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Last Desire 10

von

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Alte Erinnerung

Es war schon dunkel und der Schnee fiel dicht. Dennoch war es im Haus gut geheizt und es herrschte eine ausgelassene Stimmung. Watari saß mit seinen Freunden und Geschäftskollegen gemütlich im Wohnzimmer und unterhielt sich mit ihnen bei einem Glas Cognac über gute alte Zeiten. Zu Gast waren hochrangige Leute. Zum einen der Vorstand der Londoner Universitätsklinik Dr. Duncan, dann sein alter Freund Malcolm McFinnigan, mit dem er bereits zur Uni gegangen war und auch einige andere Freunde, die er durch seine zahlreichen Projekte kennen gelernt hatte. „Mensch Quillsh, du hast es dir hier ja richtig schön gemacht“, rief McFinnigan mit lauter Stimme und lachte. Er rauchte schon die zweite Zigarre und es würde auch sicherlich nicht die letzte sein. Der gebürtige Ire war bekannter Kettenraucher und das, obwohl er Asthmatiker war. Aber er war ein ebenso dickköpfiger wie unbelehrbarer Mann in den 50ern, der sich weder von seinen Freunden, noch von seinen Ärzten Ratschläge geben ließ. Ein herzliches Lachen erfüllte den Raum. „Ich muss schon sagen, dass du wirklich hervorragende Arbeit geleistet hast. Nicht nur, dass du dieses Haus so wunderbar eingerichtet hast, deine Tochter Alice ist auch noch die jüngste Chefärztin, die die Universitätsklinik je hatte. Sie leistet hervorragende Arbeit und du kannst wirklich stolz auf sie sein. Und sie ist nicht nur intelligent, sie wird auch jeden Tag immer schöner.“

„Ja, sie hat die Schönheit ihrer Mutter geerbt.“

„Und die Intelligenz von ihrem Vater“, ergänzte Dr. Duncan und stimmte in das herzliche Lachen von McFinnigan ein. „Deine Alice ist doch wirklich der Traum jeder Eltern. Sie ist intelligent, ehrgeizig und wunderschön. Teresa wäre sicherlich stolz auf sie, wenn sie noch hier wäre. Möge sie in Frieden ruhen. Mein Sohn schwärmt schon in den höchsten Tönen von ihr und ich könnte mir durchaus vorstellen, die beiden miteinander näher bekannt zu machen. Immerhin ist sie Chefärztin und mein Sohn Mitglied des Vorstands. Was hältst du davon? Eine Heirat zwischen ihr und Will würde für alle Parteien zum Vorteil gereicht werden. Alice säße direkt im Vorstand, mein Sohn hätte eine intelligente und schöne Frau aus gutem Hause. Wir beide müssten uns keine Sorgen um die Zukunft unserer Kinder machen und wir verstehen uns doch ohnehin wunderbar.“ Ja, dem konnte Watari eigentlich nicht viel entgegensetzen. Wie Dr. Duncan schon sagte: eine Verbindung zwischen Alice und Will wäre äußerst vorteilhaft und auch wenn er der Meinung war, dass auch Alice natürlich ein Recht darauf hatte, sich ihren Partner selbst auszusuchen, so konnte er doch zumindest den Vorschlag machen. Sie wäre sicherlich nicht abgeneigt. „Sag mal, mein Freund: wo ist deine Tochter denn?“ „Sie müsste eigentlich längst zurück sein. Ihre Schicht ist eigentlich bereits vorbei, aber wahrscheinlich hat sie wieder Überstunden gemacht und vergessen, mich anzurufen. Nun, es war ja auch viel los im Krankenhaus. Nachdem ihr die Entdeckung des Unborn-Phänomens gelungen ist, hat es einigen Wirbel gegeben und sie war deswegen kaum zuhause.“ „Sie sieht aber auch nicht ganz gesund aus“, bemerkte Dr. Duncan und genehmigte sich noch einen Schluck. „In letzter Zeit ist sie etwas unkonzentriert und außerdem recht blass und dünn ist sie auch geworden.“

„Vermutlich nur der Stress. Sie arbeitet eben sehr viel und ist sehr engagiert. Bei ihrer Zielstrebigkeit würde es mich nicht wundern, wenn sie bald Mitglied des Vorstands wird.“

„Nun mal langsam mit den jungen Pferden“, rief nun Professor Miltner, der ebenfalls zu der Runde dazugehörte. „Alice ist doch erst 26 Jahre alt. In ihrem Alter sind alle anderen noch an der Universität und sitzen über ihren Büchern. Selbst Assistenzärzte sind meist sieben Jahre älter. Lass sie doch erst mal etwas Erfahrung sammeln. Wer weiß, vielleicht ist sie als Chefärztin zufrieden und will gar nicht in den Vorstand.“

„Das kann ich mir nicht vorstellen“, erwiderte Watari kopfschüttelnd und erklärte „Alice ist sehr auf ihre Karriere konzentriert und sie hat selbst den Wunsch geäußert, eines Tages im Vorstand zu sitzen. Wenn sie zurückkommt, werden wir ihr ganz unverfänglich den Vorschlag unterbreiten, sich mal mit Will zu treffen. Sie wird sicherlich nicht abgeneigt sein.“

„Darauf trinken wir einen.“

„Ach McFinnigan, dir fällt doch immer ein Grund zum Trinken ein.“ Laut lachte die ganze Männerrunde und selten war die Stimmung so ausgelassen gewesen, wie an diesem 30. Dezember, dem letzten Tag vor Silvester. Schließlich fragte Professor Horatio, der für gewöhnlich ein klein wenig wortkarger war als die anderen „Feiern du und deine Tochter Silvester hier in der Villa?“ „Nein, sie will morgen mit Nastasja und Henry feiern gehen. Ich kann auch schlecht von ihr erwarten, dass sie jedes Jahr mit ihrem alten Herrn feiert. Sie hat ja auch ihren Freundeskreis und insbesondere Nastasja braucht jetzt auch ihre Freunde. Sie hat ja sonst keine Familie und nach ihrer Fehlgeburt ging es ihr schon schlecht genug. Sie hatte sich so auf das Kind gefreut und dann stirbt es einfach, bevor es zur Welt kommen kann. Nächtelang hat sie nur geweint und ist völlig abgemagert. Die Zeit mit Henry und Alice wird ihr auf jeden Fall gut tun und so kann Alice sie auch wieder ein wenig aufmuntern.“

„Vielleicht klappt es ja beim nächsten Mal“, rief Professor Miltner in die Runde. „Sie ist ja noch jung und es kann jeder Frau passieren. Eine Bekannte von mir hatte ebenfalls beim ersten Mal eine Fehlgeburt, aber beim zweiten Mal hat es dann doch geklappt und sie hat einen gesunden Sohn zur Welt gebracht.“ Sie saßen noch eine ganze Weile zusammen, lachten und redeten über die guten alten Zeiten. Dann schließlich hörten sie, wie die Haustür zugeschlagen wurde und zufrieden lächelte Watari. „Alice ist wohl von der Arbeit zurück. Ich geh sie eben holen.“ Damit erhob er sich und ging in Richtung Haustür, wo er auch schon Alice antraf. Sie trug einen Mantel, einen Stickschal und ihr Haar war zerzaust, was wahrscheinlich vom Wind herrührte. In ihrem pechschwarzen Haar und auf ihren Schultern lagen noch Schneeflocken und ihre Hände zitterten, auch ihre Augen waren gerötet. Sie war sehr blass im Gesicht und wirkte ein wenig neben der Spur. Wahrscheinlich hatte sie wieder einen schwierigen Patienten, dachte Watari und grüßte sie mit einer liebevollen Umarmung. „Schön, dass du wieder da bist, Alice. Warum legst du nicht deinen Mantel ab und kommst zu uns ins Wohnzimmer? Malcolm, Albert, Charles und ein paar andere Freunde von mir sind zu Besuch da und sie freuen sich sicherlich, wenn du dich zu uns setzt.“ Doch Alice wirkte völlig neben sich und ihre Hände hörten nicht auf zu zittern. Für andere hätte sie in diesem Moment verstört oder aufgewühlt gewirkt, doch das bemerkte Watari in diesem Moment nicht so wirklich, denn dazu hielt die gute Laune einfach zu sehr an. Er legte schließlich einen Arm um sie und wollte mit ihr ins Wohnzimmer gehen, doch sie blieb stehen und sagte mit etwas überhasteter Stimme „Nein, Vater. Ich muss… ich muss dir…“ „Das kannst du mir doch auch später erzählen. Sag doch wenigstens erst mal den anderen Guten Abend.“

„Aber es ist wichtig… ich… ich meine…“

„Später, Alice. Wir reden später darüber. Na komm, jetzt sei doch nicht so. Mensch, wie du zitterst. Du bist sicherlich völlig durchgefroren.“ Damit führte er sie ins Wohnzimmer und blieb vor der gemütlichen Runde stehen. „Wie ich schon gesagt habe: sie hat sicherlich nur wieder Überstunden machen müssen.“

„Deine Tochter kommt wirklich ganz nach ihrer Mutter“, bemerkte Dr. Horatio und hob sein Glas, genauso wie McFinnigan, der nur zustimmen konnte. „Wenn ich so zurückdenke, als du noch ein kleines Kind warst, Alice. Da hast du wirklich bezaubernd ausgesehen. Ich kann mir gut vorstellen, dass dein Zukünftiger der glücklichste Mann der Welt sein wird.“ „Da-danke…“, stammelte Alice und zwang sich zu einem Lächeln. Immer noch wirkte sie völlig durcheinander und sie wurde immer blasser. Sie war überhaupt nicht bei der Sache und hörte auch kaum zu, als das Gespräch der Herren fortgesetzt wurde. Erst als Dr. Duncan nach einer Weile wieder auf dieses spezielle Thema zu sprechen kam, da entwich ihr jegliche Gesichtsfarbe und sie sah schon fast erschrocken aus. „Was hältst du davon, dich mal mit meinem Sohn Will zu treffen, Alice? Er ist Mitglied des Vorstands und er könnte dir vielleicht behilflich sein, was deine Beförderung betrifft.“

„Was?“ fragte Alice und wirkte alles andere als begeistert, als sie das hörte. Viel eher klang es schon fast entsetzt. Watari hielt es für Schüchternheit und legte einen Arm um die Schultern seiner Tochter. „Alice, Will Duncan ist ein wirklich sympathischer junger Mann und würde sich sicherlich freuen, wenn ihr euch mal treffen könntet. Was hältst du davon?“ Alice sagte nichts, sie starrte ins Leere und es war schwer zu erkennen, was sie in diesem Moment dachte. Dann aber befreite sie sich von ihrem Vater und murmelte kurz „Entschuldigung, mir ist gerade nicht gut…“, dann verließ sie das Wohnzimmer. Sie stürmte raus und verwundert sahen die Männer ihr nach. „Irgendwie wirkte sie ziemlich durcheinander“, bemerkte Dr. Horatio und widmete sich wieder seinem Cognacglas. „Ob es wohl Ärger im Krankenhaus gab?“

„Die Möglichkeit besteht. Ich werde nachher mal zu ihr gehen, wenn sie sich beruhigt hat.“ So saßen sie noch eine Zeit lang zusammen und während der ganzen Zeit ließ sich Alice nicht blicken. Als es dann schließlich spät wurde und sich nach und nach alle verabschiedet hatten, ging Watari die Treppen rauf ins Zimmer seiner Tochter. Er klopfte sachte an ihre Tür und fragte „Alice, darf ich reinkommen?“ Es kam keine Antwort, also öffnete er die Tür und sah seine Tochter am Schreibtisch sitzen. Sie nahm gerade zwei Tabletten ein und schien sich wieder gefangen zu haben. Und doch waren ihre Augen immer noch stark gerötet, so als hätte sie geweint. „Alice, du hast dich die ganze Zeit nicht blicken lassen. Geht es dir nicht gut?“ „Nein“, sagte sie tonlos und erhob sich. Sie sah ihren Vater an und dieser erschrak fast, als er die leeren Augen seiner Tochter sah. Es war so, als wäre jegliches Leben aus ihr gewichen und sie sah ihn mit einem absolut eiskalten Blick an. „Ich habe alles geklärt, was zu klären war. Und jetzt entschuldige mich…“ Damit wollte sie an ihm vorbei und das Zimmer verlassen, doch Watari hielt sie am Arm fest und sah an ihrer Schulter blaue Flecken. Sofort riss sich Alice von ihm los und stieß ihn weg. „Fass mich nicht an“, sagte sie mit einer so kalten Stimme, dass er erst glaubte, er hätte eine Fremde vor sich. „Alice, was ist mit dir?“ „Nichts“, sagte sie tonlos und verließ das Zimmer. Er lief ihr hinterher und verstand nicht, was denn auf einmal mit ihr los war. Es schien so, als wäre sie wie ausgewechselt. „Mir ist nur etwas klar geworden.“ „Was denn? Alice, sag es mir doch. Ist irgendetwas im Krankenhaus passiert?“ Sie ging die Treppe hinunter direkt zur Haustür. Erneut hielt Watari sie fest und hatte nun wirklich Angst um seine Tochter. Irgendetwas musste passiert sein und offenbar hatte sie deshalb versucht, mit ihm zu reden. „Bitte rede doch mit mir.“ „Es ist zu spät, Vater“, erklärte sie und sah ihn noch mal an. Ihre Augen hatten jeglichen Glanz verloren. Irgendetwas in ihr war zerbrochen und was man in diesen hellblauen Augen erkennen konnte, war nichts als Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. „Es ist doch ohnehin nicht so schlimm, wenn ich nicht mehr da bin, oder?“

„Wie… wie kommst du darauf? Alice, was ist denn passiert?“

„Lass mich einfach. Ich ertrage es nicht mehr!“ Und diese letzten Worte schrie sie heraus, dann riss sie die Tür auf und verschwand in die Nacht.
 

Selbst als sie am nächsten Tag wieder zurückkam, war Alice immer noch vollkommen verschlossen und wollte auch nichts zu den blauen Flecken und den Abschürfungen sagen. Sie aß nichts, sprach mit niemandem und schloss sich in ihrem Zimmer ein. Dennoch ging sie zur Silvesterparty und Watari hoffte ja noch, dass wenigstens Nastasja und Henry in der Lage wären, sie wieder aufzumuntern. Doch gleich an Neujahr bekam er einen Besuch von der Polizei mit der schrecklichen Nachricht, dass Alice einen schweren Autounfall hatte. Ihr Wagen war durch die Leitplanke gebrochen, nachdem sie von einem anderen Wagen geschnitten wurde und daraufhin war das Auto die Klippen hinuntergestürzt. Sie selbst war aufs offene Meer hinausgerissen worden. Sie wurde für tot erklärt und den anderen Unfallfahrer hatte man nicht finden können.

Der Brief

„Au! Mensch Beyond, nicht so fest. Du schnürst mir noch die Blutzufuhr ab.“

„Jetzt sei keine Mimose, L. Lass mich einfach mal machen, okay? Ich krieg das schon hin.“

„Du willst mich wohl umbringen!“

„Und schon wärmst du wieder die alten Geschichten auf…“ Irgendwie lief das alles gerade nicht geplant und so langsam fragte sich Beyond, was er denn falsch machte. Dabei hatte es so einfach ausgesehen und er wollte auch mal etwas anderes versuchen. Aber stattdessen lief es irgendwie gerade darauf hinaus, dass es in eine riesige Katastrophe zusteuerte. Und nun war L zwar verschnürt wie ein Weihnachtspaket, aber es sah nicht gerade so aus, wie Beyond es sich vorgestellt hatte. „Ich sagte doch: lies dir die Anleitung gründlicher durch, bevor du den Scheiß bei mir austestest.“

„Hab ich ja auch. Aber ich krieg den Knoten irgendwie nicht gelöst!“

„Du ziehst ihn auch immer fester, wenn du weiterhin versuchst, das da nach dahin zu ziehen. Ich schwöre dir: wenn das vorbei ist, erwürge ich dich noch eigenhändig.“ Gerade wollte Beyond den Knoten lösen, doch da hörten sie laute Schritte und Geschrei. Sofort hielt der Serienmörder inne und wunderte sich natürlich, was denn los war und was das Geschrei zu bedeuten hatte. Als aber die Schritte immer näher kamen, reagierte er sofort und zog sich und L die Decke über den Kopf und dann kam auch schon Sheol hereingestürmt. „Versteckt mich!“ rief er panisch und suchte hastig nach einer Möglichkeit, wo er Schutz suchen konnte. „Versteckt mich, sonst bin ich tot!“ „Du bist gleich tot, wenn du hier nicht rausgehst, du Pumuckel!“ entgegnete Beyond wütend und funkelte ihn verärgert mit seinen Shinigami-Augen an. „Falls du es noch nicht gemerkt hast du Zwerg, wir wollten ein bisschen Privatsphäre!“

„Ist mir doch egal, ob du L gerade wie einen Rollbraten verschnüren willst. Ich hab gleich das viel größere Problem, wenn sie mich findet.“ Zuerst überlegte Sheol, ob er sich nicht vielleicht im Schrank oder unterm Bett verstecken könnte, doch da war leider kein Platz für ihn und so versteckte er sich hinter den Vorhängen. „Bitte sagt nicht, dass ich hier bin. Beachtet nicht den Mann hinter dem Vorhang!“ Beyond seufzte genervt und begann nun damit, L von seinen Fesseln irgendwie zu befreien. Dabei hatte alles so schön angefangen. „Ich hätte neben dem „Bitte nicht stören“-Schild auch noch zusätzlich die Tür abschließen sollen.“ Also begann er das alles abzubrechen, denn die ganze Aktion hatte doch eh keinen Sinn mehr. Es hatte eben schwach angefangen und stark nachgelassen mit dieser ganzen Verknotungsgeschichte und Sheol hatte dem ganzen noch den Todesstoß verpasst. Die Luft war jetzt endgültig raus und es hatte keinen Sinn mehr, da noch irgendetwas retten zu wollen. Kurz darauf wurde die Tür geöffnet und Nastasja kam herein. Ihr Gesicht war glutrot vor Wut und sie wirkte wie ein Stier in der Arena, der gleich seinen Gegner auf die Hörner nehmen wollte. „Wo ist diese kleine Mistkröte?“ rief sie und ließ ihre Fingerknöchel knacken. „Dem ziehe ich die Ohren lang, dass er in Afrika eine Fliege pupsen hören kann. Na warte Freundchen, du kannst dich nicht vor mir verstecken!“

„Was ist denn jetzt schon wieder?“ fragte Beyond, der nun dabei war, L die restlichen Fesseln abzunehmen. Die 30-jährige Russin war richtig in Rage und das konnte nur bedeuten, dass Sheol wieder irgendetwas angestellt hatte. Doch sie antwortete nicht und sah sich um, dann hatte sie auch schon ihren Adoptivsohn gefunden und zerrte ihn hinter den Vorhängen hervor. „Was los ist? Der Junge hat sich ohne meine Erlaubnis Löcher stechen lassen. Seht euch das doch mal an.“ Nun schaute auch L unter der Bettdecke hervor und sah, was seine Mutter meinte. Sheol hatte sich die Unterlippe auf beiden Seiten piercen lassen. Das galt auch für seine Ohren und seine linke Braue. Offenbar hatte er sich ohne die Erlaubnis seiner Adoptivmutter piercen lassen und einfach behauptet, er wäre bereits volljährig. L schüttelte den Kopf angesichts dieser Kinderei, doch Beyond nickte nur und meinte „Zugegeben, so schlecht sieht’s nicht aus.“

„Spinnst du?“ fragte Nastasja und sofort bereute der BB-Mörder, dass er die Klappe nicht halten konnte. Denn direkt nach Sam Leens war Nastasja der einzige Mensch, vor dem er sich wirklich fürchtete. Insbesondere, wenn sie so wütend drauf war. „Noch hab ich hier das Sagen und ich habe eindeutig gesagt, er darf sich erst piercen und tätowieren, wenn er volljährig ist.“

„Aber streng genommen ist er doch so alt wie L und ich, wenn nicht sogar noch älter.“

„Er hat den Körper und den Verstand eines 16-jährigen und auf den Papieren ist er es auch. So junger Mann, jetzt ist Schluss mit lustig und zwar endgültig. Du hast Hausarrest und dein Taschengeld für die nächsten zwei Monate ist ebenfalls gestrichen. Und deine ganzen Zombie-Games sind ebenfalls konfisziert!“ Damit packte sie Sheol am Kragen und verließ mit ihm das Zimmer. So waren L und Beyond wieder allein, doch die Stimmung war endgültig hinüber und genervt seufzte der Serienmörder. Dabei hatte alles doch so viel versprechend angefangen. Sie waren nach England gekommen, um Watari zu begleiten, da dieser das Grab seiner Tochter besuchen wollte. L und Frederica wollten das Grab von Henry Lawliet besuchen und Beyond ging natürlich überall mit hin, wo auch L war. Jeremiel wollte bei der Gelegenheit auch mitkommen, Nastasja war auch sofort dabei gewesen. Immerhin war Henry ihr Ehemann und Alice ihre beste Freundin gewesen. Und da Sheol und Ezra unbedingt mitkommen wollten, hatte sie ihre Familie auch gleich mitgenommen. Es war allerdings nicht die ganze Familie mitgekommen, denn Andrew und Oliver arbeiteten an einem neuen Projekt und hatten deshalb keine Zeit. Rumiko blieb ebenfalls zuhause und musste sich ohnehin ein wenig schonen. Denn sie war zum zweiten Mal schwanger geworden und vertrug deshalb keine Flüge. Nachdem sie nämlich erfahren hatte, dass Oliver und Andrew schon ganz gerne ein Kind adoptieren wollten, da hatte sie die Idee gehabt, sich als Leihmutter anzubieten und für die beiden somit ein Kind auszutragen. Denn auf eine Adoption durfte man gut und gerne drei Jahre warten, wenn nicht sogar noch länger und auch wenn Boston demokratisch war und es dort auch gleichgeschlechtliche Ehen gab, so war es dennoch für die beiden äußerst schwierig gewesen. Zwar hatte Oliver sich nichts anmerken lassen, aber es hatte ihm doch schon etwas zu schaffen gemacht, insbesondere da er ja sehr kinderlieb war. Also hatten sich Rumiko und Jamie zusammengesetzt und sich besprochen. Und als Andrew und Oliver endlich geheiratet hatten, da hatte sie den beiden dieses mehr als außergewöhnliche Geschenk gemacht. Damit hatte sie bei der ganzen Familie für Sprachlosigkeit gesorgt, vor allem weil man ihr diese Idee nicht so wirklich zugetraut hätte. Doch sie hatte einfach erklärt „Ich bin mir sicher, dass die beiden gute Väter werden. Und wenn es Probleme geben sollte, bin ich ja auch noch da. Da ich ohnehin noch im Mutterschaftsurlaub bin, ist das für mich kein Problem. Ich mache es aber auch nur, wenn Oliver auch etwas mehr Zuverlässigkeit an den Tag legt.“ Das hatte der gebürtige Ire hoch und heilig versprochen und so hatten sie den Plan durchgezogen. Nun war Rumiko schon im fünften Monat und glücklicherweise waren ihre Gefühlsschwankungen nicht ganz so extrem stark wie beim ersten Mal. Es ging ihr hervorragend und so wie sie erfahren hatten, sprach alles dafür, dass es ein Mädchen werden würde. Sowohl Andrew als auch Oliver freuten sich wahnsinnig auf die Kleine und besuchten Rumiko regelmäßig. Und die nutzte dann natürlich auch die Gelegenheit, um ihnen Kurse in Sachen Babys zu geben. Traf sich ja ohnehin ganz gut, denn sie hatte ja ihre eigenen Kinder, die bei diesem Kurs als Testkinder herhalten durften. So konnte sie das Pärchen auf ihre bevorstehende Elternrolle vorbereiten und ihnen nützliche Ratschläge geben. Womöglich hätte auch Nastasja so einen Vorschlag gebracht und sich als Leihmutter angeboten, aber sie war nicht in der Lage, Kinder in die Welt zu setzen und Fredericas Körper war nicht menschlich und da war auch das Risiko groß, dass das Baby ähnliche Kräfte entwickelte wie sie und Elion. Also war Rumiko die Einzige in der Familie, die dazu in der Lage war. Ansonsten war nichts Besonderes in den fast sechs Monaten passiert. Ezra und Sheol gingen jetzt auf die High School und so wie man hörte, lief es dort hervorragend. Sheol half seinem Adoptivbruder tatkräftig dabei, Kontakte zu schließen und sich zurechtzufinden und Elion hatte auch endlich einen Platz an der Harvard Universität bekommen und studierte nun Sozialpädagogik, da er unbedingt Streetworker werden wollte. Jeremiel wohnte jetzt wieder bei Liam, kam aber hin und wieder zu Besuch und hatte sich in den Kopf gesetzt, ebenso wie sein Bruder Detektiv zu werden. Er hatte schon zwei Fälle gelöst, die L ihm vermittelt hatte und es lief auch immer besser bei ihm, nachdem er den Dreh raus hatte. Watari selbst hingegen ging es nicht sehr gut. Nachdem er schon vorher die Diagnose erhalten hatte, dass er herzkrank war, musste er sich mit dem Gedanken anfreunden, dass es nun an der Zeit war, sich zur Ruhe zu setzen. Für den alten Mann ging damit ein wichtiger Abschnitt seines Lebens zu Ende. Denn nach dem Tod seiner Tochter und der Ermordung des Ehepaares Lawliet vor zwanzig Jahren war seine Rolle als L’s Assistent eigentlich das Einzige, was sein Leben erfüllt hatte. Es war zu seinem Lebenswerk geworden und nun war auch das vorbei. Stattdessen würde nun Frederica seine Nachfolge antreten und er wusste, dass sie das auf jeden Fall schaffen würde. Er hatte auch schon ein offenes und ehrliches Gespräch mit allen geführt und den Wunsch geäußert, sich in England zur Ruhe zu setzen. Er hatte dort noch alte Freunde von früher, mit denen er sich zum Schachspielen treffen konnte. So wäre er auf seine alten Tage nicht allein. Einzig bei L und Beyond war es eigentlich beim Alten geblieben und würde es auch wahrscheinlich auch so bleiben. Und damit waren sie auch ganz zufrieden.

„Echt L, deine Mutter macht mir manchmal wirklich Angst“, sagte der BB-Mörder schließlich und erhob sich. Dem konnte der Detektiv auch nicht viel entgegensetzen und stand nun ebenfalls auf. „Sie kann schon recht unheimlich sein, wenn sie wütend ist. Du hör mal, ich geh eben duschen.“ „Okay, ich komm mit.“ Also gingen sie gemeinsam ins Bad und als L Beyonds nackten Oberkörper sah, fühlte er sich irgendwie komisch, genauso wie vorhin und auch die letzte Zeit schon, wenn er ihn so sah. Immerhin war dieser Anblick der Narben und Verletzungen für ihn schon so vertraut gewesen. Sowohl die Narben der Schussverletzungen, als auch die Rückstände der Hauttransplantationen. Nicht einmal die Narbe von seiner tödlichen Verletzung war noch zu sehen, nachdem Elion all diese ganzen Wunden und Narben zurückgesetzt hatte, die seinen Körper entstellt hatten. L hatte es nicht gekümmert, wie Beyond aussah und er liebte ihn so wie er war. Aber viele der Narben kannte er und sie hatten bei ihm schmerzliche Erinnerungen hinterlassen. Die Entführung und Folter durch Clear und Sam Leens, Beyonds Tod… Dinge, an die er sich lieber nicht erinnern wollte. Und nun waren diese Spuren allesamt fort. Als hätte es all diese Dinge und auch die BB-Mordserie nie gegeben. Vorsichtig strich L über Beyonds Brust, so als wollte er sich vergewissern, dass dies auch wirklich real war und lächelte. „Elion hat wirklich ganze Arbeit geleistet. Aber ehrlich gesagt wird es noch eine Weile brauchen, bis ich mich daran gewöhnt habe.“

„Das wird schon noch. Ich hab dem Jungen ja auch gesagt, dass er sich nicht die Mühe machen muss. Aber er hat drauf bestanden weil er wohl meinte, dass der Anblick dieser Narben bei uns nur schlimme Erinnerungen weckt und er unbedingt helfen will. Danach war er aber so kaputt gewesen, dass er den Rest des Tages nicht mehr aufstehen konnte und den nächsten Tag hat er nur gepennt. Muss ihn echt verausgabt haben, das für uns zu tun. Manchmal ist er ein wenig zu gutgläubig und erinnert mich ein wenig an Jamie mit seiner Predigt von Gewaltlosigkeit, aber er ist schon schwer in Ordnung. Und mit seinem Teddybärenfimmel ist er auch irgendwie niedlich.“

„Du bist doch auch danach ohnmächtig geworden und warst den ganzen Tag nicht mehr ansprechbar gewesen. Ich hab schon fast einen Schreck gekriegt, als du so da lagst. Und kaum, dass du unter der Dusche standest, hast du rumgeschrieen wie ein kleines Mädchen.“

„Hey, jetzt übertreib mal nicht!“ rief der Serienmörder und gab ihm einen leichten Stoß in die Seite. „Ich hatte seit zwei Jahren kein Gefühl mehr in meiner Haut und dann ist das heiße Wasser eben ungewohnt.“

„Und du nennst mich eine Mimose…“ Zur Strafe packte Beyond ihn an den Hintern, woraufhin L zusammenzuckte und sofort still war. Nach einer gemeinsamen Dusche gingen sie in den Wohnbereich ihrer Suite, wo bereits Frederica dabei war, Kaffee zu kochen. Sie war wie immer bester Laune und summte ein Lied vor sich hin. Seitdem sie durch Elion wiederbelebt worden war, blühte sie richtig auf und war die Lebensfreude in Person. Man hätte meinen können, dass allein ihr fröhliches Julia-Roberts-Lächeln selbst den größten Pessimisten zum Strahlen gebracht hätte. Sie ging auch mit Begeisterung an ihre Arbeit und half, wo sie nur konnte. Zudem kümmerte sie sich auch sehr liebevoll um Watari, dessen Gesundheit in der letzten Zeit deutlich abgebaut hatte. „Hallo ihr beiden. Heute gibt es selbst gemachte Ingwerplätzchen und Apfelkuchen. Kaffee ist bereits gesüßt, so wie ihr es mögt. Beyond, für dich hab ich Erdbeermarmelade besorgt.“

„Danke. Mensch L, Frederica ist wirklich nicht mit Gold aufzuwiegen. Ich meine, sie erledigt Wataris Job ziemlich gut und ich mag sie im Gegensatz zu dem alten Knacker.“ „Da hörst du es“, sagte L und wandte sich an das Albinomädchen. „Ein größeres Kompliment kann man von ihm nicht kriegen. Da kann man schon fast eifersüchtig werden.“ Als der Serienmörder das hörte, konnte er einfach nicht an sich halten. Er schloss den Detektiv in seine Arme und drückte ihm einen liebevollen Kuss auf die Wange. „Du hast doch keinen Grund zur Eifersucht, Schnuckelhäschen. Ich gehöre einzig und allein dir und das we…“ Er kam nicht weiter, denn da bekam er auch schon zur Strafe eins mit der Zeitung verpasst. Denn was L überhaupt nicht ausstehen konnte, waren dermaßen peinliche Kosenamen. Schlimmer noch war es, wenn dieser Mistkerl sie auch noch vor anderen verwendete. Frederica kicherte amüsiert darüber und bemerkte „Ihr zwei seid schon ein süßes Pärchen.“

„Da hörst du es, Hasenfürzchen. Also stell dich nicht so an. Kosenamen sind doch der beste Liebesbeweis, den man sich geben kann.“

„Ach was! Du machst das doch nur, weil du es einfach nicht lassen kannst, mich zu ärgern. Noch so ein dämlicher Kosename und es gibt wieder was mit der Zeitung.“

„Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich kein Hund bin?“

„Stimmt. Einen Hund kann man im Gegensatz zu dir erziehen. Sag mal Frederica, wo ist Watari?“ Das Albinomädchen kam mit dem Tablett und reichte L Kaffee und Gebäck, Beyond bekam seine heiß geliebte Erdbeermarmelade. „Er wollte einen kleinen Spaziergang machen. Übrigens lag das heute Morgen unter der Tür. Er ist nicht adressiert und ich weiß nicht, ob er vielleicht für dich ist.“ Damit reichte sie ihm einen roten Briefumschlag, wo tatsächlich kein Name drauf stand. L war etwas verwundert, denn wer sollte diesen Brief denn schon verschicken? Na, das würde L gleich schon herausfinden. Also öffnete er den Umschlag und stellte fest, dass diese Zeilen an Watari gerichtet waren.
 

„Watari,
 

wie viele Jahre ist es her, seit du in England warst? Sicherlich bist du hier, um Alices Grab zu besuchen, nicht wahr? Keine Sorge, ich hab mich während deiner langen Abwesenheit gut darum gekümmert. Dennoch hättest du vielleicht öfter zu ihrem Todestag vorbeischauen können, das hätte sie sicherlich gefreut. Nun, ich will auch keine Predigten halten. Du hattest mit Sicherheit gute Gründe gehabt. Aber vielleicht wird es dich interessieren, dass nun jemand Neues in die Harper Street 45 eingezogen ist, wo du und Alice früher gelebt habt. Er ist ein netter junger Mann und vielleicht möchtest du ihn ja näher kennen lernen. Ich hoffe, dein nächster Brief lässt nicht allzu lange auf sich warten und du beantwortest mir endlich die Frage, die ich dir schon seit Jahren stelle:
 

Glaubst du noch an Gott?
 

Mit den herzlichsten Grüßen
 

Lacie Dravis“
 

„Lacie Dravis?“ fragte L verwundert und konnte mit dem Namen nichts anfangen. „Frederica, weißt du wer das ist?“ Unsicher zuckte das Albinomädchen mit den Schultern und erklärte „Sie schrieb Watari mal vor langer Zeit einen Brief, pünktlich zu Alices Todestag. Und da fragte sie, ob er nach dem Verlust seiner Familie noch an Gott glaube. Diese Frage hatte er aber nie beantwortet. Und ich weiß auch nicht, wer diese Lacie Dravis ist. Vermutlich eine alte Freundin von Alice.“ Schon eine merkwürdige Frage, dachte sich Beyond und sah sich den Brief mal genauer an, der maschinell erstellt worden war und dezent nach Parfum roch. Eindeutig ein Frauenparfum. Er las sich den Text selbst noch mal durch und fand, dass er ein klein wenig kühl und unpersönlich geschrieben worden war. Zumindest legte diese Lacie Dravis viel Wert auf Höflichkeit und war womöglich eine von der etwas steifen Sorte, die schnell arrogant erschien. Nur eines verwunderte ihn doch. Woher wollte diese Frau wissen, dass Watari hier in England war? Das konnte doch nur der Fall sein, wenn dieser ihr geschrieben hatte. Aber hatte er ihr auch gleich geschrieben, in welches Hotel sie abgestiegen waren? Nun, eigentlich war Watari doch für gewöhnlich viel vorsichtiger und verriet seinen Aufenthaltsort nicht. Allein schon deswegen, weil er L vor der Familie Brown beschützen wollte. Also mussten sie ihn fragen, wenn er wieder zurück war von seinem Spaziergang. Schließlich hatte aber L eine Idee und sagte „Ich werde Mum gleich mal fragen, ob sie eine Ahnung hat. Immerhin hat sie bei den Wammys gewohnt und Alice war ihre beste Freundin.“ Nachdem er seinen Kaffee ausgetrunken hatte, verließ L die Suite und ging zu Nastasjas Zimmer. Sie und Frederica teilten sich ein Zimmer, während Sheol ein Einzelzimmer hatte (hauptsächlich deshalb, weil er furchtbar laut schnarchte) und Elion und Ezra gemeinsam ein Zimmer bewohnten. Auch Jeremiel bewohnte ein Einzelzimmer, da er schon seit Tagen starke Kopfschmerzen hatte und diese sich seit ihrer Ankunft in England eigentlich nur verschlimmert hatten. Sie fanden Nastasja in Sheols Zimmer, wo sie offenbar immer noch eine Standpauke hielt. „Hey Mum, hast du kurz Zeit?“ Die Russin unterbrach ihre Strafpredigt wandte sich L zu. „Was gibt’s?“ Er reichte ihr den Brief und nachdem sie sich den Inhalt durchgelesen hatte, kam er auch gleich zum Punkt. „Kennst du vielleicht eine gewisse Lacie Dravis?“ Doch auch sie war sich nicht zu hundert Prozent sicher und erklärte „Sie selbst habe ich nie gesehen. Ich weiß nur, dass sie nach Alices Tod oft Briefkontakt mit Watari gehalten hat. Manchmal waren es belanglose Dinge, aber hin und wieder auch ganz merkwürdige Dinge und man hat schon gesehen, dass diese Sachen Watari beschäftigt haben. Hin und wieder hatte ich irgendwie das Gefühl, diese Lacie versucht mehr über die Umstände von Alices Tod in Erfahrung zu bringen. Immerhin wurde der Fahrer, der sie geschnitten hat, nie gefunden und ihre Leiche konnte auch nie geborgen werden, da sie aufs offene Meer hinausgetrieben wurde. Jedenfalls gab es einige Diskussionen an der Uni und im Krankenhaus, was ihren Tod betrifft. Alice hatte wegen ihrer Intelligenz und ihrem guten Aussehen viele Neider, da kam eben auch der Verdacht auf, dass ihr Tod vielleicht kein Unfall war. Aber das sind nur Verschwörungstheorien. Ich meine, ich kenne niemanden, der einen Grund gehabt hätte, Alice zu töten. Aber diese Lacie stochert immer wieder in diesen alten Wunden rum und ich hab Watari damals abgeraten, weiterhin Briefkontakt mit ihr zu halten. Sie quält ihn nur mit diesen alten Geschichten und ich hab den Eindruck, als würde sie ihm indirekt Vorwürfe machen. Wer auch immer diese Lacie Dravis ist, sie ist eine verdammt penetrante Person, die offenbar selbst nach 27 Jahren nicht damit aufhören kann, nachzubohren und Watari mit diesen alten Geschichten zu verletzen. Ich verstehe auch echt nicht, was sie sich davon verspricht und wieso sie ihn seit Jahren diese Frage stellt, ob er noch an Gott glaubt.“ Damit faltete sie den Brief zusammen und gab ihn L zurück. „Auf jeden Fall muss ich mit Watari noch mal ein ernstes Wort reden. Und wenn ich Zeit hab, will ich auch noch mal in der alten Villa vorbeischauen. Einfach mal nur aus reiner Neugier um zu sehen, wer dort eingezogen ist und so. Immerhin habe ich dort eine ganze Zeit lang gewohnt, bis ich deinen Vater geheiratet habe. Ich komm eh gleich zu euch rüber. Vorher hab ich noch mit Sheol ein Hühnchen zu rupfen.“

„Ach jetzt nimm ihn doch nicht ganz so hart dran, Mum. Mag sein, dass er mal wieder über die Stränge geschlagen hat, aber so sind Teenager eben.“

„Mag sein, aber in seinem Alter habe ich bereits an der Universität unterrichtet und bevor ich nach England kam, habe ich in den Wäldern Sibiriens eigenhändig einen Bären erlegt und das mit nichts weiterem als einem Messer! Die Jugend von heute hat einfach keinen Respekt mehr und mit deinen laschen Einstellungen wirst du ohnehin niemals vernünftig Kinder erziehen können, junger Mann.“ Ach vergiss es, dachte L und beließ es dabei. Seine Mutter war eben herzlich, aber eben auch sehr streng und konsequent in der Erziehung. Eben weil sie auch sehr streng und konsequent mit sich selbst war. Da er also kaum nützliche Antworten von ihr bekommen konnte, blieb ihm also tatsächlich nichts anderes übrig, als darauf zu warten, dass Watari von seinem Spaziergang zurückkommen würde.

Bei Watari zuhause

Als Watari von seinem Spaziergang zurückkam, gab L ihm den Brief und sogleich, als der 74-jährige die Zeilen las und vor allem den Namen, der da geschrieben stand, musste er sich setzen und brauchte eine Tasse Tee. Sofort machte Frederica ihm einen Earl Grey Tea fertig und fragte besorgt „Geht es dir gut? Brauchst du vielleicht deine Medikamente?“ Doch er schüttelte nur den Kopf und erklärte „Nein, es… es geht schon. Und der Brief?“ „War unter der Tür durchgeschoben worden“, erklärte Frederica und stellte ihm die Tasse hin. „Woher weiß diese Lacie denn, wo wir sind?“ Doch das konnte sich Watari auch nicht erklären. Denn so wie er berichtete, hatte er schon seit vier Jahren keinen Briefkontakt mehr mit ihr gehabt und ihr auch nie seinen Aufenthaltsort verraten, weil er Vorsicht walten lassen musste. Er hatte stets über E-Mail Kontakt mit Lacie Dravis gehalten und es war auch das erste Mal, dass sie ihm einen Brief schrieb. Vor allem verwunderte es ihn selbst, dass der Brief unter der Tür durchgeschoben worden war und dass er nicht mal vernünftig adressiert war. „Wer ist diese Lacie überhaupt?“ fragte Nastasja und wippte etwas ungeduldig mit dem Fuß. Doch der alte Mann ließ sich mit seiner Erklärung etwas Zeit, denn er musste sich innerlich erst mal sortieren und Kraft sammeln. „Lacie war eine Brieffreundin von Alice. Viel weiß ich nicht, denn seit Alice in der Universitätsklinik gearbeitet hatte, redete sie nicht mehr viel über ihr Privatleben außerhalb der Arbeit. Manchmal hatte ich das Gefühl, sie wollte nicht darüber sprechen. Jedenfalls hat Lacie dann nach ihrer Beerdigung Kontakt zu mir aufgenommen und mich gefragt, ob ich denn noch an Gott glauben würde, nachdem mir auch noch mein Kind weggenommen wurde. Ich konnte diese Frage nicht beantworten, hielt aber dennoch den Kontakt mit ihr, weil sie immerhin nach dem Tod von dir und Henry die einzige Person war, mit der ich nach dem Autounfall noch über Alice sprechen konnte. Nun, da aber dann doch in den letzten Jahren einige Dinge passiert waren, versäumte ich es, ihr zu schreiben. Es sind ja auch einige Dinge gewesen. Kira, die BB-Mordserie, die jüngsten Ereignisse… Auch von Lacies Seite habe ich nicht mehr viel gehört und nun wundert es mich auch, dass sie mir so plötzlich schreibt und dass sie weiß, dass ich hier bin.“

„Irgendwie gefällt mir das nicht“, sagte L schließlich und aß noch eines von den Ingwerplätzchen. „Ich meine, wenn sie schon unseren Aufenthaltsort kennt, muss sie mehr über uns wissen als wir ahnen. Wir sollten herausfinden, wer sie ist. Es ist mehr als auffällig, dass sie den Brief extra durch unsere Zimmertür durchschiebt und wieder verschwindet, ohne persönlich vorbeizuschauen. Diese Geheimnistuerei ist für mich mehr als verdächtig.“ Und sogleich hatte Beyond eine Idee: „Warum suchen wir nicht den Kerl auf, der Ihr Haus übernommen hat, Watari? Ich meine, sie hat ihn doch erwähnt und vielleicht hat sie ja schon mal mit ihm gesprochen.“ Die Idee war nicht schlecht und es traf sich ohnehin ganz gut. „Also gut. Dann gehen wir hin. Wer möchte sonst noch mit?“ Nastasja und L waren auf jeden Fall dabei, Beyond ebenso. Frederica musste passen, denn sie wollte sich um Jeremiel kümmern, der unter starker Migräne litt und dem es deswegen nicht gut ging. Sheol durfte zur Strafe heute das Hotel nicht verlassen und Elion und Ezra wollten zusammen eine Stadttour machen. Also war es beschlossen und nachdem alle sich warm angezogen hatten, ging es auch schon los. Es schneite stark und bis Silvester waren es nur noch drei Tage. Ein eisiger Wind wehte und selbst die Heizung im Auto konnte sie nicht wirklich warm halten. Dennoch hatte London bei diesem Wetter etwas sehr malerisches und sie alle mussten sich an ihre Vergangenheit in dieser Stadt zurückerinnern. Watari erinnerte sich an seine Familie, Nastasja an ihre Zeit mit Henry und Alice und L an seine Kindheit. Beyond hatte da weniger schöne Momente, an die er sich gerne zurückerinnern würde. Sie fuhren knapp eine Viertelstunde, bis sie die Harper Street erreichten. Die Villa, in der Watari mit seiner Tochter gewohnt hatte, war nicht mehr in einem so guten Zustand wie damals, aber es war erstaunlich wenig geändert worden in den letzten 20 Jahren. Gleich schon als der alte Mann das Haus sah, in dem er mit seiner Tochter gewohnt hatte, kehrte dieser alte tief sitzende Schmerz zurück und Erinnerungen kamen wieder hoch. Erinnerungen daran, wie Alice in diesem Haus als Teenagerin gelebt hatte, nachdem sie umgezogen waren. Wie Nastasja hergekommen war, als sie aus Russland ausgewandert war. Es hingen so viele Erinnerungen an diesem Haus und Watari hatte es aufgegeben, um mit dem damals fünfjährigen L unterzutauchen. An diesem Tag hatte es ebenfalls geschneit. Wie gerne würde er noch einmal durch dieses Haus gehen und in Erinnerungen schwelgen. Doch er hatte auch Angst davor, dass zu viel darin verändert worden war und er es nicht mehr wiedererkannte. Dieses Haus gehörte jetzt jemand anderem. Beyond selbst schien einer von der neugierigen Sorte zu sein und wollte sich das natürlich näher ansehen. „Die Villa sieht ja stark aus. Hier würde ich auch gerne wohnen. Was meinst du, L?“

„Es sieht ganz nett aus.“

„Nett ist der kleine Bruder von Scheiße.“

„Haha, sehr witzig.“

„Jetzt streitet euch nicht gleich wieder ihr zwei. Das könnt ihr euch fürs Bett aufheben.“

„Mum!“ Nachdem sie den Wagen geparkt hatten, stiegen sie aus und sogleich wehte ihnen ein eisiger Wind ins Gesicht. Es herrschten frostige Temperaturen und Beyond fror fürchterlich, genauso wie L, nur Nastasja schien diese Minusgrade locker hinzunehmen, genauso wie Watari. Als sie vor der Nummer 45 standen, hielten sie noch kurz inne, so als wollten sie sich innerlich auf irgendetwas vorbereiten. Dann aber stiegen sie die Eingangsstufen hinauf und klingelten. An der Tür hing kein Namensschild und auf das erste Klingeln hin öffnete niemand. Aber dann hörten sie nach dem zweiten Klingeln eine Stimme und danach wurde auch schon die Tür geöffnet. Nun, sie wurde zumindest einen kleinen Spalt breit geöffnet und sogleich sahen sie auch, dass jemand eine Kette davorgehängt hatte. Viel sahen sie nicht, nur ein rot leuchtendes Auge, welches von tief schwarzen Schatten umrandet war. „Was… was kann ich für Sie tun?“ fragte eine etwas heisere Stimme, machte aber die Tür nicht weiter auf als nötig. „Entschuldigen Sie bitte vielmals.“ Watari trat vor und nahm seinen Hut ab. „Ich… ich habe hier vor einigen Jahren mit meiner Tochter gewohnt. Ich wollte Sie fragen, ob ich mir das Haus mal ansehen dürfte.“ Eine Weile betrachtete das rot leuchtende Auge den alten Mann, dann wurde die Tür kurz geschlossen und man hörte, wie die Kette entfernt wurde. Danach öffnete sich die Haustür ganz und eine Stimme rief „Kommen Sie ruhig herein.“ Langsam traten sie ein und sahen vor sich einen knapp 1,92m großen jungen Mann stehen, ungefähr 24 oder 25 Jahre alt. Er trug einen schwarzrot gestreiften Rollkragenpullover, hatte schwarzes Haar, welches ihm teilweise ins Gesicht fiel. Er trug einen medizinischen Mundschutz, der sein halbes Gesicht verdeckte. Sein Äußeres wirkte sehr furchteinflößend und man hätte meinen können, er wäre ein mörderischer Killer aus einem Horrorfilm. Dabei wirkte sein Verhalten und die Art, wie er mit ihnen redete, im absoluten Kontrast dazu. Er wirkte sehr scheu und unsicher, was nun sehr seltsam wirkte bei einer solch unheimlichen Erscheinung wie ihm. Zur Begrüßung reichte er ihnen die Hand, deren Handfläche bandagiert worden war. Die Finger waren rot und vernarbt. Offenbar Rückstände einer schweren Brandverletzung. „Guten Tag, mein Name ist Dathan Lumis Kinsley. Ich… ich wohne schon seit zwei Jahren hier in diesem Haus. Wenn Sie wollen, können Sie sich ruhig hier umsehen.“ Als alle eingetreten waren, schloss Dathan die Tür und ging selbst in die Küche und fragte „Möchten Sie einen Tee?“ Das Angebot nahmen sie gerne an und während der Hausbesitzer beschäftigt war, sahen sie sich ein wenig um. Schnell fiel auf, dass eigentlich alles beim Alten gelassen worden war. Die Möbel, die Tapeten… Watari konnte nicht glauben, dass alles noch so wie vorher aussah. Als wäre er erst gestern hier ausgezogen. Er ging schließlich zusammen mit Nastasja die Treppen rauf und wollte sich Alices altes Zimmer ansehen. Auch dieses war so belassen worden wie es war, lediglich das Gästezimmer, in welchem Nastasja gewohnt hatte, war inzwischen neu eingerichtet worden und es ließ sich erkennen, dass dieser Dathan hier sein Zimmer hatte. Nastasja war sprachlos und sah sich in Alices Zimmer um. Fast alle ihre Bücher waren noch da und selbst der Schreibtisch stand noch da. Lediglich die ganzen Dokumente und Papiere fehlten und waren wahrscheinlich weggeräumt worden. Aber wieso war hier denn so gut wie nichts verändert worden? War es irgendeine Form von Anstand oder hatte dieser Dathan einfach keine Zeit gehabt, um die Sachen auszuräumen? Als Nastasja die Schublade des Schreibtischs öffnete, entdeckte sie sogleich etwas Seltsames, das sie stutzig machte: dunkle Flecken und wenn sie nicht alles täuschte, war das eingetrocknetes Blut. Und es zeichnete sich in den Blutflächen eine merkwürdige Linie ab. So als hätte dort etwas Blutverschmiertes gelegen. Nur was? Vielleicht konnte dieser Dathan ja etwas dazu erzählen. Denn so wie es aussah, hatte er doch ein paar Sachen weggeräumt. Schließlich gingen sie wieder runter ins Wohnzimmer, wo Dathan mit dem Tee wartete. Er selbst wollte offenbar nichts trinken und er machte auch keine Anstalten, den Mundschutz abzunehmen. Wahrscheinlich trank er nur deswegen nichts, weil er sich schämte, ihnen sein Gesicht zu zeigen. Höchstwahrscheinlich zeichnete sich auch in seinem Gesicht einiges an alten Narben und Verletzungen ab. Dieser Mundschutz verlieh ihm etwas sehr Zwielichtiges, aber dennoch schien er einer von der freundlichen Sorte Mensch zu sein. „Vielen Dank für die Gastfreundschaft“, sagte Nastasja und gab etwas Kandiszucker in ihren Tee. „Aber sagen Sie mal, wie alt sind Sie denn?“

„24 Jahre, denke ich. Aber leider erinnere ich mich nicht genau. Ich bin vor zwei Jahren aufgewacht und hatte keinerlei Erinnerungen an meine Vergangenheit. Ich erinnere mich nur an meinen Namen.“

„Und wer hat Ihnen das Haus anvertraut?“

„Das war Reverend Kings. Er leitet die Kirche St. Michael in Greenwich. Als ich ohne Erinnerungen aufgewacht bin, hat er sich um mich gekümmert und mir geholfen. Er ist ein wenig eigen, aber ein sehr freundlicher Mann. Die Verwaltung des Hauses hat er mir anvertraut, weil er der Meinung war, dass dies ein guter Job für mich wäre. Und zugegeben, es ist nicht schlecht. Ich halte das Haus in Schuss und erledige alle anstehenden Reparaturen und ich muss nicht unbedingt so viel Kontakt zu Menschen aufnehmen. Ehrlich gesagt vermeide ich so etwas lieber.“

„Wieso denn?“ fragte Nastasja und sah ihn mit einem neugierigen Blick an. Dathan senkte etwas niedergeschlagen den Blick und seufzte. „Nun, die Menschen haben eben was gegen Freaks. Seit ich aufgewacht bin, starren mich alle an, als wäre ich ein Monster und sie haben ja auch recht: ich sehe wie ein Monster aus.“ Er lachte, aber es klang irgendwie traurig. Schließlich goss er Nastasja noch eine Tasse ein. Als sie dann aber zum Zucker greifen wollte und sie sich dabei kurz berührten, da zuckte Dathan erschrocken zusammen und stieß dabei versehentlich die Tasse um und von dem kochend heißen Wasser lief ihm auch einiges über seine bandagierte Hand. Sofort sprang er auf und rief, oder besser gesagt stammelte vielmehr „Tu-tut mir leid. Ich… ich bin sofort wieder da.“ Schnell eilte er in die Küche und Nastasja ging sogleich hinterher. Doch anstatt, dass der 24-jährige seine Hand kühlte, suchte er nach einem Lappen, um den Unfall im Wohnzimmer zu beheben. Die Russin schüttelte den Kopf und ergriff sein Handgelenk. „Sie müssen Ihre Hand kühlen! Immerhin haben Sie doch kochendes Wasser abgekriegt!“ Erschrocken zog Dathan seine Hand wieder zurück und wich ihrem Blick aus. „Ist schon gut“, sagte er leise. „Ich hab eh kein Gefühl mehr in meiner Haut. Es ist ohnehin alles verbrannt, da macht so etwas auch keinen großen Unterschied mehr. Ich spüre rein gar nichts mehr. Es hat also auch seine Vorteile. Tut mir sehr leid wegen vorhin. Ich äh... ich bin den Umgang mit Menschen nicht gewöhnt.“ Damit ging er wieder zurück und machte Ordnung. Er wirkte ziemlich nervös und war auch recht hektisch. Offenbar hatte er nicht gelogen, als er behauptet hatte, er wäre den Umgang mit Menschen nicht gewöhnt. Schließlich kam L auf das Thema zu sprechen, weswegen sie eigentlich hier waren. „Kennen Sie vielleicht eine gewisse Lacie Dravis?“ „Lacie? Was wollt ihr von ihr?“ fragte Dathan und diese Frage sprach eindeutig dafür, dass er sie kannte. Sie erklärten ihm die Sache mit den Briefen und dass sie sie gerne sprechen wollten. Doch leider wusste auch Dathan nicht viel und erklärte „Lacie hat mich zum Pfarrer gebracht, als ich ohne Erinnerungen aufgewacht bin. Sie sagte, er würde mir schon helfen und danach ist sie gegangen. Seitdem halten wir hin und wieder Kontakt über E-Mail und sie erkundigt sich regelmäßig bei mir, wie es mir geht. Und sie kommt mich des Öfteren auch mal besuchen, wenn sie Zeit hat.“

„Wie sieht sie aus?“ Hier musste er nachdenken und erklärte etwas zögernd „Sie hat blaue Augen und platinblondes Haar und ist sehr hübsch. Sie ist eine sehr nette Person und sie erkundigt sich oft nach mir. Manchmal bringt sie mir was vorbei, zum Beispiel ein paar Bücher oder selbst gemachtes Gebäck. Viel hat sie aber nicht über sich selbst erzählt. Sie sagte mir nur, dass sie an etwas sehr Wichtigem arbeite und sie versuche eine Frage zu beantworten.“

„Eine Frage?“ Womöglich die Frage, ob Alices Tod damals wirklich ein Unfall war? Wer für den Unfall verantwortlich war? „Keine Ahnung. Sie hat mir nichts darüber gesagt. Aber ich habe noch alle alten Sachen aufgehoben, auch die Dokumente und alle anderen Papiere. Ich hab sie ordnungsgemäß beschriftet und auf dem Dachboden eingelagert. Ich könnte sie holen gehen.“

„Wie viele Kisten sind das?“

„Ungefähr 10 Stück. Ich wollte nichts wegwerfen, weil ich nicht wusste, ob all diese Dinge noch gebraucht werden. Immerhin waren dort auch persönliche Dokumente und Rezepte.“ Damit erhob sich der 24-jährige und wollte sich auf den Weg zum Dachboden machen, da wandte sich Nastasja auch schon an die anderen. „So, ihr zwei kommt und helft mit.“ Und da es eh lebensgefährlich gewesen wäre zu protestieren oder abzulehnen, folgten L und Beyond den beiden. Es dauerte gut eine Weile, bis sie alle Kisten nach unten gebracht hatten und tatsächlich hatte Dathan alles ordentlich und sauber beschriftet. Und war auch alles ordentlich einsortiert worden und man konnte schon sehen, dass der 24-jährige ein gewisses System reingebracht hatte. Sogleich öffnete Nastasja die erste Kiste, in welcher Alices Sachen drin waren und fand tatsächlich ihre ganzen alten Arbeitsunterlagen, die sie für gewöhnlich immer zuhause bearbeitet hatte. Ihre alten Tagebücher, die welche von der Sorte waren, die ein Vorhängeschloss hatten und somit gut gesichert waren. Aber da stach noch etwas anderes hervor. Ein altes Foto, welches eine wunderschöne junge Frau zeigte, die etwas schüchtern in die Kamera lächelte. Neben ihr stand ein recht groß gewachsener und leicht korpulenter Mann mit Kinnbart, der knapp fünf bis sechs Jahre älter war. Die beiden wirkten ziemlich glücklich zusammen auf dem Foto. Nastasjas Augen weiteten sich, als sie das Bild sah und jegliche Farbe wich aus ihrem Gesicht. Es sah wirklich so aus, als hätte sie einen Geist gesehen. „Ich… ich glaub es nicht“, brachte sie hervor und zeigte Watari das Foto. „Was zum Teufel hatte Alice mit Joseph am Hut?“

„Welcher Joseph?“ fragte L, der nicht ganz dahinter kam, was seine Mutter damit meinte. Und ihre Erklärung war umso schockierender. „Joseph Brown. Derselbe, der mit mir zusammen an den Eva-Experimenten gearbeitet hat und auch in den Proxy-Experimenten mit drin hing. Derselbe Mann, der deinen Vater auf dem Gewissen hat und wegen dem Frederica zwanzig Jahre im Institut eingesperrt war! Was zum Teufel hatte Alice mit ihm zu schaffen?“

Institut eingesperrt war! Was zum Teufel hatte Alice mit ihm zu schaffen?“

Das Leid der Alice Wammy

Sie alle waren sprachlos und konnten sich das selbst nicht erklären. Am allerwenigsten Watari, der nur den Kopf schüttelte und selbst meinte „Alice und ich haben doch immer über alles gesprochen. Womöglich kannten sich die beiden von der Arbeit her und…“

„Das sieht mir aber nicht ganz danach aus“, warf Beyond ein und nahm selbst das Foto unter die Lupe. „So wie die aussehen, scheinen die ja richtig ineinander verliebt gewesen zu sein. Oder zumindest Alice. Das nenne ich mal ein starkes Ding. Ausgerechnet Ihre Tochter war mit dem Typen zusammen, der diese ganzen kranken Experimente angezettelt hat. Mich würde ja mal echt interessieren, wie viel die Gute denn so über ihren Macker gewusst hat.“

„Unsinn“, rief Watari und schüttelte den Kopf. „Mit so einem Kerl hätte sich Alice niemals abgegeben, wenn sie gewusst hätte, was er für Pläne hatte.“ „Wie Sie meinen. Aber es heißt auch, Liebe macht blind.“ „Beyond, es reicht“, schaltete sich schließlich L ein, der sich das nicht mehr mit anhören konnte, wie der Serienmörder Watari immer wieder so stichelte. Immerhin ging es um dessen verstorbene Tochter und da konnte man eben auch etwas mehr Rücksicht erwarten. Trotzdem fragte auch er sich natürlich, was Alice denn mit diesem Joseph Brown zu schaffen gehabt hatte. Denn es war wirklich mehr als eindeutig zu sehen, dass Alice mit ihm sehr glücklich aussah. Auf der Rückseite des Fotos sah er, dass es knapp ein Jahr vor ihrem tödlichen Unfall aufgenommen worden war. Wie standen die beiden zueinander? Nun, das galt es jetzt herauszufinden und so durchsuchten sie die Unterlagen und nebenbei fragte Nastasja Dathan „Ich habe in der Schublade des Schreibtischs Blutflecken entdeckt und es sah so aus, als hätte etwas Blutverschmiertes da drin gelegen. Haben Sie vielleicht eine Idee, was das gewesen sein könnte?“ „Eine alte Rasierklinge. Ich hab sie aber schon längst entsorgt, weil sie durch das Blut schon ein wenig rostig war.“

„Eine blutige Rasierklinge?“ fragte die Russin und Dathan nickte. „Was sucht denn so etwas bei ihr in der Schreibtischschublade?“ Nun, Beyond hatte schon die Erklärung dafür, aber er blieb lieber ruhig und sagte nichts. Aber so wie Nastasja aussah, schien es sie weniger zu schockieren als Watari. Traurig senkte sie den Blick und als sie etwas aus der Kiste holte, das wie ein medizinisches Rezept aussah, da schüttelte sie den Kopf und meinte nur „Ich hatte ja schon geahnt gehabt, dass Alice Probleme hatte, aber dass es so schlimm war, hätte ich nicht gedacht.“

„Wieso? Was ist denn los?“ Sie zeigte das Rezept und darauf standen nicht wenige Mengen Rohypnol. „Flunitrazepam ist ein sehr starkes Beruhigungsmittel und wird gegen Angstzustände, Nervosität und Schlafstörungen eingesetzt. Das Zeug ist nicht ohne und führt sehr schnell zur Abhängigkeit.“

„Ja aber wieso sollte Alice das nehmen?“ fragte Watari und verstand es einfach nicht. „Sie hat mir zwar gesagt, dass sie manchmal wegen dem Stress Schlafstörungen hatte, aber wieso hat sie mir denn nicht gesagt, dass es ihr so schlecht geht?“

„Weil sie dir keinen Kummer machen wollte. Sie wollte doch nur, dass du stolz auf sie bist und du hattest immer so große Erwartungen. Da hat sie es einfach nicht übers Herz gebracht, dir zu sagen, dass es ihr manchmal ziemlich schlecht ging. Zugegeben, mit mir hat sie damals auch nicht viel darüber gesprochen, aber Henry hatte mir erzählt, dass Alice schon während ihrer Schulzeit oft gemobbt worden war.“

„Gemobbt? Weswegen denn?“ Die Russin dachte nach und überlegte sich, wie sie es am besten erklären sollte. „Nun, Alice hatte Neider, sehr viele sogar. Immerhin war sie nicht nur sehr intelligent und kam aus gutem Hause, sie war auch sehr gut aussehend und hatte schon immer eine sehr vornehme Ausstrahlung gehabt. So als wäre sie eben eine Prinzessin. Das war zwar nie ihre Absicht, aber sie hatte eben dieses Charisma. Sie war ein sehr stiller Mensch und eigentlich so eher das Gegenteil von mir. Denn sie hat sich oft zurückgezogen und nicht selten hab ich sie aus ihrem Schneckenhaus rausholen müssen. Wer sie nicht näher kannte, hat sie oft für arrogant gehalten. Deshalb hatte sie auch kaum Freunde. Und im Krankenhaus lief es auch nicht immer rund. Seit sie Chefärztin war, hatte sie kaum noch mit jemandem gesprochen und oft unter Magenschmerzen und Kopfschmerzen gelitten. Und einmal hat sie einen Nervenzusammenbruch erlitten.“ Watari senkte den Blick und konnte es nicht glauben. Er hatte doch immer gedacht gehabt, dass Alice keine Probleme hatte und wunderbar in ihrem Job zurechtkam. Immer, wenn sie zuhause war, hatte sie ganz normal gewirkt und sie hatten viel zusammen gelacht und Schach gespielt. Sie war lebensfroh und zielstrebig gewesen, das war die Alice gewesen, die er gekannt hatte. Doch wenn Nastasja sie beschrieb, klang das nach einer völlig anderen Person, aber nicht wie seine kleine Alice. „Ich verstehe das nicht. Ich hätte doch etwas merken müssen, wenn es ihr doch so schlecht ging. Wieso hat sie denn nie mit mir gesprochen und mir nicht gesagt, dass sie einen Nervenzusammenbruch hatte und Medikamente nehmen musste?“

„Weil sie dich nicht enttäuschen wollte. Du warst so stolz auf sie, als sie zur jüngsten Chefärztin ernannt wurde und es hätte ihr das Herz gebrochen, dein Bild von ihr zu zerstören. Ich musste ihr versprechen, niemandem etwas von dem Nervenzusammenbruch zu erzählen, aber im Gegenzug verlangte ich von ihr, dass sie sich Hilfe suchte. Und eine Zeit lang schien es ihr tatsächlich etwas besser zu gehen und es schien so, als hätte sie wohl jemanden gefunden, der ihr wohl das geben konnte, was sie brauchte. Ich hatte erst gedacht, es wäre Will. Ich meine, er kam sogar schon zu mir und fragte mich, ob ich ihm vielleicht dabei helfen könnte, ihn ein wenig mit Alice näher zu bringen. Aber… so wie es aussieht, haben wir uns wohl alle geirrt und es war nicht Will, sondern Joseph. Ich kapier es nicht. Entweder muss dieser Kerl ihr das Blaue vom Himmel erzählt haben, um sie um den Finger zu wickeln, oder aber er war früher mal ein anderer Mensch gewesen, was ich irgendwie stark bezweifle. Er war ein Dreckskerl, als ich mit ihm zusammengearbeitet habe und ich hab ihm auch keinen Millimeter über den Weg getraut.“ Beyond sagte nichts dazu, sondern dachte nach. Es war irgendwie seltsam… Alice Wammy war intelligent und gut aussehend gewesen und der ganze Stolz ihres Vaters. Aber das war alles nur die äußere Fassade, denn im Inneren schien sie offenbar enorme Probleme gehabt zu haben. Die Ausgrenzungen der anderen, der gewaltige Erfolgsdruck, die Angst vor dem Versagen, Wataris Ansprüche. Sie hat ihm vorgegeben, jemand zu sein, der sie eigentlich nicht war. Nur weil sie ihn nicht enttäuschen, sondern seine Erwartungen erfüllen wollte. Alice war wie… er selbst. Ja, sie hatte die gleichen Probleme gehabt wie er. Er war genauso wie sie gezwungen gewesen, allen eine ganz andere Person vorzugeben und sich zu verstellen, weil er die Erwartungen der anderen nicht enttäuschen wollte. Genauso wie Andrew. „Was wenn… was wenn es kein Unfall war? Kann es sein, dass Alice vielleicht tatsächlich Selbstmord begangen hat?“

„Also das ist nun etwas voreilig, Beyond“, wandte Nastasja ein, die nicht zu hundert Prozent überzeugt war. „Alice hatte vielleicht Probleme, aber sie war einfach nicht der Mensch, der Selbstmord begangen hätte.“

„Und die Rasierklinge? Das sieht doch deutlich danach aus, als hätte sie versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden. Denkt doch mal an Andy. Der hat es auch damals geschafft, vor allen anderen so zu tun, als wäre alles in bester Ordnung und in Wahrheit war er ein nervliches Wrack und hat Selbstmord begangen. Vielleicht war es ja auch kein direkter Suizid gewesen. Womöglich hatte sie schon den Gedanken gefasst und war so abgelenkt, dass sie den Unfall unbeabsichtigt herbeigeführt hatte. Das wäre doch wahrscheinlich. Irgendetwas muss der Auslöser gewesen sein.“ Und damit wandte er sich an Watari. „Hat sich Ihre Tochter vielleicht merkwürdig verhalten, bevor sie den Unfall hatte?“ Zuerst wollte der alte Mann mit nein antworten, aber das wäre gelogen. Denn er erinnerte sich noch so deutlich an diese eine Szene, als wäre es erst gestern gewesen. Denn er hatte sich diesen einen Abend immer und immer wieder durch den Kopf gehen lassen, weil er sich jahrelang das Hirn zermartert hatte, was Alice ihm damals sagen wollte, als sie nach Hause kam. „Es war ein Tag vor Silvester gewesen, bevor sie den Unfall hatte. Da kam sie spät nach Hause und ich hatte zu der Zeit Freunde bei mir und wir hatten über alte Zeiten geredet und die Idee auf den Tisch gebracht, Alice und Will näher zusammenzubringen in der Hoffnung, dass sich vielleicht etwas ergibt. Als sie nach Hause kam, war sie durcheinander und wollte mich unbedingt sprechen, aber ich dachte, es wäre nur irgendetwas mit einem Patienten gewesen, was wir auch später hätten besprechen können. Also habe ich sie vertröstet und bin mit ihr ins Wohnzimmer gegangen. Dort haben wir die Idee näher gebracht, dass sie sich mal mit Will treffen könnte. Er war damals Mitglied des Vorstands geworden und hätte ihr auch bei ihrer Karriere deutlich weiterhelfen können. Alice war aber nicht sehr begeistert gewesen. Sie war ziemlich blass und nervös gewesen und ist dann in ihr Zimmer gerannt. Als ich nach der Verabschiedung meiner Freunde zu ihr kam, um mit ihr zu sprechen, war sie auf einmal so kalt und abweisend zu mir. Sie sagte, dass sich alles erledigt habe und sie hat jegliches Gespräch abgeblockt. Dann hat sie sich ihren Mantel geschnappt und ist gegangen. Ich habe noch gesehen, dass sie an ihrem Arm blaue Flecken hatte und als sie in den frühen Morgenstunden zurückkam, da hat sie auch kein Wort mit mir gesprochen. Stattdessen hat sie nur stundenlange Telefonate geführt, bevor sie dann zur Silvesterparty gegangen war. Egal was ich auch versucht habe, ich bin einfach nicht mehr zu ihr durchgedrungen und ich habe mir lange darüber den Kopf zerbrochen, worüber sie unbedingt mit mir sprechen wollte. Aber ich kann mir einfach nicht erklären, was mit ihr passiert ist.“

„Dann sehen wir doch mal in ihren Tagebüchern nach. Wir brauchen nur etwas, um dieses Vorhängeschloss zu öffnen.“

„Einen Moment, ich hol eben Werkzeug.“ Damit verschwand Dathan und kam wenig später mit einer Zange zurück und schaffte es tatsächlich, das Schloss zu öffnen und das Vorhängeschloss abzunehmen. Anerkennend klopfte Nastasja ihm auf die Schulter. „Nicht schlecht. Das nenne ich saubere Arbeit.“ Und bei dieser plötzlichen Berührung zuckte der 24-jährige zusammen, ließ vor Schreck die Zange fallen und wirkte nun völlig von der Rolle. „Äh… da-danke. Ich… also das… ich ha-habe…“ Beyond konnte nicht anders und musste darüber lachen. Er amüsierte sich regelrecht über Dathans heftige Reaktion und wahrscheinlich hätte er auch ihn noch ein bisschen geärgert, aber dazu ließ es L nicht kommen und zog ihn am Ohr, wobei er ihn warnte „Ich weiß, was du vorhast. Und ich sag es dir hier und jetzt, du Knalltüte: lass es bleiben.“

„Ich mach doch gar nichts.“ Nun öffneten sie das Tagebuch und sogleich las Nastasja ein paar der Einträge.
 

15. Oktober
 

Seit Wochen leide ich unter Magenschmerzen und Kopfschmerzen. Die Arbeit wächst mir langsam über den Kopf und ich weiß nicht, wie das weitergehen soll. Wofür tue ich das eigentlich alles noch? Irgendwie kommt mir mein ganzes Leben so sinnlos vor. Egal wie viel ich auch kämpfe, es bringt doch sowieso nichts. Und selbst meine besten Freunde haben inzwischen ihr eigenes Leben. Nastasja und Henry sind glücklich verheiratet und ich? Ich bin doch nur noch das fünfte Rad am Wagen und ich habe doch nichts mehr zu suchen. Das Trio existiert nicht mehr und wir machen uns doch nur alle etwas vor. Ich bin überflüssig geworden und niemand braucht mich. Meine Kollegen hassen mich, die Patienten halten mich für arrogant und hochnäsig und Will wird immer aufdringlicher. Ich hasse diesen schmierigen Kerl, er kann mich einfach nicht in Ruhe lassen. Erst letztens hat er mir im Nachtzimmer aufgelauert und mich belästigt. Am liebsten würde ich Beschwerde einreichen, aber er sitzt im Vorstand und sitzt eindeutig am längeren Hebel. Und ich habe sowieso niemanden, der hinter mir steht. Alle gehen mir aus dem Weg, ignorieren mich und meine Anweisungen und sie lassen keinen Zeitpunkt aus, um mich zu demütigen.
 

22. Oktober
 

Obwohl Joseph mir angeraten hat, das Rohypnol nicht mehr zu nehmen, habe ich es nicht geschafft. Meine Nerven liegen blank und das Zittern hört nicht mehr auf. Jedes Mal, wenn ich das Krankenhaus sehe, bekomme ich Panik und Herzrasen und am liebsten würde ich dort nie wieder hingehen. Ich habe Angst. Angst vor Wills Belästigungen und den Schikanen meiner Kollegen. Irgendjemand erpresst mich mit Fotos, wo ich mich gerade umgezogen habe. Was soll ich nur tun? Meinem Vater kann ich doch wohl schlecht die Wahrheit sagen. Er wird am Boden zerstört sein, wenn er erfährt, dass ich ihn so sehr enttäuscht habe. Wie gerne würde ich doch die Tochter für ihn sein, die er so gerne hätte. Aber… ich kann es nicht. Ich kann die Entziehungskur nicht machen wie Joseph mir angeraten hat. Wenn rauskommt, dass ich Rezepte fälsche, um so an Rohypnol zu kommen, ist meine Karriere vorbei. Ich würde meine Zulassung verlieren und könnte weder Vater, noch meinen Freunden in die Augen sehen. Was soll ich nur tun? Ich versuche ja schon die Dosis langsam runterzusetzen, aber es wirkt einfach nicht. Stattdessen muss ich sie erhöhen, ansonsten werden sich die Panikattacken nur noch verschlimmern. Ich kann nicht mehr… ich will nicht mehr…
 

30. Oktober
 

Joseph hat mich heute zum Essen ausgeführt und mir angeboten, mit ihm zusammen zu arbeiten. Gemeinsam wollen wir mehr über das Unborn-Phänomen herausfinden und so könnte ich endlich von diesem schrecklichen Job im Krankenhaus weg. Und vor allem vor Will. Wäre Joseph nicht dazwischengegangen, hätte dieser Mistkerl weiß Gott noch was mit mir gemacht. Ich habe langsam wirklich Angst vor Will. Am liebsten würde ich ihn anzeigen, aber er weiß von meinem Medikamentenproblem und setzt mich unter Druck. Wenn ich nicht mit ihm schlafe, wird er publik machen, dass ich abhängig bin. Joseph hat mir versprochen, alles zu tun, um zu verhindern, dass er damit durchkommt. Gerne würde ich mit Nastasja oder meinem Vater darüber sprechen, aber die kennen Will nicht. Dieser Mistkerl kann sich so perfekt verstellen und ist in den Augen der anderen der absolut perfekte Mann. Keiner wird mir glauben, wenn ich die Wahrheit sage. Joseph gibt sich wirklich Mühe und er beharrt darauf, dass ich die Arbeit im Krankenhaus beende und bei ihm im Institut anfange. Wenn ich das mache, könnte ich ohne Bedenken den Entzug machen. Hoffentlich kriege ich das irgendwie mit Will geregelt.
 

01. November
 

Ich bin müde…
 

02. November
 

Ich will schlafen…
 

06. November
 

Wann hören die Kopfschmerzen auf? Vor meinen Augen tanzen Lichter. Ich spüre da ein Krabbeln in meinem Kopf, alles wirkt so fremd und unwirklich… ist es der Schlafentzug, oder werde ich langsam verrückt? Diese Schmerzen… wieso hört das nicht auf? Schlaf… ich will schlafen. Aber ich kann nicht. Ich hab Angst davor, einzuschlafen und wieder diese Alpträume zu durchleben. Aber noch mehr habe ich Angst davor, wieder aufzuwachen.
 

12. November
 

Mein Kopf schmerzt furchtbar, genauso wie mein Magen. Mir ist schlecht und ich nehme schon Magenberuhigungsmittel, weil ich mich fast täglich übergeben muss, wenn ich zur Arbeit gehe. Schon seit Tagen ohne Schlaf. Ich weiß nicht, wie lange ich das noch schaffen soll. Warum nur hassen mich alle so? Irgendwie komme ich überhaupt nicht mehr weiter, egal was ich auch tue und mache. Die ganze Zeit strenge ich mich an und doch funktioniert einfach gar nichts mehr. Ich fühl mich vollkommen ausgebrannt. Ist es meine Schuld? Joseph sagt, dass die Welt schuld daran ist. Vielleicht ist es besser, wenn die Welt einfach verschwindet, oder?
 


 

19. Dezember
 

Joseph ruft mich schon die ganze Zeit an, aber ich will ihn nicht sprechen. Nach dem, was er sich geleistet hat, will ich ihn nicht mehr sehen. Und diesen Lügner und Verräter wollte ich auch noch heiraten! So langsam habe ich das Gefühl, dass mich wirklich jeder im Stich lässt. Was habe ich nur falsch gemacht? Ich verstehe das einfach nicht.
 

30. Dezember
 

Ich werde diesen Mistkerl niemals verzeihen, was er mir angetan hat. Wenn ich könnte, würde ich ihn am liebsten eigenhändig umbringen. Ich habe die doppelte Dosis Rohypnol genommen, aber es hilft kaum noch etwas. Meine Nerven liegen blank und am liebsten würde ich einfach nur noch davonlaufen oder sterben. Verdammt noch mal, ich kann einfach nicht mehr. Ich will das alles nicht mehr. Ich bin vollkommen am Ende, absolut ausgebrannt. Selbst die einfachsten Dinge schaffe ich nicht mehr, ohne gleich kurz vor einem Nervenzusammenbruch zu stehen. Meine Panikattacken verschlimmern sich immer weiter und ich hab sogar schon Angst davor, das Haus überhaupt zu verlassen. Wie soll das nur weitergehen? Wenn ich die Dosis Rohypnol noch weiter erhöhe, wird es nur noch schwieriger, genug zu besorgen. So langsam komme ich nicht mehr weiter und selbst Vater wollte mir nicht zuhören. Stattdessen fing er nur wieder mit seiner Lobhudelei an und wie stolz er auf meine Arbeit ist. Gott, wie ich das hasse. Ich bin es so leid.
 

31. Dezember
 

Ich muss es beenden! Ich muss es beenden! Ich muss es beenden! Ich muss es beenden! Ich muss es beenden! Ich muss es beenden! Ich muss es beenden! Ich muss es beenden! Ich muss es beenden! Ich muss es beenden! Ich muss es beenden! Ich muss es beenden! Ich muss es beenden! Ich muss es beenden! Ich muss es beenden! Ich muss es beenden! Ich muss es beenden! Ich muss es beenden! Ich muss es beenden! Ich muss es beenden! Ich muss es beenden! Ich muss es beenden! Ich muss es beenden! Ich muss es beenden! Ich muss es beenden! Ich muss es beenden! Ich muss es beenden! Ich muss es beenden! Ich muss es beenden! Ich muss es beenden! Ich muss es beenden! Ich muss es beenden! Ich muss es beenden!
 

Nastasja sprach nicht weiter, sondern kämpfte mit den Tränen. Für Watari war es bereits zu spät. Er vergoss stille Tränen und verbarg schluchzend das Gesicht in den Händen. Selbst Beyond waren in diesem Moment seine vorlauten Sprüche vergangen. Wie schlimm musste es für einen Vater sein zu erfahren, dass die eigene Tochter so sehr gelitten hatte und von ihren Kollegen schikaniert und erpresst wurde? Alice hatte ihre Medikamentenabhängigkeit und ihre mehr als schlechte gesundheitliche Verfassung erfolgreich geheim halten und den Schein der perfekten und vorbildlichen Tochter wahren zu können. All das nur, weil er immer so große Erwartungen an sie gehabt hatte. Er hatte noch versucht gehabt, sie mit diesem Will zu verkuppeln und hatte dabei nicht geahnt, wie sehr Alice unter ihm zu leiden hatte. Was, wenn dieser Typ ihr etwas angetan hatte? Oder was wenn dieser Joseph Brown für ihren Tod verantwortlich war, weil sie herausgefunden hatte, was er wirklich im Schilde führte? Doch diese Fragen waren es nicht, die Watari durch den Kopf gingen. Mit schwacher Stimme, die von unendlichem Schmerzen zeugte, sprach er nur diese Worte:
 

„Ich habe mein Kind getötet…“

Ungereimtheiten

Da es für Watari zu viel war und er diesen Schock erst mal verkraften musste, verabschiedeten sie sich von Dathan, der ihnen versprach, die Kisten vorbeizubringen. Als sie wieder im Hotel waren, zogen sie sich auf ihre Zimmer zurück und L entging nicht, wie still und nachdenklich Beyond geworden war. Das machte auch ihm so langsam Sorgen und so nahm er neben ihm auf der Couch Platz und legte einen Arm um ihn. „Nun sag schon, was dir durch den Kopf geht.“ „Ich frage mich, ob das so etwas wie Ironie des Schicksals ist.“ „Meinst du das mit Alice?“ Der Serienmörder nickte nachdenklich und sogleich kuschelte er sich an L. Da sie beide gerade alleine waren, störte es den Detektiv sowieso nicht im Geringsten. Es war schon ungewöhnlich, dass Beyond derjenige war, der in L’s Armen lag, denn normalerweise war es genau umgekehrt. Und wenn das der Fall war, dann beschäftigte ihn auch etwas. „Was genau beschäftigt dich?“ „Irgendwie ist sie genauso wie Andy und ich. Auch sie hat versucht, sich zu verstellen, weil sie Wataris Ansprüchen und Vorstellungen gerecht werden wollte. Und dabei hat der Alte nicht gemerkt, wie kaputt sie eigentlich schon war. Burn-Out-Syndrom, schwere Depressionen, Medikamentenabhängigkeit, Mobbing am Arbeitsplatz… Langsam frage ich mich, ob der Alte überhaupt weiß, was er da anrichtet. Er hat niemanden von uns gefragt, ob wir das überhaupt wollen und hat das alles von uns erwartet, weil wir in irgendetwas Talent haben und uns durch einen überdurchschnittlichen Intellekt auszeichnen. Aber hat er uns je richtig geholfen? Andy hat so sehr unter dem Trauma gelitten und hat sich selbst so dermaßen unter Druck gesetzt, dass er daran völlig zerbrochen ist und Selbstmord begangen hat. Und ich… ich habe mich unverstanden gefühlt. Die Kinder haben mich schikaniert und ich war auf mich allein gestellt. Immerzu hieß es, ich müsse so wie du sein und müsse aufhören, ich selbst zu sein. Und um zu gewährleisten, dass ich wirklich so wie du werde, haben sie mir meinen Namen, meine Identität und meine ganze Vergangenheit geraubt. Das habe ich Watari nie verzeihen können. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass durch seine hohen Erwartungen Andy in den Selbstmord getrieben wurde. Und jetzt erfahre ich, dass er denselben Fehler schon mal gemacht hat und das mit seiner eigenen Tochter.“

„Glaubst du nicht, dass Watari das nicht auch weiß und er sich schwere Vorwürfe deswegen macht?“

„Schön und gut, wenn er sich Vorwürfe macht. Aber hätte er sich ein einziges Mal die Mühe gemacht, uns zuzuhören, anstatt immer nur seine eigenen Wünsche und Vorstellungen durchzusetzen, dann hätte so vieles vielleicht nicht passieren müssen.“ Es war deutlich zu hören, dass Beyond die ganze Sache immer noch sehr beschäftigte und leider wusste L da auch nicht so wirklich, wie er helfen konnte. Dass Beyond einen Groll gegen Watari hegte, wusste er und er konnte es auch nicht ändern. Natürlich hatte die Geschichte mit Alice ihn nicht kalt gelassen, aber er versuchte auch Watari ein Stück weit in Schutz zu nehmen. Er wusste, dass dieser niemals schlechte Absichten gehegt hatte. Wahrscheinlich hatte er nur das Beste gewollt und leider einige Fehler gemacht. Fehler, die Andrew und wahrscheinlich auch Alice das Leben gekostet haben. „Er ist doch schon genug bestraft worden. Er hat seine Frau und seine Tochter verloren und erst heute erfahren, wie schlecht es Alice ging. Dann sind meine Eltern gestorben, die wie eine Familie für ihn waren und nun hat er Herzprobleme. Findest du nicht auch, er hat schon genug gelitten?“ „Was kümmert’s mich? Ich werde ihm nie verzeihen, dass Andy seinetwegen Selbstmord begangen hat und daran wird sich auch nie etwas ändern. Oder könntest du den Browns jemals verzeihen, was sie deiner Familie angetan haben?“ „Nein“, gab L zu und seufzte leise. „Aber könntest du wenigstens damit aufhören, Watari mit diesen ganzen Sachen zu quälen? Er ist doch bald im Ruhestand und dann wird Frederica seine Nachfolge übernehmen.“

„Gegen die habe ich ja auch nichts. Wäre sie nicht gewesen, wären wir alle nicht hier und sie hat immerhin 20 Jahre lang gelitten und sich geopfert, damit wir glücklich werden können.“

„Und Watari hat 20 Jahre seines Lebens geopfert, um mich zu beschützen. Wäre er nicht gewesen, hätte Joseph mich gefunden und genauso umgebracht wie meine Eltern. Verstehst du? Watari ist für mich wie ein Vater, ein Großvater und war all die Jahre meine einzige Bezugsperson. Außer ihm hatte ich all die Jahre niemanden, deswegen kann ich ihm auch keine Vorwürfe machen und will ihn auch ein Stück weit in Schutz nehmen.“

„Ich bin dir ja auch nicht böse deswegen. Natürlich weiß ich das alles und ich verstehe das auch. Ich will mich auch nicht mit dir deswegen streiten, das wäre sowieso ungerechtfertigt. Ich bin einfach nur froh, dass es uns allen gut geht und wir zwei trotz aller Probleme zusammen sind. Andy und Oliver sind glücklich verheiratet und werden schon bald Eltern, wenn Rumiko das Kind zur Welt gebracht hat. Die beiden haben schon einen Namen für das Mädchen. Sie wollen sie Charity nennen.“

„Ein schöner Name“, gab L zu und musste wieder daran denken, wie er zu seinem Namen gekommen war. Nämlich durch eine verlorene Wette zwischen Nastasja und Liam. „Die beiden haben auch schon eines von Olivers Hobbyzimmern ausgeräumt und richten jetzt das Kinderzimmer ein. Ich hätte nicht gedacht, dass ausgerechnet Olli mit der Idee ankommt, dass er mal gerne Kinder haben würde. Ich meine, er ist doch sonst immer der Sprunghafte und Launische von uns gewesen, der immer nur das macht, woran er Spaß hat und was ihn gerade interessiert. Und wenn ich so überlege… Rumiko und Jamie sind verheiratet, Elion und Ezra sind glücklich zusammen und wer weiß… vielleicht klingeln ja auch bei deinem Bruder bald die Hochzeitsglocken.“ Bei diesem Gedanken riss L die Augen weit auf vor Entsetzen und sagte sofort „Nicht, wenn ich das verhindern kann.“ Tja, selbst nach dem halben Jahr hatte er immer noch eine Abneigung gegen Liam und traute ihm nicht über den Weg. Und das beruhte leider auf Gegenseitigkeit. Denn Liam konnte L genauso wenig ausstehen, arrangierte sich aber mit ihm, genauso wie L mit ihm. Einzig und allein nur Jeremiel zuliebe. „Die einzigen Solos in der Familie sind eigentlich nur deine Mutter und der Pimpf. Bin ja mal gespannt, wann es bei denen funkt.“

„Lass da bitte meine Mutter aus dem Spiel. So etwas hat sie gewiss nicht nötig.“

„Was denn? Hat sie nicht selbst gesagt, sie würde sich einsam fühlen? Vielleicht können wir sie ja mal verkuppeln, was hältst du davon? Dieser Dathan zum Beispiel.“

„Wie kommst du denn jetzt auf den?“

„Na hast du denn nicht gemerkt, wie er sie angeschaut hat?“

„Er hat uns alle angeschaut und er hat in meinen Augen wie du ausgesehen, wenn du in deine Rolle als misanthropischer Zyniker verfallen bist.“

„So ein Unsinn. Er hat eindeutig ein Auge auf deine Mutter geworfen. Darauf verwette ich mein Augenlicht.“ L war anzusehen, dass diese Idee ihm überhaupt nicht gefiel und er absolut dagegen war, seine Mutter zu verkuppeln. Vor allem mit so einem Kerl, der dermaßen zwielichtig und verdächtig war. „Wir wissen doch gar nicht, wer er ist und ob wir ihm vertrauen können. Woher wollen wir wissen, dass er eine Amnesie hat und uns nichts vorlügt?“ „Jetzt mal ganz im Ernst: wieso zum Teufel sollte uns ein dermaßen gruseliger Kerl mit komplett entstellter Visage und fragwürdiger Vergangenheit uns an der Nase herumführen? Wie wäre es, wenn wir mehr über ihn recherchieren?“ Mit diesem Vorschlag war L einverstanden und so wollten sie sich eigentlich an den Laptop setzen, da merkten sie, dass er gar nicht da war. „Merkwürdig“, sagte L und begann zu suchen. „Hast du den Laptop weggeräumt?“ „Nein. Aber vielleicht hat dein Bruder ihn ja, weil er vielleicht wieder mit Liam über Webcam chatten wollte.“ Also verließen sie die Suite und gingen in jene nebenan, wo sie tatsächlich Jeremiel am Laptop sitzen sahen. Er sah ziemlich blass und angeschlagen aus, was an seinen Kopfschmerzen lag. Und wie Beyond schon richtig geahnt hatte, war er mit Liam am Chatten. „Vielleicht solltest du dich mal untersuchen lassen. So etwas ist schon recht besorgniserregend. Nicht, dass du krank wirst.“

„Keine Sorge. Mum hat schon soweit alles geprüft und es ist nichts Ernstes. Vielleicht liegt es nur am Wetter. Ich bin für so etwas ohnehin schon sehr anfällig. Aber weißt du, ich finde es schade, dass du nicht mitkommen konntest. Ich hätte mich so sehr gefreut.“ „Ich mich doch auch“, seufzte Liam. „Aber ich habe leider viel zu tun. Und so hast du auch einen schönen Ausflug mit deiner Familie. Du hör mal, dein Bruder steht da übrigens schon hinter dir und wetzt die Messer. Wir setzen unser Gespräch am besten später fort.“ Sofort drehte sich Jeremiel um und erkannte L und Beyond. Schnell verabschiedete er sich von Liam und beendete das Gespräch. „L, entschuldige. Mein Laptop ist nicht angesprungen und da habe ich mir eben deinen ausgeborgt.“

„Wie geht es dir denn so?“

„Mum hat mir etwas gegen die Kopfschmerzen gegeben und gesagt, ich soll mich heute ausruhen. Ich wollte auch nur kurz Liam Bescheid sagen, dass ich gut angekommen bin.“

„Er scheint dich ja ganz schön zu kontrollieren“, bemerkte L etwas kühl, aber Jeremiel ließ sich nicht beirren. „Er macht sich nur Sorgen um mich und ich habe dir schon oft gesagt, dass du aufhören sollst, immer so schlechte Stimmung gegen ihn zu machen. Er ist mein Freund und nicht deiner und es ist mir gleich, ob du ihn magst oder nicht.“ Inzwischen konnte Jeremiel ziemlich den Ton angeben, wenn er wollte. Zwar kam er immer noch mehr nach seinem Vater und war nach wie vor fast genauso ausgeglichen wie Elion, aber inzwischen hatte er seine Stellung als älterer Zwillingsbruder mehr als klar gemacht und ließ sich auch nicht mehr reinreden, was seine Beziehung zu Liam anging. Und wenn L so etwas sagte, unterbrach er ihn einfach und erklärte „L, du bist nicht mein Vater und ich bin der Ältere von uns beiden. Also hör auf, mir da irgendetwas reinzureden.“ Besonders Nastasja war in der Hinsicht stolz auf ihn und klopfte ihm dann meist lobend auf die Schulter und sagte breit grinsend „Ja, ja. Zumindest die Willensstärke und den Dickkopf hat er eindeutig von mir!“ Na ob das wirklich so gut war, blieb fraglich. Beyond seinerseits konnte einfach nicht widerstehen und begann einfach mal ganz dreist eine Hochzeitsmelodie vor sich hinzusummen, um L noch zusätzlich zu ärgern, da bekam er von beiden Lawliet-Zwillingen eins mit der Zeitung verpasst. „Echt Mann“, sagte Jeremiel und schüttelte den Kopf. „Du wirst dich auch nie ändern, oder?“

„Was denn? Ihr seid doch ein niedliches Pärchen. Rumiko hat natürlich nicht widerstehen können und auch noch eure Geschichte als Yaoi-Manga rausgebracht. Wie ging der Titel noch mal? „Fesseln der Leidenschaft“ oder irgendein anderer kitschiger Titel. Und überhaupt: Oliver und Andy haben ja auch schon geheiratet. Da frag ich mich natürlich, ob…“ „Das muss jetzt wirklich nicht sein, du Klatschtante“, unterbrach L ihn sofort und verpasste ihm wieder eins mit der Zeitung. „Und jetzt halt gefälligst die Klappe.“ Doch Jeremiel hatte schon verstanden, was Beyond sagen wollte und wandte etwas verlegen den Blick ab. „Nun, ehrlich gesagt habe ich auch mal darüber nachgedacht. Aber… ehrlich gesagt hab ich keine Ahnung, wie ich ihn fragen soll und wann der geeignete Zeitpunkt dafür ist. Und außerdem weiß ich auch nicht, ob er so etwas überhaupt will. Und wie sieht es bei euch beiden aus?“ Nun, was das betraf, da waren sich sowohl L als auch Beyond einig: so etwas hatten sie nicht nötig. Sie waren glücklich zusammen, aber fürs Heiraten war keiner von ihnen beiden so wirklich der Typ dafür. Es würde für sie nur Arbeit und Aufwand bedeuten. Das wussten auch alle anderen aus der Familie, deshalb sagte auch niemand etwas dazu. Nachdem dieses Thema endlich beendet war, kam L auf eine Idee. „Jeremiel, wie fit fühlst du dich?“

„Kommt drauf an wofür. Für einen Diskobesuch wird es wahrscheinlich nicht reichen. Wieso, was hast du?“

„Nun, da du ja unter die Detektive gehen willst, kannst du ja mal dein Geschick beweisen und mal versuchen, etwas über einen gewissen Dathan Lumis Kinsley herauszufinden. Er ist vor zwei Jahren in Greenwich aufgetaucht mit einer Amnesie und hat am ganzen Körper schwere Verbrennungen erlitten. Er verwaltet jetzt die Villa, in der Watari früher gelebt hat.“

„L will den neuen Freund eurer Mutter überprüfen.“

„Halt den Rand oder du darfst den Rest des Urlaubs auf der Couch schlafen!“ Jeremiel beschloss, später noch Fragen zu stellen und kam der Bitte seines Bruders natürlich nach. Sogleich setzte er sich wieder an den Laptop und begann zu recherchieren. Dabei schaute sein Bruder ihm etwas über die Schulter und beobachtete, wie er dabei vorging. Nach und nach suchte Jeremiel systematisch alles ab, fand aber nicht wirklich etwas Hilfreiches und nahm schließlich seine übliche Sitzhaltung ein, die der von L und Nastasja so ähnlich war. „Ich finde zwar einen Dathan Lumis Kinsley, der auf deine Beschreibung passen könnte, allerdings sind diese Einträge knapp 28 Jahre alt. In diesen ist von einem Brand die Rede. Ein Restaurant ist damals abgebrannt und es hatte mehre Verletzte und zwei Tote gegeben. Unter den Verletzten war auch ein gewisser Dathan Lumis Kinsley. Er hat am ganzen Körper Verbrennungen zweiten und dritten Grades erlitten, nachdem er wieder reingegangen ist, um jemanden zu retten, der in den Flammen eingeschlossen war. Zwar hat er es geschafft, die Frau unversehrt rauszubringen, allerdings hat seine Kleidung Feuer gefangen und er musste mehrmals reanimiert werden, da er nebenbei noch eine schwere Rauchvergiftung erlitten hatte. Er kam in die Londoner Universitätsklinik und erlag nach drei Wochen seinen Verletzungen. Einen anderen Dathan Lumis Kinsley finde ich leider nicht. Aber seht euch doch mal das Foto an.“ Damit vergrößerte er ein Foto, welches Dathan vor seinen Verbrennungen zeigte. Nun gut, er war kaum wiederzuerkennen, aber es waren eindeutig dieselben roten Augen. Beyond starrte das Foto eine ganze Weile an, legte schließlich den Kopf zur Seite und verschränkte die Arme. „Nun, er sah damals deutlich besser aus als heute.“

„Ja und? Was ist mit seinem Namen?“

„Da kann ich nichts dazu sagen“, antwortete er ganz nüchtern und erklärte „Auch schon als wir ihn getroffen haben, konnte ich weder Name noch Lebenszeit erkennen.“ L platzte nun fast die Hutschnur, als er das hörte und sogleich packte er den Serienmörder am Kragen und blickte ihn finster an. „Und warum zum Teufel hast du das nicht schon früher gesagt?“ „Hast ja nicht danach gefragt, du Genie. Und spätestens seit Frederica und Jeremiel bzw. Sam Leens wundert mich eh nichts mehr. Von Elion kann ich ja auch weder Name noch Lebenszeit erkennen. Vermutlich liegt es daran, weil ich nur von jenen die Lebenszeit sehen kann, die nicht über die Fähigkeit verfügen, die Zeit zu manipulieren. Wahrscheinlich funktionieren die Death Notes in diesen Fällen nicht.“ Soso, dann hatten sie es also mit jemandem zu tun, der die Fähigkeit eines Unvergänglichen beherrschte? Ja aber wieso hatte der Kerl denn sein Gedächtnis verloren und wieso hatte er dann nicht auch gleich seine Verletzungen zurückgesetzt? Das machte irgendwie wenig Sinn. Fragte sich also, was der Kerl war. Ein Proxy? Nein, da hätte Jeremiel doch etwas gespürt, denn er war ja in der Lage, die Anwesenheit von Proxys wahrzunehmen und wenn einer von denen in der Nähe wäre, dann hätte er schon längst etwas gemerkt. Also wer oder was war dieser Dathan dann? „Wenn er kein Proxy ist, muss er ein Unvergänglicher sein.“

„Dann hätte Liam ihn doch schon längst wahrgenommen und er sagte, außer ihm, Eva und seiner Familie gäbe es sonst keine anderen.“

„Ja aber da hat er auch nichts von seinem eigenen alten Lehrmeister gewusst, dem Elion schon begegnet ist. Da scheint es auch mit seinem Gedächtnis sehr lückenhaft zu sein. Da auch der Alpha-Proxy in der Lage ist, seine Präsenz zu verbergen, dürfen wir die Möglichkeit nicht ausschließen, dass er ein Unvergänglicher ist. Immerhin setzt sich bei Proxys der Körper automatisch um 0 Uhr zurück, selbst wenn sie sterben. Aber die Unvergänglichen beherrschen doch dieselben Fähigkeiten, da würde sich die Frage stellen, wieso er seine Verletzungen nicht einfach zurücksetzt.“

„Womöglich liegt es am Gedächtnisverlust“, vermutete Beyond und tatsächlich klang das schon recht plausibel. Stellte sich dann nur noch die Frage, was dieser Unvergängliche vorhatte und was er mit Alice Wammy zu tun gehabt hatte. Und weiterhin war fraglich, ob er ein Freund oder ein Feind war. „Vielleicht sollten wir gleich Frederica bitten, ob sie sich vielleicht mal umhört. Womöglich hat sie ja eine Idee und kann uns da irgendwie weiterhelfen.“ Jeremiel tippte weiter auf dem Computer und suchte nach weiteren Informationen, die vielleicht weiterhelfen konnten. Dann aber stieß er auf etwas, das ihn stutzig machte. „Hier, seht euch das mal an: vor exakt zwei Jahren gab es eine Unfallmeldung in Greenwich. Eine blonde Fahrerin fuhr einen Mann an, der einen Mundschutz trug und schwarzes Haar und rote Augen hatte. Man beobachtete, wie die Frau den Mann in ihren Wagen brachte und weiterfuhr. Bisher wird noch nach dieser Frau gesucht.“ Soso, dann hatte diese Lacie Dravis also Dathan angefahren und anstatt ihn ins Krankenhaus zu bringen, hatte sie ihm zum Pfarrer der Gegend gebracht. Was also bedeutete, dass sie entweder wusste, wer oder was Dathan war, oder aber sie hatte etwas anderes vor. Irgendwie schien der Pfarrer momentan der einzige Anhaltspunkt zu sein. Schließlich stand Beyond auf und wandte sich an die Lawliet-Zwillinge. „Ich statte dem Herrn Pfarrer noch einen Besuch ab. L, besprichst du dich bitte mit Frederica und fragst sie, ob sie etwas über den Unvergänglichen weiß? Vielleicht ist der Pfarrer ja auch einer von denen.“ Als L hörte, was der Serienmörder vorhatte, hielt er ihn am Arm fest und er wirkte besorgt. „Beyond, mach bitte nichts Dummes, klar? Du weißt, wie gefährlich die Unvergänglichen sein können.“ Ach Mensch, der kann einfach nicht damit aufhören, sich Sorgen um mich zu machen. Nun, auf der einen Seite ist das schon echt süß, aber andererseits auch langsam nervig. „L, ich weiß was ich tue. Vertrau mir einfach. Ich werde schon nicht versuchen, dem Pfarrer erst das Messer an die Kehle zu drücken und dann die Fragen zu stellen. So dumm bin selbst ich nicht. Natürlich weiß ich, wie gefährlich diese Wesen sind. Und natürlich lasse ich Vorsicht walten. Wenn er normal mit sich reden lässt, ist ja alles kein Problem. Wenn er aber nicht will, werde ich kein unnötiges Risiko eingehen. In dem Fall können wir ja Frederica fragen, ob sie etwas deutlicher wird. Elion wird da ohnehin nicht mitspielen, weil er ja keine Gewalt anwenden will. Entspann dich einfach und überlass mir den Rest.“

„So engagiert kennt man dich ja eigentlich nicht“, bemerkte Jeremiel und war erstaunt darüber, dass ausgerechnet Beyond sich als Detektiv aufspielte, obwohl das doch nicht sein Ding war und er für gewöhnlich diesen Kampf für Gerechtigkeit lieber L überließ, weil er sich nicht dafür interessierte. Doch der Serienmörder lächelte nur und erklärte „Wenn man jemanden so sehr liebt, dann ist man bereit, seine falschen Prinzipien und seinen Stolz aufzugeben und alles zu tun, um ihm zu helfen. Und wenn ich L bei seiner Arbeit somit am besten unterstützen kann, dann mach ich so etwas eben. Außerdem solltest du dir eines merken: ich bin nicht mehr der mürrische und feindselige Misanthrop wie vorher. Seitdem ich eine Familie habe, setze ich eben auch andere Prioritäten. So, wenn ihr mich bitte entschuldigt. Ich geh eben ein Wort mit dem Pfarrer reden.“

Besuch beim Pfarrer

Die Kirche St. Michael war groß und im gotischen Stil gebaut worden. Vor dem Eingang hielt eine große Engelsstatue Wache, die den abgeschlagenen Kopf eines Drachen hochhielt, während sie mit der anderen ein Schwert trug. Das war der Erzengel Michael, der den Drachen erschlug. Nun, die Kirche würde wohl kaum St. Michael heißen, wenn nicht irgendwo etwas vom gleichnamigen Erzengel zu sehen gewesen wäre. Als er die die Tür öffnete, bemerkte er, dass alles wie leer gefegt war. Nun, es war ja auch nicht Messe und da hatten die Leute sicherlich Besseres zu tun, als den ganzen Tag in der Kirche zu hocken. Nun, nach einigem Umschauen fand er aber jemanden. Einen jungen Mann, der recht androgyn aussah und der gerade dabei war, die ganzen Heiligenfiguren zu reinigen. Kurzerhand ging er zu ihm hin und fragte „Entschuldigung, wo finde ich bitte den Pfarrer?“ Der junge Mann sah auf und sogleich sah Beyond, dass es sich bei ihm um einen normalen Menschen handelte. Erstaunt sah ihn dieser an, dann aber legte er seine Arbeitsutensilien weg. „Reverend Kings müsste gerade im Pfarrhaus sein, da er noch in einer Besprechung ist. Kann ich Ihnen irgendwie weiterhelfen?“

„Nun, es geht um einen jungen Mann, der vor zwei Jahren hier gewesen ist. Sein Name ist Dathan Lumis Kinsley und er verwaltet jetzt das Haus, in welchem ein Bekannter früher gewohnt hat.“

„Ach so. Nun, vielleicht kann ich ja auch weiterhelfen. Mein Name ist Nathaniel Hope, ich bin der Küster hier und erledige so ziemlich alle Arbeiten für den Reverend. Und der Name Kinsley sagt mir was. Das ist doch der junge Mann, der so schlimme Verbrennungen hatte, nicht wahr?“ Beyond bestätigte das und sogleich nahm der recht junge Küster, der wahrscheinlich nicht älter war als Beyond, womöglich auch etwas jünger, auf der Bank Platz und der Serienmörder tat es ihm gleich. „Nun, Dathan wurde von einer Frau hergebracht, die ihn angefahren hatte. Ihr Name war Lacie Dravis und sie bat uns, dass wir uns um ihn kümmern sollten. Er war zum Glück nicht schwer verletzt und hatte lediglich eine Platzwunde am Kopf und einen verstauchten Arm. Er war auch schon längst wieder bei Bewusstsein gewesen, als er hergebracht wurde. Allerdings konnte er sich an rein gar nichts mehr erinnern und so haben wir ihn gesund gepflegt und versucht, Verwandte zu finden, die ihn vielleicht vermissen würden. Da es aber niemanden gab, beschloss der Reverend, ihm zu helfen und vertraute ihm übergangsweise die Hausverwaltung an, solange Dathan sein Gedächtnis noch nicht wieder hat. Ist mit ihm alles in Ordnung?“

„Ich denke schon. Aber ich war nur etwas verwundert. Denn… es gab vor 28 Jahren einen anderen Dathan Lumis Kinsley, der ebenfalls schwere Verbrennungen erlitten hat. Ein etwas merkwürdiger Zufall, insbesondere weil sie absolut gleich aussehen.“

„Tja, Dathan ist ein merkwürdiges Phänomen in der Stadt“, erklärte Nathaniel und lehnte sich zurück, wobei er die Arme verschränkte. „Er taucht immer wieder auf und das schon seit Jahren. Und nie erinnert er sich an irgendetwas. Das passiert leider jedes Mal, wenn er einen Unfall erleidet. Bei jedem Mal verliert er sein Gedächtnis und erinnert sich an nichts, außer seinem Namen.“

„Und ist sonst irgendetwas Ungewöhnliches an ihm aufgefallen?“ Nathaniel musste kurz nachdenken und schüttelte schließlich den Kopf. „Also außer der Tatsache, dass er schon seit langer Zeit immer wieder auftaucht und sich an nichts erinnern kann, wüsste ich sonst nicht viel. Er ist recht scheu, was andere Menschen betrifft, aber er ist ansonsten recht freundlich und er sammelt leidenschaftlich Bücher. Hin und wieder schaut er vorbei, um mit dem Reverend zu sprechen, wenn es um das Haus geht oder wenn er mal Rat braucht. Er ist eigentlich ganz in Ordnung, nur eben halt extrem scheu bei Fremden.“

„Ja aber hat niemand nachgefragt, als plötzlich 26 Jahre später jemand angefahren wird, der damals an den Verletzungen dieses Brandes gestorben ist?“

„Natürlich haben wir uns das gefragt, aber Reverend Kings war eben der Ansicht, dass man nicht alle Wunder Gottes hinterfragen dürfte. Er hat sich nicht wirklich mit dem Fall beschäftigt und ich tue das eigentlich auch nicht, weil mir das irgendwie ziemlich suspekt erscheint.“ „Was erscheint dir suspekt?“ Beyond und Nathaniel sahen auf und schon kam der Pfarrer hinzu. Er hatte das, was man wirklich als Charisma bezeichnen konnte. Etwas Erhabenes, Weises und Ehrfürchtiges ging von ihm aus und sein goldblondes Haar fiel ihm über die Schultern. Ein freundliches und auch aufgeklärtes Lächeln zeichnete sich auf seinem Gesicht ab und er kam direkt auf die beiden zu. Auch er war ein Mensch wie Nathaniel. Der Küster erklärte ihm die Sache und auch Beyonds Anliegen. Der Pfarrer dachte kurz nach und sagte schließlich „Ich weiß nicht, ob der Dathan, der vor 28 Jahren an den Folgen des Brands verstorben ist, auch derselbe ist, der vor zwei Jahren von einem Auto angefahren wurde. Und ehrlich gesagt habe ich auch nie darüber nachgedacht. Er ist eine verirrte Seele, die Hilfe braucht und die will ich ihm auch geben. Und es ist auch mein persönliches Anliegen, ihn auch vor Leuten zu schützen, die ihm schaden wollen, oder die eine eventuelle Gefahr darstellen.“

„Das stand nicht in meiner Absicht. Aber sagen Sie, wissen Sie vielleicht etwas über eine gewisse Lacie Dravis? Sie war diejenige, die Dathan angefahren hat und sie schreibt seit dem Tod einer gewissen Alice Wammy immer wieder Briefe an ihren Vater. Und diesem wiederum gehörte damals das Haus, welches Dathan nun verwaltet.“

„Lacie kam damals, um zu beten und mich um Rat zu fragen. Sie ist lediglich ein Schatten, unaufhörlich auf der Suche nach einer Antwort, die sie aber wahrscheinlich niemals finden wird, wie ich befürchte.“

„Was meinen Sie damit, dass sie ein Schatten ist?“

„Na was ein Schatten eben ist. Ein unvollständiges Wesen, das auf der Suche nach etwas ist, um sich zu ergänzen. Lacie kam nach Greenwich, weil sie sich dort die Antwort erhoffte. Im Grunde sind alle Menschen nichts als Schatten. Denn solange sie leben, sind sie unvollkommen, unvollständig und unfertig. Solange der Mensch lebt, entwickelt er sich bis zu seinem Tod und selbst dann hat er noch nicht einmal einen Bruchteil von dem erfasst, was die Welt für ihn bereithält. Mit dem Tod wird der Mensch zu einem Teil der Ewigkeit und wird damit vollständig. Erst dann ist er in der Lage, die Ewigkeit und die Unendlichkeit zu begreifen, weil es nichts Vergängliches mehr an ihm gibt.“

„Wird das etwa so irgendeine Bibelstunde?“

„Nicht direkt. Alle Religionen glauben daran, dass der Mensch nach seinem Tod entweder in die Ewigkeit übertritt, oder dass ein neues Leben auf ihn wartet. Nicht umsonst heißt es: es irrt der Mensch, solange er lebt. Wenn ich einen Rat geben darf: versuchen Sie sich nicht mit der Frage nach dem Ganzen aufzuhalten, sondern gehen Sie in kleinen Schritten voran. Vielleicht haben Sie ja Glück und Sie finden somit Ihre Antwort. Mit der Zeit kommen manche Antworten von selbst.“ Da es offensichtlich war, dass sich wirklich nichts ergeben würde, verabschiedete sich Beyond und verließ die Kirche. Aber irgendwie ließ ihn das Gefühl nicht los, als wüsste dieser Pfarrer mehr, als er zugeben wollte. Obwohl dieser nichts Eindeutiges gesagt hatte, schien er ihm eine Art versteckte Botschaft mitgeteilt zu haben, bei welcher man zwischen den Zeilen lesen musste: „Dathan steht unter meinem Schutz und ich werde nichts tun, was ihn in ernste Gefahr bringt. Wenn du deine Antworten haben willst, dann warte ab und steck deine Nase nicht in Dinge rein, die du eh nicht begreifen kannst.“ Auch wenn der Pfarrer und der Küster auf dem ersten Augenblick wie Menschen erschienen, irgendetwas war nicht ganz normal mit denen, darauf verwettete er seine Shinigami-Augen. Als die Tür zugefallen und die beiden nun alleine waren, lehnte sich der Pfarrer an eine der Säulen und lächelte wissend. „Soso, dann sind sie auch schon hier. Dann kann Eva auch nicht weit sein.“

„Woher wollt Ihr das wissen?“

„Eine besorgte Mutter lässt ihre Familie nie weit aus den Augen. Und so wie sich die Dinge entwickeln, wird sie höchstwahrscheinlich eh bald hier vorbeischauen. Trifft sich ja auch ganz gut, ich hab sie immerhin schon seit ein paar Jahrhunderten nicht mehr gesprochen.“

„Und was ist mit diesem Beyond Birthday? Glaubt Ihr, er hat Verdacht geschöpft und weiß, wer wir sind?“ Seelenruhig setzte sich der Pfarrer neben ihn hin und faltete selbstzufrieden die Hände. „Natürlich und meine Botschaft hat er auch verstanden, so dumm ist er ja nicht. Aber es ist noch zu früh, um die ganze Wahrheit zu offenbaren, Nabi. Fürs Erste halten wir uns zurück und beobachten das alles. Lassen wir den Dingen einfach ihre Zeit, immerhin ist alles schon vorbereitet.“ Nachdem er so eine Weile dagesessen hatte, fiel ihm plötzlich etwas ein und er erhob sich. Er verließ die Kirche und ging zum Pfarrhaus und der Küster folgte ihm. „Meister, was habt Ihr denn vor?“ „Ich brauche mein Gewehr.“ „Welches denn? Die Pumpgun? Die AK-47, die Schrotflinte oder die M16?“ „Die Pumpgun reicht fürs Erste. Da sind zwei Ratten im Anmarsch und mit Sicherheit wollen sie wieder nur Ärger machen.“

„Was denn für Ratten, Meister Samajim?“

„Zwei ganz lästige, die sich zu weit von ihrem Nest entfernt haben. Ich geh das schon regeln, du bleibst im Haus und wartest dort. Bis dahin müsste ich das Ungeziefer vom Grundstück verjagt haben.“ Damit ging der Pfarrer hinunter in den Keller und holte aus einer der Kisten die Pumpgun und lud sie. Nachdem er fertig war, ging er damit in den Garten der Pfarrei und sah auch schon versteckt im Gebüsch einen Schatten. Sofort legte er das Gewehr an und zielte. „Raus da, aber sofort.“ Nach einigem Zögern traten zwei Gestalten hervor, die ihre Gesichter hinter Motorradhelmen verbargen. Sie waren bewaffnet und bereit zum Angriff. Verächtlich verzog er die Miene und brummte „Widerliche Proxy-Brut. Hat euch euer Meister nicht gesagt, dass mein Grund und Boden unantastbar ist? Wenn ihr hinter Nabi her seid, dann sag ich euch eines: solange er und die anderen Asylanten in dieser Stadt leben, darf niemand ihnen ein Haar krümmen. Und das gilt sowohl für euch, als auch für euren Herrn, der euch erschaffen hat. Also verschwindet, oder ich werde gleich deutlicher.“ Doch da setzte einer der Proxys direkt zum Angriff an und sprang nach vorne, wobei er mit der Klinge ausholte, um den Pfarrer zu töten. Doch dieser wich einfach zur Seite aus, duckte sich unter den Schlag hinweg und schlug zu, während er in der anderen Hand die Pumpgun hielt und dem anderen Proxy einen Schuss in den Bauch verpasste. Dem anderen zerschlug er den Helm und drückte ihn sogleich mit dem Fuß zu Boden. Er richtete den Lauf auf sein am Boden liegendes Opfer und sah diese leeren Augen, die nichts Lebendiges mehr in sich bargen. Kein Licht, keine Finsternis. Was da zu seinen Füßen lag, war nichts mehr als eine willenlose Hülle. „Schnapp dir deine Schwester und verschwinde. Und wenn ich euch noch mal hier sehe, werde ich richtig ungemütlich.“ Der andere Proxy, dem er in den Bauch geschossen hatte, lachte und sogleich richtete er sich wieder auf. Die Wunde hatte sich inzwischen wieder zurückgesetzt, aber er machte keine Anstalten, ihn anzugreifen. „Samajim der Alte… war nett, dich auch mal in Aktion zu erleben, alter Mann. Aber du wirst Nabi nicht immer beschützen können. Eines Tages wird er für seine Verbrechen zahlen und das wirst selbst du nicht verhindern.“

„Das werden wir ja sehen. Ich weiß noch nicht zu hundert Prozent, wer euch geschickt hat, aber ihr könnt ihm folgende Nachricht überbringen: wenn er sein Spiel zu weit treibt, werde ich Maßnahmen ergreifen und dann nicht mehr so nachsichtig sein. Noch einmal werde ich nicht zulassen, dass es zu einem Krieg kommt, der so eskaliert wie damals.“ Da die Proxys wussten, dass sie keine Chance hatten, traten sie den Rückzug an und Samajim seinerseits kehrte ins Haus zurück, wo Nabi besorgt wartete. „Und?“ fragte dieser unruhig. „Wie sieht es aus?“ „Ich habe sie vertreiben können, aber nicht für lange. Da Evas Familie hier ist, kommt Unruhe in die Stadt und das lockt allerhand Ratten hierher. Die Dinge geraten langsam ins Rollen. Der Frieden ist bald vorbei und was wir tun können ist, den Schaden weitestgehend zu begrenzen und sicherzustellen, dass alles den Weg geht, den es gehen soll.“

„Habt Ihr die anderen deshalb auf Nivkhas Spur gebracht?“

„Natürlich. Wenn es so kommt wie ich befürchte und es tatsächlich er ist, der dabei ist, wieder zurückzukehren, dann steht uns noch Schlimmes bevor.“

„Und wieso macht Ihr das alles, obwohl Ihr doch wisst, in welche Gefahr Ihr Nivkha damit bringt?“

„Keine Sorge, ich habe einen Plan und bisher verläuft alles bestens. Wir müssen nur dafür sorgen, dass Evas Familie schon von selbst weiterkommt und dass sie die Antworten auch zum richtigen Zeitpunkt bekommen. Vor allem aber können wir uns so im Hintergrund halten und somit erfahren, wer der Drahtzieher ist und was er plant. Noch ist es zu früh, um aktiv zu werden. Merke dir eines, mein Freund: es kommt nur auf das richtige Timing an. Und nichts ist leichter, als die Menschen glauben zu lassen, es ginge einzig und allein nach ihrem Willen voran. Und ebenso leicht lässt sich auch das Auge eines Shinigami täuschen, wenn dieser nur auf sein Auge vertraut.“
 

Etwas frustriert war Beyond wieder zurückgekehrt, ohne dass er viel Neues berichten konnte. Inzwischen waren auch Ezra und Elion zurückgekehrt, die völlig durchgefroren waren und dringend etwas Heißes brauchten. Sogleich setzte sich die gesamte Familie zusammen und Frederica machte einen Früchtetee fertig. Als sie sich versammelt hatten, wurde der Serienmörder auch schon gefragt, was sein Besuch beim Pfarrer ergeben hatte, doch der schüttelte nur den Kopf und erklärte „Er hat gesagt, dass er nichts wüsste. Aber der Typ ist mir nicht geheuer. Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, als wüsste er mehr als er zugeben wollte und er meinte, mit der Zeit würden wir schon selbst auf die Antworten kommen. Aber der Küster hat mir da was Interessantes erzählt: dieser Dathan lebt schon eine ganze Weile in London und jedes Mal, wenn er in irgendwelche Unfälle verwickelt wird, erleidet er eine komplette Amnesie und weiß nichts außer seinem Namen. Demnach könnte er tatsächlich ein Unvergänglicher sein. Und wahrscheinlich hat er deshalb seine Verletzungen nicht zurückgesetzt, weil er sich an nichts erinnert.“

„Und was ist mit dem Pfarrer? Ist er ein Unvergänglicher?“

„Nein, er ist ein Mensch. Zumindest sagt mir das mein Shinigami-Augenlicht. Trotzdem habe ich irgendwie das Gefühl, als würde etwas nicht mit ihm stimmen. Vielleicht werde ich auch langsam paranoid.“ Na super. Jetzt hatten sie eine tote Tochter, die mit dem Verantwortlichen der ganzen Experimente zusammen gewesen war und jetzt auch noch einen zwielichtigen Kerl mit Brandnarben, der wahrscheinlich sogar ein Unvergänglicher war. Tja, was also tun? Nun, Frederica hatte derweil Kontakt mit Nazir aufgenommen und ihn befragt. „Nazir sagte mir, dass es keinen Unvergänglichen gibt, der unter dem Namen Dathan Lumis Kinsley in der Menschenwelt lebt. Aber er meinte, dass es jemanden gäbe, der sich Samajim nennt. Als es vor langer Zeit einen Krieg gab, wurden viele Unvergängliche verfolgt und Ajin Gamur selbst legte fest, dass Samajims Boden unantastbar ist und den Asylanten kein Leid angetan werden dürfte, solange sie sich dort aufhalten. Wahrscheinlich handelt es sich bei Dathan um einen Asylanten.“

„Wie jetzt? Unvergängliche, die von ihresgleichen verfolgt werden?“ fragte Ezra, der bei der ganzen Sache nicht wirklich mitkam und den Kopf schüttelte. „Wieso machen die das?“ Unsicher zuckte Frederica mit den Schultern und erklärte „Das war lange vor meiner Zeit, deshalb weiß ich nicht viel darüber und die Unvergänglichen selbst sprechen kaum darüber. Aber es soll jemanden gegeben haben, der Jagd auf die anderen gemacht und sie systematisch abgeschlachtet hat und dabei erschuf er sich Mitstreiter oder zog andere Unvergängliche auf seine Seite. Das artete schließlich im Krieg aus und viele wurden gezwungen, für die falsche Seite zu arbeiten. Sie wurden unterdrückt, eingeschüchtert und bedroht. Viele mussten gegen ihren Willen kämpfen und obwohl sie von den großen Alten begnadigt wurden, haben sie immer noch viele Feinde, die ihnen nach dem Leben trachten. Deshalb entschied Samajim der Alte, dass ihnen ein Recht auf Asyl gewährt werden sollte. Und manchmal werden Unvergängliche verfolgt, weil ihre Fähigkeiten zu gefährlich sind. Das kommt leider auch vor. Unter ihnen werden ziemlich viele Machtkämpfe ausgetragen. Nazir zum Beispiel soll seiner Schwester ein Auge ausgerissen haben, als sie es wagte, seine Position infrage zu stellen.“

„Und die nennen uns barbarisch und zerstörerisch…“, kommentierte Beyond kopfschüttelnd. „Komisch, dass uns Liam nichts dazu gesagt hat.“ „Nazir sagte, dass er sich an nichts aus seiner Vergangenheit erinnern kann. Aber er wollte mir nicht sagen wieso und weshalb. So wie es aussieht, ist Eva die Einzige, die uns vielleicht weiterhelfen kann.“

„Ja, nur treibt die sich irgendwo mal wieder rum und wir haben keinen blassen Schimmer, wo sie steckt.“

„Ich komm nicht mehr mit“, sagte Ezra und wandte sich ab. „Ich geh in mein Zimmer und schau mir 28 Days Later zusammen mit Sheol an. Wir sehen uns morgen.“ Damit verabschiedete sich der 16-jährige und so wandten sich die anderen wieder ihrem Gespräch zu. Nastasja kam schließlich mit einer Idee. „Womöglich können wir Dathans Erinnerungen zurückholen, wenn er erkennt, was er wirklich ist. Er wollte ja sowieso vorbeikommen und wenn er sich erinnert, dann kann er uns vielleicht weiterhelfen.“ „Ja aber was ist, wenn du in Gefahr gerätst?“

„Wenn er ein Asylant ist, dann wird es wohl in seinem Interesse liegen, weiterhin in London zu bleiben und sicher zu leben. Ich hab schon gegen Liam mit bloßen Händen gekämpft und ich denke sowieso nicht, dass von Dathan eine Gefahr ausgeht.“ Sie saßen noch den ganzen Abend zusammen und besprachen sich. Schließlich aber zogen sich nach und nach alle auf ihre Zimmer zurück. Jeremiel blieb alleine und telefonierte noch eine Weile mit Liam, bis er sich hinlegte. Sein Kopf schmerzte und er fühlte sich schon seit ihrer Ankunft in London so elend. Na hoffentlich waren das wirklich nur wetterbedingte Kopfschmerzen, die bald wieder vorbeigingen. Da war er endlich mal in London und schon lag er flach. Dabei hatte er erst letzten Monat die Grippe gehabt und mit fast 40°C Fieber im Bett gelegen. Liam hatte seine ganzen Termine abgesagt, um bei ihm zu bleiben, Delta hatte fast einen Heulkrampf bekommen und immerzu gesagt „Armes Engelchen, keine Sorge. Tante Delta wird dich wieder gesund pflegen.“ Daraufhin hatte dieser doch tatsächlich ein Schwesternkostüm angezogen und das mit Sicherheit auch nur deshalb, weil er es unbedingt mal tragen wollte. Da er das erste Mal richtig krank gewesen war, seit er in diesem Körper aufgewacht war, hatte er erst gar nicht gemerkt, dass er krank war. Das hatte dazu geführt, dass er schließlich zusammengebrochen war und sich von Liam eine Predigt anhören durfte, dass er doch mehr auf sich achten sollte. Er wusste es ja auch und er wollte sich schonen, aber er wollte L und die anderen auch nicht im Stich lassen.
 

In der Nacht hatte Jeremiel einen seltsamen Traum. Es war dunkel, als er die Augen öffnete und er einen brennenden Stich an seinem Hals spürte. Er konnte rein gar nichts sehen, spürte aber, wie ihn irgendetwas aufs Bett drückte und eine Stimme zu ihm sprach „Schlaf gut, mein Prinz. Und komm bald nach Hause.“ Danach spürte er nur noch, wie ihm etwas ins Gesicht gedrückt wurde und er wieder wegdöste.

Dathan und Nastasja

Am nächsten Tag kam ganz überraschend Dathan vorbei, der die Kisten mitgebracht hatte. Da Watari und Frederica spazieren waren, Elion und Ezra ihre Besichtigungstour zusammen mit Sheol und Jeremiel fortsetzen wollten und Beyond und L ihre Privatsphäre haben wollten, empfing Nastasja ihn und war überrascht ihn zu sehen. „Guten Tag Dathan, kommen Sie doch erst mal rein, Ihnen ist sicherlich kalt.“ Etwas zögerlich trat der Entstellte ein und trug auch wie am Tag davor einen Mundschutz. Er war fürchterlich nervös und konnte Nastasja kaum in die Augen sehen. Und wahrscheinlich wäre er rot geworden, wenn seine Haut nicht eh schon so ausgesehen hätte. „I-ich hoffe, ich störe Sie nicht. We-wenn ich ungelegen komme, da-da-dann kann ich ein anderes Mal wiederkommen, wenn Sie möchten.“ Die Russin schmunzelte und fand ihn irgendwie ganz niedlich, so scheu wie er war. Auch wenn er unheimlich aussah, strahlte er etwas von einem kleinen ängstlichen Kätzchen aus. „Schon in Ordnung, ich bin eh gerade allein, da meine Familie entweder unterwegs, oder nicht zu sprechen ist. Wie wäre es, wenn wir uns duzen? Der Altersunterschied ist eigentlich eh nicht so groß.“ Als Dathan das hörte, sah er sie erstaunt an, denn offenbar hatte er sie älter geschätzt. Nun, eigentlich konnte er auch nicht so wirklich sagen, wie alt sie denn so ungefähr war, denn das war bei Nastasja ohnehin schwer feststellbar. Meist hing es davon ab, wie es mit ihrer Laune aussah und wie lange sie geschlafen hatte. „Möchtest du etwas trinken?“ Dathan lehnte höflich ab, kam dabei aber immer noch nicht aus dem Stottern raus und wirkte irgendwie ziemlich hilflos in dem Moment. Und als Nastasja auch noch fragte „Willst du nicht die Maske abnehmen?“, da bekam er kein einziges Wort mehr heraus und wusste einfach nicht, was er antworten sollte. Er versuchte das alles zu erklären und wieso er das nicht konnte, aber er konnte nicht mal die ersten Worte vernünftig hervorbringen. Er verzweifelte völlig und wäre am liebsten in Grund und Boden versunken, da legte Nastasja eine Hand auf seine Schulter. „Tief durchatmen. Versuch dich erst mal zu beruhigen, bevor du weitersprichst. Ich kann mir schon denken, wieso du die Maske nicht abnehmen willst. Du schämst dich sicher, oder?“

„Hab ich denn keinen Grund dazu?“ fragte er und senkte niedergeschlagen den Blick. „Wenn ich das Ding nicht trage, rennen alle nur vor mir weg oder nennen mich einen Freak. Die Leute haben Angst vor mir und ich sehe auch furchtbar aus. Mein ganzer Körper ist verbrannt…“ „Ach was. Verbrennungen hin oder her, du bist immer noch ein Mensch und jeder ist auf seine Weise schön. Und wer mit solchen Verletzungen weiterhin normal leben kann und aufrecht durchs Leben geht, der ist stärker als jeder normale Mensch. Und so schlimm kann es nicht aussehen.“

„Wenn Sie… wenn du wüsstest.“

„Glaub mir, ich hab während meines Studiums genug Menschen mit Brandverletzungen gesehen. Eine alte Freundin von mir war Chefärztin und was die für Fälle gehabt hat, war wirklich schlimm. Und ich glaube nicht, dass du so schlimm aussiehst, dass man vor dir weglaufen sollte.“ Doch Dathan war skeptisch, nahm dann aber doch seinen Mundschutz ab. Und was sich auf seinem Gesicht abzeichnete, waren dunkle Flecken, geschwürartige Vernarbungen und dunkles Fleisch, welches ihn fast aussehen ließ wie eine Figur aus dem Horrorkabinett. Selbst sein Hals und seine Hände sahen nicht besser aus und höchstwahrscheinlich sah der Rest seines Körpers genauso aus. Nastasja betrachtete eine Weile das Gesicht, lächelte dann und reichte Dathan eine Tasse Kaffe. „Ich weiß nicht, was du hast. Ich finde, du hast ein hübsches Gesicht.“ Als er das hörte, war er vollkommen sprachlos und wusste gar nicht, was er sagen sollte. Und sogleich wirkte er auch sehr verlegen angesichts dieses mehr als unerwarteten Kompliments. Auch seine Nervosität schwand langsam, dennoch konnte er kaum Augenkontakt mit Nastasja halten. Schließlich, nachdem sich der Entstellte ein wenig aufgewärmt hatte, trugen sie die Kisten herein und Nastasja begann weiter die alten Sachen ihrer verstorbenen Freundin zu durchsuchen. „Wonach suchst du eigentlich genau?“ fragte Dathan, der erst nach einigem Zögern damit begann zu helfen, da er sich offenbar nicht ganz wohl dabei fühlte, in den Sachen von anderen Leuten zu wühlen. „Nun, es gibt da so einige Ungereimtheiten, die ich klären will. Alice hatte nämlich eine Verbindung zu Joseph Brown und ich will herausfinden, was es war. Dieser Mann hat nämlich einige schwere Verbrechen begangen. Er hat an Menschen experimentiert und Embryos mit den Genen von Wesen gekreuzt, um Hybride zu erschaffen. Sein Sohn führt die Arbeit fort und da Alice damals Chefärztin in der Londoner Universitätsklinik war und am Unborn-Phänomen geforscht hat, will ich herausfinden, was zwischen den beiden gelaufen ist. Womöglich waren sie zusammen und haben gemeinsam gearbeitet, bevor Alice mit dem Auto verunglückt ist.“

„Du hast sie gekannt? Ja aber… das war vor 27 Jahren.“

„Sagen wir mal so: in dieser Welt läuft so einiges anders, als man denkt. Ich bin zwar erst 30 Jahre alt, aber unsere Familie besteht aus einigen außergewöhnlichen Menschen. Klingt zwar verrückt, aber ich bin so etwas wie eine Zeitreisende. Ich stamme aus der Vergangenheit und habe damals an einem Gerät gearbeitet, welches eine Art zeitversetzter Teleporter ist.“ Dathan sagte nichts, aber man konnte ihm ansehen, dass er ihr diese Geschichte nicht abkaufte. Zum Beweis holte Nastasja aus ihrer Geldbörse ein Foto, welches sie, Henry und Alice zusammen zeigte. Sie reichte es ihm und tatsächlich erkannte Dathan die schwarzhaarige Frau als dieselbe wieder, die auf den alten Fotos zu sehen gewesen war. Doch es fiel ihm immer noch etwas schwer, das auch wirklich zu glauben. „Kannst du beliebig durch die Zeit reisen?“ „Nein, leider nicht. Der Tesserakt funktioniert nur ein einziges Mal und besaß lediglich genug Energie, um mich in die Zukunft zu bringen. Du musst wissen, ich habe damals an einem Projekt gearbeitet, mit dem ich eine Art Seelenprothese konstruieren wollte, um Komapatienten wieder aufzuwecken, aber rein theoretisch kann man damit auch Menschen wiederbeleben. Wir nannten das den elektrischen Gedankenschaltkreis. Es gab aber noch ein anderes Experiment, nämlich das so genannte Proxy-Experiment. Hierbei werden Embryos genetisch verändert und zu Killern herangezüchtet. Sheol war einer, Elion ist immer noch ein Proxy und ich konnte ein Serum herstellen, welches die Wirkung umkehrt und die Proxys somit heilen kann. Nun ja, zumindest die meisten.“

„Und wozu existieren sie?“

„Das versuchen wir noch zu klären. Aber wir vermuten, dass man sie als Waffe benutzen will, um alles Leben in dieser Welt auszulöschen. Wir alle hängen da mit drin. Manche von uns wurden unfreiwillig hineingezogen, andere wiederum haben einen Teil beigetragen, ohne es zu wissen und nun wollen wir wissen, wer dahintersteckt und warum das alles passiert. Dabei spielst du wahrscheinlich auch eine Rolle, Dathan.“ Als der Entstellte das hörte, schien er nicht ganz zu verstehen und schüttelte den Kopf. „Wie jetzt?“ fragte er und blickte Nastasja irritiert an. „Was soll ich denn damit zu tun haben?“ „Wir wissen, dass du kein normaler Mensch bist. Weißt du, einer von uns kann so etwas sehr gut erkennen.“ „Da muss er sich irren.“ „Du hast eine Amnesie erlitten und kannst dich an rein gar nichts erinnern. Aber es ist Fakt, dass du schon vor 28 Jahren gelebt hast und wir wissen auch, wie das mit deinen Verbrennungen passiert ist. Du warst in einem Restaurant und hast versucht, eine Frau aus den Flammen zu retten. Dabei hat deine Kleidung Feuer gefangen und du hast deswegen mit schweren Verbrennungen im Krankenhaus gelegen. Es gibt sogar einen Zeitungsartikel darüber.“ Doch Dathan wollte das nicht glauben und stand auf. „So ein Unsinn. Ich kann vor 28 Jahren doch gar nicht gelebt haben! Da muss eine Verwechslung vorliegen.“ „Dathan…“ Nastasja wollte ihn festhalten, doch er wich zurück und stieß dabei gegen eine der Kisten und stürzte. Die Kiste kippte um und sogleich fiel etwas heraus, das wie ein kleines Kästchen aussah. Es sprang auf und sogleich ertönte eine Spieluhr, die eine vertraute Melodie spielte. Es war Greensleeves, Alices Lieblingslied. Sie hatte es auf ihrer Geige, dem Klavier, der Harfe und auf der Querflöte gespielt und sie so sehr geliebt. Und auch als Dathan das Lied hörte, weiteten sich seine Augen und er konnte es nicht fassen. „Alice…“, sagte er leise und starrte die kleine Spieluhr an, die unaufhörlich dieses Lied spielte. Vorsichtig hob er sie auf und in seinen Augen sammelten sich Tränen. „Ich kenne diese Spieluhr. Alice hat sie dabei gehabt, als sie mich besuchen kam.“ Nun war es Nastasja, die ihrerseits sprachlos war, denn sie hatte ja mit einigem gerechnet, aber nicht damit, dass Dathan Alice gekannt hatte. War das Zufall, oder steckte mehr dahinter? Offenbar erinnerte er sich zumindest wieder an ein paar Dinge, da die Spieluhr sich sehr tief in sein Gedächtnis eingebrannt hatte. „Du kannst dich wieder erinnern?“ Dathan musste sich erst einmal setzen und immer noch betrachtete er die Spieluhr. „Noch nicht an alles. Ich weiß aber, dass ich in dem Restaurant war. Ich glaube, ich hatte da als Servicekraft ausgeholfen oder so. Alice kam hin und wieder alleine hin und setzte sich immer an denselben Platz. Sie sah immer so traurig aus und ich hab mit ihr geredet. Dann gab es plötzlich einen Knall in der Küche und dann war überall Feuer. Die Menschen haben in Panik geschrieen und das Restaurant verlassen. Binnen weniger Sekunden hat es überall gebrannt und als ich draußen war, bemerkte ich, dass Alice nicht da war. Sie saß noch dort drin und so bin ich wieder reingegangen, um sie rauszuholen. Aber sie wollte nicht gerettet werden. Sie wollte da bleiben und sterben. Also hab ich sie gepackt und sie nach draußen gebracht. Alles war voller Rauch und ich weiß nur ganz verschwommen, dass da plötzlich meine Kleidung anfing zu brennen und mir furchtbar heiß wurde. Ich hab geschrieen und bin blindlings losgerannt, bis ich zu Boden geworfen wurde und jemand mir einen Mantel überwarf, um die Flammen zu ersticken. Ich muss durch die starken Schmerzen das Bewusstsein verloren haben, denn als ich wieder aufgewacht bin, war ich bereits operiert worden und lag auf der Intensivstation. Und da habe ich Alice wiedergesehen. Sie saß an meinem Bett, hatte diesen Kittel an und weinte.“ So war das also, dachte Nastasja und senkte den Blick. Dathan hat Alice damals aus dem Restaurant gerettet, als sie dort drin geblieben war, um sich das Leben zu nehmen. Und während sie alles unbeschadet überstanden hatte, fing seine Kleidung Feuer und er wurde schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht. Und dass Alice im Krankenhaus bei ihm war mit ihrer Berufskleidung, konnte nur eines bedeuten: er war ihr Patient gewesen und war dann drei Wochen später gestorben. „Mein Gott“, murmelte die Russin und erkannte, was für eine Tragödie das damals gewesen sein musste. Die schlaflosen Nächte, die Panikattacken und die Alpträume. Es waren nicht bloß die Schikanen der Kollegen gewesen, die sie in Depressionen gestürzt hatten. Nein, es war auch der Vorfall mit Dathan gewesen. Sie musste sich die Schuld gegeben haben, dass er diese schweren Verletzungen erlitten hatte und als er gestorben war. Da musste für sie eine Welt zusammengebrochen sein. Das war ein Jahr vor ihrem tödlichen Unfall gewesen. Ein weiteres Indiz, das dafür sprach, dass es kein Unfall, sondern vielleicht doch ein Selbstmord war. Sie hatte versucht, sich die Pulsadern aufzuschneiden… sie wollte lieber bei lebendigem Leibe im Restaurant verbrennen, als weiterzuleben. „Warum hat sie nie mit mir darüber gesprochen? Wieso hat sie denn nicht ein einziges Mal von ihren Problemen erzählen können und gesagt, was passiert ist? Ich verstehe das nicht.“ „Hat sie etwa wegen mir…“ Die Russin schüttelte den Kopf und seufzte niedergeschlagen. „Ich glaube, es war einfach alles zu viel für sie geworden und sie ist innerlich zerbrochen. Und ob der Unfall wirklich einer war, müssen wir noch herausfinden.“

„Ja aber eines verstehe ich nicht. Wie kann ich sie denn in Erinnerungen haben, wenn sie seit 27 Jahren tot ist? Das macht doch keinen Sinn. Ich verstehe das nicht.“

„Weil du kein Mensch bist. Man nennt so etwas Sefira oder einen Unvergänglichen. Das kommt daher, weil sie eigentlich keinen Körper haben, sondern sich den eines Menschen bemächtigen und diesen nach ihren Vorstellungen verändern. Dadurch können sie auch festlegen, ob sie altern oder nicht. Und du bist höchstwahrscheinlich einer. Deshalb kannst du dich an Dinge erinnern, die so lange zurückliegen.“

„Ja aber… warum hat mir das niemand gesagt und wo komme ich dann her, wenn ich nicht mal ein Mensch bin?“

„Wir vermuten, dass du ein Fragment eines Wesens bist, das Ain Soph genannt wird. Die Unvergänglichen sind das Bindeglied zwischen der Ewigkeit und der Vergänglichkeit und ein paar von ihnen leben ebenfalls in dieser Welt. Du bist also nicht der Einzige.“

„Es… es gibt noch andere?“ Nastasja nickte und erzählte ihm von Frederica, Eva und Liam. Doch für Dathan war das immer noch schwer zu verdauen und so wirklich glauben konnte er es immer noch nicht. „Wenn ich wirklich so etwas wie ein Unvergänglicher bin, dann hätte ich doch etwas merken müssen, oder etwa nicht?“ „Nicht direkt. Da du deine Erinnerungen verloren hast, würde es mich nicht wundern, dass du dich auch nicht erinnerst, wie du deine Fähigkeiten einsetzen kannst.“

„Aber woran erkenne ich denn, was ich wirklich bin? Ich kann mich an rein gar nichts erinnern, außer an dem Tag, als ich mir diese Verbrennungen zugezogen habe und wie mich Alice besucht hat.“

„Keine Sorge, wir finden schon eine Möglichkeit, deine Erinnerungen zurückzuholen. Wir haben schon genug geschafft und genug Menschen geholfen, da können wir dir auch helfen. Wir haben mit Unvergänglichen schon so unsere Erfahrungen gemacht und es wird sich mit Sicherheit eine Lösung finden.“ Dathan senkte den Blick und wirkte sehr verlegen. Dann aber schlich sich doch ein Lächeln über seine Lippen, doch es wirkte bei seinem verbrannten Gesicht irgendwie unheimlich und grotesk. Fast schon wie eine manisch grinsende Fratze.

Nachdem sie eine ganze Weile in den Unterlagen gesucht hatten, entschied sich Nastasja spontan dazu, irgendwo was essen zu gehen und fragte Dathan auch direkt, ob er mitkommen wollte. Doch er war nicht ganz so dafür und sagte „Ich denke nicht, dass das so eine gute Idee ist. Bei meinem Anblick…“ „Ach so ein Quatsch“, unterbrach die Russin ihn und zog ihren Mantel an. „Wenn die Leute dumm gucken, dann lass sie doch. Und wenn dich jemand dumm von der Seite anmacht, dann schick ihn zum Teufel.“

„Das kann ich aber nicht.“ „Dann mach ich das eben. Und glaub mir: man nennt mich nicht umsonst die Eisenfaust aus Tscheljabinsk.“ Da sie sich nicht überreden lassen wollte, blieb Dathan kaum eine andere Wahl als ihr zu folgen und so gingen sie in ein Restaurant und fanden dort auch schon einen Platz, der nicht ganz so zentral war, was auch Dathan zugute kam, denn so starrten ihn nicht ganz so viele Leute an. Aber dennoch war er ziemlich verkrampft. Sie selbst schien überhaupt kein Problem damit zu haben, dass er dabei war und das war für ihn mehr als ungewohnt. Er war es gewöhnt, dass die Leute bei seinem Anblick das Weite suchten, ihn anstarrten wie einen Freak und bei seinem Anblick begannen sogar Kinder zu weinen. Aber diese Frau da vor ihm schien seine Narben gar nicht zu sehen. Stattdessen sagte sie sogar, er hätte ein hübsches Gesicht… Nachdem sie ihre Bestellung aufgegeben hatten, fragte Dathan „Wenn du wirklich eine Zeitreisende bist… was ist dann mit deiner Familie?“

„Nun, meine Eltern habe ich nie kennen gelernt. Ich bin in einem Waisenhaus aufgewachsen und kam dann mit 14 Jahren nach England, nachdem ich meine Ausreiseerlaubnis hatte.“

„Du hast studiert?“

„Nö, ich hab unter anderem unterrichtet und fest an der Londoner Universität als Humanbiologin gearbeitet. Ich war verheiratet und hatte vor meiner Zeitreise Kinder. Zwei Söhne, um genau zu sein. Mein Mann Henry ist kurz nach meinem Zeitsprung ermordet worden und zwar von Joseph Brown. Meine Söhne L und Jeremiel sind inzwischen 25 Jahre alt, also nur knapp 5 Jahre jünger als ich jetzt.“

„Und ist das nicht irgendwie… schwierig?“

„Manchmal schon, weil L von Watari so verhätschelt wurde und ich manchmal meine Meinungsverschiedenheiten mit diesem Sturschädel habe. Jeremiel ist da etwas einfacher als sein jüngerer Bruder. Aber die beiden haben inzwischen ihr eigenes Leben und ich helfe ihnen ab und zu, wenn mal die Hütte brennen sollte. Derzeit arbeite ich in Boston an der Harvard Universität als Humanbiologin und unterrichte diese Spatenköpfe von Studenten, die denken, der Hippocampus hätte was mit Nilpferden zu tun.“ Als Dathan hörte, dass sie in Amerika lebte, sank seine Laune deutlich und er wurde stiller. Doch Nastasja erzählte seelenruhig weiter. „Sheol, den wir mit dem Serum heilen konnten, habe ich als Adoptivsohn bei mir aufgenommen und Ezra ist mein anderer Adoptivsohn, der vorher bei mir in Pflege war.“ Doch Dathan hörte kaum noch zu und wirkte immer noch sehr niedergeschlagen. Und als die Russin das merkte, lächelte sie und legte eine Hand auf seine. Erschrocken zuckte der Entstellte zusammen und sah sie mit weit aufgerissenen Augen an. Es war allzu deutlich, was mit ihm los war und Nastasja konnte nicht leugnen, dass sie ihn irgendwie süß fand. „Hey, nicht gleich so ein Gesicht machen wie sieben Tage Regenwetter. Erzähl mir doch mal etwas über dich. Was machst du denn gerne?“ „Ich? Also ich… ähm…“ Dathan senkte den Blick und fand erst nicht so richtig die Worte. Etwas zögerlich antwortete er schließlich „Ich sammle gerne Bücher.“

„Was denn für welche?“

„Alles mögliche. Ich liebe Bücher jeder Art. Ganz gerne lese ich ältere Werke wie zum Beispiel Schöne neue Welt, Farm der Tiere, Fahrenheit 451 oder Das Bildnis des Dorian Gray.“

„Oh ja, das sind schöne Werke. Hast du auch schon die Die Brüder Karamasow gelesen? Damit bin ich aufgewachsen und es waren meine ersten Bücher.“

„Ja, die hab ich schon und ehrlich gesagt fand ich sie fast genauso gut wie Die Buddenbrooks. Derzeit lese ich Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Diese Novelle hat mir Lacie per Post geschickt und mir als neue Lektüre empfohlen. Sie sagte, es würde sich lohnen, sie zu lesen.“ Soso, Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Von der Geschichte hatte Nastasja gehört. Aber so ganz hatte sie den Inhalt nicht mehr auf dem Schirm und so ließ sie sich erklären, worum es ging. Nämlich um einen Mann, dem es durch die Entwicklung eines Tranks gelang, das Gute und Böse der Seele zu trennen, woraufhin er eine dunkle Seite entwickelte, nämlich Mr. Hyde. „Klingt spannend. Die Lektüre lese ich auch mal durch, wenn ich Zeit habe.“ Mit der Zeit werden die Antworten von selbst kommen.

Ob Lacie ihm das Buch aus einem ganz bestimmten Grund gegeben hatte? Nun, das klang ziemlich weit hergeholt, aber irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, als würde Lacie Dravis ein ganz bestimmtes Ziel verfolgen und als hätte das alles auch mit Dathan zu tun. Es konnte kein Zufall sein, dass sie ihn hier fanden und erfuhren, dass er ein Unvergänglicher war, der vor 28 Jahren Alice das Leben gerettet hatte und 26 Jahre später von Lacie Dravis angefahren und zum Pfarrer der Gegend gebracht wurde. Beyond war gar nicht paranoid, er hatte vollkommen Recht. Lacie plante irgendetwas und wahrscheinlich steckte der Pfarrer ebenfalls mit drin. Und so wie es schien, legten sie die Hinweise wie Brotkrumen vor ihnen hin, damit sie langsam aber sicher auf die Antworten kamen. Aber wieso und warum alles so geheimnisvoll? Das war ihr wirklich ein Rätsel.

Zufall oder Illusion eines Zufalls

Beyond und L hatten sich nach einer ausgiebigen Dusche zu Nastasjas Zimmer begeben und bemerkten, dass sie gar nicht da war. Dafür aber standen einige Kisten herum. Kisten mit Sachen von Alice Wammy. Und das ließ nur einen Schluss zu, den Beyond auch direkt laut aussprach. „Scheint so, als würde sich deine Mutter mit Dathan irgendwo einen schönen Tag zu machen.“ L wurde ganz anders bei dem Gedanken, dass seine Mutter sich mit irgendeinem Fremden traf, den sie doch gar nicht kannte. Das war für ihn schon fast ein Grund, alles stehen und liegen zu lassen und seiner Mutter hinterher zu eilen. Doch so weit ließ es Beyond nicht kommen und hielt ihn am Kragen fest. „Diesen Blick kenne ich, L. Das ist derselbe Blick, den du schon bei Jeremiel hattest, nämlich der Ich-muss-sie-vor-einen-Riesenfehler-bewahren-Blick. Lass mich dir mal eines verklickern: Lass sie doch ihr eigenes Ding machen. Jeremiel ist dein älterer Bruder und hat seinen Standpunkt mehr als klar gemacht. Und Nastasja ist deine Mutter! Du kannst doch nicht deiner eigenen Mutter vorschreiben, mit wem sie zusammen zu sein hat. Jetzt überleg doch mal: sie ist Witwe und hat zwar die beiden Zwerge und Mahatma Gandhi 2.0 bei sich in der Hütte, aber auch eine Frau wie sie hat eben Bedürfnisse.“

„Hey, du sprichst immerhin von meiner Mutter.“

„Was kann ich denn dafür, dass du so verklemmt bist wie ein katholisches altes Mütterchen? Lass sie doch einfach mal machen. Sie wird schon wissen, was sie macht. Erstens ist sie erwachsen und zweitens ist sie männlicher als jeder andere Kerl, den ich kenne.“ Beyond und seine Argumente. Zwar hatte er nicht ganz Unrecht, aber L gab so etwas nicht gerne zu und vor allem machte er sich eben Sorgen um seine Mutter. Schlimm genug, dass Jeremiel schon an Liam geraten musste. Jetzt suchte sie sich auch noch so einen fragwürdigen Kerl aus, der eventuell sogar ein Unvergänglicher sein konnte. Da er immer noch sehr skeptisch war und seiner Mutter am liebsten hinterhergeeilt wäre um sie aufzuhalten, entschied sich Beyond eben für eine andere Taktik und legte seine Arme um den Detektiv. „Na komm schon, Pandabärchen. Jetzt entspann dich einfach mal. Wenn du willst, kann ich dich gleich noch auf ganz andere Gedanken bringen.“ Und schon wanderte seine Hand langsam L’s Rücken hinunter, doch weiter ließ es der Detektiv nicht kommen und hielt Beyonds Hand fest. Misstrauisch blickte er ihn an und schnaubte leise. „Langsam habe ich echt das Gefühl, du willst mich umbringen. Haben dir die drei Runden nicht vorhin schon gereicht? Mein Hintern ist eh schon ganz wund, ganz zu schweigen von den diversen Fesselspuren und den Knutschflecken, die du an den unmöglichsten Stellen hinterlässt!“ „Was denn? Das ist doch nur der Ausdruck meiner Liebe zu dir. Und ich liebe dich eben mit Haut und Haaren, was ich dich eben auch gerne spüren lasse. Ich liebe dich heiß und innig und das kann ich dir eben nie oft genug zeigen.“ „Du verwechselst „kann“ mit „will“. Du verdammter Nymphomane bist doch echt unersättlich. Dabei hab ich doch schon jeden Scheiß mit mir machen lassen. Es ist mir immer noch ein Rätsel, wie du es nur geschafft hast, mich dazu zu überreden, es tatsächlich im Auto mit dir zu machen.“

„Ich weiß eben zu überzeugen“, erklärte Beyond und mit einem selbstgefälligen Lächeln begann er nun mit seinen Zähnen an L’s Ohr zu spielen, während er eine Hand unter dessen Pullover schob und zärtlich über seine Brust strich. „Und seit ich endlich wieder Gefühl in meiner Haut habe, fühlt sich alles eben noch viel besser an und das will ich auch in vollen Zügen auskosten.“ L wäre fast wieder schwach geworden, doch er schaffte es dann doch, Beyond wieder loszuwerden und sich von ihm zu lösen. Oh Mann, manchmal konnte dieser Schwerenöter echt anstrengend sein. Aber leider hatte er immer so verdammt überzeugende „Argumente“ und wusste genau, wie er sein Opfer um den Finger wickeln konnte. Manchmal hasste er ihn schon fast dafür. Allein schon wenn er an diesen ganzen Schweinskram dachte, den sich dieser Perversling immer einfallen ließ. Die Fesselspiele und vor allem die Spielzeuge. Wenn seine Mutter nur wüsste, wie sehr dieser Dreckskerl ihn versaut hatte. In solchen Momenten konnte sich L kaum noch im Spiegel ansehen. „Beyond, lassen wir es für heute gut sein. Ich bin erledigt und du hattest heute deinen Spaß! Lass uns mal lieber nachschauen, ob wir irgendetwas Hilfreiches finden.“ Und damit begannen sie die Kisten zu durchstöbern und nach einer Weile fand Beyond eine Art Schmuckkästchen, welches mit einem Vorhängeschloss gesichert war. Für jemanden wie ihn problemlos zu knacken und was er fand, waren Briefe und Fotos. „Ich glaube, wir haben den Jackpot!“ rief er triumphierend und sah sich die Fotos an. Diese zeigten eine schwarzhaarige junge Frau mit leuchtend blauen Augen. Bei sich hatte sie einen Mann, der etwas älter war und offenbar zu den Bartträgern zählte. Er trug eine Brille, hatte sein dunkelblondes Haar zurückgekämmt und auch wenn er vielleicht ein klein wenig untersetzt war, so sah der Typ nicht mal so schlecht aus. Und das Gesicht kam ihm auch bekannt vor. Einige Ähnlichkeiten mit James Brown waren nicht zu übersehen. Also musste das wohl sein Vater Joseph Brown sein, den Frederica vor knapp elf Jahren kaltgemacht hatte. „Die beiden sehen echt verdammt glücklich zusammen aus. Kaum zu glauben, dass der Typ ein eiskalter Soziopath war, der Experimente an Menschen durchgeführt hat.“ „Anpassung ist eine extrem gefährliche Stärke von Soziopathen“, erklärte L und begann sich nun die Briefe durchzulesen. „Obwohl sie keine Gefühle empfinden und nicht die Spur von Empathie besitzen, können sie sie perfekt vorspielen und es ist bewiesen, dass sie sogar sehr viel Erfolg damit haben, weil die Menschen um sie herum denken, von ihnen würde etwas Besonderes ausgehen. Eine Art charismatische Ausstrahlung eben. Und wenn Alice ein eh schon emotional schwacher Mensch war, dann wäre es nur logisch, dass er sie ausgesucht hat, weil sie leicht zu manipulieren war.“ Doch Beyond hatte da so seine leichten Zweifel an der Theorie. Immerhin ging aus Alices Tagebuch hervor, dass Joseph offenbar sehr besorgt um sie war und auch versucht hatte, ihr zu helfen, indem er ihr anbot, im Institut zu arbeiten, weil er sie vor diesem Will Duncan beschützen wollte. „Also ich weiß nicht. Mag sein, dass dieser Joseph Brown ein Arschloch war, aber ich glaube, dass er Alice geliebt hat. Aber wenn sie gemerkt hat, was für ein Mensch er vielleicht wirklich war und sie Watari davon erzählen wollte, dann wäre es möglich, dass Joseph die Reißleine gezogen und diesen Unfall gebaut hat, um Alice zum Schweigen zu bringen.“ Nachdem er sich die Fotos zu Genüge angesehen hatte, wandte auch er sich den Briefen zu und schnell stellte sich heraus, dass die beiden wohl so etwas wie Geliebte und auch Geschäftskollegen waren. So wie es aussah, hatte Alice zusammen mit Joseph Brown, der Neurologe und wie auch L’s Mutter Humanbiologe war, gemeinsam am Unborn-Phänomen geforscht. Wahrscheinlich war das der Beginn der Proxy-Experimente gewesen und damit wäre ja eigentlich fraglich, ob Alice sich von ihm abgewandt hatte, als sie von den Experimenten erfahren hatte, oder ob es einen anderen Beweggrund gab. Auf jeden Fall hatte sie ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, ihren Job als Chefärztin zu kündigen und mit ihm im Institut zu arbeiten. Die beiden hatten sogar schon Heirats- und Familienpläne. Schließlich wandte sich Beyond an L und sein Gesichtsausdruck wurde ernst. „Du sag mal L, kann es vielleicht möglich sein, dass Alice die Mutter von diesem James ist? Ich meine, bei manchen schwangeren Frauen sieht man das ja nicht so wirklich.“

„Das glaube ich nicht. Wo hätte sie das Kind denn damals verstecken sollen? Irgendwo hätte sie das Kind zur Welt bringen müssen, außerdem fällt es im Krankenhaus auf, wenn eine hochschwangere Chefärztin herumgelaufen wäre. Wahrscheinlich hatte Joseph eine Affäre oder das Kind stammt von einer Exfrau oder Exfreundin.“

„Ob das der Grund für den Streit gewesen war? Womöglich hat Alice ja erfahren, dass der saubere Joseph schon einen Sohn von einer anderen hatte und da war sie mit Sicherheit ziemlich enttäuscht deswegen.“ Ja, das wäre nachvollziehbar. Sie zogen noch mal das Tagebuch zu Rate, welches Alice aber nicht immer regelmäßig geführt hatte, weshalb an manchen Tagen die Einträge fehlten. Und von manchen waren die Seiten einfach rausgerissen worden, weshalb manchmal eine ganze Woche oder sogar ein Monat fehlte. Aber tatsächlich fanden sie schließlich den entsprechenden Eintrag:
 

18. November
 

Ich fühle mich so verarscht. Erst heute habe ich rein zufällig von Joseph erfahren, dass er eine Ex-Freundin und einen Sohn hat! Wie kann er mir das nur antun? Ich dachte, er liebt mich und wir wollten zusammen heiraten. Für ihn wollte ich meinen Job als Chefärztin aufgeben und bei ihm im Institut arbeiten. Und nun erfahre ich, dass er die ganze Zeit Geheimnisse vor mir hatte. Ich kann es echt nicht fassen. Warum nur hat er mir nichts gesagt? Wieso hat er mich die ganze Zeit belogen? Joseph hat zwar versucht, das Ganze zu erklären, aber ich wollte ihn einfach nicht mehr sehen. Nachdem er mich so dermaßen enttäuscht hat, will ich ihn auch vorerst nicht heiraten. Wahrscheinlich hätte es eh nur Ärger mit Vater gegeben, denn der hält nicht viel von ihm, weil Joseph in seinen Augen nur ein Träumer ist, der irgendwelchen Fantasien nachjagt. Mit Sicherheit hätte er eh niemals seinen Segen gegeben, so wie ich ihn kenne. Wenn es nach ihm gehen würde, müsste ich Will heiraten. Bevor das geschieht, bringe ich mich lieber um!
 

Anscheinend hatte Beyond mit seiner Vermutung richtig gelegen. Alice war wegen James wütend auf Joseph gewesen und hatte die Hochzeitspläne aufgegeben. Sie war einfach verletzt gewesen, dass er ihr seinen Sohn verschwiegen hatte. Der Serienmörder atmete tief aus und hob die Augenbrauen. „Mein lieber Scholli, da hatte die Ärmste aber ziemlich viel zu ertragen gehabt. Ihr Lover hatte einen Sohn, dann der ganze Erfolgsdruck, der Job, das Mobbing, die Medikamentenabhängigkeit… Also mit der will ich ganz sicher nicht tauschen.“ Ja, da hatte er irgendwie schon recht und L fragte sich auch so langsam, was wohl noch alles dazugekommen war. Und außerdem war ja noch fraglich, ob ihr Tod nun ein Unfall war oder nicht. Schließlich fanden sie noch alte Zeichnungen von Alice, als sie noch ein Kind gewesen war. Es zeigte bunte Landschaften und sie zusammen mit ihrem Vater. Doch selbst für ein Kind besaß sie bereits erstaunliches Talent. Und schließlich fanden sie ein altes Tagebuch, welches ihr gehörte, als sie noch sechs Jahre alt gewesen war. Wie sich herausstellte, konnte sie schon längst perfekt schreiben und sich auch gewählt ausdrücken. Ein deutliches Zeichen für einen überragenden Intellekt. Und so wie es schien, hatte Watari schon damals große Pläne mit ihr. „Wenn ich erwachsen bin, will ich Ärztin werden, damit Daddy stolz auf mich ist.“ Und was hatte sie geschrieben, als sie Ärztin geworden war? „Ich will alles daran setzen, um Chefärztin zu werden. Dad wünscht sich das so sehr für mich und ich will ihn stolz machen.“ Irgendwie konnte sich Beyond das sehr schön bildlich vorstellen. Kaum, dass Alice irgendein Ziel erreicht hatte, kam Watari an und sagte „Das hast du toll gemacht, aber ich weiß, dass du noch deutlich mehr schaffst.“ Und Alice hatte nicht den Mut aufgebracht, ihm die Wahrheit zu sagen. Und wahrscheinlich hätte der Alte selbst dann nicht aufgegeben, wenn sie es tatsächlich in den Vorstand geschafft hätte. Dann wäre er damit gekommen, dass sie doch genauso gut Professorin werden könnte und dass sie mal eine so herausragende Entdeckung machen würde, dass sie dafür den Nobelpreis bekam. Und als er eine Kinderzeichnung mit Alice sah, wo sie mit einer Art Pokal zu sehen war wo drauf stand „Ich krieg den Nobelpreis“, da sah er sich auch schon bestätigt. Irgendwie war Watari recht schnell zu durchschauen. „So langsam kann ich sie verstehen, dass sie durchgedreht ist. Bei ihr hätte das doch nie aufgehört und da war es doch nur vorauszusehen, dass er sie mit seinen hohen Erwartungen in irgendeine Krankheit treibt. Schon im Kindsalter hat er wohl erwartet, dass sie den Nobelpreis mit nach Hause bringt. Irgendwie erinnert mich das an diese amerikanischen Mütter, die selbst nie Schönheitskönigin geworden waren und das nun ihren dreijährigen Töchtern aufs Auge drücken und sie somit komplett verkorksen.“ Doch L schüttelte nur den Kopf und war da der anderen Meinung. „Also ich glaube nicht, dass Watari tatsächlich solche Sachen von ihr verlangt hat. Wahrscheinlich wollte er sie nur motivieren, damit sie sich Ziele setzt.“ „Ja aber hat er je nachgefragt, was sie will? Irgendwie scheint mit der Kommunikation so einiges schief gelaufen zu sein.“

„Wenn Alice nie über ihre Probleme geredet hat, wie hätte man ihr denn helfen sollen?“

„Mein Gott er war doch ihr Vater. Da hätte er doch merken müssen, dass etwas nicht mit ihr in Ordnung war. Und du vergisst außerdem, dass sie erpresst worden und medikamentenabhängig war und sie war mit dem Mann zusammen, den ihr Vater nicht wirklich leiden konnte. Watari hat doch regelrecht Hirnwäsche mit ihr betrieben. Vielleicht nicht böswillig, aber er hat sie so lang bequatscht, bis Alice sich selbst all diese Ansprüche gesetzt hat und nicht mehr in der Lage war zu erkennen, was sie denn nun selbst wollte, oder was Watari ihr aufs Auge gedrückt hat. Verstehst du, wie ich das meine? Oder war diese ganze Detektivnummer auch deine Idee?“

„Watari wollte, dass ich meine Fähigkeiten zu einem guten Zweck einsetze.“

„Aber es war nicht deine Idee gewesen!“

„Hätte ich es aber nicht gewollt, dann hätte ich es auch nicht gemacht!“ Sie beide waren immer lauter geworden und standen kurz vor einem heftigen Streit. Doch dann war es Beyond, der die angespannte Situation schnell wieder entschärfte. „Lass uns doch nicht wegen so einer alten Sache streiten. Es tut mir leid, vergiss es einfach.“ Und wieder legte er seine Arme um die des Detektivs und legte seinen Kopf auf dessen Schulter ab. „Ich mag mich eh nicht mit dir streiten.“ Damit küsste der Serienmörder ihn und als sie sich so in den Armen lagen und an nichts dachten, da rief plötzlich jemand „Hey ihr beiden!“ und sofort lösten sie sich voneinander. Es war Nastasja, die jemanden in Begleitung hatte. Es war Dathan, der seinen Mundschutz nicht trug, woraufhin man sein entstelltes Gesicht in allen Details erkennen konnte. Selten hatte L so einen furchtbaren Anblick bei einem Menschen gesehen. „Wenn ihr rumturteln wollt, geht bitte auf euer Zimmer.“

„Es ist nicht so wie du denkst, Mum!“

„Und ob es so ist…“

„Halt die Klappe, Beyond. Du bist auch nicht sehr hilfreich.“

„Hab ich das je behauptet?“ Zur Strafe zog der Detektiv ihn am Ohr und musste sich wirklich beherrschen, um ihm nicht noch den Hals umzudrehen. Dathan seinerseits sah die beiden abwechselnd an und fragte schließlich „Sind das deine Zwillingssöhne?“ „Nein, der mit den roten Augen ist sozusagen der Lebensgefährte meines Sohnes L. Mein älterer Sohn Jeremiel sieht rein äußerlich L überhaupt nicht ähnlich, aber du lernst ihn auch noch kennen.“ Damit wandte sie sich nun den anderen zu und klärte sie über die Situation auf. „So ihr beiden, ich habe Dathan die ganze Sache erklärt und ihm auch gesagt, was es mit uns auf sich hat und dass er vermutlich ein Unvergänglicher ist. Und wir haben inzwischen herausgefunden, dass Dathan Alice gekannt hat. Er war ihr Patient, nachdem er sie aus dem brennenden Restaurant gerettet hat.“

„Und wieder ein merkwürdiger Zufall“, bemerkte Beyond etwas nüchtern und kratzte sich am Kopf. „Also langsam werden mir das zu viel der Zufälle, wenn ihr mich fragt. Da ist doch eindeutig was faul.“

„Zufälle gibt es nicht, nur die Illusion des Zufalls“, sagte Dathan und trat etwas näher. „Das hat mir Lacie mal gesagt.“ Ja, an dieser Aussage war was dran. Seit sie mit den Eva-Experimenten zu tun hatten, gab es eigentlich keine Zufälle mehr. Selbst wie sie sich alle kennen gelernt hatten, beruhte auf Fredericas Berechnung, die damit beschäftigt gewesen war, Evas Willen zu erfüllen und ihre Familie wieder zusammenzuführen. Nichts hatte da auf einem Zufall beruht, also warum auf einmal jetzt? Eigentlich war es doch logischer, wenn sie wieder Teil eines Plans waren. Nur war es dieses Mal nicht Frederica, sondern jemand anderes. Nur stellte sich dann natürlich die Frage, wer denn dahintersteckte. Eva? Nun, das konnte durchaus sein. Aber wozu das denn alles? Wieso die Geheimnistuerei und der ganze Aufwand? Als er den anderen seinen Verdacht mitteilte, mussten sich Nastasja und L anschließen und zugeben, dass es tatsächlich möglich war, dass sie wieder mal die Schachfiguren im Spiel waren. Doch da stellte auch L die entscheidende Frage: „Wieso die Geheimniskrämerei und warum wird nicht direkt mit offenen Karten gespielt?“ Ganz überraschend hatte Dathan eine Idee und so erklärte er „Das ist eine bewährte Kriegsstrategie. Wenn die Soldaten im Unwissen über spezielle Operationen gelassen werden, kann der Feind sie nicht erfahren und gleichzeitig gibt es weniger Komplikationen, weil die Soldaten gezwungen sind, die Befehlskette einzuhalten und sich haargenau an die Anweisungen zu halten. So kann das Risiko eines Fehlschlags minimiert werden. Zumindest habe ich das in meinen Büchern so gelesen.“

„Du meinst also, dass Eva uns extra nichts sagt, weil sie Sorge hat, dass der Alpha-Proxy Wind bekommt und die Situation außer Kontrolle gerät?“

„Das wäre denkbar“, musste L zugeben. „Und strategisch gesehen auch sehr effektiv. Da wir kaum etwas wissen, müssen wir uns nach dem richten, was wir an Hinweisen bekommen und so auf die Antwort kommen. Als würden wir eine Geschichte nachleben, die bereits auf dem Papier abgedruckt ist. Wenn man diese Möglichkeit bedenkt, dann wäre es sogar denkbar, dass Eva eventuell schon die Identität des Alpha-Proxys kennt, ebenso wie seine Ziele und uns als Mittel benutzt, um ihn aufzuhalten, weil sie es nicht alleine kann. Das würde aber dem widersprechen, was wir über sie wissen, denn Eva ist eine Beschützernatur. Sie würde niemals ihre Familie einer Gefahr aussetzen, weil sie zu große Angst davor hat, sie wieder zu verlieren. Eine andere Möglichkeit wäre, dass Eva gar nicht diejenige ist, die hinter diesen Plänen steckt, aber dennoch zum Teil mit involviert ist. Eine der Personen, die dafür in Frage kämen, wäre Lacie Dravis.“

„Und dieser Pfarrer“, ergänzte Beyond. „Es kann doch kein Zufall sein, dass Lacie Dathan ausgerechnet zu ihm bringt, obwohl sie den Ärmsten über den Haufen gefahren hat. Jeder normale Mensch hätte ihn ins Krankenhaus gebracht, es sei denn, Lacie hat gewusst, dass er ein Unvergänglicher ist. Der Pfarrer weiß es auch und bei den Sachen, die er sowieso schon angedeutet hat, würde es mich nicht wundern, wenn er bis zum Hals in der Sache drin hängt. Selbst wenn er und sein komischer Küster nur Menschen sind. Von Frederica wissen wir, dass es einen Unvergänglichen gibt, der hier in London lebt und andere Unvergängliche beschützt, die hier als Asylanten leben. Dieser Unvergängliche heißt Samajim. Keine Ahnung, wer das ist und was er für eine Verbindung zu Eva oder zu uns hat, aber vermutlich hängt dieser Kerl mit drin. Heißt also, dass der wohl wahrscheinlichste Kandidat dieser Samajim ist, der sowohl Eva als auch uns benutzt, weil er irgendetwas vorhat. Womöglich hat es mit dem Krieg der Unvergänglichen zu tun.“ Klang zwar interessant, aber L fand diese Theorie noch etwas weit hergeholt. Um das zu beweisen, brauchten sie mehr Informationen. Und vor allem mussten sie diesen Samajim finden und in Erfahrung bringen, wie all diese Puzzleteile zusammenhingen. Denn es fehlten noch einige, bis sich Verbindungen zwischen den einzelnen Punkten ergaben.

Der Alpha-Proxy

Es war ein traumhafter Anblick und auch wenn die Weihnachtstage vorüber waren, Frederica fühlte sich richtig wohl, endlich mal wieder in London zu sein und Zeit mit Watari zu verbringen. Wieder fiel Schnee und sie hatte ihr empfindliches Haar zusammengebunden und trug einen wärmenden Schal und eine Mütze. Sie hatte sich bei Watari eingehakt und auch ihm war anzusehen, dass er sich freute, mit ihr unterwegs zu sein. „Es kommt mir vor, als wäre es eine Ewigkeit her, dass wir unterwegs waren. Da waren Nastasja und Henry dabei und L war damals noch so klein.“ „Stimmt, er ist unterwegs immer müde geworden und wir haben ihn dann den Rest des Weges tragen müssen. Das waren schon schöne Zeiten damals. Beyond, L und ich haben auch schon miteinander gesprochen. Wenn du dich hier in England zur Ruhe setzen willst, kommen wir dich auf jeden Fall besuchen. Dann können wir gerne Schach spielen, irgendwo hingehen und wenigstens etwas von der verlorenen Zeit nachholen.“

„Sehr gerne.“ Sie gingen in Richtung Friedhof und als sie nach einer Weile das Grab von Nastasja und Henry erreichten, zündete Frederica ihnen ein Grablicht an und blieb neben Watari stehen. „Es ist schon komisch, vor Nastasjas Grab zu stehen und gleichzeitig zu wissen, dass ihr Ich aus einer vergangenen Zeitschleife noch lebt. 58 Male hab ich versucht, alle zu retten. Aber… egal wie oft ich es auch versucht habe, ich konnte sie und Henry nicht retten. Es ist schon traurig und ehrlich gesagt vermisse ich Henry wirklich sehr. Vor allem Nastasja vermisst ihn. Zwar sagt sie nie etwas und sie ist ja auch glücklich mit ihrer Familie, aber dennoch fehlt Henry uns.“

„Er wäre mit großer Sicherheit sehr stolz auf euch alle. Dessen bin ich mir sicher und er hätte gewollt, dass ihr alle lebt und glücklich seid.“ Frederica nickte stumm, konnte aber dennoch ein paar Tränen nicht zurückhalten, als sie vor Henrys Grab kniete. Er und Nastasja hatten sie aufgenommen und ihr einen Namen gegeben. Sie hatten ihr eine eigene Identität gegeben und sie als Teil der Familie aufgenommen. Natürlich war Frederica überglücklich, dass Nastasja lebte, aber ihr war dennoch bewusst, dass die Nastasja aus dieser Zeit tot war, genauso wie ihr Mann. Und es tat ihr so unendlich weh im Herzen, dass es ihr trotz aller Bemühungen nicht gelungen war, ihn zu retten. Zumindest war es für sie ein Trost, dass sie jetzt alle glücklich waren. Und sie hatten sogar zwei Proxys retten können. Sheol war vollständig geheilt, Elion war glücklich mit seinem Leben und hatte Ezra, den sie auch aus seiner Misere geholt hatten. Und sie konnte dank Sariels großem Opfer bei ihrer Familie leben. Bis jetzt hatte sich jedes Unglück, das ihnen widerfahren war, letzten Endes doch zum Guten gewandt. Zumindest für die meisten von ihnen.

Schließlich gingen sie zu Alices Grab, welches ordentlich gepflegt war und wo nun Watari damit begann, für seine verstorbene Tochter ein Licht anzuzünden. Dieses Grab war leer und es war hoffnungslos, selbst nach 27 Jahren noch ihre Leiche zu finden. „Watari…“ Der alte Mann ließ niedergeschlagen den Blick sinken und nahm seinen Hut ab. „Ich wünschte, ich hätte wenigstens die sterblichen Überreste meiner Tochter angemessen bestatten können. Manchmal hatte ich noch Hoffnung, dass sie wie durch ein Wunder überlebt hat und sie eines Tages vor meiner Tür steht und ich sie in meine Arme schließen kann. Aber mit den Jahren schwand diese Hoffnung immer weiter und inzwischen glaube ich auch nicht mehr daran, dass Alice noch am leben ist. Ich weiß, dass ich vieles falsch gemacht habe. Vielleicht habe ich zu viel von ihr erwartet und einfach die Augen davor verschlossen, was wirklich war. Ich wollte doch immer nur das Beste für sie und dass sie den Ehrgeiz hat, das Beste aus ihrem Leben zu machen. Doch wie es scheint, habe ich als Vater völlig versagt. Ich habe mein Kind zu sehr unter Druck gesetzt und zu viel auf einmal erwartet. Wegen mir hat sich Alice so quälen müssen und diese Tabletten genommen. Wegen mir ist mein einziges Kind zu Tode gekommen.“ Mit diesen Worten brach Watari in bittere Tränen aus und all der Schmerz der letzten Jahre über den Verlust seiner Tochter brach hervor. Frederica musste ihn stützen, da sie fürchtete, er könne die Kraft verlieren und zusammenbrechen. All die Jahre war er so stark geblieben und hatte sich nie etwas anmerken lassen. Er war wie ein ruhiger Fels in der Brandung gewesen und nun, da er die Wahrheit über Alice kannte, brach all das nun zusammen und was blieb, war ein von Schicksalsschlägen gepeinigter alter Mann, der langsam unter der Last all dieser alten Geschichten zusammenbrach. Es war zu spät, um noch etwas zu ändern. Was blieb, war nichts als Reue. Und Frederica fand auch keine Worte des Trostes für ihn. Es war einfach tragisch, sein Kind zu verlieren und nicht zu wissen, was nun zum Tod geführt hatte. Selbstmordgedanken, ein Mordanschlag oder wirklich nur ein Unfall.

Mit einem Mal war es auf dem Friedhof totenstill geworden. Selbst die Raben, die vorhin noch auf ein paar der Grabsteine gehockt hatten, waren verstummt und flogen davon. Dafür hörten sie leise Schritte im Schnee. Jemand kam näher und stand hinter ihnen. Und Frederica spürte sofort, dass das kein Mensch war. Ruckartig drehte sie sich um und erkannte mit Entsetzen, dass es eine Gestalt mit Helm und einem Lederanzug war. Von der Figur konnte man sofort erkennen, dass es eine Frau war und in der Hand hielt sie ein Schwert. Sie lachte und durch den eingebauten Stimmenverzerrer hörte sich dieses Lachen bizarr und unmenschlich an. Frederica wusste sofort, dass es der Alpha-Proxy war und schützend stellte sie sich vor Watari. „So sieht man also endlich mal von Angesicht zu Angesicht, Frederica. Und wie ich sehe, bist du auch mit von der Partie, alter Mann. Na? Wie fühlt es sich an, sein einziges Kind zu verlieren? Es muss sehr schmerzhaft sein, nicht wahr?“

„Was willst du von uns?“ fragte Frederica und machte sich bereit. Sie wusste, dass der Alpha extrem gefährlich und kräftemäßig mit Liam auf einem Level war. Folglich also standen ihre Chancen nicht sehr gut, aber kampflos würde sie nicht aufgeben. Langsam fuhr der Alpha-Proxy mit seiner Schwertklinge über das Eis und richtete die Klinge schließlich auf Frederica. „Vergeltung“, antwortete er. „Du Hexe hast mir jemanden genommen, der mir wichtig war. Und dafür wirst du sterben.“ „Wen meinst du? Etwa Joseph? Ich habe ihn getötet, weil er Nastasja und Henry auf dem Gewissen hatte. Er hat Sheol dazu gebracht, die beiden umzubringen und er hat die Proxys so grausam behandelt.“ „Das war nicht Joseph. Ich habe die Tötung der Familie Lawliet angeordnet, ebenso wie die Erziehungsmaßnahme der Proxys.“ Irgendwie hatte Frederica kein gutes Gefühl bei der ganzen Sache und sie ahnte, dass das noch ziemlich übel werden konnte. Und der Alpha-Proxy schien ziemlich stinksauer auf sie zu sein. „Und soll ich dir noch ein Geheimnis verraten, alter Mann? Deine hübsche Tochter habe ich ebenfalls aus dem Weg geräumt.“ Als Watari das hörte, entwich jede Farbe seinem Gesicht und fassungslos sah er die maskierte Gestalt an, sank in die Knie und die Tränen standen ihn in den Augen. „Warum?“ fragte er mit kraftloser Stimme. „Warum hast du meine Tochter umgebracht?“ Wieder lachte der Alpha-Proxy und dieses verzerrte Gelächter jagte Frederica einen Schauer über den Rücken. „Sie war es doch, die mich angefleht hat, ihr Leid zu beenden. Und ich habe ihren Wunsch erhört. Ich habe sie für immer von ihrem Leid erlöst und von ihrem Leben gleich mit dazu. Na, alter Mann? Was nun? Glaubst du noch an Gott nach allem, was dir widerfahren ist? Glaubst du, dass es so etwas wie Gerechtigkeit in dieser Welt gibt? Dein Gott ist tot, genauso wie die Gerechtigkeit, für die dein Schützling so kämpft. Ihr Menschen seid nichts als erbärmliche Insekten, die unfähig sind, die wahre Göttlichkeit zu begreifen. Ihr lebt euer dumpfes Leben hin und werdet doch nie einen wesentlichen Teil zum ewigen Kreislauf beitragen. Wo liegt denn eure Existenzberechtigung, hm? Es gibt sie nicht. Alles, was entsteht ist wert, dass es zugrunde geht. Deshalb ist es an der Zeit, alles zu seinem Ursprung zurückzuführen. Aber seht es positiv: für euch wird der Urtraum des Menschen endlich erfüllt. Ihr werdet zu einem Teil des Göttlichen und damit zu einem Teil der Ewigkeit. Und ich werde die Mutter eines Gottes sein.“ Damit griff der Alpha-Proxy an und sofort duckte sich Frederica weg, sammelte ihre ganze Kraft in ihren rechten Arm und schlug zu, verfehlte aber und es gelang ihr nur mit knapper Not, die nächsten Schläge abzuwehren, die so unfassbar schnell waren, dass man sie kaum mit den Augen wahrgenommen hätte. „Watari, lauf weg. Ich halt sie solange auf.“ Frederica konnte nur mit Mühe mithalten, denn gnadenlos schlug ihre Gegnerin auf sie ein und jeder Schlag fühlte sich an, als würde sie von einem Rammbock getroffen werden. Während der Dead End Spiele hatte sie genug Kampferfahrungen sammeln können, um es mit anderen Unvergänglichen aufnehmen zu können, doch es war trotzdem ein Kampf gegen einen Gegner, den sie alleine nicht schlagen konnte. Dafür war dieser einfach zu stark. Ihre einzige Chance war, dem Alpha-Proxy den Helm abzunehmen und die Haare zu fassen zu kriegen. Diese waren die größte Schwachstelle der Unvergänglichen und der Proxys, weil durch diese extrem empfindliche Nervenstränge verliefen. Wenn sie ihre Gegnerin an den Haaren zu fassen bekam, standen ihre Chancen auf einen Sieg gar nicht mal so schlecht. Doch dazu musste sie es erst einmal schaffen, dem Alpha den Helm vom Kopf zu reißen oder ihn einfach kaputt zu schlagen. Dummerweise hatte sie keine Waffe und somit waren ihre Möglichkeiten deutlich begrenzt. „Wer genau bist du? Lacie Dravis?“ „Lacie? Nein, ich bin nicht sie. Aber dieses Miststück hat mir schon oft dazwischengefunkt und es wird nicht mehr lange dauern, bis auch sie endlich verschwinden wird. Keiner kann das Schicksal dieser Welt noch aufhalten. Es ist vorherbestimmt, dass alles irgendwann mal enden wird. Die Menschheit steht ohnehin am Rande des Abgrunds. Moral, Nächstenliebe und Gerechtigkeit sind nichts Weiteres als fadenscheinige Selbstlügen geworden, weil die Menschen sich nicht eingestehen wollen, wie grausam, egoistisch und zerstörerisch sie sind. Menschlichkeit ist nichts als eine Illusion. Du hast dich für die falsche Seite entschieden und dafür wirst du jetzt mit deinem Leben bezahlen, Frederica.“

„Das glaub ich eher nicht.“ Damit holte das Albinomädchen zum Gegenschlag aus und schleuderte den Alpha-Proxy gegen einen Baum. Der Aufprall war so gewaltig, dass es den Stamm durchbrach und sogleich ergriff Frederica Wataris Hand und eilte mit ihm davon. „Schnell, wir müssen hier weg, solange wir noch können.“ Sie liefen los und wollten den Friedhof schnellstmöglich verlassen, doch da erstarrte das Albinomädchen abrupt in ihrer Bewegung, als ein Schuss ertönte. Blut spritzte, als die Kugel ihre Brust durchbohrte und sie zu Boden fiel. Watari sah, wie sich der Schnee langsam mit ihrem Blut tränkte und befürchtete zuerst das allerschlimmste, doch Frederica bewegte sich noch. Sie hustete und Blut lief aus ihrem Mund, aber sie stand wieder auf und stellte sich wieder vor Watari. „Los doch, verschwinde endlich.“

„Nein Frederica, sie wird dich töten.“

„Aber ich…“ Bevor sie weitersprechen konnte, war auch schon der Alpha-Proxy da und verpasste Watari einen Tritt und setzte ihn somit außer Gefecht. Frederica, die in ihrer derzeitigen Verfassung kaum in der Lage war, Widerstand zu leisten, wurde zu Boden gedrückt und sogleich holte die maskierte Angreiferin eine Spritze hervor, in der eine blutrote Flüssigkeit schwamm. „So und nun wirst du wissen was es heißt, wirklich zu leiden.“ „Nein… lass mich los…“ Frederica versuchte noch Widerstand zu leisten, doch der Alpha-Proxy war einfach zu stark. Und so konnte das Albinomädchen nichts dagegen tun, als die Nadel in ihren Nacken gestochen wurde. Und kaum, dass diese Flüssigkeit injiziert wurde, war ihr so, als würde eine Säure durch ihre Adern fließen, ein infernalischer Schmerz breitete sich in ihrem Körper aus und sie schrie auf. Der Alpha-Proxy beobachtete dies mit einer stillen Genugtuung und wollte das wehrlose und sich vor Schmerz windende Albinomädchen mit dem Schwert erschlagen, doch da fiel ein Schuss und traf ihn direkt in den Helm. Es war Watari, der aus der Innenseite seines Mantels einen Revolver hervorgezogen und einen zielgenauen Schuss abgefeuert hatte. Doch der Helm war zu stark und blieb heil. Trotzdem war die Aufmerksamkeit des Alpha-Proxys abgelenkt und so ließ er die außer Gefecht gesetzte Frederica liegen und kam nun auf ihn zu. „So, du willst also den Helden spielen, alter Mann? Na, das kannst du gerne haben.“ Damit ging die Maskierte direkt zu ihm hin und hielt ihr Schwert griffbereit. Watari versuchte zu schießen, doch seine Hand zitterte und er fühlte einen brennenden Stich in seiner Brust. Sein Arm fühlte sich taub an, die Kehle war wie zugeschnürt und er bekam keine Luft mehr. Er wusste, was das bedeutete: nämlich einen Herzinfarkt. Die Aufregung war wohl nun doch zu groß für sein krankes Herz. Der Alpha-Proxy sah dies und lachte verächtlich. „Sieht so aus, als könnte ich mir die Arbeit genauso gut sparen. Dann mach’s gut, alter Mann. Und grüß deine Familie schön von mir.“ Damit verschwand der Alpha-Proxy und ließ Watari zurück. Dieser versuchte noch mit Mühe, irgendwie um Hilfe zu rufen, doch er schaffte es nicht. Sein ganzer Körper wurde von entsetzlichen Schmerzen gepeinigt und er bekam kaum noch Luft. Keuchend lag er da, eine Hand an seine Brust gepresst und es wurde langsam schwarz um ihn herum. Aber dann, als er schon kurz davor war, das Bewusstsein zu verlieren, da hörte er eine Stimme. Eine vertraute Stimme… war das etwa…? Nein, das war unmöglich. Nur sehr verschwommen erkannte er eine blonde Frau, die sich über ihn beugte und versuchte, ihn anzusprechen. „Watari!“ rief sie und sogleich begann sie ihn aufzusetzen, seinen Mantel zu öffnen, seine Krawatte zu lockern und die ersten Knöpfe seines Hemdes zu öffnen. „Ganz ruhig. Der Notarzt ist gleich hier und bringt dich ins Krankenhaus. Versuch ganz ruhig zu bleiben und dein Herz nicht noch mehr zu belasten.“ Er versuchte zu erkennen, wer diese Frau war, die da zu ihm sprach. Aber er konnte kaum das Bewusstsein halten, da konnte er sie einfach nicht zuordnen. „W-wer…“ „Ich bin es: Lacie Dravis! Keine Sorge, es wird alles gut werden. Hilfe ist gleich hier, es wird alles gut werden. Du darfst jetzt nicht sterben, hörst du? Das darfst du den anderen nicht antun!“ Doch Watari verlor das Bewusstsein, bevor der Krankenwagen eintraf.
 

Nastasja und die anderen saßen noch alle zusammen und besprachen sich in aller Ruhe über die Lage. Sie hatten noch einige alte Sachen von Alice durchsucht und überlegt, wie das alles bloß zusammenhängen könnte. Zu dumm, dass sie nichts über die Unterlagen zur Erforschung des Unborn-Phänomens fanden. Diese Unterlagen hatte Hester ja gehabt und Sheol hatte sie gestohlen. Vielleicht hätte man da ja etwas finden können. Nachdem sie eine Weile gerätselt hatten, fiel L ein Detail ein, welches sie noch gar nicht bedacht hatten. „Ist es nicht seltsam, dass sich das Proxy-Projekt auch mit dem Unborn-Phänomen beschäftigt, obwohl das eigentlich Alices Spezialgebiet war? Die Verbindung zwischen ihr und den Experimenten liegt eindeutig beim Unborn-Phänomen und da ist es doch fraglich, ob Alice davon gewusst hat, oder ob Joseph Brown sie einfach hinter ihrem Rücken ausgenutzt hat, um ihre Erkenntnisse für seine Zwecke zu benutzen.“

„Also dass Alice bewusst bei so etwas mitgemacht hat, kann ich mir unmöglich vorstellen“, sagte Nastasja sofort und machte jedem eine Tasse Tee fertig. „Zwar mag sie sehr verschlossen gewesen sein und niemandem etwas gesagt haben, aber sie hätte sich niemals auf so etwas eingelassen. Sie ist Ärztin geworden, weil sie Menschen helfen wollte.“

„Sie ist es geworden, weil Watari es so gewollt hat“, warf Beyond ein und kassierte sogleich einen strafenden Blick von L und seiner Mutter, aber er blieb bei seiner Meinung. „Jetzt mal ganz ehrlich: es wusste keiner von ihrer Medikamentenabhängigkeit, oder dass sie mit Joseph Brown was hatte. Und die Ziele, die sie erreicht hat, waren die Ziele, die der alte Zausel für sie gesteckt hat. Im Grunde hat doch keiner wirklich gewusst, wer sie wirklich war.“ „Jetzt reicht es aber langsam, Beyond“, sagte L schließlich und war sichtbar genervt. „Darüber haben wir doch schon diskutiert.“ „Du willst doch bloß den Alten in Schutz nehmen, aber du verlierst so langsam den Blick fürs Wesentliche. Und Fakt ist nun mal, dass Joseph Brown bis zum Hals im Proxy-Projekt und in den Eva-Experimenten mit drin steckte. Er hat deinen Bruder für Experimente benutzt und sich das Unborn-Phänomen zunutze gemacht, um Proxys heranzuzüchten. Also…Alice war diejenige, die den Unborn entdeckt und den Stein ins Rollen gebracht hat. Sie war mit Joseph zusammen und wollte ihn sogar heiraten. Was sagt uns das? Keiner wusste, wer sie wirklich war.“ Es drohte wieder im Streit zu enden, doch da ging Nastasja dazwischen. „Jetzt fahrt mal wieder die Krallen ein, ihr zwei. Beyond hat ja eigentlich Recht. Weder ich noch Watari hätten uns vorstellen können, dass Alice mit diesem Kerl etwas haben würde. Sie hatte so viele Geheimnisse vor uns und hat alles mit sich allein ausgemacht. Da frage ich mich so langsam, was ich als ihre engste Freundin eigentlich überhaupt von ihr gewusst habe. Schon damals, als wir uns das erste Mal begegnet waren, kam sie mir so fremd vor, als stamme sie aus einer völlig anderen Welt. Sie war einfach undurchschaubar und man ist einfach nie wirklich schlau aus ihr geworden.“

„Wie Gerda aus dem Buddenbrooks-Roman.“

„Ja, der Vergleich könnte nicht treffender sein. Sie war eine Schönheit, hat aber immerzu etwas Kühles und Unnahbares ausgestrahlt, weswegen sich alle automatisch von ihr distanziert haben. Ich habe mich zwar wirklich bemüht, sie zu verstehen, aber so wie es jetzt aussieht, habe ich sie nie verstanden. Und womöglich hat keiner das. Weder Henry, noch Watari. Vielleicht war Joseph wirklich der Einzige gewesen, der das konnte und womöglich hat sie sich deshalb auf ihn eingelassen. Wissen wir denn, ob Joseph es ehrlich mit ihr gemeint hat? Vielleicht begannen die Proxy-Experimente ja wirklich erst nach ihrem Tod und Alice hatte damit rein gar nichts zu tun. Womöglich aber kann es auch sein, dass sie da mit drin steckte und sie umgebracht wurde, weil sie versucht hat, irgendwie da wieder rauszukommen. Wir müssen objektiv bleiben und versuchen, alles mit einem klaren Blick zu sehen. Und fest steht nun mal leider, dass Alice nicht die Person war, die ich gekannt habe. Vielleicht hatte sie noch mehr Geheimnisse, von denen wir nichts wissen. Ach Mensch, mich nimmt das doch auch alles mit. Immerhin war Alice wie eine Schwester für mich und jetzt erfahre ich so was.“ Nastasja sah aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen, doch sie konnte sich beherrschen. Sogleich ergriff sie Dathans Hand und hielt sie fest. „Verdammte Hacke, ich würde ja gerne die Zeit zurückdrehen und Alice helfen. Wahrscheinlich hätte ich damals so vieles anders gemacht, wenn ich gewusst hätte, wie schlecht es ihr ging. Aber ich…“ Ein jähes Klingeln unterbrach die Russin und sie holte daraufhin ihr Handy und nahm den Anruf an. Beyond und die anderen konnten sehen, wie sie kalkweiß im Gesicht wurde und sich ihre Augen vor Entsetzen weiteten. Nachdem sie das Telefonat etwas überhastet beendet hatte, stand sie auf und schnappte sich ihre Handtasche. „Wir müssen sofort ins Krankenhaus. Frederica und Watari wurden vom Notarzt eingeliefert. Frederica ist angeschossen worden und Watari hat einen Herzinfarkt erlitten.“

Fredericas Rettung

Sie hatten das Krankenhaus nach knapp einer zehnminütigen Fahrt erreicht. Dathan hatte sich angeboten, sie alle hinzufahren. Nastasja hatte währenddessen auch schon Elion angerufen und Bescheid gesagt. Dieser wollte zusammen mit den anderen ein Taxi nehmen und so zum Krankenhaus kommen. Als sie endlich da waren, sprach Nastasja sofort mit dem Arzt und erfuhr, dass Frederica und Watari noch operiert wurden. Beide schwebten in Lebensgefahr und es war ihnen ein Rätsel, wie das nur passieren konnte. Vor allem, weil Frederica doch eine Unvergängliche war und sie doch eigentlich kein leichter Gegner gewesen wäre. Vor allem fragten sie sich, wieso sie ihre Verletzung nicht einfach zurücksetzte. Irgendetwas stimmte da überhaupt nicht. Nachdem die Operation vorbei war und Frederica zumindest vorübergehend außer Lebensgefahr war, ging die Gruppe zu ihr und sofort untersuchte Nastasja sie. Sie brauchte nicht lange um festzustellen, dass irgendetwas mit Frederica los war und das Problem woanders lag, aber nicht in der Schussverletzung. Und tatsächlich fand sie nach einigem Suchen die Einstichstelle einer Nadel. „Elion.“ Der Proxy trat näher und berührte vorsichtig Fredericas Stirn. Doch sogleich, als er das tat, durchfuhr ein brennender Schmerz seinen Körper und ihm war, als würde sein Innerstes in Flammen stehen. Sofort löste er sich wieder von ihr und taumelte zurück. Schnell war Ezra bei ihm und rief „Hey, mach mir jetzt bloß nicht schlapp, kapiert? Sag schon, was ist los?“ Doch der Proxy brauchte erst mal eine Weile, um sich davon zu erholen. Die Angst stand ihm ins Gesicht geschrieben und mit Mühe antwortete er „Es ist… es ist der Unborn.“ „Wie jetzt?“ fragte Sheol und sah abwechselnd zu Elion und Frederica. „Wie kann sie sich denn angesteckt haben? Das ist doch nicht möglich. Sie müsste schon als Embryo infiziert werden, damit sie zu einem Proxy wird. Wozu das alles?“

„Weil der Unborn ihre Seele absorbiert. Mutter muss ihr das angetan haben.“ Das war wirklich eine absolute Katastrophe. Offenbar war der Alpha-Proxy in London und hatte Frederica und Watari angegriffen. Und nun war Frederica dasselbe passiert wie mit Andrew, als Elion zu ihm eine mentale Verbindung aufgebaut hatte. Sheol dachte kurz nach und hatte dann schließlich eine Idee. „Wieso stellst du nicht dieses Serum her, das auch Elion und mich gerettet hat? Vielleicht können wir Frederica auf dieselbe Weise retten.“ Doch die Russin schüttelte ernst den Kopf und erklärte, dass das nicht so einfach war. Denn es gab ein ernstes Problem: das Serum zerstörte zwar den Unborn, aber es war so konzipiert, dass es explizit parasitäre Bewusstseinsformen zerstörte. Das hieß, sie konnte dieses Mittel nicht bei Frederica anwenden, weil sie ja als Unvergängliche selbst ein parasitäres Bewusstsein war. Das Serum würde ihr also den Todesstoß geben. Verdammter Mist!“ rief sie und trat gegen die Wand, woraufhin sie sich die Haare raufte. „Und um das Mittel zu verändern, fehlt mir die Zeit. Wir bräuchten jemanden, der in der Lage ist, den Unborn zu zerstören, ohne dabei Frederica in Gefahr zu bringen. Elion, meinst du, dass du das kannst?“ Doch der Proxy musste zu seinem Bedauern mit der Erklärung ablehnen „Wenn ich eine Verbindung zu ihr aufbaue, dann werde ich mich sofort infizieren, weil ich immer noch ein Proxy bin. Wir bräuchten schon Eva oder jemanden, der ähnliche Fähigkeiten hat wie sie.“

„Ja super! Und wer soll das denn bitteschön sein?“ rief Ezra und setzte sich. Nastasjas Blick wanderte zu Dathan und sie ergriff seine von Brandnarben entstellte Hand. Seine Haut fühlte sich rau und wie Leder an, aber das störte sie nicht im Geringsten. Sie mochte seine Hände, genauso wie sein Gesicht. „Dathan, ich weiß, dass ich zu viel verlange. Aber womöglich bist du der Einzige, der uns helfen kann, Frederica zu retten. Wir müssen es zumindest versuchen.“ Doch der Entstellte war sich nicht sicher, ob das so eine gute Idee war. Denn er konnte immer noch nicht so wirklich glauben, dass er ein Unvergänglicher war. „Wie soll ich das denn machen? Ich weiß doch nicht mal, was ich tun soll.“ Aber da hatte auch schon Elion die rettende Idee. „Wir könnten dir erklären, was du machen musst und du folgst einfach den Anweisungen. Damit du jemanden hast, der dich führt, wäre es ratsam, wenn jemand mitkommt. Auf jeden Fall muss es jemand sein, der mit so etwas Erfahrungen hat. Sheol, könntest du dich gleich mit dranhängen? Du bist der einzige von uns beiden, der problemlos mitgehen kann.“

„Das geht?“

„Klar. Ich habe das schon mal ausgetestet. Wenn du beim Aufbau der mentalen Verbindung Kontakt zu Dathan hältst, kannst du dich an ihn dranheften, selbst ohne Proxy-Kräfte. Dann nimmt er dich quasi mit. Rein theoretisch könnten mehrere Leute mitgenommen werden. Ist eigentlich ein ähnliches Prinzip, als würde man mit einer größeren Zahl von Leuten versuchen, auf einen Server zurückzugreifen.“ Zwar war Dathan immer noch sehr skeptisch, ob das auch wirklich funktionierte, aber er wollte es zumindest versuchen. Vielleicht würde sich ja auf die Weise herausstellen, ob er nun ein Mensch war oder nicht. Es konnte ja genauso gut sein, dass es sich um einen Irrtum handelte und wenn es beim besten Willen nicht funktionierte, war das doch der beste Beweis dafür, dass er auch nur ein Mensch war. In dem Fall musste einfach mit Beyonds Augen irgendetwas nicht stimmen. Aber zumindest wollte er es versuchen. Allein schon Nastasja zuliebe. „Okay, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, sie zu retten, dann will ich es versuchen.“ Um ihnen die Ruhe zu geben, sich zu konzentrieren, verließ Nastasja mit den anderen das Zimmer und wollte mit ihnen zusammen Watari besuchen gehen und nach ihm sehen. So waren Sheol und Dathan die Einzigen, die noch da waren. Und der Entstellte war immer noch nicht so ganz überzeugt und fragte sich auch ernsthaft, wie dieser Junge ihm da helfen sollte. Der war doch allerhöchstens 15 oder 16 Jahre alt. Der Rothaarige schien zu merken, was los war und verschränkte die Arme. „Nur zu deiner Info: ich mag zwar jung aussehen, aber glaub mir: ich bin mit Sicherheit genauso alt wie Beyond, L und Jeremiel, wenn nicht sogar noch älter. Und glaub mir: bevor ich um knapp 15 Zentimeter eingeschrumpft bin, hab ich noch einen ganz anderen Ton angegeben.“

„I-ich sag ja nichts. Ähm… was genau soll ich tun?“

„Der einfachste Weg, eine mentale Verbindung aufzubauen liegt darin, indem du deine Hände an Fredericas Schläfen legst und deine Stirn mit ihrer berührst.“ Dathan folgte der Anweisung, aber es tat sich nicht sonderlich viel. Doch sogleich kam Sheol auch schon mit dem nächsten Schritt. „Schließ deine Augen und versuch deine Gedanken loszulassen. Denk an nichts und spüre einfach ihre Gefühle. Versuch mit ihren Augen zu sehen und wie ihr Wesen ist. Ist sie fröhlich? Fühlst du dich selbst dabei so unbeschwert und frei wie ein Vogel? Hat sie Angst und spürst du ebenfalls Beklemmung? Versuch es herauszufinden.“ Dathan schloss seine Augen und atmete tief durch. Und während seine Stirn auf Fredericas lag, spürte er die Wärme, die von ihr ausging. Es hatte so etwas Angenehmes und ihm war, als würde ein wärmendes Licht von ihr ausstrahlen. Er spürte die Leichtherzigkeit und kam sich mit einem Male vor, als wäre er selbst schwerelos und würde wie auf Flügeln davongetragen werden. Wie ein Vogel, der durch die Luft gleitete und sich von den Winden tragen ließ. Und doch konnte er wahrnehmen, dass da noch irgendetwas war. Etwas Bohrendes, Beißendes und Bösartiges. Er forschte näher und versuchte festzustellen, was es war. Doch als er versuchte, es zu greifen, da verlor er den Boden unter den Füßen und ihm war, als würde er mit einem Male fortgerissen werden. Er fiel zu Boden und als er die Augen öffnete, da fand er plötzlich eine ganz andere Umgebung vor, als sie vorhin noch da war. „Hey Keule, du hast es ja tatsächlich hingekriegt!“ Als Dathan aufstand und sich umsah, erkannte er einen Jungen, der fast genauso groß war wie er. Er trug eine Kapuzenjacke, hatte blondes Haar und ein rotes und ein gelbes Auge. War das etwa Sheol? Ja aber… er sah auf einmal so anders aus. „Was ist denn mit dir passiert?“ „Ach das?“ Damit begann Sheol an seinen Haaren zu zupfen und dachte dabei anscheinend nach. „Nun, das liegt vermutlich daran, weil ein kleiner Rest von mir immer noch Proxy-Kräfte hat. So sah ich aus, bevor Mum mir das Serum verabreicht hat. Hier in der inneren Welt laufen einige Dinge anders, Kumpel. Hier hält sich gar nichts an irgendwelche Naturgesetze. Was du hier siehst, ist das Innere von Fredericas Seele. Alles, was du hier siehst, ist nicht real. Es ist lediglich der Spiegel ihres Selbst und was ihr Wesen ausmacht. Die Seele besteht aus zwei Teilen. Der eine Teil, der anatomisch fest in unserem Körper verankert ist, macht unser Wesen aus und der andere ist der flüchtige Teil, nämlich der Lebensatem. Wenn der Unborn den anatomischen Teil der Seele zerstört hat, wird auch der andere Teil verschwinden, was Fredericas Tod bedeuten würde. Und um das zu verhindern, müssen wir den Übeltäter finden und zerstören.“ Dathan sah sich um und fand sich auf einer Art riesiger Klippe wieder. Der Anblick bot eine atemberaubende Aussicht auf das weite Meer und überall schwirrten Vögel umher. Und als er sich von der Meerseite abwandte und sich auf dem Festland umsah, erkannte er weite Felder von Kirschbäumen in ihrer vollen Blüte, Lavendelfelder und Vögel aller Art saßen auf den Ästen. Das Gezwitscher war wie eine liebliche Melodie und der angenehme Duft der Blühten wehte ihm entgegen. Es fühlte sich so wunderbar an… als wäre er mit einem Male vollkommen frei von all seinen Sorgen und Problemen. Sheol ging schließlich voran und Dathan folgte ihm. „Da Frederica ein freier Geist ist und eigentlich keine Finsternis in ihrem Herzen trägt, wird es wahrscheinlich nicht allzu schwer sein, den Unborn zu zerstören. Viel problematischer wird es bei Individuen mit einer schwachen Seele, oder die sehr viel Finsternis in sich tragen. Zum Beispiel Personen, die sehr viel durchgemacht haben und deshalb leicht zu manipulieren sind. Ezra wäre extrem anfällig für den Unborn, weil er von seiner eigenen Vergangenheit gequält wird, auch Andrew hätte keinerlei Chancen und wäre in unglaublicher Geschwindigkeit von dem Unborn verschlungen worden, weil er sich von seinen Ängsten beherrschen lässt. Angst, Verzweiflung, Zorn, Traurigkeit, Schmerz, Hass… all diese Emotionen reißen tiefe Wunden in unsere Seele und lassen die Finsternis hinein. Und je mehr wir uns von unserer eigenen Finsternis vereinnahmen lassen, desto leichteres Spiel hat auch der Unborn mit uns. Deshalb wurden wir im Institut ununterbrochen gefoltert, weil sie uns seelisch brechen wollten.“ „Das klingt ja schrecklich. Und wie kann man den Unborn bekämpfen?“

„Seine Manifestation töten und danach müssen wir Frederica helfen. Der Unborn hat sicherlich schon einiges an Schaden angerichtet und da wird es schwer werden, den Schaden zu beheben.“ Sie fanden eine Tür, die einfach so mitten in der Landschaft stand. Auch sonst gab es woanders viele Türen und Dathan begriff nicht so ganz, was das zu bedeuten hatte. „Was sind das für Türen?“ „Die führen in andere Welten. Denn als Unvergänglicher ist man mit allen Lebewesen verbunden.“

„Und woher weißt du das alles?“

„Dumme Frage. Ich hab das alles eingetrichtert bekommen, wenn James und seine Leute nicht gerade damit beschäftigt waren, uns zu foltern. Leider erinnere ich mich nicht mehr an alles aus meiner Vergangenheit. Aber es reicht alle Male um zu wissen, was wir tun müssen.“ Sheol öffnete die Tür und ging ohne großartig zu zögern hindurch. Dathan folgte ihm und umso erstaunter war er, als er keinen Raum in dem Sinne, sondern eine andere Welt vorfand. Doch diese war ganz anders als die wunderschöne Landschaft, die er gesehen hatte. Es war eine beklemmende und düstere Welt, in der überall Vogelkäfige hingen. „Hier sind wir richtig“, sagte Sheol kurz und knapp und ging weiter, doch der Entstellte brauchte eine Weile, bis er sich gefangen hatte. Er ging durch und sogleich schloss sich die Tür hinter ihnen. In der Ferne hörten sie das Rasseln von Ketten und leises Schluchzen. „Kaum zu glauben, dass das wirklich immer noch Frederica ist“, murmelte Dathan und spürte, wie ihm ein Schauer über den Rücken lief. Doch Sheol selbst ging da viel nüchterner ran. „Das ist die Finsternis in ihrem Herzen. Die Angst davor, eingesperrt zu sein und nie wieder das Tageslicht zu sehen. Frederica hat zwanzig Jahre im Institut verbracht, wo sie an lebenserhaltenden Maschinen angeschlossen war, weil James und sein Vater sie unzähligen Experimenten ausgesetzt haben.“

„Klingt so, als hättet ihr alle viel durchgemacht.“

„Kann man so sagen. Wir alle hatten keine Familie, waren alleine und haben alle gelitten. Nicht nur die Proxys. Aber Mum sagt, dass wir daran auch wachsen können. Und sie hat ja auch eigentlich Recht.“

„Sie ist schon eine tolle Frau, hm?“

„Jep. Sag mal, magst du sie etwa?“ Als Dathan diese Frage hörte, weiteten sich seine Augen und hastig machte er abwehrende Bewegungen mit den Armen und stammelte irgendetwas vor sich hin. „Also das… äh… es ist…“ Doch Sheol ahnte schon was Sache war und grinste breit, wobei er ihm scherzhaft in die Seite stieß. „Musst nicht gleich so verlegen werden. Hey, es hat selbst ein Blinder gesehen, dass du sie magst und soweit ich richtig gecheckt habe, mag sie dich offenbar auch. Lad sie doch mal auf ein Date ein.“ „Nun mal halblang“, rief Dathan und machte einen Schritt zurück. „Ich kenn sie noch nicht mal richtig und ihr werdet doch eh bald nach Amerika abreisen.“

„Mensch! Dates sind dafür da, dass man sich näher kennen lernt und nur weil wir auf verschiedenen Kontinenten leben, heißt das nicht, dass man sich nie wieder sieht, du Hornochse. Scheint so, als bräuchtest du echt Nachhilfe bei solchen Sachen.“ Irgendwie ist der Junge schon schräg, dachte Dathan. Obwohl wir in dieser mehr als seltsamen Welt herumlaufen, will der mir echt noch eine Lektion in Sachen Liebesdingen geben, obwohl er höchstwahrscheinlich selbst noch nie eine Freundin hatte. Die Familie ist schon irgendwie schräg.

Sie gingen immer weiter in die Finsternis und es wurde kälter und kälter. Irgendwie fühlte er sich mehr als unwohl hier und wenn es nach ihm gegangen wäre, dann wäre er am liebsten abgehauen. Dieser Ort gefiel ihm überhaupt nicht und dann hörte er plötzlich etwas. Es klang wie ein tiefes Grollen und es ließ den ganzen Boden erzittern. Abrupt blieb er stehen und glaubte in der tiefen Finsternis etwas zu sehen. Was es genau war, konnte er nicht erkennen, aber es war ihm so, als würde da jemand vor ihm stehen. Und es war nicht Frederica. Eine Stimme erklang und sie erfüllte den ganzen Raum. „Es ist lange her, dass ich dich gesehen habe.“ Dathan war sich nicht sicher, ob das Ding womöglich Sheol meinte, doch da kam dieses Etwas auch schon auf ihn zu. Ein leuchtendes Paar Augen sah ihn an, doch ansonsten war rein gar nichts zu erkennen, nur schwarze Schatten, die jegliches Licht absorbierten. „Es kommt mir so unendlich lange vor, seit ich das letzte Mal in diese Augen geblickt habe. Du hast dich seit damals sehr verändert, mein lieber Nivkha.“ Wie bitte? Nivkha? Das war doch nicht sein Name. Da musste eine Verwechslung vorliegen. „Ich… ich bin nicht Nivkha, mein Name ist Dathan. Wer… wer bist du und was bist du?“

„So, du erkennst deinen eigenen Schöpfer nicht? Nun, es wundert mich nicht, dass du dich nicht erinnern kannst und sie dich im Unwissen gelassen haben. Selbst über deine Herkunft und deine Bestimmung. Aber keine Sorge, du wirst alles noch erfahren. Wer du wirklich bist, wozu du geboren wurdest und was deine Aufgabe ist. Alles, was du nur dafür tun musst ist, mich mitzunehmen. Wenn du mir hilfst, werde ich all deine Fragen beantworten und dir deine verlorenen Erinnerungen wiedergeben.“

„Das kannst du?“

„Selbstverständlich. Als Unvergänglicher stehen mir diese Möglichkeiten offen. Alles, was ich dafür brauche, ist deine Hilfe.“ Damit reichte ihm das pechschwarze Schattenwesen seine Hand, damit Dathan sie ergreifen konnte. Doch dieser zögerte und wollte nicht. Er fürchtete sich vor diesem Wesen, das unmöglich menschlich sein konnte und wollte ihm auch nicht näher kommen. Doch da zog ihn auch schon Sheol zurück und rief „Fass ihn bloß nicht an. Der Unborn will nur versuchen, auch dich zu infizieren. Wenn du ihn anfasst, wird er dich ebenfalls zerstören.“ Sofort wollte Dathan zurückweichen, doch da schossen mehrere Ketten auf ihn zu und schlangen sich um seine Arme, seine Beine und um seine Taille und rissen ihn zu Boden. „Dathan!“ rief der Sheol und versuchte ihn festzuhalten, als der Entstellte unerbittlich in die Finsternis gezerrt wurde. „Glaubst du, ich lasse dich wieder gehen, mein Junge? Nein, so einfach werde ich nicht zulassen, dass sie dich mir wieder wegnehmen. Du gehörst mir und niemand anderem sonst.“ „Lass mich los“, rief Dathan und versuchte sich irgendwie gegen die Fesseln zu wehren, doch es brachte nichts. Unerbittlich wurde er noch tiefer in die Finsternis gezerrt, während Sheol selbst verzweifelt versuchte, ihn festzuhalten. „Schon bald wird alles wieder wie vorher sein, mein lieber Nivkha. Das verspreche ich dir. Dann wird uns nichts mehr auseinanderreißen können.“ Nein, ich will das nicht. Hör auf… hör auf… Dathan sammelte seine Kraftreserven und mit einer gewaltigen Kraftanstrengung schaffte er es, sich loszureißen und sogleich schnappte er sich einen festen Gegenstand, der auf dem Boden lag und schlug damit nach dem Wesen. Er schaffte es tatsächlich, es zu treffen und bei dem Schlag wurde eine solche Welle freigesetzt, dass sie mit einem Mal die gesamte Finsternis verjagte. Als hätte ein gewaltiger Sturm einen dicken schwarzen Nebel fortgeweht. Durch diese Kraft wurden die rostigen Vogelkäfige fortgerissen, die Ketten zersprangen und als der gewaltige Sturm abklang und alles fort war, da klärte sich langsam die dichte Wolkendecke und Licht fiel hindurch. Dathan kam langsam wieder auf die Beine und bemerkte, dass er ein Schwert in der Hand hielt. Die Klinge war transparent, so als wäre sie aus Glas und sie war federleicht. Er blieb stehen und brauchte eine Weile um zu realisieren, was da eigentlich geschehen war. Sheol, den diese gewaltige Kraft von den Füßen gerissen hatte, kam etwas taumelnd wieder auf die Beine und rief „Woah! Das war ja hammermäßig. Noch nie hab ich so eine Kraft gesehen. Wie… wie hast du das nur gemacht?“ Doch das wusste der Entstellte selbst nicht so wirklich und zuckte unsicher mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich hab einfach instinktiv diese Waffe gegriffen und mit aller Kraft zugeschlagen, um mich irgendwie zu befreien.“ Dem einstigen Proxy blieb der Mund offen stehen und er glotzte Dathan ungläubig an, als hätte dieser ihm ein Märchen auftischen wollen. „Alter“, rief er und machte dabei wilde Gesten mit seinen Armen. „Ist dir klar, was du da geleistet hast? Du hast den Unborn mit einem einzigen Schlag ausgelöscht. Fuck, das hat bisher noch keiner geschafft. Echt, wenn du kein Unvergänglicher bist, fresse ich einen Besen. Komm schon, wir müssen Frederica finden. Irgendwo muss sie sein.“ Damit ergriff Sheol seinen Arm und zog ihn mit sich. Unsicher folgte Dathan ihm und war immer noch ein wenig benommen von dem Schlag. Er konnte einfach nicht glauben was los war und dass er das gerade wirklich getan hatte. Vor allem ließ ihn aber eine Tatsache nicht los: dieses Wesen hatte ihn Nivkha genannt. Konnte es sein, dass es ihn wirklich gekannt hatte? Aber warum habe ich dann versucht, es zu töten, wenn es mich doch kennt und mir vielleicht hätte sagen können, wer oder was ich wirklich bin? Ich hatte einfach nur solche Angst gehabt und wollte nicht, dass es mich mit in die Dunkelheit hinabzieht. Als hätte ich instinktiv gewusst, dass dieses Wesen gefährlich ist. Verdammt, wieso habe ich nicht noch ein paar Fragen stellen können, bevor ich es getötet habe? Was, wenn ich nie herausfinden werde, wer ich bin? Etwas demotiviert ließ Dathan den Kopf sinken und das entging auch Sheol nicht. Dieser klopfte ihm aufmunternd auf die Schulter und ging wieder voran. Nachdem sie eine Weile dem Weg gefolgt waren, fanden sie schließlich Frederica. Sie lag auf dem Boden eines riesigen Vogelkäfigs und war anscheinend bewusstlos. Sogleich versuchte Sheol den Käfig zu öffnen, doch vor dem Schloss hing eine schwere Eisenkette und leider konnte er sie nicht abnehmen. Dazu fehlte ihm eindeutig die Kraft. Also wandte er sich Dathan zu. „Versuch die Kette mit dem Schwert zu zerschlagen.“

„Meinst du das ernst? Hör mal, die Klinge sieht aus, als wäre sie aus Glas. Das wird nie und nimmer funktionieren.“

„In solchen Welten funktioniert nichts so wie in der normalen Welt. Hier geht alles nach seinen eigenen Regeln. Und dass diese Waffe einfach so aufgetaucht ist, war wahrscheinlich auch kein Zufall. Versuch es einfach mal.“ Also holte Dathan mit dem Schwert aus und schlug zu. Und tatsächlich zerschlug die durchsichtige Klinge die Kette, als wäre diese aus Papier und so sprang die Tür des Käfigs auf. Sie kletterten in das Innere des Käfigs und sofort ging Dathan zu dem bewusstlosen Mädchen hin und strich ihr vorsichtig die Haare aus dem Gesicht. „Frederica?“ Zuerst gab sie kein Lebenszeichen von sich und es sah für Dathan zunächst aus, als wäre sie tot. Doch dann öffnete sie zu seiner Erleichterung die Augen und in dem Moment begann sich die Welt um ihn herum vollständig aufzulösen.

Eskalation

Nachdem Frederica außer Gefahr war und sie sich auch wieder erholt hatte, erzählte sie den anderen von ihrer Begegnung mit dem Alpha-Proxy und dass dieser auch Alice Wammy getötet hatte. Sofort fragte sie auch nach, wie es Watari ging, doch da konnte Nastasja leider noch keine Entwarnung geben. „Es ist nicht sicher, ob er diese Nacht überleben wird. Aber Elion wird sowieso gleich bei ihm vorbeischauen und sich um ihn kümmern. Bleib die Nacht erst mal hier und ruh dich aus. Nach dieser Begegnung wirst du das sicher nötig haben.“ Nachdem die Lage sich einigermaßen entspannt hatte, kehrten sie alle wieder zum Hotel zurück. Doch während die anderen sich auf ihre jeweiligen Zimmer zurückzogen, wollte Nastasja noch spazieren gehen und Dathan begleitete sie. Die Russin wirkte niedergeschlagen und man sah ihr an, dass irgendetwas sie beschäftigte. Sie war die meiste Zeit abgelenkt und in Gedanken versunken. Schließlich aber fragte sie ihren Begleiter „Und bist du nun überzeugt?“ „Ja“, antwortete er zögernd und steckte seine vernarbten Hände in die Jackentaschen und wirkte ebenfalls nachdenklich. Er hatte seinen Mundschutz angelegt, da dieser ihm etwas mehr Sicherheit gab und damit die Leute ihn wenigstens nicht wegen seinem Gesicht so anstarrten. „Aber ehrlich gesagt fällt mir das trotzdem schwer zu glauben. Ich meine, ich hab nie an so übernatürliches Zeug geglaubt. Und jetzt erfahre ich, dass ich kein Mensch bin und mir das immer nur eingebildet habe. Dieses seltsame Wesen… dieser Unborn hat mich Nivkha genannt und gesagt, er hätte mich vor langer Zeit erschaffen.“

„Hat er das? Das ist sehr merkwürdig. Ich dachte, es handele sich um einen mutierten Unborn, aber dass er schon so uralt ist, verwundert selbst mich. Wenn das wirklich kein Trick war, dann würde es bedeuten, dass der Unborn mit den Unvergänglichen in Verbindung steht. Fassen wir das mal alles zusammen: Alice hat das Unborn-Phänomen erforscht und hatte sowohl zu Joseph Brown, als auch zum Alpha-Proxy Kontakt und letzterer hat sie umgebracht. Dieser trägt auch den Unborn in sich, dessen Ableger Sheol, Elion, Andrew und auch Frederica infiziert haben. Er hat dich erschaffen und du wiederum hast Alice vor 28 Jahren das Leben gerettet. Ich frage mich, wie das eine zum anderen gekommen ist und wie man alles in eine vernünftige Reihenfolge bringen kann. Elion hatte zwar mal erwähnt, dass dieser Nazir gesagt hat, der Unborn sei ein Unvergänglicher, aber… irgendwie fehlt da etwas Entscheidendes bei der Sache und ich verstehe nicht, wie Alice in diese Sache nur hineingeraten konnte. Scheiße…“ Damit ließ sie sich auf einer Bank nieder, atmete laut aus und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Das alles musste schon echt hart für sie sein. „Dieser verdammte Alpha-Proxy hat meine Familie auseinandergerissen, meinen Mann umgebracht, unzählige Embryos und Säuglinge für Experimente benutzt, Menschen brutal gefoltert und dann hat er auch noch meine beste Freundin auf dem Gewissen. Dieses verdammte Monster…“ „N-Nastasja…“

„Wenn ich dieses Monster je in die Finger bekomme, dann bete ich zu Gott, dass ich noch die Stärke aufbringen kann, ihn nicht zu töten.“ Dathan setzte sich neben sie und legte nach kurzem Zögern einen Arm um sie. Und da umarmte Nastasja ihn plötzlich und begann zu weinen. Die ganze Zeit hatte sie sich zusammengerissen und war für die anderen stark geblieben. Aber nun zeigte sie ihre schwache und verletzliche Seite. Eine, die sie vor den anderen zu verbergen versucht hatte und die sie sonst nur vor Henry gezeigt hatte. Und nun war es Dathan, der bei ihr war und sie tröstete. „Wir… wir finden sicher einen Weg, ihn aufzuhalten.“ „Das weiß ich“, sagte sie und wischte sich schließlich die Tränen weg. „Aber ich frage mich einfach warum das alles so kommen musste. Wieso nur muss es uns treffen? Ich frage mich wirklich, ob das alles meine Schuld ist, weil ich das Projekt ausspioniert habe, um eine Katastrophe zu verhindern. Manchmal stehe ich kurz davor, an mir selbst zu zweifeln und ob das, was ich tue, eigentlich das Richtige ist.“

„Nun“, begann der Entstellte nach einigem Zögern und hielt ihre Hand. „Ich kenne euch zwar alle nicht und kann deshalb kein Urteil fällen. Aber glaube nicht, dass das, was du tust, falsch ist. Ich meine, du machst das doch alles, weil du diese Experimente beenden willst, damit niemand mehr leiden muss. Du hast Sheol und Elion ein Zuhause gegeben, genauso wie Ezra und du scheinst ja sehr bemüht zu sein, den anderen zu helfen. Und wenn man dafür kämpft, dass solche Experimente nicht mehr durchgeführt werden können, dann ist es doch eigentlich das Richtige, was du tust. Natürlich zweifelt man an sich selbst, das ist normal und jeder zweifelt mal an sich selbst. Aber für die Sicherheit und das Leben anderer einzustehen, ist definitiv nicht falsch!“ Nastasja lächelte und tatsächlich schienen Dathans Worte ihre Unsicherheit wieder vertrieben zu haben. „Du hast Recht“, sagte sie schließlich und erhob sich wieder. „Ich bin stolz auf das, was ich tue und ich würde es auch jederzeit wieder tun. Danke, Dathan.“ Damit gingen sie weiter und merkten, wie es langsam dunkel wurde. Gemeinsam machten sie sich wieder auf den Rückweg und während sie so nebeneinander her gingen, fiel Nastasja etwas ein. „Da ja bewiesen ist, dass du ein Unvergänglicher bist, kannst du übrigens auch deine Brandverletzungen zurücksetzen. Und wenn du das nicht schaffst, kannst du ja Elion darum bitten, wenn du dich damit unwohl fühlst.“ „Echt?“ rief er und konnte es nicht fassen. „Es… es gibt eine Möglichkeit, wie ich wieder normal aussehen kann?“ Die Russin nickte und hakte sich bei ihm ein. „Weißt du, ich mag dich auch mit den Brandverletzungen, aber ich sehe auch, wie sehr du darunter leidest und da will ich dir schon ganz gern helfen. Und da die Zurücksetzung eine äußerst praktische Fähigkeit ist, können wir Elion gleich mal fragen, ob er dir das erklärt.“ „G-gerne, wenn es keine Umstände macht.“
 

Beyond und L lagen schweigend im Bett und L hatte seinen Kopf auf die Brust des Serienmörders abgelegt. Sanft streichelte ihm dieser durchs Haar und hatte einen Arm um ihn gelegt. Schon seit sie aus dem Krankenhaus zurück waren, war L so still und der Serienmörder wusste schon, was die Ursache war. Ihn selbst ließ Wataris Herzinfarkt relativ kalt, eben weil er seinen Hass auf ihn nicht begraben konnte. Aber es tat ihm leid, L so zu sehen und gerne hätte er ihn wieder aufgebaut. Für L war Watari mehr als nur ein Assistent. Er war sein Vaterersatz, sein Großvater, seine einzige Bezugsperson, sein Mentor und sein Beschützer. „Wir hätten nicht nach England kommen dürfen“, sagte der Detektiv nach einer Weile und atmete geräuschvoll aus. „Dann wäre das mit Sicherheit niemals passiert.“ „Jetzt red keinen Stuss, L“, entgegnete Beyond energisch. „Dieser verdammte Alpha-Proxy hätte uns wahrscheinlich überall gefunden und wir können von Glück reden, dass wir so glimpflich davongekommen sind. Überleg doch mal! Der Alte ist noch am Leben und er erholt sich auch und dieser Dathan hat Frederica gerettet. Mag zwar sein, dass wir in eine echt beschissene Situation geraten sind, aber sehen wir es doch mal positiv: wir haben eine Reihe nützlicher Informationen bekommen und wissen nun deutlich mehr als vorher. Und wir haben eventuell jemanden gefunden, der auch ein Unvergänglicher ist und der uns unterstützen wird. Das wird schon werden, da bin ich mir sicher. Kein Grund also, den Kopf hängen zu lassen.“ L lächelte schwach und schloss die Augen. Beyond schaffte es doch immer, ihn aufzumuntern. Normalerweise war dieser ja nicht so wirklich der Optimist, aber in solchen Momenten, wo L so niedergeschlagen war und seine Motivation auf dem Nullpunkt war, da war er es immer, der den Detektiv wieder aufbaute. „Wir schnappen diesen Alpha-Proxy schon und diesen Dreckskerl Brown auch noch.“

„Warum nur bist es immer wieder du, der mich in solchen Momenten wieder aufbaut?“

„Na weil ich dich eben liebe und ich werde dich immer wieder aufs Neue aufbauen, wenn es dir nicht gut geht. Das habe ich dir doch versprochen und dieses Versprechen halte ich mit dem größten Vergnügen. Morgen setzen wir uns an die Arbeit und finden diesen Alpha-Proxy. Wir haben ja auch noch deinen Bruder und wenn der sich von seiner Migräne erholt hat, wird er sicherlich auch helfen wollen. Wir haben alle Hilfe, die wir kriegen können und eigentlich kann ja kaum noch etwas schief gehen.“ L konnte sich das Lächeln einfach nicht verkneifen und er hob den Kopf, sodass sich sein Blick mit Beyonds traf. Und schon im nächsten Moment lagen seine Lippen auf denen des Serienmörders. „Zumindest hat dieser ganze Ärger auch sein Gutes. Nämlich, dass ich dich habe.“

„Mich wirst du auch nie wieder los. Die Rückgabefrist ist schon längst abgelaufen.“ Damit kniff Beyond ihm scherzhaft in die Nase und grinste. „Mit mir wirst du dich wohl oder übel begnügen müssen. Und das auch für den Rest deines Lebens.“

„Ich habe auch nichts anderes erwartet. Und ich hätte ohnehin nicht zugelassen, dass du gehst. Du stehst für den Rest deines Lebens unter meiner Bewachung.“

„Keine Angst, Pandabärchen. Ich bin zwar unartig, aber nicht gefährlich. Zumindest nicht mehr.“

„Unartig ist doch gar kein Ausdruck. Als die unsere Koffer am Flughafen durchleuchtet haben, hatte ich echt schon Schweißausbrüche weil ich befürchtet hatte, du hättest deine ganzen Spielzeuge mitgenommen. Vor allem, weil du das sogar noch angekündigt hattest. Ich hätte mich echt in Grund und Boden geschämt.“ Beyond musste lachen, als er sich an L’s Gesichtsausdruck zurückerinnerte und wie entsetzt dieser geguckt hatte, als man die Koffer durchleuchtet hatte. „Ich hab mir eben nur einen Spaß erlauben wollen, weil ich unbedingt sehen wollte, wie du reagierst. Viel schlimmer hat es ja wohl deine Mutter erwischt, als der Metalldetektor bei Sheol angeschlagen hat.“ Oh ja, daran konnte sich L noch sehr gut erinnern. Nachdem der Metalldetektor bei Sheol angeschlagen hatte, hatte das Sicherheitspersonal ihn noch mal abgesucht und da hatte der Detektor ausgerechnet an einer sehr ungünstigen Stelle reagiert. Der Knallkopf hatte nur anzüglich gegrinst und gesagt „Soll ich meinen Penisring auch noch abnehmen?“ Aber wie sich herausstellte, hatte sich der Zwerg nur einen Spaß erlaubt und sich in Wahrheit nur eine Münze in die Unterhose gesteckt. Nastasja hatte fast einen Tobsuchtsanfall gekriegt, sodass selbst das Sicherheitspersonal Mitleid mit Sheol bekommen hatte, Ezra fand das Ganze natürlich genauso lustig wie Beyond, die anderen hatten nur den Kopf geschüttelt und nichts weiter dazu gesagt. „Dein Adoptivbruder ist manchmal schon ein Schwachmat.“

„Sag das nicht mir, sondern ihm. Er hat irgendwie nur Blödsinn im Kopf…“

„Er ist eben ein Teenie und da ist es bekannt, dass während der Zeit das Gehirn ausgeschaltet ist. Ezra ist da eben viel erwachsener und wir sind schon aus der Phase raus. Wobei ich aber auch zugeben muss, dass ich mir auch mal solche Späße erlaubt habe.“

„Ich glaub, ich will es lieber nicht wissen.“

„Denke ich auch…“ So lagen sie eng aneinandergekuschelt im Bett und es wurde später. Sie beide wurden müde und es dauerte nicht lange, bis sich ihre Augen schlossen.
 

Und dann, als sie schon eingenickt waren, da wurden sie plötzlich durch einen lauten Knall aufgeschreckt und setzten sich sofort auf. Kurz darauf ertönte wieder dieses Geräusch und laute Schreie waren zu hören. Diese Geräusche… das klang wie eine Pistole. Sofort stand Beyond aus dem Bett auf, eilte zur Küche und holte ein Messer aus dem Block. „Da stimmt was nicht. L, ich geh nachsehen und du versteckst dich.“

„Bist du wahnsinnig? Du wirst sofort erschossen werden.“

„L, wenn die anderen in Lebensgefahr sind, werde ich ganz sicher nicht tatenlos hier herumsitzen!“ Damit verließ Beyond das Zimmer und ging rüber zu den anderen. Zuerst wollte er bei Elion und Ezra nachsehen und bemerkte, dass die Tür offen stand. Elion stand da und hatte eine Waffe auf den 16-jährigen gerichtet und so wie es aussah, würde er gleich abdrücken. Todesangst war in Ezras Augen zu sehen und er schien nicht zu verstehen, was da gerade passierte. „Hey du Spinner!“ rief der Serienmörder und eilte zu ihm hin. In dem Moment drehte sich Elion um und wollte schießen, doch da war Beyond schneller und rammte ihm das Messer in den Bauch. „Ezra, geh rüber zu L und versteck dich dort.“ Damit griff er den Proxy erneut an, schlug ihm die Waffe aus der Hand und rang ihn zu Boden. „Verdammt noch mal, du Vollidiot. Was soll das und woher hast du die Waffe?“ „Sie ruft nach mir“, sagte dieser tonlos und sofort erkannte Beyond, dass irgendetwas nicht stimmte. Elion benahm sich, als wäre er nicht ganz bei Sinnen und tatsächlich griff dieser einfach an. „Hör auf damit, oder ich muss eine richtige Sauerei anrichten!“ rief der Serienmörder und hatte erhebliche Mühe, ihn unten zu halten, da bohrte sich etwas Spitzes in seinen Rücken und ein rasender Schmerz durchfuhr seinen Körper. In dem Moment verließ ihn die Kraft und Beyond blieb keuchend liegen. Ein Messer steckte in seinem Rücken und als er zum Fenster blickte, sah er ein Mädchen mit langen blonden Haaren, welches sie zu einem Zopf gebunden hatte. Mit einem eiskalten Lächeln blickte sie ihn an und sofort erkannte der BB-Mörder, dass sie kein Mensch war. Sie musste ein Proxy sein. „Sehr gut, 01. Und jetzt komm mit. Mutter wartet schon auf uns.“ Damit ließ Elion von ihm ab und ging zu ihr hin. Als Ezra fliehen wollte, warf das Mädchen das zweite Messer und traf ihn ebenfalls in den Rücken und daraufhin brach der 16-jährige zusammen und blieb reglos liegen. Das war nun endgültig zu viel für den Serienmörder. Dafür würde er diese Hexe kalt machen. „Du verdammtes Miststück!“ rief er und stand auf. Er schnappte sich die Pistole und schoss auf sie, doch da ging eine heftige Vibration durch die Waffe und sie zersprang in ihre Einzelteile. Das Mädchen lachte nur amüsiert darüber und ging näher zu ihm hin, dann trat sie ihm in die Brust und zog das Messer aus seinem Rücken. „Du hast ja echt Mut, dich mit einem Proxy anzulegen. Aber da du sowohl Jashas als auch Anjas Seele in dir trägst, ist das ja auch nicht weiter verwunderlich. Nur fürchte ich, dass es dir rein gar nichts bringen wird. Denn es wird Zeit, dass wir uns das zurückholen, was uns gehört.“

„Was hast du mit Elion gemacht?“

„Gemacht habe ich nichts. Aber die untergeordneten Proxys gehorchen nun mal ihrem Alpha bedingungslos.“

„Du bist der Alpha-Proxy?“

„Nein, ich bin selbst nur ein unterer Proxy, aber Mutter hat mich zu einem Alpha gemacht, um ihre Kinder nach Hause zu bringen. Nicht wahr, 08?“ Beyond hob den Kopf und sah zur Tür. Und als sie geöffnet wurde, sah er tatsächlich Jeremiel ins Zimmer hereinkommen. Er hatte eine Smith & Wesson in der Hand und sein Blick wirkte so unmenschlich, leer und gefühllos, wie auch der Rest von ihm. Diesen Blick kannte er nur zu gut und er spürte die nackte Todesangst. Das war nicht Jeremiel… es war Sam Leens. „Hast du sie alle kalt gemacht?“ fragte das Mädchen und still nickte Jeremiel. Er warf Beyond einen nichts sagenden Blick zu und sprach kein Wort. Zufrieden nickte das Mädchen und wandte sich dem verletzten Serienmörder zu. „So und nun tötet die beiden. 01, du bringst den Jungen um. 08, du erledigst Beyond Birthday.“ Damit gab sie Elion eine Waffe und so zielten sowohl der Proxy als auch Jeremiel auf die Verletzten. Beyond konnte es nicht fassen und verstand nicht, was mit dem Blondschopf los war. Wieso nur zielte dieser mit einer Waffe auf ihn und gehorchte diesem Mädchen? Er war doch gar kein Proxy und er hatte auch keine besonderen Kräfte. Wieso nur gehorchte er dieser Göre und war wieder so verändert? „Jeremiel… was soll das? Warum tust du das?“

„Er kann dich nicht hören“, erklärte das Mädchen. „Er steht unter meiner Kontrolle und unter Mutters. Er kann sich dem Befehl nicht widersetzen. Also los ihr beiden, gebt denen endlich den Gnadenschuss.“ Damit wollte Elion schon schießen, doch da richtete Jeremiel überraschend seine Smith & Wesson auf ihn und schoss. Er feuerte sein gesamtes Magazin auf Elion ab und wandte sich dann um. Dem Mädchen fielen fast die Augen aus dem Kopf, als sie das sah. „Du unfähiges Stück Scheiße“, rief sie und schlug ihm ins Gesicht. „Wie kannst du es wagen, dich meinen Worten zu widersetzen? Du dreckige Made, dafür werde ich dich…“ Doch bevor sie weitersprechen konnte, tauchte am Fenster eine weitere Gestalt auf. Ein weiteres Mädchen, mit kurz geschnittenen schwarzen Haaren und leeren eisblauen Augen, die genauso gefühllos und leer waren wie die von Sam Leens. „Simrah, Mutter ruft nach uns. Sie sagt, wir sollen 08 mitnehmen und verschwinden.“

„Nicht, bevor ich sie eigenhändig platt gemacht habe, Samsara. Hau ab und überlass mir das.“

„Das kann ich nicht. Es ist Mutters ausdrücklicher Befehl.“ Und da dies offenbar überzeugend genug für das blonde Mädchen war, ließ sie von ihren Rachegedanken ab und ging zum Fenster hin, Jeremiel folgte ihr. Beyond sah dies und versuchte noch, ihn aufzuhalten, doch da trat der ältere Lawliet-Zwilling ihm ins Gesicht. „Jeremiel, was soll das? Komm doch wieder zu dir, verdammt. Ich schwör dir eines: wenn du nicht jetzt sofort zur Vernunft kommst, dann dreh ich dir eigenhändig den Hals um, kapiert? Verdammt noch mal, lass den Scheiß.“

„Jeremiel ist nicht hier“, sagte dieser tonlos so langsam verstand Beyond, was das zu bedeuten hatte. Das da war nicht mehr der Jeremiel, den sie kannten. Es war ein ganz anderer Mensch, nämlich der achte Proxy, der sich selbst Sam Leens genannt hatte. Aber warum das alles? Wie hatte es nur soweit kommen können? „Wer oder was bist du?“ „Das weißt du doch schon längst.“ Also doch… es war Sam Leens. Aber wie konnte das sein? Er war doch tot. Er war gestorben und dafür hatte Jeremiel seinen Körper übernommen. Irgendetwas lief hier gehörig falsch… Beyond sah noch, wie Jeremiel mit den beiden Mädchen in die Nacht verschwand. Mit zusammengebissenen Zähnen schaffte er es, den Schmerz in seinem Körper zu ignorieren und zu Ezra zu kriechen. Zum Glück war der Junge noch nicht tot, da das Messer offenbar die lebenswichtigen Organe verfehlt hatte und es auch nicht tief genug steckte. Er war bei Bewusstsein, hatte sich aber offenbar tot gestellt. „Ezra, bleib ganz ruhig liegen und beweg dich nicht.“

„Warum?“ fragte der 16-jährige und hatte Tränen in den Augen. So wie es aussah, stand er unter Schock und nahm den Schmerz gar nicht wahr. „Warum hat Elion das getan? Wieso hat er versucht, uns umzubringen?“

„Das war nicht seine Schuld, Kleiner. Er ist dazu gezwungen worden und konnte sich nicht dagegen wehren. Versuch nicht, dich allzu sehr zu bewegen. Ansonsten wird der Blutverlust umso größer.“ Beyond merkte, wie ihm langsam schwarz vor Augen wurde. Verdammter Mist, dachte er. Offenbar hat es mich schlimmer erwischt als den Jungen. Und ohne es zu wollen wurde ihm schwarz vor Augen und er verlor das Bewusstsein.

Eva und Samajim

In der Kirche St. Michael herrschte eine altehrwürdige und gleichzeitig friedliche Atmosphäre. Immer noch hing ein schwacher Duft von Weihrauch in der Luft und jeder Schritt hallte in der gotischen Halle wieder. Es war niemand hier und es herrschte eine wunderbare und angenehme Stille. Eine Weile ließ sie den Blick umherschweifen, als wäre sie auf der Suche nach jemanden. Sie trat näher vor und erreichte schließlich den Altar. Dort war ein androgyn aussehender junger Mann gerade damit beschäftigt, die Kerzenhalter zu polieren und alles ordentlich herzurichten. Dabei summte er munter eine Melodie vor sich hin und wirkte beschäftigt, aber dennoch zufrieden. „Nabi?“ Nun drehte sich der schwarzhaarige junge Mann um und als er die Besucherin sah, weiteten sich seine Augen vor Überraschung, er ließ seine Sachen stehen und eilte zu ihr hin. „Eva!“ rief er und umarmte sie freundschaftlich. Sie erwiderte die Umarmung und war ebenfalls glücklich, ihn zu sehen. „Meine Güte Nabi, ist das lange her, seit ich dich das letzte Mal gesehen habe. Gut siehst du aus. Dir scheint es hier ja richtig gut zu gehen, oder?“

„Naja, manchmal ist es schon eine Herausforderung, wenn du verstehst was ich meine. Der alte Sklaventreiber brummt mir manchmal die unmöglichsten Aufgaben auf. Du hättest ihn erleben müssen, kurz nachdem die Proxys bei uns vorbeigeschaut haben. Da durfte ich den kompletten Glockenturm säubern, alles entstauben und dann auch noch Schnee schaufeln, ganz nebenbei zu den anderen Pflichten, die er mir aufhalst.“ Als Eva das hörte, musste sie schmunzeln und schüttelte den Kopf. „Offenbar hält er dich ganz schön auf Trab.“

„Natürlich und ich versuch ihm schon seit knapp 150 Jahren irgendwie das Rauchen abzugewöhnen. Und seit der Erfindung der Zigaretten ist es nur schlimmer geworden und er ist eben ein verdammter Kettenraucher. Er ist ein fauler, egozentrischer Sadist, der immer das letzte Wort haben muss und der sich nur zu gerne bedienen lässt. Wenn er nicht isst, dann schläft er meistens oder er versucht mit einer AK-47 auf die Tauben zu schießen. Er ist ein unbelehrbarer und absolut launischer Sturkopf! Aber…“ und bei diesem „aber“ lächelte Nabi verlegen und errötete. „Dafür liebe ich ihn eben auch und da macht es mir auch nichts aus, wenn er mich wie seinen persönlichen Haussklaven behandelt.“ Nun, Eva hatte schon längst geahnt, dass Nabi Gefühle für seinen Herrn hatte und natürlich freute es sie. Immerhin hatte Samajim entgegen seiner eigentlichen Art wirklich alle Risiken auf sich genommen, um Nabi vor seinem Todesurteil zu retten. So etwas hatte er damals so gut wie nie für irgendjemanden getan, der kein guter Freund von ihm gewesen war. Er hatte sich nicht sonderlich für den Krieg interessiert oder für die Machtkämpfe der großen Alten. Erst der Verlust seiner beiden besten Freunde hatte seine Meinung geändert und er hatte viele vor einem grausamen Schicksal bewahrt. Darunter auch Nabi. „Hast du es ihm schon gesagt?“ „Nein“, antwortete der Sefira und seufzte. „Überlege doch mal: ich bin sein Diener und ich verdanke ihm mein Leben. Er ist nach Nazir dem Beobachter der stärkste Sefira, darum ist es vernünftiger, realistischer zu bleiben und pragmatisch zu denken. Im Gegensatz zu ihm bin ich nur ein unbedeutendes kleines Licht und werde es auch bleiben. Ich bin seiner eh nicht würdig, also lass uns nicht weiter darüber sprechen, okay?“ Zu gerne hätte Eva noch etwas dazu gesagt, aber Nabi wollte das Thema einfach nur noch abhaken und so hatte es keinen Zweck. Schließlich hörten sie weitere Schritte und eine Stimme rief „Nabi, hast du schon die Mausefallen im Keller ausgelegt? Diese verdammten Viecher haben uns schon wieder die Vorräte angefressen. Und wenn du schon mal dabei bist, kannst du vielleicht mal den Heizboiler überprüfen. Ich frier mir im Pfarrhaus den Hintern ab, obwohl die Heizung aufgedreht ist.“ Nun zeigte sich deutlich, wie genervt Nabi war und schon drehte er sich in die Richtung um, aus welcher die Stimme kam. „Das liegt daran, weil Ihr die ganze Zeit faul unter Eurem Heiztisch liegt und euch nicht genug bewegt, Meister. Da friert man eben.“ Schließlich trat hinter einer Säule der Pfarrer der Kirche hervor und sogleich eilte Eva hin, um auch ihn zu begrüßen. „Samajim!“ Er öffnete weit die Arme und empfing sie fast väterlich. Auch ihm war die Wiedersehensfreude anzusehen und sogleich erlaubte er sich die Bemerkung „Egal in welchem Körper du auch bist, du wirst immer schöner, meine Liebe. Ich hatte schon geahnt, dass du kommst. Du lässt deine Familie nie weit aus den Augen, so wie ich dich kenne. Nabi, bereite uns doch einen Tee vor. Eva und ich haben einiges zu besprechen.“

„Ja, Meister. Aber bevor ich mit dem Keller weitermache, muss ich noch das Kreuz wieder festnageln. Es sitzt etwas locker und ich will nicht miterleben, wie es während der Messe herunterkracht.“

„Na und? Dann sind alle wenigstens hellwach, wenn sie schon fast ständig während der Messe einschlafen müssen.“

„Ich frage mich nur, wieso das immer wieder passiert…“

„Dein Sarkasmus wird auch immer bissiger, mein Lieber. Ich glaube, du brauchst wirklich eine Frau… oder einen Mann. Bei dir bin ich mir bis heute noch nicht zu hundert Prozent sicher, ob dein Körper der eines Mannes, oder der einer Frau ist.“ Nabi warf ihm einen giftigen Blick zu, sagte aber nichts dazu und machte sich auf den Weg. Samajim sah ihm nach und kicherte, wobei er die Hände in die Hosentaschen steckte. Er lächelte selbstzufrieden und sagte „Ich liebe es einfach, ihn durch die Gegend zu scheuchen. Er ist so eine treue Seele, wenn nur nicht sein vorlautes Mundwerk wäre. Weißt du überhaupt, wie er mich nennt? Einen alten Mann!“

„Du bist doch auch einer, bevor du dich verjüngt hast. Und dass Nabi so frech ist, da brauchst du dich auch nicht zu wundern, wenn du ihn so behandelst. Er ist zwar dein Diener, aber nicht dein Sklave.“

„Ich sehe da keinen großartigen Unterschied“, erklärte Samajim kurz und knapp und ging mit Eva in Richtung Pfarrhaus. „Und außerdem ist das alles auch so ein gewisses Spiel für mich. Ich will testen, wie lange es dauern wird, bis ich ihn endlich soweit habe.“ Eva beschloss, lieber nicht nachzufragen. Sie wusste, dass die großen Alten sehr eigen sein konnten. Einige von ihnen wie zum Beispiel Nazir oder Shalva waren eher neutrale Gesellen, die selten aus sich heraus kamen und zwar angenehme Zeitgenossen waren, aber dennoch undurchschaubar blieben. Andere wiederum waren extrem launisch und das machte sie besonders gefährlich. Denn wenn jemand so mächtig war wie die großen Alten, dann konnten dessen Launen schnell ein Leben in Gefahr bringen. Deshalb wagte es niemand, die großen Alten zu beleidigen, zu provozieren oder auf dumme Gedanken zu bringen. Das hätte nur schlimme Folgen. Selbst die großen Alten wagten es nicht, Ajin Gamurs Laune auf die Probe zu stellen. Denn er als das höchste aller Wesen war so launisch, dass er schon die Vernichtung allen Lebens beschloss, weil er gerade Langeweile hatte, oder ihm irgendetwas nicht in den Kram passte. Auch Samajim wagte kaum jemand zu provozieren und Eva, Nabi und die anderen großen Alten waren die einzigen Ausnahmen.

Nachdem sie es sich im Wohnzimmer des Pfarrhauses bequem gemacht hatten, servierte Nabi ihnen den Tee und machte sich sogleich an die Arbeit um die Aufgaben zu erfüllen, die sein Herr ihm aufgetragen hatte. So waren Samajim und Eva allein und sogleich fragte der Pfarrer „Wie geht es denn deinem Bruder? Ich habe gehört, dass er zwar noch viel mit seinen Mafiageschäften zu tun hat, aber ich hab da was flüstern hören, dass er nun jemanden an seiner Seite hat. Und das ist auch deinem Engagement zu verdanken.“ Als Eva das hörte, senkte sie etwas verlegen den Blick und gab schließlich etwas Kandiszucker in ihren Tee. „Mein Bruder hat Nikolaj damals sehr geliebt und es hat auch mir das Herz gebrochen, ihn so unglücklich zu sehen. Und nun, da er Jeremiel hat, ist er endlich glücklich und hat jemanden an seiner Seite, den er lieben und beschützen kann.“

„Und dann ausgerechnet Araphel, den sie auch damals „Araphel den Schlächter“ nannten. Es erstaunt mich immer wieder, dass dieser kleine Funken Licht, den du ihm damals gegeben hast, ihn so verändert hat. Er ist kaum wiederzuerkennen und ich muss sagen, dass sich der ganze Aufwand damals wirklich gelohnt hat. Er weiß nach wie vor nichts von uns und was damals während des großen Krieges passiert ist und welch großes Opfer du für ihn gebracht hast. Du hast einen Teil seiner Finsternis in dir aufgenommen und damit die Verzweiflung in dein Herz gelassen. Und es hat leider auch dich verändert, allerdings zum Negativen. Ich spreche damit auf dein mehr als idiotisches Vorhaben an, als du die ganze Menschheit unvergänglich machen wolltest. So etwas ist nicht typisch für dich, Eva. Und ich weiß auch von deinen Gedanken an den Tod. Was du tust, ist deine Sache aber lass mich dir eines sagen: du darfst dich nicht von deiner eigenen Verzweiflung vereinnahmen lassen. Sonst endest du eines Tages genauso wie sie.“ Schweigend senkte die Weißhaarige den Blick und sah in diesem Moment sehr unglücklich aus. Es stimmte ja, dass sie ihre Pläne noch nicht aufgegeben hatte, aber sie wollte vorher noch ihre Familie retten und verhindern, dass sie dem Alpha-Proxy zum Opfer fielen. „Samajim, ich glaube du weißt bereits, weshalb ich hier bin. Ich habe die Befürchtung, dass er wieder zurückgekehrt ist. Alle Anzeichen deutet darauf hin und ich fürchte, dass er sein Ziel von damals noch nicht aufgegeben hat.“

„Elohim“, sagte Samajim langsam und gedehnt, wobei er mit ernster Miene die Augenbrauen zusammenzog. „Das habe ich mir auch schon gedacht. Erst letztens haben zwei Proxys versucht, Nabi anzugreifen, aber ich habe sie wieder verjagen können. Sie wollten ihn für seinen Verrat bestrafen und da war mir recht schnell klar, dass Elohim hinter all dem stecken muss. Es passt einfach zu gut. Allerdings stellt sich mir die Frage, wozu er diesen Aufwand betreibt und warum er es ausgerechnet auf deine Familie abgesehen hat. Womöglich, weil er sich an dir rächen will. Oder aber er hat es auf Araphel abgesehen. Das wäre auch denkbar.“

„Hast du dich deshalb im Hintergrund gehalten, obwohl er in deiner Stadt ist?“

„Natürlich. Um deinen Feind zu schlagen, musst du zuerst seine Ziele kennen. Die Situation ist sowieso sehr angespannt. Einige ahnen schon, dass Elohim zurückgekehrt sein könnte und sich die Wissenschaft der Menschen zunutze macht, um wieder zu erstarken. Und du weißt, wie einige von ihnen sind. Rakshasa der Zornige wird als Erster Köpfe rollen lassen und er ist schon seit langer Zeit darauf aus, dich zu töten, weil er dich für eine Verräterin hält, da du dich selbst vor Ajin für deinen Bruder eingesetzt hast. Und du kennst Nazirs Schwester Miswa die Strenge. Sie wird die Erste sein, die einen Krieg ausrufen wird und du weißt, was das für die Welt der Menschen bedeutet. Nämlich das Ende. Deshalb müssen wir uns bemühen, die ganze Angelegenheit so klein und unauffällig wie möglich zu halten. Wenn wir die Situation möglichst diskret behandeln und nichts nach außen dringen lassen, werden sich die großen Alten wahrscheinlich nicht weiter darum kümmern. Vor allem, weil sie sich hauptsächlich für ihre Machtkämpfe interessieren. Nazir wird wohl längst bescheid wissen, aber er wird sich raushalten, weil er sich nie auf eine Seite stellt.“

„Was genau hast du vor, Samajim? Ich sehe dir doch an, dass du etwas planst.“ Und tatsächlich hatte er einen Plan und erklärte „Natürlich. Ich habe deine Familie auf Nivkhas Spur gebracht. Er hat auch schon Frederica geholfen und ich denke auch, dass es langsam an der Zeit wird, dass er erfährt, wer und was er wirklich ist.“ Als Eva das hörte, sah sie ihn fassungslos an und stand ruckartig auf, wobei sie fast die Tassen umstieß. „Bist du wahnsinnig geworden?“ rief sie und schlug dabei ihre Hand auf den Tisch. „Nach allem, was wir für einen Aufwand betrieben haben, um ihn zu verstecken und seine wahre Identität zu verschleiern? Wenn die anderen herausfinden, dass er mit Elohim in direkter Verbindung steht, werden sie ihn sofort töten.“

„Nicht als Asylant.“

„Aber auch nur solange er sich in London aufhält. Elohim wird versuchen, an ihn heranzukommen, genauso wie er es mit Liam versuchen wird. Das kann unmöglich dein Ernst sein. Du benutzt meine Familie für deine Pläne und bringst sie in Lebensgefahr.“ Doch der Pfarrer schien das ganze viel entspannter zu sehen und trank seelenruhig seinen Tee. „Ich habe alles unter Kontrolle, meine Liebe. Vergiss nicht, dass ich nicht umsonst Samajim der Alte genannt werde. Ich habe genug Erfahrung um zu wissen, wie ich vorgehen muss. Und um Elohim aufzuhalten, ohne dabei die Aufmerksamkeit der großen Alten zu erwecken und damit schlimmstenfalls einen Krieg zu provozieren, müssen wir deine Familie dafür benutzen. Denn solange sich die Menschen darum kümmern, wird sich kein Sefira dafür interessieren, was in dieser Welt vor sich geht. Das nennt man Schadensbegrenzung, meine Liebe. Oder hast du eine bessere Idee?“

„Ja, die habe ich in der Tat. Ich werde mich allein darum kümmern. Ich lasse nicht zu, dass den anderen etwas zustößt, nur weil du meinst, es wäre die bequemste Art, die Sache zu beenden.“

„Eva…“, sagte er schließlich und schüttelte den Kopf. „Du gehst viel zu emotional an die Sache heran und kannst nicht mehr objektiv denken. Deine Liebe und deine Verzweiflung haben dich bereits so sehr vereinnahmt, dass du unvernünftig wirst. Jetzt hör doch erst mal zu. Ich setze das Leben deiner Familie nicht leichtfertig aufs Spiel, das tue ich niemals. Ich habe das alles genauestens einkalkuliert und bin auf alles vorbereitet. Ich werde sie Stück für Stück auf den richtigen Weg führen und sie im richtigen Moment unterstützen. Und mit Nivkha kann eigentlich nicht viel schief gehen. Zwar mag er keine Erinnerungen haben, aber er ist immerhin stark genug, um es selbst mit mir aufnehmen zu können. Vertrau mir einfach.“ Doch Eva wollte sich einfach nicht überzeugen lassen. Zu groß war die Angst um ihre Familie, als dass sie es fertig bringen konnte, ihrem alten Freund und Mentor in seiner Sache gewähren zu lassen. „Ich vertraue dir, aber ich lasse trotzdem nicht zu, dass du meine Familie mit hineinziehst und sie dieser Gefahr aussetzt. Ich werde Elohim alleine vernichten und davon wirst du mich nicht abhalten.“

„Du verstehst mich da völlig falsch. Ich habe nie gesagt, dass ich dich aufhalten will. Wenn es dein größter Wunsch ist, dich ihm alleine entgegenzustellen, werde ich dich nicht aufhalten. Aber du wirst eine Waffe brauchen. Eine spezielle… Ich dachte an Ahavas Schwert. Dieses müsste eigentlich effektiv genug sein, um einen Unvergänglichen in die Knie zu zwingen. Ich habe es damals Minha in Verwahrung gegeben. Du wirst sie in Soho finden. Sie arbeitet dort als Wahrsagerin unter dem Decknamen Madame Arcana. Aber überlege es dir noch mal gut, ob du das wirklich tun willst. Oder ist dein Wunsch nach dem Tod so stark geworden, dass dir dein eigenes Leben vollkommen egal geworden ist?“ Bei diesen Worten senkte Eva den Blick und sagte nichts. Aber Samajim wusste, dass er Recht hatte und konnte nicht glauben, wie sehr sie sich inzwischen verändert hatte. „Eva, du musst die Finsternis in deinem Herzen verschließen und wieder die Alte werden, wenn du Elohim aufhalten willst. Es wird nichts bringen, wenn du dein Leben verwirfst, obwohl wir die Angelegenheit auch anders regeln können.“

„Welches Leben denn?“ fragte sie und ihre Stimme klang auf einmal so unendlich traurig und hoffnungslos, auch ihr Blick zeugte von Verzweiflung, die sich tief in ihr Herz gegraben hatte. „Liam hasst mich und meine Familie braucht mich nicht. Niemand braucht mich und deshalb ist es doch eh nicht von Bedeutung, ob ich noch da bin oder n…“ Bevor sie das letzte Wort aussprechen konnte, hatte Samajim ihr eine Ohrfeige gegeben. Eva presste eine Hand auf ihre gerötete Wange und sagte nichts mehr, aber dafür kamen ihr die Tränen. Samajim hingegen wirkte verärgert und schlug die Faust auf den Tisch. „Jetzt reiß dich endlich zusammen und hör auf, dich die ganze Zeit selbst zu bemitleiden. Hörst du eigentlich, was du für einen Unsinn redest, Eva? Du redest ja schon wie einer von diesen Menschen, die nichts anderes mehr tun können, als ihr eigenes Dasein zu bedauern und von denen hab ich oft genug welche da sitzen. Wenn dir dein eigenes Leben so dermaßen gleichgültig ist, dann verschwinde doch. Ich hatte von dir wirklich mehr erwartet, aber wie es scheint, hat dich Araphels Finsternis schon so sehr in die Verzweiflung getrieben, dass bei dir nicht mehr viel zu retten ist. Du weißt, ich stehe dir als Mentor, Ratgeber und auch als guter Freund zur Seite und wir beide verfolgen das gleiche Ziel: Elohim aufzuhalten, bevor es zu einem Krieg kommt. Den wird die Menschheit garantiert nicht überstehen. Es würde das Ende werden und ich will es genauso wenig wie du. Aber ich versuche wenigstens pragmatisch zu denken und mir einen Weg zu überlegen, wie wir allen helfen können. Und dabei müssen Risiken eben in Kauf genommen werden. Ich will mein Dasein nicht so leichtfertig aufgeben und das solltest du auch nicht tun. Wenn du mit deinem Bruder Versöhnung willst, dann solltest du ihm die Wahrheit sagen und am besten die ganze Wahrheit.“

„Du weißt, dass ich das nicht tun kann“, rief sie und hatte Mühe, ihre Tränen zurückzuhalten. „Wenn Liam erfährt, was damals gewesen ist und was er getan hat, wird ihn das noch schwerer treffen. Und ich will nicht riskieren, dass er sich mit Miswa und den anderen anlegt. Die werden ihn dann auf jeden Fall töten und das kann und darf ich nicht zulassen. Ich will ihn beschützen, auch vor der Wahrheit.“ Doch Samajim hatte da weniger Verständnis für Evas überhastete Reaktion und blieb bei seiner Meinung, dass sie eindeutig zu emotional an die Sache heranging und noch unvernünftig handelte. Aber was sollte er denn tun? Sie mit Gewalt davon abhalten? Das würde doch sowieso nichts bringen, also war es besser, ihr die Hilfe mitzugeben, die sie brauchte. Ansonsten würde sie noch in ernste Schwierigkeiten geraten und das wollte er ja auch nicht. „Wie du meinst. Ich bleibe bei meiner Meinung, dass du deinem Bruder etwas mehr Vertrauen entgegenbringen kannst. Er hat sich doch verändert und das wirklich zum Positiven. Ich habe meinen Entschluss bis heute nicht bereut, ein Wort für ihn einzulegen und ihn vor seiner Hinrichtung zu bewahren. Es ist deine Entscheidung, was du tust und du musst damit leben. Aber lass mich dir eines sagen: ich werde nicht von meinem Plan ablassen. Dafür ist es längst zu spät und wenn ich das tue, wird Elohim deine Familie ein weiteres Mal auslöschen. Wir beide wissen, wie gefährlich er ist und du hast mehr zu verlieren als ich. Ich gehe bewusst keine engere Bindung mit den Menschen ein, weil ich genau weiß, dass Elohims Groll niemals schwinden wird. Erst wenn er wirklich tot ist.“

„Das ist mir klar. Aber ich will es trotzdem alleine versuchen. Aber könnte ich trotzdem eine Bitte an dich richten? Ich weiß, dass ich zu viel verlange, aber…“

„Red schon. Ich reiß dir ja nicht den Kopf ab und du weißt: dir helfe ich immer gerne.“

„Ich möchte da einer verlorenen Seele helfen, die zu früh verstorben ist. Meinst du, du könntest Ajin bitten, ihr ein neues Leben zu geben?“ Und mit einem Lächeln legte Samajim eine Hand an Evas Wange und strich ihr eine Träne weg. „Natürlich. Und ich werde auch für die anderen ein gutes Wort bei ihm einlegen. Darauf kannst du dich verlassen. Überlasse das nur mir.“ Und mit einer fast väterlichen Umarmung verabschiedete er Eva und sah ihr noch eine Weile nach, als sie davonging. Dann aber wandte er sich wieder seinem eigenen Vorhaben zu und rief „Nabi! Ich muss eben kurz weg. Wo hast du denn meinen Mantel hingelegt?“

„Er hängt an der Garderobe, wie sonst auch immer“, kam es vom Keller her und kurz darauf waren Schritte von der Treppe zu hören. Nabi, der ein wenig verstaubt aussah, klopfte sich den Dreck von der Hose und fragte „Wo wollt Ihr hin, Meister?“ „Auf einen kurzen Abstecher in die Shinigami-Welt. Es wird Zeit, den alten König mal wieder zu besuchen und ihn um einen Gefallen zu bitten. Ich bin nicht lange weg. Wenn du mit deinen Aufgaben fertig bist, kannst du das Abendessen vorbereiten.“

„Mach ich, Meister. Viel Erfolg.“ Damit schnappte sich der Pfarrer seinen Mantel und verließ das Pfarrhaus.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ach ja, der gute alte Dathan. Eine meiner Lieblingscharaktere meiner eigenen Creepypastas. Ich konnte einfach nicht widerstehen, ihn in die Geschichte mit einzubauen. Zugegeben, eigentlich war Teil 10 komplett anderes geplant gewesen, aber dann hatte ich eine spontane Idee und hab einfach mal angefangen. Für alle, die Dathan schon kennen: Ich hab ihn extra für diese FF sechs Jahre älter gemacht, damit er nicht ganz so jung ist und er ist auch kein Nekromant, aber ich will nicht zu viel verraten. Lest einfach selbst und lasst euch überraschen, was es mit ihm und Lacie Dravis auf sich hat. Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (29)
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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  San-Jul
2015-01-26T16:51:04+00:00 26.01.2015 17:51
What the holy shit. Ich muss grad echt heulen. Wieso? ... Warum? ... Wie zum Teufel? ... meh ...
Bitte sag mir, das alle aus Eva´s Familie überlebt hat, sonst kann ich nicht mehr in ruhe schlafen :(
Ansonsten wieder geniale Geschichte vor allem Samajim und Nabi find ich echt interressant.
Freu mich auf die nächsten Teile.
Lg San-Jul
Antwort von:  San-Jul
26.01.2015 17:58
Du hast damit nicht gerrechnet? Inwiefern?
Gott sei dank sie leben noch, oder sollte es Eva sei dank heißen;)
Antwort von:  Sky-
26.01.2015 18:00
Ja das Ende ist schon traurig. Aber keine bange. Wenn sie alle tot wären, dann wäre Last Desire schon längst vorbei.
Antwort von:  San-Jul
26.01.2015 18:03
Ja, stimmt, aber trotzdem ist es sooo traurig :(
Antwort von:  Sky-
26.01.2015 18:47
Nun, ich hatte nicht damit gerechnet, dass du davon heulen musstest. Das ist für mich wiederum ein Kompliment, dass ich alles richtig gemacht habe.
Von:  pri_fairy
2015-01-06T12:52:45+00:00 06.01.2015 13:52
Super Kapitel:) Ich bin schon auf den nächsten Teil gespannt:)
Von:  San-Jul
2015-01-06T12:43:16+00:00 06.01.2015 13:43
Also echt geniales Kapitel (die davor auch ;))
Ich find Dathan ja echt niedlich und was hat eigentlich L die ganze Zeit xD
War es absicht, das Lacie ein Anagramm zu Alice ist?
Lg San-Jul
PS: Auch ein gutes neues Jahr von mir;)
Antwort von:  Sky-
06.01.2015 14:12
Nun, das wird sich noch alles klären-^^-
Ich wünsch dir übrigens auch ein frohes neues Jahr:-)
Antwort von:  San-Jul
07.01.2015 15:52
Hihi ;)
und Danke <3
Von: abgemeldet
2015-01-05T18:20:53+00:00 05.01.2015 19:20
Ein klasse Kapitel.
Ich freue mich schon auf die nächste Story *-*
Von:  pri_fairy
2015-01-04T13:02:27+00:00 04.01.2015 14:02
Super Kapitel auch wenn ich wirklich weinen musste am Ende :(
Von: abgemeldet
2015-01-03T23:10:03+00:00 04.01.2015 00:10
Das Kapitel ist echt super. *freu*
Ich habe schon eine Ahnung wer der Alpha-Proxy oder die Mutter ist. *kichert*

LG^^Alien^^
Antwort von:  Sky-
04.01.2015 00:12
Und erzählst du es mir?
Von:  pri_fairy
2015-01-02T22:06:13+00:00 02.01.2015 23:06
Wow^^ super Kapitel! Bin gespannt wie es weiter geht! Es wird immer spannender und ich frag mich wirklich wie das alles zusammen hängt. Richtig spannend! :)
Von: abgemeldet
2015-01-02T13:04:48+00:00 02.01.2015 14:04
Das Kapitel war echt cool.
Von:  pri_fairy
2015-01-01T22:02:29+00:00 01.01.2015 23:02
Ein super Kapitel!:) ich hoffe es wird am Ende doch alles gut :)
Von:  pri_fairy
2015-01-01T22:01:03+00:00 01.01.2015 23:01
Tolles Kapitel :) es wird immer spannender!


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