagt, bevor er darüber hatte nachdenken können. Ihre Hoheit grinste schmal.
 

„Machst du dir Sorgen um mich?“
 

„Naja, das ist ja wohl... Ich meine, Euer Land braucht Euch noch, nicht wahr?“, entgegnete Alice, bedacht, bloß nichts Falsches zu sagen. Allerdings hatte er sofort das Gefühl, genau das getan zu haben – wenngleich auch Marilyn sich nichts anmerken ließ und genauso ausdruckslos in die Leere starrte wie zuvor.
 

„... Ich kann hier übrigens nicht herunterfallen. Es ist lange her, da habe ich diese Grenze zur Sicherheit mit einer Barierre versehen. Du kannst sie optisch nicht wahrnehmen, aber sie ist da.“
 

Wie zur Bestätigung seiner Erklärung tastete er die Luft ab und schien, wie es aussah, in der Tat auf einen Widerstand zu stoßen.
 

„Fühl selbst einmal.“
 

Alice zögerte kurz, bevor er der Aufforderung seines Gegenübers mit einer gewissen Vorsicht nachkam und sich selbst von der Sicherheit dieses merkwürdigen Ortes überzeugte, indem er sich dem Rand noch ein Stück weit näherte und das gleiche tat wie zuvor Marilyn.
 

„Ja, ich merke es. Da ist eine Wand.“
 

„Richtig. Aber sie ist nur da, solange ich es will. Ich kann sie jederzeit mit nur einem einzigen Blinzeln verschwinden lassen. Siehst du?“
 

Kaum dass er seine Hand von der Stelle genommen hatte, schien die Luft um ihn herum sich verändert zu haben. Das gigantische Bild, das sich vor ihm erstreckte, der Ausblick in das unendliche Nichts... alles war klarer geworden. Vor einem winzigen Augenblick noch abgetrennt durch eine unsichtbare Glasscheibe gab es nun absolut nichts, das zwischen ihm und der Leere war. Er stand vor dem Ende der Welt.
 

„Geh näher ran“, sagte Marilyn.
 

„Noch näher? Ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist...“
 

„Wenn du dich einfach nur dort hinstellst und dein Gleichgewicht unter Kontrolle hast, kann nichts passieren. Vertrau mir. Du wirst es nicht bereuen.“
 

Unsicher, weshalb Marilyn ausgerechnet so etwas von ihm verlangen sollte, blieb er einige Sekunden lang bloß reglos stehen, machte jedoch – aus Neugierde oder warum auch immer – wenig später einen Schritt auf den erschreckenden Abgrund zu und dann einen weiteren, bis er schließlich so nahe am Rand stand, dass es beinahe war, als würde er schweben. Vielleicht lag es am Schlafmangel oder an seinem Zeitempfinden, das sich, seitdem er hier war, zunehmend verabschiedet hatte. Aber in diesem Moment schien es, als würde die Zeit stillstehen; als wäre alles, was hinter ihm lag, verblasst, um ihm jetzt, da er es bis hierher geschafft hatte, zu offenbaren, dass er gefunden hatte, wonach er seit einer Ewigkeit suchte. Es war wie eine Erinnerung, die nach langer Zeit in sein Bewusstsein zurückkehrte. Anfangs noch schwach wurde sie immer deutlicher – obwohl er beim besten Willen nicht hätte benennen können, was genau sie bedeutete.
 

Er wusste, dass Marilyn hinter ihm war und dass er ihn mühelos hätte herunterstoßen können, wäre es in seinem Sinne gewesen. Es hätte beängstigend sein können, aber das war es nicht. Es war ein Eindruck, den er nicht beschreiben konnte, weil es dafür keine Worte gab.
 

„Wie gefällt es dir jetzt? So einen Ausblick hast du noch nicht gesehen, nicht wahr...?“, vernahm er vage Marilyns Stimme, und er hatte Recht. So etwas hatte er wirklich noch nie gesehen. „Schau nach unten. Siehst du das kleine Licht, das ganz langsam näher kommt? Das ist die Sonne.“
 

„Die Sonne?“
 

„Genau. Jeden Morgen erscheint sie hier, an dieser Stelle, bevor sie sich in all ihrer majestätischen Pracht über meinem Schloss, meinem Garten und über dem ganzen Land erhebt... zumindest fast jeden Morgen“, erklärte Marilyn ruhig, während er abwesenden Blickes neben ihn trat. „Aber wenn sie aufgeht... dann taucht sie diesen Ort in Wärme und bringt etwas mit sich, das niemand anders mir auch nur ansatzweise geben kann. Deshalb mag ich die Sonne.“
 

Alice hörte zu, was Marilyn ihm erzählte, über die Sonne und den Himmel und den kurzen Moment, wenn die Nacht in den nächsten Tag überging, doch er war sich nicht sicher, ob es Sinn ergab. Er sprach von der unvergleichlichen Schönheit, wenn die Sonne kurz vor dem Aufgang stand, und von Farben. Farben konnte er keine erkennen, aber das kleine Licht, das wie ein beleuchtetes Flugzeug in der Luft hing und sich schneller als eine Sonne es überlicherweise tun sollte in ihre Richtung bewegte, sah er mehr als deutlich. Rötlich glühend stieg es in der blaugrauen Atmosphäre empor, seltsam greifbar und doch unwirklich wie ein sonderbarer Traum. Es hatte etwas irgendwie Trauriges an sich.
 

„Darf ich Euch eine Frage stellen...?“, sagte Alice, der Königin schräg zugewandt, die daraufhin keinen Einwand äußerte. „Als ich Euch das erste Mal begegnet bin... da wolltet Ihr etwas sagen. 'Du bist...', und dann habt Ihr nicht weitergesprochen.“ Seine Anspielung schien, wie er es erwartet hatte, etwas in ihr auszulösen. Sie wirkte nachdenklich. „Was habt Ihr damit gemeint? Ich respektiere es, wenn Ihr Geheimnisse habt, aber... das würde ich wirklich gern wissen.“
 

Eine Weile lang sah Marilyn schweigend an ihm vorbei, dann trat er einen Schritt zurück und ließ sich im Gras nieder, die Beine über der Klippe übereinandergeschlagen und abwartend zu ihm aufschauend.
 

„Setz dich“, sagte er, also setzte er sich neben ihn, erwartungsvoller als er es von sich selbst zunächst angenommen hätte, und sah Marilyn an, mit einem Gefühl, als wäre all das – seine Umgebung, dieser Moment und die Königin selbst – viel vertrauter als es ihm bereits jetzt hätte sein können.
 

„Vor vielen Jahren“, begann Marilyn leise, „gab es hier eine... Person, die ich sehr mochte. So sehr, dass ich alles mit ihr geteilt habe. Wirklich alles. Wir schienen füreinander geschaffen worden zu sein; sie war mein Gegenstück, das ich an meiner Seite brauchte, und umgekehrt. Jeden einzelnen Tag habe ich mit ihr verbracht, und sie hat mir versprochen, dass wir auch den Rest unserer Tage miteinander verbringen würden. Dass wir für immer zusammen sein würden.“ Er machte eine kurze Pause, ehe er, emotionsloser als er es bis eben noch gewesen war, fortfuhr. „... Wie auch immer. Sie hat ihr Versprechen gebrochen. Es passierte ganz langsam, dass sie sich veränderte. Ganz langsam hat sie mehr und mehr den Verstand verloren, hat, ohne es zu merken, unser kostbares Glück zerstört, und schließlich... hat sie höchstpersönlich ihr Elend, unser Elend, beendet. Sie hat sich nicht einmal verabschiedet, bevor sie gegangen ist... bevor sie sich in die Leere gestürzt hat.“
 

Eine Weile lang war es absolut still. Alice schaute dorthin, wo der Horizont gewesen wäre, hätte in der Ferne etwas wie ein Boden existiert. Die Sonne war inzwischen wesentlich besser zu erkennen als wenige Minuten zuvor und es sah so aus, als würde sich ein schwacher Schein um sie herum abzeichnen.
 

„Das... tut mir leid“, sagte er, auch wenn es vermutlich keine große Hilfe war. Ganz bestimmt nicht. „Ich kann Euch verstehen. So einen Verlust zu verkraften ist sicher nicht leicht... Aber... versteht mich nicht falsch, aber inwiefern habe ausgerechnet ich etwas damit... zu tun?“
 

„Du siehst aus wie sie.“
 

Lange verlor keiner von ihnen auch nur ein einziges Wort. Nichts schien im Augenblick richtig zu sein, und irgendwann hatte sich dieser Augenblick, in dem scheinbar nichts zusammenpasste, verflüchtigt, und ihm wurde nach und nach klarer, weshalb alles so war wie es war. Ihr erstes Aufeinandertreffen. Die Tatsache, dass Marilyn ihn nicht gehen lassen wollte. Es erklärte so vieles.

Unterbewusst hatte er damit gerechnet, schon bevor er die Antwort ausgesprochen hatte. Bloß was es für ihn bedeuten würde, das wusste er nicht.
 

Erneut blickte Alice auf den Horizont, den es nicht gab. Es musste bereits eine Ewigkeit her sein, dass sie sich hier niedergelassen hatten. Der kleine Lichtpunkt ähnelte nun vielmehr einer brennenden Kugel, die den Himmel überall dort, wo sie ihn berührte, in Flammen aufgehen ließ. Ob diese Sonne genauso war wie die, die er irgendwann einmal an einem anderen Ort gekannt hatte? Ob es eine echte Sonne war?
 

Ja, dachte er mit einem Mal seltsam überzeugt. Sie war echt. Sie war genauso echt wie auch der Rest dieser Welt es war.
 

Stück für Stück färbte sie den Himmel neu, und irgendwoher wusste er, dass es die Farben waren, von denen Marilyn gesprochen hatte; die Farben, die nur in dem kurzen Moment zu sehen waren, wenn die Nacht in den nächsten Tag überging. Es waren dieselben Farben, die ihn draußen hinter dem Irrgarten und dem großen Tor die ganze Zeit über begleitet hatten, auf seinem Weg zum Schloss – und doch waren sie anders. Wie bei einem unfertigen Gemälde, dessen Konturen ineinander verschwammen, erfüllten sie die Luft, brannten gleißend hell am Firmament, nur um in der nächsten Sekunde zu verglühen und wieder aufzuflammen, bedrohlich, fast beängstigend, und zur selben Zeit unvergleichlich schön. Schön wie nichts anderes, was er bisher gesehen hatte.
 

Stille. Noch immer wagte es niemand, die Ruhe zu stören. Alice warf einen Blick neben sich, versuchend zu erkennen, was in Marilyn vorging. Die Königin saß dort, puppenhaft – wie so oft –, aus halb geöffneten Augen das Schauspiel beobachtend, und leicht, ganz leicht glaubte er, sie lächeln zu sehen. Sie saß oft hier, genauso wie jetzt, unter dem majestätischen Sonnenaufgang und über der klaffenden Tiefe, die hinter der Grenze lauerte. Es war ihm bewusst, dass sie das tat, so als wäre es etwas Banales. Alltägliches. Als wäre es schon immer so gewesen.
 

„Habt Ihr niemals Angst, wenn Ihr hier seid?“, fragte er leise, obwohl er selbst nicht wusste, aus welchem Grund. „Dass die Sonne eines Tages ihren eigenen Willen entwickeln und zu nahe kommen könnte? Oder dass etwas anderes passieren könnte?“
 

Marilyn wandte sich langsam zu ihm um, mit einem Ausdruck, als wäre er so ausgeglichen wie seit Langem nicht mehr.
 

„Sie hat mich das auch einmal gefragt“, sagte er. „Und meine Antwort ist noch immer die gleiche: Nein.“ Andächtig erhob er sich, mit einer beiläufigen Geste sein Kleid glatt streichend, und blickte mit einem tatsächlich ehrlichen Lächeln zu ihm herunter. „Solange die Sonne da ist und aufgeht... habe ich einen Grund, froh zu sein. Und das ist alles was zählt.“
 

Alice sah ihm hinterher, als er gemächlichen Schrittes an ihm vorbeiging und sich schließlich, bevor er im Schloss verschwand, noch einmal zu ihm umdrehte, mit den Worten „Danke, Alice. Danke für alles. Meine Türen stehen dir jederzeit offen, wenn du dich entschließen solltest, reinzukommen“. Dann ließ die Königin ihn alleine zurück und er überlegte nur kurz, bis er zu dem Schluss kam, dass er ihr irgendwann folgen würde, irgendwann, wenn der nächste Tag angebrochen und es hell war. Bis dahin saß er an der Klippe, nur er am Ende der Welt, und wartete, bis die Farben verblassten.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  Sky-
2016-05-09T12:00:33+00:00 09.05.2016 14:00
Schweine gehören in die Luft und nicht auf den Boden!

An dieser Stelle hab ich mich so was von weggeschmissen. Geiles Argument, dem kann man nichts entgegensetzen. Aber die Szene an der Klippe war sehr interessant. Erinnerte mich ein wenig an meine Kindheitslektüre "Die Unendliche Geschichte". Und die hatte schon was ziemlich tiefsinniges.
Antwort von:  Drachenprinz
09.05.2016 16:42
*lol* Natürlich gehören Schweine in die Luft. Das weiß doch jedes Kind, oder? XD Ich muss aber zugeben, dass das nicht komplett meine eigene Idee/Erfindung war, sondern dass mich das Plattencover von 'Animals' (einem Pink Floyd-Album) dazu inspiriert hat... weil da eben Fotos von einem fliegenden Schwein zu sehen sind. ^^
Und dass du meine Fanfic hier mehr oder weniger mit 'Die Unendliche Geschichte' vergleichst, ist mal ein megageiles Kompliment. Dankeschön! :D


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