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Ein Bett gemacht aus Schweigen

von

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Verirrt

16. Oktober, 00.01 Uhr
 

Ehrfürchtig hatte Alea die Kopfhörer und das Notenpult berührt, wie etwas, das er zum ersten Mal in seinem Leben sah.

Diese Dinge gehörten nicht hierhin. Es war, als hätte er mit der Falltür ein Tor zu einer anderen Welt aufgestoßen. Zu jener Welt, in die er einst gehört hatte. Zu seinem Alltag.

Er verstand nicht. Warum war er hier? All das hatte einen Grund. Es war kein Zufall, dass man ihn hierhergeschickt hatte.

Sein Blick fiel auf das CD-Regal, und er zwang sich, tief durchzuatmen, ehe er langsam darauf zuging. Die allermeisten der Tonträger sagten ihm nichts, doch die oberste Reihe – genau auf seiner Augenhöhe – kannte er umso besser.

Album 1994.

MCMXCV.

Foppt den Dämon.

Bannkreis.

Hochzeit.

Herzblut.

Engelskrieger.

Nord Nord Ost.

Bastard.

Kreuzfeuer.

Schwarz in Schwarz.

Mitgift.

Es fehlte kein einziges Studioalbum von Subway To Sally.

Wie ergeben glitt Aleas Blick zur weißen Zimmerdecke. Was wollt ihr von mir? Er konnte kaum denken in diesem Moment. Nichts schien plötzlich mehr einen Sinn zu ergeben.

Wie in Trance nahm er das Handy zur Hand und bediente es, fast ohne hinzusehen.

Geh ran, bat er inständig, nachdem er Lasterbalk angewählt hatte.

Das Freizeichen erklang viele Male. Alea wartete. Er wusste, dass Lasterbalk sein Handy nachts nicht ausmachte, wie es die meisten Leute tun würden. Nein, er wollte immer und überall erreichbar sein.

Geh schon ran.

Endlich wurde abgenommen. »Ja?«, meldete sich Lasterbalk nicht gerade überfreundlich. »Sorry, war grad im Bad, wollte jetzt ins Bett gehen. Was ist denn los?«

»Was zur Hölle ist das hier für ein Haus, in dem ich bin?« Alea verlor keine Zeit mit Beschwichtigungsversuchen.

Lasterbalk sagte nichts, und Alea fragte sich, ob sein Schweigen ertappt klang.

»Ich hab unter dem Teppich einen Keller gefunden – mit einem Tonstudio!«, fuhr er fort. »Und es sind alle Alben von Subway da! Kann sein, dass ich gerade durcheinander bin, aber … Damit stimmt doch irgendwas nicht!«

Lasterbalk stritt das nicht ab. Nüchtern erwiderte er: »Du hast Recht. Damit stimmt was nicht.«

»Kannst du mir erklären, was ich hier soll? Was ich hier wirklich soll?«

»Nicht richtig.« Lasterbalk wand sich. »Es ist schwierig. Ich kann dir nur wieder raten –«

»Oh, ich weiß schon: Ich soll dir vertrauen.«

»Genau.« Er seufzte. »Ich weiß, das ist unbefriedigend, aber …«

»Sag mir wenigstens etwas! Irgendwas, damit ich weiß, was ich zu tun habe!«

»Na schön. Ich komm dich besuchen. Morgen Vormittag. Wollen wir zusammen kochen? Haben wir lange nicht mehr gemacht.«

Das Unterhaltungsprogramm war Alea herzlich egal. »Von mir aus. Ich hab ein paar Sachen hier, aber nichts Ausgefallenes.«

»Ich weiß, was du da hast.«

Das hatte Alea sich schon gedacht.

»Also gedulde dich bis morgen. Mach keinen Quatsch, okay?«

»Nein.« Was auch immer mit ›Quatsch‹ gemeint war.

»Ich geh jetzt schlafen. Gute Nacht.«

Alea murmelte seinerseits einen letzten Gruß und beendete das Gespräch. Erstaunlich, dass er hier unten überhaupt Empfang gehabt hatte.
 

00.22 Uhr
 

Alea nahm die CDs von Subway To Sally alle mit nach oben ins Wohnzimmer und breitete sie auf dem Tisch aus. Die älteren wiesen Kratzspuren auf, sowohl die Plastikhüllen als auch die Tonträger selbst, aber keine schien ernstlich beschädigt zu sein.

Nach einer Weile hatte er sich endlich zu dem Entschluss durchgerungen, sich eine anzuhören. Egal welche, es ging nur darum, Erics Stimme zu hören und sich damit auseinander zu setzen, dass es sie nicht mehr gab, genau wie es die Band schon bald nicht mehr geben würde. Alea spürte das Bedürfnis, sich diese Tatsache, den Verlust, zu vergegenwärtigen – und sich gleichzeitig der schönen Zeiten zu entsinnen, die Saltatio Mortis und Subway To Sally wie eine große Familie zusammen verbracht hatten. Er wollte diese Vergangenheit noch einmal aufleben lassen und sich danach zurücksehnen. Es würde heilsam sein. Ganz bestimmt.

Doch schon das erste Omen traf ihn. Die CD, die er zufällig aus dem Stapel zog, war Mitgift. Ein Album, das nur von Morden und Grausamkeiten handelte. Sofort, ohne dass er irgendetwas dagegen tun konnte, spielte sich ein Kehrreim in seinem Kopf ab, deformiert und widerwärtig:

Armer, armer Eric Fish,

Ein Schuss ins Herz, und du warst tot.

Armer, armer Eric Fish,

Sie fanden dich im Morgenrot …

Aleas Hand wurde zur Faust und ließ die Plastikhülle des Tonträgers scharf knacken.

Nein. Fuck. Lass das, du Arsch!

Er stopfte sie grob wieder in den schiefen Turm aus CDs, der dabei bedrohlich schwankte, und war froh, das Cover nicht mehr sehen zu müssen. Nein, er würde nicht diese CD hören. Jede andere, aber nicht diese.

Also griff er einfach nach der obersten. Jede außer Mitgift war in Ordnung. Diese andere würde er jetzt hören.

Als er endlich drauf und dran war, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen, musste er enttäuscht feststellen, dass es keine Stereo-Anlage gab. Nichts, kein Gerät, mit dem man eine CD oder auch nur eine Kassette hätte abspielen können.

Fuck, dachte er bitter, ich hab mich mal wieder nur selbst verarscht. Hätte es mir irgendwas gebracht, ihn singen zu hören? Ich hätte nur wieder geflennt. Das ist doch alles Scheiße! Der ganze Mist wird NIE wieder gut werden!

Er ließ die CD – es war Herzblut – ziemlich unsanft zurück zu den anderen auf den Tisch fallen. Dann saß er wieder auf seinem Sofa und starrte dumpf vor sich hin.

Irgendwann, eine gefühlte Ewigkeit später, zog er sich geistesabwesend um und rollte sich mit der blaubezogenen Bettdecke aus der Schlafkammer, die er sich zu nutzen weigerte, auf der Couch zusammen.
 

07.16 Uhr
 

Der Morgen war grau und trüb.

Wieder fühlte Alea sich seltsam losgelöst von seinem Körper, als er sich von der unbequemen Unterlage aufrappelte. Vielleicht sollte er sich doch auf das Bett einlassen. Er wusste selbst nicht, warum er sich ausschließlich im Wohnzimmer aufhielt.

Ruhe fand er jetzt nicht mehr, es gab zu viel, das ihn verwirrte. Lasterbalk musste Antworten liefern, er musste.

Sonst werde ich noch verrückt. Warum hab ich nicht darauf bestanden, dass er schon zum Frühstück kommt?

Falls sein Freund weiterhin so vornehm die Klappe hielt, würde er zum Nachbarhaus gehen. Das hatte er bereits beschlossen. Er würde die Anweisung missachten, keinen Kontakt zu anderen zu suchen, und würde die alte Dame – sie war ja die Besitzerin des Hauses, in dem er wohnte – fragen, was es mit dem Tonstudio auf sich hatte. Wem auch immer es gehörte, war offenbar ein Fan von Subway To Sally, und sicher nicht nur, weil sie aus Brandenburg kamen.

Nach dem üblichen morgendlichen Ritual, das ihm heute schon bedeutend leichter fiel als am Tag zuvor und zu dem diesmal auch notwendigerweise das Rasieren gehörte, trat Alea nach draußen in den sehr kalten und nebligen Vorgarten, um die Brötchen von der Türschwelle zu holen. Wieder waren es drei, die gleichen wie gestern. Er dachte daran, die Tablette zu nehmen, und fragte sich, ob sie ihn heute wieder so benebeln würde. Vielleicht war es ganz gut so, wenn er wieder lahm und grüblerisch wurde.

Nach dem Frühstück jedoch wurde er zunächst noch unruhiger. Es gab praktisch nichts, das er hier tun konnte, um sich die Zeit zu vertreiben – dafür war gründlich gesorgt worden. Keine Bücher, kein Fernseher, so gut wie keine anderen technischen Geräte.

Er sollte hier wirklich ganz und gar auf sich selbst zurückfallen und in seinem eigenen Saft köcheln, bis …

… Ja, bis was eigentlich? Bis Lasterbalk ihn für geheilt befand? Hör doch bitte auf zu weinen. Ja, natürlich. Wie musste Alea sich wohl verhalten, damit die anderen sagten: ›Okay, du hast lange genug in diesem Loch gehockt, du darfst wieder unter Menschen‹? Fröhlich lachend herumspringen? Sich beklagen, dass es langweilig war?

Er hätte versuchen können, zu so etwas wie Alltag zurückzukehren. Da wären etwa seine Übungen, für die er keine Hilfsmittel brauchte. Doch er hatte nicht einmal daran gedacht. Dafür, das wurde ihm jetzt bewusst, stand er noch immer zu sehr neben sich. Er war im Moment nicht dieser Mensch.
 

Here I am, on the road again

Here I am, up on stage

There I go, playing star again

There I go to turn the page

– Eric Fish – Turn the Page (Bob Seger Cover)
 

10.17 Uhr
 

Bleiche Sonnenstrahlen fielen durch das Wolkennetz, doch sie waren nicht stark genug, die Erde zu wärmen. Alea spürte den feuchten und kühlen Wind auf seinen nackten Armen, als er zum zweiten Mal seit seiner Ankunft die Hintertür zum Garten öffnete.

Der Apfelbaum grüßte ihn mit sachtem Rauschen seiner Blätter, als die Finger einer zarten Bö hineingriffen und damit spielten. Alea schaute den Baum hinauf. Er war demjenigen in Erics Garten nicht unähnlich, mit knorrigen und krummen Ästen, die man gut erklettern konnte. Wehmütig erinnerte Alea sich an den goldenen Herbsttag, an dem er das Gehölz erklommen hatte, um die Äpfel zu ernten, weil Eric keine Lust dazu hatte. Es war ein ziemlicher Balanceakt gewesen, sich auch nach den dünneren Ästen zu recken, um alle Früchte irgendwie zu erreichen, doch Körperbeherrschung war kein Problem für ihn; er war darin geschult, sich im Gleichgewicht zu bewegen, und nur kleineren Ungeschicklichkeiten und seinem eigenen Gewicht war es zuzuschreiben, dass recht viele Äpfel ihren Weg zur Erde fanden, ohne dass er sie erhascht hätte.

Aber der Lohn war die Mühe wert gewesen. Frische, ungespritzte Äpfel, die man sich selbst erarbeitet hatte und in die man einfach so hineinbeißen konnte. Sie waren herrlich würzig und säuerlich, ganz anders als die fad schmeckenden, hochglänzenden Exemplare aus dem Supermarkt.

Er könnte herausfinden, ob diese Äpfel hier auch so schmeckten. Sie lagerten im Schuppen, nur wenige Schritte weiter. Dicht an dicht. Vermutlich hatte niemand etwas dagegen, wenn er sich einen nahm. Was wollte die alte Dame schon mit so vielen Äpfeln anfangen? Backen? Einkochen? Als Futter zu einem Bauernhof bringen? Letzteres hatte Eric mit den heruntergefallenen meistens gemacht.

Alea wollte gerade losgehen, als ihm wieder ein Bild in den Kopf schoss, das ihn zum Innehalten zwang.

Jenes Bild.

Eric auf dem Boden. Er lag halb auf dem Bauch, und plötzlich streckte er eine Hand aus – sie schoss vor wie eine Speikobra, knapp über dem Boden, um verzweifelt irgendetwas zu packen.

Etwa Aleas Knöchel.

Rasch machte er einen taumelnden Schritt zurück.

»Nein!«, sagte er laut. »Das – ist – nicht – passiert!«

Verdammt noch mal, was sollte denn das? Diese Nebenwirkung wurde langsam wirklich gruselig. Wenn das so weiterging, würde er die Pillen absetzen, scheißegal, was Lasterbalk darüber dachte. Alea hatte nicht vor, sich wegen solcher medikamenteninduzierter Verarbeitungsfehler seines Gehirns verrückt zu machen. Das brauchte er jetzt wirklich nicht!

Unwillig machte er kehrt und ging zurück zum Haus, ohne nach den Äpfeln zu sehen. Keine Lust mehr. Heute sollte aber auch gar nichts gutgehen: keine Musik, keine Äpfel. Fehlte nur noch, dass Lasterbalk auch nicht kam.
 

11.02 Uhr
 

Lasterbalk kam. Alea hörte sein Auto heranfahren und auch, wie es vor dem Haus abgestellt wurde. Daraufhin öffnete er die Haustür und blieb ungeduldig auf der Türschwelle stehen.

Lasterbalk kam herauf, packte ihn an der Schulter und zog ihn in eine knappe, beinahe linkische Umarmung, ehe er ihn wieder von sich wegschob.

»Und?«, fragte er. »Wie geht’s dir heute?«

»Läuft«, antwortete Alea spröde. Er hatte sein Kapuzen-Sweatshirt wieder angezogen, weil er nicht unnötig heizen wollte, und stellte fest, dass sein Freund das offenbar geahnt hatte, denn auch er trug eine langärmlige Strickjacke. »Komm rein.«

»Hast dich ja richtig breitgemacht«, kommentierte Lasterbalk ironisch den Umstand, dass Alea rein gar nichts ausgepackt hatte. »Gefällt dir hier wohl nicht.«

Alea setzte sich auf das Sofa, wofür er zunächst die zurückgeschlagene Bettdecke beiseite schob, die er aus dem Schlafzimmer angeschleppt hatte, und kreuzte die Arme vor der Brust. »Wir sind nicht zum Labern hier.«

»Stimmt«, stellte Lasterbalk fest und ging dann geschickt darüber hinweg, dass er genau wusste, was Alea wirklich von ihm wollte: »Wir sind zum Kochen hier. Ich hab gedacht, wir machen uns Zanderfilet auf Gemüsebett. Dazu kann man prima diese kleinen Kartoffelbällchen, die man mit einem Löffel aus der fast garen –«

»Hey

Alea war lauter geworden als beabsichtigt. Tatsächlich hatte er fast geschrien.

Lasterbalk war verstummt, sah aber nur einen kurzen Augenblick verblüfft aus; dann bedachte er seinen Freund mit einem forschenden Blick. »Du wirkst ganz schön instabil.«

»Hör auf mit dem Scheiß. Ich will nichts davon hören, nichts, okay? Du wolltest mit mir über Eric reden.«

Lasterbalk ließ die Schultern fallen. »Herrgott, wie oft denn noch? Wir können nicht über –«

»Warum denn bitte nicht? Ist es dir lästig? Ich hab nicht das Gefühl, dass du trauerst. Du siehst nicht so aus, als wärst du so im Arsch wie ich. Zumindest bist du nicht auf Drogen.«

Lasterbalk machte noch immer keine Anstalten, sich neben ihn zu setzen, sondern nahm nun eine noch abweisendere Haltung ein. »Jetzt wirst du aber wirklich unfair. Das alles hier passiert, um dir zu helfen

»Es würde mir helfen, wenn mir jemand sagen würde, was Sache ist. Muss ich dir das Tonstudio erst zeigen? Du wusstest doch, dass es hier ist, oder nicht?« Lasterbalk zögerte, und Alea deutete dieses Zögern richtig. »Ja, natürlich wusstest du es. Und dass die Besitzer offenbar Fans von Subway sind –«

»Ja«, fiel der große Mann ihm endlich ungehalten ins Wort, »ja, du hast Recht. Glückwunsch. Es ist Absicht, dass du hier bist. Könnten wir es dabei belassen? Der Fisch ist auf der Fahrt schon halb aufgetaut –«

Alea packte die CD, die auf dem Tisch ganz oben lag, und schleuderte sie aufgebracht gegen die Wand. Lasterbalk zuckte zusammen. Die Hülle blieb aufgeschlagen liegen, die CD ein Stück daneben, ihre bunt glänzende Unterseite zeigte nach oben.

»Es gibt gerade nur einen verfickten Fisch, der mich interessiert«, zischte Alea, »und du weißt es! Warum haltet ihr irgendwas vor mir geheim? Eric ist tot, verdammt noch mal, wieso ist das allen egal, wieso starrt ihr mich an, bringt mich in diese Einöde, versucht krampfhaft, nicht drüber zu reden, während ich mich hier offenbar in meinem Kummer wälzen soll, bis ich bekloppt werde?!« Er sprang auf die Füße, stand nun genau vor Lasterbalk und machte sich groß, um ihm fest in die Augen sehen zu können. »Du kannst dir dein ganzes Psychogequatsche sparen! Ich steige aus, sofort, wenn du mir nicht auf der Stelle sagst, wozu ich hier bin! Sag es, oder ich –!«

Und jetzt reagierte Lasterbalk.

Er packte Alea hart am Kragen und zog ihn zu sich. »Begreifst du es denn nicht?«, knurrte er. »Immer noch nicht? Niemand kann hier irgendwas für dich tun, niemand außer dir selbst!« Dann ließ er ihn los, wandte sich mit einem gequälten Seufzen ab und begann sich die Schläfen zu massieren. »Oh Mann. Tut mir Leid.«

Alea war völlig perplex. Sein Halsansatz schmerzte, wo der Stoff hineingedrückt hatte, aber er nahm es kaum wahr. »Was soll das heißen?«

»Ach, nichts. Vergiss es einfach. Bitte.« Als Lasterbalk ihn wieder ansah, glitzerten Tränen in seinen Augen. »Du bist eben doch nicht der Einzige, den das hier mitnimmt.«

Schuldbewusst wich Alea vor ihm zurück. »Das wollte ich nicht.«

»Ich doch auch nicht. Passiert. Wir sind alle in einer Krise, im Moment. Aber du besonders. Und du musst mir einfach glauben, dass nur du dir da raushelfen kannst. Wir haben dir die idealen Umstände geschaffen … den Rest musst du selber hinkriegen.«

Alea sah zu, wie Lasterbalk sich energisch die Nässe aus den Augen wischte. Dann sagte er leise: »Ich seh immer wieder Bilder.«

»Von Eric?«

Alea nickte.

»Das wird noch eine Weile so bleiben.« Es klang unsicher, als wüsste Lasterbalk nicht, was er dazu sagen sollte. »Aber es ist … auf jeden Fall kein schlechtes Zeichen.« Er blinzelte, um sich zu vergewissern, dass seine Augen wieder trocken waren. »Nimmst du die Tabletten?«

»Ja, klar.«

»Gut.« Lasterbalk nickte, wie zu sich selbst, dann musterte er ihn wieder prüfend. »Hast du geweint?«

Die Frage überraschte Alea. »Nein«, log er.

»Gar nicht? Seit du hier bist?«

»Nein.« Es war räudig, so zu lügen, aber aus irgendeinem Grund wollte Alea vor Lasterbalk nicht zugeben, dass er fast zwei Drittel des ersten Tages nur geheult hatte. »Ging irgendwie ohne.«

»Ah, okay. Ich meine, es gibt verschiedene Arten der Trauerbewältigung. Aber … eigentlich bist du immer der Wein-Typ gewesen.«

»Hör doch bitte mal auf, mich zu analysieren«, sagte Alea matt.

»Ja, natürlich. Sorry.«

Jetzt endlich kam Lasterbalk zum Sofa und setzte sich, und auch Alea ließ sich wieder darauf sinken, und so saßen sie eine Zeitlang schweigend nebeneinander.
 

13.31 Uhr
 

Am Ende kochten sie nicht.

Nachdem sie eine Weile lang nichts anderes getan hatten, als stumm auf der Couch zu sitzen, hatte Lasterbalk zögerlich begonnen, von den anderen zu berichten. Fast jeder war zu Hause bei seiner Familie und bewältigte die schwierige Zeit dort in Ruhe und fern vom Trubel der Musikszene. Letztere war aufgewühlt; Erics Tod war ein großes Thema in Internetforen und Online-Magazinen, auch der Wikipedia-Eintrag war bereits angepasst und um die jüngsten Informationen ergänzt worden. Dazu gehörte auch, dass Subway To Sally in der Tat ihre Auflösung planten.

»In anderen Bands wäre das vielleicht gegangen«, sagte Lasterbalk. »Es ist ja schon oft mal ein Musiker gestorben, dann wurde der nach einer gewissen Trauerzeit halt ersetzt. Klar kann man theoretisch auch einen neuen Sänger suchen. Aber Fakt ist, dass Eric einfach schon zu lange bei Subway war und zu tief mit drinnen steckte. Ohne ihn kann es eben nicht weitergehen wie vorher, und Bodenski und die anderen haben auch gar keine Lust darauf. Ist eben nicht mehr Subway ohne Erics markante Stimme. War ja ein Wiedererkennungsmerkmal von denen.«

Unglücklich wälzte Alea diese schwermütigen Gedanken im Kopf umher. Er wusste, dass nicht nur er, sondern viele, viele, viele Menschen um Eric trauerten, und ein kleines bisschen tröstete ihn diese Gewissheit. Eric würde von Millionen vermisst werden.

»Es ist so krass, dass es dazu kommen konnte«, fuhr Lasterbalk leise fort. »Ich meine, die Entfernung war so klein …«

Alea horchte auf. Ohne dazu aufgefordert zu sein, sprach sein Freund jetzt über genau das Thema, das er bis jetzt vehement abgelehnt hatte.

»Der Schuss ging glatt durch das Herz, weißt du. Die Schussdistanz war so gering, dass sie nicht mal sicher sagen können, ob von vorne oder von hinten. Es war wohl einfach ein … so großes Loch …« Wieder hob Lasterbalk die Hand, um sich die Augen zu reiben. »Ich höre im Moment von nix anderem. Meine Freunde bei der Polizei versuchen jetzt, mich auf dem Laufenden zu halten, und ich hör mir diese Scheiße jeden Tag an. Ohne dass es was Neues gibt.«

»Und der einzige Hinweis auf den Mörder …«

»Na, die Entfernung. Das ist alles. Eric muss den Typen gut gekannt haben, und wir wahrscheinlich auch – wie sollte er sonst so dicht an Eric rankommen? Das ist das wirklich Grauenhafte, das Perfide, das Widerliche daran. Wir suchen nach jemandem, den wir kennen

Alea merkte, dass er fror. Vorsichtig zog er seine Hände in die Ärmel des Sweaters zurück. »Es waren so viele Leute da.«

»Eben. Und keiner fehlte hinterher.«

»Wenn den Täter alle kannten …«

»Wahrscheinlich war es jemand wirklich Enges. Jemand, der bei allen Subway-Produktionen dabei war, jemand, bei dem keiner so was in der Art vermuten würde. Ist der Gedanke nicht widerwärtig?«

Alea konnte nur schlucken. Ihm war richtig übel geworden. In seinem Hals kratzte es. »Du … Ich glaube, wir kochen heute besser nicht mehr.«

»Hmmm, ich hab’s mir fast gedacht. Gut, dann mach ich mir das Zeug zu Hause fertig und tu was für morgen zurück. Kommst du denn klar?«

»Schlimmer als bisher wird es nicht mehr, glaub ich.«

»Okay. Wir telefonieren. Bitte sei nicht böse wegen vorhin.«

»Nein. Du auch nicht.«

Lasterbalk erhob sich schwungvoll von der Couch und streckte sich. »Gut, ich … werd dann mal wieder fahren.«

»Grüß die anderen von mir«, bat Alea. »Sag ihnen, mir geht’s gut und ich pack das.«

»Prima. Mache ich.«

Sie gingen gemeinsam zur Tür. Die Sonne stand bereits schräg am Himmel, aber immerhin hatten sich die dräuenden Wolken weitgehend verzogen.

Lasterbalk umarmte Alea fester als bei seiner Ankunft und ehrlich liebevoll. Einen Moment lang ließ Alea die Wange an seiner Brust liegen, dann hob er den Blick und rang sich ein schwaches Lächeln ab.

»Ich bin froh, dass du da warst.«

»Dito. Dann sieh mal zu, dass du wieder ein bisschen zur Ruhe kommst.«

Lasterbalk wandte sich um und ging zum Auto, und nachdem er in diesem verschwunden war, fuhr es los und wurde auf der Straße, die aus Köthen hinausführte, immer kleiner.
 

14.50 Uhr
 

Die Übelkeit wurde nur langsam besser. Alea fragte sich, welche der vielen Neuigkeiten ihm so arg auf den Magen geschlagen war, und hatte schnell einen Verdacht:

Er muss ihn gut gekannt haben. Und wir auch. Jemand richtig Enges, der bei allen Subway-Produktionen dabei war.

Sämtliche Subway-Produktionen lagen noch immer auf dem Tisch neben dem Sofa, bis auf Herzblut, die Alea in seinem Zornausbruch an die Wand geworfen hatte. Das bereute er jetzt. Allein der Titel – Herzblut. Davon war bei Erics Ermordung eine Menge vergossen worden. Eine tödliche Menge.

Er muss ihn gut gekannt haben.

Alea bückte sich und hob die CD auf, und seine Finger waren so schlaff, dass er sie fast nicht festhalten konnte.

Herzblut.

Rot auf Weiß.

Das Blut sickerte auf den hellen Boden, breitete sich lautlos aus, ein tiefroter, warmer Fleck. Er hörte Erics Keuchen. Sah, wie er die Hand ausstreckte, blitzartig, um sich an ihm festzuhalten.

Alea zuckte zusammen und ließ die CD fallen. Sie schlug kaum hörbar auf dem Teppich auf.

Gott, Eric sah so verwirrt aus. Seine Augen waren schreckgeweitet, verständnislos, fixierten Alea mit aufgeregt zuckenden Iriden. Hinter ihm war der Raum hell erleuchtet, jeder Umriss war klar zu erkennen, und beinahe überrealistisch grell leuchtete das Rot, das unter Eric hervorquoll …

Nein. Nein. Hör auf. HÖR AUF!

Alea ließ die CD liegen, wo sie war, drehte um und sprang auf das Sofa.

Ich will davon nichts sehen. Nichts nichts nichts NICHTS!

Heftig atmend presste er sich die Hände auf die Augen. Nahmen diese Halluzinationen denn gar kein Ende? Das konnte doch nicht gesund sein!

Dieser verfickte Scheiß wird mich noch wahnsinnig machen …

Er zitterte jetzt, weil ihm wirklich kalt war. Sein Schweiß verdunstete an der Luft und ließ ihn frösteln. Rasch griff er neben sich, zog sich wieder das Sweatshirt über. Gott, was für eine Scheiße. Er musste unbedingt wieder runterkommen.

Fest auf eine langsame und tiefe Atmung konzentriert, gewann er allmählich seine Fassung zurück, und schließlich nahm er die Hände von den Augen und sah sich im Zimmer um, das düster, milchig und verschwommen wirkte.

Alles gut … Das ist nicht passiert.

Plötzlich durchschnitt ein Geräusch die Stille und ließ ihn zusammenfahren.

Sein Handy. Da wollte jemand mit ihm reden. Wer denn, wenn nicht Lasterbalk? Wer wusste denn nicht, dass er hier war?

Noch immer unruhig hob er das Gerät ans Ohr. »Ja?«

»Hallo, ich bin’s nur. Der Thorsten.«

Alea entspannte sich. Das war Thorsten Raeth, der gewissermaßen zur Crew von Subway To Sally gehörte. Seine Funktion war irgendwie, das Mädchen für alles zu sein und ihnen Dinge hinterherzutragen, die keiner machen wollte. Alle kannten ihn, zwar nicht besonders gut, aber es war klar, dass er über die Jahre immer loyal und fleißig gewesen war. Er hing einfach irgendwie mit drin.

»Tut mir echt Leid, dass ich dich jetzt mit was belästigen muss«, fuhr Thorsten fort, Aleas Schweigen missdeutend, »aber du kanntest Eric in vielen Dingen besser als ich, und, naja, ich will jetzt nicht die Großen nerven, die haben echt genug um die Ohren.« Mit ›die Großen‹ meinte er Subway.

»Schon gut«, antwortete Alea milde. »Worum geht’s?«

»Um so ’ne Nachlasssache.« Das Thema war dem Mann sichtbar unangenehm. »Eric hat natürlich kein Testament gemacht, deshalb wird gerade privat geklärt, wie mit dem ganzen Zeug, das der arme Kerl so hier und da gesammelt hat, verfahren werden soll. Oh, Mann. Sorry. Ich bin auch noch voll neben mir. Geht’s dir gut?«

»Es geht so.« Irgendwie tat es Alea gut zu hören, dass auch andere wegen des Geschehenen litten. »Du willst jetzt also meine Beratung bei … manchen Sachen?«

»Ja, genau. So ein … Vorsortieren. Ich weiß auch nicht, wieso ich immer ›Hier!‹ schreie, wenn’s so unangenehme Sachen zu tun gibt.«

»Genau deshalb bist du aber verdammt nützlich«, sagte Alea in aufmunterndem Ton. »Jede Band braucht eigentlich so jemanden wie dich. Also, pass auf, falls ich irgendwo hinkommen soll: Ich kann hier gerade nicht weg. Ich bin in Köthen, einem Vorort von Märkisch Buchholz – Kaff im Kreis Spreewald – und mache hier eine … Kur.«

»Ah … okay.« Thorsten ahnte wohl, dass es besser war, nicht nachzuhaken. »Gut, dann will ich dich da nicht stören. Machen wir das ein andermal.«

»Das wär besser, ja.«

»Ich hab leider noch was Unangenehmes für dich.« Der andere gab ein kurzes gequältes Lachen von sich. »Also, da brauche ich jetzt nicht zu heucheln, wir sind uns wohl einig, dass das unangenehm ist: Du sollst Hubi anrufen. Frag mich nicht, wegen was.«

»Oh.« Auch das noch. »Hat sicher auch mit Eric zu tun.«

»Na, die will bestimmt nicht fragen, wie’s dir geht.«

»Ich kümmere mich drum. Immerhin ein bisschen was zu tun. Halt die Ohren steif, Thorsten.«

»Du auch. Gute Besserung auf deiner Kur.«

Sie verabschiedeten sich, und danach begann Alea missgestimmt, im Nummernspeicher nach Hubi zu suchen.

Hubi hörte auf den wenig klangvollen Namen Huberta Dralle, war Anfang fünfzig und betreute Subway To Sally beim Plattenlabel Universal. Sie war bekannt für ihren außerordentlichen Geschäftssinn und ihre Taktlosigkeit. Im Grunde war sie nicht wirklich unfreundlich, nur immer sehr frei heraus, und sie vertrat die Interessen ihrer Firma äußerst gewissenhaft. Echte Gefühlsregungen zeigte sie selten, dafür war sie nicht der Typ; sie war durch und durch ein Businessmensch. Und ja, Thorsten hatte ganz Recht, wenn er vermutete, dass sie nicht mit Alea sprechen wollte, um ihn zu trösten.

Bringen wir’s hinter uns, dachte Alea und wählte die Nummer.

»Dralle«, meldete sich Hubis energische Stimme fast sofort.

»Ich bin’s, Sänger von SaMo. Du wolltest was von mir.«

»Richtig, richtig«, antwortete sie geschäftig, und er hörte ein Papier rascheln. »Erst mal: mein Beleid. Wir sind alle erschüttert. Damit hat wohl niemand gerechnet.« Es klang sachlich wie immer, aber wenigstens sagte sie überhaupt etwas Höfliches. »Naja, du kannst dir denken, dass es nicht nur darum geht. Eric hat sich einen ziemlich ungünstigen Zeitpunkt ausgesucht, um zu sterben.«

»Oh, wirklich.«

»Subway hatten viel vor im nächsten Jahr. Wir müssen eine ganze Menge Pläne über den Haufen werfen. Hier geht’s drunter und drüber, sag ich dir.«

»Schon klar. Was willst du von mir?«

»Deine Zuarbeit. Bodenksi und seine Truppe haben gerade keine Lust, sich mit der Zukunft der Band auseinander zu setzen. Siehst du, einfach Auflösen wird nicht gehen, der Vertrag ist da ziemlich eindeutig. Ich will jetzt nicht taktlos erscheinen, aber das ist nun mal Fakt: Wir müssen uns zusammensetzen, und zwar bald.«

»Hubi …« Alea unterdrückte ein schweres Seufzen. »Bist du sicher, dass das nicht warten kann, bis Eric unter der Erde ist?«

»Leider sieht es so aus, als würde er nicht so bald unter die Erde kommen.«

»Was? Ich denke, die Gerichtsmedizin hat die L– … hat ihn freigegeben.«

»Oh nein, mein Lieber. Unser Eric liegt immer noch bei denen in irgendeinem Kühlfach.« Ungeduldig begann sie, mit ihrem Kugelschreiber zu klicken. »Kannst du Bodenski vielleicht mal daran erinnern, dass er mit mir reden soll? Er geht nicht mehr ran, wenn ich anrufe.«

»Überrascht mich irgendwie nicht.« Immerhin konnte man ehrlich zu ihr sein, daran war sie gewöhnt.

»Ja, ich weiß, ich bin jetzt die Böse, die mit dem Geschäft nervt. Aber das ist nun mal mein Job. Tu mir den Gefallen und rede ihm gut zu, damit er seinen Hintern in Bewegung setzt. So schlimm es auch ist, die Welt dreht sich noch und wir müssen sehen, wie’s weitergeht.«

Alea zögerte. »Ich kann nichts versprechen.«

»Versprich mir, dass du mal mit ihm redest.«

»Na schön.«

»Ich danke dir. Erhol dich gut. Bis die Tage.«

Klick.

Mit einem Stirnrunzeln ließ Alea das Handy neben sich aufs Polster fallen. Da hatte ihn der Alltag plötzlich wieder schneller am Wickel als erwartet. Aber eine Unstimmigkeit galt es da noch zu klären – und das musste sofort sein.
 

16.36 Uhr
 

»Na, du hast es ja nicht lange ohne mich ausgehalten«, begrüßte ihn Lasterbalk in neckendem Ton. Viel zu gut gelaunt, fand Alea.

»Ich hab ’ne halbe Stunde versucht, dich zu erreichen.«

»Ich war einkaufen. Was gibt’s denn?«

»Warum hast du mir erzählt, Eric wäre zur Bestattung freigegeben, wenn das gar nicht stimmt?«

Der andere schwieg überrascht. »Ähm … Ist er nicht?«

»Behaupte nicht, du hättest es nicht gewusst! Was soll das? Hast du mir das erzählt, damit ich die Klappe halte?«

Wieder antwortete Lasterbalk nicht sofort. »Also, wie kommst du überhaupt darauf, dass Eric noch in der Forensik ist?«

»Hubi hat mir das gesagt.«

»Hubi? Wieso hast du mit der geredet?«

»Ich kann reden, mit wem ich will«, entgegnete Alea trotzig. Dann erklärte er ruhiger: »Thorsten hat mich angerufen …«

»Wer?«

»Thorsten Raeth.«

»Ach, der. Und?«

»Wollte irgendwas wegen Erics Nachlass besprechen, aber ich hab ihm gesagt, wo ich bin und dass das warten muss. Dann sollte ich noch Hubi anrufen.«

»Und was hat die so geblubbert?«

»Patziger Ton wie immer. Als wäre ich an allem Schuld. Und dann wollte sie ernsthaft, dass ich den Rest von Subway dazu bringe, mit ihr über den laufenden Vertrag zu reden.«

»Dumme Nuss. Dabei sollte die sich denken können, wie scheiße es dir geht. Wahrscheinlich hat sie jetzt Stress von oben, weil Subway künftig nix mehr abwerfen. Wenn’s um Geld geht, hört die Freundschaft bekanntlich auf.«

»Das muss sie aber nicht auf mich abwälzen, ich hab Eric nicht auf dem Gewissen.« Alea knirschte mit den Zähnen und atmete tief durch. »Zurück zum eigentlichen Thema. Wieso hast du mich angelogen?«

»Oh je.« Lasterbalk sprach sanft, als er zugab: »Um dich zu beruhigen. Damit du aufhörst zu fragen, ja. Es war besser so.«

Ich hab’s geahnt. »Oh, super. Bodenski hat das auch noch bestätigt, als wir auf der Wache waren. Ihr steckt unter einer Decke, oder?«

»Tun wir das jemals nicht?«

»Gibt’s sonst noch Lügen, von denen ich wissen sollte?«

»Nein.«

»Schwörst du das?«

»Ja. Bei meiner Ehre.«

Alea ließ den angehaltenen Atem langsam entweichen. »Gut. Aber … Eins muss ich noch wissen.«

»Und was?« Lasterbalk wartete.

»Die Tabletten. Haben die Nebenwirkungen?«

»Oh … Nun … manchmal, ja, ein bisschen. Beobachtest du welche an dir?«

»Ich hab Hallus.«

»Soso. Stimmen, Geräusche?«

»Bilder.«

»Ah. Das kommt vor. Du bist in einer Phase, in der du viel verarbeiten musst. Dein Unterbewusstsein ist wie ein aufgewühlter Tümpel, an dem Dinge, die auf dem Boden liegen, hin und wieder an die Oberfläche treiben. Die Tabletten machen, dass du das sehen kannst. Weiter ist das nichts. Nichts Schlimmes.«

»Und wenn …« Alea ertappte sich dabei, wie er seine Unterlippe zwischen die Zähne klemmte. »… wenn mir mein Unterbewusstsein damit irgendwas … sagen will?«

Lasterbalk dachte darüber nach. »Hast du denn eine Idee, was das sein könnte?«

»Nicht so richtig.«

»Dann würde ich mich deshalb nicht verrückt machen.« Er klang vorsichtig, als wäre er auf der Hut, etwas Falsches zu sagen. Alea erkannte das, auch ohne sein Mienenspiel zu sehen. »Beobachte es einfach und finde raus, wo es herkommt. Es ist jedenfalls nichts Gefährliches.«

»Okay …«

»Denk in Ruhe drüber nach. Ich muss jetzt erst mal weitermachen. Wir reden morgen wieder, ja?«

»Hmmm.«
 

18.05 Uhr
 

Unschlüssig machte Alea sich etwas zum Abendbrot und nahm danach die Tablette. Lasterbalk hatte ihm indirekt geraten, er solle sich die Bilder in seinem Kopf genauer ansehen. Was es mit Erics Sterbeszene auf sich hatte, leuchtete ihm im Grunde ein – Verarbeitung des Gehörten, und so –, ihn störte nur, dass jedes Mal, wenn er sie erlebte, alles vollkommen gleich war. Das Licht, die Perspektive, die Abfolge. Es änderte sich nicht das kleinste Detail.

Als er die Augen schloss, konnte er die Bilder klar heraufbeschwören. Nur zögerlich ließ er das zu, da sich alles in ihm dagegen sträubte, seinen alten Freund kurz vor dessen Tod zu sehen. Dann aber war alles sehr deutlich, wie in einem HD-Film.

Eric starrte zu ihm auf, blass, blutend, verstört, und dann griff er hilflos nach Aleas Knöchel, und Alea wich zurück.

Er öffnete die Augen. Und blickte geradewegs auf die Jagdszene an der Wand.

Ist das, was ich sehe, vielleicht die reale Vergangenheit? Der Gedanke kam ihm plötzlich und unverhofft. Hab ich vielleicht wirklich gesehen, wie er gestorben ist? War ich dabei – und hab es nur verdrängt? Er hatte davon gehört, dass so etwas vorkam. Menschen vergaßen ein Erlebnis, das sie traumatisiert hatte. Und wahrscheinlich hätte ihn Erics Tod, wäre er Zeuge davon gewesen, durchaus traumatisiert …

Aber warum weiß ich dann nicht, wer es getan hat?, fragte er sich mit wachsender Nervosität. Warum erinnere ich mich nicht daran? War dieser Teil so schlimm, dass ich ihn gar nicht zurückbekomme?

Geistesabwesend griff er neben sich, nach der blauen Bettdecke. Schon wieder waren seine Bewegungen seltsam unkoordiniert. Die Tablette wirkte mit jeder Einnahme schneller. Er zog die wärmende Decke über sich und versuchte, nicht mehr zu frösteln, doch es ging nicht sofort. Zu kalt war es in ihm geworden, während er sich nicht bewegt hatte.

Es tut mir so Leid, Eric, dachte er und fühlte sich mit einem Mal unendlich schlecht. Vielleicht hätte ich sehen können, wer dir das angetan hat. Aber nicht mal DAS hab ich hingekriegt. Ich bin ein mieser Freund. Es tut mir Leid …

Er rollte sich unter der Decke zusammen wie ein kleines, frierendes Tier.
 

20.00 Uhr
 

Der Apfelbaum bewegte sich leicht im Wind, und im prallen Sonnenlicht malte sein Blattwerk Schattenbilder ins satte Grün des Rasens. Er trug leuchtend weiße Blüten und starke rote Äpfel, beides zugleich, und Alea genoss den Anblick ebenso wie das raschelnde Geräusch der Brise.

Neben ihm am Gartentisch saß Eric und musterte ihn versonnen. Er trug ein Shirt ohne Ärmel, also musste es Sommer sein.

Alea war fasziniert. Das hier war ein Traum, und trotzdem fühlte sich alles so realistisch an. Als er seine Hand auf die Tischplatte legte, spürte er die raue Beschaffenheit des Holzes, und genauso konnte er das Gras unter seinen Füßen spüren, jeden einzelnen Halm. Als er einen Finger vor die Augen hob, sah er die feinen Linien der Haut in aller Klarheit.

»Das ist krass«, murmelte er.

»Nö, das Hirn kann mehr, als man denkt«, sagte Eric lapidar.

Alea hob den Kopf und sah ihn an. Während alles andere so überdeutlich wirkte, sahen die Züge seines Freundes verschwommen aus, nicht richtig greifbar. »Ich bin in einem alten Haus in Märkisch Buchholz«, hörte er sich sagen.

»Ja, ich weiß.«

»Alles macht mir Angst. Ich verstehe die Zusammenhänge nicht. Ich bin hier in einem alten Haus, alleine, und keiner spricht mit mir wirklich über dich.« Er bewegte die Hand vor seinen Augen. Es war, als zöge sie einen Schleier nach sich. »Eric, warum bin ich hier

Eric hielt den Kopf schräg. »Das weißt du doch.«

»Nein.«

»Doch, na klar.«

»Nein! Ich bin in einem alten Haus, in dem eure CDs liegen, aber das ich nicht kenne – warum

Sein toter Freund beugte sich zu ihm vor und sagte leise: »Na, um dich zu erinnern.«
 

20.10 Uhr
 

Da waren sie wieder, die weinenden Menschen. Ein ganzer Fluss, voll mit ihnen. Männer, Frauen, Kinder. Am Ufer stand der Tourbus, dort saß Lasterbalk und rauchte, und unten, im Wasser, weinten die Leute.

»Nein, nein, ich will nicht!«, rief Alea verzweifelt aus, als er die Szenerie wiedererkannte. »Ich will nicht mehr weinen!« Hektisch fuhr er sich mit beiden Händen über das Gesicht. Es war nass, klebrig, trocknete einfach nicht. »Hör auf

Lasterbalk schnippte die Zigarette weg und sah ihn von seinem Schattenplatz aus mitleidig an. »Du kriegst es echt nicht auf die Reihe, oder?«

»Was denn?« Alea wischte und wischte. Es blieb alles nass.

»Na, dich zu erinnern.« Lasterbalk machte eine lässige Geste in seine Richtung, und Alea begriff, dass sie seinen Händen galt. Er nahm sie herunter und betrachtete sie.

Und war entsetzt. »Nein …«

»Wenn du dich nicht erinnerst, kann dir keiner helfen«, sagte Lasterbalk achselzuckend, während Alea auf seine Hände starrte. »Das musst du alleine machen.«

Alea spürte eine Mischung aus endlosem Kummer und würgender Verzweiflung in der Brust. Seine beiden Hände zitterten, während er sie anstarrte, das anstarrte, was er für seine Tränen gehalten hatte.

Alles voller Blut.

Es war überall, rot, klebrig, unsäglich nass.

Und noch immer kam immer und immer mehr davon aus seinen Augen. Sturzbäche aus Blut fluteten seine Wangen hinab, benetzten seine Brust, seinen Bauch, wurden von Shirt und Hose aufgesogen und flossen weiter zur Erde.

Alea warf den Kopf in den Nacken und schrie.
 

20.20 Uhr
 

»Erinnern? Woran erinnern?!«, keuchte er heiser in die Dunkelheit, als er wieder wusste, wo er war.

Er lag mitsamt der zerwühlten Decke auf dem Teppich neben dem Sofa, unweit von der Falltür. Sein ganzer Körper schlotterte wie im Fieber.

Blut, so viel Blut, Gott, wo kam das alles her?!

Ich muss hier raus. Ich muss hier SOFORT raus.

Hastig rappelte er sich auf die Füße, wobei seine Gliedmaßen zunächst nicht gehorchen wollten. Seine Knie waren so weich, dass sie sein Gewicht nicht trugen, also kroch er halb aus dem Zimmer, während sich noch immer alles drehte.

»Woran soll ich mich erinnern«, schnaufte er angestrengt, »ich kann mich an nichts mehr erinnern …«

Plötzlich war er auf der Bodenklappe, die das Tonstudio verbarg. Sie knirschte gefährlich unter ihm, und er zuckte zurück.

»Woran«, schluchzte er zornig, nach dem Tisch greifend, um sich daran hochzuziehen, »woran soll ich mich –«

Und dann, mit einem Mal, wusste er es.

Seine eben noch krampfenden Hände erschlafften. Fielen zu Boden wie erschossene Vögel.

Er wusste es.

Die Waffe.

Jetzt sah er sie.

Eine kleine Pistole, glänzend schwarz, mit kurzem Lauf und abgewetztem Griffstück, kalt und tödlich. Sie tauchte wie aus dem Nichts auf, und dann richtete sie sich auf Eric, der im hellen Licht des Aufenthaltsraums stand und sie nicht sah. Keine Sekunde später fiel der Schuss. Blut spritzte auf, eine kleine hellrote Fontäne. Eric wurde nach vorn geworfen und stürzte hart auf den Bauch, und sein Aufschrei ging in einem erstickten Keuchen unter. Als er den Kopf hob und die schreckgeweiteten Augen auf Alea richtete, perlte ein rotes Rinnsal aus seinem offenen Mundwinkel, und sein Blick, der seinen Freund erkannte, war ungläubig, entsetzt, fassungslos. Seine Hand schoss vor und bekam Alea nicht zu fassen. Kurz knirschte er mit den Zähnen, dann fielen die sinnlos ins Leere greifenden Finger schlaff zu Boden.

Jemand, der ihn gut kannte.

Alea spürte ein eisiges Erschauern, als ihm der Schweiß ausbrach. Er würgte und spuckte aus, unfähig, irgendeine koordinierte Bewegung zu tun.

Nein. Nein. Nein. NEIN.

Die Waffe. Da war sie. Er sah sie …

NEIN.

Endlich bekam er seine schlotternde Hand unter Kontrolle. Sie ergriff die Tischkante und zog seinen Körper daran hoch; dann patschte sie auf die Tischplatte nach den CDs.

Jemand, der bei allen Subway-Produktionen dabei war.

Fahrig riss er das erste Booklet aus der Plastikhülle und schlug es auf. Das Licht war schummrig, seine Sinne getrübt, und doch konnte er alles lesen. Er griff zum nächsten. Dann zum dritten. Hektisch blätterte er ein Heft nach dem anderen durch, starrte benommen auf die letzten Seiten.

Der einzige Name, der bei jedem Album auftauchte, war sein eigener.

Überall sprang er ihm entgegen. Auf jeder Seite. Selbst auf dem Cover.

ICH habe Eric umgebracht.

Ja, es stimmte. Endlich stand die ganze Szene kristallklar vor seinen Augen. Die Waffe, der Schuss, Erics Erkennen, seine Verwirrung und sein Entsetzen, als er starb. Es war alles wieder da.

Ich hatte es nur verdrängt. Weil es zu schrecklich war, um es zu begreifen.

Und jetzt erinnerte er sich. All das hier hatte dazu geführt, dass er sich erinnerte. Das allein war der Sinn gewesen von Isolation und Medikamenten. Sie hatten ihn hierher gebracht, um ihn zu bestrafen. Er sollte sich erinnern und an dieser Erinnerung zugrunde gehen. Weil er es verdiente.

Warum? Warum hab ich es getan?

Die Frage brannte ein Loch in sein Inneres, höhlte es aus mit Schwärze.

Ich weiß es nicht.

Er wusste nur eins: Er konnte nicht damit leben.

Die Waffe. Ich muss die Waffe finden.

Mit aller Kraft zwang er sich auf die Füße. Er konnte jetzt nicht mehr schwach sein. Jetzt würde er tun, was getan werden musste.

Ich brauche die Waffe. Sofort.

Wie betäubt schleppte er sich zur Haustür und riss sie auf.

Es war an der Zeit, auch seinem eigenen Leben ein Ende zu machen.



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