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Ein Bett gemacht aus Schweigen

von

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Einsam

14. Oktober, 19.23 Uhr
 

»Hier ist nichts«, stellte Alea ohne große Anteilnahme fest, als sich endlich wieder Zeichen von Zivilisation auftaten.

Sie hatten den ohnehin schon winzigen Ort Märkisch Buchholz, der seinen Status als Stadt nicht verdiente, lediglich durchquert und waren wieder in den Wald abgebogen. In der Dämmerung folgten sie der Landstraße mit ihren Kurven und Hügeln und ohne jede Art von Straßenbeleuchtung für etwa sechs Kilometer, ehe wie aus dem Nichts ein Ortsschild auftauchte: Willkommen in Köthen. Ein Storch prangte darauf.

»Gehört noch zu Märkisch Buchholz«, erklärte Lasterbalk. »Wir sind gleich da.«

»Das kann ich mir denken.« Kummervoll nahm Alea die Einsamkeit in sich auf, die der still daliegende Ort ausstrahlte. Alles wirkte in der heranflutenden Dunkelheit wie verlassen; keine Geräusche drangen aus den Häusern hervor, die meisten Fenster waren dunkel. Kein Mensch war zu sehen.

Es dauerte keine Minute, Köthen zu durchqueren. Es gab nur eine einzige Straße, die in einem Rondell endete und auf demselben Weg wieder aus dem Ort hinausführte. Dunkle Häuser flankierten sie mit stummen Gärten, in denen verblühte Blumen auf braunen Stielen starben.

»Richtig freundlich«, kommentierte Lasterbalk. »Da hat Marianne sich ja was Nettes ausgedacht.« Er schenkte Alea ein kummervolles Lächeln, während er die scharfe Wendung nahm.

»Und hier soll ich mich erholen?« Alea war fassungslos angesichts einer so deprimierenden Umgebung.

»Ist ein schöner Urlaubsort, so viel ich weiß«, sagte Lasterbalk vorsichtig.

»Ah ja? Im Sommer vielleicht, wenn man nur zum Schlafen herkommt und sonst Boot fährt, wandert oder sonst was. Aber wenn ich deine Freundin richtig verstanden habe, dann soll ich hier nicht rausgehen und mit keinem reden! Ich meine … Hallo? Was? Was sollen denn das für Tabletten sein, die mich daran hindern sollen, hier von irgend’nem Dach zu springen?«

Lasterbalk stieg sanft auf die Bremse, bis der Wagen kurz hinter der Kurve stand, die zurück zum Ortsausgang führte. Er holte tief Luft und sagte sehr ernst: »Hör mal … Mir gefällt das auch nicht. Gar nicht. Noch weniger, wenn ich das hier sehe. Aber es muss sein. Ich kann es nicht ändern. Es ist der einzige Weg, dich irgendwie … schnell wieder hinzukriegen. Glaub mir, ich würde gerade am liebsten wieder voll aufs Gas treten und dich ganz weit von hier wegbringen … weil ich weiß, dass es … hart für dich wird.« Er seufzte schwer. »Du musst jetzt wirklich stark sein. Denn es wird noch schlimmer.« Er sah Alea von der Seite an; seine Stimme war fest, doch seine Augen glitzerten kaum merklich. »Du bist noch in der ersten Phase … Ich weiß, du willst das nicht hören, aber so ist es. Du leugnest, du bist gelähmt, du empfindest nichts. Du bist innerlich erstarrt. Aber das bleibt nicht so. Das bricht ein. Und wenn das passiert, dann … dann bin ich noch nicht mal bei dir, verfickt noch mal, dann bist du alleine hier.« Kurz war seine Stimme gebrochen, und er presste die Lippen aufeinander. Lasterbalk war sehr gut darin, sich zu beherrschen. »Aber …« Er zwang sich sichtbar zurück zur Gefasstheit. »… es wird alles gut. So beschissen plakativ das klingt, aber genauso ist es. Das geht vorbei. Und was wir machen, das hilft dir.«

Alea hatte gehofft, er möge irgendetwas empfinden können, jetzt, da er sogar Lasterbalks Fassade bröckeln sah. Er wollte das zurückgeben, wollte, dass sie sich gegenseitig trösten konnten, hier in diesem Scheißkaff in dieser Scheißsituation. Aber er konnte nicht. Erst fühlte er Scham, als er die verräterischen Tränen in Lasterbalks Augen sah, dann sogar eine unterschwellige Abscheu. Er war so schwach. Und er, Alea, starrte nur vor sich hin, weil ihn nichts von alldem berührte. Er schämte sich nicht nur für Lasterbalk, er schämte sich auch für sich selbst. Eric war tot. Ja, und? Vielleicht stimmte das ja wirklich. Was bedeutete das eigentlich? Wieso entfaltete diese Nachricht nicht die Wirkung auf ihn, die er erwartet hatte? Es war gar nicht Lasterbalk, der sich hier seltsam benahm. Alea war es selbst. Er konnte nicht trauern. Er wollte nicht trauern.

Und noch weniger wollte er in dieser Einöde eingesperrt werden und untätig herumsitzen. Es war an der Zeit, wieder aufzuwachen. Zeit, die Lethargie abzuschütteln. Zeit, nicht länger passiv zu sein.

»Ganz ehrlich«, sagte Alea emotionslos, »ich glaub nicht, dass das irgendwas bringt. Mich hierher zu schleppen, das war doch totale Scheiße. Und unnötig. Ich hab’s doch geschnallt. Eric ist tot. Ich werd nicht mehr mit ihm feiern. Subway sind im Arsch. Wir treten nie wieder zusammen auf. Bist du zufrieden?« Er erwiderte Lasterbalks Blick kühl und herausfordernd. Wozu einfühlsam sein? Wozu?

Lasterbalk betrachtete ihn schweigend. Seine Miene war jetzt so unleserlich wie ein Buch in einer fremden Sprache. Schließlich sagte er ruhig: »Steig aus.«
 

19.49 Uhr
 

Es war egal, dass Lasterbalks Auto verlassen in der Kurve stand. Niemand außer ihnen war hier unterwegs.

Das Haus war eins von dreien, die mit ihren vermutlich roten Ziegeln und schwarzbraunen Dächern einander ähnlich sahen und das Ende des Ortes Köthen markierten. Lasterbalk klopfte an die Tür, während Alea, seine Reisetasche unter dem Arm, in einiger Entfernung lustlos wartete. Keine Menschen treffen zu dürfen bedeutete, dass er die Inhaber seines neuen Gefängnisses nicht kennen zu lernen brauchte. Er sah, wie eine alte Frau mit weißem Haar, die eine Schürze trug, die Tür öffnete und ihren krummen Hals reckte, um Lasterbalk in die Augen sehen zu können. Ein paar Worte genügten, und sie watschelte gebeugt davon, um kurz darauf mit einem kleinen Schlüsselbund zurückzukehren. Sie gab einige Erklärungen, die Alea nicht verstehen konnte, die Lasterbalk jedoch geduldig nickend zur Kenntnis nahm. Schließlich ging die mit einem herbstlichen Kranz geschmückte Haustür wieder zu. Mit wenigen großen Schritten war Lasterbalk zurück bei Alea und führte ihn schweigend zum Nachbarhaus.

Drinnen war es dunkel. Es roch nach Holz und auch muffig, wie ein Berg alter Decken. Die Lampe über ihren Köpfen, die ein Schalter zum Leben erweckte, spendete ein nicht sehr helles, gelbes Licht. Geheizt war nirgends.

»Ich geh mal gucken, ob ich die Heizung ankriege. Du kannst dir ja schon mal ein Bett suchen. Es gibt mindestens drei.« Lasterbalk machte eine vage Geste zur Treppe, die sich düster am Ende des Flurs auftat.

Es ist eher unheimlich als heilsam, dachte Alea matt. Er fühlte sich furchtbar erschöpft und wusste nicht, warum. Etwas zu fühlen war so anstrengend geworden.

Das ganze Haus zeigte den typischen staubig-antiquierten Einrichtungsstil alter Leute: Naturholzschränke, Blumentapeten, samtbraune Polstermöbel, anlaufende Lampenschirme, schnörkelige Ziselierungen, Kissenbezüge und Deckchen aus Häkelspitze. Es war nicht wirklich charmant, aber auch nicht eintönig, allenfalls ein bisschen langweilig. Eben … nett. Normal. Ganz wie erwartet, ohne Überraschungen.

Alea öffnete die letzte Tür oberhalb der Treppe und fand dahinter ein sehr kleines Zimmer, in dem ein sauber gemachtes, blau bezogenes Bett und ein Schränkchen standen. Es wirkte wie die Kammer eines Hausmädchens. Prima. Er warf seine Tasche neben das Bett.

»Na?« Lasterbalk streckte den Kopf hinein. »Heizung läuft. Musst du dir aufdrehen, wo du’s brauchst. Du hast einen Gasherd in der Küche, hast du gesehen?«

»Ich hab Hunger.« Das war die Wahrheit. Alea merkte es erst, als er es sich sagen hörte.

»Wundert mich nicht. Der Rest von der Gemüsesuppe ist in der Plastikdose neben dem Herd. Mach dir das warm.«

»Hmm.«

»Mach es wirklich.«

»Jaa

»Ich hau jetzt ab.«

Alea hob den Kopf. »Du willst mich hier wirklich alleine lassen?«

»Ich muss«, erwiderte Lasterbalk gequält. »Mach’s nicht schlimmer, als es ist.«

»Wie oft muss ich dir noch sagen, dass es mir gerade echt egal ist?«, schnaubte Alea.

»Jetzt noch.« Der große Mann streckte die Hand aus.

Alea war klar, dass Lasterbalk ihm nicht die Hand geben wollte, und als er widerwillig näherkam, fasste sein Freund ihn an der Schulter und zog ihn in eine feste Umarmung, die Alea ohne Gegenwehr über sich ergehen ließ.

»Mach keinen Scheiß, Kleiner. Hast du gehört? Ich ruf dich jeden Tag an. Nimm deine Tabletten. Nimm die erste heute nach der Suppe. Versprich’s mir.«

»Mach ich«, gab Alea fügsam zurück.

Lasterbalk ließ ihn los und schob ihn ein wenig von sich, um ihn noch einmal mustern zu können. »Eins noch«, sagte er bedeutsam. »Wir werden ab jetzt nicht mehr über die Umstände von Erics Tod reden.«

»Wie?« Alea verstand nicht.

»Wir wissen, dass er tot ist. Ich weiß das, du weißt das. Der Mord … wie der passiert ist … darüber reden wir jetzt nicht mehr.«

»Aber warum nicht?«

»Weil es besser ist.«

»Aber die Polizei muss das Arschl–«

Lasterbalk legte ihm seinen langen Zeigefinger an die Lippen, eine ziemlich bevormundende Geste, die Alea provozierte.

»Sag mal, spinnst – !«

»Bitte«, sagte Lasterbalk, so eindringlich er konnte, und umfasste seine Schultern. »Bitte mach, was ich dir sage. Es wird sich um alles gekümmert, auch um den Mörder, es kommt alles in Ordnung, ich versprech’s dir. Aber solange du hier bist, meiden wir dieses Thema, ja? Nur für diese Zeit.«

Missmutig machte Alea sich von ihm los. Diesmal fiel er nicht zurück in die Leere. Er war wütend, das alles hier machte ihn wütend. Es war eine Farce, dieses bescheuerte Kurprogramm. Dieses Loch hier sollte ihn dazu bringen, Erics Verlust schneller zu verwinden? Pah, aber nur, wenn die Tabletten sein Gedächtnis löschten.

»Du kannst fahren«, befand er kühl. »Ich komm klar.«

»Ich hoff’s.« Lasterbalk wandte sich zum Gehen, und als Alea sich nicht anschickte, ihm zu folgen, warf er einen letzten Blick in das Zimmer, nickte einsichtig und schloss dann die Tür hinter sich.
 

20.16 Uhr
 

Alea hielt Wort. Er beschloss, sich zu entspannen. Zumindest körperlich. Kein Sport, auch wenn das willkommene Ablenkung und Routine bedeutet hätte. Nein, er musste sich mit ganzer Aufmerksamkeit diesem seltsamen, dunklen Knoten in seiner Brust zuwenden, der dort saß, wo früher seine Gefühle gewesen waren. Er musste hinhorchen und verstehen. Dies war eine Wunde, die offen gehalten werden musste, um heilen zu können. Er würde schon noch herausfinden, wie er diese immer noch schwellende Pestbeule aufstechen konnte.

Zuerst widmete er sich gehorsam dem Aufwärmen seiner Mahlzeit. Lustlos, aber gewissenhaft rührte er in der Gemüsesuppe, ehe er sie ziemlich lieblos direkt aus dem Topf löffelte. Sie war gut, wie immer, viel zu gut für ihn, sie schmeckte nach etwas, das er nicht verdient hatte, während er damit im staubigen Wohnzimmer vor den schweren Gardinen saß. Wie mechanisch tauchte er den Löffel immer wieder in das sämige, fast schon ekelhaft köstliche Gemisch und starrte dabei auf die Wand gegenüber, an welcher Bilder hingen, die Jagdszenen zeigten. Er kaute, obwohl es nichts zu kauen gab, während er zusah, wie vor ihm auf Hasen und Rehe geschossen wurde.

Danach nahm er die erste Tablette. Sie war rund und gelb und fiel von ganz allein aus dem metallbeschichteten Plastik in seine Hand. Er schluckte sie mit einem Glas Wasser. Dann starrte er wieder auf die Bilder mit den Tieren.

Wie war wohl Eric erschossen worden? Was hatte er gefühlt? War er überrascht gewesen? Hatte er Zeit dafür gehabt, überrascht zu sein, oder war er sofort tot gewesen? Alea glaubte nicht daran. Niemand war sofort tot. Auch wenn es das oft in den Presseberichten hieß. Eric würde, wenn er schon den Mörder nicht gesehen hatte, doch zumindest den Einschuss gespürt haben. Sicher ein kurzer, alles zerreißender Schmerz, der sein Herz zersprengte und in seiner Brust ausbluten ließ. Er war zu Boden gegangen, vielleicht gesunken, vielleicht gestürzt, vielleicht schnell, vielleicht langsam. Steckte nicht auch eine enorme Wucht hinter so einem Schuss? Schlug es einen nicht gegen die Wand, wenn man getroffen wurde? Vielleicht hatte Eric sogar noch eine Weile gelebt. Hatte gewusst, dass er sterben musste, und das Ende auf sich zukommen sehen. Hilflos, weil niemand dabei gewesen war. Weil es keine Zeugen gab. Wie fühlte sich das wohl an, zu sehen, wie das eigene Herzblut aus dem Körper herausfloss, und zu wissen, dass gleich alles vorbei war? Verfiel man in Panik? Oder wurde man ganz ruhig, wie manche berichteten, die es überlebt hatten? Hatte Eric seinen Tod akzeptiert? War er bereit gewesen, alle seine Pläne – für Subway To Sally, für sein eigenes Projekt, für seine Freunde, für seine Familie – aufzugeben, weil seine Zeit abgelaufen war? Oder hatte er noch gekämpft, um jede Sekunde gerungen, hatte gesagt: Nein, nein, verpiss dich, Tod, auch dann noch, als der Atem ihm schon im Hals stockte? Spürte man es eigentlich, wenn das Herz zu schlagen aufhörte? War man danach noch bei Bewusstsein, bis das Hirn den verbliebenen Sauerstoff aufgezehrt hatte?

Aleas Mund war trocken wie Sand. Sein Herz klopfte in seiner Brust, ganz fest, ganz schnell, wie ein Vogel in einem Käscher zappelt, ein entsetztes Flattern, und seine Hände auf seinem Schoß zitterten unkontrolliert, während er noch immer das Bild anstierte. Er sah es nicht mehr. Es war verschwommen, die Farben liefen ineinander, die Konturen waren aufgeweicht. Immer mehr zergingen die vorher klaren Umrisse. Bis, endlich, die warme Feuchtigkeit, die sich angestaut hatte, überlief und Wege nach unten fand, über beide Wangen bis zum Kinn hinab rollend.

Eric war tot. Er war wirklich tot. Einer seiner besten Freunde, mit dem ihn so viel verbunden hatte, mit dem er so viel hatte teilen können und mit dem er so viele gute und schlechte Tage verlebt hatte. Eric war nicht immer in Reichweite, aber trotzdem für ihn da gewesen, und wenn sie zusammen gewesen waren, hatte es stets eine Menge bedeutet. War das jetzt wirklich vorbei? War Eric Fish, der kein Blatt vor den Mund nahm, der seine Fans auf der Bühne zurechtwies, der besserwisserisch und viel zu oft unfreundlich war, der ein beachtlicher Künstler und kluger Gefährte mit wenig Bescheidenheit und viel zu viel Leidenschaft war … einfach für immer fort?

Dieses verdammte Arschloch, dachte Alea. Und dann: Es tut mir so Leid, Eric. Es tut mir so Leid. Wir waren besoffen und du wurdest erschossen. Oh, Scheiße. »Es tut mir Leid«, sagte er laut, und seine Stimme schwankte unter der Tränenlast. »Ich würde alles tun, um es zu ändern. Ich wünschte, ich hätte es gemerkt. Ich wünschte, ich hätte irgendwas tun können. Du bist mein Freund … Ach, Scheiße … Ich hab dich doch lieb, Mann … Ich werd dich vermissen …«

Alea machte die Augen zu, blendete das Bild aus, ließ den Kopf auf die Brust sinken.

Und dann weinte er.
 

This is a weeping song

A song in which to weep

While all the men and women sleep

This is a weeping song

But I won’t be weeping long

– Eric Fish – Weeping Song (Nick Cave & The Bad Seeds Cover)
 

15. Oktober, 05.16 Uhr
 

»Wieso weinen die alle?«

Alea starrte auf den sonnenbeschienenen Fluss hinunter, auf dessen leicht erhöhtem Uferdamm einsam der Saltatio-Mortis-Tourbus stand, und fragte sich, warum die vielen Leute, die dort mitsamt ihrer Kleidung ins Wasser wateten, so tränenüberströmt waren. Er hatte das vage Gefühl, irgendein Unglück sei passiert, doch er erinnerte sich nicht an Einzelheiten. Verwundert beobachtete er die Menschen, Kinder, alte Leute und alles dazwischen, während sie im seichten Wasser herumirrten und dabei stetig schluchzten und wimmerten.

Lasterbalk stand im Schatten des Tourbusses und rauchte. Er machte das nicht oft, eigentlich nur, wenn er entspannt und guter Stimmung war, aus einer Genusslaune heraus. »Frag dich das doch mal selbst«, war seine lapidare Antwort, nach der er an der Kippe zog und sich neben dem stummen, hochaufragenden Fahrzeug ins Gras setzte.

Alea sah wieder die Leute an. So viele Menschen, die er nicht kannte und die er nicht verstand. »Ich hab echt keine Ahnung.«

»Du bist also nicht traurig?«

»Nein, wieso?« Das stimmte. Zurzeit konnte er gar kein Gefühl in sich ausmachen, nur Verwunderung.

Sein Freund deutete nachlässig aus der Ferne auf Aleas Gesicht. »Und wieso weinst du dann?«

»Ich?« Alea stutzte, und seine Hand flog zu seiner Wange hoch. Da spürte er die warme Feuchtigkeit unter den Fingern. Scheiße, Lasterbalk hatte Recht – er war genauso verheult wie die anderen da unten, es war alles voller Tränen. Aber wieso? Er wischte die Nässe weg, erst vorsichtig, dann heftiger, doch sie verschwand nicht. Es liefen sofort neue Sturzbäche nach, rannen über sein Kinn und tropften aus seinem Bart auf sein T-Shirt wie Regen. »Das kapier ich nicht.«

»Bist du wirklich nicht traurig?« Lasterbalk blies entspannt den Rauch aus.

»Nein!« Es war die Wahrheit. Alles war in Ordnung, da war kein Kummer, das Herz tat ihm nicht weh – es gab nicht den kleinsten Anlass zum Weinen.

»Dann weiß ich auch nicht, was mit dir nicht stimmt«, stellte Lasterbalk achselzuckend fest und schnippte den Zigarettenrest ins Gras.
 

07.03 Uhr
 

Licht fiel durch den schweren Fenstervorhang ins Wohnzimmer. Draußen schien die Sonne – blass, jung, kaum über den Horizont gestiegen, doch sie schien.

Alea lag nicht in dem blaubezogenen Bett in der kleinen Kammer, sondern auf dem altmodischen braunen Sofa. Vor ihm auf dem Tischchen stand auf einem gefalteten Geschirrtuch der Topf mit dem kaltgewordenen Rest der Suppe.

Alea wusste nicht, warum er sich so schämte, aber er tat es. Offenbar hatte er keine Kraft gefunden, ins Bett zu gehen, sondern hatte hier herumgesessen und geheult, bis er eingeschlafen war.

Gott. Ich bin so eine Memme.

Als er sich hochrappelte, tat ihm die Schulter weh. Besonders bequem war das durchgesessene Polstermöbel nicht gewesen. Ihm fiel der seltsam nichtssagende Traum wieder ein, dem er irgendwann am frühen Morgen nachgespürt hatte und der nun langsam wieder verblasste. Fast sehnte er sich nach der unberührten Stimmung, mit der er die Szenerie betrachtet hatte. Ja, er hatte sich über seine eigenen Tränen gewundert und sie nicht erklären können, aber er hatte dabei weder Trauer noch Angst empfunden.

Gern wäre er wieder so gefühllos. Doch er wusste, dass das vorbei war. Er hatte diese Phase hinter sich. Seit gestern Abend hatte er aufgehört zu leugnen und zu verdrängen, hatte die Erkenntnis zugelassen, dass er einen Freund für immer verloren hatte. Jetzt musste er trauern und den Schmerz besiegen.

Aber nicht so.

Er kämpfte sich hoch. Es war ein Armutszeugnis, hier tatenlos und zerschlagen auf einer fremden Couch zu liegen und sich selbst zu bemitleiden. Er würde jetzt eine Dusche nehmen – hoffentlich war das Wasser warm –, sich etwas Sauberes anziehen, und dann würde er hinausgehen. Auch wenn es dort nichts zu sehen geben würde. Er musste irgendetwas tun.
 

08.14 Uhr
 

Im kleinen weißgefliesten Badezimmer schien die Heizung nicht angesprungen zu sein, doch immerhin war das Wasser warm gewesen. Alea fühlte sich besser in einem frischen T-Shirt und seinem schwarzen Kapuzen-Sweater darüber, als er es erstmals wagte, die Haustür zu öffnen.

Es war erstaunlich, wie viel freundlicher der Ort bei Tageslicht aussah. Fast schon niedlich. Reizend. In den Vorgärten blühten noch vereinzelt Rosen nebst Astern und Dhalien, leuchtende Tupfer hinter den gelbgrünen Gräsern, die die Straße säumten.

Als Alea über die Schwelle trat, wäre er fast über eine Papiertüte gestolpert, die er auf dem ebenfalls hellen Stein übersehen hatte. Ein Blick hinein offenbarte drei Brötchen: ein helles, ein dunkles und eins mit Sonnenblumenkernen. Unsicher, wem er die Gabe zu verdanken hatte, schaute Alea sich um, und eine Bewegung hinter der Scheibe des Nachbarhauses entpuppte sich als die schon bekannte alte Dame, die ihm freundlich zuwinkte. Mit einem zaghaften Lächeln erwiderte er den Gruß und zog sich mit den Brötchen wieder in sein Refugium zurück.

Lasterbalk hatte gesagt, er bliebe in der Nähe. Wahrscheinlich bedeutete das, dass er bei Bodenski in Potsdam war; jedenfalls war er nicht zurück nach Karlsruhe gefahren. Nicht einmal Lasterbalk war es zuzutrauen, zweimal hintereinander siebenhundert Kilometer zu fahren, schon gar nicht nachts.

Alea hatte nach seinem Brötchenfund den Eindruck gewonnen, dass die Hauseignerin angewiesen worden war, ihn in gewissem Rahmen zu betreuen, und so öffnete er den Kühlschrank mit der Erwartung, dort eine Grundausstattung vorzufinden, und wurde hierin nicht enttäuscht. Was das für ein merkwürdiges Kurprogramm war, in dem er sich hier befand, würde er nicht hinterfragen; noch nicht. Noch reichte das allmählich zurückkehrende Interesse an seiner Umwelt nicht aus. Noch hatte er mit sich selbst genug zu tun.

Also stellte er sich der nächsten Herausforderung des Tages: Frühstück. Sich dem Essen zu widmen bedeutete, sich für das Leben zu entscheiden, es wieder anzunehmen. Was er gestern mit der Suppe gemacht hatte, war nicht Essen gewesen, sondern stumpfe Pflichterfüllung ohne echte Wahrnehmung; er hatte nur sein Versprechen gegenüber Lasterbalk eingelöst, mehr nicht. Er hatte es nicht für sich getan. Jetzt aber schob er die Gardinen beiseite, öffnete das Küchenfenster, sodass die Sonne hereinscheinen konnte, setzte sich mit dem Brötchengeschenk an den Tisch, verteilte sorgsam und ordentlich alles auf selbigem, was dazugehörte, und –

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Er tat es ganz bewusst, kaute aufmerksam jeden Bissen und ließ sich sehr viel Zeit bei der Mahlzeit, und dies führte tatsächlich dazu, dass sich das Loch in ihm nicht mehr ganz so hohl und schwarz anfühlte wie am Abend zuvor.
 

09.24 Uhr
 

Fast hätte er die Tablette vergessen. Er dachte gerade noch rechtzeitig daran, dass er sie auch morgens nehmen sollte, und tat es gewissenhaft. Dabei fragte er sich, ob diejenige vom Vorabend vielleicht schon wirkte, oder ob es doch nur das gute Wetter war, das ihn animierte, wieder mehr am Leben teilzunehmen.

Später ging er durch die hintere Tür in den Garten hinaus und fand dort einen Apfelbaum, der nicht mehr trug, sowie zwei Beete mit Küchenkräutern. Ein kleiner Schuppen stand dicht beim Jägerzaun, der das Grundstück einfriedete, und als Alea ihn neugierig öffnete, schlug ihm der würzige Geruch lagernder Äpfel entgegen. Dicht an dicht lagen die Früchte auf Zeitungspapier ausgebreitet, beschienen von der goldenen Herbstsonne, die durch das Fenster hereinfiel.

Diese ländliche Idylle tat im ersten Moment etwas sehr Angenehmes mit ihm. Im zweiten jedoch gab sie ihm einen Stich ins Herz.

Ohne einen Blick zurück ließ er die Holztür hinter sich zufallen.
 

09.38 Uhr
 

Als Alea sich gerade wieder trübsinnig auf das Sofa hatte sinken lassen, gab sein Handy Alarm. Damit hatte er am allerwenigstens gerechnet. Zuerst reagierte er gar nicht, weil er nicht wusste, was zu tun war; dann erst stellte sein Hirn die Verknüpfung zu diesem Teil des Alltags wieder her.

»Ja?«

»Ich bin’s. Alles klar bei dir?« Lasterbalk.

»Ich lebe noch.«

»Hast du was gegessen? Und an die Pille gedacht?«

»Mann, was bitte soll das?«

»Sorry. Ich mach mir Sorgen.« Eine Pause. »Warst du draußen?«

Bei dieser unbedarften Frage spürte Alea wieder das Kitzeln von Zorn im Magen. »Ja, war ich. Ein Apfelbaum. Eric hat auch einen.« Er wählte absichtlich das Präsens.

»Ich weiß. Er hat die Dinger nie geerntet.«

»Ich hab da mal geerntet.«

»Nee. Du bist im Baum rumgeturnt wie ein Schimpanse, bis die Äpfel von alleine runtergefallen sind und alle Stellen hatten.«

Alea erinnerte sich mit Bitterkeit daran. Es war falsch gewesen, das Thema darauf zu lenken. »Ich darf wahrscheinlich nicht fragen, ob’s bei der Suche nach dem Mörder was Neues gibt.«

»Es gibt nichts Neues. Und nein, mehr sag ich dazu nicht.«

»Das ist Scheiße. Ehrlich.«

»Setz dich lieber hin und mach einfach gar nichts. Wir reden später wieder, ja?«

»Ja«, zwang Alea sich zu antworten, aber dachte: Lass mich doch einfach in Ruhe. Elender Besserwisser.

Einen Tastendruck später war er wieder mit sich allein.
 

13.03 Uhr
 

Brüten.

Stumpfes Nichtsdenken, Nichtreden, Nichtrausgehen.

Irgendwie bewirkte die Tablette, dass Alea sich leicht im Kopf fühlte. Er hatte es geschafft, viele Stunden des sonnigen Herbsttages mit Nichtstun zuzubringen, einfach, indem er lang auf dem Sofa im Wohnzimmer lag und zur Decke starrte. Es war gar nicht so schlimm gewesen. Tatsächlich hatte es ihn nicht nur körperlich, sondern auch geistig irgendwie entspannt.

Eine wunderbare Erfindung, diese Psychopharmaka.

Obwohl er immer noch nicht begriff, warum er sie nehmen musste. Als Einziger. Gut, vielleicht auch nicht – darüber, was mit dem Rest von Subway oder mit Erics Familie unternommen wurde, hatte man ihn schließlich im Unklaren gelassen. Was ebenfalls seltsam war. Alles war seltsam. Vor allem Lasterbalk, aber auch Bodenski, deren Betroffenheit Alea nicht voll überzeugte; entweder waren sie innerlich genauso gelähmt wie er und fingen auch jetzt erst an, sich mit der neuen Situation wirklich zu arrangieren, oder …

Nein. Sie hätten anders reagiert. Es war nicht nur seine eigene verzerrte Wahrnehmung, die das Verhalten der beiden Männer bedenklich fand.

Es war eine Feier gewesen. Beide Herbsttourneen waren beendet, man hatte sich in Karlsruhe getroffen, Lasterbalk hatte gesagt: »Wie wär’s, wenn wir zum Abschluss mal wieder in richtigen Betten pennen? Ich kenn da jemanden mit ’nem Hostel, deren Saison ist auch vorbei, keine Sau da, wir könnten da so richtig ordentlich …«

Ich hab erst viel später als alle anderen erfahren, dass Eric den Morgen nicht mehr gesehen hat.

Noch zweimal weinte er. Aber nur kurz. Oberflächlich. Es war plötzlich nicht mehr so schwer, den Gedanken zu ertragen.
 

14.06 Uhr
 

Erschossen, hatte man ihm gesagt. Präzise ins Herz. Eigentlich waren die wilden Schreckensvorstellungen, die Alea sich zu Erics Todeskampf ausgemalt hatte, völlig ohne Bestand, wie ihm nun klar wurde. Wenn der Schuss sein Herz perforiert hatte, dann war es mit Sicherheit in Sekunden vorbei gewesen.

Die Frage war nun: erschossen von vorn oder von hinten? Wo hatte der Mörder gestanden? Lasterbalk hatte angedeutet, dass die KriPo um Olaf Knussen das alles längst rekonstruiert hatte. Wie konstruierte man so was eigentlich? Wahrscheinlich, indem man in der Wunde der Leiche herumstocherte und den Einschusskanal untersuchte. War das größere Loch vorne oder hinten, gab es überhaupt zwei davon, also war die Kugel wieder ausgetreten oder stecken geblieben?

Alea war selbst erstaunt, wie nüchtern er darüber nachdenken konnte. Wie wenig es ihm ausmachte, vor seinem geistigen Auge Eric Fish auf einem Obduktionstisch zu sehen.

Ich HABE ihn tot gesehen, oder? Hab ich das vielleicht? Abwesend rieb er sich die Stirn. Nein, unmöglich, ich war nicht dabei … Wie könnte ich …?

Und doch war da ein klares Bild, wie er Eric auf dem Boden liegen sah. Halb auf dem Bauch, halb auf der Seite. Und dieser Boden war der in der Jugendherberge. Aber … wie?

Gott, das waren mit Sicherheit diese Tabletten. Sie legten nicht nur Aleas Zeitgefühl lahm, sie setzten ihm auch Dinge in den Kopf, die es nie gegeben hatte. Halluzinationen waren eine Nebenwirkung starker Psychopharmaka, das wusste er, und hinzu kam, dass er sich in den letzten Tagen intensiv mit Erics Tod beschäftigt hatte. Wenn er weiter über dieses Bild nachdachte, das kurz vor ihm aufgeflackert war, dann gab es da nichts drumherum: kein Davor, kein Danach. Keine zeitliche Abfolge, keine zusammenhängende Szene. Nein, er hatte Erics Leiche nicht gesehen, nicht mal im Suff, sonst wäre mehr davon in seinem Gedächtnis erhalten geblieben. Nein, sein Gehirn setzte einfach nur die Informationen, die es gehört hatte, zu visuellen Eindrücken zusammen, um sie besser speichern zu können. Auch das war ein normaler Vorgang. Es kam ihm nur so besonders vor, weil er dröge durch die Medikamente war.

Vielleicht sollte er einfach aufhören, sie zu nehmen. Nur für einen Tag …

Aber nein. Er brauchte sie. Sie hatten dafür gesorgt, dass er den Schmerz, der in ihm tobte, aushalten konnte, sogar deutlich weniger spürte. Wenn er an den Abend dachte, der ihm in wenigen Stunden bevorstand – allein im dunklen, einsamen Köthen –, dann wollte er doch lieber gleichgültig und ein bisschen benebelt sein statt klar und elend.
 

17.30 Uhr
 

Alea döste vor sich hin, während die Stunden wie Sand zerrannen, und vergaß, dass er einen Rundgang durch das Dorf hatte machen wollen. Seine bleischweren Gedanken kreisten um die eine zentrale Frage, wieso jemand Eric Fish umbringen sollte, wieso bei einer privaten Feier in Karlsruhe, wieso nicht irgendwo, wo es mehr Wellen schlug, wieso einen harmlosen Menschen wie Eric überhaupt umbringen? Wieso?

Irgendwann machte er sich ein Abendbrot, das aus dem Rest der Gemüsesuppe und dem einen verbliebenen Brötchen vom Frühstück bestand; danach nahm er die nächste Tablette ein. Diesmal betrachtete er sie lange in seiner Handfläche, wo das Sonnenblumengelb mit seiner Haut zu verschmelzen schien, ehe er sie sich in den Mund steckte und ein Glas Wasser hintererkippte.

Einnahme wie verordnet. Gehorsam und brav.

Warum rief eigentlich Lasterbalk nicht an und bevormundete ihn ausführlich?

Alea hätte ihn auch selbst anrufen können, doch er verspürte nicht die geringste Lust dazu. Lasterbalk würde mit ihm nicht über Eric reden.

Nun, nein, Lasterbalk nicht. Aber vielleicht jemand anders.

Alea reckte sich auf dem Sofa nach seinem Handy, das auf dem Tisch lag. Er packte es – und griff in leere Luft.

Fuck.

Beim zweiten Mal konzentrierte er sich besser und fasste nicht daneben. Warum fühlte er sich bloß so schlaff? Das musste auch das Medikament sein. Aber besser das als endloses Flennen.

Gut, wen also anrufen? Er staunte, dass ihm die Idee an sich noch nicht früher gekommen war. Er scrollte durch die Kontaktliste und blieb unversehens an Erics Eintrag hängen. Unsicher starrte er auf das Display. Würde irgendjemand den Anruf annehmen, wenn er die Nummer wählte? Seine Frau, sein Sohn, ein Freund?

Nicht. Mach es nicht.

Er machte es. Öffnete den Eintrag –

– und er war leer.

Es war keine Nummer verzeichnet, die er hätte wählen können.
 

18.11 Uhr
 

Alea begriff nicht, wie er Erics Nummer hatte verlieren können. Seit fast fünf Minuten stierte er auf das Handy, grübelnd, wann er sie versehentlich gelöscht haben könnte. Alle anderen waren doch da – oder?

Er öffnete Lasterbalks Eintrag, dann auch noch Bodenskis, weil es die ersten waren, die ihm einfielen.

Alles da.

Er fühlte sich seltsam. Allein und verwirrt. Wie ein siecher Demenz-Patient, der nicht begreifen kann, wo er ist und wozu. Im Moment war er einfach nur.

Erneut von tiefer, unbegreiflicher Trauer ergriffen, legte er das Handy wieder auf den Tisch und ließ sich lang auf das Sofa sinken. Er wusste bereits, dass er wieder hier schlafen würde statt in dem blauen Bett, das für ihn vorbereitet worden war. Es tat ihm Leid, dass er die Mühe nicht wertschätzen konnte. Jetzt gerade tat ihm alles Leid.

So lag er wieder da, blickte geradeaus auf die Jagdszenen an der Wand und wusste nicht, wohin mit all den zerrüttenden Empfindungen.
 

23.03 Uhr
 

Alea fragte sich, wann er sich zum letzten Mal so einsam gefühlt hatte. Das Gefühl der Verlassenheit folgte ihm hinein in den Dämmerschlaf und schließlich auch in den Traum, der sich daraus erhob.

Nicht schon wieder, dachte er, als er die Bäche aus Tränen sah, die er nicht zurückhalten konnte und die kein Ende zu nehmen schienen. Was soll das?

Lasterbalk saß neben ihm und streichelte seine Schulter. Er rieb sie ihm so mitfühlend und zärtlich wie ein Vater seinem Kind und sagte in einer ungewohnt sanften, tröstenden Stimme: »Bitte nicht mehr weinen. Hörst du? Bitte. Wein doch nicht mehr.« Streicheln, Tätscheln, Streicheln.

»Ich kann nicht aufhören … Es tut mir Leid …«

»Ich wusste nicht, dass es so weh tut. Ich wünschte, ich könnte dir helfen.«

Alea schwieg. Er fürchtete, wenn er sich zu sehr bewegte, würde er aufwachen und wieder allein sein. »Geh nicht weg, okay? Bitte.«

»Ich gehe nicht, wenn du weinst. Aber du musst aufhören.«

»Wie?« Er sah zu, wie das Wasser von seiner Nasenspitze tropfte. »Ich hab alles falsch gemacht. Ich bin ein mieser Freund.«

»Hör auf zu weinen.«

Das Streicheln fühlte sich so verdammt realistisch an. Alea schniefte. Der Bach hörte langsam auf zu fließen. »Ich wünschte, ich könnte …« Aber er wusste nicht, was er sagen wollte.

Langsam löste sich der Traum auf; alle Farben tauchten in dämmriges Grau ab. Sehnsüchtig spürte Alea dem Gefühl nach, jemanden bei sich zu haben. Lasterbalk sprach nicht mehr, doch seine Hand streichelte ihn bis zuletzt.
 

23.14 Uhr
 

Während er erwachte, nahm er Abschied von der Nähe seines Freundes. Ein Teil von ihm hatte gehofft, Lasterbalk wäre wirklich da, aber natürlich war er es nicht. Er war nicht nachts einfach ins Haus gekommen, um nach ihm zu sehen. So was machte er nicht. Es war auch albern, sich das zu wünschen, eigentlich, das war Alea vollkommen klar, aber im Traum hatte er sich so allein gefühlt, wirklich wie ein Kind, und es war schwer, dieses Gefühl wieder abzustreifen. Besonders, da er in ein dunkles, fremdes Zimmer blickte, an einem Ort, den er kaum kannte.

Er atmete tief durch und setzte sich auf. Langsam wurde es besser. Keine Spur mehr von Lasterbalk, nur die verblassende Erinnerung an sein Zureden und Streicheln, das in Wirklichkeit nicht gerade typisch für ihn war. Lasterbalk war kein väterlicher Typ; weder streichelte er andere Leute noch sprach er jemals in einem solch liebevollen Ton. Alea begriff, dass sein Unterbewusstsein sich mit diesem Traum selbst Trost gespendet hatte. Er hatte diese Zuwendung benötigt, also hatte er sie geträumt.

Und es hatte funktioniert. Er fühlte sich besser, stärker, auch wenn er wusste, dass er allein war. Diesem Alleinsein konnte er sich jetzt stellen. Er würde das schaffen.

Ich bin keine verdammte Heulsuse.

Er stand auf, wanderte durch den dunklen Raum und betätigte den Lichtschalter an der Wand. Sofort ging die gelbe Lampe an der Decke an und blendete ihn für einen Augenblick. Sobald er alles sehen konnte, fühlte er sich klar. Seine Sinne waren nicht mehr getrübt wie vorhin, sie waren scharf und aktiv.

Und er sah etwas, das er vorher nicht gesehen hatte.

Unter dem Rand des dicken graublauen Plüschteppichs, der großflächig den Fußboden bedeckte, ragte eine Spalte in den Dielen hervor. Eine rechtwinklige Scharte, vielleicht die Ecke einer Bodenklappe.

Alea ging auf die Knie. Den schweren Teppich umzuschlagen war nicht gleich einfach, dann aber machbar, und tatsächlich gingen die schwarzen Linien weiter, verliefen dorthin, wo der Tisch auf dem Teppich stand. Aleas Neugier war geweckt, und er machte sich daran, den Tisch zu verschieben, um den Teppich weiter umklappen zu können. Was er auf diese Weise mit einiger Mühe zum Vorschein brachte, war in der Tat das Erwartete:

Eine Bodenklappe. Eine Falltür.

Und sie ließ sich öffnen.
 

23.39 Uhr
 

Alea hatte keine Taschenlampe, also streckte er den Arm in das quadratische Loch, um das Leuchtdisplay des Handys sein mattes Licht auf die Wände werfen zu lassen. Er konnte eine stabile Stiege sehen und einen Raum, in den sie hinabführte.

Gut. Das sah in Ordnung aus.

Er folgte der massiven Holzleiter, die in der Tat nicht wackelte und sichere Schritte zuließ, hinunter ins Dunkel. Dort entdeckte er mithilfe des Handys schnell einen eigenen Lichtschalter, und als er ihn drückte, sprang das helle Licht mehrerer wattstarker Leuchtstoffröhren an.

Alea stand wie erstarrt.

Er befand sich in einem geräumigen Keller, der weder eng noch niedrig war. Gegenüber zweigte eine geschlossene Tür ab. Der Raum war hell und sauber, dabei größer als erwartet, und noch faszinierender war seine Einrichtung: In der Ecke links gegenüber stand eine Ledercouch, davor ein niedriger Glastisch, beides etwas staubig; an der rechten Seite stand ein großer Schreibtisch, wie er in ein Büro gehörte. Er war leer, doch Staubränder zeigten, wo eine Art Kasten gestanden hatte, sicher der Fuß eines Monitors. Auch der zugehörige Drehstuhl sah modern und gepflegt aus. An der linken Wand, gegenüber dem Schreibtisch, prangte ein Regal – doch vollgestopft war es nicht mit Büchern.

Sondern mit CDs.

Und viele davon erkannte Alea schon aus der Distanz.

Unmittelbar vor ihm, die Mitte des Raumes einnehmend, stand ein leeres Notenpult. Darübergestülpt hing ein Paar Muschelkopfhörer von Sennheiser, deren Anschlusskabel zum Schreibtisch führten und dort ins Leere liefen, da kein Computer da war.

»Was zum Teufel«, hörte Alea sich selbst murmeln, indes er immer noch keinen Muskel rührte.

Er stand in einem einfachen, aber brauchbaren Tonstudio.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich gebe zu, es fiel mir schwer, Alea tatsächlich weinen zu lassen, weil er in so verdammt vielen FanFics geradezu unverhältnismäßig viel flennt und ich das ganz furchtbar finde. Ich meine, das ist ein erwachsener Mann, kein kleines Mädchen … Aber ich sehe ein, man kommt nicht drumherum, wenn man nun mal meint, eine Geschichte schreiben zu müssen, in der er es ihm dreckig geht. (Was erschreckend oft der Fall ist …) Jedenfalls ist das eine Premiere, dass eine Realperson bei mir heult. Ich vermeide das eigentlich. Mäh. Komplett anzeigen

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