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Drachenengel (Buch 1)

{inspiriert von Breath Of Fire, Final Fantasy & Herr der Ringe}
von

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Prolog

Chikará und Mián betrachteten gemeinsam die Sterne am Nachthimmel, die winzigen Lichtpunkte in der endlosen Dunkelheit. Kalte Winde fegten über den trockenen Steinboden, in der Ferne waren Maschinen, Schreie und Musik zu hören, sinnlose undeutliche Wort- und Geräuschfetzen. Der Platz am Rande der Slums war verlassen und ziemlich unbekannt, die hohe Rampe zum Schrottplatz war nachts unbewacht, tagsüber wurden hier die Reste der modernen Zivilisation in die große Grube geworfen, größtenteils Schutt und Maschinenteile. Die Technik, Segen und Abfall der Zeit, eine ähnlich ungewollte Form des Mülls waren die zwei Mädchen, sie waren ausgestoßene und vergessene Seelen der Gesellschaft. Vor den beiden lag die weite tote Wüste, freies und wildes Land ohne Gesetze, hinter ihnen die Ostmetropole, sie kehrten ihr den Rücken zu, ebenso hassten sie auch das Gebiet zwischen der Großstadt und der Wüste, die Slums, ihre Heimat. Chikará besaß nur schmutzige Kleidungsfetzen, Mián hatte immerhin noch einen sauberen, aber viel zu großen roten Pullover, einen unbeschädigten grauen Rock und verstaubte weiße Turnschuhe. Ihre langen schwarzen Haare wehten in den kalten Windströmen, eine Straßenlaterne erhellte ihre dreckige gelbliche Haut und ihre dunklen Mandelaugen, ihre Freundin hatte den Schatten vorgezogen. Oft saßen sie hier gemeinsam, manchmal redeten sie miteinander, manchmal auch nicht. Sie bewunderten die hellen Sterne und träumten von einem besseren Leben und einer anderen Welt, es waren leider immer nur Träume. Irgendwann begannen die beiden auch in dieser Nacht ein kurzes Gespräch.

"Du solltest es auch tun", sagte Mián und schaute Chikará an.

"Nein, ich werde es nicht tun", entgegnete sie gefühllos.

"Du hast es doch früher auch immer getan, lange bringe ich dich nicht mehr mit meinem harterarbeiteten Gehalt durch."

"Harterarbeitet?", kritisierte Chikará. "Du liegst da nur und lässt es bedingungslos über dich ergehen, wie eine Leiche."

"Irgendwo müssen meine Kleidung und das Essen herkommen", konterte Mián.

"Vor allem müssen deine Drogen irgendwo herkommen."

"Unsere Drogen."

Kurzes Schweigen folgte auf dieses Argument.

"Trotzdem", fuhr Chikará fort. "Wieso versuchen wir nicht einfach hier wegzukommen?"

"Wie? Ohne Geld und Papiere?" Mián zerstörte diese Illusion und griff im Anschluss daran noch einmal auf ihre Anfangsidee zurück. "Also, und wenn du es auch öfters tun würdest, dann würden wir zumindest mehr zu Essen haben und du könntest dir endlich mal neue Kleidung kaufen."

"Nein, ich werde es nie wieder tun", sprach Chikará verärgert.

"Warum, früher hastet es doch auch getan? Glaubst du, du hättest es nicht mehr nötig?"

"Nein, es ist mir einfach nur zu ekelig."

"Das wird mit der Zeit vergehen", versuchte Mián sie zu überzeugen.

"Ich will kein gefühlloser Roboter sein."

"Was willst du dann machen? Etwas wirklich Kriminelles? Jedenfalls werde ich dich nicht mehr lange durchfüttern."

"Das ist mir schon klar", erklärte Chikará mit gesenktem Haupt. "Versuchen wir doch mit den Drogen aufzuhören, dann hätten wir schon mehr Geld."

"Träum weiter, vielleicht könntest du das, aber ich kann ohne sie nicht mehr leben."

Chikará dachte einige Momente darüber nach.

"Wie lange kennen wir uns eigentlich schon?" Mián wechselte das Thema, da sie keine Erfolgsaussichten mehr für ihre Meinung erkennen konnte.

"Als wir uns zum ersten Mal trafen, warst du zwölf, das weiß ich noch, seitdem sind ungefähr fünf Jahre vergangen."

"Das ist komisch", bemerkte Mián. "Mir kommt es so vor, wenn ich mich zurückerinnere, als hättest du damals genau so ausgesehen wie heute, als wärest du seitdem kein Bisschen gealtert, ist das nicht seltsam?"

"Das bildest du dir nur ein, die Drogen sind schuld." Chikará versuchte diesen bizarre Erkenntnis ihrer Freundin auszureden.

"Wie alt bist du überhaupt?"

"Ich weiß es nicht, ich habe irgendwann mal aufgehört, meine Geburtstage zu zählen", redete Chikará sich weiter heraus und lenkte mit Gegenfragen ab: "Wieso bist du eigentlich hier?"

"Meine Eltern haben sich niemals um mich gekümmert", erinnerte sich Mián. "Deswegen bin ich von zuhause abgehauen. Nach einer kleinen Irrfahrt bin ich hier bei dir gelandet und geblieben. Wie kamst du hierher?"

"Ach, ich bin schon so lange hier, ich weiß es nicht, vielleicht bin ich hier geboren, keine Ahnung."

"Du vergisst viele Sachen", kritisierte Mián.

"Menschen vergessen alles mit der Zeit."

"Stimmt. Ich weiß auch nicht mehr, wie meine Eltern hießen oder wie unser Haus aussah."

"Was machst du heute noch so?", fragte Chikará.

"Arbeiten, ganz im Gegensatz zu dir."

"Pass auf dich auf."

"Das mache ich immer."

"Ich komme dich morgen früh mal besuchen."

"Tu das."

Sie gaben sich die Hand, dann ging Mián, Chikará blieb noch die ganze Nacht lang im Sternenschatten sitzen.
 

Im trüben Sonnenschein des folgenden Morgens begab sie sich zurück in die Slums. Viele Bewohner schliefen noch in ihren Elendsquartieren. Die asphaltierte Hauptgasse führte vorbei an den unzähligen Gebäuderuinen und an bedauernswerten Slumkreaturen, die am Straßenrand hockten und dort auf Kunden oder Opfer warteten, sie schenkten Chikará keine Beachtung. In ihrem Kopf flogen viele Gedanken umher, vor allem über die Zukunft. Gäbe es vielleicht einen Pfad weg von hier? Ein neues Leben? Geld ist das Fundament des Lebens, dachte sie, und genau das hatte sie nicht, Miáns kleine Vermögen würde für keine Flucht ausreichen. An Geld kommen, nur wie? Ein Diebstahl oder Ähnliches würde wohl die Aufmerksamkeit der Bandenmitglieder bewirken, die beiden Mädchen würden dann im Konflikt mit richtigen Kriminellen stehen, das wäre sehr gefährlich, vielleicht sogar tödlich. Aber wenn man es intelligent anstellen würde? Vielleicht würde es funktionieren? Wie würde das Schicksal aussehen, gut oder schlecht? Ein neues Leben oder der sichere Tod? Wäre das es wert sein? Ein neues Leben, ein normales Leben? Chikará vertiefte diesen Traum. Irgendeine Stadt, eine Wohnung zusammen mit Mián, eine normale Arbeit, vielleicht irgendwann mal eine richtige Familie mit Kindern? Das Schicksal lag in ihren Händen, ein verrückter, aber kein unmöglicher Plan. Wieso sollte nicht ein einziges Mal das Glück auf ihrer Seite sein? Einen Versuch wäre es allemal wert, und falls es nicht klappen würde, wäre nicht der Tod vielleicht auch ein Erfolg im Vergleich zu diesem Leben hier?
 

Die Bruchbude von Mián bestand aus braunem Backstein und morschen Zedernholzbrettern. In der kleinen Notunterkunft standen lediglich eine alte Federmatratze und ein kaputter Holzschrank, eine bunte Flickendecke diente als Türe. Chikará half ihrer Gefährtin vor einigen Jahren beim Bau der kleinen Hütte, besser solch ein Dach über dem Kopf als gar keines, dachten sich die beiden. Die Bauteile fanden sie größtenteils auf dem Schrottplatz, alles wurde dann unter einfachsten Bedingungen zusammengesetzt und hochgestapelt, sehr stolz waren die beiden damals auf ihr Werk, an dem sie einen Monat lang gearbeitet hatten. Manchmal, zum Beispiel bei Regen oder Unwetter, übernachteten sie auch beide zusammen in der Hütte, da Chikará selbst keine eigene Unterkunft besaß, sie schlief immer neben ihrer Freundin auf dem Boden zwischen einigen Wolldecken. Nachdem sie nun die Eingangsdecke zur Seite zog, trat sie ein, um nach ihr zu sehen. Es roch seltsam, anders als es üblich war hier drin. Chikarás Blick wanderte über die Wände bis hin zum Bett, auf dem ein graues ausgebreitetes Tuch lag, man konnte die Umrisse einer Person erkennen, die wohl darunter lag. Bestimmt hat sie wieder einmal verschlafen, sagte Chikará sich. Sie wollte sie aufwecken und zog ruckartig das Tuch weg. Daraufhin sah sie Mián nackt vor sich liegen, ihre Augen waren weitgeöffnet, aber ihr Blick war starr und leer. Sie hatte schwere Wunden am Kopf und an der Brust, nahe des Herzens, große Blutflüsse liefen aus den Verletzungen heraus, strömten über ihren jungen Körper und tropften schließlich zu Boden, wo sie kleine Pützen bildeten. Sie wurde kaltblütig ermordet, sie war ja nur ein armseliges Slumwesen, mit denen man machen durfte, was man wollte. Den Anblick der Leiche ihrer Freundin konnte Chikará nicht lange ertragen. Sie sah zufällig noch eine kleine rote Flasche, die neben Bett stand, sie griff nach ihr und ging verwirrt weg. Sie konnte nicht weinen, dennoch war sie tief traurig über diesen großen Verlust. Ihre einzige Begleiterin in dieser chaotischen Welt, sie war tot. Wie sollte es jetzt nur weitergehen, alleine? Ohne Hilfe, ohne einen Vertrauten an der Seite? Konnte es überhaupt weitergehen, oder würde nun das Ende folgen? Ein selbstgewähltes Lebensende? Jetzt? Um ihre traumatisierten Gedanken im Gefühlsüberfluss wieder ordnen zu können, öffnete Chikará im ziellosen Umherirren die rote Flasche. Zitternd trank sie, es war ein starkes Nervengift, wenig später schien ihr Kopf taub und leer, gefühllos und müde, die schrecklichen Gedanken an Miáns Tod waren plötzlich verschwunden. Eine neutrale und künstliche Unempfindlichkeit breitete sich in ihr aus, während die Realität langsam verblasste. Wesen auf der Straße sprachen sie an, aber sie hörte sie nicht und nahm sie nicht wahr, sie war in ihrer eigenen Welt, einer toten und kalten Welt. Ein starkes Bedürfnis nach Schlaf überkam sie zugleich. Irgendwo, an einer einsamen Kreuzung setzte sich auf einen großen Trümmerbrocken, schloss benommen die Augen und schlief kurz darauf ein.

Verlorene Seelen

"Ich glaube und vertraue mit meinem ganzen Herzen, dass ich an der Schwelle zu einem neuen Leben stehe. Aber zuerst muss ich wiedergeboren werden. Und ich habe eine ganze Welt zu sehen, so als wäre es das erste Mal, und um soweit zu verstehen, wie meine Fähigkeiten es mir erlauben werden."

{Edith Sitwell, 1955}
 

***
 

Irgendeine Juninacht in den Ghettos der großen Ostmetropole. Niemand ohne Waffen und großen Mut wagte sich hierhin, ebenso niemand, der klar denken konnte. Hier, in den Slums und Gebäuderuinen lauerte viel Kriminelles. Die einen wurden wegen ihrer Armut kriminell, andere um Drogen kaufen zu können, wieder andere einfach nur um ihre kriminellen Gedanken und Triebe ausleben zu können. Wer billige Diebesware oder Körper suchte, war hier genau richtig. Es war so, als könnte man das Kriminelle in den dunklen Gassen riechen. Lange war es her, das hier zum letzten Mal irgendjemand war, der noch einen Gerechtigkeitssinn besaß. Kalte Wüstenwinde fegten durch die Bauruinen und Bruchbauten. Offiziell gab es dieses Gebiet nicht. Es war die Vorstadt, die man niemals wollte und die der Schattenfleck neben der vermeidlich schönen Metropole war, verlassen von der Gerechtigkeit. Es gab diese Gassen schon seit vielen Jahrtausenden, einige sagten, sie seien der älteste Teil der Stadt. Die verfallenen Mauern wurden mit Holzbrettern, Decken und Ziegeln zu Hütten umgewandelt, mit Planen- und Lattendächern und verbrochenen oder nichtvorhandenen Fensterscheiben. Eine kleine, aber gefürchtete Bande regierte diese schlechte Seite der Zivilisation. Wer sie nicht als Freund schätzte, verließ die Gassen meistens nicht lebend. Überall fanden sich Abfälle, leere Medikamentverpackungen, Exkremente, Metallsplitter, Schutt, Kleiderreste, Scherben, Papierreste, Knochenteile und Blutflecken. Teils stieg einen auch ein Verwesungsgeruch in die Nase. Einige Graffitis verfärbten das betongrau, sandgelb und holzbraun ein wenig. Kleine Kinder in Lumpen wärmten sich an einer brennenden Mülltonne. Unweit von ihnen standen die Mädchen und Frauen, die ihre zerstochenen und verlorenen Körper verkauften, für die Drogen und für ihre Bosse. Die Bosse waren Männer, die als einziges Werkzeug der Macht ihre Fäuste kannten und benutzten. Einige von ihnen kämpften gerade am Gassen-Ende auf Leben und Tod gegeneinander. Hundeheulen und Menschenschreie erschallten von Zeit zu Zeit. Knaben mit Messern und bedrohlichen Mienen saßen an den Wänden. Auf dem Hauptweg zeigte sich das gesamte Spektrum der möglichen Slumschicksale. Viele hier konnten nicht lesen und schreiben, sie haben niemals eine Schule von innen gesehen. Wie auch? Der Teufelskreis würde niemals enden. Weil die Eltern nicht von hier wegkamen, würden ihre Kinder es erst recht nicht schaffen und ihr dunkles Erbe annehmen, um ihr vorbestimmtes Schicksal zu leben. Niemals würde sich daran etwas ändern, niemals.
 

Hanryo hatte alles genauso in seiner Erinnerung, und es sollte sich überhaupt nichts geändert haben, niemals würde sich hier auch nur das Geringste ändern. Er war vor vielen Jahren hier, im Dienste eines Staates, der seine verlorenen Kinder jagte und tötete. Gegnerische Soldaten des entfernten Ostens hielten sich hier irgendwo versteckt. Ja, lange ist her, dass es Unruhen im Land gab, vielleicht zu lange. Nach dem großen Kontinentalkrieg wurde die Welt verdammt ruhig. Klar, Gegner gab es immer, aber keine ernstzunehmenden mehr. Kleinere Aufstände und Unruhen, das war es. Die Diener der Macht verloren nach und nach ihre Arbeit. Ob es wirklich schlau war, die Armeen derart zu reduzieren? Die Feinde, die hier versteckt waren, waren keine wahren Feinde. Halbstarke, die sich falschen Ideologien anschlossen, ihre Taten und sie selbst waren von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Einige von ihnen starben durch Hanryos Schwert. Töten im Dienste des Staates, es war keine schöne Aufgabe, aber eine ehrenvolle und gutbezahlte. Dadurch bekam man damals, vor vielen Jahren Respekt und Ehrfurcht in der Welt. Heute nicht mehr, Erfolg ist sehr vergänglich. Das Einzige, was von ihn übrig blieb, waren Kontakte zur Regierung und zum Untergrund. Vor allem die zweiten wurden wichtig, wenn man nicht mehr im Namen der ersten handelte. Hanryo kannte wenige aus den Slums, aber genug um unbeschadet durch das soziale Elend gehen zu können, und genug, um zum Ziel seiner Wanderung zu gelangen.

Ein Mädchen, eine junge Frau, ungefähr achtzehn Jahre alt, zumindest optisch. Ein rätselhaftes Wesen, das sein Schicksal noch nicht kannte. Eine Flickenjeans mit Staubflecken und ein durchlöcherter Rollkragenpullover verdeckten ihren schönen, aber dreckigen und beschmutzten Körper. Ihre weiße Haut war verdunkelt und ihre Haarfarbe kaum erkennbar. Sie war unscheinbar und fast unsichtbar in dieser verloren Welt, verloren war auch ihre Seele.
 

Sie bemerkte Hanryo nicht, bis er sie ansprach.

"Wer bist du?", fragte er sie.

"Wieso interessiert dich das?", antwortete sie abweisend.

"Es interessiert mich, du interessierst mich."

"Wie viel Geld hast du?", fragte sie und schaute ihn endlich an.

"Nein, das will ich nicht von dir", antwortete er kopfschüttelnd.

"Was willst du dann?", wollte sie neugierig wissen.

"Wie ist dein Name?", weichte Hanryo aus.

"Wieso sollte ich ihn dir sagen?", konterte sie naiv.

"Was machst du hier?"

"Ich lebe hier"

"Wie wovon lebst du?"

"Von meinem Körper und vom Stehlen", antwortete sie gelangweilt.

"Drogenabhängig?"

"Zeitweise."

"Wie lange bist du schon hier?"

"Lange."

"Wo warst du davor?"

"Ich weiß es nicht mehr", sagte sie nach kurzem Nachdenken.

"Bist du alleine?"

"Ja."

"Hast du hier Freunde?"

"Keine wirklichen mehr", sagte sie und schüttelte den Kopf.

"Einen Platz zum Schlafen?"

"Keinen festen."

"Gefällt dir dein Leben hier?"

"Nein", lachte das Mädchen, "wie kann es jemanden hier gefallen?"

"Warum gehst du nicht weg von hier?", fragte er provozierend.

"Wo sollte ich hingehen? Hier kriege ich wenigstens manchmal Geld und Essen", antwortete sie lässig.

"Aber gegen welchen Preis?"

"Einen zu hohen", sagte sie bestätigend.

"Sag mir deinen Namen."

"Ich habe keinen. Nenn mich ,Schlampe' oder ,Kleine', wenn du willst."

"Du hast einen Namen", bohrte er.

"Wie ist er? Kennst du ihn etwa?", fragte sie einwenig aggressiv.

"Chikará", sagte er mit einem leichten Lächeln.

"Woher kennst du ihn?", fragte sie sehr verwundert.

"Vertrau mir und komme mit mir mit."

"Wohin?"

"Weg von hier, weit weg."

"Wie hoch ist der Preis dafür?", fragte sie zweifelnd.

"Es gibt keinen. Du darfst nur nicht von meiner Seite weichen. Ohne mich würdest du nicht weit kommen."

"Hast du genug Geld?"

"Genug für uns beide, komme mit und ich werde für dich sorgen."

"Wieso willst du das für mich tun?", fragte sie, da sie ihr großes Misstrauen nicht verstecken konnte.

"Es ist noch zu früh, um dir diese Frage zu beantworten."

"Kann ich dir vertrauen?"

"Ja", antwortete er nickend.

"Willst du mich nicht in eine andere Hölle bringen?"

"Nein, vertraue mir."

"Warum sollte ich?", wollte sie wissen, weil ihre Zweifel waren groß.

"Wenn du mir nicht vertraust und mit mir mitkommst, dann wirst du hier noch sehr lange bleiben müssen", konterte er, um sie endgültig zu überzeugen.

"Wohin willst du genau?"

"Weit weg."

"Du bist wirklich ein komischer Typ", sagte sie grinsend.

"Kommst du jetzt mit mir?"

"Ja", antwortete das Mädchen.

Anfang (Teil 1)

Die Juninacht war noch jung und sollte noch lange andauern. Einige schlechtgebauten und verstaubten Asphaltpfade führten aus den Slums hinaus in die Wüste. Es war keine wirkliche Wüste, eher eine tote und verlassene Steppenlandschaft, ein Kieselsand-Erdgemisch ohne sichtbares Ende. Leere und Stille. Kalte Winde wehten über das ebene Gebiet. Ein heller Vollmond erhellte die Finsternis, die Sterne am Firmament unterstützten ihn. So überfüllt die Ostmetropole war, so leer war im Gegensatz dazu diese Gegend, weit und breit existierte kein Leben. Viele Wüstenschlangen und Steppenwölfe sollte es hier angeblich geben, aber heute Nacht zeigten sie sich nicht. Kleine, verdorrte gelbliche Sträucher, getrocknete trübgrüne Grasbüschel, einige wenige Knochen von Mensch und Tier, karge Holstücke, raue Steine und weicher Sand, mehr war nicht zu erkennen. Hier übernachtete man nicht gerne, obwohl es hier viel sicherer war als in der Metropole oder als in den Slums. Wo nichts war, konnte auch nichts Gefährliches sein. In mitten einer kleinen Baumgruppe errichtete Hanryo sein olivefarbenes Zweipersonenzelt. Er hatte es in seinem schwarzen Rucksack mitgetragen, ebenso zwei altes Schlafsäcke, sie stammten wohl aus Armeebeständen. Viel mehr transportierte er auch nicht mit sich, nur das Nötigste eben. Chikará hatte nichts mit aus den Slums mitgenommen, sie hatte schließlich auch nichts, was sie hätte mitnehmen sollen. Sie vertraute blind ihrem neuen, seltsamen Freund. Ohne mit ihn viel zu sprechen, folgte sie ihn hoffnungsvoll. Sie erwartete Erklärungen, die sie aber nicht bekam, noch nicht. Hanryo war froh über ihre Begleitung, auch wenn er sich ihr gegenüber noch sehr kalt und abweisend gab. Er hatte sein erstes Ziel erreicht, sie begleitete ihn, weitere würden folgen, so hoffte er. Während er das Nachtlager errichtete, saß Chikará auf einen alten, toten Baumstumpf.

"Woher kennst du meinen Namen?", fragte sie ihn auf einmal.

"Ich weiß mehr über dich, als du glaubst", antwortet Hanryo gelassen und zugleich ablehnend.

Als das Zelt fertig war und alles im Innenraum verstaut, legte er sich in seinen Schlafsack und wies Chikará ihren zu. Ohne zu zögern schlüpfte sie schnell hinein und verschloss hinter sich den Zelteingang, danach entspannte sie sich in der wärmenden Baumwolle. Im kleinen Zelt nahmen die beiden den größtmöglichen Abstand voneinander ein, sie aus Ungewissheit über ihn, und er, weil sie ziemlich stank. Es ist eine Mischung aus Müll- und Kotgeruch, aber er wollte sie nicht darauf ansprechen, nicht jetzt, wo sie endlich unter seinem Einfluss stand. Da half ihn für diese Nacht nur Nasenzuhalten und Atmen durch den Mund. Er hatte das Gefühl, dass Chikará unglaublichen Durst hatte, weil sie schwer atmete, so als wäre ihre Kehle völlig ausgetrocknet, und sie hustete oft. Er gab ihr schließlich seine Feldflasche mit Wasser, sofort nahm sie hastig einen großen Schluck, ein paar Tropfen liefen ihr bis zum Kinn hinunter. Das Wasser schmeckte zwar etwas abgestanden und bitter, aber etwas Besseres war sie auch nicht aus ihrem bisherigen Leben gewohnt. Sie gab sich aus Gewohnheit mit wenigen und schlechten Sachen zufrieden, notdürftig. Es gab genug Leute, die in den Slums verdursten oder verhungern, wenn man daran dachte, trank und aß man wirklich alles, was man bekam, egal von wen man es bekam.

"Was werden wir morgen machen?", fragte Chikará gähnend.

"Einkaufen gehen."

"Und wo?"

"In Katanamachi, zehn Kilometer westlich von hier."

"Wieso nicht in der Ostmetropole?"

"Da ist es zu teuer", erklärte Hanryo. "Katanamachi ist klein, aber genau der richtige Ort, um hier in der Gegend an gute Ausrüstung zu kommen. Dort gibt es auch öffentliche Bäder."

"Ich weiß, dass ich ein bisschen rieche", sagte sie leicht verärgert.

"Ein bisschen ist gut, aber bei dir kann man es entschuldigen. Keiner würde in deiner Verfassung besser riechen, denke ich."

"Du hast gesagt, du hättest viel Geld, also bisher merkt man davon nicht allzu viel", meckerte sie. "Ich will mich ja nicht beschweren, aber von jemandem, der angeblich viel Geld hat, habe ich mehr als ein Zelt mit Schlafsäcken und saures Wasser erwartet."

"Deine Einwände sind durchaus berechtigt, wenn auch ein wenig frech, aber eine zahme Begleitung könnte ich nicht brauchen. Ich bin ja im Moment nur auf der Reise, deswegen gebe ich mich nur mit den Nötigsten zufrieden, so wie es sich für einen echten Soldaten gehört."

"Du bist Soldat?"

"Im Geist bin ich noch einer, aber sonst nicht mehr."

"Für welches Land hast du gearbeitet?"

"Für ein fremdes, nicht für dieses hier, wo wir sind."

"Was war jetzt mit deinem Geld?"

"Etwas davon ist in Katanamachi deponiert", antwortete er.

"Was werden wir einkaufen?"

"Sachen für dich."

"Und was genau?", wollte sie gespannt wissen.

"Alles, was du brauchst und nicht hast. Richtige Kleidung, Waffen und so weiter."

"Wofür werde ich das alles brauchen?"

"Für das, was nach Katanamachi kommen wird."

"Und was kommt danach?" fragte sie neugierig.

"Viel, sehr viel, unsere Reise wird lang und hart."

"Was ist unser Ziel?"

"Unser Schicksal", antwortete Hanryo mit leichtem Grinsen.

"Wieso immer so geheimnisvoll?"

"Wirst du schon noch erfahren."

"Verrat mir doch zumindest, woher du mich kennst, woher du meinen Namen kennst?"

"Du bist bekannter, als du denkst."

"Soll das eine Erklärung sein?"

"Lass es gut sein und schlaf, es ist spät. Noch ist es zu früh, um dir alles zu erklären, aber alle deine Fragen werden bald beantwortet werden."

"Ein ziemlich schwacher Trost", entgegnete sie dreist.

"Gute Nacht", sagte er müde und schlief ein, Chikará kurze Zeit später auch.
 

Mit den ersten Sonnenstrahlen erwachten beide, begannen anschließend ihr Lager abzubauen und begaben sich auf den Weg nach Katanamachi. Die Sonne stieg langsam hinter den Gebäuden der Ostmetropole hinauf. Der Tag begann warm und angenehm, aber immer noch war die Umgebung verlassen und leer. Schwarze Vögelschwärme flogen laut flatternd über die trockene Wüstensteppe, es waren keine Wolken am weiten, blauen Himmel, der endlos zu sein schien. Die grellen Lichtstrahlen blendeten etwas in den Augen, leichte Winde wehten wieder über den von der Sonne erwärmten Sandboden.
 

Erst nun, in der Helligkeit des Tages, konnte Chikará Hanryo genau erblicken. Er schien aus den Osten des Landes zu stammen, war schlank und für einen Mann relativ klein, nur einige Zentimeter war er wohl größer als sie. Er hatte kurze kupferrote Haare und dunkelgrüne Augen, seine Haut war leicht gelblich. Er trug pechschwarze Kleidung, eine weite Hose, einen langen Mantel, Stiefel und Lederhandschuhe, etwas unheimlich sah er darin aus. Dafür, dass er Soldat gewesen sein sollte, wirkte sein Körper noch sehr unversehrt und heil, keine Narben oder ähnliche Wunden der Vergangenheit waren auf den ersten Blick zu erkennen. Freundlich sah er aber trotzdem nicht aus, man hätte ihn eher für einen Bandenführer als für einen einsamen Wanderer gehalten. Sein kalter und stolzer Blick war schier unvergänglich und unveränderbar, seine Gesamterscheinung wirkte fast schon schattenhaft. Ob er überhaupt ein Mensch war? Er war jedenfalls eine geheimnisvolle Gestalt.

Der morgendliche Fußmarsch nach Katanamachi auf den kaum benutzten Wegen war nicht sehr anstrengend und dauerte nur wenige Stunden. Die kleine Stadt war sehr modern und kompakt gebaut, hinter den stählernen Stadtmauern führten enge, geteerte Straßen vorbei an mehrstöckigen Wohnhäusern und Geschäften, der westliche Betonbaustil hatte sich hier durchgesetzt. Steinerne Gebäudekomplexe mit Glasfenstern und ohne Holz- oder Bambusbauteile, ein kleines Windrad in der Stadtmitte versorgte die Siedlung mit elektrischem Strom, zwar nicht mit viel, aber mit genug um damit einige wenige Lampen und Leuchtreklamen zu betreiben. Im Gegensatz zur Ostmetropole, gab es hier Unmengen von Polizisten und Soldaten, sodass die Stadt sehr sicher und fast frei von Kriminalität schien. Chikará war niemals zuvor dort gewesen, weswegen sie Hanryo schweigend und staunend folgte. Ohne Probleme waren sie hinter die Stadtmauern gekommen, Hanryo kannte die Wachposten, sie ließen die beiden ohne Kontrollen passieren.
 

Bald erreichten Hanryo und Chikará neben den Stadteingang ein öffentliches Reinigungszentrum, wo man gegen Gebühren für beschrankte Zeit in kleinen Kabinen duschen oder baden konnte, oder beim Personal Wäsche waschen, reinigen, flicken oder bügeln lassen konnte. Hanryo bezahlte und sperrte sofort danach Chikará in eine der Kabinen. Drinnen war eine kleine weiße Badewanne, über der ein Duschkopf hing, an der anderen Seite des kleinen Raumes befand sich ein weißes Waschbecken mit Spiegel und einen Halter mit mehreren sauberen Handtüchern, die Decke, die Wände und der Boden der Kabine waren graugekachelt. Von so einen Ort hatte Chikará schon lange geträumt, endlich konnte sie sich mal richtig waschen, lächelnd begann sie ihre Sachen abzulegen. Nachdem sie sich ausgezogen hatte, schob sie in ihre Kleidung durch einen kleinen Spalt zwischen Tür und Fußboden. Hanryo hob sie auf und gab sie dem Personal zum Säubern, was ihn fast schon ein wenig peinlich war, schließlich hatten ihre Sachen eine Reinigung mehr als nötig. Dann suchte er sich auch eine Waschkabine und gang ebenfalls kurz Duschen. Später holte er die Kleidung von Chikará wieder ab und schob sie ihr wieder unter der Tür zu. Sie war bereits fertig geduscht und abgetrocknet, wenig später öffnete sie wieder angezogen die Türe. Erst jetzt konnte Hanryo sie in ihrer wahren Gestalt sehen, ohne einen Schmutz- und Staubfilm über dem Leib und der Kleidung. Sie hatte weiße, geschmeidige und glatte Haut, leuchtende, smaragdgrüne Augen und lange fransige, blaue Haare. Sie waren nicht gefärbt, das kühle Eisblau war ihre richtige Haarfarbe. Ebenso seltsam waren auch ihre Augen, die wie magisches, neonfarbenes Feuer funkelten, der extreme Farbton sah künstlich aus. Ihr Gesicht war hübsch und ebenmäßig, die weichen Züge wirkten kindlich, genauso wie ihr ganzer zierlicher und zarter Körper. Die Glieder waren dünn und gleichmäßig, die Hände schienen unbenutzt und gepflegt, alle Körperteile sahen wunderschön und symmetrisch aus. Alle Proportionen passten ideal zum Gesamten, nichts wirkte zu groß oder zu klein, zu lang oder zu kurz. Zusammen schaut alles nahezu perfekt. Ihr unvergleichbar anmutiger Leib war nichts desto trotz sehr attraktiv und liebreizend. Ungefähr einmetersechzig müsste sie groß gewesen sein und zirka fünfundvierzig Kilogramm gewogen haben. Sie sah wirklich wie ein Engel oder ein ähnlich spirituelles, unreales Zauberwesen aus, eine höhere Erscheinung, deren optische Schönheit kaum zu beschreiben war. Es war schwer, sie eindeutig in ein Volk oder eine Rasse einzuordnen, man sah ihr ihre Herkunft nicht an, sie wirkte irgendwie östlich und westlich zugleich. Die vielen Jahre in den Slums schienen wirklich spurlos an ihr vorbeigegangen zu sein. In einer anderen Welt hätte sie mit ihrem makellosen Körper mit Sicherheit viel Geld verdienen können. Warum hatte sie denn überhaupt in den Slums leben müssen? Wie konnte sie so tief fallen oder so tief fallen gelassen werden?

"Und?", fragte sie leise, ein wenig geschmeichelt von Hanryos verwunderten Blicken.

"Gewaschen siehst du ganz in Ordnung aus, jetzt nur noch zum Frisör und neue Kleidung, dann bist du vorzeigbar."

"Zu welchen Geschäften gehen wir zuerst?"

"Wir essen noch vorher etwas, elf Uhr sind es jetzt, eigentlich ein bisschen früh für das Mittagsessen, aber egal, wie lange hast du schon nichts mehr gegessen?"

"Seit vorgestern Mittag."

"Was hattest du da gegessen?"

"Altes, trockenes Weißbrot."

"Gut, dann werden wir jetzt etwas Besseres auftreiben."
 

Wenig später befanden sie sich in einem kleinen Restaurant, das an der anderen Seite des Stadteingangs lag. Schwarzblaue Bodenkacheln, kleine rötliche Holztische und Stühle, einige Aquarien mit prächtigen Goldfischen, bunte Orchideen und viele Bilder von idyllischen See- und Meereslandschaften. Trotz des schönen Ambientes, schient es ein erschwingliches Lokal zu sein, die wenigen Gästen waren so ziemlich alle vom Militär. Hanryo und Chikará setzen sich an einen der Tische, wo letztere sofort begann, die weiße Speisekarte zu studieren, dabei wirke ihr Blick sehr angestrengt.

"Und, was willst du haben?", fragte Hanryo freundlich.

"Weiß ich noch nicht", antwortete sie und hielt sich die Karte noch näher vor die Augen. "Was steht da?"

"Hast du eine Sehschwäche?"

"Nein!", widersprach sie wütend.

"Du kannst aber lesen, oder?"

"Das ist alles so klein geschrieben, das man nichts erkennt!", schimpfte sie weiter.

"Wie dem auch sei, gleich gehst du zu einem Augenarzt, würde ich dir raten. Wenn man nicht gut sehen kann, kann man auch nicht gut kämpfen."

"Ich soll kämpfen?", fragte sie ungläubig.

"Ja, natürlich. Aber keine Sorge, ich werde dich vorher noch gut trainieren, ich werde dich zur besten Kämpferin überhaupt machen", erzählte er belächelnd.

"Ich hatte doch noch nie eine Waffe in der Hand?"

"Doch, die hattest schon sehr oft Waffen in den Händen."

"Nein, ganz bestimmt nicht, wie kommst du darauf?"

"Egal, wir klären das später, soll ich dir die Karte vorlesen?"

"Ja, mir wird wohl nichts anderes übrig bleiben", sagt sie abweisend.

Hanryo nimmt die Speisekarte und beginnt sie ihr vorzulesen: "Katanamachi-Reisteller, Sushi, Nudeln, Frühlingsrollen, Bambussprossensuppe, hast du dich schon für etwas davon entschieden, war etwas für dich dabei?"

"Ich kenne so gut wie nichts davon, kannst du mir was empfehlen?" bat sie ihn leise.

"Sushi, das schmeckt hier am besten, deswegen sind hier auch die ganzen armen Goldfische in den Aquarien."

"Ich bin nicht tierlieb, ich nehme die Fischstäbchen."

Er grinste kurz und sagte schließlich: "Du gefällst mir, du gefällst mir wirklich, ich werde viel aus dir machen."

"Aber vorher bitte noch Essen, ich habe seit mehr als zwei Tagen nichts mehr gegessen."

"Was willst du trinken?"

"Cola, gibt es das hier?"

"Nein, aber Zitronenlimonade."

"Auch gut."
 

Kurz darauf erschien am Tisch ein Kellner und nahm die Bestellung an. Es dauerte nicht lange, bis den beiden ihr Essen serviert wurde, jeder erhielt eine Portion Goldfisch-Sushi. Chikará staunte nicht schlecht, als sie ihre Mahlzeit erblickte, eine komische Mischung aus Fischstücken und Pflanzenteilen. Nach einigen Momenten des Zögerns, begann sie es zu essen. Hanryo bemerkt indes schnell, dass sie schon lange nicht mehr beim Essen beobachtet wurden war, beziehungsweise dass sie schon lange nicht mehr gesittet gegessen hatte. Sie stopfte alles schnell hinein, schmatzte und hielt die Essstäbchen völlig falsch. Aber was hätte man auch anderes erwarten sollen nach ihrem langen Aufenthalt in den Slums? Er bemühte sich dennoch, ihr einen Schnellkurs in Tischmanieren zu erteilen, seine kleinen, freundlichen Anweisungen trugen schnell ihre Früchte. Diese Sache mochte er an ihr von Anfang an besonders, sie war sehr lernfähig. Binnen geringer Zeit war sie dank ihm in der Lage, Speisen so zivilisiert einzunehmen wie ein Ritter am Hofe eines Königs. Hoffentlich würde sie auch ebenso gut das Kämpfen erlernen, dachte Hanryo sich. Nach einer halben Stunde waren die zwei Essensschalen restlos geleert, Chikará hatte alles sehr gut geschmeckt, trotz des sonderbaren Anblicks, sie hätte gerne noch eine weitere Portion gehabt, aber sie hatte Angst, sich ihren großzügigen Begleiter gegenüber als Vielfrass zu entpuppen. Vielleicht würde sie dann in seiner Gunst sinken oder vielleicht sogar wieder alleine gelassen? Aber ein braves Mädchen wollte sie nicht auf Dauer spielen, zudem gab es ja auch noch unendlich viele unbeantwortete Fragen zwischen ihnen. Nachdem Hanryo bezahlt hatte, gingen beide hinaus.

In der Nähe des Restaurants befand sich eine steinerne Sitzbank, nahe der Stadtmauer, sie setzten sich dorthin, ihre Blicke wanderten nach oben zum Horizont. Der Himmel war blau und wolkenlos, die Sonne brannte heiß hinunter auf die menschenvolle Einkaufsstraße. Es gibt von allen Fachhandelsgebieten mindestens eine kleine Verkaufsstelle in Katanamachi, auch Mediziner und Esoterikkünstler boten ihre Dienste an. Als Hanryo sich unbeobachtet fühlte, steckte er seiner Gefährtin ein Lederportemonnaie in die Hosentasche, Chikará bemerkte dies und blickte ihn sofort verwundert an.

"Du hast die Wahl. Ich gebe dir fünf Stunden um alles Nötige einzukaufen, was du brauchen wirst auf unserer Reise. Neue Kleidung, ein Schwert, Kosmetik, eventuell auch eine Sehhilfe. Das Geld, das ich dir gegeben habe, reicht vollkommen aus. Tu das, oder flieh vor mir, du hast die Wahl. Ich werde dich nicht verfolgen. Such es dir aus, willst du frei sein oder meine Gefährtin werden? Ich werde hier auf dich, wie gesagt, in fünf Stunden warten, wenn du nicht wiederkommst, so sei es, wenn du kommst, wirst du bei mir bleiben und mich begleiten auf einer weiten und anstrengenden Reise, ich werde auch weiterhin für dich sorgen und dir die Antworten geben, nach denen du dich so sehr sehnst. Falls du den anderen Weg einschlagen solltest, werde ich dir nicht böse sein. Es ist deine freie Entscheidung."

Überrascht blieb Chikará einige Minuten lang nachdenkend sitzen, dann stand sie auf und verschwand ohne sich noch einmal umzudrehen in der Menschenmasse auf der Einkaufsstraße.
 

Die fünf Stunden sollten schnell vergehen. Hanryo besuchte in der Zeit einen alten Freund, der ihn neue Landkarten verkaufte, die sehr neu waren und viele unbekannte Winkel der Region zeigten. Nun wartete Hanryo an jener vereinbarten Steinbank auf Chikará. Er blickte abwechselnd auf seine langsamtickende, silberne Armbanduhr und auf die Einkaufsstraße, die immer noch überfüllt von kauffreudigen Menschen war. Trotz kleinerer Bedenken und Zweifel war er fest davon überzeugt, dass Chikará wiederkommen würde zu ihm, sie hatte eine gute Seele, das hatte er schnell erkannt. Zudem, wenn sie nicht zurückkommen sollte, würde sie niemals den Sinn von seinem Handeln und ihre eigene Bestimmung erfahren. Er wusste aber auch sehr wohl, dass er sie nicht lange mit der Wahrheit zappeln lassen dürfte. Wenn sie den Vertrauensbeweis erbringen und wieder hier erscheinen würde, so sollte sie bald alles erfahren. Noch bevor sich Hanryo in Befürchtungen und Misstrauen stürzen konnte, stand Chikará plötzlich direkt vor ihm. Die Fetzenkleidung war umgewandelt wurden in eine schwarze Plastikfaserhose und ein schwarzes Polyesterhemd, überdeckt von einem langen pechschwarzen Ledermantel und einem schwarzen Baumwollhalstuch, abgerundet wurde die dunkle Erscheinung durch schwarze Lederschuhe. Ihre dunkle Gestalt wirke sehr magisch und geheimnisvoll. Die lange blaue Mähne reichte nur noch bis zum Hals, in ihrem schönen Gesicht saß eine Brille mit silbernem Gestell und ovalen Gläsern, sie hatte wohl seinen Ratschlag ernstgenommen. Ein strahlendes Lächeln begrüßte Hanryo. Die Griffe schwerer, bunter Einkaufstaschen lagen in ihren Händen. Die Vertrauensprobe war bestanden.

"Das Geld ist weg", begann Chikará ein Gespräch.

"Ich hoffe, du hast es sinnvoll investiert", sagte er.

"Schau mich an", entgegnet sie grinsend.

"Ab jetzt kann man dich überallhin mitnehmen, hast du alles Nötige gekauft?"

"Natürlich."

"Zeig mir später alle Sachen, wir müssen jetzt weiter, zum Bahnhof, vor dem Einbruch der Nacht sollten wir in Cháo sein. Dort habe ich ein kleines Haus. Gib mir ein paar der Taschen zum Tragen, es ist nicht weit bis zum Bahnhof."

Der vermeidliche Bahnhof bestand aus einem kleinen Bahnsteig, neben den sich ein kleines graues Haus befand, wo man die Fahrtickets bekam. Es dauerte nicht lange bis eine qualmende, dunkele Dampflokomotive mit Tender und drei Zweite-Klasse-Personenwagons eintraf, ein üblicher Personenzug in dieser Gegend. Im Inneren der grauen Wagen befanden sich braune Ledersitzreihen zu je drei Sitzplätzen, saubere Glasfenster ermöglichten einen Blick nach draußen. Ein Platz wurde allein benötigt, um das gesamte Gepäck zu verstauen, zwei blieben für die eigentlichen beiden Fahrgäste, Chikará wollte gerne am Fenster sitzen. Nur wenige Leute fuhren mit in diesem Wagon, die meisten von ihnen schienen nicht allzu reich zu sein, einfache Soldaten und Landstreicher insbesondere. Ein Pfiff ertönte, dann bewegte sich der Zug langsam und mit ruckartigen Bewegungen vorwärts, raus aus der Kleinstadt, hinein in die Steppenlandschaft. Eine weite grüne Ebene. Leichte Windstöße fegten wie Wellen über die wilden Graspflanzen, weiche Wolkenmuster schwebten am Horizont.

"Eine wunderschöne Welt ist das hier", spricht Chikará Hanryo an.

"Ja, hierhin sind die Menschen sie noch nicht zerstört."

"Wie groß ist eigentlich dein Haus?"

"Es hat nur vier kleine Zimmer, aber das reicht vollkommen."

"Du sagtest, ich werde kämpfen müssen, gegen wen denn?"

"Ich weiß es nicht, ich kann es nur vermuten."

"Und wen vermutest du?"

"Sehr gute und erfahrene Kämpfer."

"Wieso werde ich gegen sie kämpfen müssen?"

"Weil sie auf der anderen Seite stehen."

"Auf welcher Seite stehen wir?"

"Auf der Guten aus meiner Sicht, auf der Bösen aus Sicht unserer Gegner."

"Was ist denn deine Sicht?"

"Das wirst du noch erfahren."

"Wieso bist du immer so rätselhaft?"

"Wie versprochen, werde ich dir zuhause alles erzählen, sei nur geduldig", beendete Hanryo das Gespräch.

Die Fahrt dauerte ungefähr fünf Stunden. Der Bahnhof von Cháo, der wesentlich größer als der von Katanamachi war, stellte eine wichtige Station im Güterverkehr dar, da in dieser Gegend fast der gesamte Reisanbau des Landes betrieben wurde. Viele Tonnen des preiswerten Nahrungsmittels verließen jeden Tag den Gleisweg. Chikará hatte nicht viel Zeit, um sich die großen Speicherhallen, die schweren Lokomotiven und anderen Stahlgiganten anzuschauen, Hanryo wollte mit ihr schnellstmöglich zu seinem Haus. Der kurze Weg durch ein paar Gassen und durch einen kleinen Tunnel war schnell zurückgelegt. Das Haus war eine kleine Bambushütte, von außen sah sie recht unstabil aus, aber hinter der Holztüre verbürgte sich ein schöner, kleiner Raum, wo man zuallererst die großen Einkaufstaschen abgestellte. Das Zimmer war eingerichtet mit einem viereckigen Metalltisch, einem hellen Ledersofa, einer schwarzen Kochstelle, einigen Zedernholzschränken, grauem Teppichboden, Bambuswänden mit je einem Glasfenster an jeder Seite und mit vielen Bildern von Maschinen, die an den Wänden hingen. Drei Holztüren führten hinaus aus diesem Raum, eine ins Badezimmer und zwei in kleine Schlafräume. Das Badezimmer bestand aus einer Dusche, einer Toilette und einem Waschbecken, hellblaue Kacheln überdeckten den Boden und die Wände. Die beiden Schlafräume umfassten jeweils nur ein Bett mit einer Federmatratze und braunen Wolldecken, neben den eine einfache Holzkommode stand. Nach einem kleinen, aber aufmerksamen Rundgang hatte sich Chikará an die neue Unterkunft gewöhnt.

"Nettes Eigenheim, es sieht nur ein wenig unrobust aus, Bambus", kommentierte sie das Haus.

"Außen eine Schicht, innen eine und dazwischen eine Stahlplatte, siehst du die glänzenden Stellen zwischen den Bambusstücken?"

"Ja, ich erkenne sie."

"Dieses Haus hält viel aus, glaub es mir."

"Zwei Schlafzimmer, für mich ein eigenes, oder?"

"Natürlich, eine Nacht neben dir hat mir gereicht", lästerte Hanryo. "Zeig mir doch mal, worin mein Geld von dir investiert wurde."

"Gut, fangen wir an", Chikará begann die großen Einkaufstaschen auszupacken und nebenbei alles haargenau zu erklären. "So, neben den schwarzen Stiefeln, die ich gerade trage, habe ich noch zwei paar Turnschuhe gekauft, zum Kämpfen schienen die mir geeigneter. Sieben Paar schwarze Strümpfe, Strumpfhosen liegen mir nicht so. Dann, eine blaue Jeans, vielleicht etwas zu eng, aber das ist verkraftbar, dieselbe Hose, die ich gerade trage, noch mal in Weiß. Du merkst, Röcke sind absolut nichts für mich, die sind mir zu feminin und offenherzig. Ein weißes und ein schwarzes Hemd und einen schwarzen Baumwollpullover. Zwei schwarze, ein weißes und ein blaues Halstuch. Zu dem schwarzen Mantel noch eine kürzere weiße Jacke. Ich habe auch auf dich gehört und war bei einem Augenarzt, ich bin leicht kurzsichtig, aber die Brille soll hauptsächlich gewährleisten, das mir beim Kämpfen kein Blut in die Augen spritzen kann. Die neue Frisur hast du wohl schon bemerkt, etwas kürzer schien mir kämpferischer und wilder. Den Rest, so allerlei Kosmetik und Alltägliches, muss dir nicht unbedingt zeigen, oder?"

"Spar dir die Kleinigkeiten."

"Aber das allerbeste muss ich dir noch zeigen."

Sie packte ein Schwert aus einer Lederhülle aus, ein Katana, anschließend hielt sie die Waffe stolz hoch wie einen Pokal. "Meine großartige Waffe!" Es war ein zirka einmeterlanges, einschneidiges Schwert mit einen Zweihandgriff, der umwickelt war mit einem schwarzen Band, die glänzende Stahlklinge war leicht gebogen. Hanryo war überrascht, solch eine professionelle Waffe fortgeschrittener Kämpfer hatte er bei ihr nicht erwartet, obwohl er auch selbst ein ähnliches Schwert besaß. "Gute Wahl, es ist wirklich eine hervorragende Waffe, aber weißt du überhaupt, wie man damit umgeht?"

"Im Laden war mir so, als hätte so eine Waffe schon einmal gehabt und mit ihr gekämpft, ich kann mich nicht wirklich erinnern, ich weiß es nur irgendwie."

"Wir werden morgen sehen, was du damit kannst."

"Bist du denn insgesamt mit meinen Einkäufen zufrieden?"

"Ja, du hast ein gutes Händchen für kämpferische Ausrüstung."

"Wieso leistest du dir bei soviel Geld kein größeres Haus?"

"Wieso sollte ich, ich bin von meiner Militärzeit nichts Besseres gewöhnt."

"Aber heute bist du doch nicht mehr bei der Armee."

"Nein, ich bin noch Soldat."

"Du sagtest aber zuletzt, du wärest keiner mehr?"

"Ich arbeite nicht mehr für ein Land oder eine Organisation, ich arbeite heute nur noch für meine Überzeugung und meine Heimat."

"Und wo ist deine Heimat?"

"Auf den anderem Kontinent, hinter dem großen Ozean, dort lebten einst die großen Drachen."

"Drachen sind doch nur Legenden!"

Hanryo lacht.

"Die sind doch alle ausgestorben", erklärte Chikará.

"Das meinst nur du, zugegeben, es gab einmal viel mehr von ihnen auf der Welt, aber auch heute gibt es noch viele."

"Als nächstes sagst du bestimmt, dass dein Urgroßvater ein Drache gewesen sein soll?"

Sie lässt sich auf das Ledersofa fallen und blickt wie erstarrt zur Zimmerdecke.

"Ich bin wirklich ein Drache", entgegnete Hanryo nüchtern.

Sie schaut ihn daraufhin kritisch und ungläubig an. "Dass du nicht mehr alle Tassen im Schrank hast, hast du mir ja schon bewiesen, aber jetzt übertreibst du völlig!"

"Nein, es ist wahr."

"Beweis es mir!"

"Das kann ich nicht."

"Na also! Gib zu, das du lügst!"

"Gut, ich beweise es dir."

Hanryo schloss die Augen. Blitzartig wuchsen aus seinem Rücken große, rötliche Schwingen, die seine Kleidung beim Austreten zerfetzten und nach wenigen Sekunden wieder in seinem Körper zurück verschwanden. Chikarás Blick blieb wie gefesselt am Körper ihres Begleiters haften, sie schwieg, wurde blass wie eine Leiche und schüttelte ungläubig den Kopf.

"Ich denke, das reicht zur Überzeugung", sprach Hanryo lässig.

"Wie, wie viele von euch Drachen gibt es?", fragte sie ihn stotternd.

"Weniger als hundert, das mit dem Ausstreben stimmt irgendwo schon."

"Aber in Geschichten sind Drachen doch immer Reptilienviecher?"

"Viele können heutzutage diese Form nicht mehr annehmen, unter ihnen bin auch ich selbst, aber die Schwingen sind mir immerhin geblieben."

"Kannst du auch Feuerspeien?"

"Nein, leider nicht."

"Ein Drache bist du also, unfassbar", urteilte sie immer noch verblüfft.

"Nun, ich habe mir das nicht ausgesucht."

"Man sagt doch immer, Drachen seien böse Monster oder so, du bist aber gar nicht so."

"Nur Vorurteile, aber gibt es auch genug Böse von uns."

"Drachen, man entdeckt immer wieder neue Wunder auf dieser bizarren Welt."

"Drachen sind keine Wunder, sie sind eine Rasse wie die Menschen oder die Jishus."

"Verrückt, aber warum interessierst du dich denn jetzt für mich und hilfst mir?"

"Du bist ebenfalls ein Drache."

Chikará schloss die Augen und ließ ihre Arme am Sofarand hinunterfallen. "Das bin nicht, das wüsste ich, oder?"

"Warum versteckst du eigentlich immer deinen Hals?"

Sie öffnete wieder die Augen und schaute Hanryo wütend an. "Das hat nichts damit zu tun!"

"Doch, warum immer Rolltragenkleidung oder Halstücher?"

"Ich mag es halt so", versuchte sie sich herauszureden.

"Irgendwann, es ist schon sehr, sehr lange her, da hat jemand versucht dich zu töten. Du hast es zwar überlebt, aber eine große, schmerzende Narbe blieb dir bis heute."

Chikará stand wieder auf, stellte sich vor Hanryo hin und nahm wie in Gedanken versunken ihr Halstuch ab, eine sehr große, halbverheilte Wunde kam zum Vorschein.

"Es war ein guter, gerader Schlag, aber du konntest in letzter Sekunde gerettet werden."

Sie zog sich wieder das Halstuch an und setzte sich auf das Sofa. "Ich habe diese Narbe, seitdem ich denken kann, ich weiß nicht, wo sie herkommt, und warum sie nicht verheilt."

"Sie wird leider niemals verheilen."

"Wer war das?", schrie sie. "Warum wollte er mich töten?"

"Du warst für sein Volk eine große Bedrohung."

"Ich werde dir die ganze Geschichte später erzählen, sie ist sehr lang. Es ist sehr lange her, du hattest einen Gedächtnisverlust, deshalb kannst du dich an nichts mehr erinnern."

"Einen Gedächtnisverlust?"

"Ja, wieso und weshalb weiß ich leider nicht, ich kenne nicht deine ganze Geschichte."

"Welcher Drachenart gehöre ich denn an?"

"Du bist ein Kaiserdrache."

Sie nickte. "Das hört sich nicht schlecht an."

"Du bist die mächtigste und stärkste Drachenart überhaupt."

"Wirklich?", fragte sie skeptisch.

"Ja, wirklich."

"Warum habe ich denn nie etwas davon gemerkt? Hör endlich auf mit den Märchen!"

Hanryo nahm auf einmal ein Messer und wollte es in Chikarás Kopf rammen, aber noch bevor sie zusammenzucken konnte, zersprang die Klinge in tausend Einzelteile, Chikará hatte nicht einen einzigen Kratzer abbekommen, zitternd tastete sie zuerst ihren heilgeblieben Kopf ab, dann starrte sie nur noch Hanryo an.

"Du bist unverwundbar und unsterblich."

Sie stand vom Sofa auf und ging zu einem der Fenster, draußen war es inzwischen stockdunkel.

"Wieso fiel mir das niemals selbst auf?"

"Vielleicht waren die Drogen es schuld, außerdem rechnet man als Mensch ja auch nicht mit so etwas, und man versucht alles irgendwie logisch zu erklären."

"Wenn ich unverwundbar bin, wie konnte ich dann diese Narbe am Hals bekommen?"

"Es gibt wahrscheinlich nur eine einzige Waffe auf der gesamten Welt, die dir Schaden zufügen kann, ein verfluchtes Schwert aus ferner Vergangenheit, aber dieses Werkzeug des Bösen ist heute sehr gut versteckt, mach dir keine Sorgen."

Sie setzte sich wieder auf das Sofa, ein großer Schock saß tief in ihrer Seele. "Und wie wird es jetzt weitergehen?"

"Morgen trainieren wir in einem nahliegenden Waldgebiet, wir werden langsam anfangen, keine Sorge."

"Verrat mir noch eine letzte Sache, warum hilfst du mir?"

"Es ist meine Bestimmung, ich wollte dir helfen."

Chikará zögert einige Momente. "Ich bin sehr müde, ich muss über das alles unbedingt eine Nacht lang schlafen."

"Es sei dir gegönnt, nimm das linke der beiden Schlafzimmer, die Türe kannst du ruhig abschließen, deine Sachen werden ich in den Schränken hier verstauen. Steh morgenfrüh auf, wenn du ausgeschlafen bist, wir haben alle Zeit der Welt. Gute Nacht."

"Danke, gute Nacht."

Sie erhob sich von dem Sofa und ging in ihr Zimmer, dabei wirkte sie immer noch etwas geistesabwesend und rastlos. Hanryo war sehr froh, dass sie nun die Wahrheit kannte, ihr Gespräch war besser verlaufen, als er es erwartet hatte. Jetzt hatte er ihre Solidarität endgültig gewonnen, jetzt würde sie für ihn die treuste Gefährtin überhaupt werden, so hoffte er. Endlich hatte er sein erstes großes Ziel erreicht. Glücklich packte er ihre Kleidung und Ausrüstung in die Holzschränke, bevor auch er Schlafen ging.

Chikará hatte soviel Unvorsehbares und Unverstellbares, aber dennoch Wahres erfahren, dass ihre Gedanken keine Ruhe finden konnten. Als sie im Bett lag, versuchte sie die Geschehnisse zu verarbeiten.
 

*

Kaiserdrache. Was war das genau? Drachen, sie gehörten doch eigentlich nur in ein Märchenbuch? Welche Vergangenheit? Eine ausgelöschte Vergangenheit, ohne auch nur die geringste Erinnerung. Welche Feinde? Gedächtnisverlust? Wo war die Vergangenheit? Wo war nur? Wo war sie?

*
 

Hanryo klopfte an der Türe des Schlafzimmers. "Chikará, bist du schon wach?"

"Ehrlich gesagt, nein", antwortete sie gähnend.

"Tut mir leid, ich wollte dich ja ausschlafen lassen, aber wir müssen doch langsam einmal aufbrechen, es ist bereits Mittag."

"Schon gut, ich stehe auf."
 

Chikará zog sich an, wusch sich schnell und nahm ein kleines, verspätetes Frühstück zu sich, dann begaben sich Hanryo und sie zum Bahnhof, das einzige Gebäck der beiden waren ihre Kampfschwerter. Mit einem großen roten Güterzug fuhren sie gen Norden, wo sich ein Laubwald befand. Ein unbeladener Flachwagon diente ihnen als Transportmittel, Hanryo kannte viele Arbeiter der Eisenbahngesellschaft, sie ignorierten immer seine Schwarzfahrten. Ohne Grund und Nutzen war seine Anwesenheit jedoch nicht, sofern Räuber oder andere aggressive Kreaturen auftauchten, kämpfte der ausgebildete Elitekrieger stets an der Front neben dem unerfahrenen Bahnpersonal, aber solche Situationen waren eher die Ausnahme. Chikará legte sich auf den Rücken und betrachtete den blauen Himmel während der ruhigen Fahrt vorbei an Reisfeldern. Das tiefe, kühle Himmelblau, ein endloser Ozean über der Welt mit schneeweißen Wolken als wandernde Wellen. Die ewige, blaue Leere, in deren Obhut große Vögelschwärme reisten, sie flogen höher als alles von Menschenhand erbautes Wunderwerk, tauchten tiefer im endlosen blauen Meer als alles Menschliche. Wunderschönes blaues Idyll der Unvergänglichkeit.
 

Der Zug hielt kurz an, Hanryo und Chikará stiegen vom Wagon und gingen ins nahliegende Waldstück. Der uralte Boden war grün von Einzellern, Moos, Flechten, kleinen Kräutersträuchern und anderem Pflanzen. Große Eichen ragten zum Himmel, durch ihr dichtes Blätterdach fielen nur wenige Sonnenstrahlen. Vögelgezwitscher und leichtes Windrauschen waren zwischen den mächtigen Baumstämmen zu hören. Kleine Insektenschwärme tanzten durch die Lichtungen, der Weg, sofern er erkennbar war unter dem Grün, verlieft vorbei an vielen verfallenen Holzhütten. Die Menschen hatten sich vor langer Zeit von hier zurückgezogen, in die städtische Lebenswelt waren sie voller Enthusiasmus gegangen, sie hatten ihre alten, hölzernen Eigenheime hinterlassen. Trotz der Herrschaft der grünen Natur, schien der Forst leblos und verlassen zu sein. Die wenigen Tiere, die einem begegneten, waren lediglich Singvögel oder kleine Nager, von richtigen Waldbewohnern wie Rot- oder Schwarzwild fehlte jede Spur, ebenso wenig fand man hier Jäger oder Wanderer, geschweige denn Ureinwohner oder exotische Lebensformen. Für Hanryo war dies ein optimaler Trainingsort. Chikará marschierte mit weitgeöffneten Augen durch das Dickicht, sie fand hier alles magisch, diese unberührte Natur, diese ursprüngliche Welt, voller Harmonie, Idylle und Anmut. Ein Paradies ohne Betongrau oder Neonfarben, aber auch ohne wahre Lebewesen, ein Zauberwald wie aus einem Märchen, als wäre es ein schöner Traum, der nicht enden wollte. Chikará pflückte eine kleine Heckenrose, die aus einem großen Dornenstrauch hervorragte, sie betrachtete sie versunken in ihrem magischen Bann, starkes, leidenschaftliches Blütenrot, eine rote Flamme im ewigen Waldgrün. Niemals war ihr die vollkommene Schönheit der Natur so nah und greifbar, niemals so offensichtlich und zugleich versteckt im endlosen Pflanzenmeer.
 

"Was ist das hier für ein seltsamer Ort, Hanryo?", fragte Chikará.

"Der Eichenwald."

"Er ist so märchenhaftschön."

"Ja, das ist er."

Sie dreht sich zu Hanryo. "Ich glaube, ich weiß, warum du mich zurück auf den anderen Kontinent bringen sollst, damit ich über die wenigen noch Lebenden unserer Art herrsche, stimmt es?"

"Nein."

Ein längeres Schweigen folgte. Chikará setzte sich auf einem dünnbewachsenen Baumüberrest. Sie dachte nach. Hanryo merkte, dass sie unter dem ständigen Halbwissen sehr litt, dennoch sollte sie noch nicht alles erfahren, weswegen er versuchte, sie abzulenken.

"Chikará, ich muss dich ein paar Tage lang im Schwertkampf schulen, danach werden wir andere Drachen treffen."

"Welche?", sie schaute ihn erwartungsvoll an.

"Ich kann dir nichts versprechen, einige habe ich seit vielen Jahrzehnten nicht mehr gesehen, aber eine Sache solltest du wissen, wir Drachen sind uns gegenüber niemals feindselig, dies ist vielleicht der größte Unterschied zwischen uns und den Menschen."

"Ich dachte bis vor kurzem, es gäbe auf der Welt nur Menschen. Nun, kannst mir nicht auch noch andere Arten zeigen, zum Beispiel die Jishu, von denen du einmal geredet hast?"

"Kein Problem, ich kenne einige, aber sie sind sehr kompliziert, sie besitzen sehr seltsame Weltanschauungen und Eigenarten. Lass uns ein anderes Mal ausführlich darüber reden, beginnen wir jetzt mit dem Training."

"Gut, unterhalten können wir uns auch noch später", sagt Chikará zustimmend.
 

Sie packten die beiden Schwerter aus, und Hanryo fing an, seine Gefährtin in die Kunst des östlichen Schwertkampfes einzuweihen. Er selbst hatte bereits vielen Soldaten die alte, aber immer noch sehr effizienten und leichten Schlagvarianten, Kombinationen und Abwehrtechniken der Drachenkrieger und Ostritter gelehrt. Obwohl er niemals an Turnieren oder Wettkämpfen teilgenommen hatte, sondern sein Wissen lediglich in unübersichtlichen Schlachten oder versteckten Duellen angewandt hatte, hatten ihn viele in der Vergangenheit für einen der besten Schwertkämpfer gehalten.

Das Training verlief sehr gut. Chikará lernte schnell und aufmerksam, binnen kurzer Zeit beherrschte sie auch anspruchsvolle Attacke und komplizierte Paraden. Weshalb sie alles derart leicht erlernen konnte, wusste sie selbst nicht und war deswegen einwenig verwundert. Hanryo vermutete, dass sie vielleicht schon früher einmal im Schwertkampf ausgebildet wurde. Auch wenn ein Großteil ihres Lebens ausgelöscht wurden war, einige Dinge waren vielleicht im Gedankenchaos ihres Gehirns erhalten geblieben.

Zu Beginn des Sonnenuntergangs traten die beiden die Rückreise an. Derselbe Zug wie am Morgen brachte sie zurück nach Chaó, sie verweilten auf demselben Flachwagon, jedoch schlief Chikará nun, die vielen Stunden des Kampftrainings hatten sie sehr müde gemacht, sobald sie auf den Boden des Wagens lag, fielen ihre Augen zu. Hanryo betrachtete ihren schlummernden Körper mit einem leichten Lächeln. Wenn sie schlief, stellte sie wenigstens keine Fragen, sagte er sich selbst. Sie hatte sich ihre Ruhe verdient, schließlich hatte seid seit langem nicht mehr trainiert. Zum ersten Mal, seitdem er sie in den Slums getroffen hatte, bekam Hanryo Hoffnung, dass vielleicht doch alles funktionieren könnte und er sie heil nach Drachenland bringen könnte, so wie er es sich selbst versprochen hatte. Doch das Ziel war noch sehr weit weg, der lange Weg war gefährlich und es würde bestimmt noch Unmengen von unvorsehbaren Schwierigkeiten auf sie zukommen.

Mit dem Anhalten des Zuges im Bahnhof erwachte Chikará. Hanryo und sie verließen das Bahnhofsgelände und gingen durch den Tunnel zurück nach Hause. Dort angekommen, setzten sich beide zunächst erschöpft auf das Ledersofa. Beide gähnten fast gleichzeitig, Chikará fielen erneut die Augen zu, und Hanryo stützte sich mit einem Arm dem Kopf ab. Beide waren am Ende ihrer Kräfte.

"Willst du heute Abend noch duschen?", fragte Hanryo, woraufhin Chikará wieder die Augen öffnete.

"Lieber morgenfrüh, jetzt würde ich bestimmt unter der Dusche einschlafen", antwortete sie und gähnte noch einmal.

"Hast du Hunger oder Durst?"

"Beides."

"Reis und Apfelsaft?"

"Ja, wenn es nicht zulange dauert, gerne."

Hanryo packte die Kampfschwerter wieder weg in einen Schrank, aus einem anderen holte er eine Glasflasche mit Apfelsaft, zwei Trinkgläser, zwei Essschalen aus weißem Porzellan, zwei paar Essstäbchen, einen Metalltopf und etwas Reis. Während Chikará den Saft trank, kochte Hanryo das Essen.

"Etwas sauer, aber gut", kommentierte Chikará ihr Getränk.

"Saure Äpfel sind natürlicher, die Süßen sind oft chemisch behandelt oder Schlimmeres. Ich hoffe, dir reicht einfacher Reis ohne Gemüse, Fleisch oder Soße, für mehr bin ich jetzt auch zu müde."

"Es ist schon gut, normalerweise sind doch Frauen für das Kochen zuständig?"

"Nur bei Menschen, bei Drachen gibt es solche Regeln nicht, fast alle Drachenfrauen, die ich kannte, arbeiteten auch als Soldaten oder ähnliches."

"Wirklich? Ich selbst kann mich noch nicht wirklich mit den Gedanken anfreunden, ein Drache zu sein."

"Das kommt schon noch, du bist ja immerhin erst seit einem Tag ein Drache."

Chikará lächelte und schwieg einige Momente.

Nachdem Essen konnte sie endlich in ihr geliebtes Bett gehen. An diesem Tag war sie viel zu müde, um sich den Kopf über die Erfahrungen des Tages zu zerbrechen, sie schlief sofort ein.

Anfang (Teil 2)

Am darauffolgenden Morgen plante Hanryo mit Hilfe der Landkarte den nächsten Zielort. Chikará betrachtete fasziniert die Pläne, da sie die östliche Welthälfte immer für viel kleiner gehalten hatte. "Wohin geht es heute?", wollte sie wissen.

"Heute werden wir eine andere Drachenfrau besuchen, sie wohnt vier Stunden Zugfahrt von hier entfernt in einer großen Villa", erzählte Hanryo.

"Gut. Erzähle mir doch mehr von ihr."

"Ich kenne sie nicht allzu gut, sie heißt Akashia und wurde früher durch kriminelle Machenschaften steinreich. Es ist manchmal schwierig mit ihr ernsthaft zu reden, aber man kann er vertrauen, und sie weiß sehr viel über die Vergangenheit."

"Was hat sie denn gestohlen?"

"Das kann sie dir gleich selbst erklären."
 

Die Zugfahrt auf einem leeren Kohlewagon verlief ohne größere Komplikationen. In der Gegend nordwestlich von Chaó hatte man sich auch auf Reisanbau spezialisiert. Die Morgensonne brannte heiß und unerbittlich herab auf die ebene Landschaft. Große wässrige Plantagen auf denen viele Bauern arbeiteten, sie trugen Strohhüte und haben kleine Augen, die typischen Merkmale der Menschen aus dem Osten. Es waren arme Arbeitsknechte ohne Perspektiven, die sich von ihrem Gehalt lediglich eine tägliche Mahlzeit finanzieren könnten, wenn überhaupt etwas. Die technische Revolution nach dem Krieg hatte für sie nur negative Folgen, ihr Leid und ihre Armut waren durch die neuen fortschrittlichen Gerätschaften weiter gewachsen, die Maschinen hatten vielen von ihnen den Arbeitplatz weggenommen. Der Segen der Technik erreichte sie niemals. Um gegen die westliche Maschinenlandwirtschaft bestehen zu können, mussten die Bauern im Osten mehr und günstiger produzieren als ihre Konkurrenz, zu jener Zeit reichte selbst das nicht mehr, um zu überleben. Mit dieser Entwicklung wuchs auch die Kluft und die Differenzierung zwischen den Armen und Reichen, die nun allgegenwärtig war. Separate Wohnviertel wie in der Ostmetropole waren dafür ein typisches Beispiel. Ob diese Gesellschaftsteilung jemals verschwinden sollte, war mehr als fraglich. Chikará betrachtete diese Menschen während der Fahrt mit einem Hauch von Mitleid, schließlich hatte auch sie bis vor kurzem genauso wie jene Bauern gelebt, wenn nicht sogar noch erbärmlicher. Ihnen zu helfen war sehr schwer, fast unmöglich. Seit Anbeginn der Welt gab es Arme und Reiche, Schwache und Starke, Hässliche und Schöne, Gute und Böse, all diese Gegensatzpaare konnten niemals in der Vergangenheit aufgelöst werden, weder von Menschen, noch von Drachen oder Göttern. Wäre nicht eine Welt wünschenswert, in der alle gleich wären? Niemand wäre einem anderen überlegen, alle wären gleichgut, gleichstark, gleichintelligent, gleichschön, gleichbeliebt, gleichreich, gleich in allen Hinsichten. Niemand wäre jemand anderem Untertan, alle wären absolut identisch in der Machtposition. Wie schön wäre solch eine Welt? Die Realisierung dieser Vorstellung war unmöglich. Lediglich in Märchen und in den Köpfen von Kinder existierten derartige Welten. Träume ohne einen Hauch Realität. Schöne Träume. Nur Träume eben.

Die große Villa von Akashia lag mitten in einem künstlichangelegten Kirschbaumwald. Ein riesiges weißes Haus aus gebrannten Ziegelsteinen mit einem dunkelbraunen Holzdach. Steinerne Tiger bewachten es, bunte Singvögel tummelten sich auf ihren Körpern. Die eigenartige Konstruktion waren interessant, die Wandstücke schienen eher westlicher Bauart, das Dach, die Türen und Fenster waren hingegen östlich orientiert. Das ansehnliche Gebäude hatte mindestens die Grundfläche eines durchschnittlichen Bahnhofs oder einer Lagerhalle und ragte vier Stockwerke weit in die Höhe. Ein hoher Kirschbaumholzzaun schützte die Villa und einen umliegenden Orchideengarten, eine wunderschöne selbstgezüchtete Blumenvielfalt, gefangen oder geschützt hinter der dunkelbraunen Mauer, die aus ihren großen Verwandten gemacht wurde. Alles erinnerte an einen Schrein aus dem Nordosten, wo man derartige Bauten für Herrscher und Götter pflegte. Am Schutzwall stand eine Wache, ein junger kräftiger Mann in dunkler Uniform, er ließ die beiden Gäste ohne Zögern passieren. Ein weißer Marmorpfad führte durch das exotische Blumenfeld. Chikará bewunderte die vielen farbenreichen Gewächse, sie besaßen eine ähnlich vollkommene Schönheit wie die Pflanzen im Eichenwald. Die Haustüre bestand aus demselben Holz wie das Dach, die Rahmen waren mit Drachenköpfen verziert. Hanryo klopfte zweimal. Eine bezaubernde, junge Frau öffnete ihnen die Pforte. Sie hatte weiße Haut, lange dunkelbraune Haare, ein langes schneeweißes Seidenkleid mit passenden Stöckelschuhen, eine goldene Kette um den Hals und goldene Reife um die Handgelenke, goldene Ringe an den Finger und natürlich leuchtende grüne Augen, ein deutliches Erkennungszeichen der Drachen. Akashia war sehr überrascht von diesem Besuch, sie verbeugte sich zur Begrüßung, Hanryo und Chikará erwiderten den Gruß.

"Hanryo, was hast du dir da für eine bildschöne Yetaidé an deine Seite geholt?", fragte sie.

"Ich erkläre es dir drinnen."

"Gut, folgt mir."
 

Drinnen offenbart sich ein weiteres Mal der unglaubliche Reichtum der Eigentümerin. Beige Marmorskulturen von Drachen, handgestickte farbenfrohe Teppiche mit Tiermotiven, überall Spiegel, weiße Holzmöbel, prunkvolle vergoldete Kronleuchter, teure Bonsaibaumzüchtungen, buntbemalte Seidentücher, eine goldene Drachenfigur, die Menge an unbezahlbaren Gegenständen war schier endlos. Chikará fühlte sich wie in einem Märchenschloss, die Gastgeberin übernahm die Rolle der verwöhnten Prinzessin, ihre Blicke hafteten überall in der unbewohnten Umgebung. Das Drachenmädchen schämte sich fast einwenig für ihre verhältnismäßig billige Kleidung, Hanryo hingegen beschaute alles gewohnt gelassen. Akashia bat die beiden, sich mit ihr an eine kleine weiße Edelholzsitzgruppe zu setzen. Chikará zog vorsichtig den Stuhl zurück und setzt sich langsam und angespannt auf das Wollpolster, sie hat Angst die teure Einrichtung versehentlich zu demolieren. Ein Diener bot allen ein Glas Sake an, ein Gespräch begann indes.

"Stelle mir deine Gefährtin vor", forderte Akashia Hanryo freundlich auf.

"Sie heißt Chikará", antwortete er.

"Ein schöner Name, was brachte euch zusammen?"

"Ich traf sie vor einigen Tagen in der Ostmetropole."

"Und was verbindet euch jetzt?"

"Nicht viel, sie begleitet mich nur, und ich biete ihr einen Schlafplatz und lehre sie die Kunst des Kendos."

"Ist sie eine gute Kämpferin?"

"Selbstverständlich."

"Wohin führt euch der Weg?"

"Unsere Heimat ist unser Ziel, die Reise wird aber noch einige Zeit in Anspruch nehmen."

"Was wollt ihr dort?"

"Schauen, was man für unser Volk noch machen kann, und was uns die Zukunft bringt."

"Was führte euch dann zu mir?"

"Chikará hatte einen schweren Gedächtnisverlust, sie vergaß alles über uns und die Welt. Ich wollte ihr einen anderen Drachen vorstellen."

"Ich diene dir also nur als Demonstrationsobjekt?", fragte Akashia einwenig verärgert.

"Nein, das nun nicht, sie muss viel über die Vergangenheit erfahren, und du bist eine vorzügliche Geschichtenerzählerin", konterte Hanryo.

"Danke", erwiderte Akashia mit einem Hauch Ironie. "Sie muss dir wichtig sein, wenn du sie nur deshalb zu mir bringst."

"Sie ist mir sogar sehr wichtig."

"Weshalb?"

"Erkennst du sie wirklich nicht?"

"Nein", antwortete Akashia verwundert.

"Du sagtest eben, sie sei ein Meerdrache, das stimmt nicht, hilft dir dieser Hinweis?"

"Sag mir endlich, wer sie wirklich ist."

"Sie ist ein Kaiserdrache."

Akashia ließ ihr Glas auf den Boden fallen, man hörte den hellen Klang zerspringender Scherben, sie starrte Chikará ungläubig an. Ihr Blick zeugte von Angst, es war eine seltsame Art von Angst, die irgendwie etwas Positives in sich trug. Chikará war geschmeichelt, ihre Wangen färbten sich rötlich. Zum ersten Mal begriff sie ansatzweise, dass sie wohl wirklich etwas Besonderes sein musste.

"Wie hast du sie gefunden?", Akashia wendete sich wieder zu Hanryo. "Wieso lebt sie noch, es hieß doch immer, sie wäre tot?"

"Die Menschen haben sie nicht getötet, sie löschten vielleicht dafür ihr Gedächtnis und brachten sie weit weg von zuhause."

"Aber wie konntest du sie finden?"

"Mit der Hilfe einiger Freunde und mit sehr viel Glück, eigentlich mit unbeschreiblich viel Glück, meine Suche war lang und kräftezerrend."

"Was wollt ihr auf dem anderen Kontinent?"

"Da du uns sowieso nicht nachkommen würdest, kann es dir egal sein. Erzähle ihr nur unsere Geschichte, du hast von ihr viel mehr miterlebt als ich, und erkläre ihr, wie die Lage heute ist."

Akashia stand langsam und nachdenklich auf. Ihr Blick wanderte erneut zu Chikará.

"Folg mir bitte."

Akashia ging ohne sich noch einmal umzudrehen geradewegs zu einer Türe am anderen Ende des Raumes. Zunächst schaute Chikará ihren Gefährten zweifelhaft und konfus an, doch als er ihr bestätigend zunickte, begab sie sich ebenfalls zu jener Türe.
 

Hinter dem Haus befand sich ein herrlicher, in östlicher Tradition gehaltener Garten mit einem kleinen, idyllischen Teich, neben dem eine dunkelbraune Kirschholzbank stand, auf die sich Akashia und Chikará setzten. Beide schwiegen. Die Mittagssonne schien durch das Wolkendach, es war dennoch nicht mehr allzu warm, in der Ferne bewegten sich die hohen Baumkronen durch die Windströme.

Akashia konnte immer noch nicht begreifen, dass ihre Gesprächspartnerin wirklich ein legendärer und vergessengeglaubter Kaiserdrache sein sollte. Chikará hingegen fand die reiche Drachenfrau irgendwie unsympathisch, sie sah in ihr fast schon etwas Hinterlistiges oder Gegnerisches, obwohl sie dafür keine stichfesten Gründe hat, nur Vermutungen und Gefühle. Jedenfalls wurde ihr Zusammensein anfangs von einer unerwarteten Stille geprägt. Die beiden starrten zunächst zum Horizont und zum Grund des Fischteiches. Das Wasser war klar und rein, dunkelgrüne Algen wuchsen am steinernen Boden, rotweiße Koi-Karpfen schwammen verträumt umher. Seerosen, die bunten Blüten sowie die großen gelbgrünlichen Blätter, trieben an der Oberfläche, eine kleine Fontaine spritzte aus der Mitte des Gewässers, im Zusammenspiel mit den grellen Sonnenstrahlen ließen ihre winzigen Wassertropfen einen kleinen, bunten Regenbogen erscheinen. Kleine, schwarzorange Singvögel kamen ans Teichufer umzutrinken. Die Wolkenmuster und der blaue Himmel spiegelten sich an der Wasseroberfläche, so als wären sie ein Teil des Wassers, oder das Wasser ein Teil vom ihnen, ein verlorener Partikel des schier endlosen tiefen Ozeans über der Erde. Chikarás Augen und Gedanken kamen nicht weg von dem beschaulichen, kleinen Teich. Er war eine eigene kleine Welt, die existierte ohne andere Welten zu beeinflussen, die scheinbar ohne die Unterdrückung anderer auskam. Wie auch, die Karpfen interessierten sich nicht für die Algen, und da die friedlichen Fische alle gleichgroß und gleichkräftig waren, war wohl keiner einem anderen unterlegen. Eine scheinbar perfekte Welt, aber eben leider nur scheinbar. Bestimmt würden auch diese Wassergeschöpfe untereinander kämpfen, sei es um Nahrung, um Weibchen oder um ihr Revier. Sie waren genauso wie die Menschen, aber waren die Drachen überhaupt anders?
 

Irgendwann entschloss sich Akashia, das Schweigen zu brechen, sie fasste sanft nach Chikarás rechter Hand.

"Was weißt du bereits?"

"So gut wie nichts", entgegnete Chikará. "Es gab irgendwann einmal einen Krieg und, ich bin ein Kaiserdrache, mehr weiß ich nicht, du kennst ja Hanryo."

"Ja, Klartext zu reden war niemals seine Stärke gewesen, was weißt du denn über deine Art, die Kaiserdrachen?"

"Nur grobe Details, ich bin unverwundbar und unsterblich, abgesehen von einer Ausnahme, es gibt eine einzige Waffe auf der Welt, die mich verletzen kann, und mit jener hat mir vor langer Zeit ein Mensch eine große Narbe am Hals beschert."

"Deswegen das Halstuch?", fragte Akashia mit dunkler Stimme.

"Ja, was weißt du über diese Waffe?"

"Ich will ehrlich sein, ich weiß lediglich, dass solch eine furchtbare Waffe einst ein schrecklicher Dämonenfürst führte, aber diese Geschichte ist viele Jahrtausende alt, vielleicht ist sie auch nur ein Märchen."

"Was weißt du denn sonst noch über meine Art und Drachen allgemein?", wollte Chikará wissen.

"Darüber kann ich dir viel mehr erzählen, fangen wir ganz am Anfang an, vor etlichen Jahrmillionen beginnt der Teil der Geschichte, den ich kenne. Seit Anbeginn der Zeit sollen wir Drachen bereits über die ganze Welt geherrscht haben. Es gab aber immer nur einige wenige Kaiserdrachen wie dich, die die übrigen von uns anführten. Der Aspekt der Unverwundbarkeit stimmt, aber, dass ein Kaiserdrache unsterblich sein soll, ist eigentlich falsch, die Menschen glaubten es nur. Alle Drachen leben ungefähr fünftausend Jahre lang, dann folgt auch bei ihnen der Tod. Genauso wie bei allen anderen Wesen ist auch bei uns Drachen das Leben ein Kreislauf, an dessen Anfang die Geburt und an dessen Ende der Tod steht, jedoch können viele von uns nur an den Folgen des Alterns oder durch sehr schwere Verletzungen sterben. Ich weiß nicht, wie alt du genau bist, da Drachen ihr ganzes Leben lang das Aussehen eines Menschen von ungefähr zwanzig bis dreißig Lebensjahren haben."

Chikará hörte aufmerksam und fasziniert zu, ihr Misstrauen und ihre Verlegenheit verschwanden langsam. "Nun, nicht schlecht, dann habe ich ja noch richtig viel Zeit, um diese Welt zu erleben."

"Ja, hab keine Angst davor, Zeit zu verschwenden, davon haben wir wirklich mehr als genug."

"Wir besitzen auch ausgezeichnete Heilungsfähigkeiten, das heißt alle Verletzungen, die nicht tödlich sind, heilen immer vollständig aus, ohne Narbe zu bilden, und wir sind immun gegenüber allen Krankheiten, Suchten und Seuchen. Du solltest aber nicht vergessen, dass wir bewusstlos werden können und durch Drogen oder Alkohol berauscht, beziehungsweise betrunken werden."

"Das habe ich schon bemerkt, ich hatte in der Ostmetropole manchmal Kontakt mit Alkohol oder Drogen. Wieso hast du mich eigentlich eben Meerdrache genannt?"

"Zum einen verraten die leuchtendgrünen Augen einen Drachen, die haben alle von uns ausnahmslos, und es gibt noch einen Trick, mit dem man Drachenarten leicht unterscheiden kann, die Haarfarbe steht immer für ihr Element und für ihre Rasse. Bei Kaiserdrachen oder Yong-Yuandé wäre das normalerweise ein helles Goldblond. Normalerweise."

Chikará schaute zum Himmel.

"Da muss bei mir wohl irgendetwas nicht ganz geklappt haben", sprach sie grübelnd.

"Aber du bist trotzdem ein Kaiserdrache, Hanryo wird sich garantiert nicht irren bei so etwas. Ich kann dir das jedoch nicht erklären."

"Na ja, irgendwann wird Hanryo es mir schon erklären, hoffe ich. Erzähle mir doch jetzt von dem Krieg, welchen Hanryo erwähnte."

"Vor zweitausend Jahren wollten die Menschen der Drachenherrschaft ein Ende setzen. Große Rebellionstruppen, Widerstandsgruppen und aggressive menschliche Politiker erklärten den Krieg zwischen den Menschen und den Drachen. Aus heutiger Sicht kann das Verhalten der Menschen bedingt verstehen. Der damals regierende Kaiserdrache Quanli, er war wohl dein Vater, sprach ein striktes Verbot für alle Typen von moderner Technik aus, er wollte, das sich seine Welt nicht weiterentwickelt, sondern ewig auf demselben technischen Niveau stehen bleibt. Dieser Antitechnikvertrag hat ihn sein Leben gekostet, es war wirklich ein großer Fehler. Genau zu dieser Zeit bildete sich der hochtechnisierte Jishu-Stamm, ehrlich gesagt kann zwar niemand auf der Welt sie wirklich leiden, aber ihnen ist es zu verdanken, dass die Welt derzeit so ist, wie sie ist. Kannst du dir das heute vorstellen, wie es war, als Quanli regierte? Anstelle von schnellen Zügen gab es nur Kutschen und Wagen, die von Tieren gezogen worden, das einzige künstlicherzeugte Licht war das von Wachskerzenlicht, die Gebäude und Gegenstände waren alle aus unstabilen und vergänglichen Naturrohstoffen wie Holz oder Bambus. Maschinen gab es nicht, alles musste durch reine Körperkraft geschafft werden, die Kleidung bestand lediglich aus Wolle oder Leder, Epidemien vernichten ganze Regionen, da es keine wirksame Medizin gab, die Lebenserwartung der Menschen war nur halb so hoch wie heute. Die Armut war noch viel größer als heute, überall mussten Menschen hungern, die Nahrungsmittel waren viel zu teuer und von schlechter Qualität. Versteh mich bitte nicht falsch, ich wollte niemals, dass dein Vater stirbt, aber vergleiche die früheren Lebensbedingungen mit den heutigen, oder unser Leben mit dem der armen Bauern auf den umliegenden Reisfeldern, so wie ihnen heute, ging es damals allen Menschen, kannst du jetzt die Menschen und den Aufstand verstehen?"

Chikarás Blick nahm traurige Züge an. Sie hatte schon einmal kurz daran gedacht, dass ihr Vater wohl über die Welt geherrscht haben könnte, aber sie hatte gedacht, er wäre bestimmt ein guter Herrscher gewesen. Akashias Worte haben auf sie einen sehr bitteren Nachgeschmack. "Ja, ich weiß, was du meinst, die Reisbauern leben sehr schlecht und am Rande ihrer Existenz. Wieso hat mein Vater die Technik verabscheut, wollte er wirklich keinen Fortschritt?"

"Es war wirklich so, aber das war eigentlich nur die Spitze des Eisberges. Er sah niemals das ganze Volk, sondern immer nur uns Drachen, wenn es uns gut ging, war er zufrieden, die Menschen interessierten ihn nicht. Aber zu jener Zeit gab es auch ungefähr genauso viele Drachen wie Menschen auf der Welt. Wir hatten wesentlich mehr Rechte als die Menschen, keine Steuern, Fördergelder ohne Grenzen und Ähnliches, den Menschen ging es dementsprechend schlecht. Die Technisierung war die große Hoffnung der Menschen auf ein besseres Leben, und als Quanli diesen Traum verplatzen lies, eskalierte die Situation. Es passierte das, womit niemand von uns je gerechnet hatte, es war unfassbar, diese sterblichen Wesen haben es geschafft uns, die schon seit Ewigkeiten die Erde regierten und die oft als personifizierte Götter bezeichnet wurden, zu besiegen. Sie töteten deinen Vater, niemand weiß, wie sie das geschafft haben, dies ist wohl das größte Rätsel unseres Volkes."
 

Chikará konnte langsam das Handeln der Menschen nachvollziehen. Sie erinnerte sich nicht mehr an ihren Vater, deswegen war er ihr heute ohnehin gleichgültig. "Es hört sich nicht gerade nett gegenüber meines eigenen Vaters an, aber ich denke, ich hätte in jener Lage genauso gehandelt wie die Menschen."

"Vergiss nicht die schrecklichen Folgen für uns. Als die Menschen unsere Macht brachen, so gut wie verloren, viele von uns drehten durch und flohen in ihrer Panik, andere nahmen sich gleich selbst das Leben, aber die meisten sahen tapfer ihrer finalen Niederlage entgegen. Unsere Feinde erhoben sich schließlich selbst zur Regierung der Welt. Nach ihrem Sieg haben die Menschen etliche von uns getötet, nur aus Mordgier und Blutlust. Sie sind noch schlimmer als Raubtiere, jene töten, um zu überleben, aber Menschen töten oft nur aus Spaß. Ohne unsere mächtigen Heere waren wir leichte Beute für sie. In den ersten Jahren nach dem Krieg haben die Menschen grundlos Hunderte von uns getötet, er war ein Massaker ohne Gleichen, die Erde war ein ganzes Jahr lang blutrot."

"Aber wieso haben sie das getan?", fragte Chikará ungläubig und fassungslos. "Sie hatten doch gewonnen, niemand tötet ohne Grund, nur aus Spaß?"

"Daran sah man zum einen ihren schier endlosen Hass auf uns und ihre Einstellung, die besagt, dass wir nur eine Tierart wären, die frei gejagt werden durfte."

Chikará wurde bleich im Gesicht, der Schock über diese Geschichte drang sehr tief in ihr Bewusstsein hinein. Schleppend entwickelte sich in ihr eine enorme Wut auf die Verbrechen der Vergangenheit. Um sie zu bändigen, versuchte sie Argumente zu finden, die alles verharmlosen sollen, was sie gerade gehört hatte. "Aber Hanryo versteht sich doch heute mit vielen Menschen gut, und du hast doch auch menschliche Diener?"

"Der Krieg ist ja schon sehr lange für Menschen her, die Mörder von damals sind längst tot, aber wir tragen durch unsere langen Leben die Schatten der Vergangenheit weiter in uns. Hanryo und ich, wir beiden haben alles miterlebt. Jedoch verschwand er kurz vorm Ende spurlos und tauchte erst viel später wieder auf. Heute würde mich sehr interessieren, wo er damals war."

"Fragen wir ihn nachher einmal", schlug Chikará vor.

"Machen wir das."

"Was hast du damals gemacht, als all dies passierte?"

"Ich war anfangs eine einfache Soldatin, als ich von Quanlis Tod hörte, floh ich in Todesangst auf diesen Kontinent und blieb zunächst versteckt. Erst viel später könnte ich unter den Menschen ein neues Leben anfangen."

"Ich würde sehr gerne wissen, welche Rolle ich in diesem Krieg gespielt habe."

"Ich hörte damals nur die Nachricht, dass die Nachfahren der Kaiserdrachen spurlos verschwunden wären, wahrscheinlich wären sie tot."

Chikará schwieg, sie versuchte eine Verbindung zwischen den Krieg und ihrem Verschwinden zu finden. Vielleicht hatten die Menschen sie entführt oder verschleppt? Es waren nur wage Vermutungen ohne feste Anhaltspunkte. Sie schaffte es nicht, eine richtige Verbindung zu knüpfen, ihr momentanes Wissen über ihre Vergangenheit ist noch zu gering. Akashia führte das Gespräch weiter:

"Wo war ich eben? Im langen Zeitfluss gingen die Diskriminierung und der Hass auf unsere Art stark zurück, weil uns eben keiner mehr kennt. Auf dem anderen Kontinent leben noch einig wenige von uns. Einige Drachen leben auch versteckt unter Menschen, sie erkennen uns zum Glück nicht, wir sehen schließlich aus wie gewöhnliche Menschen, und solange wir uns nicht verraten, können wir problemlos mit ihnen zusammenleben."

"Ich lebte ja auch sehr lange unter Menschen", erinnerte sich Chikará. "Ohne dass sie oder ich Verdacht schöpften, nur meine scheinbar ewige Jugend war merkwürdig. Erst durch Hanryo erfuhr ich von meiner wahren Identität, ich hatte irgendwann einmal einen schweren Gedächtnisverlust, weißt du etwas davon?"

"Nein, ich dachte ja auch immer, du wärest von den Menschen nach dem Krieg getötet worden."

"Der andere Kontinent, ist das unsere einstige Heimat?"

"Ja, aber heutzutage ist dort immer noch alles verwüstet, nach dem Krieg konnte nichts wieder aufgebaut werden. Die Menschen verabscheuen noch heute diesen Teil der Welt, und die überlebenden Drachen wagen nicht den Wiederaufbau der gigantischen Ruinen, zu viele traurige Erinnerungen ruhen in den Trümmern. Er befindet sich hinter dem Meer, Hanryo hat eurer Reise ein hohes Ziel gesetzt, ich selbst war seit Ewigkeiten nicht mehr dort gewesen."

"Gibt es denn auch diese Drachen aus den Märchen, mit Hörnen und Flügeln?"

"Legenden zufolge, sollen vor sehr langer Zeit keine Menschen, sondern nur Drachen auf den uns bekannten Teil der Welt gelebt haben, die alle nur in ihrer ,wahren' Form lebten, also mit Schuppen, Flügeln, Hörnern, die typischen Drachen eben aus Erzählungen. Irgendwann sollen Menschen aus weitentfernten Gegenden in ihre Länder vorgedrungen sein, bedauerlicherweise sahen viele von ihnen in den harmlosen Drachen blutrünstige Monster. Um mit ihnen Frieden schließen zu können, nahmen die Drachen eine ,menschliche' Form an. Ein neues Zeitalter wurde geboren. Die Menschen lebten friedlich zusammen mit den Drachen unter der Herrschaft der Kaiserdrachen. Im Laufe der Zeit vermehrten sich die Menschen viel schneller als die Drachen, aus der Minderheit wurde ein großes Volk, das fast die Hälfte der Bevölkerung ausmachte. Natürlich gab es auch viele Ehen zwischen Menschen und Drachen. Die menschlichen Gene sind meistens dominanter sind als die Drachengene, die Kinder solcher Paare sind fast immer Menschen gewesen, so begann langsam der Verfall unserer Art."

"Besitzen die heutigen Drachen nur noch ihre ursprüngliche Form?"

"Ja, soweit es mir bekannt ist schon, aber fast kein lebender Drache kann noch seine ,wahre' Form annehmen, aber spezielle Drachenfähigkeiten sind bei manchen erhalten geblieben."
 

Chikará überlegte kurz. "Wie ist die Lage heute, Hanryo berichtete mir, dass es Kämpfe gäbe?"

"Ich weiß es nicht, es gibt lediglich die ehemalige Kaisergarde Quanlis, die einen sehr großen Hass gegen die Menschheit haben, aber sie, soweit es mir bekannt ist, alle tot oder verschwunden."

"Und was soll meine Aufgabe, für die Hanryo mich gesucht hat?" fragte Chikará.

"Ich denke, du sollst den noch lebenden Drachen neue Hoffnung geben, damit unsere Geschichte nicht endet."

"Ich glaube, ich frage ihn danach selbst später einmal. Hanryo sagte mir auch, du wärest durch einen Diebstahl so reich geworden?"

"Diebstahl? Das ist Hanryos Variante? Als nach Quanlis Tod alles traumatisiert war, nutze ich die Gelegenheit, ein paar Sachen aus den verlassenen Palästen mitgehen zu lassen, von was hätte ich sonst als Soldatin nach dem Krieg leben sollen?"

"Der Begriff ,Diebin' ist doch passend", erkennt Chikará.

Akashia schwieg.

"Du bist also auch kriminell", fuhr Chikará fort. "Ich verurteile das nicht. Ich habe früher auch oft gestohlen, aber bei mir ging es wirklich ums Überleben. Bei dir nicht, das ist eine sehr billige Ausrede, dein Geld reichte immerhin für diese Villa. Du bist genauso schlecht wie die Menschen."

"Chikará, du machst denselben Fehler wie dein Vater. Wir sind keine perfekten Wesen, wir sind genauso käuflich und kriminell wie die Menschen, wir sind keinen Funken besser als sie. Sieh das ein, wenn du nicht so enden willst wie dein Vater."

"Vergleich mich nicht mit einem Vater!" Chikará wurde wütend, "An den ich keinerlei Erinnerungen besitzen, und vor allem, gesteh dir deine eigenen Fehler ein, ohne die Schuld bei anderen, deinem Schicksal oder deiner Art zu suchen, du kannst dein Verbrechen nicht rechtfertigen."

"Beruhig dich, du kannst es nicht verstehen, da du nicht damals mitten auf dem Schlachtfeld warst. Wenn du so viele Leichen gesehen hättest wie ich, dann wäre auch dein Selbsterhaltungstrieb stärker geworden als jedes Gerechtigkeitsempfinden in dir. Ich weiß, dass es nicht unbedingt edel war, aber ohne dieses Geld hätte ich nicht in den Trümmern des Krieges überlegen können."
 

Chikará war Akashias absurde Entschuldigungen satt, sie beschloss, sie zu verlassen. Kurz bevor sie aufstehen wollte, sah sie Hanryo aus dem Haus kommen in Richtung des Teiches. Sie blieb sitzen. Hanryo gesellte sich zu den beiden Frauen auf die Holzbank.

"Und Chikará, kann Akashia gut Geschichten erzählen?", fragte er seine Gefährtin.

"Na ja, jedenfalls kann sie sehr informativ berichten."

"Danke für das Kompliment", sagte Akashia erfreut, die vorherige Streitigkeit war von ihrer Seite aus bereits wieder vergessen.

"Hanryo", fragte Chikará. "Was hast du eigentlich während des Krieges gemacht?"

"Ich war im Osten stationiert, wurde gefangen genommen und blieb sehr lange im Gefängnis, wo ich fast nichts von den Ereignissen in der Welt erfuhr, deshalb sollte Akashia dir auch vom Krieg erzählen, sie hat alles hautnah miterlebt."

"Konntest du nicht ausbrechen?", wollte Akashia wissen.

"Hochsicherheitstrakt, da kommt selbst ein Drache nicht hinaus."

Akashia glaubte nicht diese Geschichte, jedoch äußerte sie ihr Misstrauen nicht. Hanryo schaute auf seine Armbanduhr.

"Schon vier Uhr, die Zeit vergeht einfach zu schnell, Akashia, wir müssen leider schon wieder die Heimreise antreten."

"Euer Besuch hat mir sehr viel Freude bereitet, besucht mich bitte erneut, wenn ihr von euerer Reise zurückgekehrt seid. Hanryo, pass gut auf deine junge Gefährtin auf, und du Chikará, lerne fleißig den Kampf und das hohe Sprechen, dann wirst du eine ehrwürdige Drachenkaiserin werden, viel Glück auf eurem langen Pfad."
 

Auf dem Rückweg fielen nicht viele Worte. Chikará musste die vielen neuen, Informationen erst einmal verarbeiten. Krieg, Mord, Lügen, Ungerechtigkeit, Hass, Schmerzen und Vergessen, vor allem Vergessen. Alle Schatten der Vergangenheit schienen, vergessen zu sein in den Köpfen der Menschen, und auch in denen mancher Drachen. Die Existenz der Drachen wurde totgeschwiegen von den Menschen, mit ihnen die Morde und der Hass, alles wurde auf ewig verdrängt. Wesen, die seit Urzeiten herrschten, wurden einfach vergessen, ihre überwältigende Macht wurde vergessen. Es war wohl nötig, alles zu vergessen. Die Zeit würde alle Wunden heilen, hießt es. Es schien zu stimmen. Ein Kaiserdrache, der ,unsterblich' war, wurde getötet. Eine ewige Ära ging zuende, und nun war alles vergessen, als wäre es niemals passiert. Der endlose Zeitenfluss verzehrte alles ohne Reste. Es war Chikará unbegreiflich. Die Menschen waren ihr unbegreiflich. Irgendwie glaubte sie an eine Verbindung zwischen den Tod ihres Vaters und ihrer Narbe am Hals. Vielleicht sollte auch sie getötet werden, aber bei ihr haben die Menschen es nicht geschafft, sei es aus Mitleid, Fremdeinwirkung oder irgendetwas anderem. Vielleicht war auch der Gedächtnisverlust geplant und künstlich verursacht wurden? Wie sollte so etwas gelingen? Durch Zauberei oder Maschinen? Wer vermochte es wissen? Noch gab es darauf keine klare Antwort. Passte es mit dem Krieg und den Gedächtnisverlust auch zusammen? Vielleicht, vielleicht nicht. Jetzt kann es noch nicht entschieden werden, und dass Hanryo bei der Aufklärung helfen sollte, war eher unwahrscheinlich. Irgendwann würde sie schon noch die ganze Wahrheit erfahren, da war sich Chikará sicher.

Im Eingangsraum der kleinen Wohnung versuchte sie noch ein paar Geheimnisse von ihrem Gefährten zu entlocken, während dieser das Abendessen vorbereitete. Sie ruhte sich dabei auf dem Sofa aus, auf dem Bauch liegend, mit geschlossenen Augen.

"Kann man Akashia glauben?", fragte sie.

"Ja, mich würde sie unter Umständen belügen, dich aber bestimmt nicht", antwortete Hanryo.

"Ich wollte sie fast fragen, ob sie uns begleiten würden, aber als sie mir von der Quelle ihres Reichtums erzählte, sank sie auf meiner Beliebtheitsskala steil bergab. Du hattest recht, sie ist eine Diebin."

"Verurteile sie nicht zu stark, jeder ist mehr oder weniger kriminell, bei mir war es das Töten und bei ihr ist die Klauerei."

"Sie nutzte die Niederlage unseres Volkes aus, um sich zu bereichern."

"Reg dich nicht über sie auf, sie wird ihren Fehler niemals einsehen."

"Leider", fügte Chikará etwas mürrisch hinzu.

"Zuviel Gerechtigkeitssinn ist auch nicht immer gut."

"Kanntest du meinen Vater gut?", wechselte sie das Thema.

"Es geht, ich traf ihn einige Male."

"Und, war er ein guter Herrscher?"

"Er hatte einen guten Charakter, jedoch auch einen großen Dickkopf, der ihn häufig zu falschen Entscheidungen verführte."

"Mochte er mich?"

"Ja, er mochte dich sehr, leider hatte er nie viel Zeit neben seines Amtes, deshalb kümmerten sich oft seine Freunde um dich."

"Du auch?"

"Nein, ich kannte dich nur vom Hörensagen, getroffen habe ich dich damals nicht."

"Was wurde über mich erzählt, eher Gutes oder Schlechtes?"

"Oft wurde nur gesagt ,Chikará, Kaiser Quanlis Tochter', mehr als deinen Namen kannten nur wenige."

"Weißt du, wie oder wodurch mein Vater starb?"

"Nein", entgegnete Hanryo und schüttelte den Kopf.

"Wo war ich zu jener Zeit?"

"Ich weiß es nicht."

Chikará bekam plötzlich das Gefühl, dass Hanryo ihr viele Sachen verheimlichte. Sie kämpfte kurz mit sich selbst, dann entschloss sie sich, den vermeintlichen Lügen ein Ende zu machen. Sie setzte sich aufrecht hin, ihre Augen öffneten sich, und ihr Blick wanderte zum angeblichen Schwindler.

"Ich glaube das dir nicht", kritisierte sie ihn frech.

"Ich sage dir die Wahrheit", sagte er verwundert mit leicht wütendklingender Stimme.

"Du lügst!", konterte sie weiter.

"Chikará", Hanryo stellte die Kochutensilien ab, ging zum Sofa und setzte sich neben sie, er schaute ihr tief in die aggressiven, grünleuchtenden Augen, seine Stimme wurde sanft und ruhig.

"Ich lüge nicht. Ich habe dir bereits alles gesagt, was ich über dich weiß. Ich kann deine große Neugier verstehen, aber bis du, bis wir endlich mehr erfahren, wird es noch etwas dauern. In den Ruinen der alten Hauptstadt, liegen unschätzbare Informationen begraben. Die Tagebücher deines Vaters, die letzen Berichten vor dem Fall des Drachenimperiums, ebenso Texte über dein früheres Leben. Ich konnte sie nicht alleine finden, Freunde von mir suchen jetzt dort, und wenn wir bei ihnen sein werden, werden wir, wirst du alles erfahren."

Chikará schloss kurz ihre Augen, als sie sie wieder öffnete, war ihr Blick wieder entspannter geworden. Sie hatte die misstrauischen Gedanken niedergelegt.

"Ich glaube dir", sprach sie leise.

Hanryo lächelte, klopfte ihr freundschaftlich auf die Schulter und ging wieder zum Herd. Chikará legte sie wieder auf den Bauch und fragte ihn weiter nach den Kriegsgeschehnissen aus.

"Hast du damals viele Freunde verloren?"

"Viel zu viele, fast alle", antwortete er traurigwirkend.

"Wir sterben auch aus, oder?"

"Wenn wir Glück haben, gibt es unsere Art noch einige zehntausend Jahre lang."

"Früher gehörte uns die gesamte Welt, wir waren der größte Teil der Weltbevölkerung. Warum hat es so dramatisch mit uns entwickelt?"

"Die Schuld liegt nicht bei den Menschen, wie du es vielleicht denkst. Diese Entwicklung ist unser Schicksal, niemand kann es ändern. Es ist, wie es ist, wir können es nur akzeptieren und warten, wie die Ewigkeit uns verschlingt."

"Stimmt es, dass die Menschen damals sehr viele von uns getötet haben?"

"Suche nicht bei den Menschen die Schuld für unser Aussterben, ihr Anteil ist zwar auf den ersten Blick sehr groß, aber der Hauptgrund ist wohl doch bei uns selbst zu suchen. Die Menschen sind ein Volk, das im Gegensatz zu uns zusammen hält, sei es bei Frieden oder im Krieg. Wir hingegen sind gespalten durch Hass und Uneinigkeit, wir sind kein Volk, wir sind zerstrittene Wesen. Jeder gibt anderen von uns oder den Menschen die Schuld für den Fall unseres Weltimperiums, wir haben uns unser Schicksal irgendwo selbst zuzuschreiben."

"Das hört sich aber ganz anders an als das, was du mir gestern sagtest über uns. Jedenfalls, in mir siehst du einen Schlüssel für eine Art Wiedervereinung oder Erneuerung unseres Volkes? Und die Feinde, von denen du immer sprichst, das sind die Menschen, in ihnen steckt schließlich ein großer Hass auf uns?"

"Nein, die Feinde, das sind die anderen unserer Art."

Chikará schaute ihn sehr überrascht an, er sieht sie zwar nicht, aber dennoch spürte er ihr Unverständnis, er versuchte, es zu erklären.

"Sie wollen deine Macht missbrauchen, um die Welt zu erobern. Ich will keinen neuen Krieg, ich will wieder zu einem vereinten Volk gehören, und das, ohne dafür töten zu müssen."

"Aber wieso helfen wir ihnen denn nicht? Wir müssen die Menschen doch nicht töten, um sie zu bezwingen, wir müssen sie nur wieder unterwerfen. Das sind wir unseren toten Freunden doch irgendwo schuldig, ihre Opfer müssen gerächt werden."

Hanryo drehte den Kopf und blickte entsetzt zu Chikará. "Weißt du, was ein Krieg ist?", fragte er ironisch. "Ist es eine Lösung, wenn wir jetzt auch noch die Menschheit vernichten?"

"Wir brauchen keinen Krieg, um sie zu besiegen!"

"Doch, wie willst du sonst ihre Macht brechen? Viele Menschen fürchten den Tod nicht, sie sterben gerne im Blutrausch für ihre Überzeugung."

"Aber..."

"Kein Aber!", unterbrach Hanryo sie aufgebracht. "Bald fahren wir zu einer riesigen Ruinenstätte, dann siehst du einmal, was so ein Krieg anrichtet, und was er den folgenden Generationen hinterlässt."

"Wieso lässt du dich von den menschlichen Bastarden unterdrücken, warum lässt du ihre Morde unbesühnt vergessen, warum lässt du ihnen eine Macht, die nicht ihnen, sondern uns zusteht?"

"Beruhig dich Chikará! Deine Worte klingen wie die deines Vaters, und weswegen er sterben musste, weißt du, genau wegen so einer kranken und tyrannischen Überzeugung!"
 

In ihren Augen entstand eine niemals dar gewesen, schier grenzlose Wut. Schon wieder wurde sie mit ihrem Vater verglichen, an den sie keinerlei Erinnerungen besaß, weder gute, noch schlechte. Sie kannte ihn nicht mehr, vielleicht hatte sie ihn auch niemals gekannt. Jedenfalls sollte er alles andere als ein guter Herrscher gewesen sein, was jetzt aber überhaupt keinen Einschluss mehr auf Chikará hatte, vielleicht auch niemals einen gehabt hatte. Ihr wurden die Überzeugungen von jemandem unterstellt, von dem sie bis vor nicht einmal den Namen gekannt hatte. Nur weil sie seine Tochter sein sollte, musste sie genauso denken und genauso sein wie er, so glaubten es alle. Das war der Grund, weshalb sie den Vergleich mit ihm so sehr hasste. In Chikarás Kopf brannten die Sicherungen durch. Sie stand schlagartig auf, hetzte zur Haustür, riss sie auf und verschwand in der nächtlichen Dunkelheit. Ohne Nachdenken zu können, ließ Hanryo sofort den Kochtopf fallen und jagte ihr hinterher. Draußen erhellten einige wenige Straßenlaternen den Weg in die Innenstadt. Ein kühler Nachtwind fegte über dem trockenen Asphalt. Der weiße Mond und das Firmament waren versteckt hinter schwarzen Wolken. Die Umgebung war schwer zu erkennen, lediglich die Straßen waren beleuchtet vom künstlichen Licht. Die Rufe eines Uhus erklangen aus der Ferne, ansonsten herrschte eine magische Stille, die nur noch von den Laufgeräuschen der beiden Drachen durchbrochen wurde. Hanryo verfolgte den flinken Schatten und den Klang der schnellen Schritte, die einzigen Zeichen von Chikará, die noch in der Finsternis wahrzunehmen waren. Noch hatte er Hoffnung, sie wiederfinden zu können. Es war bestimmt nur eine kleine Überreaktion gewesen, so glaubte er. Alles würde sich wieder klären lassen, hoffentlich. Aber nach einigen Kreuzungen zwischen den Wohnblocken von Chaó verlor er schließlich doch noch ihre Spur. Die Schritte wurden leiser, die Richtung, aus der sie kamen, wurde nicht mehr bestimmbar, der Schatten verschwand irgendwann ganz, mit ihm verschwand die Hoffnung langsam. Verzweifelt lief Hanryo ihren Namen rufend durch die leeren Straßen. Er wollte nicht aufgeben, doch der Erfolg blieb aus. Nach einigen Stunden gab er die Suche auf. Eine sehr große Angst erfüllte ihn, die Angst vor der Realität. Dieses Mal hatte er sie wohl wirklich verloren, jetzt hatte er wahrscheinlich alles zerstört. Die schönen Träume vom Frieden und einem vereinten Drachenvolk zerplatzten in seinem verwirrten Kopf. Alles war weg, alles, was er so lange in der ganzen Welt gesucht hatte, die Möglichkeit auf eine bessere Zukunft, verkörpert von einer naiven, jungen Frau, die sich nun endgültig von ihm abgewendet hatte. Dies war bestimmt die finale Niederlage für seinen Auftrag, vielleicht auch für sein eigenes Leben. Hanryo ging langsam zurück zu seinem Haus. Aber war es denn nicht schon wirklich soweit, alles aufzugeben?

Anfang (Teil 3)

Chikará hörte irgendwann auf zu laufen, lange nachdem Hanryo aufgeben hatte. Ihr inneres Chaos hatte sich wieder etwas geordnet. Dennoch wollte sie nicht zurückgehen. Nein, zu Hanryo konnte sie nicht mehr zurück, es war vorbei zwischen ihnen, definitiv. Aber er hatte doch so viel für sie getan, er hatte ihr wirklich ein neues Leben geschenkt, wie er es ihr in den Slums versprochen hatte. Ein Dach über dem Kopf, Essen, Kleidung, ein halbwegs normales Leben ohne Armut. Jedoch hatte sie es früher auch geschafft, alleine zu leben, ohne Hilfe. Sie begann, alles zu hinterfragen. Wie konnte sie die Drachenmärchen glauben? Das waren doch alles nur Verrückte, es gab keine Drachen. Alles waren nur Lügen. Ein eindeutiger Beweis musste her. Chikará sah am Straßenrand eine leere Glasflasche liegen. Sie beugte sich zu ihr, nahm sie und zerschlug sie gegen eine Mauer, dann suchte sie sich eine große Scherbe aus den Glastrümmern. Sie zog sich den Ärmel hoch, sodass ihr linker Unterarm frei war. Sie betrachtete noch einmal kurz die Scherbe. Klar und durchsichtig wie Wasser, oder dennoch war sie scharf wie ein Messer. Nun sollte sich zeigen, wie verrückt die anderen waren, sagte sie sich. Sie setzte die Spitze des Glasfragments auf der Innenseite ihres Handgelenks ab. Sie drückte es leicht zitternd auf die nackte Haut und zog es langsam hoch bis zum Ellebogen. Ein tiefer Schmerz war die Spur des scharfen Glases, der Chikará zwang, die Augen zuzukneifen während des Schnittes. Als es beendet war, zitterte sie am ganzen Leib, ihr Arm war taub und gefühllos geworden, so als wäre er abgestorben. Es verging ein kurzer Moment, bis sie wieder zaghaft die Augen öffnete, um das Resultat dieser qualvollen Probe zu erblicken. Nichts war passiert, kein Blut tropfte, keine Wunde war entstanden, große Wut überkam Chikará. Sie versuchte, sich den Fehler zu erklären. Vielleicht war die Scherbe nicht scharf genug? Am hochgezogenen linken Ärmel testete sie vorsichtig die Schneidfähigkeit ihrer Waffe. Die Spitze spaltete den Stoff wie eine Rasierklinge. Vielleicht war der Druck auf die Haut nicht stark genug? Sie beschloss, es sogleich zu überprüfen. Sie wollte die Scherbe mit einem kräftigen Schlag in ihren Arm rammen. Sie holte aus und schloss beim Aufprall affektartig die Augen. Glaszerspringen war zu hören. Als Chikará die Augen öffnete, war die Scherbe durchgebrochen, ihr Arm hingegen war unversehrt. Von da an glaubte sie wieder für einen kleinen Zeitraum den Worten ihrer vermeintlichen Freunde, aber dann gewannen wieder ihr Realismus und ihr Zorn die Überhand. Ihr menschliches Bewusstsein hatte recht, so entschied sie. Sie steckte ein Stück der zerbrochenen Scherbe in ihre Hosetasche und ging weiter die Straße entlang. Nun war ihr Kopf leer, sie dachte an nichts mehr. Selbst wenn die Drachengeschichten erfunden wären, warum konnte dennoch die Probe nicht gelingen und überzeugen? Chikará war wieder verwirrt und zwischen den Behauptungen, den Lügen und der Realität umhergerissen. Sie wusste mittlerweile nicht mehr, was sie glauben sollte. Um nicht völlig verrückt zu werden, bemühte sie sich, ihre Fragen zu verdängen, so als gäbe es sie nicht. Zur Ablenkung schlenderte sie weiter, als würde sie einen nächtlichen Sparziergang machen. Sie kannte diese Stadt überhaupt nicht, niemals war sie zuvor hier gewesen. Die Leuchtreklamen im Zentrum führten sie in eine kleine Bar. Es war so ein typischer Treffpunkt für zwielichtige Gestalten und Heimatlose. Bereits auf den ersten Blick sah Chikará, dass alle Gäste Alkohol in rauen Mengen konsumierten. Die Luft war etwas stickig und zäh. Holz und Backstein waren die Bestandteile der Einrichtung und der Wände, die mit Bildern von östlichen Rittern behangen waren. Stark und eingebildet schauten sie auf die armen Trinker hinab. Hinter der Bar stand ein großer muskulöser Mann, er eher an ein wildes Tier als an einen Menschen erinnerte. Schwache Lampen ließen oft nur die Umrisse der Kundschaft erkennen. Betrunkene Stimmen waren überall. Chikará gefiel dieser Ort überhaupt nicht, viele Männern schauten sie grinsend an, aber zu dieser Zeit war das wohl ihre geringste Sorge. Notfalls konnte sie schließlich auch kämpfen. Sie suchte hier kein Gespräch oder die Nähe zu anderen Wesen, sondern nur etwas, das ihre chaotische Seele betäubte. Sie setzte sich an einen einsamen Tisch am Fenster zur Straße. Zunächst starrte sie nur hinaus. Draußen begann es langsam zu regnen. Die winzigen Tropfen prasselten im monotonen Rhythmus hinunter. In ihrem Kopf war ebenfalls so eine Art Regen, Gedanken- und Gefühlsfetzen fielen ununterbrochen in ihren Verstand, ihre Folgen waren eine mentale Überschwemmung. Beim Anblick der Pfützen auf der Straße, erinnerte sich Chikará daran, dass sie wie ein Meerdrache aussehen sollte. Erstens hatten Drachen Flügel und Hörner, und zweitens gab es sowieso keine Drachen, redete sie sich ein. Hoffentlich verschwanden die Erinnerungen an diese Ammenmärchen bald aus ihrem Kopf. Bevor sie wieder anfing, sich mit diesem Schwachsinn zu beschäftigen, holte sie sich an der Bar einen hochprozentigen Fruchtcocktail. Schnaps oder verwandtes mit Pfirsich- und Kirschstücken, mit vielen Eiswürfeln gekühlt und dekoriert mit einem bunten Strohhalm. Sie probierte es sofort, so lange hatte sie schon so etwas nicht mehr getrunken, obwohl jegliche Art von Alkohol früher geliebt hatte, sofern das Geld in den Slums dafür gereicht hatte, dies war leider nur selten der Fall gewesen. Der Geschmack des Getränks war schwach fruchtig, zuviel Wasser wurde beigemischt, sehr gewöhnungsbedürftig, aber wenigstens enthielt die Mixtur viel Alkohol. Chikará lagen Akashias Worte in den Ohren: ,Du solltest aber nicht vergessen, dass wir bewusstlos werden können und durch Drogen oder Alkohol berauscht, beziehungsweise betrunken werden'. Chikará wollte sich dennoch den Frust wegtrinken, wie früher in den Slums. Zu sagen, sie sei Alkoholikerin, wäre übertrieben, lediglich missachtete sie immer ihre Grenzen, wenn sie einmal angefangen hatte, das benebelnde Gebräu zu trinken, hörte sie immer erst wieder auf, wenn sie das Glas nicht mehr festhalten konnte. In der Vergangenheit hatte dies oft unangenehme Konsequenzen für sie gehabt. Normalerweise sollte man ja aus solchen Erfahrungen lernen, aber sie konnte noch niemals dazulernen, wenn es um solche Dinge ging, dies war wohl ihr größter Fehler. Um den Schmerz und die Wut damals zu unterdrücken, hatte sie begonnen, ab und an Drogen zu nehmen oder zu trinken. Chikará verdrängte diese entmutigenden Erinnerungen wieder und befasste sich wieder mit der Gegenwart. So viele Dinge waren in den letzten Tagen passiert, und alles waren nur künstliche Illusionen aus Märchen und Träumen gewesen. Sie dachte sich, je schneller sie all das vergessen würde desto besser, und die besten Mittel zur geistigen Abhärtung waren natürlich ihrer Meinung nach Aphrodisiaka, vorne weg der magische Saft der Scheinwahrheiten. Dem Obsttrank folgten einige Gläser Sake. Langsam wurden ihre zweifelhaften Folgen deutlich. Zuerst verschlechterte sich Chikarás Sehkraft, dann begann sie, beim Sitzen leicht zu schwanken und zeitweise zu zittern. Das einzig Positive war der zeitlichbeschränkte Verlust ihrer innerlichen Sorgen und Problemen. Sie war bald im Delirium, viele Gläser fehlten nicht mehr bis zur vollkommenden Geistesnarkose, und ihre eigene Vernunft sollte dies bestimmt nicht stoppen können. Wen interessierte es? Sie selbst garantiert nicht, schlimmeres als der Tod würde schon nicht kommen, so versuchte sie ihr Verhalten vor sich selbst zu rechtfertigen. Plötzlich näherte sich ihrem Tisch ein junger Mann, er setzte sich zu ihr. Chikará bemerkte ihn anfangs gar nicht, erst als er sie lange Zeit anschaut hatte, wurde sie auf ihn aufmerksam. Er war seinem Aussehen nach aus dem Westen, ungefähr zwanzig Jahre alt, groß, schlank, braune Haare, er trug einen grauen Anzug mit Krawatte, vielleicht war er ein reisender Geschäftsmann aus den besseren Teile der Welt. Er schien schön zu sein, aber das könnte auch nur an den Getränken liegen, bedachte sie und ignorierte ihn weiter, bis er irgendwann zu reden begann. "Was macht du hier?", fragte er sie freundlich.

"Etwas trinken", antwortet sie benommen und nur halbwegs bei Verstand.

"Wieso denn?"

"Nur so, zum Zeitvertreib", murmelte sie.

"Was ist mit dir passiert?"

Sie überlegte kurz. "Ich habe meinen Freund verlassen."

Der Fremde atmete tief durch, dann fragte er weiter: "Warum denn, was war passiert?"

"Er hat mich nur belogen."

"Und jetzt tröstest du dich mit Alkohol?"

"Das ist nicht verboten."

"Wie heißt du überhaupt?"

"Chikará", antwortete sie ehrlich.

"Ein hübscher Name ist das, ich heiße Arai. Wie alt bist du?"

"Achtzehn", schätzte sie.

"Du bist noch so jung und hast noch so viel vor dir, wieso bist du so deprimiert und lässt dich so tief fallen?"

"Bist du ein Mönch oder so?", fragte sie genervt von seinen Fragen.

"Nein, es ist nur, meine Freundin starb vor einem Jahr an Leberversagen, sie war stark alkoholabhängig. Ich nahm ihr Problem niemals ernst und beachtete es nicht, bis ein Mediziner mir eines Tages sagte, sie würde nicht mehr lange leben, wenn sich nichts ändern würde. Da war es leider bereits schon zu spät, sie war zu tief der Sucht verfallen, um noch einmal herauszukommen aus diesem Teufelskreislauf. Hätte ich es früher ernstgenommen, würde sie heute noch leben." Er begann mitten im letzten Satz zu weinen.

Chikará glaubte ihn diese Geschichte, auch wenn sie sich irgendwie erfunden anhörte, aber echte Tränen verrieten immer die Wahrheit, und seine waren bestimmt nicht falsch. Sie sah in seinen nassen Augen einen sehr tiefen Schmerz.

Akai fing sich wieder allmählich und berichtete weiter: "Sie fehlt mir so. Seit dem Tag, an den ihr Leichnam beigesetzt wurde, habe ich mir geschworen, anderen, die am selben Problem leiden, zu helfen. Ich ziehe nachts durch die Bars und Wirtschaften auf der Suche nach jungen Leuten, die versuchen, ihre Sorgen wegzutrinken. Sich vollaufen zu lassen, hilft nichts, es ist nur der Anfang vom eigenen Ende."

"Normalerweise trinke ich nichts", unterbrach sie ihn.

"Normalerweise, normalerweise hast du auch keinen Streit mit deinem Freund. Komm schon Chikará, wenn du eine gute Familie oder wahre Freunde hättest, zu denen du jetzt gehen könntest, dann wäre die Lage vielleicht nicht allzu dramatisch. Aber, was führt dich denn hierhin? Du hast niemanden, mit den du reden könntest, niemand, der sich jetzt um dich kümmern würde, du bist allein, genauso wie meine Freundin damals."

Nach den letzen Worten folgte eine minutenlange Stille, in der Chikará ernsthaft über die Argumente von Arai nachdachte. Sie begann, ihren Fehler teilweise einzusehen. Schließlich half der enthemmende Alkoholrausch ihr zur ganzen Selbsterkenntnis. "Du hast wohl recht", gab sie zu, vor ihm und vor sich selbst. "Ich bin alleine. Ich habe schon einmal Trost und Hilfe in Drogen und Alkohol gesucht. Mein Freund holte mich daraus, aber er, er hat mir zu viele Sachen verheimlicht, schlimme Sachen, und er hat mich andauernd belogen und beschwindelt, er lebt in seiner eigenen Traumwelt."

"Wie soll es jetzt mit dir weitergehen?"

"Ich weiß es nicht", sagte sie mit den Schultern zuckend.

"Du wirst heute Nacht kein Dach über den Kopf haben, oder?", fragte er.

"Nein", erwiderte sie deprimiert.

Akai nahm ihre Hand. "Du kannst diese Nacht bei mir bleiben, ich habe eine Couch, auf der du schlafen kannst, wenn du willst."

Sie wartete und überlegte einige Momente, bis sie ein leises "Danke" hauchte.

Er schaute sie mit einem erfreuten Gesichtsausdruck an.

"Mir ist nur etwas übel", sagte sie und hustete.

"Wir gehen am besten sofort von hier weg, bei mir zuhause kannst du dich dann vom Alkohol erholen. Hast du bereits bezahlt?"

"Ich habe kein Geld."

"Wirklich?", entgegnete er ungläubig.

"Ja", antwortete sie leise und beschämt.

"Ist schon in Ordnung, ich werde für dich bezahlen. Ich hoffe, das war deine allerletzte Trinktour."

"Danke", erwiderte sie noch einmal mit gesenkter Stimme und hustend, bevor sie zusammen weggingen.
 

Die Wohnung von Arai befand im vierten Stock eines hochgebauten Hauses im Zentrum von Chaó. Er wohnte zwar auf kleinem Raum, dafür aber mit einem gewissen Maß an Wohlstand, wenn nicht sogar schon an Luxus in Dimensionen wie Akashia. Der Fußboden war bedeckt mit bernsteinfarbenen Marmorkacheln, die Wände und die Decke waren verkleidet mit weißer Tapete mit Reliefeffekten, die Möbel waren größtenteils aus chromfarbenen Metallbauteilen oder weißem Edelholz. Glasvitrinen mit Bauplänen und Modellen von Maschinen standen neben schwarzen Holzkommoden. Kleine Kakteen in allen Ecken belebten das erstarrte Ambiente. In der Mitte des Eingangszimmers war die genannte, große dunkelblaue Couch, sie sollte wohl Chikarás Schlafplatz sein. Arai ging aus einem anderen Raum braune Wolldecken und ein Kopfkissen holen. Als dann das improvisierte Bett fertig war, legte sie sich sogleich darauf. Sie konnte nicht mehr gut die Umgebung erkennen, der Alkohol hatte ihren Verstand und ihre Wahrnehmungsfähigkeiten stärker benebelt, als sie es anfangs geglaubt hatte. Sie war bereits mit großen Schwierigkeiten die Treppen zur Wohnung hochgetaumelt, es war reines Glück gewesen, dass sie dabei nicht hingefallen war. Bevor sie sich endgültig schlafen legte, um die Geschehnisse des Tages zu verarbeiten, wollte sie noch kurz mit ihren Gastgeber reden. Chikará begann über sein Wissen und seine Erfahrung nachzudenken. Vielleicht konnte er ja zur Aufklärung der Lügen ein wenig behilflich sein? Er würde bestimmt noch niemals etwas von Zauberwesen wie Drachen gehört haben, wie auch, da es sie ja schließlich nicht gab und niemals gegeben hatte. Er war das letzte Glied der Beweiskette, die sie vervollständigen musste, um die falschen Behauptungen zu enttarnen und entgültig zu vergessen. Sie stellte sich aufrecht vor ihn, schaute tief in seine klaren Augen und begann, ihn auszufragen. "Bist du ein Mensch?"

"Ja", antwortete er verwundert.

"Glaubst du an Drachen?"

"Nein, natürlich nicht."

"Wirklich nicht?", harkte sie energisch nach.

"Nein. Drachen gibt es doch nur im Märchen."

"Du naiver Idiot!" Chikarás Ton wurde sehr aggressiv.

"Was?", Arai war sehr überrascht über ihren plötzlichen Stimmungswechsel.

"Ich bin ein Drache."

"Chikará", begann er, denkend sie würde fantasieren. "Beruhig dich, morgen wird es dir bestimmt wieder besser gehen. Schlaf erst einmal deinen Rausch aus", versuchte er, sie weiter zu besänftigen, aber dies steigerte nur ihren scheinbaren Wahnsinn.

"Deine verdammte Rasse hat fast alle meiner Art getötet, meine Eltern habt ihr menschlichen Bastarde getötet!"

"Wovon redest du?"

Sie ging langsam um ihn herum, wie ein wildes Tier, das seine Beute umkreiste, bevor es sie attackierte. Währenddessen blieb Akai still und angespannt stehen, er bewegte sich kein kleines bisschen. Sie war wütend und glaubte ihn nicht, wenn er ihr schon nicht die ganze Wahrheit sagen wollte, dann musste sie ihn eben dazuzwingen. Sie blieb kurz hinter ihm stehen. Noch bevor er dem Spuck ein mögliches Ende setzen konnte, spürte er auf einmal einen spitzen Gegenstand an seiner Kehle. Es handelte sich dabei um jene Glasscherbe, mit der Chikará vorhin versucht hatte, sich selbst zu verletzten. Arai war wie gelähmt vor Angst, er zitterte am ganzen Leib. Er bemerkte, dass die Waffe scharf war, und dass ihre Besitzerin wohl mittlerweile völlig den Verstand verloren hatte. Um sein Leben nicht unnötig zu gefährden, wollte er von nun an sehr vorsichtig sein und sich hüten, ein falsches Wort zu sagen, um die Tobsüchtige nicht herauszufordern, seinem Leben ein Ende zu setzen. Sie beschimpfte ihn indes weiter.

"Du und dein verfluchtes Volk habt die Leben meiner Artgenossen und mein eigenes Leben komplett zerstört! Der Tod ist die geringste Strafe für das, was ihr uns angetan habt!"

"Chikará", stotterte er ängstlich. "Bitte, bitte hör auf, ich habe wirklich keine Ahnung, wovon du sprichst. Ich habe niemals etwas von Drachen oder Menschen, die Drachen getötet haben, gehört. Bitte, lass mich am Leben."

Sie glaubte ihn nicht. Um nun endlich doch noch die Wahrheit aus ihn herauszuquetschen, drückte sie ihm das Glasstück langsam in seine Haut. Er kniff vor Schmerz die Augen zusammen. Ein Blutfluss lief an der Scherbe entlang, auf ihre weiße Hand, von dort aus über den Ärmel weiter bis zum Ellebogen, von wo er zu Boden tropfte. Auf den Marmorfließen entstand nach einigen Momenten eine rote Blutpfütze.

"Der Krieg vor zweitausend Jahren!", schrie sie ihn an. "Tu doch nicht so, als ob du es nicht wissen würdest, oder als ob du es vergessen hättest! Du lügst, du weißt alles!"

Arai senkte den Kopf und schloss die Augen, Tränen liefen an seiner Wange herunter, er begann, vor Angst zu weinen.

"Ich weiß nichts davon, wirklich", hauchte er leise und mit einer sehr traurigen, tiefen Stimme.

Diese verzweifelten letzten Worten bewirkten in Chikarás Kopf eine Art Schlag zurück in die Realität. Ihr Wahn endete, ihr Blick wurde wieder leer und betäubt, sie ließ die Scherbe fallen und schaute ungläubig in ihre blutverschmierten Handflächen. Sie sah die Folgen ihres Wutausbruches, sie konnte es nicht begreifen, sie konnte nicht fassen, dass sie gerade beinahe jemanden ermordet hätte. Ein tiefer und schier endloser Schock durchfuhr sie, sie brach zusammen. Sie fiel auf die verängstigt Knie hinter ihrem ebenso verängstigten Opfer, sie verhüllte mit ihren blutigen Händen ihr gesenktes und weinendes Gesicht. Sie war vollkommenden traumatisiert.

Verwundert blieb Arai zunächst ruhig stehen, aber als er bemerkte, dass der Zusammenbruch das Ende ihrer fast tödlichen Überreaktion sein musste, nutzte er diese Chance. Er rannte schnell in ein anderes Zimmer und ließ sie alleine zurück. Sie blieb jammernd am Boden sitzen. Die wenigen Minuten seiner Abwesendheit schienen ihr wie unendlichlange Stunden. Irgendwann kam ihr ein letztes Mal die Frage nach der Wahrheit in den Verstand. Sie hörte auf zu weinen und blickte zur Scherbe. Sie musste also doch scharf wie ein Messer sein, erkannte Chikará. Ein letztes Mal griff sie zur blutüberströmten Waffe, und drückte die Klinge in die unversehrte weiße Haut ihres linken Armes. Nichts passiert, nicht der geringste Schmerz überkam sie, als wäre überhaupt nichts passiert. Eine neue Wutwelle kam ihn ihr hoch. Wie verrückt rieb sie die Scherbe mit starkem Druck auf ihrer Haut hin und her. Kein Blut, keine Wunde, nichts. Schließlich brach das Glas über. Der klirrende Klang des zerbrechenden Glases beendete endgültig ihre Wahnvorstellung und beantwortete die Frage nach der Wahrheit. Endlich sah sie es ein, dass sie wirklich ein Drache sein sollte. Die Geschichten ihrer Freunde waren nicht erfunden. Sie war unverwundbar, eine Waffe, die einen Menschen fast getötet hätte, verursachte bei ihr keinen Kratzer. Hanryo und Akashia hatten die Wahrheit gesagt, ebenso Arai, denn laut Akashia hatten die Menschen alles über den großen Krieg und die Drachen vergessen. Es stimmte wohl. Alles stimmte. Wie dumm sie doch gewesen war, es zu bezweifeln. Chikará war nun überzeugt von Schicksal ihrer Art, sie wollte es annehmen.

Arai kam zurück, sie schaute ihn entsetzt an. Ein großer, mit Blutflecken verzierter Verband versteckte seine schwere Wunde am Hals. Er ging geradewegs zu ihr, packte unter ihre Arme und zog sie weg aus dem Zimmer. Sie ließ alles bedienungslos über sich ertragen, ihr fehlte die Kraft und die Entschlossenheit sich nun, nach alledem, noch gegen ihn zu wehren. Sie würde ihre Taten gegenüber ihres Helfers, beziehungsweise Opfers, wohl nicht wiedergutmachen können. Arai schleifte ihren schlaffen Körper ins Badezimmer. Dort legte er sie vorsichtig unter eine Dusche und dreht den eiskalten Regen auf, danach warf er ihr ein Handtusch vor die Füße und verschwand. Chikará blieb mehr als eine Stunde lang regungslos unter der laufenden Dusche liegen. Während der Zeit fiel das säubernde Wasser auf ihren Kopf, lief an ihren Haarsträhnen hinunter, suchte sich seinen Weg über die reine Haut und durch die völlig durchnässte Kleidung, die wie eine zweite Haut auf ihrem nackten Körper haftete. Sie dachte über alles nach. Sie akzeptierte dieses Reinigungsritual, das ihre konfuse Seele wieder beruhigte. Der traumatische Alkoholrausch verschwand allmählich. Sie hatte sich selbst wiedergefunden, sie stand wieder im Einklang zu sich selbst, und vor allem zu ihrem offenbar vorbestimmten Schicksal. Sie würde die Vergangenheit nicht zur neuen Zukunft werden lassen, sie würde nicht die Fehler ihres Vaters wiederholen, nein, sie würde versuchen, die Geschichte ihres Volkes zum Positiven hinzuwenden. Die Menschen waren nicht böse oder schlecht, ein Mensch hatte ihr sogar geholfen. Die Menschen verdienten den Tod nicht der Rache wegen, sah sie ein. Niemand würde sie aufhalten können, sie würde es schaffen, ihr Ziel zu erreichen, davon ist sie festüberzeugt.

Irgendwann begann sie, sich langsam mit dem Handtuch abzutrocknen. Da sie leider kein zweites Paar Kleidung im Moment zur Verfügung stehen hatte, und sich davor schämte, unbekleidet schlafen zu gehen, behielt sie ihre triefenden Sachen an. Im Zimmer mit der Couch war immer noch die Blutpfütze von vorhin, sie war das Mahnmal eines eigentlich unnötigen Verbrechens. Chikará konnte ihn nicht lange betrachten, der Anblick war für sie mit großen Schmerzen und enormer Selbstwut verbunden. Sie schaltete das elektrische Licht in diesem Zimmer aus und legte sich erschöpft auf die Couch, wo sie sich in die wärmenden Wolldecken hüllte. Gerne würde sie sich jetzt bei Arai entschuldigen, gerne würde sie irgendwie versuchen ihre Schuld zu begleichen, nur Geld oder so etwas hatte sie ja leider nicht. Da ihr letzten Endes kein guter Lösungsweg einfiel, wollte sie ihn lediglich morgenfrüh für seine Geduld und den Schlafplatz ihren tiefsten Dank aussprechen. Sie gähnte und schloss schließlich ihre müden Augen. Anstrengend und lehrreich war der dieser Tag gewesen, sie hatte viel mehr erfahren, als sie eigentlich gewollt hatte, größtenteils zwar Trauriges und Vergangenes, aber dafür auch eine sehr wichtige Selbsterkenntnis. Es dauerte nicht mehr lange, bis sie in einen heilenden und erholsamen Schlaf driftete.
 

Bereits früh am Morgen, als selbst die Sonne noch ruhte, öffnete Chikará verträumt ihre Augen. Die nasse Kleidung war getrocknet, die Wolldecken lagen weich und sanft auf ihrem Körper. Der Alkohol war vollständig aus ihrem Kopf verschwunden, er hinterließ nur noch leichte Schwindelgefühle. Die Erinnerungen an den vorherigen Tag erwachten in ihr. Sie streckte ihren linken Arm aus und betrachtete ihn. Keine Wunde. Eindeutiger konnte das alles nicht sein. Die Frage nach der Wahrheit war damit endgültig vergessen, es konnte keine Zweifel mehr geben. Nur, wie sollte es jetzt weitergehen? Der Pfad war noch weit und schwer, an seinem Anfang stand sie nun, alleine. Alleine hatte das alles keinen Sinn, alleine konnte man es nicht schaffen. Was war jetzt mit Arai? Sollte er noch eine Rolle in diesem Spiel um das Schicksal der Welt spielen? Er war nur ein einfacher Mensch, ohne besondere Fähigkeiten oder Kampferfahrung. Er trauerte seit langem seiner verstorbenen Liebe nach, er lebte in einer endlosen Illusion. Der Wunsch nach einer Veränderung, einer Beeinflussung des Zeitlaufes war sein einziger Lebenswille. Er lebte in seiner eigenen Realität, die nicht oder nur teilweise wirklich existiert. Nichts konnte seine Freundin zurückholen, das Helfen anderer Alkoholabhängiger war nur ein Zeichen seines unerfüllbaren Traumes. Er war unbrauchbar für diese Mission. Chikará wollte sich schnellstmöglich von ihm trennen. Sie stand auf und schaute sich um. Alles war noch genauso wie am Vortag, der Blutfleck und die Glassplitter waren immer noch am Fußboden zu erkennen, sie würden ihn an Chikará erinnern. In einem der Glasschränke lag ein Papierblock, neben ihm ein schwarzer Füller. Mit diesen Utensilien erfasste sie ihren Abschiedsbrief:

,Lieber Arai,

die Sache gestern Abend tut mir sehr leid, es lag am Alkohol, bitte verzeih es mir. Ich danke dir vom ganzen Herzen für deine Geduld und Nächstenliebe mir gegenüber. Ohne deine Unterstützung wäre ich letzte Nacht vielleicht völlig ins Bodenlose gefallen. Es tut mir alles so leid. Ich hoffe, die Wunde an deinem Hals wird wieder verheilen, mit ihr auch deine innerlichen Narben, die ich hinterlassen habe. Ich glaube, der Geist deiner Frau schaute uns letzte Nacht zu. Sie muss sehr sauer auf mich gewesen sein und stolz auf dich, weil du während meines Wahns nicht die Nerven verloren hast, sondern stattdessen beherrscht und richtig gehandelt hast. Sie muss sehr glücklich darüber sein, dass du dich so sehr für Alkoholabhängige einsetzt. Auch ich bewundere deine innere Stärke.

Lebe wohl,

Chikará'

Sie sah ihr Werk stolz an. Richtig ergreifend, dachte sie sich. Auch wenn es zum Teil Lügen und Übertreibungen waren, vielleicht sollten sie Arai helfen können, vielleicht können sie ihn ja sogar dazubewegen, wieder so etwas wie Normalität in sein Leben bringen? Sie legte das beschriebene Blatt auf die Couch, genau an die Stelle, wo ihr Kopf letzte Nacht gelegen hatte. Danach verließ sie leise die Wohnung, ohne sich umzudrehen und ohne Bedenkung über diese mehr oder weniger ehrenlose Flucht. Es kam das Egoistische in ihr durch, oder vielleicht auch eine leicht ausgeprägte und versteckte Form der Vorstellung, sie wäre etwas Besseres als dieser Mensch.

Draußen war noch dunkel. Die Straßen waren noch immer genauso leer wie am Vorabend, niemand war in der Ferne zu sehen, alle Fenster und Türen der Gebäude waren verschlossen. Vögelgezwitscher und das Fegen des Windes waren zu hören, es war noch recht kalt. Langsam stieg am Horizont die rote Morgensonne auf, der Himmel färbte sich in künstlichwirkende, purpurne Töne. Weit war der Weg von Chikará nicht. Durch die Innenstadt zurück zum Bahnhof, durch den kleinen Tunnel, bis zum Haus von Hanryo. Sie klopfte schüchtern und leise an der Türe. Sie hatte ein sehr schlechtes Gefühl dabei. Wie dumm es doch von ihr gewesen war, einfach so wegzulaufen. Hoffentlich würde er ihr verzeihen können, sie hatte ihre berechtigten Zweifel. Laut und unregelmäßig pochte ihr Herz, Angst und Ungewissheit beherrschten ihre Gedanken. Was wäre, wenn er sie jetzt abweisen würde, was dann? Wohin sollte sie, sollte sie versuchen, alleine auf den anderen Kontinent zu gelangen oder aufgeben? Nein, aufgeben würde sie auf keinen Fall. Was jetzt auch passieren sollte, sie würde auf keinen Fall aufgeben.

Als sich die Türe schließlich öffnete, stand Hanryo vor ihr. Zunächst schaute er sie verwundert an, er sah noch müde und verschlafen aus. Erst als sie ihn mit einem erwartungsvollen, kindlichen Blick anschaute, realisierte er die Situation. Seine Augen und sein Mund öffneten sich weit vor Erstaunen. Sie lächelte ihn überglücklich an. Noch ehe die ersten Begrüßungsworte fielen, umarmten sich beide wie gute Freunde, die sich jahrelang nicht gesehen hatten. Als sie sich nach einigen Sekunden wieder voneinander lösten, begann ihr Gespräch.

"Kannst du mir vorzeihen?", fragte Chikará ihn mit hoffnungsvoller Stimme.

"Ja, natürlich", antwortete er sofort, sichtlich erleichtert über ihre Rückkehr. "Ich dachte schon, ich hätte dich für immer verloren."

"Ein zweites Mal werde ich nicht weglaufen, nein, jetzt stelle ich mich meiner Aufgabe."

"Schön, das von dir zu hören."

"Was hattest du für heute geplant?"

"Ich wollte eigentlich noch ein paar Wochen lang mit dir weiter den Schwertkampf trainieren, damit du dich noch weiter verbessert, aber heute, nach alledem, können wir uns auch ruhig eine Pause gönnen."

"Nein, es ist schon in Ordnung, ich muss mich nur kurz umziehen und waschen, dann können wir aufbrechen."

"Wie du meinst, ich packe unsere Sachen für den Ausflug zusammen."

Vergessene Orte (Teil 1)

Die warme Mittagssonne schien grell auf die Überreste der alten Drachenstadt, sie färbte die ockerbraunen Steinfragmente trübweiß. Ryuchengshi, so ihr Name, lag in einer Schlucht mit einer Größe von ungefähr fünfzehn Quadratkilometern, um die Absenkung herum befand sich ein dunkelgrüner Tannenwald, er versteckte sie vor der Menschenwelt. Durch Erdbeben sank das Plateau des Stadtgebietes vor langer Zeit mehr als hundert Meter tief hinab, das Areal war schlecht gewählt für eine Stadt. Jedoch waren vielen der Gebäude bereits vor den Erschütterungen zerstört oder zerfallen, vor vielen Jahrtausende wanderten die Drachen von hier weg auf den anderen Kontinent. Sie fanden heraus, dass diese Stadt bald zurück in Erde gezogen würde, deshalb siedelten sie um in eine neue Stadt am anderen Ende der Welt. Sie hinterließen neben gigantischen Bauwerken auch unzählige verschollene Schätze und Geheimnisse. Das Wissen vieler Jahretausende lag dort unten begraben, weit weg von der menschlichen Zivilisation.

Hanryo und Chikará standen am Rand der Schlucht und sahen hinunter auf ihr Ziel, ungefähr ein Monat war nun seit ihrem ersten Treffen vergangen. Trümmer und Ruinen bestimmten das Bild der Schlucht, die meisten Bauwerke waren nicht mehr zu erkennen, nur ihre Umrisse waren noch sichtbar. Leichte Neben- und Staubschwaden zogen durch die alten Straßen, getrieben von einem schwachen, kalten Ostwind. Von dort oben waren nicht nur die enorme Größe der Siedlung zu erkennen, sondern auch ebenso gut das Ausmaß der Zerstörung und der Leere. Alles sah aus wie nach einer Katastrophe, einem großen Brand, einer Epidemie oder einer Überflutung. Chikará erinnerte der Anblick an eine Geschichte, die sie irgendwann einmal von Mitglieder einer religiösen Gruppe in den Slums gehört hatte. Sie sprachen davon, dass ihre Götter eines Tages alle Lebewesen für ihre Sünden bestrafen würden. Es würde die Luft brennen, die Erde überflutet und alle Kreaturen würden von tödlichen Krankheiten befallen werden. Niemand würde es überleben, und die Welt würde komplett zerstört werden. Das würde die Rache dafür sein, dass die Menschen so viele Sünden in ihrem Leben begangen haben. Sie würden morden, rauben und die Natur ebenso wie die anderen Lebewesen vernichten. Beim Betrachten der Ruinenstätte begann Chikará noch einmal über diese Zukunftsvision nachzudenken. Vielleicht war sie hier Realität geworden? Nein, bestimmt nicht, sagte sie sich selbst, sie hasste Religionen und Philosophie. Sie meinte immer, das wären die Lehren vom Nichts, da es keinerlei richtige Beweise für Götter oder Ähnliches gab, und wenn es um Übernatürliches ging, dabei fantasierte doch jeder gerne, sei es von dämonischen Monstern oder vom Leben in Parallelwelten oder einem Paradies. Was für ein Schwachsinn!

Es gab keinen Pfad oder Pass nach unten in die Schlucht, die felsigen Klippen, die fast senkrecht zum tiefen Grund führten, ermöglichten keinen Abstieg. Ob es dort unten überhaupt noch Leben gab? Chikará war skeptisch. Hanryo trug alleine ihr Gepäck, was aus einem großen Rucksack und ihren beiden Schwertern bestand. Sie wendete sich zu ihm: "Lebten hier nur Drachen?", fragte sie, immer noch fasziniert von der Aussicht auf die Schlucht.

"Ja", antworte Hanryo.

"Und wie viele?"

"Zehntausende, vielleicht sogar Hunderttausende von uns."

"Was wurde aus ihnen?"

"Der Krieg wurde zu ihrem Ende."

"Von hier oben kann man noch einige Bauten erkennen."

"Viele wichtige Gebäude sind heil geblieben."

"Wieso hat man diese Stadt in einer Schlucht gebaut?"

"Um besser ans Grundwasser zu gelangen."

"Aber es gibt doch anscheinend keinen Pfad nach unten?"

"Es gab einst eine steinerne Rampe, die sogar Fahrzeuge benutzen konnten, aber die Menschen haben sie nach ihrer Eroberung zerstört und dadurch keinen direkten Weg zu den Stadtruinen übriggelassen."

"Was du einmal hier, als diese Stadt noch existierte?"

"Nein, ich kenne sie nur von Erzählungen und Karten, aber das reicht uns aus."

"Was wird uns dort unten erwarten?"

"Vieles, lasse dich überraschen."

"Lebt dort noch irgendwer?"

"Nur Untote."

"Was?", sagte Chikará verwundert.

"Diese Stadt ist verflucht, alle Menschen, die hier sterben, sollen nach ihrem Tod als Wiedergänger die Stadt bewachen."

"Wirklich?"

Hanryo beantwortete diese Frage nicht und drehte sich weg von der Schlucht, dies war für Chikará das gleiche wie eine Antwort. "Wie kommen wir darunter?", fragte sie.

"Komme zu mir."

Sie ging langsam zu ihm. Er schloss seine Arme fest um sie, dann kamen seine Schwingen zum Vorschein. Chikará ahnte, was nun passieren würde. Sie kniff ängstlich ihre Augen zu. Sie spürte, wie sie beide den Boden verließen und hinunterschwebten. Das Gefühl des Fliegen und der Schwerelosigkeit genoss sie, obwohl es ihr gleichzeitig unheimlich war. Alles dauerte nur wenigen Sekunden, dann spürte sie wieder Boden unter ihren Füssen, er ließ sie los und sie öffnete wieder ihre Augen. Sie waren jetzt vorm Stadteingang in der Tiefe der Schlucht. Ihre Blicke wanderten sofort zum Eingangstor der Stadt, das sich direkt vor ihren Augen befand. Es schien noch nahezu unversehrt zu sein. Zwei große hellbraune Steinsäulen aus Sandstein, die ungefähr zehn Meter von einander entfernt standen und mehr als zwanzig Meter hoch zum Himmel ragten. Sie waren voller Reliefe, auf denen man Drachenkörper erkennen konnte. Oben verband die Säulen ein senkrecht auf beiden liegender Steinbalken in derselben Farbe. Auf ihm standen alte Schriftzeichen, die Chikará niemals zuvor irgendwo gesehen hatte. Angestrengt versuchte sie Parallelen zu anderen, ihr bekannten Schriftzeichen zu finden. Hanryo bemerkte ihre angestrengten Blicke hinauf. "Willkommen in Ryuchengshi", las er vor und zog seine Schwingen wieder in seinen Rücken ein. "Diese Schrift ist sehr alt, ich beherrsche nur einige wenige Zeichen von ihr."

"Hat diese Stadt keinen Schutzwall oder so", bemerkte sie wieder hinabblickend. "Über die Rampe hätten ja auch Feinde hinuntergelangen können?"

"Zur Zeit, als sie gebaut wurde, brauchte man keine Angst vor anderen Mächten zu haben."

"Das muss sehr lange her sein."

"Ja, das ist es. Es gibt eine kilometerlange Hauptstraße durch die gesamte Stadt, ihr werden wir folgen."

Direkt hinter dem gigantischen Stadttor begann jene Straße. Sie war ungefähr zwanzig Meter breit, gebaut aus Sandstein und überzogen von pechschwarzem Teer, der jedoch von der Vergänglichkeit grau gefärbt wurde. Schwache Winde zauberten über den Boden staubige Figuren, die sich kurz nach ihrer Erscheinung wieder verabschiedeten ins Nichts, seltsame Risse bildeten ein Relief der Zeit im Asphalt. Neben dem alten Weg säumten die Reste der Vergangenheit, aufeinandergehäufte braungraue oder sandfarbene Steine, früher waren es einmal Häuser, nur wenige sind nach dem Beben erhalten geblieben. Erkennbar waren nichts außer Bauteile aus Stein, die übrigen überdauerten die vielen Jahrtausende nicht. Es wirkte fast wie eine natürliche Felsenlandschaft, in der niemals irgendwer gelebt hatte. Ein Massenfriedhof ohne Leichen, nur mit Gräbern, die bereits selbst verfielen, keine Geräusche waren zu hören, absolute Stille herrschte. Chikará bekam allmählich Erfurcht vor diesem Ort, vor allem die noch stehenden Häuser machten ihr aus irgendwelchen Gründen Angst. Jedes von ihnen betrachte sie genau. Einfache, fast schon primitive Geschäfte für Kleidung oder Nahrung, eine Polizeiwache, eine Arztpraxis und viele Wohnungen. Nahezu unlesbare Holzschilder mit den Namen der Laden waren oft mit Symbolen bemalt, an ihnen konnte man die frühere Verkaufsware oder Aufgabe des Gebäudes bestimmen. Jedoch nahm dies Chikará nicht die Beunruhigung, von der sie Hanryo allerdings nichts mitteilte. Wenn sie schon in einer Ruinenstätte Panik bekommen würde, dann wäre sie keine gute Drachenkaiserin, redete sie sich ein. Die Hauptstraße verlief gerade mit vielen Kreuzungen und Abzweigungen, an der dritten Hauptkreuzung, die sie passierten, hielten die beiden an. Hanryo drehte sich nach rechts, am Straßenrand stand ein guterhaltenes Gebäude, zwar war die Vorderseite mit kleinen dunkelgrünen Einzellern bewachsen, aber ansonsten schien es noch recht stabil zu sein. "Vor uns liegt eine kleine Bibliothek", sagte er. "Hier gehen wir hinein. Dort lagern alte Stadtpläne, wir werden sie brauchen, um den Weg zu den Katakomben finden zu können."

"Katakomben?", fragte Chikará verwundert. "Davon hattest du aber bisher noch nichts erwähnt."

"Ich weiß, es sollte eine kleine Überraschung werden." Er ging mit einem leichten Lächeln an ihr vorbei und dann hinein in die Bibliothek, sie folgte ihm ein wenig verärgert. Dies waren wirkliche Nervenproben für sie, Ruinenstätten und dann auch noch Katakomben, ob Kaiserdrachen durch Angst sterben könnten? Wahrscheinlich eher nicht, dachte sie. Es blieb ihr nichts übrig, außer mit Vorsicht und Misstrauen abzuwarten, was passieren würde.

Die Bibliothek war wirklich nicht gerade groß und nahezu komplett aus Holz erbaut, das mittlerweile teils verfault war. Eine Türe hatte das fensterlose Gebäude schon lange nicht mehr, ein Schild an der Außenfassade erinnerte an die ehemaligen Öffnungszeiten. Insgesamt standen drinnen nur sieben, bis zur Decke reichende Eichenholzregale, sie standen parallel zu den Seitenwänden des einstöckigen Hauses. Beim Überschreiten der holzigen Türschwelle brachen mit knackenden Geräuschen unter Hanryos Füssen einige Bretter durch, Staub wurde aufgewirbelt, aber er schaffte es, sein Gleichgewicht zu halten. Chikará kicherte leise. Diese Bibliothek war ohne Frage sehr klein für eine Bibliothek, die Bezeichnung Bücherladen wäre fiel passender gewesen. Man stieß sogar unter dem tiefen Dach fast mit dem Kopf gegen die hölzerne Decke, die einige wenige Löcher hatte, durch die Sonnenstrahlen gelangen konnten. Die Lichtfetzen reichten aber dennoch, um drinnen alles gut zu behellen und so alles sichtbar zu machen. Spinnenweben hangen überall an den Wänden, Staubpartikel tanzten in den Lichtkegeln. Chikará musste wegen ihnen ein paar mal kräftig niesten. Im Gegensatz zur übrigen Stadt, machte ihr dieses Gebäude jedoch keine wirkliche Angst, sie fühlte sich fast ein wenig wie zu hause, da die Häuser der Slums oft genauso aussahen, der einzige große Unterschied war, dass die Slums trotzdem voller Leben waren. Hanryo erkundete die Regale genau, bis er aus einem ein Buch nahm, aber als er es aufschlug, fiel es zu seiner Verwunderung völlig auseinander, die Fragmente landeten unsanft auf den steinernen Fußboden. Ein verduzter Blick ging über sein Gesicht, während seine Begleiterin sich die Hände vorm Mund hielt, damit er nicht ihre Schadenfreude bemerkte. Er sah sich die Stelle an, wo das zerfallene Buch stand, kleine Würmer und andere Insekten krochen aufgeregt im leeren Zwischenraum. Kopfschüttelnd ging er weiter zum nächsten Regal, Chikará blickte kurz auf die Kleintiere zwischen den Büchern, sie ekelten sie sehr an, ihr wurde fast ein wenig übel durch diesen Anblick, eilig folgte sie Hanryo. Er befürchtete, dass alle Bücher derart unlesbar sein könnten und er bemerkte auch, dass einige Bücher fehlten, besonders welche, die über längst vergessene Dämonen und Höllenkreaturen berichteten. Eine Plakette zeigte die Stelle, die eigentlich für diese Literatur vorgesehen war, der Raum war leer, kein einziges Werk war mehr zu finden, was Hanryo sehr beunruhigte. Er wusste, dass in Ryuchengshi einst viele Dämonenforscher lebten, deren niedergeschriebenes Wissen in den vielen Bibliotheken der Stadt lagerte. Wenn dieses Wissen in die falschen Hände gelangt wäre? Jetzt war keine Zeit, um sich darüber den Kopf zu zerbrechen, sagte er sich. Schließlich fand er im letzen Regal das Kartenarchiv der Bibliothek, glücklicherweise waren die meisten Zeichnungen besser erhalten als die Bücher. Er begann sofort ein gutes Exemplar für die weitere Stadterkundung zu suchen, währenddessen suchte Chikará sich ein noch lesbares Buch, sie fand einen Roman, der von einer Liebegeschichte berichtete. Nachdem sie die ersten paar Seiten leise lass, fing sie an, den weiteren Teil laut vorzutragen. Sie wollte damit Hanryo ein wenig provozieren, das sollte die Gegenleistung für die noch bevorstehende Katakombenbesichtung sein. "So standen sie mitten im feinen Sand, das warme Wasser reichte ihnen bis zu den Knien. Am Ende des blauen Meeres ging langsam die Sonne unter, der Strand färbte sich rotviolett. Sie schauten sich gegenseitig tief in die Augen. Schließlich berührten sich ihre Lippen. Na Hanryo, nette Geschichte, findest du nicht?", wendete sie sich zu ihm.

"Wunderschön Chikará", seufzte er. "Das Buch brennt bestimmt gut."

"Weißt du überhaupt, was Liebe ist?"

"Was ich weiß, und was ich nicht weiß, lässt du mal lieber meine eigene Sorge sein."

"Hattest du niemals so etwas wie eine Partnerin?"

"Im Moment habe ich dich, das reicht vollkommen."

"Bleibe doch mal ernsthaft."

"Ernsthaft kann ich dir sagen, dass ich gerade einen guten Stadtplan gefunden habe, wir können bald weitergehen."

Chikará war etwas wütend über Hanryos Ignoranz und Verschlossenheit, aber ihr war eigentlich auch schon vorher klar, dass man mit ihm keine emotionalen Gespräche führen konnte. Diese Wortkargheit konnte man auf zwei Arten interpretieren, dachte sie sich, entweder war er wirklich so emotionslos oder er wusste mehr, als er zugab. Aber da er wohl noch sehr Zeit miteinander mit ihr verbringen würde, war sie zuversichtlich, irgendwann sein Schweigen brechen zu können. Verärgert über ihn stellte sie das Buch wieder weg und lehnte sich gegen die Hauswand. Ein quietschendes Geräusch, dann ein lauter Knall, die Wand hielt den Druck nicht stand, von Chikará war nur noch ein kurzer heller Schrei zu hören, darauf folgte lautes Gepolter. Hanryo drehte sich erschreckt um. Ein großer Teil der Wand war nach außen eingefallen, Chikará war spurlos verschwunden. Noch bevor er den Schreck verdauen konnte, hörte er ein weiteres lautes Poltern, dieses Mal jedoch über sich. Sein Blick ging nach oben, genau in diesem Moment fiel das Dach hinunter, reflexartig er zog seine Hände über sein Gesicht zum Schutz vorm drohenden Einsturz, aber zum Glück konnte der leichte Dachstuhl von den Regalen gebremst werden. Nur Staub und Käfer regneten aus den Holznischen, mehr passierte nicht, die Dachkonstruktion blieb solide auf den stabilen Regalen liegen. Hanryo atmete wieder gelassener, bis er sich erneut zur kaputten Wand wendete, Chikará war wie vorhin nicht zu sehen. Ihm kamen direkt schreckliche Gedanken, er lief alarmiert zu den eingestürzten Mauerteilen. Neben dem Haus lag der Überrest der Wand, ein Haufen aus Holz und Schutt. Aufhetzt schaute er sich die Unfallstelle genau an, er entdeckte eine kleine blaue Haarsträhne, die zwischen den Balkenstücken herausragte, Chikará musste unter der Holz- und Staubdecke begraben sein. Hanryo hob einige schwere Bretter von der Stelle weg, an einem hing der rechte Ärmel ihres Pullovers, er musste beim Zusammenfall an Splittern hängen geblieben sein und wurde so vom Stoff abgerissen. Langsam kam Chikarás ganzer Körper wieder zum Vorschein, sie war noch bei Bewusstsein und hielt ihre Hände am Hinterkopf, ihr Gesichtsausdruck offenbarte ihre Schmerzen, sie jammerte wie ein kleiner Hund, obwohl sie sich bei diesem Unfall keine schweren Blessuren zugezogen hatte. Lediglich die Gläser ihrer Brille waren zersprungen, und ihr Wollpullover hatte zahlreiche Stoffstücke verloren, die im Holz hängen geblieben waren. Jetzt sah es so aus, als würde sie eine durchlöcherte Decke tragen, zumindest ihre feste Hose und ihre Schuhe waren heil blieben. Hanryo hatte Mühe sich ein beleidigendes Lachen zu ersparen, er streckte ihr seine Hand zur Hilfe aus, Chikarás ergriff sie, und er half ihr aufzustehen.

"Mein Rücken", keuchte sie und fasste mit ihren Hände in die Nierengegend. "Meine Beine, mein Pullover ist fast nicht mehr da, meine Brille ist kaputt."

Hanryo zog ihr die Brille aus und warf sie weg auf den Bretterhaufen. Chikará schaute ihn sehr verwundert an.

"Deine Schmerzen werden nicht lange andauern und für unsere Abenteuer ist eine Brille nur hinderlich."

"Aber du hast mir doch zu einer geraten?"

"Besser man kann nicht lesen, als man nicht richtig kämpfen."

"Und was soll ich jetzt mit dem Pullover machen, so kann ich doch nicht herumlaufen, auch wenn das hier eine Ruinenstätte ist."

Hanryo nahm seinen Rucksack ab und holte aus ihm ein schwarzes Hemd. "Ziehe das an", sagte er freundlich. "Ich hatte erwartet, dass deine Alltagskleidung solche Reisen nicht übersteht. Wenn wir wieder zuhause sind, schneidern wir dir einen richtigen Kampfanzug."

"Warum haben wir das denn nicht schon früher getan?", kritisierte sie ihn. "Du wusstest schließlich, was uns erwartet, ich wusste es nicht."

"Aus den eigenen Fehlern lernt man mehr als aus den Worten anderer."

"Ich verstehe", sagte Chikará abweisend und zog sich das Hemd über den verrissenen Pullover. Sie gingen wieder durch das Loch in der Wand zurück in die Bibliothek, die Regale hielten immer noch das Dach, die Staubwolken hatten sich inzwischen wieder gelegt, die Insekten hatten sich wieder in den Nischen verkrochen. Hanryo wollte noch nach einigen Büchern über die Stadt schauen, er kannte aus Geschichten einige unheimliche Legenden über die Katakomben, beziehungsweise über das, was dort unter der Erde ruhen sollte. Er behielt dies vorerst für sich, er wollte schließlich nicht, dass Chikará einen Nervenzusammenbruch bekommt. Vielleicht waren es auch nur erfundene Begebenheiten, ohne wahren Kern? Die Antworten würden kommen, da war er sich sicher. Leider war die Anzahl der Werke über diese Thematik mehr als dürftig, die Fragen blieben noch offen, deshalb beschloss er, endlich die Bibliothek zu verlassen. Chikará wollte Hanryo noch kurz fragen, wohin sie jetzt gehen werden, aber genau in diesem Moment spürte sie plötzlich eine Hand vor ihrem Mund. Erschreckt murmelte sie irgendetwas Unverständliches, während die Hand sie hinter eines der Regale zog. Hanryo war es, der sie so überrascht hatte, er deutete ihr mit seiner anderen Hand an, sie solle leise sein, dann ließ er sie wieder los. Sie schwieg und guckte ihn fragend an, er zeigte mit seinem Zeigefinger kurz in Richtung des Eingangs der Bibliothek. Sie nickte und schlich sich vorsichtig zum Rand des Regals, erwartungsvoll und angespannt blickte sie unauffällig zur Eingangspforte. Ein Schatten schlich langsam durch den Zugang hinein ins Haus. Solch ein Geschöpf hatte sie niemals zuvor gesehen. Es hatte den Körper eines Menschen, eines erwachsenen Mannes, aber die Haut war dunkelgrau und schien ausgetrocknet, die Haare waren weißgrau wie bei Alten, die Kleidung war schmutzig und braun, ob das Wesen Augen besaß, konnte sie nicht erkennen. Es machte hechelnde Geräusche, so als könnte es nicht richtig atmen und ging, als hätte es gebrochene oder verstauchte Gliedmaßen, es kam sehr langsam vorwärts. Als es sich dem Versteck der beiden näherte, konnte man seine Gestalt genauer erkennen, seine Kleidung war wahrscheinlich einmal eine Rüstung gewesen, Metallstücke und Abzeichen waren zu sehen, die Ummantelung eines östlichen Schwertes trug es auf seinem Rücken, ebenso einige Dolche am Gürtel. Seine Haut hatte viele Risse und Wunden, die jedoch weder bluteten noch zu verheilen schienen. Die Kreatur hatte doch Augen, glasige weiße, ohne eine Farbe. Was war das für ein seltsames Wesen? Blitzartig zog Hanryo Chikará weg und stieß sie unsanft durch das Loch in der Wand, sie stolperte nach draußen über die Trümmer und fiel erneut hin. Er stellte sich in die Maueröffnung und trat einmal feste gegen eines der Regale, die das Dach stützten. Danach lief er schnell zu Chikará in Deckung, während binnen Sekunden die gesamte Bedachung des Hauses kurz wackelte und dann mit läuten Poltern hinab stürzte. Die Bücherregale konnten dieses Mal den Druck nicht mehr standhalten, die gesamte Bibliothek fiel in einer großen Staubwolke zusammen und begrub die vielen Bücher ebenso wie die fremdartige Kreatur unter sich, die sich mit schrillen Kreischen im Moment des Zusammenbruchs verabschiedete. Chikará beobachte alles sprachlos vom Boden aus. Hanryo setzte sich zu ihr. "Entschuldigung", sagte er aufgesetzt betrübt. "Das gerade wurde einfach zu gefährlich, hast du dir wehgetan?"

"Nein, aber nächstes Mal kann ich auch ohne Hilfe ein Haus verlassen."

"Es musste halt schnell gehen, ich wollte dir nur eine direkte Berührung mit dem Typ ersparen."

"War das ein Untoter?", fragte sie auf die Trümmer blickend.

"Ja."

"Wie kam er zu uns?"

"Er muss unsere Fußspuren gesehen haben, und dein Zusammenbruch eben war unüberhörbar."

"Ist er jetzt wieder oder richtig tot?"

"Tot ist er sowieso schon, es wird aber wahrscheinlich sehr lange dauern, bis er sich aus den Trümmern befreit hat."

"War er einst ein Mensch?"

"Ja, es gibt hier einen Fluch. Jeder Mensch, der hier unten in der Stadt sein Leben lässt, soll sie nach dem Tod als Wiedergänger bewachen."

"Und wie viele sind hier gestorben?"

"Die Stadt ist groß, aber wenn wir Glück haben, treffen wir nicht mehr allzu viele von denen."

"Sind die überhaupt gefährlich, ich meine, der humpelte und war sehr langsam?"

"Glaubst du", sprach er nach einem flüchtigen Lachen. "Ich hätte die schöne Bibliothek zerstört, wenn der freundlich gewesen wäre?"

"Er schien zumindest recht harmlos", erwiderte sie naiv.

"Das ist der Fehler, den viele machen, diese Kreaturen zu unterschätzen. Einen Menschen und die meisten anderen Gegner kann man mit einem gezielten Schlag erledigen, den Untoten aber macht es nichts aus, den Kopf oder Ähnliches im Kampf zu verlieren, die kämpfen bis sie sich nicht mehr bewegen können. Außerdem sind ihre halbverwesten Körper Träger vieler Seuchen und Parasiten, für uns beide sind sie ungefährlich, aber Menschen bringen sie oft den Tod."

Chikará dachte ein wenig über die Geschehnisse nach, dann fragte sie ihn: "Wie geht unsere Expedition weiter?"

"Die Stadt hatte einst fünf Bibliotheken", antwortete er zur Hauptstraße schauend. "Ich habe einen bösen Verdacht, deswegen werden wir auch die verbleibenden vier noch aufsuchen müssen. Es könnte zwar nur eine Illusion sein, aber ich muss der Sache auf den Grund gehen."

"Was für einen Verdacht?"

"Ich werde es dir später erzählen." Hanryo stand auf und ging zur Hauptstraße, Chikará schaute ihm hinterher bis er sich noch einmal zu ihr umdrehte und mit seiner Hand andeutete, sie sollte endlich kommen. Sie zog eine rebellische Grimasse, stand auf und folgte ihm. Der Wind lies mittlerweile nach, so dass man nur noch die Schritte der beiden hören konnte in der Stille dieses vergessenen Ortes. Das Bild der Stadt nahm allmählich eine Monotonie an, die Gebäuderuinen sahen beinahe alle gleich aus, alle waren hauptsächlich aus Sandstein und grauen Ziegeln erbaut, die Dächer waren oft aus Holz oder dunklen Dachziegeln. Immer konnte man irgendwo mindestens ein Loch in den Wänden erkennen, wenn das ganze Haus noch nicht ein Schutthaufen war. Man sah auch viele Kleinigkeiten, alltägliche Gegenstände in den Ruinen und auf der Straße, verrostete Töpfe und Messer, verbleichte Papierfetzen, kaputte Spielzeugteile, aufgebrochene Holzschatullen, zerbrochenes Porzellan, die Spuren des Lebens. Chikará begann sich vorzustellen, wie es hier wohl damals war, als hier noch Drachen lebten. Jedenfalls lebten die Drachen nicht viel anders als die Menschen, wenn nicht sogar genauso wie jene. Akashia erzählte, die Drachen hätten die Form und Lebensart der Menschen angenommen, um mit ihnen zusammen in Frieden leben zu können, die Impressionen der Stadt spiegelten diese Theorie deutlich wieder.

Mehr als einen Kilometer war der Fußmarsch bis zur zweiten Bibliothek lang, jene war viel größer als die erste, sie hatte die Größe eines durchschnittlichen Hauses der reicheren Bevölkerung. Die braunen Wände waren verstaubt und porös, die Fenster hingegen hatten noch Glasfragmente, die das dumpfe Sonnenlicht durchließen. Dieses Bücherhaus besaß zwei Obergeschosse und ein Kellergeschoss, in denen Hunderttausende von Lektüren lagerten. Das gesamte Gebäude war stark beschädigt, die Zeit zerstörte unerbittlich den Sandstein, der Boden hatte viele Durchbrüche, durch die man einige Meter tief in den Keller blicken konnte, wo das Wasser ungefähr kniehoch stand. Direkt neben der offnen Eingangspforte entdeckte Hanryo einen Wegweiser, ein kleines Metallschild, dessen Reliefschrift noch gut zu erkennen war, es dauerte nicht lange, bis er die Botschaft entschlüsselt hatte. Die Dämonenwerke wurden im Keller aufbewahrt, Chikará konnte mit viel Mühe den Wegweiser ebenfalls lesen. Ihre Blicken wanderten über die brüchigen Mauern, bis zum leeren Dachstuhl, es lag ein feuchter, modriger Geruch in der Luft, er kam wohl vom Keller aus. Sie wollte nur ungern dorthinunter, aber tapfer ging sie dicht hinter ihrem Begleiter. Die Steintreppe, die hinunter führte, diente als Brutstätte für Einzeller aller Art, mit den ersten Schritten auf den grünbewachsenen Steinen sah man bereits rote Ameisen aus ihrem grünen Verstecken fliehen. Nach einigen Stufen verließ Chikará der Mut und sie bat Hanryo, oben auf ihn warten zu dürfen, er willigte ein, immerhin hatte kein wasserfestes Schuhwerk. Sie setzte sich vorsichtig auf den grauen Fußboden des Erdgeschosses und beobachte ihn gespannt durch einen der Durchbrüche, er musste aufpassen, dass er nicht auf den glatten Weg ausrutschte. Unten angekommen, watete er langsam und behutsam durch das dunkle Wasser, Algen blieben unter der Oberfläche an seinen Schuhen und seiner Hose hängen, man sah durch seine Schritte aufgewirbelten Staub. Im Morast wimmelte es von winzigen Würmern und Insekten, die durch den fremden Besucher aufgeweckt worden und nun wild und ziellos umherschwammen. Der Geruch des Sumpfloches wurde immer intensiver, er hatte neben den Gestank auch etwas Beißendes in sich, vielleicht der Witterung von zersetzten Leichen, aber so etwas schreckte Hanryo selbstverständlich nicht ab. Er fand schnell den Platz für die Werke über Dämonologie, erneut war jener leer, seine Befürchtungen schienen sich zu bewahrheiten. Irgendjemand plünderte die Bücherlager der Stadt aus auf der Suche nach dämonischer Literatur, derjenige würde bestimmt versuchen, sich der Hilfe der Schattenwesen zu bedienen. Ein schwieriges und anspruchvolles Unterfangen, aber wer weiß, welche ernormen Kenntnisse der Dieb haben könnte? Vielleicht wäre es ein Debütant, vielleicht aber auch ein Dämonenmeister? Er musste aufgehalten werden, sofern dies überhaupt noch möglich wäre, aber ein Versuch müsste mindestens erbracht werden, um das drohende Unheil möglicherweise noch zu verhindern. Chikará sah, wie Hanryo unruhig zurück zur Treppe ging. "Es scheint, als wäre meine Angst berechtigt", erklärte er. "Es fehlen in beiden Bibliotheken die Bänder über Dämonologie, es könnte zwar nur ein blöder Zufall sein, aber ich persönlich vermute, das mehr dahinter steckt. Die Untoten können nicht lesen, sie haben sie wahrscheinlich nicht entwendet, es muss jemand anders gewesen sein, jemand, der wusste, was er tat."

Sie ahnte, dass ihnen nun wohl eine Jagd bevorstehen würde, eine Jagd auf eine unbekannte Kreatur, die wohl Schreckliches plante. Die Suche schien anfangs relativ aussichtslos, bis Hanryo einen wichtigen Hinweis entdeckte, er bemerkte Fußspuren in den grünen Pflanzen auf den Stufen, es waren nicht die seiner Schuhe, es mussten die des Diebes sein. Er beugte sich zu ihnen, sie waren noch frisch und deshalb gut zu erkennen, sie konnten nicht älter als einige paar Stunden sein, die Pflanzen hatten noch Tropfen des Schleims aus dem Keller im Moosgeflecht. Er fand noch ein weiteres Fragment des vermeintlichen Diebes in den Einzellern, ein kurzes helles Haar. Es war kein menschlicher Farbton, das erkannte Hanryo sofort, aufgeregt wandte er sich zu Chikará, die ihn vom Erdgeschoss aus aufmerksam beobachtet hatte. "Ein Lichtdrache ist es", sagte er ein wenig aufgewühlt. "Seine Spuren sind noch frisch, er kann nicht weit sein, wir haben doch noch eine Chance."

"Ein Lichtdrache?", wiederholte sie überrascht. "Kennst du ihn?"

"Ich kenne viele jener Art, aber ich habe nicht die geringste Ahnung, um wen es sich handeln könnte."

"Werden wir versuchen, ihn zu finden?", wollte Chikará bestätigend wissen, obwohl sie die Antwort eigentlich schon kannte.

"Ja, das werden wir. Wir wissen nicht, ob er mit der dämonischen Macht umzugehen weiß oder wofür er sie verwenden will."

"Wo vermutest du ihn jetzt?"

"Es gibt noch drei Bibliotheken, ihn den beiden, in denen wir waren, war er bereits. Es wäre also gar nicht so unwahrscheinlich, dass er dieselbe Route wie wir verfolgt. Es könnte aber auch sein, dass er bereits in den anderen drei Bibliotheken vor uns war", er unterbrach kurz um nachzudenken, dann sprach er weiter. "Ich habe einen Plan." Er ging schnell die Treppe hoch und verließ ohne Umwege das Haus, Chikará spurtete ihm stumm hinterher. Draußen blieb er stehen und breite erneut seine roten Schwingen aus, die binnen weniger Sekunden aus seinem Rücken wuchsen. Er schlug mit ihnen einige Male kräftig, wie ein Vogel, der fliegen will, Staub wurde aufgewirbelt, schließlich stieg er durch den Aufwind ruckweise empor in die Lüfte. Chikará schaute zu ihm hinauf und staunte. Nachdem er eine Höhe von ungefähr fünfundzwanzig Metern erreicht hatte, konnte er gut die umliegenden Straßen überblicken, er suchte aufmerksam nach weiteren Spuren. Von dort oben sah die Stadt viel kleiner, als sie in Wirklichkeit war, die Ruinen schienen wie Sandhügel und die Straßen wie ausgetrocknete Flussläufe. Hanryo erkannte zuerst nichts Auffälliges, aber nach kurzer Zeit wurde er auf ein Straßenstück, ungefähr vierhundert Meter vor ihm liegend, aufmerksam. Er sah eine Kreatur am Boden liegen, es war wahrscheinlich kein Untoter, er bewegte sich nicht, vielleicht war er verletzt oder tot, neben ihm lagen rechteckige Gegenstände, es könnten Bücher gewesen sein. Dies konnte vielleicht ein wichtiger Fund auf der Suche nach dem Dieb sein, wenn nicht sogar jener selbst. Man müsste unbedingt zu dieser Stelle gelangen, dachte sich Hanryo und er hörte auf mit seinen Schwingen zu schlagen, der Auftrieb ließ daraufhin nach und er schwebte wieder langsam zurück zum Boden. Chikará starrte ihn nach seiner Landung gespannt an. "Hast du etwas gesehen?", fragte sie ihn hastig.

"Komm mir hinterher", forderte er sie auf. "Ich glaube, wir könnten ihn gefunden haben." Er nahm Chikarás Schwert ab und warf es ihr zu, sie fing es sicher und beide liefen los, der Hauptstraße entlang. Es war schwer, sich zwischen den Überresten der Häuser, die ja auch teils auf den Wegen lagen, schnell fortzubewegen, dennoch kamen sie in ihrem Eifer gut voran, binnen weniger Minuten erreichten sie ihr Ziel. Nach der letzten Abbiegung konnte Chikará bereits von weitem die auf den Boden liegende Kreatur deutlich sehen. Es handelte sich um einen jungen Mann, er trug verschmutzte hellbraune Lederkleidung, ein kurzärmeliges Hemd und eine lange Hose, er trug keine Schuhe und hatte zerzauste helle Haare. Er lag dort seitlich zusammengekauert, den Kopf unter seinen Armen versteckt, und zitterte stark, als hätte er einen epileptischen Anfall oder etwas Vergleichbares. In seiner Nähe befanden sich viele aufgeschlagene Bücher, auf Zeichnungen waren Dämonen zu erkennen. Chikará war über den Fund dieses Geschöpfes sehr verwirrt, sollte dieses bedauerndste Wesen derjenige sein, der die vielen Dämonenbücher aus den Bibliotheken entwendet hatte? Seltsam, wie konnte das sein und wozu? Wollte er vielleicht die Literatur weiterverkaufen an Okkultisten oder Sammler? Was sollte so ein unscheinbarer Dieb mit derart realitätsfernen Büchern anfangen? Es musste doch bestimmt noch viel mehr dahinter stecken, es war bestimmt nicht so leicht zu erklären, welches Geheimnis verborg er nur, fragte sie sich, und fand in diesem Moment keine plausible Antwort darauf, weswegen blieb sie vorsichtshalber einige Meter von ihm entfernt stehen. Hanryo hingegen hatte keine Furcht oder größere Bedenken, er erkannte den Mann wieder. Verwundert ging er nah zu ihm und kniete sich vor ihm, er legte ihn behutsam seine Hand auf die Schulter.

"Jimo, was ist mit dir passiert?", fragte er ihn leise und mit trauriger tiefer Stimme. Der Mann drehte seinen Kopf um, seine Augen waren grün und sein Gesicht sah so aus, als hätte er seit Tagen nicht mehr geschlafen. Langsam begann er zu sprechen: "Ein Dämon", er stockte kurz beim Reden. "Er hat besitz von mir ergriffen, er kontrolliert mich, ich wollte ihn mit Hilfe der Bücher vertreiben, aber er ist zu stark."

"Ich werde versuchen dir zu helfen", sagte Hanryo entschlossen und schaute ihn dabei tief in seine beinahe tot wirkenden Augenlieder. Plötzlich veränderte sich ihre Farbe, das drachentypische Smaragdgrün wurde auf einmal zu Blutrot.

"Nein", hauchte Jimo mit einer anderen, tieferen und künstlich klingenden Stimme. Hanryo blickte ihn entsetzt an, und noch bevor er reagieren konnte, schlug Jimo ihn auf einmal mit seiner rechten Faust mitten auf die Stirn, Hanryo fiel zurück auf den staubigen Boden. Hinter ihm lagen zum Glück nur stumpfe Trümmerteile, so dass er sich beim Sturz nicht mehr als leichte Prellungen zuzog. Völlig erschreckt rannte Chikará sofort zu ihn, sie griff nach seiner linken Hand und half ihn auf zu stehen, er taumelte etwas wegen der leichten Kopfschmerzen, die der Schlag bewirkt hatte, aber wenige Sekunden später war er bereits wieder bei vollem Bewusstsein. Er zog sein Katana aus der Ummantelung und stellte sich in Kopfposition, ohne zu zögern, rüstete sich auch Chikará zum Kampf. Jimo war mittlerweile ebenfalls aufgestanden, er hielt ein Kurzschwert in seiner rechten Hand und seiner linken einen Dolch. Hanryo wagte noch einen Versuch, seinen Gegner wieder zur Besinnung zu bringen: "Jimo", schrie er ihn verzweifelt an. "Sei stark! Lass dich nicht von ihm besiegen! Kämpfe! Kämpfe gegen ihn!"

Jimo konnte nicht mehr kämpfen, der Dämon hatte ihn zu diesem Zeitpunkt schon längst besiegt. Er grinste flüchtig und sein willenloser Körper lief wütend auf die beiden zu, er holte zu einem großen Hieb aus, Hanryo konnte jedoch sein langes Schwert als Schutzschild benutzen und so den Angriff parieren. Chikará sah ihre Chance und fügte Jimo im selben Moment mit einem gezielten Schlag eine tiefe Wunde am rechten Unterarm zu, Blut lief an der Klinge ihres Schwertes hinunter. Der Schmerz war sehr stark, der Dämon konnte den charakterlosen Körper nicht dazu bringen, ihn zu ignorieren, das Kurzschwert konnte er nicht mehr festhalten und musste es fallen lassen, aber dies steigerte nur seine Kampfesekstase. In seiner Raserei wandte er sich zu Chikará, sie sollte für diesen Treffer bitter büßen, er holte zu einem neuen Angriff aus, dieses Mal sollte sie das Opfer sein. Sie erkannte schnell die Absicht ihres Widersachers und konnte sich dadurch noch mit ihrer Klinge vor dem mächtigen Dolchangriff verteidigen. Dennoch musste sie durch die Wucht des Aufpralls einen Schritt zurück gehen, um das Gleichgewicht zu halten, sie verstand, dass dieser Gegner trotz seiner vagabundischen Erscheinung eine hohe Körperkraft besaß. Jimo sah seinen Teilerfolg und wurde optimistisch, diesen Kampf für sich entscheiden zu können, er wollte direkt einen Stichschlag zu ihrer Brust ansetzten, aber dabei vergaß er ihren Gefährten, Hanryo sah das nahende Unglück und stach ohne lange nachzudenken mit seinem Schwert einige Zentimeter tief in Jimos Nierengegend. Ein neuer, noch viel stärkerer und intensiverer Schmerz durchfuhr ihn jetzt, diesen Treffer konnte er nicht mehr überspielen, er sah seine Niederlage vor Augen, blutend sank er wie eine Leiche zu Boden. Erleichtert beobachtete Chikará seinen Sturz, aber dies stoppte nicht ihre Konzentration und ihren Adrenalinfluss, um den entgültigen Sieg zu erringen, nahm sie ihre Waffe hinunter und setzte die Spitze auf der Brust des Feindes an, so dass sie ihn jeden Moment mit einem Durchstich hätte töten können. Hanryo vollendet den Triumph, indem er seine scharfe Hiebwaffe an Jimos Hals ansetzte. Der Kampf schien eindeutig entschieden.

"Gib auf, du hast verloren Schattenwesen, verlass seinen Körper!", befahl Hanryo, immer noch vor Aufregung unruhig atmend.

Der Lichtdrache lag völlig erschöpft auf den Rücken und reagierte zunächst nicht auf die Aufforderung, als seine beiden Gegner jedoch langsam den Druck ihre Schwerter erhöhten, so dass diese leicht in Jimos Haut eindrangen konnten und etwas Blut aus den zwei lebensgefährlichen Verletzungen lief, bewegte er sich. Er streckte zaghaft seinen linker Arm aus, so als wollte er den Dolch neben seinen Körper niederlegen. Hanryo sah nun Hoffnung für Jimo, der Dämon würde ihn wohl doch verlassen, aber es sollte anders kommen. Anstelle einer finalen Entwaffnung, zog er grinsend in einer unerwarteten, blitzartigen Bewegung den Dolch vom Boden weg und rammte ihn mit voller Wucht in seinen eigenen Bauch. Chikará blieb der Atem stehen, ein schwerer Schock überkam sie, ihr Blick wurde kalt und leer vor Fassungslosigkeit, ebenso war Hanryo sehr verwundert und zuckte reflexartig zurück. Jimo hechelte noch einige Sekunden, der Dolch steckte tief in seinem Körper, viele lebensnotwendige Organe wurden stark verletzt, er spuckte hustend einige Tropfen Blut aus und krümmte seinen Leib vor Schmerzen. Nach weniger als einer Minute hatte sein Todeskampf ein Ende, der Dämon hatte gewonnen, nach seinem letzten Atemzug, auf dem die Totenstarre folgte, ließ Chikará ihr Schwert fallen, sie wurde kreidebleich und zitterte. Hanryo beugte sich zu ihm hinunter und versuchte vergeblich seinen Puls zu fühlen, er schlug nicht mehr.

"Ist er wirklich tot?", fragte sie stockend.

"Sie sind beide tot", antwortete er niedergedrückt. "Jimo und genauso der Dämon."

"Was für ein Dämon war das?"

"Es gibt viele Arten von Dämonen, dies war einer ohne Körper, eine Art Geist, der in schwache Körper eindringen kann, er verdrängt die richtige Seele und kann somit den hilflosen Körper kontrollieren. Die Seele ringt mit dem Dämon, zeitweise kann sie ihn sogar besiegen, aber irgendwann werden ihre Kräfte nachlassen und der Dämon wird sie entgültig bezwingen. Mit alter Magie kann man solch einen Dämon austreiben, Jimo hatte genau das mit den Büchern aus den Bibliotheken versucht, aber er hat es nicht geschafft."

"Was meintest du mit ,schwachen Körpern'?"

"Menschen, Tiere, geschwächte Drachen wie er. Dir, als eine von der mächtigsten Drachenart, wird so etwas nicht passieren, dein Körper und deine Seele sind zu stark und mächtig für einen Dämon."

"Warum hat der Dämon sich am Ende selbst getötet, was hatte er davon zu sterben?"

"Er wollte nicht verlieren, und in diesem Fall war sein Tod doch noch so etwas wie ein Sieg, immerhin hat er Jimo ins Totenreich mitgerissen."

Chikará wartete mit ihrer nächsten Frage einen Moment lang, sie wusste, dass sie vielleicht etwas respektlos wirken würde, dennoch stellte sie sie: "Du kanntest Jimo gut, oder?"

"Wir waren zeitweise in derselben Truppe."

Sie hatte so eine allgemeine Antwort erwartet, sie waren typisch für Hanryo. "Wart ihr miteinander befreundet?", bohrte sie nach.

"Nein!", schrie Hanryo sauer.

Es folgten einige Minuten Schweigen, sie war überrascht über seine plötzliche Wut. Sie begriff ihren Fehler und regte sich innerlich sehr über ihr naives Verhalten auf, am liebsten hätte sie sich dafür selbst geschlagen. Noch bevor sie sich entschuldigen konnte, lenkte Hanryo von diesem, für ihn selbst sehr seelenwunden Thema ab: "Lass uns weitergehen. Jetzt, wo diese Angelegenheit geklärt ist, kommen wir schneller voran."

Chikará war sehr froh über diese Worte, sie wollte ihn und sich selbst nicht länger quälen, dieses schlimme Ereignis wollte sie nur noch schnellstmöglich vergessen. "Wohin gehen wir nun?"

"Siehst du den Turm da vorne?"

Er zeigte auf ein guterkennbares, hohes Bauwerk, ungefähr zwei Kilometer vor ihnen stand es.

"Ein alter Wachturm, er müsste nahezu unbeschädigt sein."

"Was wollen wir dort?", fragte Chikará.

"Lasse dich überraschen." Er ging weiter, ohne sich umzuschauen. Sie folgte ihn, jedoch drehte sie sich noch einige Male um, sie hatte die vergebliche Hoffung, dass Jimo vielleicht noch leben könnte und jeden Moment aufstehen würde. Er blieb liegen. Sie verstand das mit diesem seltsamen Dämon nicht ganz oder sie wollte es nicht verstehen. Dieser Gedanke, eine fremde Macht eignet sich eines Körpers an und kontrolliert ihn und man hast keine Chance gegen ihn, war für sie sehr schrecklich. Ob Jimos wahre Seele überhaupt noch alles realisierte, was mit ihrem Körper geschah? Ob seine Seele nun noch irgendwo weiterleben kann, wie es der Glaube der meisten Menschen besagt? Oder hat der Dämon ihr auch dieses Recht geraubt? Diese Fragen waren sinnlos, es gab keine eindeutigen Antworten auf sie, jedenfalls wusste Chikará keine und ihr sollten auch keine einfallen, deshalb versuchte sie diese Unklarheiten zu ignorieren und zu verdrängen, obwohl sie ihr hochinteressant erschienen.

Der Weg wurde immer mühsamer, die Hauptstraße hatte immer tiefere, teils meterbreite Risse im Asphalt und war übersät von Steinbrocken und anderen Gebäudefragmenten. Selbst die zerstörten Konstruktionen schienen wie Tote langsam, aber sicher zu verwesen, für Chikará entwickelte sich dieser Ort immer mehr zur Verbildlichung von Ende der Welt. Soviel Tod und Zerstörung würde es bestimmt nirgendwo anders auf der Welt noch einmal geben, dachte sie sich. Es kam ihr auch irgendwie so vor, als wäre das Stadtzentrum viel beschädigter und als der Stadtrand, von dem aus sie aufgebrochen waren. Ein sehr seltsamer Gedanke, das wäre doch eigentlich sehr unwahrscheinlich? Wieso sollten die Menschen die Stadt in der Mitte mehr verwüstet haben als die äußeren Teile? Dort, im Stadtzentrum war doch bestimmt nichts so Wichtiges für die Drachen? Sie teilte ihre Gedanken Hanryo mit, vielleicht würde er es wissen? "Bilde ich mir das nur ein, oder sind die Gebäude im Stadtzentrum wirklich viel schlechter erhalten als die am Stadtrand?"

"Das kann sein."

"Warum denn, wieso haben die Menschen im Stadtkern mehr zerstört?"

"Die Stadtmitte war der Stadtteil mit den reichsten Einwohnern, dementsprechend prachtvoll und schön waren die Bauten hier und die Menschen, die haben natürlich das Beste am gründlichsten zerstört, das nehmt man menschlichen Sadismus im Krieg." Natürlich war das eine Lüge, in Wirklichkeit war die stärkste Zone des Erdbebens in der Stadtmitte. Aber mit dieser Irreführung schaffte Hanryo es weiterhin, die Illusion des Niedergangs der Stadt aufgrund eines Krieges für Chikará aufrechtzuerhalten. Sie akzeptierte und glaubte ihn diese Geschichte, auch festigte sie ihren Friedenswillen weiter. Sie begann allmählich auch Kriege zu verabscheuen, nicht aus eigener Erfahrung und nicht aus eigener Überzeugung, sondern lediglich wegen Hanryos teils falschen Argumenten gegen Kriege. Aber würde Chikará ohne ihn genauso weiterdenken? Er hoffte es vom tiefsten Herzen, da er wusste, dass sich ihre Wege irgendwann wieder trennen würden, spätestens wenn er sterben würde. Er war sterblich, sie nicht, auch war er schon viel älter als sie, sein Leben würde bei weitem nicht mehr so lange andauern wie ihres. Das war das Schicksal von Kaiserdrachen, in ihrem hohen Lebensalter sahen sie mehr Freunde sterben und gehen als alle anderen Lebewesen. Früher oder später kam jeder von ihnen mindestens einmal in seinen Leben an eine Stelle, wo er wirklich alleine war, ohne Rat und Hilfe, wo er ohne jegliche Fremdeinwirkung wichtige Entscheidungen treffen musste und wo sich sein Schicksal und seine Zukunft ganz allein in seiner eigenen Hand befanden.

Plötzlich blieb Hanryo kurz vor einer Abbiegung stehen und streckte seinen Arm vor Chikará aus, sie sollte ebenfalls stehen bleiben. Sie rührte sich nicht und blickte ihn verwundert an, er lehnte sich an eine Gebäudewand und horchte angestrengt. "Hörst du das?", fragte er sie.

"Nein, was?"

"Dieses Schmatzen."

Sie stellte sich neben ihn an die Wand und lauschte angestrengt. Sie hörte es nun auch. Essensgeräusche, Schmatzen und lautes Kauen, sie entstanden hinter der Wand, hinter der Straßenabbiegung, vor der die beiden sich befanden. "Was ist das?", wollte sie wissen.

"Wahrscheinlich sind da Ghuls, wir machen besser einen Umweg."

"Sind sie gefährlich?"

"Nein, eigentlich nicht, aber wieso sollten wir sie sinnlos bekämpfen? Das hier ist ihr Reich, wir sind die Eindringlinge, allein schon aus diesem Grund sollten wir keinen Kampf mit ihnen suchen."

Sie nickte bestätigend und überzeugt. Hanryo blickte kurz auf seinen Stadtplan, danach drehte er sich um und zeigte auf eine enge Gasse rechts von ihnen. Der Umweg führte sie mitten durch einige verfallene Häuser und Hinterhöfe, es war viel eher ein klettern als gehen, viele Trümmerstücke blockierten den kleinen Pfad. Trotz der Unwegsamkeit mussten die beiden leise und vorsichtig sein, sie waren zeitweise nur etwa fünfzehn Meter weit von den Ghuls entfernt, die sich weniger leise benahmen und deutlich zu hören waren. Chikará interessierten diese Geschöpfe sehr, wie eigentlich auch alle anderen unmenschlichen Wesen, sie hatte eine starke Neigung zum Anormalen entwickelt, wahrscheinlich weil sie ja auch selbst kein alltägliches Wesen war. Es gelang ihr nicht, ihre Neugier ewig zu unterdrücken. An einer Stelle, wo alle Wände zur Straße hin zerstört waren, wo man also direkt zu den Ghuls durchblicken konnte, traute sie sich einen flüchtigen Blick zu den mysteriösen Kreaturen. Sie sahen nicht viel anders aus als der Untote aus der ersten Bibliothek. Bleiche und verstaubte Haut mit Rissen und blauen Flecken, tote, leere Augen, einige von ihnen hatten missgebildete Gliedmaßen. Sie waren größer als Menschen, bestimmt hätte sie durch keine durchschnittliche Tür hindurchgehen könnten ohne mit dem Kopf den Türrahmen zu berühren. Sie trugen Lederkleidung, jene war jedoch von sehr schlechter Qualität, vielleicht hatten sie sie sich selbst geschneidert, vielleicht sogar aus der Haut ihrer Opfer. Es waren sieben, sie aßen einen toten Körper, es könnte ein menschlicher gewesen sein, zu diesem Zeitpunkt konnte man es nicht mehr erkennen, zuviel hatten sie bereits gierig von ihm verschlungen. Sie rissen ihn die toten, schlaffen Gliedmassen ab und nagten von ihnen das Fleisch ab, ihre Münder waren blutverschmiert, ihre Zähne erinnerten an die von wilden Raubtieren, ihre starken Kiefer zermahlten sogar die Knochen ihres Opfers. Sie bemerkten ihren Zuschauer nicht, sie konzentrierten sich viel mehr auf ihr Essen, es war schon ein grausames und ekelerregendes Schauspiel, Chikará musste tief durchatmen. Sie musste sofort an Jimo denken, ihn würde wohl dasselbe schreckliche Schicksal zuteil werden. Sie fragte sich, ob es besser wäre so, als Leichenfressermahl zu verenden oder als Untoter durch die Ruinen wandern zu müssen? Sie wollte aber nicht über eine Antwort nachdenken, dies war ihr zu grotesk und widerwärtig. Auf einmal Hanryo klopfte ihr leicht auf die Schulter, sie sollte endlich weitergehen, sonst würde das hier zu gefährlich für sie beide. Sie folgte ihn schnell weiter durch die dunklen und zerstörten Gassen. Im Nachhinein bereute sie es, zu den Ghuls herübergeschaut zu haben. Sie hatten wieder eine gewisse Angst vor den Ruinen in ihr geweckt, es war keine richtige Angst, viel eher eine Abscheu oder eine Abneigung, jedenfalls wollte sie hier wieder weg. Allerdings überdauerte dieser Gedanke nicht lange, als sie weiterging und sich den widerwärtigen Kreaturen allmählich entfernte, kamen ihr Mut und ihr Ehrgeiz zurück. Diese Aufgabe war doch nichts im Vergleich zu dem, was sie noch erwarten würde, erklärte sie sich selbst. Die Geräusche wurden immer leiser, bis sie schließlich völlig verschwunden waren. Als die beiden mehr als fünfzig Meter von ihnen entfernt waren, nahmen sie wieder den richtigen Weg auf der Hauptstraße, welcher viel heller war als der durch die schattigen Hintergassen. Sie näherten sich immer mehr den Mittelpunkt der Stadt. Sie sahen schon von weitem einige hohe Gebäude, die noch standen, unter ihnen auch den Turm, den Hanryo vorhin als Ziel erklärt hatte. Ein Torbogen führte zum großen Stadtplatz, der umgeben war von einer Art Stadtmauer, von der jedoch nicht mehr viel übrig war, die Trümmerteile boten längst keinen Schutz und keine Grenze mehr. Der Torbogen war damals der einzige Weg auf den Stadtplatz, es war kein besonders großes Bauwerk, höchstens drei Meter musste sein einstiger Durchmesser betragen haben, die gelbbraunen Sandsteinwände waren durchlöchert und porös, es war lediglich eine Frage der Zeit, wie lange sie noch halten würden. Obwohl sie den Torbogen auch hätten umgehen können, schritten die beiden unter ihm hindurch, wie es früher die Einwohner der Stadt pflegten zu tun. An der rechten Innenwand befanden sich aufgemalte, dunkelbräunliche Schriftzeichen, Chikará entdeckte sie gleich, sie waren gut zu erkennen, wahrscheinlich waren sie noch nicht sehr alt, höchstens einige Jahre. Sie stammten aus der Standardsprache des Ostens und somit konnte Chikará sie leicht entziffern: ,Monster!', dies war ihre Bedeutung, gemeint waren bestimmt die wandelnden Leichen und Ghuls. Sie ging etwas näher an die Schriftzeichen heran, erst jetzt sah sie, dass sie alle mit Blut aufgemalt wurden, ihr Atem stockte. Hanryo erkannte ihr Entsetzen, er konnte sich denken, dass Chikará wahrscheinlich glaubte, mit ,Monster' wären die Untoten gemeint, er aber hatte eine ganz andere, viel schlimmere Vermutung, er behielt sie dennoch für sich und tat so, als hätte seine Gefährtin recht. "Vielleicht sind hier mittlerweile mehr Leute durch diese Untoten umgekommen als durch den Krieg", sagte er trocken und entgegen seines Verdachtes.

"Glaubst du, der Verfasser dieser Botschaft hat sie mit seinem eigenen Blut niedergeschrieben?", fragte sie, immer noch ungläubig auf die Schriftzeichen starrend.

"Vielleicht", antwortete er und schwieg danach kurze Zeit. "Befass dich nicht so sehr mit den Schicksalen anderer Geschöpfe, das wird dich auf Dauer nur in den Wahnsinn treiben."

Sie starrte noch einige Momente lang auf die Schriftzeichen, dann drehte sie sich mit gesenktem Kopf von ihnen weg und ging weiter durch den Torbogen

"Du hast recht", bestätigte sie ihn nach kurzem Überlegen.

Der Stadtplatz war kreisförmig angelegt und hatte eine enorme Größe, es waren vom Rand aus ungefähr siebzig Meter bis zur Mitte, wo sich eine alte Bronzestatue befand. Der Platz war vollkommen leer, keine Untoten oder Ähnliches waren zu sehen, nur wenig Gebäudefragmente lagen auf ihm, auch waren alle Bauten um ihn herum recht gut erhalten. Schwache, kalte Winde fegten über die ebene Fläche, sie wirbelten etwas Staub vom Boden auf, sie enthüllten ein verstecktes Geheimnis, die Bodenplatten waren nicht aus normalem Sandstein oder Asphalt, sondern aus rotem Gestein, was es genau war, war nicht erkennbar, jedenfalls war der Marsch auf diesem Material wesentlich angenehmer und leichter als auf dem brüchigen Straßenasphalt. Früher waren bestimmt Hunderte, wenn nicht sogar Tausende täglich auf diesem großen Platz, Chikará stellte es sich vor, ja, diese Stadt war damals bestimmt ein schöner Ort, viel schöner als die Ostmetropole. Hanryo ging geradeaus zur Statue im Zentrum, ohne ihr den Grund dafür zu nennen, was sie ein wenig verwundert, sie hatte aber zu diesem Zeitpunkt keine Lust, ihn danach zu fragen, sie war zudem langsam müde vom vielen Gehen. Der große leere Platz hatte auf sie eine besondere Wirkung, es war für sie wie ein Ort des Endes, ein finales Ziel nach einer Reise durch die Schatten der Zerstörung. Hier wurde nichts zerstört, hier gab es niemals etwas zu zerstören, dieser Platz war der letzte unveränderte Abschnitt der Stadt, ihr leeres, totes Herz, ob es noch schlug, war schwer zu sagen, selbst wenn es noch schlug, so würde es bald aufhören und endgültig sterben. Der Krieg und die Wesen des Todes hatten es erobert und in ihrer Gewalt, es gab keine Hoffnung und keine Zukunft mehr.

Die Statue in der Mitte des Stadtplatzes stand auf einer kleinen weißen Marmorsäule, zumindest war sie früher weiß gewesen, heute bedeckte sie eine dichte Schicht aus Staubpartikeln. Die Figur zeigte einen Mann, er trug einen langen Mantel und schaute hoch zum Himmel, vielmehr war auch nicht zu erkennen, die Zeit nagte selbst an der beständigen Bronze, sie zerstörte sie und nahm ihr ihren einstigen Glanz. Was diese Statue einst darstellen sollte war längst vergangen, heute hätte man sie genauso gut als Bildnis eines Untoten ansehen können, schließlich waren sie die jetzigen Einwohner von Ryuchengshi. Die beiden Gefährten blieben vor der Gestalt stehen. Hanryo wischte mit einer Hand ein verschmutztes Schild an der Marmorsäule sauber, damit man es wieder lesen konnte. Chikará beugte sich zu ihm, sie konnte es sonst nicht lesen ohne ihre Brille, die Reliefzeichen entzifferte sie schnell: ,Quanli'! Sie schreckte zurück, sie dachte an nichts mehr, ein tiefer Schock durchfuhr ihre Seele.

"Dein Vater", sagte Hanryo leise.

Er sollte es also wirklich sein, der, an die sie nicht die geringste Erinnerung besaß. Der, der einst die ganze Welt beherrschte und danach von den Menschen getötet wurde. Ihr Vater, ihr einziger Schlüssel zu ihrer verlorenen Vergangenheit. Aber diese Statue von ihm konnte kein einziges Rätsel lösen.

Es dauerte einige Minuten bis sie aufhörte, entgeistert die Statue anzustarren, dann begann sie langsam und mit tiefer Stimme zu sprechen. "Ich kenne nicht mehr als seinen Namen, dieses alte Abbild zeigt mir auch nicht viel mehr von ihm. Ich habe keinen Vater, ich habe keinen Vater mehr, vielleicht hatte ich niemals einen, und selbst wenn ich einen gehabt hätte, so war er niemals für mich dar gewesen, als ich ihn brauchte", sie unterbrach und atmete tief durch. "Lass uns bitte weitergehen, ich will hier nicht länger bleiben."

Hanryo legte seine warme Hand auf ihre Schulter und zog sie anschließend wieder langsam wieder von ihr weg, Chikará drehte sich seufzend von der Statue weg, sie hatte eine Träne im Auge, weshalb, wusste sie selbst nicht. Wieso trauerte sie jemandem nach, den sie niemals kannte, nur weil er ihr Vater gewesen sein soll?

"Komm, wir gehen weiter zum Turm." Hanryo unterbrach ihren Selbstkonflikt, er ging schnell weg von der Statue. Chikará schaute noch ein einziges Mal zur Statue zurück, nein, es war nur in Form gegossene Bronze, was sie darstellen sollte war unwichtig und sowieso nicht mehr klar erkennbar. Sie schüttelte den Kopf und lief Hanryo hinterher ohne einen weiteren Gedanken an ihren vergessenen und toten Vater zu verschwenden.

Am anderen Ende des Platzes stand der hohe Turm, den sie bereits von weitem gesehen hatten, es war einst ein Wachturm, der hauptsächlich zur Überwachung des Stadtplatzes diente. Er war erstaunlich gut erhalten, nur wenige Schäden waren zu erkennen, lediglich einige winzige Risse und kleine Einbrüche, eigentlich passte dieses ungefähr dreißig Meter hohe Bauwerk nicht hierhin in die Ruinen, es hätte ebenso in einer heutigen, normalen Stadt stehen können. Eine Tür gab es nicht mehr, drinnen führte eine steinerne Wendeltreppe hoch zur Aussichtsplattform, im Innenraum des Gebäudes schien ebenfalls noch alles stabil und nahezu unversehrt zu sein, nur Unmengen Staub und Spinnweben hatten mit der Zeit den freien Bereich in Anspruch genommen. Oben, hinter der letzten Treppenstufe, befand sich ein runder leerer Raum, über dem direkt das Dach des Turmes war, viele einhalbmetergroße Fenster ermöglichten an einen Ausblick in alle Himmelsrichtungen. Da die Glasscheiben längst verschwunden waren, konnte man sich auch aus den großen Wandöffnungen herauslehnen, Chikará begab sich zu einer von ihnen und genoss die Aussicht auf die Stadt aus dreißig Metern Höhe. Die Ruinen waren wirklich gigantisch, von hier oben konnte sie genau sehen, wie weit sie bereits gegangen waren, undeutlich waren in der Ferne die Felswände der Schlucht zu erkennen.

"Lehne dich nicht zu weit raus, sonst könnten dich Untote sehen", sagte Hanryo.

Sie drehte sich daraufhin zu ihm um, er packte gerade an der gegenüberliegenden Wandseite einen Schlafsack aus, sie konnte sich vorstellen, was dies bedeuten sollte. "Das meinst du doch nicht ernst, oder?", fragte sie überrascht und mit böser Vorahnung.

"Ich werde zuerst bis zum Sonnenuntergang schlafen, also ungefähr drei Stunden wären das jetzt noch, du schiebst in der Zeit Wache. Danach, wenn die Sonne untergegangen ist, weckst du mich, wir essen dann zu Abend, im Anschluss daran passe ich auf und du kannst bis zum Sonnenaufgang schlafen, einverstanden?"

"Habe ich eine Alternative?"

"Eigentlich nicht. Tagsüber unternehmen die Untoten nicht viel, die meisten von ihnen sind nachtaktiv, mache dir also keine Sorgen und außerdem kannst du mich ja jeder Zeit wecken, falls es dennoch Probleme geben sollte."

Noch bevor Chikará weiteren Protest äußern konnte, legte Hanryo sich erschöpft in den Schlafsack und schlief nach kurzer Zeit ein. Sie stand da und dachte immer noch, dass dies eventuell nur ein Scherz sein könnte und er jeden Moment wieder aufstehen würde. Nach einigen Minuten realisierte sie, dass seine Worte ernstgemeint waren. Wie konnte er sie hier alleine lassen und einfach schlafen, sie konnte doch noch nicht einmal allzu gut kämpfen, geschweige denn hatte sie so etwas wie Mut, wenn sie alleine war? Sie lief panisch zu einigen Fenstern und schaute aufgeregt hinaus, zum Glück waren keine Untoten in der Nähe zu sehen, dem ungeachtet zog sie vorsichtshalber ihr Schwert aus der Ummantelung und hielt es hoch, so als hätte sie jeden Moment jemanden angreifen wollen. Sie hörte ein leises Knistern und drehte sich blitzartig um. Hanryo hatte sich nur im Schlafsack bewegt, Erleichterung überkam sie und sie sah auch ein, dass sie etwas leiser sein sollte, um ihn nicht aufzuwecken, er hatte sich diese Pause wirklich verdient. Es war vielleicht schwer, mit ihm richtig zu reden, aber trotzdem war er genau der richtige Begleiter für solche Ausflüge an vergessene Orte. Sie vergaß langsam ihre Angst, legte ihr Schwert wieder weg und ging zurück zum Fenster, sie schaute runter auf den Stadtplatz. Diese blöde Statue, was sollte sie schon sein? Immerhin hatte sie es Chikará ermöglichst, zum ersten Mal in ihrem Leben ihren Vater zu sehen. Als sie sich die Figur noch einmal genau vorstellte, sah sie in ihren Gedanken eine gewisse Ähnlichkeit zu sich selbst, sein Gesicht war jugendlich ausgearbeitet, sehr symmetrisch und schön, der restliche Körper wirkte dünn, aber nicht schwach. Vielleicht bildete sie sich diese Parallelen auch nur ein, vielleicht wollte sie diese Übereinstimmungen nur wahrnehmen, auch wenn sie in Wirklichkeit vielleicht gar nicht existierten? Hatten diese Überlegungen überhaupt irgendeinen Sinn? Er war tot, sie hatte nicht die geringste Erinnerung an ihn, wieso sollte sie also so sein oder so werden wie er? Sie hatte zwar seine Kraft und seine Fähigkeiten, nicht aber sein Imperium und seine Macht, sie war doch nur ein dreckiges kleines Mädchen aus den Slums, er war der Herrscher der gesamten Welt. Er hinterließ ihr kein Erbe und keine Erinnerungen, seine Macht und sein Imperium waren längst untergegangen, vielleicht hatte er es auch nicht anders verdient? Chikará bemerkte, dass sie nur die Meinungen von Hanryo und Akashia adoptierte, ohne jene großartig zu bezweifeln oder zu hinterfragen, aber eine eigene Meinung konnte sie sich schließlich nicht machen, nein, sie wusste doch selbst überhaupt nichts von der Vergangenheit. Gerne hätte sie noch eine andere Version gehört, eine, in der ihr Vater gut und gerecht gewesen wäre, eine, in der auch sie ihre wahre Position gefunden hätte. Sie konnte zwar ihren beiden Freunden glauben, aber es gab da doch, ihren eigenen Erzählungen zu folge, auch noch eine andere Gruppe, die ihren Vater treu ergeben war und die nun versuchte, sein Reich wiederauferstehen zu lassen. Vielleicht wären sie eine viel bessere Orientierung als Hanryo? Ihr Weg zur Wiedergeburt der Drachenherrschaft war jedoch mit einem Krieg verbunden, sie hatte zwar niemals einen Krieg miterlebt, aber diese Stadt zeigte ihr sehr wohl, was ein Krieg anrichten konnte. Wäre dieses Leid und diese schier grenzenlose Zerstörung wirklich gerechtfertigt, um die Vergangenheit zur Zukunft zu machen? Wieso sollte es eigentlich die Weltherrschaft sein? Eine Wiedervereinigung der Drachen, eine Gemeinschaft dieser alten Rasse, so wie es sie vor vielen Jahrhunderten gab, wäre das nicht ein viel wünschenswerteres Ziel? Ein friedliches und glückliches Zusammenleben aller noch übrigen der Drachenart bis zum Ende der Welt oder bis zum Ende ihrer langen Leben? So etwas wie eine Familie, eine Familie, die sie niemals hatte? War dies nicht genau das Ziel von Hanryo? Chikarás Entscheidung stand fest.

Am Horizont ging langsam die Sonne unter, die Ruinen und der Himmel wurden in purpurne Farbtöne getaucht, es waren liebliche und zugleich seelenlose Farben, so künstlich und unnatürlich wirkten sie auf den sandfarbenen Gebäuden in der Schlucht. Der Stadtplatz war immer noch leer und tot, auch die Verfärbung gab ihn keinen Funken Leben. Langsam verschwand das helle Licht der Sonne völlig, der Mond ging auf und die Sterne zeigten sich, in dieser Nacht war das Firmament klar und beinah wolkenlos, man konnte viele wunderschöne Sternbilder sehen. Sterne, verlorene Lichter in der ewigen Finsternis. Chikará erinnerte sich an eine alte Legende, die sie vor vielen Jahren gehört hatte, die davon berichtete, dass für jeden guten Menschen, der stirbt, ein neuer Stern am Himmel erscheint. Ob für Mián auch einer erschienen war? Sie war ein guter Mensch und sie fehlte ihr sehr, sie war für lange Zeit ihre einzige Freundin auf dieser kalten und bitteren Welt. Ob Hanryo sie ersetzen konnte? Nein, man konnte Seelen nicht ersetzen, man konnte lediglich ähnliche finden, und Hanryo ähnelte ihr schon ein wenig, wie sie kümmerte nun er sich um Chikará, damals war sie ihr einziger Halt im Leben, jetzt war er es.

Ihr fiel auf, wie schnell die Zeit vergangen war, es war bereits stockdunkel, sie sollte ihn allmählich aufwecken. Sie ging zu ihm, beugte sich zu ihm herunter und rüttelte mit meiner Hand sanft an seiner Schulter. "Hanryo, steh auf, die Sonne ist gerade untergegangen", sagte sie leise und behutsam.

Er erwachte und öffnete langsam seine tiefgrünen Augen. "Gab es keine Probleme oder Zwischenfälle während ich schlief?"

"Nein, es kamen nur fünfzig Untote hier hoch gestürmt, aber ich habe sie alle alleine erledigt, damit du in Ruhe weiterschlafen konntest."

Er lachte und stand langsam auf. Aus seinem Rucksack holte er eine Taschenlampe, er leuchtete mit ihr nur auf den Boden des Raumes, damit die Untoten den Lichtkegel nicht von unten aus sehen konnten. Das Abendessen der beiden bestand aus Reiskeksen und Wasser, Chikará hätte viel lieber etwas anderes zu sich genommen als trockenes Gebäck mit geschmackloser Flüssigkeit, aber dieses Essen war wohl das beste für solche Abenteuer. Die Kekse machten schnell satt und gaben neue Kraft, das Wasser war leicht und ebenso wie das Reisgebäck leicht verdaulich und lange haltbar, also hervorragend als Reiseproviant geeignet, manchmal war halt der Zweck wichtiger als der Genuss, dachte sie sich. Mit der Zeit begann die Ration ihr sogar ein wenig zu schmecken, es war immerhin viel besser als das, was sie noch vor einigen Tagen täglich essen musste.

"Ich bereue es, dir eben die Statue gezeigt zu haben, es war ein Fehler von mir, ich dachte, sie könnte vielleicht Teile deiner Erinnerungen zurückrufen, verzeihe es mir bitte", sagte Hanryo, nachdem er den letzten Keks gegessen hatte.

"Ich bin wirklich froh, dass du sie mir gezeigt hast. Jetzt habe ich immerhin ein Bild von meinem Vater in meinen Gedanken, dass die frühere Leere ersetzt, zwar ein sehr ungenaues, aber das ist besser als nichts. Ich wollte mich auch noch bei dir dafür entschuldigen, dass ich dich vorhin so ausgefragt habe über Jimo, ich hätte erkennen sollen, dass dir sein Schicksal so nah ging."

"Ach, weißt du, ich kenne zwar meine Vergangenheit, dennoch erinnere ich mich nur sehr ungern zurück, zuviel Trauer steckt in meinen Erinnerungen."

Beide schwiegen einige Sekunden, dann holte Hanryo zwei Dosen Bier hervor und gab eine Chikará, die sehr verdutzt darüber war und ihn ungläubig anstarrte.

"Ich weiß doch, wie gerne du Alkohol magst", erklärte er grinsend. "In den Slums und heute morgen hast du stark danach gerochen, und erst recht nach solchen Wanderungen an Orten der Dunkelheit sollte man sich ein bisschen was davon gönnen."

"Danke", erwiderte sie freudig. Sie öffnete ihre Dose und trank hastig vom lauwarmen Bier. Sie mochte den Alkoholgeschmack auf ihrer Zunge wirklich sehr, von einer Suche jedoch war noch lange nicht zu sprechen, lediglich von einem kleinen, aber unsterblichem Bedürfnis. Es war ihr zudem etwas peinlich, von ihm so direkt auf diese Schwäche für alkoholische Getränke angesprochen zu werden, aber das vergaß sie nach den ersten kräftigen Schlücken schnell wieder. "Musst du mich eigentlich nicht mit ,Ehrwürdige Kaiserin' oder so ansprechen?", fragte sie leicht angetrunken.

"Da müsstest du mich doch wohl noch eher ,Erhabener Lehrmeister' nennen", konterte er.

Sie lachte daraufhin kurz, er grinste nur flüchtig.

"Ich weiß überhaupt nichts über dich, erzähle doch mal was von dir?", forderte sie ihn auf.

"Was willst du wissen?"

"Erzähl was von deinem Privatleben."

"Du bist seit kurzem mein gesamtes Privatleben."

Sie lachte erneut. "Und vor mir?"

"Ich war einmal verheiratet."

Sie kicherte hämisch.

"Sie starb leider vor etlichen Jahren", entgegnete er mit einer plötzlichen Traurigkeit und mit tiefer Demut.

Chikará hörte direkt auf, sich über ihn lustig zu machen, sie hatte solch eine tragische Antwort nicht im entferntesten erwartet. Schon wieder hatte sie ihn ungewollt an einem sehr wunden Punkt getroffen, aber woher hätte sie das denn wissen sollen? Sie wurde schlagartig auch sehr melancholisch und schwermütig. "Das tut mir leid", versuchte sie sich mit gesenkter Stimme zu entschuldigen.

"Die Zeit heilt alle Wunden, egal wie tief und schwer sie waren, alles was bleibt sind Narben."

"Ich wusste das nicht, entschuldige bitte mein Lachen vorhin."

"Es ist schon gut, du konntest es schließlich auch nicht wissen. Seitdem ich sie verloren habe, bin ich viel einsamer und verschlossener geworden. Ich glaube, ich werde mich niemals damit abfinden können, sie verloren zu haben. Ich habe nach ihrem Tod niemals wieder etwas für eine Frau empfunden, wirklich überhaupt nichts und ich bezweifle, dass sich dieser Zustand irgendwann noch mal ändern wird."

Sie sagte nichts darauf, sie starrte nur bedauernd und unfähig zu sprechen zum Boden. "Ich kann mir gut vorstellen, wie schwer das ist", sprach sie schließlich, dabei sah sie in ihrem Kopf ein Bild von Mián.

"Das Leben ist halt manchmal zu hart und gnadenlos, das kann niemand ändern."

Sie schwiegen einige Minuten, bis Chikará auf einmal laut gähnte und ihre Augen vor Erschöpfung kurz schloss.

"Bist du müde?", fragte er sie.

"Ja, sehr."

"Dann lege dich ruhig schlafen, ich werde aufpassen bis zum Sonnenaufgang."

Sie legte sich ohne zu zögern in den Schlafsack und drehte dann ihren Kopf noch einmal zu Hanryo, eigentlich wollte sie ihm noch ,Gute Nacht' sagen, aber sie war so müde, dass sie es nicht mehr schaffte, ihre schweren Augenlider fielen zu, ihr müder Körper erschlaffte, sie schlief langsam ein. Er lächelte kurz und räumte die Reste des Abendessens weg. Das Schlafelixier, das er vor dem Ausflug in ihre Dose gefüllt hatte, schien ausgezeichnet zu wirken. Er hatte befürchtet, dass sie vielleicht aus Angst vor den Untoten nicht hätte schlafen können, was sich jedoch inzwischen als Irrtum erwiesen hatte. Sie war viel besser für solche Abenteuer geeignet, als er es erwartet hatte, bestimmt hätte sie auch ohne den Schlaftrunk heute Nacht Ruhe gefunden. Er sah sie einige Zeit lang an, er fand, dass sie schlafend richtig niedlich aussah und schön war sie, ohne Frage, sie hatte ihr Schicksal wirklich nicht verdient. Er machte die Taschenlampe aus und setzte sich neben eines der Fenster, ein kalter Wind wehte durch die Wandöffnung, er hörte sich wie ein Klagelied der Untoten an, welches ihn aber nicht beeindruckte. Er schaute hinaus zu den Sternen.

Vergessene Orte (Teil 2)

Am nächsten Tag war das Wetter wesentlich unfreundlicher und unruhiger als am vorherigen, die helle Morgensonne wurde von dichten, grauen Regenwolken überschattet und es regnete ununterbrochen. Das herunterprasselnde Wasser sammelte sich am Boden, wo es sich mit dem trocken Staub der Gebäuderuinen vermischte und so zu ockerbraunem Schlamm wurde. Hanryo beobachtete vom Fenster des Wachturmes aus die fallenden Tropfen, er sah sie mit gemischten Gefühlen, nicht nur der Weg würde jetzt moorähnlich werden, auch könnten sich die Katakomben mit Wasser füllen, aber zumindest würde der Regen ihnen Schutz vor den Untoten bieten, jene verabscheuten das Wasser, wahrscheinlich weil sie mit ihren oftmals verkrüppelten Gliedmaßen nicht schwimmen konnten und deshalb sogar um kleine Wasserlöcher einen großen Bogen zu machen pflegten. Sie würden dennoch bestimmt keine Zuflucht in den Katakomben suchen, sie wussten garantiert, was dort unten existierte, Chikará würde es ebenfalls bald erfahren. Er ging zu ihr und beugte sich zu ihr herunter, sie schlief noch tief und fest, gerne hätte er sie noch etwas länger ruhen gelassen, aber es wurde Zeit zum Aufbruch. Er rüttelte leicht an ihren Schultern, um sie aufzuwecken. "Es wird Zeit aufzustehen", flüsterte er ihr behutsam ins Ohr. Sie bewegte sich und öffnete ihre müden Augen, streckte ihre Arme aus und stand langsam und etwas benebelt auf, sie gähnte laut, als sie dann zum Fenster blickte, verschwand ihre Schläfrigkeit schlagartig. "Es regnet ja", bemerkte sie überrascht.

"Das Wetter können wir leider nicht beeinflussen, normalerweise regnet es hier so gut wie niemals."

"Nun, meine Kleidung ist sowieso mittlerweile nicht mehr vorzeigbar, etwas Wasser und Schlamm werden ihr jetzt auch nicht mehr schaden können."

"Der Eingang zu den Katakomben ist nicht weit entfernt, falls es dich interessiert, dort unten gibt es wahrscheinlich keine Untoten."

"Genauso wie es hier normalerweise keinen Regen gibt?", entgegnete sie ihm vorlaut.

"Untote sind nichts im Vergleich zu dem, was uns unter der Erde erwartet."

"Sollte ich mich etwa fürchten?"

"Du fürchtest dich doch sowieso immer?", sprach er grinsend und sammelte ihr Gepäck zusammen.

Das Dach des Turms ließ glücklicherweise kein Regenwasser durch, somit waren ihre Sachen noch trocken und die Treppe nach unten nicht rutschig. Von der Eingangpforte aus, schaute Chikará zweifelnd nach draußen auf die fallenden Tropfen und auf den matschigen Boden. Sollte ein bisschen Wasser mit verflüssigter Erde ihr vielleicht mehr Respekt einflossen als ein Gegner? Nein, sagte sie sich und schritt muterfüllt hinaus ins Freie, Hanryo ging neben ihr und zeigte ihr den Weg, die ersten Wassertropfen auf ihrer Haut und auf ihrer Kleidung spürte sie noch deutlich, ihre Nässe und ihre Kälte. Chikará umging die großen Schlammpfützen und versuchte hauptsächlich auf die noch halbwegs trockenen Stellen zu treten, immer ihren Gefährten an der Seite bleibend und stets aufmerksam zum Boden schauend, trotzdem trat sie etliche Male in einige zentimetertiefe Wasserlöcher, ihre Turnschuhe waren schon bald triefendnass. Der heftige Regen durchnässte schnell die gesamte Kleidung der beiden, aber das machte ihnen jetzt auch nichts mehr aus, jetzt erst recht nicht mehr, solche Kleinigkeiten ignorierte sie, da sie sie nicht im geringsten behinderten. Nur das laute Prasseln des Regens nervte Chikará allmählich, wie Hammerschläge drangen die harten, monotonen Klänge in ihre Ohren, irgendwie bedeutete der Regen aber auch etwas Schönes und Angenehmes für sie, was sie sich jedoch selbst nicht wirklich erklären konnte.
 

Ein ziemlich schlecht erhaltenes Haus, es war einst das Rathaus der Stadt gewesen, betraten die beiden, nur noch Trümmerwalle zeigten, wo früher die Wände standen, da es kein Dach mehr gab, fielen die kühlen Tropfen weiterhin auf sie herunter. Nachdem sie einige der völlig zerstörten Zimmern durchquert hatten, erreichten sie eine Treppe, die tief nach unten ins Erdreich führte. Chikará zählte beim Heruntergehen ungefähr zweihundert steinerne Stufen, als das Tageslicht nicht mehr ausreichte, schalte Hanryo seine Taschenlampe an und leuchtete ihnen den Weg, auch hörten sie irgendwann keine Regengeräusche mehr oberhalb von ihnen. Am Ende der Treppe begann das komplexe Tunnelsystem, künstlich angelegte Höhlen aus grauem Kalkstein, der älteste Teil von Ryuchengshi, ein großes Labyrinth, das nicht nur als Zufluchtsort für Notfälle diente, zugleich war es früher einmal ein Massenfriedhof und ein Gefängnis gewesen. Die Gänge waren relativ groß und breit angelegt, bei einer Flucht oder Evakuierung hätten wahrscheinlich binnen kurzer Zeit viele Leute gleichzeitig denselben Weg benutzen können, es gab auch damals noch dicke und stabile Grenztore, die jedoch schon längst nicht mehr existierten. Viele der Pfade wurden durch das Erdbeben zugeschüttet oder waren irgendwann im Laufe der Zeit eingestürzt, zum jetzigen Moment konnte man die Katakomben dennoch ohne Bedenken betreten, die Gefahren hatten die Ewigkeit nicht überdauert und mit einem gesunden Maß an Vorsicht würde schon nichts Großartiges passieren. Durchgesickertes Regenwasser tropfte an vielen Stellen von der Decke hinunter, Spinnweben, Pilze und Schimmelflecken überdeckten oftmals die uralten Wände, in die mancherorts Schriftzeichen gemeißelt waren, sie stellten wohl Wegweiser dar, dachte sich Chikará. Hanryo bestrahlte sie mit der Lampe und lass ihre Botschaft, seine Gefährtin bemühte sich sie ebenfalls zu entziffern, es gelang ihr aber nicht, zu ungebräuchlich und undeutlich waren die alten Symbole. Die Luft dort unten war zäh und stickig, es war ungewöhnlich warm, beschwerlich wurde der Marsch durch diese unsichtbare Barriere. Chikará schwitze stark, was ihr aber noch nicht einmal selbst auffiel, da ihre Kleidung schließlich noch vom Regen völlig durchnässt war und weil ein fauler Gestank überall zu riechen war, bemerkte sie auch ihren eigenen Schweißgeruch nicht, Hanryo fiel dies jedoch auch nicht auf. Dieser Ort unter der Erde bereitete ihr nicht besonders viel Angst, vielleicht lag es auch nur daran, dass sie sich immer noch in einem gewissen Halbschlafzustand befand und ihre Umgebung nur bedingt wahrnehmen konnte, frühes Aufstehen und Aufstehen allgemein gehörten wohl zu ihren größten Schwächen. Manchmal hörte sie das Quicken von kleinen Nagetieren, ob es Ratten, Mäuse oder andere Geschöpfe waren, konnte sie nicht herausfinden, jedenfalls waren es keine Untoten, worüber sie sehr froh war.
 

Nach ungefähr einer Viertelstunde stießen die beiden auf Unmengen von Knochen, wahrscheinlich waren es menschliche, sie schienen noch nicht allzu alt zu sein, da sie noch gut erhalten waren und damit leicht ihren einstigen Lebewesen zugeordnet werden konnten. Es waren wohl die Überreste von sieben Personen, zumindest lagen dort sieben menschliche Totenschädel, Hanryo bückte sich, um sich den Knochenhaufen genauer anzusehen und um sein Alter besser abschätzen zu können. "Sie sind nicht sehr alt, bestimmt weit weniger als zwanzig Jahre, schätze ich, was heißt, dass sie keine Zeugen des Krieges um diese Stadt sein können. Vielleicht waren es einst Plünderer oder Abenteurer, die sich hierhin verlaufen hatten und den Ausgang nicht mehr fanden?"

Chikará schwieg, ihre nachträgliche Müdigkeit war inzwischen völlig verschwunden, sie betrachtete die Leichenreste gefühllos und ohne großes Mitleid. Die Worte ihres Begleiters vom Vortag zeigten jedoch ihre Wirkung, sie trauerte nun nicht mehr jedem Wesen hinterher, sie hatte auch selbst eingesehen, das Trauer und Gedanken über jeden, der sein Leben lässt, nur entkräften und behindern. Bei Hanryo verhielt es sich nicht anders als bei ihr, er ging nach vorne schauend an dem Knochenhaufen vorbei und weiter durch den dunklen Gang, sie zögerte nicht und folgte ihm eilig, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie musterte im weiteren Verlauf ihrer Katakombenwanderung besonders die Wandverzierungen der Höhlengänge. Sie zweifelte zeitweise sogar daran, dass Hanryo wirklich den Weg kennen würde, weil es ihr so vorkam, als wären sie nur im Kreis gegangen, sie hatte versucht sich die Schriftzeichen zu merken und bildete sich ein, dass es immer dieselben gewesen wären, was sie jedoch nicht waren. Wahrscheinlich hätte jeder Laie sie für dieselben gehalten, ihre Ähnlichkeiten waren deutlicher ausgeprägt als die kleinen Unterschiede, die lediglich Hanryo erkannte, er war diesen Weg schon öfter als einmal entlang gegangen. Wie gerne hätte Chikará ihre Botschaft erfahren, neugierig sprach sie Hanryo auf die mysteriösen Zeichen an: "Diese in die Wand gemeißelten Wegweiser, was sagen sie dir?"

"Wegweiser?", wiederholte er verwundert und hielt an. "Das sind Gräber."

"Gräber?" Sie erschreckte sich einwenig.

"Ja, was dachtest du denn, was man früher den Leichnamen von Drachen gemacht hat?"

"Man hat sie doch wohl nicht wirklich in die Wände eingemauert?", fragte sie ungläubig.

Er nickte nur und ging weiter, sie folgte ihn kopfschüttelnd und machte sich bald keine Gedanken mehr darüber.

Chikará gewöhnte sich nicht an die unterirdische Dunkelheit, die ihr erst im Laufe der Zeit richtig auffiel, auf Dauer machte sie die Lichtlosigkeit etwas vorsichtiger, vielleicht auch etwas ängstlicher, sie war diese beinah völlige Finsternis nicht gewohnt. In den Slums war immer alles, auch nachtsüber, hell und beleuchtet, die unzähligen Neonlaternen und elektrischen Strahler überall, dort endete der Tag niemals wirklich. Das hier war genau das Gegenteil davon, eine Welt, in der die Nacht niemals endete, nur Hanryos Taschenlampe spendete einen Hauch von Licht, es war nicht viel, aber ohne dieses kleine Bisschen hätte sie wohl Panik bekommen. Lebewesen gab es hier unten, im tieferen Erdreich auch nicht mehr, keine Insekten und nicht mal Parasiten, hier wollte scheinbar überhaupt nichts leben, zwar gab es Spinnenweben, aber keine einzige Spinne zeigte sich aus ihrem Versteck, sofern sie überhaupt noch hier verweilten. Die toten Höhlen waren noch eine Steigerung der toten Ruinen, dachte Chikará sich, die Welt über ihr hatte sie schon als Ende der Welt bezeichnet, was wäre das hier unten dann? Jedenfalls waren diese Katakomben der unheimlichste und tristeste Ort, den sie bis dahin jemals gesehen hatte, sie fragte sich, weshalb Hanryo sie hierhin geführt hatte, wie wichtig müsste ihm der Grund oder das Geheimnis dieses Höhlenkomplexes sein? Chikará hätte ihn gerne danach gefragt, aber da sie sich seine viel zu allgemeine Standardantwort schon denken konnte, ließ sie es bleiben. Irgendwann, nach zahlreichen Abbiegungen und weiteren Treppen nach unten, noch tiefer ins Erdreich, stolperte sie fast über irgendetwas, daraufhin stieß sie vor Schreck einen lauten Schrei aus. Hanryo leuchtete sofort zu ihr, auf dem Boden lag eine Leiche, ihr fehlten der Kopf und ein Arm, ihre Kleidung war zerrissen. Ihre Hautfarbe, ihre Gestalt und die Tatsache, dass nirgendwo Blutspuren zu erkennen waren, wiesen auf die Tatsache hin, dass es sich entweder um einen Untoten oder einen Ghul handeln musste, also war das Wesen wohl schon tot, bevor es hierher fand, jetzt war es zumindest bewusstlos und somit handlungsunfähig und ungefährlich. Chikará schaute Hanryo grinsend an. "Hier unten gibt es keine Untoten?"

Er war sprachlos und überlegte angestrengt und gründlich, wie diese Kreatur hierhin gekommen sein könnte, erfolglos, er konnte es sich einfach nicht erklären und fand keine sinnvollen und realistischen Begründungen für dieses Phänomen. "Gut, ich habe mich geirrt", gab er zu. "Aber das ist wirklich sehr ungewöhnlich. Vielleicht hat er sich ja nur verlaufen oder so?"

"Und wer oder was hat ihn so zugerichtet?"

Er zuckte mit den Schultern. "Das kann doch eigentlich gar nicht wahr sein, die Katakomben sind verflucht, die Untoten zwar auch, aber sie würden sich normalerweise niemals hier herunter wagen."

"Wieso denn nicht?"

"Den Grund dafür will ich dir zeigen, es ist unser Ziel, es ist nicht mehr weit. Komm, wir sollten weitergehen."
 

Es dauerte nicht lange, bis Chikará erneut auf irgendwas Großes trat, das nur etwa zehn Meter weit von dem Untoten entfernt lag. Man hörte etwas durchbrechen unter ihrem Fuß, was bei ihr einen kleinen Schrecken verursachte, aufgescheucht sprang sie zurück. Hanryo leuchte schnell zu jener Stelle, er hatte nämlich die Vermutung, dass es sich eventuell um eine weitere Leiche handeln könnte. Der Lichtkegel zeigte es ihn, es handelte sich wirklich um einen weiteren Leichnam, wieder sah es so aus, als wäre es ein Untoter, der ein zweites Mal ins Totenreich gewandert war und dessen schwerverwundeter Körper nun auf seine Rückkehr wartete. Chikará atmete schwer und unregelmäßig vor Entsetzen. "Sind hier noch mehr?"

Hanryo leuchtete weiter nach vorne, den Gang entlang, wo, wie sie jetzt sahen, alle paar Meter ein niedergemetzelter Rumpf eines Untoten lag. Sie atmete noch einmal tief durch, bevor sie weitersprach: "Was ist hier passiert?"

Er antwortete nicht und ging unbeeindruckt weiter.

"Wer? Wer war das?", fragte sie energisch.

Erneut ignorierte er die Frage seiner Gefährtin.

"Wer verdammt?" Sie wurde wütend. "Ein Drache, einer von uns?"

Er blieb stehen. "Ja, wahrscheinlich", antwortete er wehmütig und setzte seinen Weg schweigend fort. Chikará schwieg von nun an ebenfalls und folgte ihm langsam, wobei sie immer wieder zu den bewusstlosen Untoten herunterschaute und versuchte, sich den Verursacher dieses Massakers vorzustellen. Ein Drache war es also, vielleicht Jimo? Nein, im Kampf gegen ihn zeigte sich, dass er nicht gerade der stärkste und erfahrenste Kämpfer war, seine Kraft hätte niemals für solch eine Tat ausgereicht. Wer sollte es dann sein? Ein mächtiges und zugleich gefühlloses Wesen, das die Dunkelheit der Katakomben ebenso liebte wie das Kämpfen und Töten, ein Wesen, dessen Charakter erfüllt war von Hass und Wut, eine vergessene Seele an diesem vergessenen Ort, vergessenen in dieser schier endlosen Finsternis. Um was für ein seltsames Schattenwesen handelte es sich nur? Sie fand keine hinreichende Lösung auf dieses Rätsel, zumindest zu diesem Zeitpunkt noch nicht, obwohl sie sich sehr nach einer sehnte und intensiv darüber nachdachte während ihres weiteren Marsches.
 

Die beiden erreichten schließlich einen großen Korridor, das Ende der Katakomben. Es war ein langer Flur, an dessen Seiten sich Gefängniszellen befanden, das schwache Licht der Taschenlampe zeigte nicht viel mehr von ihnen. Dunkles Steingrau und tiefes Schwarz dominierten die Umgebung, die Schrittgeräusche der beiden waren die einzigen Töne, die die Stille des Todes brachen. Wie im letzen Gang, so lagen auch im Korridor Leichen, wild verstreut und verstümmelt, wie als hätte eine übernatürliche Macht sie bekämpft, eine gewaltige, nahezu göttliche Macht. Hanryo und Chikará gingen, ohne irgendwann auch nur einziges Mal stehen zu bleiben, geradeaus durch den Flur, beide dachten nicht mehr über die Untoten nach, sie wussten, dass ihr Ziel nahe war. Am Ende des Korridors befand sich die größte Zelle, ihre rostige Gittertür war offnen. Hanryo blieb vor der offnen Tür stehen und starrte auf den dunklen Zellenboden. "Es ist genauso, wie ich es vermutet habe. Hier war er, dies sollte sein Gefängnis für die Ewigkeit sein", sagte er leise und mit tiefer Stimme, bevor eine alte Erinnerung an diesen Ort wie ein Blitz durch seinen Verstand fuhr:
 

*

"Was führte dich zu mir, Hanryo? Nahezu fünfzig Jahren sind seit deinem letzten Besuch vergangen?"

"Du bist immer noch einer von uns, obgleich du verurteilt bist, hier unten dein Dasein zu fristen."

"Was geschieht in der Welt über mir?"

"Die Welt zerbricht immer mehr, viele Menschen leben in Armut und Hungersnot. Die Maschinen der Jishus erleichtern zwar ihren Alltag, jedoch führen sie genauso zur Arbeitslosigkeit der unwichtigeren Arbeiter. Der Osten hat wieder einen neuen Kaiser, die Hauptstadt des Osten ist wunderschön geworden."

"Hast du noch welche von uns auf deinen Reisen getroffen?"

"Nein, wir sind ein aussterbendes Volk, nach meiner Generation folgt keine mehr. Niemanden mehr von uns fand ich, weder im Osten noch im Westen, ebenso wenig fand ich diejenige, nach der ich schon so lange suche."

"Du wirst sie eines Tages treffen, da bin ich mir sicher."

"Hoffentlich, wenn es für uns noch eine letzte Rettung gäbe, dann wäre sie es."

"Gehen die Verschwörungen aus unseren eigenen Reihen weiter?"

"Ja, leider. Sie bezeichnen uns als ,Verräter', ihre Vorhaben sind fern jeder Realität, aber sie haben zum Glück niemanden, der ihnen helfen wird und alleine können sie nichts unternehmen. Ich hörte zwar Gerüchte, dass sie mit den Jishus Verträge schließen würden, dies kann ich mir jedoch kaum vorstellen."

"Wieso lässt du mich nicht dein Gefährte werden, ich würde dir bei deiner Suche helfen und dich im Kampfe gegen die Abtrünnigen unseres Volkes unterstützen? Es liegt doch alles so weit in der Vergangenheit, Ryuchengshi existiert längst nicht mehr, niemanden interessiert mein Verweilen hier, warum lässt du mich nicht endlich frei?"

"Ich kann das nicht tun."

"Weshalb nicht? Wegen Beschlüssen und Urteilen, die mehr als tausend Jahre zurückliegen?"

"Du kanntest unsere Gesetzte von Anfang an, die Konsequenzen deines Handelns hätten dir bewusst sein sollen. Zudem ist dein Gefängnis durch alte Magie verschlossen, die ich nicht beherrsche."

"Aber wen interessieren denn die alten Gesetze heute noch, wo es unser Volk nicht mehr gibt, wo wir keinen Herrscher mehr haben und im Schatten der Menschen leben? Und du, du beherrschst doch Teile der alten Magie?"

"Lebe wohl, ich werde jetzt gehen."

"Nein, gehe noch nicht, lasse mich bitte nicht noch einmal alleine in der Finsternis zurück, in der ich schon seit Ewigkeiten gefangen bin, ich kann mich überhaupt nicht mehr an das warme, helle Sonnenlicht erinnern, meine Schmerzen und Qualen sind so groß, befreie mich, befreie mich doch bitte!"

"Nein, akzeptiere endlich dein Schicksal!"

*
 

"Wer war er?", fragte Chikará und riss ihn damit aus seiner Erinnerung.

"Einer von uns", antwortete Hanryo. "Sein Name war Yiwèn, er hatte jedoch keine menschliche Erscheinungsform, er besaß noch unsere ursprüngliche Gestalt."

"Wieso war er hier unten eingesperrt?"

"Er hat einen anderen Drachen im Streit getötet, unsere Gesetze sahen dafür eine lebenslange Haftstrafe vor."

"Lebenslang?", wiederholte sie ungläubig. "Wir leben doch etliche Jahrzehntausende lang?"

"So ist es."

"Und jetzt ist er anscheinend doch noch ausgebrochen und hat auf seiner Flucht einige Untote verprügelt. Also, ich nehme ihm das nicht übel, wenn man mich so lange einsperren würde, dann würde ich, wenn ich freikomme, auch ein bisschen übermütig werden und so etwas veranstalten."

"Aber er konnte nicht hier raus, das war unmöglich, alte Magie hielt ihn hinter diesen dünnen, rostigen Gittern gefangen, den Schlüssel zu seiner Zelle hatte man vor langer Zeit vernichtet. Er konnte sich nicht selbst befreien, ebenso wenig konnte irgendwer anders ihn befreien, ich habe keine Ahnung, wie er entkommen konnte."

"Vielleicht war es Jimo?"

Er lachte kurz und versteckt. "Nein, er war es bestimmt nicht."

"Wieso? Vielleicht beherrschte der Dämon die alte Magie?"

"Das war Drachenmagie, keine Dämonenmagie, ich frage mich aber noch viel mehr, weshalb er die Untoten so zugerichtet hat?"

"Er war doch ein Mörder?"

"Er bereute seine Tat wirklich, ich traue ihm das große Massaker hier unten ehrlich gesagt nicht zu."

"Wer war es denn dann?", wollte sie unbedingt wissen.

"Das könnte vielleicht Jimo gewesen sein, der Dämon hat doch alles ohne Sinn und Verstand attackiert? Vielleicht hat er sich irgendwann einmal auf seiner Suche nach Dämonenbüchern nach hier unten verirrt und die Tatsache, dass hier unten Untote waren, lässt sich jetzt ja auch erklären. Sie kamen niemals herunter, weil sie sich vor Yiwèn fürchteten, und wir wissen ja auch nicht, wie lange sein Ausbruch zurückliegt, vielleicht geschah es bereits vor einigen Jahrzehnten, ich war schon lange nicht mehr hier. Jedenfalls gönne ich ihm ehrlich gesagt seine Freiheit, er war hier unten so lange alleine eingesperrt, hätte ich es gekonnt, so hätte ich ihn wohl schon früher selbst befreit."

"Du warst schon öfters hier unten bei ihm?"

"Ja, alle paar Jahrzehnte habe ich ihn hier unten besucht, ich war wohl der einzige, der sich noch an seine Existenz erinnern konnte, aber befreien konnte auch ich ihn wirklich nicht, um so mehr freut es mich nun, dass er nicht mehr hier sein muss."

"Aber wenn du schon etliche Male hier warst", fiel Chikará auf. "Weshalb brauchten wir dann einen Stadtplan?"

"Normalerweise flog ich vom Rande der Schlucht aus immer sofort zum Katakombeneingang, den Rest der Stadt kenne ich kaum", erklärte er. "Ich hatte auch gehofft, dass Yiwèn dir vom Krieg berichten könnte, er hatte zumindest die Anfänge noch hautnah miterlebt, das war auch der Hauptgrund, für unsere gesamte Expedition hierhin. Nun, wie du siehst, ist er leider nicht mehr hier und damit war der beschwerliche Weg durch die Ruinen eigentlich umsonst."

"Werden wir nicht versuchen ihn zu finden?"

"Nein, wieso sollten wir? Er soll seine Freiheit genießen, außerdem habe ich keine Idee, wo er sich jetzt aufhalten könnte, geschweige denn, wer ihn überhaupt befreit hat?"

"Vielleicht wird er dich irgendwann suchen, um sich für die vielen Besuche bei dir zu danken, dann kannst du ihn ja auch noch fragen, wer ihn befreit hat."

"Bestimmt wird er das irgendwann einmal tun, bis dahin werde ich mir an dieser Frage den Kopf zerbrechen."

"Na ja, dafür sieht es aber fast so aus, als hätte zumindest seine Geschichte nun doch noch ein glückliches Ende gefunden."

"Es scheint so."
 

Als sie wieder am Eingang der Katakomben angekommen waren, hatte es bereits wieder aufgehört zu regnen, auch war die Kleidung der beiden mittlerweile wieder getrocknet. Die Sonne schien dumpf durch das dichte Wolkendach, viele großen Pfützen waren am sandigen Boden vom starken Regen übriggeblieben, durch die das Grauweiß des Himmels gespiegelt wurde. Die Luft war trüb und kühl, Ruhe und Windstille herrschten, keine Untoten waren zu sehen, die Straßen und der Stadtplatz von Ryuchengshi waren leer. Einzig die beiden Gefährten standen dort, in Mitten des Nichts und der Leere, wo sie sich mit leichter Freude umsahen, jetzt blieb ihnen nur noch der Weg raus aus der Schlucht, bald schon wären sie weg von diesem Ort des Todes und der Vergänglichkeit. Hanryo schlug vor, dass sie von ihrem momentanen Standpunkt aus direkt zum Rand der Senke fliegen sollten, was der schnellste und einfachste Weg wäre, um die vergessene Stadt zu verlassen. Chikará sollte sich, wie als sie am Vortag hinuntergeflogen waren, an ihm festhalten und sich so mitnehmen lassen in die Lüfte. Sie war sehr froh darüber, in absehbarer Zeit weg von diesem verlassenen und unheimlichen Ort zu sein, so viele schlimme Gedanken und Erlebnisse waren ihr hier wiederfahren. Die Untoten, die Ghule, Jimos Tod und die Statur ihres Vaters, die in der Ferne auf dem Stadtplatz zu sehen war, immer noch schwirrte sie durch ihren Kopf, obwohl sie versuchte jeden Gedanken an ihren Vater zu verdrängen. Auch hatte sie hier ihre ersten Erfahrungen im Kampf gemacht, er war zwar nur ein schwacher und leichter Gegner, dennoch wusste sie nun, wie es war, jemanden fast bis zum Tode zu bekämpfen. Es war kein schönes Gefühl, aber es gab ihr mehr kämpferisches Selbstbewusstsein, und das würde sie bestimmt noch in weiteren Duellen brauchen, wenn sie es alleine mit schwereren und kampferprobteren Gegnern aufnehmen müssen würde, dachte sie sich. Obgleich dies wohl nur die erste Etappe ihrer langen Reise war, so war sie sich trotzdem sicher, auch die folgenden Aufgaben und Hindernisse zu meistern, für ihr Volk, für sich selbst, für ihren treuen Begleiter und Lehrmeister und vielleicht auch ein wenig für ihren toten Vater.
 

Auch Hanryo war mit dem Besuch der alten Drachenstadt am Ende relativ zufrieden, nicht nur hatte Chikará viele neue Erfahrungen in den Ruinen gewonnen, ebenso konnte er ihr seine pazifistische Haltung nahe bringen und sie vielleicht sogar von ihr teilweise überzeugen, meinte er. Gerne hätte er sie noch mit Yiwèn sprechen gelassen, aber jener hatte ja nun endlich sein Gefängnis verlassen können, nur die Frage, wie er entkommen konnte, schien Hanryo sehr rätselhaft. Wie nur konnte er fliehen? Er konnte es niemals aus eigener Kraft geschafft haben, er musste von irgendjemandem befreit worden sein, nur von wem? Wer sollte sich denn noch an ihn erinnern und vor allem, wer sollte noch die alte Drachenmagie beherrschen? Diese ganze Geschichte schien unbegreiflich zu sein, fern ab jeglicher logischer Zusammenhänge oder Gründe, es war wirklich ein schier unlösbares Geheimnis. Hanryo gab dieser Ausflug mehr Fragen als Antworten, mehr Unklarheiten als Erkenntnisse. Zumindest konnte er Chikará die Statue ihres Vaters zeigen, er hatte sich erhofft, dass der Anblick bei ihr Erinnerungen an die Vergangenheit zurückrufen würde, aber dem war leider nicht so. Damit blieben aber wenigstens auch größere Veränderungen ihres Charakters aus, er wusste nicht, ob sie damals nicht vielleicht zu den strengen Befürwortern Quanlis gehört hatte, falls ja, dann hätte ihr totaler Gedächtnisverlust nur positive Folgen gehabt, sowohl für sie, als wohl auch für den Rest der Welt. Im nachhinein konnte man sagen, dass sie die Begegnung mit ihm verhältnismäßig kalt gelassen hat, wobei sie ja eigentlich doch oft zu Ausrastern geneigt war, jedenfalls bis vor kurzem, aber nach ihrem letzten, bei dem sie sogar weggelaufen war, schien sie viel beherrschter und geduldiger geworden zu sein, was ihr natürlich in keiner Weise schadete, eine gewisse innere Ruhe war sehr wichtig im Leben und im Kampf, davon war Hanryo überzeugt.
 

Schließlich stellte sich Chikará vor ihm hin und umklammerte ihn, während er seine Schwingen ausbreitete und seine Arme um ihren Oberkörper legte. Sie schloss ihre Augen und krallte sich noch etwas stärker an ihren Gefährten, vor Angst im Flug herunterzufallen, dann spürte sie nur noch, wie ihre Füssen nicht mehr den Boden berührten, das angenehme Gefühl der Schwerelosigkeit. Sie liebte es zu fliegen, obwohl sie stets die Augen dabei schloss, hauptsächlich aus Ungewissheit, aber auch um das Fluggefühl und die Freiheit noch intensiver genießen zu können.

Plötzlich spürte sie einen harten Schlag gegen ihren Rücken, eine ungeheuere Kraft steckte hinter ihm, durch die selbst Hanryo das Gleichgewicht verlor, er konnte sich nicht mehr in der Luft halten und stürzten ab, aus einer Höhe von ungefähr drei Metern fielen er und Chikará wie schwere Steine herunter. Alles ging so schnell, dass sie weder ihren Absturz verhindern, noch während des Falls die Lage realisieren konnten. Ungebremst und sich nur aus Reflex mit Armen und Händen den Kopf schützend, landeten sie zwar mit den Füßen zuerst in einer Pfütze am Straßenrand, konnten aber nicht mehr das Gleichgewicht halten und stürzten ins Wasser, das zum Glück die Wucht des Aufpralls etwas abschwächte. Nicht mehr als ein paar Prellungen waren die Folgen des Sturzfluges, der auch weitaus schlimmere Konsequenzen nach sich hätte ziehen können, aber glücklicherweise ging alles derart glimpflich aus. Bei der Landung hatte Hanryo seine Schwingen bereits wieder in seinen Rücken eingezogen, damit sie nicht verletzt wurden und er so eventuell nicht mehr hätte fliegen können. Chikará hatte vom Absturz nicht viel mehr mitbekommen, als einen großen Schock, da sie ihre Augen die ganze Zeit über geschlossen gelassen hatte vor Ungewissheit, deshalb bemerkte sie lediglich die nasse Landung in dem etwa knietiefen Wasserloch. Der Aufprall bereitete ihr nur kurzweilige, aber dennoch starke Schmerzen, vor allem an ihrer rechten Körperseite, mit der sie aufgeschlagen war. Dass sie wieder völlig durchnässt war, realisierte sie überhaupt nicht, zu groß war der Schrecken über den plötzlichen Schlag in der Luft. Sie hob den Kopf aus dem verdreckten Wasser, dabei hingen ihr ihre nassen Haare im Gesicht, die sie mit zwei Fingern wegstrich, die Tropfen liefen an ihrer Haut herunter bis zur Wasseroberfläche. Angestrengt blickte sie zur Stelle, an der sie die überraschende Attacke erfahren hatte, sie hatte noch Wasser in den Augen, weswegen es einen Moment lang dauerte, bis sie den Grund ihres Absturzes genau erkennen konnte.
 

Mitten auf der Straße, ungefähr zehn Meter weit von ihr entfernt, stand er, der Verursacher des Unfalls, es war ein Drache, ein echter Drache in seiner ursprünglichen Form. Chikará traute ihren Augen nicht, tatsächlich, es war ein Drache, endlich sah sie eines dieser mysteriösen Geschöpfe, von denen sie auch selbst eines war, in seiner wahren Erscheinungsform. Es gab sie also wirklich, die letzten kleinen Zweifel an all den Geschichten von Hanryo und Akashia, die sie bis dahin noch mit sich trug, waren endgültig dahin. Ein Drache, es war unglaublich für sie, sie schüttelte vor Staunen kurz den Kopf, es schien ihr alles wie in einem Traum, der nicht enden wollte. Aber die Faszination währte nicht lange, beim zweiten, genauern Blick erkannte sie, das mit diesem Drachen etwas nicht stimmte, es handelte sich um keinen normalen Drachen, was selbst sie, obwohl sie niemals zuvor solch ein Wesen gesehen hatte, sofort erkannte. Seine beschuppte Haut war bleich und rissig, sein etwa zwölfmeterlanger Körper war mit unzähligen Narben übersät, Verletzungen, die weder verheilten noch bluteten, seine Augen waren nicht typisch grün, sie waren leer und tot. Seine Glieder waren ungleichmäßig, tiefe Wunden zeigten Teile seiner Knochen, er schrie laut, es hörte sich wie ein Klagegesang an, unverständlich für Menschen und alle anderen, die der alten Drachensprache nicht mächtig waren. Er stand dort zitternd und schwankend, scheinbar benebelt und perplex, orientierungslos und willenlos, weder tot noch lebendig. Ein untoter Drache, wie war das nur möglich? Chikará und ebenso Hanryo konnten es nicht verstehen und es sich nicht erklären, es war unmöglich, solch ein Wesen hätte niemals existieren dürfen? Drachen konnten keine Untoten werden, niemals hätte so etwas eigentlich passieren können, Drachen, die Abkömmlinge der Götter, sie standen über den menschlichen Definitionen von Leben und Tod, sie konnten nicht zu Untoten werden, sie nicht, oder vielleicht etwa doch? Welche furchtbaren und unerklärlichen Wege mussten beschritten worden sein, um diese bedauernswerte Kreatur zu erschaffen, wie gewissenlos muss ihr Erschaffer gewesen sein? Die beiden standen wie versteinert vor diesem Geschöpf der Finsternis und des Todes, das sein Klagelied beendete und in großer, scheinbar grundloser Wut auf sie losstürmte. Für Antworten auf die vielen ungelösten Fragen blieb keine Zeit mehr, ein Kampf gegen den Drachen schien unumgänglich, jetzt würde sich zeigen, wie stark dieses Wesen wirklich war. Im Moment des Angriffs des Drachen handelte Hanryo schnell, er packte Chikará am Arm und rannte mit ihr hastig raus aus dem Wasserloch und weiter weg vor ihren Gegner, bis hinter ein paar Hauswandtrümmer am naheliegenden Straßenrand, dort angekommen ließ er sie wieder los, schmiss den Rucksack zu Boden, welcher ihn jetzt nur unnötig behindern würde und griff fieberhaft nach seinem Schwert.

"Ein untoter Drache?", fragte Chikará schnellatmend.

"Ich habe so etwas noch nie gesehen", antwortete Hanryo und drückte ihr ihre Waffe in die Hand.

"Wie können wir ihn bekämpfen?"

"Mal sehen, wie weit wir mit unseren Waffen kommen, wenn wir ihn damit nicht erledigen können, dann haben wir ein Problem." Noch während er den Satz beendete, drehte er sich um in Richtung Straße, ihr Verfolger konnte sich nicht so schnell fortbewegen wie sie, dennoch war er zu jenem Zeitpunkt nur noch wenige Schritte von ihnen entfernt und er hetzte weiter mit lautem Wutschreien, die ihnen in den Ohren schmerzten. Hanryo erkannte sogleich den Ernst der Lage und entschloss sich zum Angriff.
 

Er nahm sein Schwert fest mit beiden Händen und rannte entschlossen auf den rasenden Drachen zu, welcher ihn mit einem lauten Schrei empfing, was wohl seinen Angreifer Respekt einflößen sollte. Unbeeindruckt davon stürzte sich Hanryo auf ihn, zwei harte Schwerthiebe setzte er an, beide konnte der Drache mit seinen Klauen parieren, bei der dritten Attacke rammte Hanryo ihm die Klinge mitten durch seine blockende Klaue und stach sie weiter durch in die Brust des Drachens. Nach diesem erfolgreichen Angriff fühlte Hanryo sich schon fast als Sieger des Duells, aber der Drache war viel stärker, als er dachte. Er reagierte auf den schweren Treffer nicht, kein einziger Tropfen Blut lief aus der Wunde, er zuckte nicht einmal, keinen Funken Schmerz schien er danach zu spüren, lediglich sein ungeheurer Zorn wuchs weiter. Er schlug wild mit seiner anderen Klaue nach Hanryo, was jenen sehr verwunderte, denn er hatte den Kampf bereits als entschieden angesehen, dennoch schaffte er es den Angriff auszuweichen und gleichzeitig sein Schwert wieder aus dem Körper des Drachen herauszuziehen, auch auf der scharfen Klinge war kein bisschen Blut zu erkennen. Er wusste nicht, wie er seinen Widersacher weiterbekämpfen sollte, nachdem diese normalerweise tödliche Attacke ihrem Zweck versagte, ratlos setzte er weitere mächtige Techniken an.
 

Der Drache schlug nach ihm mit seinen kräftigen Klauen und versuchte ihn mehrmals mit seinen Reißzähnen zu packen, erfolglos, Hanryo war zu flink und gewandt für solche offensichtlichen Angriffe. Er konterte mit einem gewagten Schlag gegen den Hals des Drachen, er wollte ihn köpfen, aber die dicken Halswirbelknochen ließen keinen Durchschlag zu, selbst nicht mit Hanryos starkem Katana. Der Drache schlug sofort mit seinem gehörnten Haupt nach seinem Angreifer, der dieses Mal nicht ganz ausweichen konnte, die harte, schuppige Drachenhaut und die spitzen Hörner streiften seinen Körper. Hanryo schrie auf vor Schmerzen und zog blitzartig sein Schwert zurück, durch den letzten Angriff des Drachen erlitt er Schnittwunden am Kopf, am rechten Arm und am Oberkopf, das Blut färbte seine Kleidung und sein Gesicht rot. Die schweren Schmerzen machten ihn unaufmerksam, nach einem weiteren mächtigen Klauenhieb, der ihn direkt und uneingeschränkt traf, flog er mit samt seiner Waffe einige Meter weit zur Seite gegen einen Felsbrocken, beim harten Aufprall hörte man, wie Knochen durchbrachen. Hanryo kauerte sich zusammen vor Schmerzen, dieser unerahnt großen physischen Kraft war er nicht gewachsen, er konnte nicht mehr aufstehen und weiterkämpfen.
 

Chikará wollte nicht glauben, was sie dort gerade gesehen hatte, es war ihr unbegreiflich, Hanryo wurde besiegt, er, den sie für den besten Kämpfer der Welt gehalten hatte, er wurde geschlagen, was sich soeben vor ihren Augen abgespielt hatte, niemals hätte sie so etwas für möglich gehalten. Nun lag er da, wie eine Leiche am Boden und krümmte sich vor Schmerzen. Weshalb hatte sie ihn nicht geholfen, warum war sie zu naiv gewesen um einzugreifen, sie hatte doch gesehen, wie aussichtslos seine Angriffe gewesen waren, ein gewisser Selbsthass überkam sie. Sie hatte nur zugesehen, wie er beinahe sein Ende gefunden hätte und sie hatte überhaupt nichts getan, nur zugesehen. Chikará verzweifelte fast an ihrer Schuld, so etwas sollte eine Kaiserin sein, dieses dumme Mädchen, das noch nicht einmal bereit war, ihren Gefährten im Kampfe zu unterstützen, beschuldigte sie sich selbst. Der Selbsthass verwandelte sich schnell in Aggression, sie sprang hervor, direkt vor den Drachen und attackierte ihn mit einer Wut, die seiner gleichkam. Sie schlug unentwegt auf ihn ein, ohne genaue Ziele zu haben, einzig die Entladung ihres angestauten Hasses trieb sie an. Der Drache konterte mit wilden Gegenangriffen seiner Klauen, ein paar Mal traf er Chikará, diese merkte nie mehr als einen kurzen Stoß in ihrer Ekstase, die Waffen ihres Widersachers konnten sie sowieso nicht verletzen, hingegen richteten ihre eigenen Angriffe keinen unerheblichen Schaden an. Am rechten Vorderbein fügte sie ihm eine große und tiefe Schnittwunde zu, die zwar nicht blutete, aber dennoch bemerkbar die Beweglichkeit des Drachen beeinflusste, wahrscheinlich hatte sie wichtige Sehnen und Muskeln durchtrennt, die selbst Untote brauchten, um sich bewegen zu können. Mutiviert durch diesen sichtbaren Erfolg holte sie schnell zu weiteren Schlägen aus und fügte ihren Gegner zahlreiche Wunden am Vorleib zu, der Drache konnte nur wenige Angriffe abwehren, weil die meisten seiner Bewegungen nun zu langsam und träge waren, die halbtoten, teils verkrüppelten und verletzten Gliedmaßen verloren langsam an Stärke.
 

Chikará begriff jetzt, wie nahe der Sieg war, der Sieg, den nicht einmal Hanryo errungen hatte, er war so nahe und sie wollte ihn mehr als alles andere in diesem Moment, nur noch ein paar gezielte Hiebe und sie hätte es geschafft. Eine gute Möglichkeit um den Schrecken ein Ende zu setzen, sah sie, als der Drache den Kopf senkte mit seinem weitgeöffneten Maul und versuchte, Chikará mit den starken Zähnen zu erwischen. Sie nahm ihr Schwert fest in beide Hände und rammte es ihm von der Seite aus in den Schädel, sie durchdrang die harten Knochen und die Klinge steckte tief im Gehirn des Drachen, welcher laut aufschrie. Chikará lächelte flüchtig, ließ ihre Waffe los und huschte einige Schritte weit zurück, das musste es gewesen sein, jeden Moment würde der Drache umfallen und sie hätte gewonnen, davon war sie überzeugt. In ihrem Optimismus beachtete sie ihn jedoch nicht mehr gut genug, während ihrer Vorfreude schlug der Drache, scheinbar kurz vorm Ende stehend, mit seinem schwer verwundeten Schädel ziellos und wild durch die Gegend, das Schwert steckte immer noch in seinem Kopf fest, dabei starrte Chikará ihn mit leichter Freude in die leeren Augen, die einst wohl smaragdgrün waren, als er noch ein normaler Drache war. Wer hatte nur solch ein Ungeheuer aus ihm gemacht, welche Macht vermag dies zu schaffen, welche Bosheit? Der Drache schlug auch einmal aus Verzweifelung und Wut mit seinem Kopf auf den Boden, wobei die Schwertklinge in zwei Teile überbrach, von denen der eine jedoch in seinem Schädel stecken blieb. Daraufhin blickte er zu Chikará, die allmählich realisierte, dass sie ihn noch lange nicht besiegt hatte, aber wenn er doch sogar diese letzte Attacke überlebte, wie sollte man ihn denn dann überhaupt besiegen können? Ungläubig schaute sie auf den Griff ihres übergebrochenen Katanas, selbst diese mächtige Waffe konnte ihn so gut wie nichts anhaben. Welche Waffe sollte ihn überhaupt etwas anhaben?
 

Eine späte Vernunft überkam Chikará, sie bückte sich hastig, hob den Rest ihrer Klinge vom Boden auf und schritt wieder einige Meter weit zurück, raus aus der Reichweite der Drachenklauen. Sie holte aus und warf ihren Gegner den Schwertgriff ins linke Auge, wo der spitze Klingenrest die Pupille aufschnitt, was den Drachen zwar nicht blendete, ihn aber kurzzeitig beschäftigte. Genau in diesem Moment lief Chikará so schnell sie konnte weg, ohne einen weiteren Angriff auszuüben, endlich hatte sie ihre Unterlegenheit erkannt und sich für das einzig Sinnvolle, die Flucht, entschieden. Sie blickte sofort zu Hanryo, er lag immer noch zusammengekauert vor dem Felsbrocken, auf dem er aufgeschlagen war, sie eilte zu ihm. Der Drache bemerkte ihren verzweifelten Fluchtversuch, er drehte sich schnell zu ihr und schlug mit seinem kräftigen Schwanz nach ihr, den sie in ihrer Panik nicht mehr beachtete, er traf sie wie eine meterdicke Peitsche an den Beinen und schleuderte sie hart zu Boden. Völlig unvorbereitet auf den Sturz knallte sie mit dem Kopf auf dem steinernen Straßenasphalt, der Aufprall war derart hart, dass sie eine Gehirnerschütterung erlitt, gänzlich benebelt blieb sie liegen und verlor für eine kurze Zeit lang das Bewusstsein. Ihr letzter Gedanken richtete sich an Hanryo, sie hatte versagt, nun würde er vom Drachen getötet werden, während sie dort lag und nichts unternehmen konnte, dann schlossen sich ihre verzweifelten Augen, ihr fehlte die Kraft sie aufzuhalten.
 

Der Drache beachtete sie nun nicht mehr und wandte sich wieder zu Hanryo, der zusammengekrümmt am Straßenrand lag, sein Gesicht war schmerzverzerrt und blutverschmiert. Nach dem letzten mächtigen Schlag seines Widersachers war er sehr unsanft und unglücklich gegen das harte Gestein geprallt, wodurch er sich wohl den rechten Arm brach, den er gegenwärtig kaum noch bewegen konnte, geschweige denn noch sein Schwert mit ihm halten konnte. Auch hatte er sich am rechten Fuß irgendetwas sehr Schmerzhaftes zugezogen, er versuchte aufzustehen, fiel aber sofort wieder hin, sein Leiden war zu groß, er konnte nicht mehr aufstehen. Der Drache kam langsam und schreiend auf ihn zu, während Hanryo bewegungsunfähig nur noch auf sein sicheres Ende warten konnte. Kampflos wollte er nicht aufgeben, sein Schwert landete nicht weit von ihm entfernt, er streckte sich zu ihm und nahm es mit seiner linken Hand. Als der Drache die Waffe sah, schlug er nur einmal mit seiner Klaue nach ihr, Hanryo konnte so ziemlich überhaupt nicht mit links kämpfen, deshalb reichte auch ein leichter Hieb des Drachen aus, um ihn zu entwaffnen.
 

Die Klinge flog einige weit zur Seite, unerreichbar für Hanryo, man hörte den hellen Klang des Metalls, als das Schwert den Boden berührte, das schrille Geräusch weckte Chikará aus ihrer Bewusstlosigkeit. Sie stand langsam auf, ihr Kopf schmerzte, ein dumpfes Dröhnen herrschte in ihm. Sie drehte sich zu Hanryo und den Drachen am anderen Ende der Straße, sie erschrak, sie erblickte, wie hilflos ihr Gefährte vor seinem Gegner lag, ihn seinen Augen erkannte sie, dass er sich aufgegeben hatte. Sie schrie entsetzt seinen Namen, aber er hörte sie nicht und reagierte nicht, sollte das wirklich sein Ende sein? Hanryo schien zwar besiegt, aber Chikará sah noch einen letzten Funken Hoffnung, jetzt hang alles von ihr ab, von ihr alleine, sie konnte ihn retten, aber die Zeit drängte. Eine Waffe hatte sie nicht mehr, das Einzige, was ihr übrig blieb, war die Flucht mit ihrem schwerverwundeten Freund. Entfesselt rannte sie zu ihm, es war noch nicht zu spät, da war sie sich sicher. Währenddessen stand der Drache nun direkt vor Hanryo, er öffnete sein großes Maul und schrie laut, es hörte sich an wie eine Art Triumphschrei an. Chikará irrte sich, Hanryo hatte sich noch nicht aufgeben und hatte es auch nicht vor, trotz der schier aussichtslosen Situation. Noch einen allerletzten Trick hatte er im Repertoire, eine sehr alte Technik, von der er nur sehr selten gebrauch machte, die ihn jetzt aber das Leben retten konnte. Er streckte unter ernormgroßen Schmerzen seinen rechten Arm aus und öffnete langsam seine Hand, in seiner Handfläche brannte ein Licht, eine kleine Flamme.
 

Chikará war nur noch wenige Schritte von ihm entfernt, als sie den Feuerzauber sah, sie traute ihren Augen nicht, er hatte doch immer behauptet, er würde keinerlei Magie beherrschen, staunend blieb sie stehen und wartete ab, was passieren würde, da sie davon überzeugt war, dass Hanryo nun gerettet wäre.
 

Der Drache bemerkte den Zauber nicht und wollte dem Duell ein Ende setzen, mit seinem großen, weitgeöffneten Kiefer wollte er Hanryos Körper in Stücke zu reißen. Er senkte blitzartig sein Maul und hatte seinen scheinbar besiegten Gegner schon fast zwischen den kräftigen Zähnen, als dieser seine brennende Handfläche mit seiner letzten Kraft gegen den Drachenkörper presste. Eine riesige Stichflamme brannte auf, wie bei einer Explosion, das glühendheiße Feuer entflammte binnen eines einzigen Augenblickes den gesamten untoten Drachenkörper. Der Drache schrie noch ein letztes Mal laut auf, dabei fiel er bereits einige Meter weit zurück und blieb schließlich brennend am Boden liegen. Nur wenige Sekunden lang dauerte sein Endkampf ums Leben, der Sieger stand von Anfang an fest, das magische Feuer hatte ihn besiegt, der letzte Hauch Leben verbrannte in seinem untoten Körper und wurde zu Asche. Hanryo verbrauchte seine letzen Kraftreserven für diese alten anstrengenden Zauber, als der Drache starb, fiel er überglücklich, dass er noch lebte und gleichzeitig völlig erschöpft in Ohnmacht.
 

Ungläubig starrte Chikará auf die Aschereste des mächtigen Drachen, sie atmete tief durch und realisierte langsam das Ende des Kampfes, sie hatte Hanryo sehr fiel zugetraut, aber dieser Zauber machte sie sprachlos. Es war so schnell gegangen, das Feuer, wie in einem Traum, hatte es den Drachen nach wenigen Sekunden vernichtet, die magischen Flammen hatten den mächtigen Drachenleib während eines einzigen Momentes verzerrt, wie war so etwas nur möglich? Diese Macht, diese unbeschreibbare Macht, ja, das musste die wahre Macht der Drachen sein, an deren Existenz Chikará bis dahin immer noch gezweifelt hatte. Eine unvorstellbare Kraft, eine beinahe göttliche Kraft, die selbst solch einen starken untoten Drachen so leicht zerstören konnte, es war kaum zu glauben.
 

Dann kam ihr wieder ein Gedanke an Hanryo in den Kopf, sofort schaute sie zu ihm, er lag dort vor dem Felsbrocken und schien bewusstlos geworden zu sein, sogleich wandte sie sich zu ihm und kniete sich vor ihm hin. Seine Augen waren geschlossen, er atmete aber glücklicherweise regelmäßig. "Wach auf!", sagte sie zu ihm und rüttelte dabei an seinem Oberkörper, aber er reagierte nicht. Ihr kam eine Idee, wie sie ihn aufwecken konnte, sie holte den Rucksack, den er zu Begin des Kampfes an einer Hausruine liegengelassen hatte, packte eine Wasserflasche aus und schüttete ihn vorsichtig etwas kaltes Wasser über sein blut- und staubverschmiertes Gesicht. Daraufhin öffnete Hanryo langsam die Augen und schaute noch etwas benebelt hoch zum grauen Himmel, Chikará beugte sich über ihm und lächelte ihn froh an, die beiden umarmten sich überglücklich.

"Es ist endlich vorbei", hauchte Hanryo leise.
 

Chikará drückte ihren Kopf fest an seine Schulter. "Hanryo", sprach sie unruhig und mit Freudentränen in den Augen. "Zum Glück lebst du noch."

"Wir haben es überstanden, er ist tot." Er legte seine linke Hand auf ihren Hinterkopf und strich ihr sanft über die Haare.

"Das war so knapp", entgegnete sie ihn. "Ich bin wirklich so froh, dass er dich nicht getötet hat, ich hatte Riesenangst um dich."

"Es war wirklich sehr knapp, aber ich lebe ja noch und die Verletzungen werden in den nächsten Tagen verheilen, alles wird wieder gut."

Sie ließen langsam wieder voneinander ab, und Chikará setzte sich neben ihn hin, sie bemerkte seinen rechten Arm. "Dein Arm, er ist gebrochen."

"Ja, mein linkes Bein auch, glaube ich, der Stein hier hinter mir war richtig hart."

"Hast du noch Schmerzen?"

"Ja, aber sie sind nicht mehr allzu stark."

"Kannst du so überhaupt noch fliegen?"

"Natürlich, meine Schwingen wurden ja schließlich nicht verletzt, das geht schon, du darfst dich dann nur nicht zu stark an meinem gebrochen Arm festhalten."

"Das werde ich schon nicht tun. Es ist gut, dass du noch fliegen kannst, andernfalls hätten wir ja noch einige Zeit länger hier bleiben müssen."

Hanryo lachte kurz.

"Na ja", fuhr Chikará fort. "Mein Schwert ist leider übergebrochen, ich weiß, es war richtig teuer und dann bricht es mir schon beim zweiten Kampf über, das spricht ja nur für mein kämpferisches Talent."

"Das ist schon in Ordnung, Waffen sind ja schließlich zum Kämpfen und nicht zum Andiewandhängen dar. Ich habe dir kurzzeitig beim Kämpfen zugesehen, als ich hier lag und mich nicht mehr aufstehen konnte, du hast wirklich gut gekämpft, wäre es kein Untoter gewesen, so hättest du ihn mit Leichtigkeit besiegt."

Chikará senkte ihr Haupt und starrte zu Boden. "Ich bin eine miserable Kämpferin und sehr naiv obendrein, ich habe dir nicht geholfen, als du von ihm niedergeschlagen wurdest, du warst dem Tode so nahe und ich habe überhaupt nichts unternommen, um dich zu retten", berichtigte sie ihn deprimiert.

"Mache dir keine Vorwürfe, ich hatte mir den Kampf auf viel leichter vorgestellt, du hast genau das Richtige getan."

Sie schüttelte niedergeschmettert den Kopf. "Nein, das habe ich nicht, und du weißt das auch, rede es bitte nicht schön."

"Chikará." Er griff nach ihrer Hand und schaute ihr tief in die Augen. "Niemand ist perfekt, selbst ein Kaiserdrache nicht. Ich hätte auch beinahe den Kampf verloren, aber du hast, als ich hier lag und mein Ende eigentlich schon sicher war, dich tapfer gegen den Drachen gestellt und mutig gekämpft, bis deine einzige Waffe zerstört wurde, und selbst dann wolltest du mir, obwohl du unbewaffnet warst und damit im großen Nachteil, immer noch helfen und bist zu mir gerannt und erst, als meine Rettung durch das magische Feuer feststand, hast du aufgehört, um mein Leben zu kämpfen. Du hast wirklich dein Allerbestes gegeben."

"Ja, du hast wohl recht", seufzte sie und zog ihre Hand von seiner weg. Sie gab nur vor, ihre Selbstzweifel ablegt zu haben, in Wirklichkeit konnte sie sich von Hanryo nicht überzeugen lassen und beharrte innerlich weiter auf ihrer eigenen Meinung. Sie lenkte von diesem Thema ab: "Dein Feuerzauber war wirklich beeindruckend, wieso hast du mir nie gesagt, dass du so etwas kannst?"
 

Hanryo lehnte sich wieder zurück und hörte wieder in die Ferne anzuschauen. "Das war nicht so einfach und gekonnt, wie es aussah, es kostete mich viel Kraft, wie du gesehen hast, bin ich danach direkt ohnmächtig geworden. Zudem ist es normalerweise sehr gefährlich öffentlich zu zaubern, die Menschen verabscheuen jegliche Art von Magie, wahrscheinlich weil sie selbst keine beherrschen, sie töten darum jedes magische Wesen aus Angst und Ungewissheit. Aber die meisten Menschen, zumindest die durchschnittlichen, haben in ihrem gesamten Leben nicht ein einziges Mal Kontakt zu Magie und glauben auch nicht daran, dass irgendwelche existiert."

"Ich habe so etwas ja auch noch niemals zuvor gesehen, früher ahnte ich nicht, dass es so etwas wirklich gibt, woher weißt du, wie du sie anwendest?"

"Während meiner Kindheit haben meine Eltern es mir beigebracht, der Feuerzauber, den du eben gesehen hast, ist ein angeborenes Grundtalent der Feuerdrachen, das gleiche, wie die Unverwundbarkeit bei den Kaiserdrachen."

"Kann ich auch zaubern?"

"Ich weiß es leider nicht, so gut kenne ich mich dann doch nicht mit deiner Art aus, aber ich glaube schon, dass du einige artspezifische Zauber, die ich jedoch nicht kenne, anwenden könntest."

Chikará seufzte erneut und schaute auf die Aschereste des Drachen. "War er wirklich ein untoter Drache?"

"Ja, wahrscheinlich schon, andernfalls hätte bereits meine erste Attacke für ihn tödlich enden müssen, außerdem blutete er nicht und spürte keine Schmerzen, auch besaß er die Hautfarbe der Untoten."

"Aber du sagtest doch, das nur Menschen zu Untoten werden können?"

"Ebenso wie du, habe auch ich die Gegenwart solch einer Kreatur niemals für möglich gehalten und selbst jetzt ist es mir immer noch ein großes Rätsel, wie ein Drachen zum Untoten werden konnte."

"Ach, lass uns doch nicht so viel darüber nachdenken, zum Glück ist der Drache jetzt ja tot", sprach Chikará und blickte Hanryo mit einem leichten Lächeln an.

Er hätte gerne zurückgelächelt, aber er konnte es nicht, es gab noch ein Geheimnis, dass sie nicht kannte und dass seine Seele sehr bedrückte. "Dieser Drache war Yiwèn."

Ungläubig schaute sie ihn in die traurigen Augen. "Was, dieses Monster war doch bestimmt nicht Yiwèn, oder?"

"Am Anfang des Kampfes hat er es mir in der alten Drachensprache Tatsuyuyan gesagt."

"Bist du dir wirklich sicher?"

"Ja, er war es, ich habe keine Zweifel daran, weil ich ihn damals oft gesehen und mit ihm gesprochen habe. Seine Stimme, seinen Blick, seinen Körper, an all das erinnere ich mich noch sehr gut, ich bilde es mir nicht ein, er war es wirklich."

"Aber wie ist das möglich, er war doch ein normaler Drache?"

"Ich habe keine Ahnung", sagte Hanryo und schüttelte ratlos den Kopf.

Chikará lehnte sich zurück und überlegte. "Vielleicht hat derjenige, der ihn befreit hat, zu dem gemacht, was er am Ende war?"

"Möglich, aber wir wissen ja nicht, wer ihn befreit hat. Erinnerst du dich noch an den Torbogen vor dem Stadtplatz? Die mit Blut gemalten Zeichen dort für ,Monster', vielleicht war er damit gemeint, wer weiß, wie lange er schon in diesem Zustand hier herum irrte?"

"Wieso haben wir ihn denn nicht bereits gestern hier getroffen?"

"Ryuchengshi ist groß, uns waren ja auch nur verhältnismäßig wenig Untote begegneten, Hunderte treiben sich hier herum, die Stadtruine ist riesig, wir haben eigentlich nur sehr wenig von ihr gesehen."

"Und die Untoten in den Katakomben, das war er doch dann bestimmt auch?"

"Ja, das ist gut möglich, vielleicht hat er sie hier oben erlegt und dann heruntergebracht in sein Zuhause, als Untoter war er schließlich sehr verwirrt und beinahe schon verrückt geworden, was ja bei Menschen in der Situation auch nicht viel anders ist."

"Was ist mit seiner Seele, normalerweise müsste sie ja mit seinem Tod an einen anderen Ort gewandert sein, aber da er ein Untoter geworden war, ist sie so in seinem Körper geblieben?"

"Ich weiß es nicht."

Sie schwiegen beide einige Minuten lang.

"Ich habe heute gesehen, wie gefährlich unsere Reise ist", sprach Chikará zusammenfassend. "Ich war mir dessen bisher nicht wirklich bewusst, erst heute habe ich erkannt, wie ernst das alles sein muss, die gesamte Geschichte der Drachen und ihr Schicksal."

"Yiwèn war nichts im Vergleich zu den Drachen, die die Welt beherrschen wollen", erzählte Hanryo. "Jene sind noch viel stärker und mächtiger als er."

"Aber wenn wir doch schon den Kampf mit Yiwèn fast nicht überstanden hätten, wie sollen wir dann mit diesen Drachen fertig werden?"

"Es liegt alles in deinen Händen, du musst versuchen, sie von ihrem falschen Handeln zu überzeugen und sie wieder zu vereinen zu einem großen Volk, so wie wir es einst waren. Falls das nicht funktionieren sollte, du bist viel stärker und mächtiger als diese Drachen, jedoch müssen wir zurück auf den Kontinent der Drachen, denn da warten jene auf dich, die dir deine wahren Fähigkeiten zeigen können."

"Glaubst du, dieser Konflikt könnte ohne einen Kampf beendet werden?"

"Ich hoffe es, obwohl ich nicht wirklich daran glauben kann."

Dämonentempel (Teil 1)

*

Dunkelheit. Nur verschwommene Umrisse und getrübte Farben waren sichtbar. Chikará erkannte diesen Ort wieder, ja, es musste der Zellenkorridor in Ryuchengshi sein, sie erinnerte sich noch genau an ihn, jedoch waren die vielen Leichen und Körper von Untoten nicht mehr da. Stille herrschte, bis plötzlich leise, gleichmäßige Schritte zu hören waren, die vom Eingang aus kamen und sich mitten durch den großen Raumes bewegten, sie nährten sich und wurden damit immer lauter und deutlicher, wie die Schritte von Menschen klangen sie. Chikará sah, dass es sich um zwei Personen handelte, wahrscheinlich um Männer, beide trugen schwarze Kleidung, mehr konnte sie von ihnen nicht wahrnehmen in der Finsternis. Sie gingen im Gleichschritt nebeneinander her, ihr Ziel war die große Zelle am Ende des Korridors, jene, in der einst Yiwèn gefangen gewesen war, jene, die bei Chikarás letzten Besuch noch leer gewesen war. Jetzt jedoch befand sich in ihr ein Wesen, dessen großer Schatten an der Zellenwand zu erblicken war. Sollte es etwa Yiwèn sein? Chikará wusste es nicht, sie hatte ihn niemals in seiner lebendigen Drachenform gesehen, vielleicht war er es, vielleicht auch nicht?

"Was wollt ihr hier?", sagte eine tiefe und mächtige Stimme, es war wohl jene des eingesperrten Wesens.

"Du bist immer noch hier?", fragte eine andere Stimme, sie gehörte wahrscheinlich zu einer der beiden Personen.

"Weißt du etwas von Hanryo?", wollte die andere der beiden Personen wissen und führte so den Dialog fort.

Chikará erschrak, woher kannte er nur Hanryo? Wer sollten diese zwei menschenähnlichen Schatten überhaupt sein? Die Dunkelheit ließ nur wenige, hauptsächlich akustische Information über diese merkwürdigen Gestalten zu Chikará gelangen, mit denen sie nahezu nichts über sie erfahren konnte.

"Ja", antwortete nun das Wesen in der Zelle. "Er war etliche Male hier bei mir."

"Alleine?"

"Ja."

"Er suchte sie doch, hatte er sie bereits gefunden?"

Sie? Chikará kam sofort der Gedanke, dass sie selbst vielleicht damit gemeint gewesen sein könnte. Sie wussten auch von ihr?

"Nein."

"Gut", entgegnete eine der Personen, dann drehten sich beide um und gingen langsam fort.

"Halt, wartet!"

Sie blieben stehen und drehten sich nochmals zur Zelle hin um.

"Was ist?"

"Befreit mich doch bitte, ich bin seit schon seit so langer Zeit hier unten gefangen, bitte!", flehte die eingesperrte Kreatur.

"Du willst also die Freiheit?"

"Ja, ich sehne mich so sehr nach ihr, bitte helft mir!"

"Gut, dann sollst du frei sein." Eine der Personen streckte ihren rechten Arm in Richtung der Zelle hin aus und öffnete langsam ihre zusammengeballte Faust. Genau in jenem Moment, in dem ihre Finger vollständig ausgestreckt waren und ihre leere Handfläche gegenüber der Zelle war, brachen die stabilen Gitterstäbe mit einem lauten Knall auf. Die Durchbruchstellen gaben ein wenig grauen Rauch ab, das entstandene Loch im Gitter war groß genug, dass das eingesperrte Wesen aus seinem Gefängnis entfliehen konnte. "Danke", hauchte es erleichtert und schritt ungläubig, fast wie in Trance, durch die Öffnung.

"Deine Freiheit hat jedoch ihren Preis", sagte auf einmal eine der beiden Personen, es war wohl diejenige, die gerade das Wesen befreit hatte. "Du gehörst nicht zu uns, du bist unser Feind und somit eine Bedrohung für uns, die wir beseitigen müssen. Hiranyaksha, mache ihn zu einem deiner Rasse, so er nicht mehr uns, sondern nur noch unseren Feinden gefährlich werden kann."

Die andere Person holte einen langen Stab hervor, wahrscheinlich war es ein Schwert, und stürmte auf das Wesen aus der Zelle zu, welches durch den plötzlichen Angriff völlig überrascht war und ihn somit nicht mehr rechtzeitig abwehren konnte. Der Angreifer rammte kaltblütig und zielgerichtet seine Waffe tief in den Körper jener Kreatur. Erst mit dem Schnitt der scharfen Klinge durch ihre Haut und mit dem darauffolgenden stechenden Schmerz realisierte sie die Attacke, doch zu diesem Zeitpunkt war alles schon längst zu spät. Sobald die Waffe mit einem schnellen Ruck wieder zurück aus in dem Körper des Wesens gezogen wurde, fiel es sogleich um, atmete noch einige Male schwer ein und aus, dann regte es sich nicht mehr. Die beiden Personen drehten sich um und gingen weg.

*
 

Chikará wachte auf. Nachdem Hanryo und sie aus Ryuchengshi zurückgekommen waren, hatte sie sich kurz gewaschen, ein wenig gegessen und sich anschließend ins Bett gelegt, mittlerweile hatte sie fast einen ganzen Tag lang geschlafen. Sie lag in ihrem weichen Bett und öffnete langsam ihre Augen, die hellen Sonnenstrahlen, die die Glasscheibe des Fensters durchdrangen, blendeten sie. Grelles weißes Licht, genau das Gegenteil zu dem, was in den Katakomben herrschte, die Erinnerungen an diesen vergessenen Ort waren dunkel, die Bilder der Vergänglichkeit und des Todes konnte sie noch deutlich vor ihrem geistigen Auge sehen. Leben und Tod lagen in dieser Welt nahe beieinander und die Grenze zwischen ihnen konnte manchmal zu leicht gebrochen werden. Untote wurden geboren, neugeboren oder wiederauferweckt von den Toten? Eigentlich war so etwas unvorstellbar, aber wie sie nun wusste, gab es Orte auf dieser Welt, wo auch Tote weiterlebten, aber um welchen grausamen Preis? Im Vergleich zu ihrem Leben wäre selbst der Tod angenehmer gewesen, dachte sie sich. Aber wie Hanryo gesagt hatte, Mitleid macht nur schwach und behindert, sie erkannte erneut, dass er damit wohl recht hatte, auch wenn dieser Satz gefühllos klingt, in ihm steckt viel Wahres. Nicht umdrehen, nur geradeaus schauen, dann scheint der Weg nicht so lang, wie er eigentlich ist. Also, was wäre das nächste Ziel dieser Reise? Chikará war gespannt auf ihr nächstes gemeinsames Abenteuer, welche unglaublichen Phänomene würden ihnen noch bevorstehen? Einerseits war da diese Mischung aus Neugier, Ehrgeiz und Mut, die sie antrieb, andererseits eine gewisse Angst vor der Wahrheit, der Wahrheit über ihr Leben, die Antworten auf die schier unlösbaren Fragen ihrer Existenz, die Schmerzen der Vergangenheit, die verschollen waren tief in ihrer Seele.

Es klopfte an der Zimmertüre.

"Ich bin wach, du kannst hereinkommen", entgegnete Chikará wissend, dass es sich wohl um Hanryo handeln musste.

Er öffnete die Türe und trat ein, sie lächelte ihn müde an.

"Hast du gut geschlafen?", fragte er.

"Ja, das Bett ist viel besser zum Schlafen als der Schlafsack."

"Du hast achtzehn Stunden lang tief und fest geschlafen."

"Ich bin halt faul, und nach den gestrigen Ereignissen musste ich mich unbedingt etwas erholen."

Hanryo grinste flüchtig und setzte sich neben ihr auf die Bettkante. Chikará fiel dabei auf, dass er scheinbar keine Verletzungen oder Brüche mehr an Armen oder Beinen hatte, auch seine Schnittwunden am Kopf schienen bereits wieder verheilt zu sein. Er hatte ihr irgendwann einmal erzählt, dass Verletzungen bei Drachen viel schneller heilen als bei Menschen, aber dass der Heilungsprozess nur so wenig Zeit in Anspruch nehmen würde, damit hatte sie nicht gerechnet. Etwas müde und verschlafen betrachtete sie Hanryo. "Es sieht so aus, als wärst du wieder fit."

"Das waren doch nur ein paar Kratzer", sprach er schmunzelnd.

"Gestern reichten die aber noch dafür aus, dass du nicht ohne Hilfe gehen konntest."

"Wie du richtig erkannt hast, gestern war das so. Wie sieht es denn mit dir aus, bist du auch wieder in Ordnung?"

"Ja," antwortete sie gähnend. "Was ist für heute geplant?"

"Noch haben wir nichts vor."

"Ich brauche doch noch einen Kampfanzug, meine normale Kleidung ist, wie ich gestern gemerkt habe, nicht wirklich für unsere Abenteuer geeignet."

"Wir können uns gleich mal darum kümmern."

"War das eigentlich ernstgemeint, dass du nähen und schneidern kannst?"

"Natürlich, ich werde dir den besten Kampfanzug der Welt machen."

Sie lächelte. "Ich bin gespannt."
 

Eine halbe Stunde später begann im Wohnzimmer das große Unterfangen. Hanryo holte Unmengen von verschiedenen Stoffen und Fäden aus seinen Schränken und legte sie auf den Tisch, während Chikará bereits mit Papier und Bleistift anfing, erste Entwurfsskizzen zu zeichnen, um ihren Gedanken Ausdruck zu verleihen. Eine kleine Nähmaschine sollte die Visionen wahrmachen, als Ideenquelle dienten die Erfahrungen und die Vorstellungsgabe der beiden. Chikará war inspiriert von der Kleidung von Vagabunden und Überlebenskünstlern aus den Slums, an die sie sich noch erinnern konnte, und in denen sie damals Vorbilder gesehen hatte. Dunkle Stoffe, teils mit kleinflächigen, herausstechenden Farbmustern oder Symbolen an einigen Stellen, Plastik, Jeans und Polyester als Grundmaterial, eventuell auch Leder, schmal zusammengeschnitten, aber nicht zu offenherzig und trotzdem bequem. Hanryo blieb eher realistisch und nahm als Ideal die Kampfanzüge von Söldnern und Kriegern, solche Modelle kannte er gut und wusste aus seiner Zeit als Soldat, dass sie wohl am besten geeignet waren als Kleidung für solche Abenteuer und Reisen, wie sie den beiden noch bevorstanden. Baumwollstoffe in dunklen, grauen oder tarnenden Farbkombinationen, weit an Beinen und Armen für Bewegungsfreiheit, viele Taschen für kleine Utensilien, elegant und robust zugleich. Eigentlich zwei völlig unterschiede Ansätze, aber man konnte sich ohne Probleme einigen, Hanryo schaffte es, durch gute Argumente viele von Chikarás utopischen Vorstellungen zu zerstören, und sie damit von seinen eigenen Vorschlägen zu überzeugen. Sie hatte in der Zwischenzeit auch immer mehr verstanden, dass es richtig war, auf ihn zu hören, da er wirklich viel Ahnung, viel mehr Ahnung als sie vor allem, von der heutigen Welt und der Vergangenheit hatte. Seine Worte waren immer wahr, wenn er etwas nicht wusste, dann stand er dazu, anstatt zu lügen, deshalb hatte er sich für Chikará zu einem weisen Freund und Lehrer entwickelt. Aber dennoch hatte auch sie viel Einfluss auf den Schlussskizze ihres Kampfanzuges, da Hanryo niemals zuvor Kleidung für eine Frau geschneidert hatte und somit bei einigen Teilen etwas ratlos gewesen wäre ohne ihre Hilfe. Als der gezeichnete Entwurf entgültig fertig, begaben sie sich mit Nähmaschine, Nadeln, Scheren, Fäden, Stoffen und einigen Kleidungsstücken der beiden, die noch Verwendung fanden, an die anspruchvolle Aufgabe. Eigentlich übernahm Hanryo den größten Teil der Arbeit, Chikarás schneiderische Fähigkeiten reichten gerade mal zum Flicken von kleinen Rissen oder Löchern aus, daher beschränkte sich ihre Hilfe auf einen wachenden und aufmerksamen Blick. Sie fand es interessant und war verwundert, wie leicht das alles doch eigentlich war, wenn man wusste, wie es zu machen war.
 

Nach ungefähr fünf Stunden war der Kampfanzug fertig. Er bestand aus einer Hose, einem Oberteil, einem Mantel, einem Paar Turnschuhe und einigen kleineren Zusatzkleidungsstücken, die das Gesamtwerk ergänzten.

Die Hose war ursprünglich eine dünne, weiße Baumwollhose eines alten Kampfsportanzuges von Hanryo, da Chikarás Beine zu dünn waren für die weite Hose, wurde sie zunächst um ein Drittel enger gemacht, an den Knien nähte Hanryo kleine, unauffällige Polster ein. Eine dunkelgraue Polyesterschicht wurde auf die Außenseite der gesamten Hose angenäht, so dass die robuster und wasserabweisend wurde. An den Beinenden wurde sie schließlich noch etwas enger geschnitten, damit sie später nicht über die Schuhe bis zum Boden rutschen würde. Die vielen schwarzgrauen Nähfäden waren am Ende nahezu unsichtbar. Eine halbeingenähte, dunkelbraune Lederkordel sollte die Hose am Körper festhalten.
 

Das Oberteil war eine schwarze Polyesterweste von Chikará mit V-Kragen, die früher relativ weit war, Hanryo hatte auch sie etwas enger geschnitten, so passte sie besser und würde ihre Trägerin beim Kampf nicht behindern. An der Vorderseite nähte er kleine schwarze Knöpfe an, sie würden die Weste fester zusammen halten als der ursprüngliche Reisverschluss, den er zuvor entfernt hatte. Drei dünne, an der Rückseite eingenähte, dunkelbraune Ledergürtel, die um die Taille gingen und vorm Bauch zuzuschnallen waren, garantierten ebenfalls die Festigkeit und den Halt der Weste. Die Gürtelschnallen waren dunkelsilbern, glänzten aber nicht im Licht und gaben den sonst so monotonen Schwarz der Weste eine kleine, dezente Abwechslung.
 

Der Mantel war aus hellgrauer Baumwolle, es war dasselbe Modell, das Hanryo oft trug, jedoch war es für Chikará viel zu groß und berührte sogar den Boden, wenn sie es trug. Darum kürzte Hanryo ihn und nähte ihn ein wenig enger, in der linken Innenseite befestigte er zudem noch die Ummantelung eines kleinen Dolches, der im Notfall als kleine Geheimwaffe dienen würde. Wie bei der Weste, so hielt auch beim Mantel, ein Gürtel das Kleidungsstück an der Hüfte zusammen, der den normalen Knopfverschluss verstärkte.
 

Ein Paar schwarze Turnschuhe von Chikará wurde von innen mit Plastik verstärkt und damit wasserabweisend, die Baumwollschürriemen wurden durch stabilere, dunkle Nylonfäden ersetzt.
 

Vollendet wurde der Kampfanzug durch schwarze, leichtgepolsterte Ellebogenbandagen und schwarze Lederhandschuhe, von denen die Fingerteile abgeschnitten wurden, und die einen besseren Halt am Schwertgriff bewirken sollten, für ihre Wunde am Hals reichte ein normales, schwarzes Halstuch.
 

Als Chikará die gesamte Montur angezogen hatte, fühlte sie sich unerwartet wohl in ihr. Sie hatte eigentlich damit gerechnet, dass alles zu unbequem und eng wäre, aber nun tastete sie staunend ihre neue Kleidung ab, sichtlich begeistert und überrascht, denn alles passte ihr wie angegossen.
 

"Gefällt es dir?", fragte Hanryo, die Antwort eigentlich schon kennend, und hielt ihr einen kleinen Spiegel vor.

Lächelnd betrachtete sie ihr Spiegelbild, sie musterte mit ihrem Blick alle Stellen ihres Kampfanzuges ab und nahm unterschiedliche Posen ein, um sehen zu können, ob nicht irgendwo ein Loch oder Fehler wäre, aber aufgrund Hanryos gewissenhafter Arbeit fand sie nichts. "Nicht schlecht, wirklich nicht schlecht. Von so einem Outfit habe ich schon immer geträumt, wirklich. Feminine Kleider mag ich ja nicht, und daher war solche Kleidung für mich schon immer das Optimalste. Ich finde, ich sehe jetzt wie eine Endzeitkämpferin aus."

"Bist du das denn nicht auch?"

"Nein, nicht ganz, ich denke nicht, dass wir bereits die Endzeit der Welt erreicht haben. Das Einzige, was mich ein bisschen stört, ist das alles so einfarbig ist, so monoton, ich mag zwar Schwarz und das helle Grau des Mantels und das dunkle der Hose gefällt mir auch sehr, aber etwas mehr Farbe könnte schon noch dazu, denkst du nicht?"

"Kein Problem." Hanryo holte aus einem Schrank zahlreiche Aufnäher und zeigte sie Chikará, die sich ein paar von ihnen aussuchte. Sie zog den Kampfanzug wieder aus und wählte die Stellen aus, wo Hanryo ihr die bunten Zeichen und Symbole aufnähen sollte. Auf dem linken Oberarm des Mantels sollte hochkant die ,Flagge des Ostens', ein schwarzer Stern auf rotem Grund, und auf dem rechten Oberarm, ebenfalls hochkant, das Schriftzeichen für ,Schwertkampf' in weiß mit rechteckigem, schwarzem Hintergrund. Ungefähr in Brusthöhe, links auf der Vorderseite des Mantels wollte sie einen ,kleinen dunkelgrünen Drachen', und auf der Rückseite hochkant, groß in dunkelblau, die zwei Schriftzeichen für ,Jishu', obwohl sie eigentlich gar nicht genau wusste, wer diese Jishus überhaupt waren. Die Weste sollte am Rücken einen ,großen roten Drachen' bekommen, über dem groß das weiße Schriftzeichen für ,Drache' gedruckt war, und für vorne, auf die linke Brustseite der Weste, wählte sie einen hellgrauen Kreis, in dem die schwarzen Schriftzeichen waren, die für ,Soldat' stehen, aus. Um den unteren Teil des linken Hosenbeins, bis zum Knie im etwa, sollte sich ein dunkelgrüner Drache schlängeln und hochkant an der Außenseite des Oberschenkels am selben Hosenbein nähte Hanryo in hellblau das Schriftzeichen für ,Macht' auf.
 

Als alle Embleme aufgenäht waren, nannte Chikará ihren neuen Kampfanzug völlig begeistert ,perfekt', Hanryo fand zwar, dass er nun wie ein Clownsanzug aussehen würde, wegen der vielen bunten Schriftzeichen und Symbolen, aber solange es der Trägerin gefiel, akzeptierte er es so. Nachdem Chikará ihn erneut angezogen hatte, wollte sie ihn überhaupt nicht mehr ausziehen, so sehr gefiel er ihr. Sie bedankte sich vom ganzen Herzen bei ihrem Gefährten für dessen großartige Arbeit, sie selbst hätte solch ein Meisterwerk niemals alleine schneidern können. Als die vielen Nähwerkzeuge wieder aufgeräumt waren, aßen die beiden noch eine Hühnersuppe, und da es inzwischen bereits wieder Abend war, gingen sie sich danach schlafen legen, die lange Arbeit an Chikarás Anzug hatte sie sehr müde gemacht, zwar hatte sie sie nicht so sehr entkräftet wie ein Kampf, dennoch waren sie derart erschöpft, dass sie beide schnell einschliefen.
 

Am nächsten Tag hatte Hanryo eine kleine Überraschung für Chikará. Nach dem Mittagessen gingen sie zusammen in die Stadt, um sich ein Theaterstück anzusehen. Als er ihr am Morgen davon berichtet hatte, fiel sie aus allen Wolken, so etwas hatte sie ihn wirklich nicht zugetraut, er, der harte Kämpfer, schaute sich Theaterstücke an. Es war schon ein kleiner Schock für sie, sie hatte sich schon auf brutale Schwertkämpfe und verrottete Ruinen oder ähnliches vorbereitet, eben auf ihre typischen Ausflugsziele, was aber nicht heißen sollte, dass sie sich über diese Idee nicht freute, sie war davon fast genauso begeistert wie von ihrem neuen Kampfanzug. Sie konnte sich an ihren letzten Theaterbesuch nicht mehr zurückerinnern, es musste eine Ewigkeit hergewesen sein, sofern es überhaupt einmal einen gab.

Das Stück, das sie sich ausgesucht hatten, hieß ,Der Krieger des Königs', es handelte sich um eine Komödie, die auf einer alten, regionalen Volkserzählung basierte. Der einsame Held, der weder kämpfen noch singen konnte, versuchte sich als Hofsänger beim König. Bei einem großen Fest, bei dem er nicht spielen durfte, erfuhr er von Intrigen gegen den König. Er rettete ihn dadurch das Leben und wurde vor die Wahl gestellt, entweder die wunderschöne Tochter des Königs zur Frau zu nehmen oder einen Posten als Hofmusiker zu erhalten, er bevorzugte natürlich letzteres.
 

Hanryo fand großen Gefallen an der Aufführung und musste oftmals laut lachen, Chikará hingegen schien eher gelangweilt, sie konnte sich für die zahlreichen lustigen Momente nicht so sehr begeistern wie ihr Gefährte. Nichts desto trotz war ihr der Theaterbesuch eine willkommene Anwechslung zu ihrem normalen Alltag, dass ihr die Aufführung nicht gefallen würde, konnte Hanryo ja nicht erahnen, deshalb war sie ihn gegenüber insgesamt dennoch sehr dankbar für diese Überraschung. Aus Sympathie gab sie vor, die Darbietung amüsant und unterhaltsam zu finden, auch wenn ihr Lachen teils sehr aufgesetzt klang. Sie bildete sich anfangs auch ein, dass das Theaterstück eine versteckte Anspielung auf sie selbst sein sollte, da sie, ebenso wie der Held, nicht allzu gut kämpfen konnte, aber sie sah glücklicherweise schnell ein, dass dabei etwas zu viel Fantasie von ihr mit im Spiel war. Sie fragte sich anschließend umso mehr, woher diese Ansätze von Misstrauen gegenüber Hanryo plötzlich wiederherkamen, sie vertraute ihn doch mittlerweile völlig, oder etwa nicht?
 

Als die Aufführung zuende war, gingen die beiden noch etwas durch die Stadt spazieren, wo Chikará vor einem Schmuckgeschäft stehen blieb. Durch das Schaufenster betrachtete sie fasziniert die unzähligen, bildhaftschönen Edelsteine und Metallverarbeitungen, wie gerne hätte sie ein wenig von diesem schönen Schmuck gehabt, es musste viel nicht sein, nur ein wenig. Sie besaß keine einzige Kette oder Anhänger, überhaupt nichts in der Art, nicht einmal eine Armbanduhr, sie wusste aber auch, wie sinnlos es wohl gewesen wäre, Hanryo um so etwas zu bitten, da er nur Geld für Kampfkleidung, Waffen und Essen ausgab, nicht für zwecklosen Zierrat. Ein letzter träumender Blick auf das glänzende und schimmernde Gold und Silber der Schmuckstücke, und Chikará drehte sich mit einem leisen Seufzen weg vom Schaufenster.

"Gefällt dir etwas davon?", fragte Hanryo auf einmal.

Sie wendete sich sehr verwundert zu ihm, weil sie ihren Ohren nicht trauen wollte. "Darf ich mir von deinem Geld etwas davon kaufen?"

"Es ist nicht mein Geld, es ist unser gemeinsames Geld, es gehört dir ebenso wie mir. Sofern es nicht zu teuer ist, suche dir etwas aus, das dir zusagt."

Chikarás Augen öffneten sich so weit wie die eines kleinen Kindes, das Süßigkeiten bekam. "Danke, vielen Dank!" Sie konnte sich in diesem Moment absolut nicht erklären, wieso er ihr das erlaubte, warum wollte er ihr Verhältnis derart verbessern? Sie war doch bereits so, wie sie seiner Meinung nach sein sollte, weshalb noch diese unnötige Gutherzigkeit? Chikará befasste sich damit nur kurz und flüchtig, die große Freude gewann schnell die Überhand, entfesselt und strahlend lief sie in den Laden und probierte zahlreiche Halsketten an. Der Verkäufer wunderte sich ein wenig darüber, dass sie ihren Hals verhüllt hatte, was ja eigentlich im Sommer nicht gerade üblich war, selbst wenn sie ein Schmuckstück angelegt hat, behielt sie ihr schwarzes Halstuch an. Es dauerte nicht lange, bis sie unter den vielen Kostbarkeiten etwas fand, das ihrem Geschmack entsprach. Da es Hanryos Geld war, ließ Chikará ihn die entgültig Entscheidung zwischen drei verschiedenen Ketten treffen, die alle ungefähr denselben Preis hatten. Er entschied sich spontan für eine silberne mit dem Schriftzeichen für ,Engel', und als Begründung meinte er, dass dieser Begriff sehr passend wäre für die Trägerin. Chikará nahm das natürlich nicht allzu ernst und kicherte kopfschüttelnd über diese sehr überzeugende Erklärung, dennoch gefiel auch ihr jene Kette von den dreien irgendwie am besten.
 

Später am Abend, besuchten die zwei eine kleine Wirtschaft, Hanryo lud seine Gefährtin auf ein paar Gläser Sake ein. Sie setzten sich im Freien auf einer Terrasse an einem runden Holztisch nahe der Straße, zu dieser Zeit gingen noch viele Leute durch die Stadt, während am Horizont langsam die Sonne in einem Meer aus Rottönen verschwand.

Als Chikará zwei Gläser Sake leer getrunken hatte, der ihr so gut geschmeckt hatte, dass sie kurz davor war, ihr drittes Glas zu bestellen, erinnerte sie sich ohne ersichtlichen Grund schlagartig an das Erlebnis mit Arai zurück. Ihr wurde wieder bewusst, welche Konsequenzen ihre Trinkerei schon einmal gehabt hatte. Sie änderte sofort ihre Meinung, der bereits getrunkene Alkohol kam ihr nun wie Gift mit ekelhaftem Geschmack vor, sie bestellte danach nur noch Mineralwasser, was Hanryo sehr verwunderte, er war sich schließlich etwas anderes von ihr gewohnt. Trotzdem war er zugleich irgendwo froh darüber, dass Chikará nicht anfing, sich sinnlos zu betrinken, wovon sie ja nicht wirklich abgeneigt war. "Warum trinkst du keinen Sake mehr, ich dachte, das wäre dein Lieblingsgetränk?"

"Mein Magen macht mir Probleme." Sie griff sich mit vorgetäuschten, schmerzerfüllten Blick an den Bauch. "Mir wird davon irgendwie etwas übel heute." Sie wollte ihn nicht noch mehr Lügen erzählen und wechselte deshalb das Thema. "Die Theateraufführung hat mir gut gefallen, danke dafür, und natürlich auch für die schöne Kette und für den tollen Kampfanzug, danke."

Hanryo grinste. "Man muss einer Kaiserin eben etwas bieten."

"Ach, nenne mich nicht Kaiserin, das bin ich nicht wirklich, nur wegen meiner Art und Abstammung? Nein, ich komme aus den Slums der Ostmetropole, dort ist meine wahre Heimat."

"Siehe es, wie du willst, am Ende wirst du immer unsere Kaiserin sein und es bleiben, ob du es willst und es glaubst oder nicht."

"Ich glaube es dir ja, nur fällt es mir selbstverständlich schwer etwas zu glauben, an das ich mich nicht mehr erinnern kann, ich denke, das wäre bei jedem in meiner Situation so."

"Übe dich doch mal etwas mehr in Geduld, die Antworten auf deine Fragen werden kommen, es dauert nur noch etwas, ich kann das leider nicht ändern."

"Ich weiß, und dennoch erwarte ich sie so sehnsüchtig."

"Vertraue mir einfach nur, dann werden wir es schaffen." Er reichte ihr seine Hand, sie zögerte zunächst kurz, ergriff sie dann aber doch noch, sie war warm und stark. In ihrem Blick erkannte Hanryo einen Hauch von verstecktem Misstrauen, welches er jedoch nicht ansprach. "Hast du dich zufällig noch mal an irgendetwas erinnert?", fragte er anschließend. "Irgendetwas aus deiner Vergangenheit, vielleicht noch nachträglich durch den Besuch in Ryuchengshi oder etwas Anderes?"

Sie überlegte gründlich und angestrengt, die Kraft des Griffes ihrer Hand ließ dabei spürbar nach. "Nein." Sie nahm ihre Hand wieder weg. "Da ist leider immer noch diese Leere in meinem Kopf." Als sie noch einige Momente lang weiter nachgedacht hatte, erinnerte sie sich an ihren letzten Traum. "Kennst du zufällig einen gewissen Hiran, Hiran", stotterte sie, weil ihr der genaue Name nicht mehr einfiel. "Jedenfalls irgendetwas mit ,Hiran' am Anfang, wahrscheinlich ein Mann?"

"Hiranyaksha?"

"Ja, genauso hieß er."

Hanryo kratzte sich am Kopf und schaute Chikará direkt in die leuchtenden, smaragdgrünen Augen. "Woher kennst du ihn?"

"Ich kenne ihn eigentlich nicht, ich habe nur seinen Namen vor kurzem irgendwann einmal aufgeschnappt."

"Wo oder wodurch hast du denn von ihm gehört?"

"Ich habe keine Ahnung mehr, woher ich ihn kenne, wer ist das denn?"

"Er war ein Mitglied der Kaisergarde, er müsste aber heute, soweit ich es weiß, tot sein?"

Sie überlegte weiter, hatte aber nicht vor, die wahre Quelle ihrer Information preiszugeben. "Vielleicht ist er auch tot, ich habe mich vielleicht auch nur verhört und irgendwer hieß nur so ähnlich."

"Er war kein freundlicher Zeitgenosse, er war ein fanatischer Anhänger deines Vaters."

Sie grinste kurz. "Ja, ja, damit wären wir wieder einmal bei meinem netten Vater." Sie unterbrach und wurde wieder ernsthaft. "Könnte ich diesen Hiranyaksha irgendwann einmal in meinem Leben getroffen oder gesehen haben?"

"Vielleicht, vielleicht auch nicht, ich will es nicht völlig ausschließen."

Es folgte ein kurzes Schweigen, dann begann Chikará ein anderes Thema.

"Was ist eigentlich die nächste Etappe unserer Reise?"

"Der Dämonentempel."

"Der Name hört sich ja schon vielversprechend an", sprach sie mit einer gewissen Ironie.

"Dort ist etwas versteckt, dass du hundertprozentig schon einmal in deinem Leben gesehen haben musst, vielleicht könnte das ja dein Gedächtnis doch noch ein wenig auffrischen?"

"Meinen Vater habe ich auch hundertprozentig schon einmal in meinem Leben gesehen, und ich konnte mich beim Anblick seines Abbildes trotzdem an nichts erinnern."

"Warum bist du so pessimistisch, warte doch erst mal ab? Glaube mir, wenn du deine Vergangenheit besser kennen würdest, wärst du bestimmt auch nicht viel glücklicher."

"Warum meinst du das?"

"Wie gesagt, ich weiß zwar nahezu genauso wenig wie du, aber findest du nicht, dass es sehr naiv wäre, nur Positives zu erwarten?"

Sie konnte diese Worte gut nachvollziehen. "Du hast vielleicht recht. Bei meinem Vater und seinen Freunde habe ich, soweit ich dem, was ich bisher gehört habe, glauben schenken darf, nicht unbedingt die allerbeste Erziehung genossen. Trotzdem, wärest du an meiner Stelle nicht genauso neugierig, wenn dir in deinen Erinnerungen fast dein gesamtes Leben fehlen würde? Selbst das Risiko, Sachen zu erfahren, die man lieber nicht gewusst hätte, ist nichts im Vergleich zu der quälenden Ungewissheit."

"Ich habe nicht gesagt, dass du deine verlorenen Erinnerungen nicht zurückbekommen solltest, sei dir nur des Risikos bewusst, von dem du gerade gesprochen hast, und erwarte nicht nur Gutes von deiner Vergangenheit."

Chikará schaute hoch zum Himmel. "Nein, das werde ich nicht." Sie senkte ihren Blick wieder zu Hanryo. "Wann wollen wir zum Dämonentempel gehen?"

"Schon morgen früh, wenn du es willst?"

"Hast du denn noch ein zweites Schwert für mich?"

Er lachte. "Stimmt, das habe ich ja ganz vergessen, du hast ja dein wunderschönes und schweineteures Katana übergehauen!"

Sie wurde etwas rot im Gesicht vor Scham und nickte nur verlegen.

"Wie wäre es, wenn du dich jetzt, wo die Gelegenheit da ist, im waffenlosen Kampf übst?"

"Das meinst du aber nicht wirklich ernst, oder?"

"Doch. Ich kann dir in den nächsten Tagen gerne etwas beibringen, ich bin auf diesem Gebiet zwar kein Meister, aber für einen leichten bis mittelschweren Kampf wird das, was ich dir beibringen kann, allemal genügen, außerdem gibt es im Dämonentempel niemanden, der uns werden könnte."

"Deine Prognosen, was Feinde angeht, glaube ich sowieso nicht mehr."

Dämonentempel (Teil 2)

Nach einer halben Woche Training im waffenlosen Kampf, in der Chikará hauptsächlich richtiges und effektives Boxen sowie Treten gelernt hatte, begaben Hanryo und sie sich auf den Weg zum Dämonentempel des Ostens.

Eine zwanzig Stunden lange Zugfahrt in Richtung Südost war in Kauf zu nehmen, um zu jenem versteckten und geheimen Relikt aus der Vergangenheit zu gelangen. Da ihnen danach noch fünf Stunden Fußweg in einem Zedernwald bevorstanden, in dessen Mitte sich der Tempel befand, schliefen beide während der Zugfahrt, die an einem Nachmittag begann und erst am Morgen des drauffolgenden Tages endete. Somit konnten sie den restlichen Weg halbwegs ausgeschlafen bei Tageslicht antreten, und sofern alles, wie geplant ablaufen würde, würden sie dann bei Einbruch der Nacht wieder im Zug nach Hause sitzen. Chikará war sehr verwundert darüber, dass Hanryo keinerlei Waffen mitgenommen hatte, nicht einmal einen stumpfen Kampfstock oder ein kleines Messer trug er bei sich. Es deutete also alles daraufhin, dass ihnen entweder wirklich kein einziger Kampf bevorstehen würde, oder dass Hanryo dachte, seine Gefährtin wäre nun bereits erfahren genug im waffenlosen Kampf, dass sie keine Waffen mehr brauchen würden, um sich zu verteidigen. Da Chikará nicht glaubte, dass Hanryo so naiv wäre letzteres zu denken, erwartete sie die andere Möglichkeit, obwohl sie ihr sehr komisch erschien, vor allem weil sich nach ihren letzten Erlebnissen in Ryuchengshi ,Ruinenstätten' und ,Kämpfen' in ihrem Kopf nicht mehr voneinander trennen ließen.

Der Zedernwald war wohl einer der größten Forste in der Region, ihn ganz zu durchqueren hätte mehrere Tage gedauert, da er eine derart riesige Fläche einnahm. Es gab nur wenige Lichtungen, diese verliefen aber meistens, ohne große Umwege, geradeaus zum anderen Ende des Waldes, Hinweisschilder gab es ebenso wenig wie Wildhüter, dieses Gebiet war für die Menschen uninteressant, weil die Holzqualität der Bäume für ihre Ansprüche zu schlecht war. Deshalb waren die Verläufe der Wege für die seltenen Wanderer sehr rätselhaft, sie verliefen beinahe optimal, obwohl niemand sie jemals künstlich angelegt hatte, alleine die Natur hatte alles, scheinbar nur durch Zufall, so perfekt zusammenwachsen gelassen. Die Zedern trugen dunkelgrüne Zweige, bis zu dreißig Meter hoch ragten sie zum Himmel und ließen durch ihren dichten Wuchs nur wenig Sonnenlicht bis zum Boden hindurchdringen, wo kleine Gräser und Sträucher wuchsen. In den Lichtkegeln tanzten kleine Insekten und Blütenpollen, es roch überall nach Zedernzweigen und Gras, die Luft war etwas stickig und schwer. Während des Marsches über die Waldwege, die von heruntergefallenen Zweigen überdeckt waren, fragte sich Chikará oft, ob dieser lange und beschwerliche Weg sein Ziel wert wäre, oder ob sie der Besuch des Tempels auf ihrer Suche nach ihrer Vergangenheit auch nicht weiterbringen würde. ,Man sollte jede Chance nutzen', mit dieser Einstellung überwand sie den anstrengenden Pfad.

Hanryo kannte den richtigen Weg zum Tempel nur aus Erzählungen, und selbst diese Beschreibung war mehr als eigenartig. Man sollte den Singvögeln folgen, den Spatzen und Meisen des Waldes, denn sie suchten die Quelle des Tempels regelmäßig auf, da diese die einzige Wasserstelle des gesamten Waldes sein sollte, so hieß es. Er erzählte Chikará nichts von dieser eigenwilligen Wegbeschreibung, weil sie darüber bestimmt nur gelacht hätte, wenn nicht sogar deswegen den Erfolg dieser Expedition völlig in Frage gestellt hätte. Jedenfalls schien Hanryo selbst diese Variante ans Ziel zu gelangen dennoch halbwegs sinnvoll, der Tempel war sehr alt, als er errichtet wurde, war die Welt noch sehr jung, so erzählte man sich. Es gab damals weder einen Namen für diesen Wald noch einen für diese Region, wie anders hätte man also den Weg kennzeichnen sollen, wenn nicht mit solch einen primitiven Trick? Zum Glück bemerkte Hanryo bald am blauen Himmel einen Vogelschwarm, es waren wahrscheinlich Krähen, die sich nur sehr langsam und mit lautem Krächzen fortbewegten, ihnen folgten viele Nachzügler aus der Ferne. Ihre Laute waren unüberhörbar, ihr nicht gerade schneller Flug vom Boden aus gut sichtbar, man konnte ihnen leicht folgen. Hanryo erklärte Chikará sein ständiges Aufblicken zum Himmel damit, dass man den richtigen Weg mit Hilfe des Einfallswinkels der Sonnenstrahlen erkennen konnte, wenn man zu dieser Tageszeit stets senkrecht zu unter Sonnenstrahlen stehen würde, wäre man auf dem richtigen Weg. Chikará genügte diese Erklärung, immerhin sah sie in ihr eine gewisse Weisheit über die Welt und die Vergangenheit, die sie selbst nicht besaß, und ihr großes Vertrauen zu Hanryo besiegte die kleinen Zweifel, die blieben.

Sechs Stunden später erkannten die beiden tatsächlich von weitem ein Gebäude aus hellem Holz, es musste der Tempel sein. Hanryo atmete tief durch, das alte Gerücht um den Weg schien zu stimmen, die Krähen flogen in der Nähe des Bauwerks zu Boden und verschwanden spurlos im Dickicht. Die Außenwände des Tempels bestanden aus Zedernholzbalken, das Dach war pyramidenförmig und mit dunkelgrauen Ziegeln bedeckt. Ebenfalls graue Steinstatuen von der Größe eines Menschen, die dämonische Kreaturen zeigten, standen rechts und links neben der Eingangspforte. Sie trugen Rüstungen und waren mit Speeren und Schwertern bewaffnet, hatten Hörner und spitze Zähne, ihre Blicke wirkten dadurch aggressiv und beinah schon furchteinflössend auf den Betrachter. Chikará stupste eine der Statuen leicht mit der Hand an. "Er scheint zum Glück wirklich aus Stein zu sein."

"Du willst mir doch wohl mit etwa erzählen, dass diese beiden Wächterfiguren dir Angst gemacht haben?", erwiderte Hanryo belächelnd.

"Nein, das nicht, ich wollte mich nur endgültig vergewissern, dass sie aus Stein sind."

"Mogui-Tera-Isuto heißt dieser Ort, der östliche Dämonentempel."

"Wieso hat man denn damals Dämonen zu Ehren Tempel errichtet?"

"Das hängt mit der Legende vom Ursprung der Welt zusammen. Kennst du sie?"

"Meinst du, in den Slums hätte sie mir irgendwann einmal jemand erzählt?", entgegnete Chikará anmaßend und schaute zu ihrem Begleiter.

"Am Anfang der Zeit, lange bevor die ersten Menschen oder Drachen die Welt betraten, gab es einen schrecklichen Krieg zwischen Dämonen, den Geisterwesen des Bösen, und Engeln, den Geisterwesen des Guten. Dieser Tempel wurde einem der Anführer der Dämonen zu Ehren errichtet, dessen Name war Teriel."

"Wer hat diesen Tempel errichtet, die Dämonen selbst?"

"Das weiß heute niemand mehr genau."

"Und was hat dieser Tempel nun mit meiner Vergangenheit zu tun?"

"Wir müssen hineingehen, dort kann ich es dir zeigen."

Chikará ging an den Figuren vorbei zur Eingangspforte. Gerade als sie mit ihrem Fuß auf die Eingangsschwelle treten wollte, hörte sie von hinten Hanryos laute Stimme. "Stop! Was fällt dir ein? Hast du überhaupt keinen Respekt vor diesem Heiligtum?"

Sie drehte sich verwundert um. "Was ist los?"

"Das hier ist ein heiliger Tempel, ziehe deine Schuhe aus, bevor du eintrittst."

Chikará lachte, weil sie diese Aufforderung absolut irrsinnig fand. "Ich bin Atheistin, was interessieren mich die Heiligtümer von Dämonen? Ich kenne bisher nur einen einzigen Dämonen, und der war nicht gerade freundlich zu mir, wieso sollte ich also Respekt vor denen haben?"

"Du weißt doch wohl, dass es Sitte ist, ohne Schuhe Tempel oder Schreine zu betreten? Wieso müssen wir darüber diskutieren, ziehe doch einfach deine Schuhe aus, ich tue es auch."

"Wenn es dich glücklich macht." Sie gab nach, bückte sich und begann die Knoten ihrer Schnürsenkel zu lösen. "Du hast gewonnen, ich ziehe sie aus, auch wenn ich den Sinn dieser Aktion keineswegs nachziehen kann oder nachziehen möchte."

Als beide ihre Schuhe ausgezogen hatten, betraten sie das Heiligtum. Chikará verstand zwar immer noch nicht, warum sie, als Religionslose, ungedingt ihre Schuhe ausziehen musste, aber warum sollte sie über solch eine Banalität lange nachdenken? Lieber studierte sie die beeindruckende Architektur der Tempelanlage. Wenn diese Baute wirklich so alt sein sollte, wie Hanryo es gesagt hatte? Wenn ja, so hatte sich der Baustil der Tempel von damals bis heute nicht sonderlich verändert. Seltsam, dass alles die Zeit so gut überdauert hatte, im Vergleich zu Ryuchengshi war in dieser Anlage nahezu nichts beschädigt, nichts war von Spinnweben oder Staub überdeckt. Der Weg durch das Heiligtum war dunkel, kleine Lichtfetzen durchdrangen die wenigen, wahrscheinlich gewollten, Löcher in der Dachkonstruktion, Bruchteile der Innenwände wurden durch sie erhellt, welche reich verziert waren mit Tuschezeichnungen. Was genau auf ihnen zu sehen war, konnte man in der Dunkelheit nicht erkennen, aber die kleinen, sichtbaren Ausschnitte zeugten vom großen Talent der Zeichner. Es waren wahrscheinlich Darstellungen von Landschaften, Bäumen, Blumen, Seen und Bergen, nicht von dämonischen Wesen wie den Statuen am Eingang. Ein sehr helles Licht war am Ende des Ganges zu sehen, es musste Sonnenlicht gewesen sein, der Weg endete im Freien. Eine grüne Wiese am Boden und ein Steinblock waren bereits von drinnen zu erkennen. Draußen angekommen, kamen die beiden in einen quadratischangelegten Garten mit Unmengen von bunten Blumen, wie Orchideen oder Chrysanthemen, ihr angenehmer Duft lag in der Luft. Umrandet von einer hohen Holzmauer blühte eine ungeahnt schöne Vegetation, ganz ohne Menschenhand existierte sie fern ab der bekannten, menschlichen Zivilisation. Chikará faszinierte die Schönheit dieses versteckten Gartens, sie fragte sich nur, was dies alles hier mit Dämonen und vor allem mit ihrer Vergangenheit zu tun haben sollte? Im Zentrum des Gartens war ein steinerner Altar, die hellen Sonnenstrahlen schienen senkrecht auf seine Oberfläche. Hanryo ging über einen Kieselpfad zu ihm, dort angekommen wendete er sich zu Chikará. "Komme her, hier ist es."

Sie folgte ihm langsam zum Altar, dessen Seiten mit Schriftzeichenreliefen verziert waren. Sie sah ein altes Kurzschwert, ein Wakizashi, dessen Ummantelung fehlte, mitten auf dem Altar liegen. Die Klinge war verrostet und an der Spitze abgebrochen, viele Kerben, Risse und Kratzer befanden sich entlang der scharfen Schneideseite. Der Griff war umwickelt von einem zerfetzten, schwarzen Tuch mit Blutflecken, kleine Schriftzeichen waren am Ende des Griffs und am Übergang zur Klinge zu erkennen, da sie aber nur sehr undeutlich eingearbeitet waren, konnte Chikará sie nicht entziffern. Sie dachte beim Anblick dieser sehr alten Waffe, dass jene wohl jeden Moment völlig zerfallen und sich in Staub auflösen würde. Irgendetwas Besonderes musste dieses Schwert an sich haben, wozu sollte es sonst in diesem Tempel, so gut versteckt von den Menschen, sein? Aber welchen Zweck hatte diese scheinbar unbrauchbare Rostklinge nur? Chikará hatte keine Ahnung, wieso ihr Gefährte sie hierhin geführt haben könnte, aber nur um so ein altes Wakizashi zu sehen wohl kaum. Nein, es musste viel mehr dahinterstecken, nur was? Als sie direkt vor dem Altar stand und ihre Hand zum Schwert hin ausstreckte, um es mit der Hand zu berühren, sah Chikará plötzlich einen hellen Blitz vor ihren Augen, der sie blendete.

*

Der Klang von Metall, das schnell durch die Luft gezogen wurde. Das Rotbraun von verrostetem Metall. Dann ein stechender, tiefer Schmerz am Hals. Der schlimmste und intensivste Schmerz, den sie bis dahin jemals gespürt hatte. Wie als würde ihr Körper bei lebendigem Leibe verbrennen. Er war nahezu unerträglichstark. Blut. Das erste Mal in ihrem Leben, dass sie blutete, dass sie ihr eigenes Blut sah. Danach, sah sie nichts mehr. Sie hörte noch, wie irgendjemand ihren Namen aussprach. Danach hörte sie nichts mehr.

*

Noch bevor ihre Finger die Waffe berührt hatten, wurde Chikará ohnmächtig und fiel zu Boden. Hanryo reagierte sofort und fing sie auf, sodass sie nicht auf den Boden aufschlug, anschließend ließ er ihren weggetretenen Körper sanft auf den weichen Kiespfad gleiten. Er kniete sich neben ihr hin und hielt behutsam ihren Kopf hoch. "Chikará", sprach er leise und mit ein wenig Angst, sie öffnete daraufhin langsam ihre Augen. Wie in Trance riss sie sich mit der rechten Hand ihr Halstuch ab. Ihre Wunde blutete. "Ich blute", hauchte sie mit schwerer, fremdklingender Stimme. "Ich blute, zum zweiten Mal in meinem Leben."

"Hast du dich an etwas aus deiner Vergangenheit erinnert?", fragte Hanryo angespannt.

"Ja." Sie richtete sich noch etwas benebelt und schwankend auf und starrte auf das Schwert. "Ja, ich erinnere mich."

Hanryo stellte sich hinter sie und betrachtete sie mit einer gewissen Mischung aus Mitleid und tiefer Sympathie.

"Dieses Schwert", fuhr sie fort. "Es hat mir die Wunde am Hals zugefügt. Ich hatte gerade eine Vision, wahrscheinlich davon, wie mich diese Waffe einst fast getötet hätte."

"Eine Vision?" Er legte seine rechte Hand sanft auf ihre linke Schulter. "Hast du noch mehr gesehen?"

"Nein." Sie nahm seine Hand vorsichtig weg und schloss ihre Augen. "Nur den Schlag, weder was davor, noch was danach geschah, und nicht wer die Waffe führte."

"Immerhin." Er stellte sich direkt neben sie und schaute nun, wie sie, auf das Schwert. "Du hast dich überhaupt an etwas erinnert."

"Diese Erinnerung hatte mir auch genauso gut erspart bleiben können", kommentierte sie seine Bemerkung mit leichter Wut. "Der Schmerz, ich habe ihn genauso so stark gefühlt, wie damals, als die Klinge mein Fleisch aufschnitt."

"Dieses Schwert ist die Waffe Teriels, mit ihr besiegte er einst die Engel. Niemand weiß genau, wie sie entstanden ist, wer sie geschmiedet hat, und welche dämonischen Zauberkräfte der alten Welt verwendet wurden, die heute längst nirgendwo anders mehr existieren, als im verfluchten Metall dieses Wakizashis."

"Deshalb konnte mich diese Waffe also verletzen?" Sie wurde wieder etwas ruhiger und gelassener.

"Ja, wahrscheinlich nur aus diesem einzigen Grund. Gerüchten zufolge wurde mit ihr auch dein Vater getötet. Die Menschen sollen während des großen Krieges gegen unser Volk, vom Krieg der Dämonen am Anbeginn der Zeit gehört haben und damit auch von dieser Waffe. Sie fanden sie angeblich, den Rest kannst du dir denken. Es sind zwar nur Erzählungen, aber wie sonst sollen sie unsere Macht und deine Unverwundbarkeit gebrochen haben?"

"Nur mit diesem verrosteten Kurzschwert also." Sie schüttelte ungläubig den Kopf. "So einfach kann man mich und meinesgleichen also doch töten."

"Es ist nahezu unvorstellbar. Deine Art, die den Göttern von der Macht her beinahe gleich ist, kann so leicht ausgelöscht werden."

"Es muss dieses Schwert gewesen sein, wieso sollte ich sonst jetzt bluten?" Sie zog sich wieder ihr Halstuch an, die Wunde blutete nur noch schwach.

"Es ist die einzige Waffe auf der Welt, das Einzige überhaupt auf der Welt, das dich verletzen und töten kann."

"Ich weiß es." Chikará senkte ihr Haupt. "Können wir dieses Schwert nicht irgendwie zerstören?" Nachdem sie diese Frage gestellt hatte, fiel ihr selbst auf, wie naiv sie war.

"Nein, leider nicht. Nur wahre Götter können solche Reliquien der alten Zeit zerstören, kein Mensch, kein Drache, auch kein Kaiserdrache vermag es sonst."

Sie dreht sich zu Hanryo und schaut ihm verzweifelt in die Augen. "Glaubst du, es gibt jemanden auf dieser Welt, der dieses Schwert sucht, um mich damit zu töten?"

"Nein, ich denke das nicht, aber sei dir bewusst, mit dieser Waffe bist du verwundbar, so verwundbar wie ein Mensch gegen jedes normale Schwert. Es kann dich töten, es hätte dich wohl schon einmal fast getötet."

"Ja." Sie seufzte und wurde sehr nachdenklich. "Dennoch, wissen viele von diesem Tempel hier und seinem Geheimnis?"

"Nur sehr wenige, die meisten sind Drachen wie wir, und die würden sowieso nicht versuchen dich zu töten, dich als ihre Kaiserin. Es ist hier sicherer versteckt, als du meinst. Hierhin kommt niemand, kein Mensch und auch sonst niemand, der vorhätte dich zu töten, und der die Macht dieses Schwertes kennt."

"Trotzdem, es macht mir allein schon große Angst, dass diese Waffe überhaupt existiert."

Er umarmte sie fest. "Habe keine Angst." Sie legte ihren Kopf an seine Schulter und weinte dabei unauffällig einige kleine Tränen.

Dämonentempel (Teil 3)

Hanryo und Chikará fuhren mit einem leeren Nachtzug zurück nach Hause. Sie waren die einzigen im Personenwagon und setzten sich in einem Abteil gegenüber an der Fensterseite. Hanryo las eine Zeitung, die irgendwer dort auf dem Platz liegen gelassen hatte, während Chikará ziemlich erschöpft auf vier nebeneinanderliegenden Sitzplätzen lag, ihr Mantel diente ihr als Decke, sie schlief aber nicht, sondern schaute aus dem Fenster hinaus zum dunklen Nachthimmel. Sie hätte gerne geschlafen, aber sie konnte es nicht, weil ihr Verstand immer noch sehr aufgewühlt war, dass es ihr unmöglich war, Ruhe zu finden. Sie konnte es nicht fassen, dass irgendwann einmal in ihrem Leben dieses verfluchte kleine Rostmesser für sie fast den Tod bedeutet hätte. Auch wenn sie sonst unverwundbar war, mit dieser Waffe war sie sterblich und das machte ihr Angst. Zum ersten Mal, nachdem sie von ihrer wahren Herkunft und Abstammung erfahren hatte, spürte sie eine gewisse Existenzangst, eine Angst vorm Tod, vorm Ende. Dieser großen Furcht waren die Menschen immer ausgesetzt, auch Chikará selbst, als sie sich früher für einen normalen Menschen gehalten hatte, aber nun wurde ihr erneut bewusst, wie schlimm es war, wenn man ständig Angst um sein Leben haben musste. Wovor hatte sie Angst? Menschen hatten auch nicht ununterbrochen Angst vorm Tod, redete sie sich ein. Menschen konnten durch alles mögliche sterben, sie nur durch diese eine Waffe, wieso hatte sie also derart große Angst davor zu sterben, wenn doch die Chance eigentlich derart gering war? Vielleicht weil ihr Vater wohl dasselbe Ende gefunden hatte? Aber es gab doch keine Verbindungen zwischen ihr und ihrem Vater, vielleicht gab es sie niemals, warum kümmerte sie dessen Schicksal auf einmal? Chikará flüchtete sich in ein Gespräch mit ihrem Gefährten, um das Chaos in ihren Kopf zu unterdrücken. "Hanryo?"

Er schaute sie daraufhin an und legte die Zeitung weg. "Ja."

"Wovor fürchtest du dich am meisten auf dieser Welt?"

Er zögert mit der Antwort, da er kurz darüber nachdenken musste. "Davor, dass die Drachen oder sonst irgendwer die Welt wieder genauso tyrannisch beherrschen würde, wie es damals der Fall war."

"Fürchtest du dich nicht vor deinem Tod, du bist ja schließlich nicht unverwundbar wie ich?"

"Natürlich fürchte ich mich davor, aber ich sehe das so, wenn ich sterbe, dann wäre ich immerhin wieder mit meiner verstorbenen Familie vereint, das gibt mir die Kraft, keine Angst vor dem Tod zu haben."

"Woher willst du denn wissen, dass du nach dem Tod wieder mit ihnen vereint bist? Niemand weiß genau, was nach dem Tod mit unseren Seelen passiert, vielleicht sterben sie auch mit dem Körper zusammen?"

"Das denke ich nicht. Mein Glaube besagt, dass es so ist, wie es gerade erläutert habe."

"Und wenn dein Glaube nicht wahr ist, was würdest du dann tun?"

"Nichts."

"Nichts?" Chikará war sehr überrascht über diese Antwort und gespannt auf die folgende Erklärung..

"Genau, wenn nach dem Tod nichts mehr wäre, so wäre das nicht schlimm für mich, da ich es vorher nicht wusste und somit ohne Angst sterben konnte."

"Ich könnte nicht so stark an eine nicht bewiesene These glauben wie du."

"Glaube du einfach nur an das, was du für richtig oder bewiesen hältst, egal ob die anderen es auch glauben oder nicht, die Hauptsache ist, dass dein Glaube dich selbst glücklich macht."

Sie ließ diese Worte lange auf sich wirken, sie wollte aber schließlich dazu nichts mehr hinzufügen, da sie ja keiner Religion angehörte und damit noch niemals zuvor über ein mögliches Leben nach dem Tod nachgedacht hatte. Sie hatte keine Lust, sich nun auch noch darüber den Kopf zerbrechen zu müssen und fing daher ein neues Thema an: "Wenn ich sterben würde, wärst du dann traurig?" Dass diese Frage ziemlich überflüssig war, wusste sie sehr wohl, aber dennoch wollte sie noch einmal die Gewissheit haben, dass ihr großes Vertrauen und ihre Freundschaft von Hanryo erwidert wurde.

Dieser starrte sie ein wenig verwundert an. "Ja, selbstverständlich wäre ich dann sehr traurig. Heute bist du für mich meine Familie, und wenn ich dich nun verlieren wurde, wie meine richtige Familie damals, dann würde ich wieder vor einem großen Abgrund stehen, den ich vielleicht nicht ein zweites Mal überwinden könnte."

"Ich wäre auch sehr traurig, wenn du sterben würdest. Ich meine, ich habe niemanden anders mehr als dich auf dieser Welt."

Hanryo seufzte. "Chikará, es ist dir überhaupt nicht gut bekommen, dass du das Schwert im Tempel gesehen hast, stimmt es?"

Sie kratzte sich am Kopf. "Ja, das stimmt wirklich. Ich kann irgendwie im Moment an nichts anderes mehr denken, als an diese verfluchte Rostklinge. Ich habe ehrlich gesagt auch große Angst davor, irgendwann einmal zu sterben, und der Gedanke, dass ich früher fast gestorben wäre, ohne heute zu wissen, weder wieso man mich töten wollte, noch wer es war, macht mich verrückt und innerlich völlig fertig."

"Die Angst vor dem Tod haben wir alle, Menschen ebenso wie Drachen, und zu deinen quälenden Fragen, nun, ich kann dir leider nicht mit einer Antwort dienen. Ich weiß genauso wenig wie du, aber vielleicht können wir auf dem anderen Kontinent mehr darüber erfahren."

"Ich habe Angst, dass derjenige, der mich damals fast getötet hätte, noch leben könnte und vielleicht noch mal versuchen könnte, mich zu töten?"

Er grinste sie an. "Chikará, wo ist denn dein Optimismus geblieben?"

Sie atmete tief durch. "Du hast vielleicht recht. Im Moment bin ich vielleicht etwas zu nachdenklich, aber ich bin halt wirklich sehr beunruhigt. Vielleicht hätten wir das Schwert besser mitnehmen und an einen anderen, sichereren Ort verstecken sollen?"

"Nein, das hätten wir nicht tun dürfen."

Sie konnte diese Äußerung nicht nachvollziehen. "Was? Erkläre mir das, was meinst du damit, wieso hätten wir es nicht entwenden dürfen?"

"Versuche es so zu sehen, das dieses Wakizashi existiert, ist auch irgendwo gut. Stelle dir vor, ein anderer Kaiserdrache als du würde versuchen die Welt zu unterwerfen, wie dein Vater damals, alles zu beherrschen. Nur durch diese Waffe hätte man dann noch eine letzte Möglichkeit, um ihn aufzuhalten, ohne sie, könnte man überhaupt nichts gegen solch einen Tyrannen unternehmen."

Chikará überlegte kurz und nickte schließlich. "Du hast wohl recht. Ich bin eben manchmal sehr naiv und ängstlich, ich denke zeitweise noch wie ein Kleinkind."

Hanryo kicherte flüchtig. "Das ist nicht schlimm, du bist ja auch noch nicht allzu alt für unsere Verhältnisse."

"Sage mal, falls ich wirklich irgendwann einmal Drachenkaiserin werden würde, was hat man so für Aufgaben in dieser hohen Stellung zu übernehmen?"

"Du musst schöne Kleider tragen", antwortete er grinsend.

"Das werde ich nicht, und ich meinte die Frage eigentlich ernst", entgegnet Chikará mit einem kleinen Hauch von Wut über diese Anspielung auf ihren individuellen Kleidungsstil.

"Du müsstest unsere Art eigentlich nur anführen und würdest fast uneingeschränkte Solidarität genießen von Seiten der übrigen Drachen. Du müsstest entscheiden, wie es mit unserem Volk weitergehen soll."

"Müsste ich das dann ganz alleine entscheiden?"

"Sofern sich unsere Wege bis dahin nicht trennen würden, was ich nicht hoffe, so würde ich dir immer helfend zur Seite stehen. Aber schaue noch nicht so weit nach vorne, es kann noch so viel passieren, unsere Reise ist noch ziemlich lang."
 

Chikará schloss kurze Zeit danach ihre erschöpften Augen, sie schlief tief und fest und befand sich in einer Welt, die frei war von ihren antwortlosen Fragen, bis sie durch eine Vollbremsung des Zuges aufschreckte. Man hörte das laute Quietschen der Bremsen, darauf folgte eine mächtige Druckwelle aufgrund des plötzlichen Stillstandes, die Hanryo ebenso wie Chikará fast auf den Boden geworfen hätte, wenn beide nicht schnell genug aus Reflex reagiert hätten und sich nicht an den Lehnen ihrer Sitzplätze festgehalten hätten. Völlig erschreckt richtete sich Chikará schwankend und mit weitgeöffneten Augen wieder auf. "Was war das?"

Hanryo war mit dem Kopf gegen die Wand des Abteils gestoßen und hielt sich nun mit schmerzverzerrtem Gesicht die Hände am Hinterkopf. "Ich weiß es nicht, wir gehen nachsehen."

Sie liefen zur Ausgangstüre des Wagons, über den Notfallmechanismus öffneten sie sie. Draußen herrschte noch dunkle Nacht, der Zug steckte irgendwo im dicht bewaldeten Niemandsland fest. In der Ferne waren aber die Beleuchtungen einer Stadt zu erkennen, die neben den Vollmond etwas Licht spendeten in der Finsternis. Chikará und Hanryo rannten weiter neben den Schienen entlang bis zur Lokomotive, ohne auf dem Weg etwas Bedeutsames für den unerwarteten Zwischenfall bemerken zu können. Der Lokführer stieg indes hastig aus dem Führerhaus und jagte zu dem folgenden Gleisabschnitt, der durch die Scheinwerfer der Lokomotive erhellt wurde. Als die beiden einzigen Fahrgäste näher herankamen, sahen sie durch die Lichtkegel der Lampen, dass sich vor der Lokomotive ein großer Baumstamm auf den Gleisen befand. Dies war wohl der Grund für den unerwarteten Stop. Der Stamm konnte, so erkannte man es auf den ersten Blick, nicht per Zufall umgefallen sein, sondern er wurde mit Hilfe einer spitzen Waffe oder mit entsprechendem Werkzeug gefällt, die Schnittspuren im Holz sprachen eine eindeutige Sprache. Der Lokführer hatte mittlerweile die beiden Personen bemerkt, die einige Meter weit hinter ihm standen, und drehte sich zu ihnen um. Erst jetzt erkannte Chikará, dass es sich nicht um einen Lokführer, sondern um eine Lokführerin handelte. Es war eine junge, recht hübsche Frau von schlankem Körperbau und mit langen, zusammengebundenen, orangeblonden Haaren, sie trug einen blauen Arbeitsanzug. Als sie sich zu ihnen gewandt hatte, sah man auch ihr fast schon anmutiges, natürlichwirkendes Gesicht und ihre tiefblauen Augen, wobei man ihr dennoch einen gewaltigen Zorn anmerkte. "So ein Mist!", schimpfte sie wütend. "Diese verdammten Baumfäller sind noch zu blöd, um einen Baum richtig zu fällen, und dann lassen sie ihn auch noch mitten auf der Fahrbahn liegen, mindestens einmal im Monat passiert das denen! Die Bahngesellschaft glaubt mir das natürlich nie, ,ich würde nur zu lange Pausen machen' heißt es immer, und deshalb haben sie mir geschworen, mir beim nächsten Vorfall dieser Art fristlos zu kündigen, und heute ist dieser verfluchte, nächste Vorfall! Sonst haben mir stets Schaffner und Fahrgäste geholfen, mit ungefähr zwölf Leuten bekommt so einen Koloss ja schon bewegt, aber heute Nacht ist niemand mehr da, der mir helfen könnte! Wenn ich nicht in zehn Minuten am nächsten Bahnhof bin, bin ich meinen Job los! Was soll ich jetzt bitte tun, soll ich versuchen durch telepathische Kräfte das Teil zu bewegen?" Sie hielt sich verzweifelt die Hände vor ihr Gesicht, senkte ihren Kopf etwas und schüttelte ihn völlig entrüstet.

"Wir können dir helfen", entgegnete Hanryo gelassen.

Sie nahm ihre Hände wieder herunter und schaute die beiden mit einem leicht erheiterten Blick an. "Ihr wollt mir helfen? Wie denn bitte? Ihr werdet jawohl nicht den Baumstamm mit bloßen Händen wegtragen können, oder?"

"Doch, das können wir durchaus."

Die Lokführerin schaute nervös auf ihre Armbanduhr. "Gut, versucht es ihr Spinner, mir ist jetzt jede Hilfe recht, und wenn ich jetzt sehe, wie einfältig und schwach ihr seid, dann habe ich wenigstens vor meiner Kündigung noch gut gelacht!" Sie setzte sich zusammengekauert auf die Schienen.

Hanryo nickte ihr noch zu, auch wenn sie es nicht mehr gesehen hatte, und forderte Chikará dazu auf, zu versuchen, den Baumstamm wegzuschieben. Diese lachte kurz und verstand nicht, wie sie das schaffen sollte, aber den Beweis, dass sie dazu nicht in der Lage war, erbrachte sie gerne. Sie legte ihre Hände auf die Rinde und drückte mit ihrer ganzen Kraft gegen das schwere Hindernis. Zu ihrer eigenen Verwunderung schaffte sie es sofort, die zentnerschwere Last ein wenig zu bewegen, und als Hanryo ihr schließlich half und genauso wie sie begann, den Stamm wegzudrücken, war es kein Problem mehr, die Gleise wieder frei zu räumen. Nachdem die Aktion beendet, schaute Chikará ihren Gefährten etwas entgeistert an, sie wollte beinahe nicht glauben, was sie gerade zusammen geschafft hatten.

"Wir sind körperlich viel stärker als Menschen", erklärte er ihr daraufhin.

"Wieso sagst du mir das erst jetzt?"

"Hast du das denn niemals selbst gemerkt?"

"Glaubst du, ich hätte vorher in meinem Leben schon einmal versucht, einen Baumstamm einfach so wegzuschieben? Du hättest mir ruhig schon früher von meinen körperlichen Möglichkeiten erzählen können."

"Du hast mich niemals danach gefragt." Er drehte sich um und ging zur Lokführerin, die mittlerweile wieder aufrecht stand und alles genau beobachtet hatte. Sie war etwas bleich im Gesicht geworden, ihr Mund war weitgeöffnet, ihre Augen schienen wie in Trance, man konnte beinahe meinen, sie würde jeden Moment vor Staunen in Ohmmacht fallen. "Kraftsport nützt also einscheinend doch etwas."

"Selbstverständlich", kommentierte Hanryo lächelnd. "Können wir jetzt weiter fahren?"

Sie erwachte schlagartig aus ihrer Starre. "Ja! Sofort! Wir haben sowieso keine Zeit!"
 

"Halt!", schrie plötzlich eine unbekannte Männerstimme.

Hanryo und die Lokführerin drehten sich sogleich in die Richtung, aus welcher der Schrei gekommen war, genau in diesem Moment spürte Chikará auf einmal ein Messer an ihrer Kehle. Eine ganz in schwarz gekleidete Person mit vermummtem Gesicht hielt sie mit der einen Hand fest an der Taille umschlossen, und mit der anderen drückte sie ihr eine Klinge an die Halsschlagader. Noch bevor irgendeiner reagieren konnte, stürmten zwei weitere schwarze Gestalten hervor und bedrohten auch Hanryo und die Lokführerin mit Messern. Hanryo hob gelassen die Hände und nickte Chikará unauffällig zu, die daraus verstand, dass sie sich genauso verhalten sollte wie er, sie verstand zwar nicht weshalb, folgte aber dennoch mit innigem Vertrauen seiner Anweisung. Die Lokführerin wurde wieder ziemlich blass und begann stark auf der Stirn zu schwitzen, als eine der schwarzen Personen schließlich auch ihr ein Messer zu ihrem Hals hin entgegenstreckte, zitternd und völlig verängstigt hob sie ihre Hände hoch.

"Ihr haltet euch also für Ninjas. Was soll das werden?", fragte Hanryo ohne Furcht und mit vorgespielter Langeweile, die er durch ein lautes, aber aufgesetztes Gähnen demonstrierte.

"Spiel dich nicht so auf! Gib dein Geld her oder sie stirbt!", brüllte mit aggressiver Stimme derjenige der Ninjas, der Chikará bedrohte und festhielt.

Hanryo ließ sich davon in keiner Weise beeinflussen. "Es tut mir leid, da werdet ihr sie wohl töten müssen. Ich konnte sie sowieso noch niemals leiden. Ob sie tot oder lebendig ist, würde höchstens den Bestatter interessieren."

"Wir machen ernst! Überleg dir gut, was du sagst!"

Die Lokführerin mischte sich mit großer Fassungslosigkeit für Hanryos Handeln ins Gespräch ein. "Du lässt doch wohl nicht für ein bisschen Geld deine Freundin sterben!",

"Gut, unter einer Bedingung könnten wir eventuell verhandeln", sagte Hanryo immer noch ruhig. "Ihr lasst bitte die Lokführerin gehen, sonst wird sie gleich noch einen Herzinfarkt erleiden, und falls das passieren würde, dann wärt ihr fast schon so etwas wie echte Mörder."

Der Ninja, der Chikará in seiner Gewalt hatte, nickte zu dem, der die Lokführerin festhielt, jener ließ diese daraufhin los.

Hanryo wandte sich sofort zu ihr. "Verschwinde."

"Aber du wirst sie doch nicht wirklich sterben lassen!", schrie ihn die Lokführerin völlig geschockt an.

"Verschwinde einfach nur!", befahl er ihr genervt. Sie flüchtete daraufhin hektisch ins Führerhaus der Lokomotive und schaute nicht mehr zurück zu den anderen.

"So", fuhr Hanryo fort. "Mein ganzes Geld liegt noch im Zug, ich müsste es dementsprechend erst noch holen gehen, bevor ich es euch übergeben könnte."

"Du lügst! Gib es endlich her!"

"Wie soll ich es euch geben, wenn es sich noch im Zug befindet? Ich kann leider nicht zaubern oder so, auch wenn es mir einige Leute durchaus zutrauen."

"Das ist jetzt deine letzte Chance, gib uns dein Geld, oder sie stirbt, dein lächerlicher Auftritt ist jetzt vorbei!"

"Wie kann man so fixiert auf Geld sein? Aber, weißt du was, ich habe mittlerweile auch keine Lust mehr auf diese Albernheiten." Genau in dem Moment, in dem er das letzte Wort ausgesprochen hatte, drehte er sich blitzartig zur Seite und trat dabei dem Ninja, der ihn bis dahin bedroht hatte, mit dem rechten Fuß mitten ins Gesicht, wonach der Schattenkämpfer bewusstlos und an Mund und Nase blutend zu Boden fiel. Direkt stürmte der Ninja, der zuvor die Lokführerin gefangen hielt, auf Hanryo zu und wollte ihn mit einem schnellen Messerhieb am Oberkörper verletzen. Sein vermeintliches Opfer blockte mit der linken Handkante den Angriff ab und schlug mit der rechten Faust gegen die Schläfe des Ninjas, jener stürzte daraufhin benebelt zu Boden, wo er vergeblich versuchte aufzustehen. Mit einem harten Tritt in die Nierengegend erledigte Hanryo ihn endgültig, der vor Schmerzen stöhnende Verlierer blieb auf dem Bauch liegen. Hanryo setzte anschließend noch seinen Fuß auf den Halswirbeln seines hilflosen Widersachers ab und wandte sich grinsend zu Chikará und zu dem Ninja, der sie noch in seiner Gewalt hatte. "Wie soll dein Freund sterben, durch Ersticken oder Genickbruch? Beides ist mit schrecklichen Qualen verbunden, aber die darauffolgende, ewige Ruhe entschädigt das."

Der letzte der Ninjatruppe verlor nach dieser scheinbar gewissen- und herzlosen Provokation die Kontrolle über sich selbst und rammte in seinem schier grenzenlosen Zorn mit voller Wucht Chikará sein Messer in den Hals. Dabei brach die Klinge über und fiel ihm aus der Hand. Bei Chikará brannten nun auch alle Sicherungen durch, sie riss sich wütend von ihrem Peiniger los und schlug ihm gleichzeitig ihren rechten Ellebogen mitten ins Gesicht. Es folgten noch ein paar kräftige Fauststöße gegen den Oberkörper und Kopf des völlig überraschten Ninjas, dieser hätte solch einer zierlichen Frau niemals zuvor eine derart große Körperkraft zugetraut. Nach den letzten Schlägen, die er, ohne sich noch großartig gegen sie verteidigen zu können, einsteckten musste, war der Ninja besiegt und taumelt nur noch in Geistesabwesendheit umher. Chikará hob das übergebrochene Messer auf, sie packte ihren, eigentlich schon bezwungenen Kontrahenten am Arm und zog ihn nahe an sich heran, währenddessen schaute sie ihm direkt in die fast bewusstlosen Augen. "Du wolltest mich ernsthaft töten?", hauchte sie leise und dunkel. Dann stach sie ihn ohne zu zögern die Messerklinge in die Brust, woraufhin der Ninja einen allerletzten, lauten Todesschrei ausstieß. Anschließend ließ Chikará seinen sterbenden Körper fallen und ging mit einem leichten, stolzen Grinsen zu Hanryo.

"Das waren nur Debütanten", sprach er. "Bilde dir nicht ein, dass das ernstzunehmende Gegner waren, und vor allem hättest du ihn ruhig am Leben lassen können, ich habe keinen einzigen von denen sinnlos getötet, ganz im Gegensatz zu dir!"

Sie wurde durch diese unerwartete Moralpredigt nur erneut wütend. "Wenn ich ein normaler Mensch wäre, dann wäre ich jetzt tot! Dieser Idiot hatte nichts anderes verdient als den Tod!"

Bevor das Streitgespräch zwischen den beiden sich vertiefen und verschlimmern konnte, kam glücklicherweise die, durch den Todesschrei aufgescheuchte Lokführerin vorsichtig zurück aus dem Führerhaus. Als sie die momentane Situation sah, lief sie strahlend ihren beiden Rettern entgegen. Da sie während ihrer Abwesenheit nicht versucht hatte, einen Blick zum Kampfplatz zu riskieren, wusste sie nichts von Chikarás Unverwundbarkeit. "Ich habe zwar nicht mitbekommen, wie es euch gelungen ist, die Ninjas zu besiegen, aber ich muss gestehen, ihr habt dem Anschein nach verdammt viel drauf! Ohne euch wäre ich jetzt nicht nur meinen Job, sondern auch mein Leben los! Wie kann ich mich nur jemals bei euch dafür bedanken? Ich könnte euch zum Beispiel vielleicht kostenlos Fahrtickets bis an euer Lebensende besorgen, wenn ihr es wollt, oder könntet ihr eventuell ein bisschen Hightech in euerm Alltag gebrauchen, ich könnte euch alle Maschinen beschaffen, die ihr wollt! Nur mit Geld kann ich euch leider nicht dienen, davon habe ich selbst nicht allzu viel. Nun, wie kann ich euch meine Dankbarkeit zeigen?"

"Wir taten nur, was wir konnten, um dir zu helfen. So wie wir, hätte wohl jeder gute und gewissenhafte Kämpfer in unserer Situation gehandelt", antwortete Hanryo bescheiden.

"Wenn ihr euch mit einem einfachen ,Dankeschön' auch begnügt, so soll es mir recht sein. Wie heißt ihr denn überhaupt?"

"Ich heiße Hanryo und meine bezaubernde Begleitung heißt Chikará."

Letztgenannte lachte daraufhin ein wenig.

"Freut mich sehr eure Bekanntschaft zu machen, ich bin Tsuzuri. Chikará, mir fällt da auf, du bist doch auch von meinem Volk, oder?"

Sie überlegte kurz und entschloss sich, sicherheitshalber zu lügen, da sie noch nicht wusste, ob man Tsuzuri vertrauen konnte. "Ja, klar, ich bin natürlich auch von deinem Volk", antwortete sie, ohne überhaupt zu wissen, welchem Volk ihre neue Bekanntschaft angehörte.

Tsuzuri freute sich. "Endlich trifft man hier im Osten einmal Leute, die nicht dieser primitiven Menschenrasse angehören."

Plötzlich hörte man Maschinen aus der Ferne näherkommen, Chikará und Hanryo schauten verwundert in Richtung der Stadt, zu der die Gleise führten, und von der aus auch die Geräusche kamen, sie konnten aber in der Dunkelheit nicht genau erkennen, was den Lärm verursachte.

"Ach ja", begann Tsuzuri. "Ich hatte eben, als ich ins Führerhaus flüchten konnte, über Funk die Polizei gerufen. Ich konnte ja nicht wissen, dass ihr die Ninjas so leichtfertig bezwingen konntet."

Hanryo kratzte sich am Kopf und atmete tief durch.

"Was ist?", fragte Tsuzuri verwundert. "Ihr habt doch nichts Kriminelles getan, und dass ihr einen von denen umgebracht hat, können wir doch bestimmt als Notwehr begründen?"

"Das Problem ist ein anderes", erläuterte Hanryo. "Erst einmal hat Chikará keinen Ausweis, und des weiteren müsste die Polizei aus dieser Region noch einen Haftbefehl gegen mich haben."

"Einen Haftbefehl, weshalb denn das?"

"Es ist eine sehr lange Geschichte, es geht aber nicht darum, dass ich etwas Kriminelles getan haben soll, sondern lediglich darum, dass man mir Kontakt zu gefährlichen Untergrund- und Terrororganisationen nachgesagt hat."

"Ist denn da etwas Wahres dran?", wollte Tsuzuri neugierig wissen.

"Ja, aber lass uns das bitte nicht vertiefen, dafür haben wir jetzt wirklich keine Zeit."

"Nun, wir haben also ein ernstzunehmendes Problem direkt vor uns." Tsuzuri überlegte kurz. "Geht nach hinten zu dem letzten Wagon, klettert vorerst auf das Dach und seid leise, die werden die Wagen bestimmt nur von Innen kurz inspizieren, und passt bitte auf, dass ihr nicht herunterfallt, wenn der Zug wieder anfährt."

"Die werden dir bestimmt nicht glauben, dass du alleine diese drei Ninjas besiegt hast", meinte Hanryo.

Tsuzuri seufzte. "Meinen Job bin ich sowieso los, was habe ich noch zu verlieren? Verschwindet endlich auf das Dach!"

"Danke." Er klopfte ihr leicht und freundschaftlich auf die Schulter und lief weg zum Ende des Zuges. Chikará gab Tsuzuri nur ein kurzes, flüchtiges Nicken als Zeichen ihrer Dankbarkeit, da sie ihrer offenen und naiven Person immer noch nicht wirklich vertrauen konnte. Anschließend folgte sie ihrem Gefährten eilig zum hinteren Teil des Zuges.
 

Irgendwann später in der Nacht, es musste ungefähr eine Stunde seit der Auseinandersetzung mit den Ninjas vergangen sein, setzte sich der Zug wieder in Bewegung. Chikará und Hanryo lagen nebeneinander auf dem Dach des letzten Wagons, von wo aus sie hoch zum schwarzen Himmel schauten. Der kühle Fahrtwind spendete ihnen eine kleine Erfrischung nach den letzten Kämpfen, der monotone Lärm der Lokomotive war lauter als die Schreie der Nachtvögel. Es roch nach Öl und Qualm, manchmal auch nach den Zedern, die neben den Schienen standen. Der Vollmond überwund mit seiner Helligkeit die winzigen Sterne am Firmament, Wolken schwebten an ihnen vorbei.

Die Polizei hatte Chikará und Hanryo nicht gefunden, und wie es aussah, hatten sie sogar Tsuzuris Version der Geschehnisse geglaubt, trotz ihrer offensichtlichen Unwahrscheinlichkeit. Jedoch konnte Chikará auch jetzt nicht ihr Misstrauen gegenüber der Lokführerin verdrängen, obwohl jene ihr und ihrem Gefährten am Ende dem Anschein nach wirklich geholfen hatte. Hanryo machte sich darüber keine Gedanken, er genoss lediglich den Blick auf den wunderschönen Nachthimmel. "Die Sterne und der Mond sind schon faszinierende Himmelskörper, niemand weiß, woher sie kommen, seit wann sie existieren, einige glauben sogar, sie wären Lebewesen."

"Interessante Vorstellung", entgegnete Chikará mit einem ironischen Unterton. "Aber wieso sollte man viel darüber nachdenken, die Wahrheit über sie werden wir sowieso niemals erfahren, schließlich fallen sie ja nicht zu uns herunter, und wir können nicht zu ihnen nach oben gelangen, oder kannst du etwa so hoch fliegen?"

"Nein, natürlich nicht, niemand kann das, kein Vogel, kein Insekt und kein Drache. Die Einzigen, die das eines Tages vielleicht schaffen könnten,, sind die Jishus. Sie haben Maschinen, mit denen sie fliegen können wie die Vögel, und angeblich planen sie bereits solche, die hoch bis zum Mond fliegen werden."

"Meinst du, sie werden das tatsächlich schaffen?"

"Ich weiß es nicht, vorstellbar ist alles, vor tausend Jahren hatte auch noch niemand damit gerechnet, dass man irgendwann einmal mit Zügen große Entfernung derart kurz überbrücken können würde. Auch wenn ich oft schlecht über die Jishus spreche, sie haben die Welt doch insgesamt sehr zum Positiven hin verändert durch ihre Maschinen und ihre Technik."

"Diese Tsuzuri, gehört sie eigentlich auch zu den Jishus, oder zu welchem Volk gehört sie?", fragte Chikará, gespannt auf die Antwort wartend.

"Sie ist eine Jishu, damit hast du schon recht. Es war vorhin durchaus clever von dir, zu sagen, dass auch du zu diesem Stamm gehören würdest, das hat uns schließlich irgendwo geholfen, ihr Vertrauen zu gewinnen, welches wir letzen Endes dringend gebraucht hatten. Stelle dir nur vor, was passiert wäre, wenn uns die Polizei gefunden hätte? Aber zum Glück kommen wir jetzt trotz der Zwischenfälle noch halbwegs im Zeitplan wieder zurück nach Hause."

"Wie kam sie denn überhaupt darauf, dass ich eine Jishu wäre, immerhin hat sie mich ja von sich aus gefragt, ob ich eine wäre?"

"Die blauen Haare sind wahrscheinlich schuld gewesen, viele Jishus haben künstliche Haarfarben, du hast dich doch bestimmt auch über ihre eigene gewundert, so ein strahlendes Orange bekommt man ohne schwere künstliche Manipulation nicht hin."

"Ist so etwas bei denen modern?"

"Sie wollen sich von den normalen Menschen abgrenzen, anders sein als sie, charakterlich ebenso wie optisch."

"War sie deswegen auch so extrem redefreudig zu uns?"

"Eher nicht deswegen, das ist nur, ich meine, was soll man denn auch anderes von Leuten erwarten, die den Großteil ihres Lebens alleine vor Maschinen verbringen? Das Leben einer Jishu ist sterbenslangweilig, und sobald irgendetwas Außerordentliches passiert, erwachen sie aus ihrem Wachschlaf."

"Du sagtest doch einmal, sie würden mit der Kaisergarde zusammenarbeiten, sollten wir nicht aus diesem Grund sehr vorsichtig mit ihnen sein und versuchen, wenn möglich, den Kontakt mit ihnen zu vermeiden?"

"Ja, was die Führungsspitze von denen betrifft, da hast du recht, aber armselige Mechanikerinnen, Maschinen- oder Lokführerinnen wie Tsuzuri haben damit nichts zu tun, sei also unbesorgt."

Beide schwiegen kurz und lauschten den mechanischen Geräuschen des fahrenden Zuges und den kalten Nachtwinden.

"Wie lange werden wir noch hier oben, auf dem Wagon, bleiben können?", ergriff Chikará das Wort. "Auch wenn es sich vielleicht ein wenig komisch anhört, aber wenn ein Tunnel auf der Strecke kommen würde, dann hätten wir doch ein ernstzunehmendes Problem, oder sehe ich das falsch?"

"Bis zum nächsten Bahnhof werden keine Unterführungen kommen, ich kenne die Strecke, die wir entlang fahren, einigermaßen. Erst nach dem nächsten Bahnhof wird es für uns hier oben gefährlich, deshalb werden wir uns bemühen, beim nächsten Halt des Zuges im Bahnhof der folgenden Kleinstadt, vorsichtig vom Dach herunter zu klettern und uns wieder einen ordnungsgemäßen Fahrplatz suchen. Während der Fahrt von hier wegzukommen, nun, das wäre selbst mir ein wenig zu riskant."

Chikará genügte diese Erklärung, um sich wieder innerlich mit einen anderen Thema zu befassen. Sie schloss einige Zeit ihre Augen, sie wollte Hanryo noch etwas mitteilen, was ihr sehr am Herzen lag, jedoch wusste sie noch nicht, wie sie es ihm am besten beibringen konnte. Schließlich sprach sie mit einer sehr klaren und leicht traurigklingenden Stimme. "Hanryo?"

"Ja, was ist los?" Er drehte sich zu ihr und schaute sie gespannt an.

"Die folgende Frage ist vielleicht etwas gemein, vielleicht auch etwas zu persönlich, sie könnte dich mit ihr an Schatten zurückerinnern, über die du lieber niemals mehr gesprochen hättest, aber bitte beantworte sie mir trotzdem, die Antwort ist für mich sehr wichtig. Wie viele Menschen hast du damals, als du Soldat warst, umgebracht? Es müssen sehr viele gewesen sein, oder liege ich damit falsch?"

Er atmete tief durch. "Du hast recht, ich verabscheue die Erinnerungen an meine dunkle Vergangenheit, oft belasten sie meinen Verstand und meine Seele, aber vor dir will ich keine Geheimnisse haben, erst recht nicht solche. Es waren mehrere Hunderte, vielleicht auch Tausende, die ich getötet habe, anfangs habe ich noch stolz mitgezählt, mit der Zeit verlor ich jedoch den Überblick, wie viele es genau waren."

"Und weshalb hast du sie getötet? Du hast sie nur getötet, weil es keinen anderen Ausweg mehr gab, und versuche bitte nicht, mir jetzt zu begründen, dass man diese Konflikte auch hätte anders lösen können, das konnte man bestimmt nicht. Dein Leben oder ihr Leben, das war die Frage, und jeder, davon bin ich fest überzeugt, jeder hätte sich in dieser Lage, genauso wie du, für sein eigenes Leben entschieden, ich hätte es auch nicht anders gemacht als du. Und was war mit dem Tod meines Vaters? Egal wie schlecht er war, deiner Meinung nach, hätte ebenso er nicht sterben dürfen, aber du betontst doch selbst immer wieder, wie froh du bist, dass er tot ist. Also, mache dir nicht unnötig Gedanken darüber, ob ein Mord gerechtfertigt war oder er es nicht war, Tote sind tot, man kann im nachhinein sowieso nichts mehr daran ändern. Vielleicht hätte ich den Ninja nicht töten müssen, vielleicht hätte man auch mich damals töten sollen, vielleicht wäre das besser für die Welt gewesen, vielleicht auch nicht, erst später weiß man immer alles besser. Wenn ich ein normaler Mensch wäre, wäre ich bei der Attacke des Ninjas gestorben. Wenn das so geschehen wäre, dann wäre der Ninja jetzt noch am Leben, oder er wäre tot, weil du ihn getötet hättest, um mich zu rächen. Wer weiß, was du gemacht hättest, wenn sich alles so ereignet hätte, dann wärst du erneut zum Mörder geworden, und hättest einen weiteren Mörder auf dem Gewissen, wäre das besser? Ich wäre sowieso tot, was hätte ich noch von deiner Rache gehabt? Vielleicht hättest du ihn auch nicht getötet, vielleicht hättest du an meiner Stelle deine Gedanken frei von Rachegelüsten halten können, vielleicht auch nicht. Darum, verzeihe es mir bitte, wir sind nur Lebewesen, keine Götter, die absolute Kontrolle über alles haben. Oft sind wir stark, oft viel zu stark, von unseren Gefühlen gesteuert. Sie bewegen uns zu Fehlern, zum Schlechten hin, aber auch manchmal zum Guten hin, nur wissen wir niemals im voraus, was gute und was schlechte Folgen haben wird. Unsere Gefühle siegen dann. Meine Rachsucht hat gegen meine Vernunft gesiegt, als ich ihn getötet habe. Erst als du mich angesprochen hast, verschwanden Rachsucht, Hochmut und Egoismus aus meinem Verstand, und ich konnte wieder klar denken und habe angefangen, an meinem Verhalten zu zweifeln, berechtigterweise. Wenn ich es jetzt rückgängig machen könnte, dann würde ich es sofort tun, nicht aber kann ich dafür garantieren, dass mir so etwas niemals wieder passieren würde, und das kann niemand, auch du nicht. Deshalb nenne mich bitte nicht eine Mörderin, auch wenn ich das wohl seit heute bin. Du weißt, wenn alles anders verlaufen wäre, hätte ich ihn vielleicht nicht getötet. Aber selbst wenn ich keinen negativen Einfluss durch meine Gefühle gehabt hätte, so hätte ich ihn wohl ebenfalls getötet, weil ich dann auch kein Unrechtsbewusstsein gehabt hätte, und was noch schlimmer wäre, dann hätte ich jetzt auch keine Reue und keine Einsicht, dann wäre auch ich auf einem anderen Wege ebenfalls tot. Verzeihe mir bitte meine Tat. Du, Hanryo. Und auch du, Geist und Seele des Ninjas, falls du mich jetzt hörst, so verzeihe mir bitte, ich bereue es tief, dich getötet zu haben." Sie hielt sich die Hände vor ihr Gesicht, damit Hanryo nicht ihre Tränen sah, für die sie sich schämte. Ihr war so, als würde mit den Tränen auch ein Teil der Kraft, die den Ninja getötet hatte, aus ihrem Körper und Geist verschwinden. In Gedanken sprach sie ein Gebet, dass sie irgendwann einmal in den Slums gehört hatte, zur Vergebung ihrer Schuld, obwohl sie nicht die geringste Ahnung hatte, welchem Gott, Dämon oder Geist es eigentlich gewidmet war. Währenddessen erschallte der Todesschrei des Ninjas ununterbrochen in ihrem verwirrten Kopf. Sie begann, sich zu fragen, wofür er das Geld braucht hätte, nach dem er gefordert hatte. Er hätte es für alles Mögliche brauchen können, um sein eigenes Leben zu verbessern, um das Leben vom jemand anderem zu verbessern, oder vielleicht auch um selbst am Leben zu bleiben? Die letzte, winzige Träne lief an ihrer Wange herunter, in den schwachen Mondlichtfetzen, die zwischen ihre Finger hindurchdrangen, glänzte sie ein wenig. Wozu dachte Chikará über so etwas überhaupt nach? Hanryo hatte ihr einst gesagt, sie sollte nicht jeden, der stirbt, nachtrauen, aber wenn sie selbst ihn getötet hatte, was war dann? Noch vor einigen Stunden, hatte sie an nichts anderes, als an ihren eigenen Tod denken können, und nun, erkannte sie, wie naiv ihr Denken gewesen war. Menschen starben schnell, schnell und leicht, man brauchte nicht viel, um ihrem schwachen Leben ein Ende zu setzen, ein übergebrochnes Messer reichte zum Beispiel sogar schon dafür aus.

"Es gibt keinen triftigen Grund", begann Hanryo, der damit versuchte, Chikarás nervlichen Tiefpunkt zu ignorieren und ihr vielleicht auch etwas neue Hoffnung zu geben. "Es gibt überhaupt keinen Grund, der es rechtfertigt, jemanden zu töten. Jeder, egal wie schlimm und grausam sein Handeln war, jeder verdient das Leben. Ich bereue heute jeden einzelnen Mord, den ich vollbracht habe, den ersten ebenso wie den letzten. Einige waren feindliche Soldaten, mein eigenes Leben hing davon ab, ob ich sie am Leben ließ oder nicht, andere standen mir einfach nur im Weg, und das war der bequemste und unkomplizierteste Weg, um sie loszuwerden. Früher war mir auch das Leben eines Menschen nicht so wichtig, wie das Leben eines Drachen oder eines anderen Geschöpfes, dementsprechend schwach war meine innere Barriere, wenn es darum ging, einen Menschen zu töten. Man hatte mir damals immer eingeredet, wir wären etwas Besseres als die Menschen, und früher habe das sogar geglaubt. Ich war richtig stolz, wenn ich einen Menschen getötet hatte. Aber nicht nur Soldaten oder Kämpfer habe ich getötet, auch zahlreiche hilflose Wesen, Behinderte und Verkrüppelte, Frauen und kleine Kinder, es war mir gleich, solange es nur Menschen waren. Ich kann das nicht entschuldigen und will es auch nicht versuchen, aber glaube mir, zu Zeiten deines Vaters haben so ziemlich alle Drachen so gedacht wie ich. Einige meinten später, es wäre unser Schicksal gewesen, dass unser Volk untergeht, weil unser Hochmut und Egoismus alles zerstörte, was uns unterordnetet war. Wer weiß, vielleicht gäbe es heute überhaupt keine Menschen mehr, wenn dein Vater noch Leben würde? Andere Arten haben wir ausgelöscht, die schwächeren zuerst, die stärkeren danach, nur die Menschen leisteten großen Widerstand. Wenn du selbst zu einer großen Gemeinschaft gehörst, wo jeder dasselbe tut, und wo jeder dieselben Meinungen vertritt, ist es dir beinahe unmöglich, aus diesem Kreis zu entkommen. Ich konnte es nicht, ich wollte es damals auch nicht, erst als alles zu spät war und unser Volk gefallen war, konnte ich die Wahrheit erkennen. Weißt du, oft habe ich die Last nicht ausgehalten, die ich in meinem Gewissen mit mir trug, all die sinnlosen Morde, die ich vollbracht habe. Ich dachte auch daran, mich zur Befreiung von meiner Schuld selbst zu töten, aber ich konnte nicht, selbst dafür war meine Seele zu jener Zeit zu schwach. Ich zog ziellos umher, ich beobachtete die Menschen und lernte von ihnen, auch sah ich, dass sie nicht viel besser waren als wir, aber dennoch hatten ebenso sie eine Chance verdient, um die Welt wieder zu neuem Glanze zu führen. Ob sie es geschafft haben, kann ich nicht beurteilen. Erinnere dich an deine Zeit in den Slums, und du wirst sagen, sie hätten es nicht geschafft, schaue dir hingegen die Hauptstadt des Ostens an, und du wirst sagen, sie hätten es geschafft. Aber wie dem auch sei, sie haben ohne Zweifel genauso getötet wie wir, genauso wie wir hassen sie Wesen anderer Arten, vielleicht ist der einzige Unterschied zwischen ihnen und uns der Name. Ob ich als Drache Menschen getötet habe, oder später als Mensch Drachen getötet hätte, wäre dasselbe gewesen. Aber wenn ich meine Schuld einsehe, so bin ich vielleicht doch noch etwas Besseres, als die übrigen Mörder, die das nicht können oder wollen, egal ob sie Drachen oder Menschen sind."

Mit dieser Rede hatte er das Bild des perfekten Kämpfers und Mentors, das Chikará von ihm bis dahin hatte, endgültig zerstört. Zum ersten Mal, sah sie in ihm keinen großen Lehrmeister oder weisen Gefährten, sondern jemanden, der genauso war wie sie selbst, nicht besser und nicht schlechter als sie. "Ich bin ebenso ein Mörder wie du, egal ob man Tausende oder nur eine einzige Person getötet hat, am Ende sind wir alle Mörder, die einen vielleicht schlimmere und grausamere als die andere, aber dennoch alle Mörder. Vielleicht kann uns zumindest die Einsicht von einem Teil unserer Schuld erlösen?"

Tsuzuri

Ein lautes Klopfen an der Haustüre riss Hanryo aus seinem tiefen Schlaf. Es war früh am Morgen des dritten Tages nach dem Besuch des Dämonentempels, so früh, dass selbst die Sonne war noch nicht aufgegangen war, und es draußen dementsprechend dunkel war. Zunächst ignorierte er die Geräusche des festen und hartnäckigen Schlagens, aber als sie auch nach etlichen Minuten noch nicht enden wollten, blieb Hanryo nichts anderes übrig, als sein Bett zu verlassen. Als er mit halbgeöffneten Augen die Türe geöffnet hatte, befand er sich noch in einem Traum, und alles was er erkennen konnte, war ein verlegenes Lächeln.

"Hallo Hanryo", sprach Tsuzuri mit sanfter Stimme und starrte dabei vor wie versteinert zu Boden. Ihre gesamte Kleidung, auch ihre Turnschuhe, hatten eine seltsame, dunkelblaue Farbe, es war wahrscheinlich derselbe Ton, den auch ihr Arbeitsanzug hatte, welchen sie als Lokomotivführerin getragen hatte. Sie trug eine weite Hose, die so gerade über ihre Knie ging, und ein kurzärmeliges Hemd mit aufgestickten roten Schriftzeichen und weißen Blumen. Eine Kappe, mit Schirm nach vorne getragen, versteckte ihre langen orangefarbenen Haare, ihre weiße Haut wirkte ein wenig krank, aber ihre strahlenden, blauen Augen überspielten dies. In ihren Händen hielt sie je einen großen, schwarzen Koffer, der wohl bis obenhin gefüllt war mit allem, was sie besaß.

Hanryo wurde allmählich wach und rieb sich die Augen, sagte aber zuerst nichts und wartete gespannt Tsuzuris Erklärung für diesen überraschenden Besuch ab.

"Heute ist ein schöner Tag, findest du nicht? Die Vögel zwitschern fröhlich ihre wohlklingenden Lieder, bald wird die warme Sonne in wunderbarem Purpurrot aufsteigen, die kleinen Tautropfen auf den grünen Blättern der Pflanzen und Bäume werden in den ersten hellen Strahlen wie Edelsteine glänzen. Der weite Himmel wird klar und blau werden, alles Leben wird erwachen und diesen schönen, neuen Tag begrüßen." Sie unterbrach und schaute ihren schweigsamen Zuhörer in die Augen, sein Blick schien genervt von ihrer sinnlosen Erzählung eines beginnenden Tages, daher beschloss sie, langsam zum wahren Grund ihres Erscheinens überzuleiten. "Die haben mich einfach so gefeuert!", erklärte sie traurig und mitleiderweckend. "Einfach so, obwohl ich immer so gewissenhaft und fleißig gearbeitet habe, diese herzlosen Menschen! Ich musste alle meine Sachen zusammenpacken und die Wohnung, die ich von denen zur Verfügung gestellt bekommen hatte, sofort verlassen. Ich wusste nicht, wo ich nun hingehen sollte, ich habe doch keine Freunde oder Bekannte hier auf diesem Kontinent, und die Reise zurück nach Hause kann ich mir beim besten Willen nicht leisten, mein Einkommen war sowieso niemals allzu hoch. Ich wollte eigentlich vorerst in eine Herberge gehen, aber diese intoleranten Menschen lassen Mitglieder meines Volkes nicht bei sich wohnen, aus Gründen, die ich nicht verstehen muss. Weißt du überhaut, wie kalt und unangenehm es ist, nachts in einer einsamen Gase zwischen leeren Holzkisten zu schlafen? Heute morgen hatte ich überall Splitter und Späne an mir hängen, und die Ratten dort, während ich schlief, sind sie aus ihren Verstecken herausgekrochen, und ich wurde dadurch wach, dass eine begonnen hatte, an meiner Hand zu nagen, kannst du dir so etwas Ekelhaftes überhaupt vorstellen? Als ich sah, wie mein Blut an ihrem Maul hing, und ich den schrecklichen Schmerz spürte, als sie in mein lebendiges Fleisch biss, habe ich sie schreiend weggeschlagen, bin sofort ausgesprungen und so schnell es ging weggerannt. Bestimmt werde ich nicht lange hier draußen alleine und ohne Dach über dem Kopf überleben können, sehr rasch werde ich hier so wohl körperlich als auch geistig verenden. Diese grausame Welt! Die Menschen sind so egoistisch, mir helfen sie nicht, mich lassen sie, ohne zu zögern im Stich, obwohl ich immer so viel und so hart für sie gearbeitet habe, lediglich dafür war ich ihnen immer gut genug! Täglich habe ich sie mit meinem Zug durch das Land kutschiert, Pausen hatte ich nur zum Mittagessen oder zum Schlafen. Ich hasse sie, ich hasse sie alle! Von einem freundlichen Vagabunden am Bahnhof erfuhr ich in meiner Hilflosigkeit, wo du wohnst, und ich dachte mir, deine sympathische Freundin und du, da ihr mir ja schon einmal aus einer misslichen Lage herausgeholfen habt, vielleicht würdest ihr es auch ein zweites Mal tun? Ich hatte keine andere Alternative mehr, als euch aufzusuchen, darum weist mich bitte nicht ab, das wäre mein sicheres Ende. Ich kann zwar nicht kochen, waschen oder gar kämpfen, aber vielleicht kann ich euch dennoch irgendwie behilflich sein. Bitte helft mir!"
 

Hanryo kam während ihres Monologs ein guter Gedanke, es war wahrscheinlich der einzige Grund, der dafür sprechen würde, sie aufzunehmen. Die letzten Abschnitte ihrer großen Reise würden durch die Städte und Gebiete der Jishus führen, und mit Tsuzuri, als einer Angehörigen jenen Volkes in Begleitung, würde diese Etappe garantiert keine allzu großen Schwierigkeiten mit sich bringen. Nur Mitleid hätte nicht ausgereicht, um ihr eine Chance zu geben, aber die Tatsache, dass ihnen die Freundschaft zu einer Jishu irgendwann einmal sehr nützlich werden konnte, überzeugte ihn. "Komme endlich rein, du darfst bei uns bleiben", sagte er ihr freundlich und hilfsbereit.

"Was, ich darf wirklich bei euch bleiben?", fragte sie mit weitgeöffneten Augen und Mund ungläubig nach.

"Vorerst zumindest, bis du etwas Anderes gefunden hast, und erwarte nicht, dass wir große Rücksicht auf dich nehmen werden, nur weil du nicht so gut kämpfen kannst wie wir."

"Nein, das müsst ihr auch nicht, ich kann wunderbar auf mich selbst aufpassen und schnell weglaufen, wenn potenzielle Gefahr droht. Hätte denn deine Freundin auch kein Problem mit mir, sie wirkte mir bei unserer letzten Begegnung etwas misstrauisch mir gegenüber?"

Er schaute kurz in Gedanken versunken zum Himmel. "Können wir dir vertrauen, können wir dir wirklich grenzenloses Vertrauen schenken?"

"Ja, natürlich", antwortete sie sofort. "Immerhin habe ich ja auch der Polizei nichts von euch erzählt, die haben mir übrigens tatsächlich geglaubt, dass ich die Ninjas alleine besiegt hätte. Und die, durch die Notfallsicherung geöffnete, Wagontür habe ich damit erklärt, dass die drei ursprünglich Fahrgäste waren, und wohl einen unbekannten Komplizen hatten, der für sie am Bahnrand den Baum gefällt hat, um den Zug für ihren Überfall zum Anzuhalten zu bringen. Es hat also alles wunderbar funktioniert, aber meinen Job hat mir das trotzdem nicht gerettet, die Verspätung meines Zuges konnte ich leider dadurch nicht ungeschehen machen."

"Nun gut." Er blickte sie wieder an. "Ich vertraue dir, wenn auch mit kleinen, berechtigen Zweifeln und mit der Hoffnung, es nicht irgendwann einmal bereuen zu müssen. Aber komm erst einmal mit herein, dort kannst du dich waschen, etwas essen und dich von den Strapazen der letzten Tage ein wenig erholen. Ich habe dir noch eine lange und nahezu unglaubliche Geschichte zu erzählen."
 

Ungefähr fünf Stunden später erwachte Chikará, sie hatte bis dahin immer noch geschlafen, schließlich war es niemals ihre Stärke gewesen, früh aufzustehen. Sie hörte zwei Stimmen, die sich im Wohnzimmer unterhielten, eine davon kannte sie sehr gut, es war diejenige von Hanryo, aber die andere, weiblichklingende schien ihr zunächst unbekannt. Sie zog sich an und ging mit halboffenen Augen ins Wohnzimmer. Dort sah sie, wie sie es bereits erwartet hatte, Hanryo auf dem Sofa sitzen, der sie anfangs nicht bemerkte und sein Gespräch ungestört fortsetzte. "So sieht es also aus, willst du immer noch bei uns bleiben, jetzt, wo du die Wahrheit kennst?", fragte er seinen Gesprächspartner, der gegenüber von ihm auf einen Sessel saß.

"Selbstverständlich, eure Geschichte ist sehr interessant und spannend, viel spannender als ein Leben als Lokführerin, vielleicht ist euer Leben auch dementsprechend gefährlicher als mein bisheriges, aber dennoch, ich werde bei euch bleiben und euch helfen, wo es mir möglich ist. Es wäre mir wirklich eine große Ehre, zum Wohle eurer fast ausgestorbenen, aber trotzdem sehr mächtigen Art etwas beitragen zu können. Ich habe schon lange ein neues Ziel in meinem langweiligen Leben gebraucht, und ich denke, dieses wäre durchaus das Richtige für mich. Ich gehöre ab jetzt zu euch und begleite euch auf eurer weiten Reise."

"Tsuzuri?", entgegnete Chikará überrascht.

"Guten Morgen, Chikará", sagte Hanryo und drehte sich dabei zu ihr.

"Gut geschlafen Kaiserin?", fügte Tsuzuri grinsend hinzu. "Von wegen du wärst eine Jishu, warum bist du so bescheiden mit deiner wahren Identität? Hast du uns schon lange zugehört? Jedenfalls bin ich von nun an bei euch, egal wie es weitergeht und egal was passieren sollte, ich werde nicht von eurer Seite weichen und euch stets unterstützen in allen Situationen. Ich hoffe, du freust dich zumindest ein ganz kleines bisschen darüber. Lass mich dir bitte noch kurz alles erklären: Die Bahngesellschaft hat mich gestern gefeuert, ich wusste nicht, wo ich hingehen sollte, mein Volk ist ja in diesem Land nicht allzu beliebt. Darum kam ich zu euch, und ich habe mit Hanryo schon über alles Wichtige gesprochen. Ich weiß jetzt alles über euch, und ich kann euch sogar ein wenig helfen auf eurer weiteren Reise, immerhin kenne ich mein Volk und alles, was damit zusammenhängt, mit Sicherheit tausendmal besser als ihr beiden zusammen. Ich kann euch durch alle Gebiete meines Volkes führen, ich kann alle erdenklichen Maschinen bedienen oder manipulieren, ich weiß einfach alles über mein Volk. Mit mir an eurer Seite werdet ihr garantiert keine Schwierigkeiten haben, euer Ziel zu erreichen."

"Etwas weniger Optimismus würde auch genügen", kommentierte Hanryo. "Wir werden bestimmt noch mehr als genug Probleme mit den anderen Drachen bekommen, somit ist es schon einmal beruhigend, dass wir uns dank dir fast keine Sorgen um die Jishus mehr machen müssen."

"Einige wenige Sorgen sollten auch vollkommen in Ordnung sein", meinte Tsuzuri. "Selbst ich traue einigen meines Volkes nicht, vor allem die Armee ist korrupt und unberechenbar, im Vergleich zu denen sind die menschlichen Soldaten nahezu freundlich und harmlos. Ich kenne die meisten Gefahren, die uns in meiner Heimat erwarten werden, und damit werden wir sie auch größtenteils vermeiden können, zwar nicht alle, aber viele von ihnen."

"Was ist überhaupt unser nächstes Ziel?", mischte Chikará sich ein.

"Die Hauptstadt des Ostens", antwortete Hanryo. "Die Stadt ist ziemlich groß und unterteilt in einen Süd- und einen Nordteil. Den Südteil werden wir zuerst aufsuchen, dort müssen wir uns noch ein paar Utensilien für unsere weitere Reise beschaffen, zum Beispiel ein neues Schwert für dich wäre doch sinnvoll? Jedoch herrschen in diesem Stadtteil sehr strenge Sitten, eigentlich dürfen nur Menschen hinter die hohen und gutbewachten Stadtmauern, aber wir werden das schon irgendwie schaffen."

"Das wird sicher nicht einfach", fügte Tsuzuri hinzu. "Die Kontrollen an den Stadttoren sind gründlich, habe ich gehört, wir brauchen einen sehr guten Plan, wenn wir wirklich in die Südstadt kommen wollen."

"Mache dir keine Sorge", sprach Hanryo gelassen. "Ich habe es schon etliche Male geschafft, die Wachen zu überlisten und hinein zu kommen." Er schaute sich um und bemerkte die Koffer von Tsuzuri, die immer noch verschlossen neben der Haustür standen. "Wieso hast du deine Sachen eigentlich noch nicht ausgepackt?", wollte er von Tsuzuri wissen. "Du kannst sie gerne vorerst in den Schränken hier verstauen."

Sie blickte ihn verlegen an und wurde dabei ein wenig rot. "Das würde ich lieber nicht tun, denke ich."

"Wieso? Was hast du überhaupt in den Koffern? Sind es denn nicht deine Kleidung und deine alltäglichen Gegenstände?"

"Nein, ich zeige es euch." Sie stand auf, holte einen ihrer beiden Koffer und legte ihn auf den Tisch. Mit einer fünfstelligen Zahlenkombination deaktivierte sie das mechanische Sicherheitsschloss und hob dann langsam die obenliegende Kofferhälfte hoch. Der Inhalt des rätselhaften Gepäcks waren Unmengen von kleinen, roten Stangen, die mit Styropor vor Erschütterung geschützt waren.

"Dynamit?" Hanryo starrte völlig erstaunt auf den Sprengstoff. "Woher hast du das bitte? Vor allem so viel davon?"

"Ich habe da meine Kontakte zu Leuten meines Volkes, die so etwas massenweise herstellen", antworte Tsuzuri ruhig. "Ich wollte niemals Lokführerin werden, Sprengmeisterin war schon immer mein Traumberuf. Für den waren aber meine Fähigkeiten angeblich zu gering, deshalb setzte man mich, ohne mich zu fragen, ob ich es überhaupt wollte, einfach so in das Führerhaus einer Lokomotive. Zumindest kann ich mit dem Sprengstoff inoffiziell meiner wahren Berufung bis zu einem bestimmten Maß nachgehen."

"Mit der Menge kannst du locker eine Kleinstadt verschwinden lassen", sprach Hanryo einwenig amüsiert von ihrer abenteuerlichen Erklärung. "Du musst verdammt gute Nerven haben, wenn du diese Bomben einfach so, ohne große Bedenken, mit dir herumträgst. Was mich aber sehr interessieren würde, ist, was du damit denn bitteschön in die Luft sprengst?"

"Du hast eigentlich vollkommen recht, wenn du mich für ein bisschen krank hältst. Natürlich ist das Dynamit gefährlich, sogar sehr gefährlich, aber ich liebe die Gefahr, ich kenne sie, und ich weiß sehr gut, wie das Material funktioniert. Um deine Frage zu antworten, ich versuche mich meistens nur in meiner Freizeit an einsamen Fels- oder Steinbrüchen. Wenn ihr wollt, könnte ich hiermit aber auch Menschen oder ganz andere Sachen in die Luft jagen, das wäre kein Problem für mich."

"Danke, aber vorerst nicht", lehnte Hanryo dieses zweifelhafte Angebot ab. "Wir wollen im Moment niemanden damit ins Jenseits schicken, aber dennoch könnte dein Sprengstoff und dein Talent für uns eventuell einmal sehr nützlich sein."

"Ich werde euch jeder Zeit helfen."
 

Einige Tage nachdem Tsuzuri sich Hanryo und Chikará angeschlossen hatte, begaben sich die drei auf einen neuen Abschnitt ihrer großen Reise. Sie verließen die Kleinstadt Chaó endgültig, in vielen voll bepackten Koffern nahmen sie sich die wichtigsten Dinge mit. Per Eisenbahn fuhren sie in Richtung Nordost, die Hauptstadt des Ostens, Nara, stellte ihr nächstes Ziel dar. Jedoch waren große, äußerliche Veränderungen bei den dreien notwendig, damit sie überhaupt in die Stadt gelangen konnten. Ein kompletter Kleidungswechsel und andere optische Verwandlungen sollten aber genügen, für den Rest würden gefälschte Papiere reichen. Hanryo kannte dieses Spiel, mit dem richtigen Erscheinungsbild und mit dem Ausweis eines Menschen war der Weg hinter die Stadtmauern wie ein Spaziergang. Natürlich hatte er in seinem Haus alles Erdenkliche, was er und seine beiden Gefährtinnen brauchten, um den Weg nach Nara ohne Bedenken antreten zu können. Am Ende trugen alle drei braune Kontaktlinsen und färbten ihre Haare schwarz, auch war es nötig, lange Gewänder, wie Mönche oder sehr vornehme Leute sie zu tragen pflegten, anzuziehen. Hanryo und Chikará entschieden sich für rotbräunliche, Tsuzuri für ein blaues, es war der typische Blauton, den sie anscheinend immer trug.
 

Als die drei Gefährten im Zug saßen und bereits den größten Teil der Strecke hinter sich zurückgelegt hatten, sagte keiner von ihnen mehr allzu viel. Hanryo lass aufmerksam einen Reiseführer, um neue Informationen für ihren weiteren Weg auf den anderen Kontinent zu erhalten. Chikará war während der Fahrt eingeschlafen, sie hing zusammengekauert im Sitz, ihr Kopf lag an einer Seitenlehne, sie schnarchte leise. Tsuzuri schenkte den beiden keine große Aufmerksamkeit und schaute indes gelangweilt aus dem Fenster. Sie fragte sich, wie es nur möglich war, bei den lauten Fahrtgeräuschen der Lokomotive einzuschlafen? Draußen sah sie viele künstlich bewässerte Reisfelder mit Landarbeitern und riesige Wiesenlandschaften, auf denen Viehherden grasten. Leichte Winde fegten über das Flachland hinweg, man sah es an den Pflanzen, die sich zur Seite neigten. Die Luft war warm und angenehm, und weil das Gras auf den Weideflächen zum Teil ausgetrocknet war, roch es ein wenig nach Heu, es hatte in dieser Gegend schon lange nicht mehr geregnet. In der Ferne bemerkte Tsuzuri einen großen See, in dessen Wasser sich die leuchtenden Strahlen der grellen Mittagssonne spiegelten. Das Licht war so hell und intensiv, dass es sie fast blendete.

Es erinnerte sie an ihre Vergangenheit, an ihre Kindheit in einer großen Stadt der Jishus am anderen Ende der Welt. An den ersten Tagen ihres Lebens sah sie immer wieder diese farbenprächtigen Lichtwellen, schimmernde, bunte Lichtstrahlen, die irgendwie eine sehr positive, fast schon belebende Wirkung auf sie hatten. Jedoch hatte sie niemals erfahren, woher sie kamen, oder wie sie erschaffen wurden, jene Fragen schwirrten ununterbrochen in ihrem Kopf umher. Es waren strahlende Neonlichter, hell und klar, die Farbtöne waren unbeschreibbar schön, es waren alle erdenklichen Farben, nur noch viel stärker und reiner, als man sie sonst kannte. Immer wenn sie dieses Schauspiel sah, kam ihr so vor, als würde sie im Farbenmeer der Lichtwellen schwimmen, so als wäre ein Teil dieser künstlichen, aber dennoch vollkommen Schönheit der Farbtöne. Sie war immer sehr glücklich gewesen, wenn sie die Lichtwellen sah, wenn das Rotviolett, das Gelborange, das Grünblau und die anderen Farben ihren Verstand blendeten. Es hatte sich für sie jedes Mal kurzeitig so angefühlt, als wäre sie schwerelos durch die Luft getrieben, mitten im Farbenwind. Oft träumte sie von den bunten Lichtwellen. Sie hatte niemals etwas Schöneres, etwas Vollkommneres kennen gelernt als sie, nichts Anderes als sie bewegte ihr Gemüt lange Zeit. Keine Jishu, kein Mensch, nichts konnte in ihrer Seele neben ihnen bestehen. Zudem waren sie das Einzige, woran Tsuzuri sich überhaupt erinnerte, wenn sie zurückdachte an ihre Vergangenheit in der Gemeinschaft der Jishus. Wahrscheinlich konnte sie deshalb auch Chikarás großen Wunsch nach der Wiederfindung ihrer Vergangenheit verstehen. Tsuzuri erhoffte sich ebenso wie Chikará, durch diese Reise einen Teil ihrer eigenen Vergangenheit zurückzubekommen. Bei Chikará waren alle Erinnerungen ausgelöscht wurden, bei Tsuzuri hingegen waren immerhin die Erinnerungen an die Lichtwellen übrig geblieben, vielleicht hatte sie im Laufe der Zeit das Übrige auch mit Absicht vergessen. Wie gerne hätte sie die atemberaubende Schönheit der Lichtwellen noch ein einziges Mal erlebt. Es mochte vielleicht seltsam klingen, dass lediglich das Geheimnis dieser Lichtwellen ihr Ziel waren, aber wenn man ihr von Monotonie und Einsamkeit gezeichnetes Leben besser kannte, so konnte man es vielleicht doch ein wenig nachvollziehen. Sie hatte niemals den Kontakt zu anderen Jishus oder Menschen gesucht, lieber hockte sie alleine vor großen Maschinen und träumte von den Lichtwellen, von ihren Lichtwellen. Sie sah in ihrem Leben niemals einen wirklichen Sinn, höchstens ihrem Volk zu dienen, sonst nichts. Aber ihr Volk brauchte sie schon lange nicht mehr, wieso hätte man sie sonst so weit weg von ihrem Zuhause und weg von den Lichtwellen arbeiten gelassen? Manchmal verspürte sie sogar einen gewissen Hass gegen ihr Volk und gegen sich selbst. Andere Jishus gab es im Osten kaum, die Menschen mieden den Kontakt zu ihr. Um in dieser Welt überhaupt noch irgendetwas zu haben, das ihr Kraft gab weiterzuleben, vertiefte sie sich immer weiter in die Träumereien aus ihrer Kindheit, in die Fantasien von den wunderschönen Lichtwellen. Leider war jedoch der Weg zurück in ihre Heimat für sie nahezu unmöglich, da sie weder Geld, noch gute Kontakte zu den Jishus aus der Schifffahrt hatte. Hätte sie es dennoch versucht, so wäre sie wohl irgendwann von den vielen Schiffswächtern oder Matrosen auf der wochenlangen Rückreise entdeckt und sogar mit dem Tode bestraft worden, weil man ihre Flucht als Verrat an ihrem Volk gesehen hätte, und dafür drohte seit jeher die Höchststrafe. Alleine war sie also ohne Frage hilflos und unfähig, ihr großes Ziel irgendwann einmal zu erreichen. Aber nun, wo sie zwei mächtige und weise Wegbegleiter gefunden hatte, mit denen sie zurück in ihre Heimat gelangen konnte, begann sie langsam daran zu glauben, die Lichtwellen bald wirklich noch einmal sehen zu können und vielleicht sogar ihr großes Geheimnis zu lüften. Angetrieben von diesem einen Gedanken fand sie zum ersten Mal in ihrem Leben so etwas wie Freunde, obwohl sie das Schicksal von Hanryo und Chikará eigentlich recht wenig kümmerte, fühlte sie dennoch neben ihrem großen Egoismus für die beiden eine gewisse Sympathie.
 

"Warst du schon einmal in Nara?", weckte Hanryo sie aus ihrem Traum.

"Nein", antwortete Tsuzuri etwas überrascht und wandte sich zu ihm. "Ich bin vielleicht einmal mit einem Güterzug an dem nahe liegenden Bahnhof vorbeikommen, mehr aber auf keinen Fall. Du bist aber schon oft dort gewesen, oder?"

"Ja, es ist eine sehr schöne Stadt. Die alten Gebäude, Paläste und Heiligtümer, die viele Kunst überall, die schönen Gärten, die netten Menschen, die guten Herbergen und Restaurants, dort lässt sich es angenehm leben. Ich bezweifle aber, dass es dir dort gut gefallen wird, dein Idealbild einer Stadt ist wohl ein völlig anderes, du würdest dann doch eher eine High-Tech-Metropole bevorzugen?"

"Gut möglich, aber ich bilde mich gerne weiter, und einen Hauch von Interesse habe selbst ich für die menschliche Kultur. Wieso wollt ihr überhaupt nach Nara, ich denke, es gäbe durchaus schnellere Weg zu eurem Ziel, dem Kontinent meines Volkes?"

"Das stimmt, dennoch soll Chikará lernen, die Menschen besser zu verstehen. Ihr Vater hasste die Menschen und verstand niemals ihre Lebensphilosophie. Chikará soll anders werden, sie soll tolerant und respektvoll den Menschen gegenübertreten."

"Menschen gibt es überall in der heutigen Welt, gäbe es nicht viel unkompliziertere Wege, um ihr das menschliche Denken nahe zu bringen?"

"Hast du schon einmal etwas von dem Phönix-Tempel oder von Ammunaba gehört?"

"Nein." Sie zuckte mit den Schultern. "Was soll das sein?"

"Es braucht viel mehr als Gespräche und Städteführungen, um die Menschen zu verstehen, aber wenn sie die Menschen versteht, dann wird Chikará auch sich selbst und ihre große Aufgabe besser verstehen."

Tsuzuri schwieg einige Momente, in denen sie über Hanryos Worte nachdachte und sich traute, ihm eine für sie sehr wichtige Frage zu stellen. "Und was wird nach Nara kommen, werdet ihr mich dann auch wirklich mit auf den anderen Kontinent nehmen?"

Er runzelte die Stirn. "Wieso fragst du das? Natürlich werden wir dich mitnehmen, vorausgesetzt du bleibst auf unserer Seite und hilfst uns. Welchen Grund hast du denn, dass du wieder zurück in deine Heimat willst?"

Sie zögerte, da ihr klar war, dass sich die Wahrheit wie eine falsche Antwort angehört hätte. "Ich will zurück zu meiner Familie, ich habe sie schon sehr lange nicht mehr gesehen."

Hanryo schloss kurz die Augen, seine Stimme klang danach ruhig, aber dennoch beständig. "Tsuzuri, für wen hältst du mich eigentlich? Ich komme aus derselben Gegend wie du, dein Volk ist mir sehr vertraut. Du hast keine Familie, ihr Jishus habt keine Familien, ihr werdet im Labor geboren, ihr habt keine Eltern, Maschinen sind eure Eltern, Maschinen, die ihr selbst gebaut habt. Wieso belügst du mich?" Seine letzte Frage hörte sich nicht wütend an, sondern klar und verständnisvoll. Er dachte sich, dass ihre Lügen bestimmt gute Gründe hatten, dennoch überkam ihn zugleich eine gewisse Art von Unverständnis, da er ihr die ganze Wahrheit über Chikará und sich selbst offenbart hatte, erwartete er von ihr ebenfalls Vertrauen und Ehrlichkeit.

Tsuzuri schämte sich ein wenig für ihre Lügen und begann auf den Boden zu starren, dabei wurde sie im Gesicht blass und ihre Augen schlossen sich langsam.

Hanryo legte sanft seine rechte Hand auf die ihrige. "Du musst mir nicht den wahren Grund nennen, wenn du es nicht willst."

Sie schwieg, wandte sich von ihm ab, schaute wieder aus dem Fenster nach draußen in die grüne Landschaft und träumte weiter von den Lichtwellen.

Hanryo sah flüchtig zu Chikará, die immer noch tief und fest schlief, ihr Anblick gab ihm ein leichtes Lächeln, dann las er weiter in seinem Reiseführer.

Nara (Teil 1)

Die Stadt Nara war unterteilt in einen Süd- und einen Nordteil, wobei letzterer nur eine Art Minderheiten-Viertel darstellte, welches nicht von der schützenden Stadtmauer umgeben war und nicht einmal in Stadtplänen auftauchte, denn den Reisenden und Touristen sollte seine Existenz vorborgen bleiben. Der Südteil von Nara war die Hauptstadt des Ostens und zählte mehr als eine Million Einwohner. Eine hohe und gut bewachte Steinmauer, die um die gesamte Südstadt führte, garantierte Schutz vor den Einflüssen der restlichen Welt, die strengen Wächter ließen keine Technik oder Waffen hinein. Öffentliche Sicherheit und keine Kriminalität waren die positiven Auswirkungen von diesem fragwürdigen System, das die Stadt zu einer eigenen kleinen, isolierten Welt gemacht hatte. Nara wurde vom Kaiser des Ostens regiert, der im monumentalen Kaiserpalast der Stadt seine Residenz hatte. Er hatte aus religiöser Sicht den Segen der Götter hatte und gar als ihr Nachfahre oder als lebender Gott galt, und er war, aller Kritik zum Trotz, ein gerechter und weiser Herrscher, dessen Volk stets treu hinter ihm stand. Große Menschenmassen aus dem gesamten Osten pilgerten jedes Jahr zu den wichtigen Heiligtümern von Nara, welche die vielen verschiedenen Religionen des Ostreiches repräsentierten.
 

In der Nähe des Bahnhofs befand sich das Stadttor von Nara. Vor dem einzigen Eingangstor der Stadt standen Hanryo, Chikará und Tsuzuri mitten in einer langen Menschenschlange, viele wollten noch vor dem baldigen Einbruch der Nacht in die Stadt hineingelangen. Jeder der dreie trug einen braunen Leinensack in der Hand, in dem das Gepäck transportiert wurde. Es wurde allmählich dunkel am Himmel und damit kühl im Freien. Überall am Stadteingang unterhielten sich die Reisenden über ihre Abenteuer oder ihren Glauben, die meisten von ihnen waren Menschen aus dem Südosten. Als dann nach mehrstündigen warten Hanryo und Tsuzuri kontrolliert wurden, konnte man bei ihnen keine Waffen oder technische Gegenstände finden, somit wurde ihnen der Eintritt in die Stadt gewährt. Natürlich waren sie nicht ohne Waffen und Sprengstoff verreist, jene Dinge und ihre normale Kleidung hatten sie aber zuvor in Bahnhofschließfächern deponiert.

Chikará bekam etwas Angst während der Kontrolle, die auf einem kleinen Platz vor dem Eingangstor stattfand. Die Stadtwächter waren starke Männer in majestätischen Metallrüstungen, kalt und genau waren ihre misstrauischen Blicke. Viele trugen mehrere Schwerter bei sich, ihre Gesichter waren wie eingefroren und mit vielen Narben von Kämpfen gezeichnet. Chikarás Herz schlug laut und schnell, als sie an der Reihe war, sie schwitze und zitterte am ganzen Körper, dennoch ließen die Wächter sie ohne lange zu zögern passieren. Wahrscheinlich erahnten sie, dass die junge Frau keinen wirklichen Grund für ihre Ängstlichkeit hatte und ebenso keine bösen Absichten, lediglich die Respekt einflößenden Rittergestalten waren, dem Anschein nach, für ihre Furcht verantwortlich.

Nach der Kontrolle ging es weiter einen kleinen Pfad entlang, an dessen Seiten weitere schwer bewaffnete Wachritter standen, deren düstere Blicke ebenso unheimlich wirkten, wie die der Wächter an der Kontrollstelle.

Erst als Chikará direkt vor der Stadtmauer stand, wurde ihr die wahre Größe des Bauwerks von mindestens zwanzig Metern Höhe und ungefähr zehn Metern Breite bewusst. Auf den Zinnen, die mit roten Dachziegeln bedeckt waren, warteten wachsame Bogenschützen auf ihren Einsatz, an vielen stellen hing die Flagge des Ostens, der schwarze Stern auf rotem Grund. Es musste praktisch unmöglich gewesen sein, unbemerkt in die Stadt einzudringen, dachte sie sich staunend. Am Durchgangsportal säumten menschengroße Steinfiguren von Löwen und Dämonen mit weit geöffneten Mäulern, die gierig auf die Reisenden fixiert waren. Ganz im Gegensatz dazu waren die goldenen Schriftzeichen über dem Torbogen, die ,Tritt ein Fremder, in die Stadt des ewigen Friedens' bedeuteten. Lodernde Fackeln wiesen den Weg durch die Passage, in der beinah völlige Stille herrschte, weder der Wind, noch die sich unterhaltenden Wanderer waren unter dem kolossalen Torbogen noch zu hören. Wandreliefe zeigten große Schlachten aus ferner Vergangenheit, aus der Zeit, in der Nara errichtet wurden war als Versteck der Kaiserfamilie vor den rechtlosen Armeen, die plündernd durch die Länder gezogen waren.
 

Hinter dem Eingangstor sah man sogleich die Hauptstraße, die zum Kaiserpalast führte, mit goldenen Feuerlaternen am Rand wurde sie in der Dunkelheit erhellt. Bis auf die Wachritter, die alle paar Meter am Weg patrouillierten, war niemand mehr dort draußen zu erkennen. Die Kriegerkaste hatte in Nara noch eine wichtige Bedeutung und genoss zahlreiche Privilegien und Rechte, die die normalen Bürger nicht hatten, zum Beispiel das fragwürdige Recht, einen jeden, der sie provozierte, sofort erschlagen zu dürfen. Immerhin war durch die allgegenwärtige Militärmacht und Überwachung Nara zur wohl sichersten Stadt der Welt geworden.

Die Häuser der Hauptstadt des Ostens waren größtenteils in altertümlicher Holzbauweise gebaut, wie sie vor einigen Jahrhunderten oder gar Jahrtausenden überall üblich gewesen war. Lackiert waren manche der Gebäude in Rot- oder Grüntönen, die Dächer waren geschützt durch graue oder schwarze Ziegel, einige hatten auch nur einfache Strohdächer. Zur Straße hinausragende Schilder an den Hausfassaden verrieten den Zweck der Gebäude, die meisten am Stadteingang waren Wirtschaften und Herbergen für die Reisenden.

Hanryo wählte schnell eine Unterkunft für die Nacht aus, es war ein kleines Gasthaus, in dem er schon oft übernachtet hatte. Von Außen sah das Gebäude sehr gepflegt und vornehm aus, die hellen Holzwände waren sauber und ohne Kratzer oder Risse, durch die offene Eingangstüre und die einfachen Fenster ohne Glasscheiben oder Rollladen strahlte Licht nach draußen auf die Straße. Die metallenen Preisschilder neben der Türe zeigten zwar, dass die Nacht hier zu verbringen nicht gerade billig werden würde, aber Chikará besann sich ohne Sorgen auf Hanryos prall gefülltem Geldbeutel zurück. An der bescheidenen Rezeption, die lediglich aus einem Holztisch bestand, auf dem ein großes Buch und eine Schreibtuschegarnitur lag, stand ein alter Mann mit langen grauen Haaren und orangebrauner Kluft. Er begrüßte die Gäste mit einem freundlichen Lächeln und einer Verbeugung, man erwiderte aufmerksam den Gruß. Er kannte Hanryos Namen und sprach ihn mit einem leichten Augenzwinkern an auf seine doppelte weibliche Begleitung, woraufhin dieser entgegnete, dass es sich bei ihnen lediglich um Verwandte handeln würde. Der alte Mann lachte und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter, dann bezahlte Hanryo für drei Einzelschlafzimmer.

Nach einem kleinen Abendessen im benachbarten Wirtshaus, bestehend aus einer kräftigen Nudelsuppe mit Hühnerfleisch und Gemüse, die allen gut geschmeckt hatte, diskutierte man noch kurzzeitig über den nächsten Tag in Nara und die ersten Eindrücke der Stadt. Chikará war gespannt auf die Bauwerke und Heiligtümer der Hauptstadt, während Tsuzuris Begeisterung sich ziemlich in Grenzen hielt, was sie damit begründete, dass ihr Volk sich niemals großartig für die Vergangenheit oder die Traditionen der Menschen gekümmert hatte. Schließlich begaben sich die drei in ihre getrennten Schlafräume im ersten Stock der Herberge. Die kleinen weißen Kammern waren jeweils eingerichtet mit einer Strohmatte am Boden, die als Bett diente, einem Wandschrank für das Gepäck, und einer Blumenvase aus braunem Ton mit blau blühenden Chrysanthemen, ein rundes Fenster ermöglichte die Sicht auf den nächtlichen Sternenhimmel. Als Tür diente eine mit Blumen bemalte Papierschiebetür, die aber vollkommen ausreichte, da aus Höflichkeit gegenüber den anderen Gästen niemand im Haus nach Einbruch der Nacht mehr laut sprach oder unnötig den Flur entlang ging. Eine Toilette und ein Bad gab es leider nur einmal pro Etage, also für ungefähr dreißig Zimmer gleichzeitig, darum war es immer mit etwas Glück verbunden, ob es frei war oder nicht.
 

Chikará gewöhnte sich schnell an die neue, etwas enge Umgebung, es erinnerte sie sogar ein wenig an die Hütte von Mián zurück, die nicht viel größer gewesen war. Jedoch verdrängte sie die Gedanken an ihre tote Freundin schnell wieder aus ihrem Kopf, weil der große Schmerz über ihren Verlust zu diesem Zeitpunkt noch nicht aus ihrer Seele verschwunden war, zu tief saß er immer noch in ihr. Auf der weichen Strohmatte zu liegen war sehr bequem und erholsam, ein dünnes Baumwolltuch diente als Decke. Ein kühler Wind kam durch das Fenster hinein und wehte durch den ganzen Raum, die Luft war, für die einer Stadt, recht sauber, und es roch sogar ein wenig nach den duftenden Chrysanthemen in der Blumenvase.

Hanryo hatte gesagt, dass sie morgen früh Einkaufen gehen würden, am Nachmittag würden sie sich dann den Kaiserpalast ansehen, worauf sich Chikará besonders freute. Es interessierte sie sehr, wie der Kaiser der Menschen im Osten lebte, da sie irgendwann als Drachenkaiser, so dachte sie, bestimmt nicht viel anders leben würde. Vielleicht wäre ihr Palast wesentlich kleiner, und die Anzahl ihrer Untertanen und Wächter viel geringer, aber das würde sie nicht sonderlich kümmern, solange sie sich mit ihrem winzigen Volk verbunden fühlen würde, wäre sie mit sich selbst zufrieden. Wahrscheinlich war es aber auch noch viel früh, um überhaupt an so etwas zu denken, der Weg vor ihr schien noch so endlos lang. Wer sollte wissen, ob sie es bis zum Ziel schaffen würden oder vorher scheitern sollten? Eine andere wichtige Frage für Chikará war, welche Rolle Tsuzuri in diesem Spiel um das Schicksal des Drachenvolkes einnehmen würde? Chikará misstraute ihr nach wie vor und fragte sich sogar, wieso Hanryo diese eigenartige Jishu überhaupt auf die Reise mitgenommen hatte. Vielleicht verfolgte sie in Wirklichkeit ganz andere Ziele wie als ihre beiden Gefährten? Vielleicht sollte durch sie diese Reise ein jähes Ende finden? Aber woher kam bei Chikará denn dieses Misstrauen? Sie hatte Hanryo vertraut, und er hat sein Versprechen von einem besseren Leben für sie eingehalten, wieso sollte Tsuzuri eine Lügnerin sein? Es gab keinerlei Beweise dafür, wahrscheinlich war das alles nur eine Folge von Chikarás ständigen und unbegründeten Misstrauen gegenüber jeden, der ihr half. Sie kannte diese Welt nicht allzu gut, überall glaubte sie Feinde zu sehen, in den Slums konnte sie niemanden trauen außer Mián. Nun, wo sie nicht mehr in den Slums war, trat Hanryo an Miáns Position, und Tsuzuri, sie war irgendwo anders zwischen Vertrauen und Misstrauen zu finden. Letzten Endes entschied sich Chikará ihre Befürchtungen, von Tsuzuri verraten zu werden, abzulegen und ihr eine Chance zu geben, welche sie auch verdiente, immerhin hatte sie ihr schon einmal geholfen, nämlich als sich der Vorfall mit den Eisenbahnräubern ereignet hatte. In den nächsten Tagen wollte Chikará versuchen, ein längeres und offeneres Gespräch mit ihrer neuen Begleiterin zu führen, wonach sie mit Sicherheit ein besseres und genaueres Bild von ihr haben würde, und damit auch eine Antwort auf ihre Frage nach Vertrauen. Tsuzuri war auf dem ersten Blick schon ein komischer Vogel, aber vielleicht war sie im Inneren ganz anders?

Chikará drehte sich im Bett und schaute durch das Fenster oberhalb von ihr zum schwarzen Nachthimmel. Die Sterne leuchteten hell, immer noch lag der Duft der Chrysanthemen im Raum, es herrschte erholsame Stille. Sie schlief ein.
 

Als am darauf folgenden Tag, um ungefähr sieben Uhr, die Sonne langsam wieder aufstieg, verließen die drei Gefährten die Herberge, um ein paar Utensilien für die weitere Reise einkaufen zu gehen. Die Geschäfte waren am Rande der Hauptstraße verteilt, am Morgen waren noch nicht allzu viele Menschen dort, obwohl bereits so ziemlich alle Händler ihre Läden geöffnet hatten. Sperlinge und andere kleine Singvögel flogen über den Straßenboden, wenn sie dort Essenreste entdeckten, landeten sie sogleich, und als sie fertig gegessen hatten, zwitscherten sie freudig. Der Himmel war bewölkt, dennoch sollte es wohl nicht regnen, die Luft war warm und angenehm. Die Hausfassaden wurden durch ein trübes Sonnenlicht erhellt, durch das auch die metallenen Rüstungen der patrouillierenden Wachsoldaten ein wenig glänzten.

Um kein großes Aufsehen zu erwecken, schwiegen Hanryo, Chikará und Tsuzuri, während sie entlang der Hauptstraße gingen. Hanryo wusste sehr wohl, dass bestimmt nicht alle die gefälschten Pässe akzeptieren würden, einigen wenigen würde der Betrag mit Sicherheit auffallen. Wenn die Tarnung auffliegen sollte, konnten sich die drei auf einen ziemlich langen Gefängnisaufenthalt vorbereiten. Also waren große Vorsicht und Unauffälligkeit geboten, um ohne Probleme die Stadt durchqueren zu können.

Das erste Gebäude, dass die drei Gefährten aufsuchten, war ein nobles Waffengeschäft. Vor dem Eintreten fragte Hanryo Tsuzuri leise, ob er auch ihr ein Schwert kaufen sollte. Diese lehnte das Angebot ab mit der Begründung, dass sie absolut nicht kämpfen könne, woraufhin Hanryo ironisch lächelte. Chikará fragte ihn noch, wie es möglich war, hier Waffen zu kaufen, da diese doch eigentlich in der gesamten Stadt verboten waren. Er erklärte ihr, dass man die erworbenen Waffen stets verpackt in einem schweren Metallkoffer erhielt, den nur die Wachsoldaten außerhalb der Stadt zu öffnen fähig waren, somit konnte man die Waffen erst benutzen, wenn man Nara bereits verlassen hatte.

Schließlich betraten sie das vornehm scheinende Geschäft und schauten sich drinnen um. Hunderte von Schwertern und Messern lagerten in den Vitrinen, teilweise waren sie unglaublich teuer, aber dafür auch unbeschreiblich edel und imposant. Ein Mann mittleren Alters kam zu ihnen und begrüßte sie. Er hatte eine Glatze und trug ein kostbares, rubinrotes Gewand, freundlich fragte er seine Kunden, ob er ihnen helfen könne. Hanryo erklärte ihm, dass Chikará ein neues Katana bräuchte, eine Maßanfertigung sollte es sein, ein spezielles Einzelstück, an dem der Waffenschmied sein ganzes Können unter Beweis stellen sollte. Der Preis wäre unerheblich, es sollte nur die beste Waffe dieser Art sein, die er jemals geschmiedet hätte. Der Waffenhändler lächelte und erklärte sich bereit für diese große Aufgabe.

Er nahm Maße von Chikarás Händen, um den Griff in einer für sie optimalen Form und Größe verarbeiten zu können. Als Material schlug er ein seltenes Eisenerz vor, dass er vor kurzem von einem fahrenden Händler erworben hatte, welcher es irgendwo am anderen Ende der Welt gefunden hätte. Es würde sich durch seine außergewöhnliche Stärke und Festigkeit auszeichnen, es wäre vielleicht sogar das beste Metall der Welt für Waffen. Hanryo willigte natürlich ein und gab dem Verkäufer eine hohe Summe als Vorkasse, dieser versprach ihm sogleich, dass das anspruchsvolle Werk bereits an übernächsten Tag fertig sein würde.
 

Wieder auf der Hauptstraße, wo sich immer noch recht wenige Menschen aufhielten, kamen die drei an einem Hospital mit Medizinhaus vorbei, wo hoch qualifizierte Ärzte und erfahrene Mediziner arbeiteten, diese Institution war im ganzen Osten bekannt für ihre Erfolge in Heilung, Chirurgie und Forschung.

Hanryo blickte zu Chikará und blieb stehen. "Ich weiß nicht, ob man die tiefe Wunde an deinem Hals irgendwie heilen kann, aber einen Versuch wäre es wert. Wenn es überhaupt Menschen gäbe, die dies schaffen könnten, dann wären es diejenigen, die hier arbeiten. Willst du es einmal versuchen?"

Chikará überlegte kurz und nickte.

"Welche Wunde?", fragte Tsuzuri neugierig.

"Zeig sie ihr ruhig, davon hatte ich vergessen, ihr zu erzählen", forderte Hanryo Chikará auf, diese zog daraufhin den Kragen ihres Gewandes ein wenig herunter, sodass Tsuzuri die alte Verletzung sehen könnte.

Die Jishu erschrak und starrte ungläubig auf die schwere Schnittwunde. "Wie, wie ist dir das passiert?"

"Man wollte mich töten", antwortete Chikará trocken und genervt klingend.

"Aber ich dachte, du wärst unverwundbar? Trägst du deswegen auch immer dieses Halstuch? Ich hatte mich schon gewundert, warum du es niemals ablegst."

"Ich werde es dir erklären", entgegnete Hanryo zu Tsuzuri. "Du und ich, wir werden in die Stadtbibliothek gehen, ich benötige noch ein paar Informationen über den weiteren Weg zum Meer. Währenddessen kann Chikará sich im Hospital Rat holen", er drehte sich zur letztgenannten. "Vielleicht kann man dir hier wirklich helfen? Du solltest jede Chance nutzen, egal wie gering sie zunächst scheinen mag."

"Ich glaube nicht, dass man mir hier helfen kann", zweifelte Chikará. "Es handelt sich ja immerhin um eine magische Verletzung und keine natürliche, wie die Menschen sie kennen."

"Die Menschen benutzen auch magische Medikamente zur Heilung von Krankheiten, ohne es zu wissen."

"Wirklich?", mischte Tsuzuri sich aufgeregt ein.

Hanryo wandte sie wieder zur Jishu. "Ich werde es dir alles erzählen, wir müssen jetzt aber endlich weitergehen, schließlich wollen wir bis zum Mittag unsere Einkäufe beendet haben, um dann zum Kaiserpalast gehen zu können."

Die beiden gingen weg. Chikará schaute ihnen noch einige Zeit hinterher, bis sie mit einer schlechten Vorahnung ins Hospital eintrat.
 

Am Empfang schilderte sie kurz ihre Beschwerden und wurde von einer Krankenschwester in einen kleinen Untersuchungsraum geschickt, wo sie nun auf einen Arzt warten sollte. Das Hospital war auffallend sauber, die Holzwände und der Fußboden waren weiß angestrichen und ohne auch nur einen einzigen dunklen Flecken. Eine schwarze Lederliege und ein Holztisch, auf dem verschiedenen medizinischen Messinstrumenten und Medikamentenbehältern lagen, stellten die Einrichtung des kleinen Raumes dar.

Chikará setzte sich auf die Liege und wartete gelangweilt auf den versprochenen Arzt. Sie war zu diesem Zeitpunkt ein bisschen verärgert über Hanryo und Tsuzuri. Über Hanryo, weil er genau wusste, wie peinlich ihr die Wunde war, und weil er sie dennoch damit zu menschlichen Ärzten geschickt hatte, er hätte sich sehr gut denken können, dass sie dort keine Hilfe finden würde. Über Tsuzuri hatte sie sich aufgeregt, weil diese sich immer so naiv und kindlich gab, ihre ganze Art gefiel Chikará nicht sonderlich. Manchmal kam es ihr sogar so vor, als würde ihre Sympathie für Tsuzuri mit jedem Wort, das diese von sich gab, rapide fallen.

Aber es dauerte nicht lange, bis Chikará in der Einsamkeit wieder zur Vernunft kam und die eigentlich unbegründete und unnötige Wut auf ihre beiden Gefährten verdrängte. Gespannt auf das Resultat dieser ganzen irrsinnigen Aktion wartend, überlegte sie sich indes eine gute Begründung für ihre Verletzung, da die Wahrheit eindeutig fehl am Platz gewesen wäre.

Dann ging die Türe auf und eine junge Ärztin trat ein. Es war eine schlanke Frau mit Mandelaugen, dunklen Haaren und gelblicher Haut, sie trug eine hellgraue Robe. Nachdem sie ihre Patientin mit einer Verbeugung begrüßt hatte, fragte sie jene nach ihrem Leiden, in Folge dessen enthüllte Chikará ihren Hals und begann zu erklären: "Es war ein Unfall, ich wurde fälschlicher Weise des Mordes beschuldigt, und die Polizisten wollten durch Folter ein Geständnis von mir erpressen."

"Hat sich die Angelegenheit denn noch korrigiert?", wollte die besorgte Ärztin wissen, die über diese Geschichte sehr verwundert war.

"Ja, zum Glück sitzen die verantwortlichen Polizisten jetzt im Gefängnis, und ich bin frei, auch habe ich eine Menge Schmerzensgeld erhalten, aber die Wunde will irgendwie nicht verheilen, ich habe sie jetzt schon seit einigen Monaten."

Mit einer Lupe schaute sich die Ärztin die Verletzung genauer an, mit einem Wattestäbchen tastete sie sie sanft ab, trotzdem zuckte Chikará jedes Mal weg und kniff vor Schmerzen die Augen zu, wenn die Wunde berührt wurde.

Die Ärztin ging danach zum Tisch und schrieb etwas auf. "Das sieht nicht gut aus", sagte sie mit ernsthafter Stimme. "Ich habe wirklich keine Ahnung, wieso die Haut an der Stelle nicht mehr verheilt. War die Klinge, durch die die Verletzung verursacht wurde, mit Gift, Chemikalien oder etwas Vergleichbarem überzogen?"

"Das ist möglich, ich weiß es nicht", erwiderte Chikará, die langsam eine gewisse Angst bekam, dass der ganze Schwindel eventuell auffliegen könnte.

"Ich könnte dir höchstens einen Verband machen und einige Heilung fördernde Medikamente verschreiben, wenn du es willst?"

"Danke, es geht eigentlich schon so", antwortete Chikará, in der Hoffnung ziemlich bald wieder weggehen zu können. "Ich könnte nur etwas gegen die Schmerzen vertragen."

"Ich werde dir ein gutes Mittel gegen die Schmerzen injizieren." Die Ärztin ging wieder zu Chikará, in der Hand hielt sie eine Metallspritze mit einer dunklen Substanz, und setzte sich neben die junge Frau auf die Liege. Die Ärztin fasste sanft nach dem Arm ihrer Patienten, legte ihren Daumen auf den Kolben der Spritze und setzte vorsichtig die Nadel auf Chikarás Haut auf.

Genau in diesem Moment wurde Chikará plötzlich bewusst, was jetzt passieren würde, ein großer Schock durchfuhr sie. Vor Angst, dass ihr Geheimnis auffliegen könnte, bekam sie Schweißperlen auf der Stirn und wurde im Gesicht kreidebleich. Mit einer blitzartigen Bewegung zog sie ihren Arm von der Spritzennadel weg, dabei brach die dünne Metallkapillare mit hellem Klang über. "Entschuldigung, es tut mir sehr leid!", hechelte Chikará schwer atmend und völlig aufgeregt. "Ich habe panische Angst vor Spritzen, das hatte ich vergessen zu erwähnen, Verzeihung."

Die Ärztin legte behutsam eine Hand auf Chikarás Knie. "Beruhig dich erst einmal, du siehst so aus, als würdest du jeden Moment tot umfallen." Sie blickte verwundert auf die übergebrochene Spritzennadel. "So etwas ist mir auch noch niemals passiert, ich dachte immer, diese Metallnadeln wären ziemlich robust." Sie drehte sich wieder zu Chikará und schaute auf ihren Arm. "Was ist mit deinem Arm, ich war wohl anscheinend noch nicht in der Haut, du blutest nicht."

"Mir ist nichts passiert." Chikará sammelte sich allmählich wieder. "Aber gibt es das Schmerzmittel nicht vielleicht auch in Tablettenform?"

"Es ist das gelöste Konzentrat einer Pflanzenwurzel aus dem Westen, du kannst es aber auch im Medizinhaus als klein gehackte Stücke kaufen, die kannst du dann über den Mund einnehmen."

"Ja, das wäre viel besser."

"Ich schreibe dir den Namen auf, gib dann einfach beim Medizinverkäufer den Zettel ab."

"In Ordnung, vielen Dank."

Die Ärztin schrieb den Namen des Medikaments auf ein Blatt Papier und überreichte Chikará dieses, anschließend verabschiedeten sie sich voneinander. Dabei entschuldigte sich Chikará noch einmal für den Vorfall mit der Spritze und bezahlte das Geld für die Untersuchung.

Im Medizinhaus fand das Personal schnell das benötige Präparat und verpackte es in einen Lederbeutel. Es waren kleine dunkelbraune Brocken, die einen schrecklichen Geruch hatten, der Chikará an den Gestank von vermodertem Obst erinnerte.
 

Vor dem Hospital erwarteten sie bereits ihre beiden Gefährten. Hanryo wollte sie eigentlich fragen, wie der Besuch verlaufen war, aber Chikarás depressiver und enttäuschter Gesichtsausdruck sprach für sich. "Nun, es war, wie ich es geahnt habe", sagte sie mit gefühllos klingender Stimme. "Die Menschen können nichts gegen magische Wunden verrichten, lediglich ein Schmerzmittel habe ich bekommen."

Weder Hanryo noch Tsuzuri wussten darauf einen motivierenden Satz, weswegen beide schwiegen und Chikará mit einer Mischung aus Mitleid und Unverständnis anschauten. Schließlich ging Hanryo langsam an ihr vorbei und legte dabei kurz seine warme Hand auf ihre Schulter. "Gehen wir weiter, ich muss dir noch etwas sehr Wichtiges zeigen." Er ging danach weiter die Hauptstraße entlang. Tsuzuri kam indes zu Chikará, sie lächelte und strich ihr mit der Handfläche sanft über die Wange. "Kaiserin, ich halte zu dir, egal was kommt." Sie schaute Chikará tief in die Augen, der heitere Blick der Jishu wirkte auf sie zugleich ehrlich und verständnisvoll. Dann drehte Tsuzuri sich wieder von ihr weg und folgte hastig Hanryo. Chikará hasste es eigentlich, von ihr so angesprochen zu werden, aber ihr freundschaftliches und liebenswürdiges Auftreten hatten das dieses Mal entschuldigt. Die einzige Frage, die Chikará sich stellen musste, war, wie ernst Tsuzuri dieses Schauspiel wirklich meinte. Aber bevor sie sich darüber zu lange den Kopf zerbrach, lief sie ihren beiden Gefährten hinterher, um sie nicht in den unbekannten Straßen aus den Augen zu verlieren.
 

Ein ziemlich alt wirkendes Haus, das wahrscheinlich eine Art Museum darstellte, sollte das nächste Ziel sein. Hanryo blieb vor dem zweistöckigen Gebäude stehen, das komplett aus dunklem Buchenholz erbaut war und welches ein schwarzes Dach mit vergoldeten Rändern besaß. Ein Bronzeschild am Eingang sprach vom ,Haus der Drachen', unter den Schriftzeichen war auch solch ein Wesen als Reliefbild zu sehen. Chikarás erste Reaktion war ein verwunderter Blick, anschließend wuchs in ihr eine enorme Neugier, da sie nicht die geringste Ahnung hatte, was die Menschen wohl in einem Gebäude mit diesen Namen lagern sollten, schließlich kannten sie ja keine Drachen, höchstens jene aus den Kindermärchen, die niemals so existiert hatten. Ein Wächter verlangte eine geringe Summe als Eintrittspreis, Hanryo bezahlte für seine zwei Begleiterinnen und für sich selbst. Tsuzuri war ebenfalls ein wenig gespannt auf den Besuch des Hauses, weil auch sie mittlerweile ein gewisses Interesse für die Geschichte und Herkunft ihrer beiden Freunde entwickelt hatte.

Im Erdgeschoss des Museums, das sehr schlicht und ohne viel Prunk eingerichtet war, fand man keine weiteren Besucher außer den dreien. Ausgestellt waren zahlreiche Gemälde mit Drachen als Motiven, einige waren nur ein paar Jahre alt, andere mehrere Jahrhunderte. Oft sah man die Drachentypen, die alle aus den Legenden und Erzählungen kannten, reptilienartige Wesen mit Flügeln und Hörnern, die Feuer spieen und Menschen fraßen. Chikará war bewusst, dass diese Arten von Drachen nur in den Gedanken der Menschen existierten, obwohl zwischen den richtigen Drachen in ihrer wahren Form und einigen wenigen auf den Bildern dennoch zahlreiche Parallelen zu erkennen waren. Als Vergleich nahm sie Yiwèn aus Ryuchengshi, den einzigen Drachen in der wahren Gestalt, den sie bis dahin gesehen hatte. Eine geringe Zahl von Drachen auf den Gemälden erinnerten sie doch sehr stark an sein Erscheinungsbild, wo hingegen die vielen übrigen etwas völlig Anderes zeigten. Es waren vor allen die älteren Werke, die an die Realität noch einigermaßen herankamen, die neueren zeigten lediglich absolute Fantasiegeschöpfte. Chikará kam zu dem Ergebnis, dass die Menschen, die ihre Bilder vor etlichen Jahrhunderten gemalt hatten, noch die wahre Gestalt der Drachen gekannt haben müssen. Als sie die Jahreszahlen genauer verglich, legte sie sich auf ein Datum von zirka siebenhundert Jahren in der Vergangenheit fest, bis zu diesem Zeitpunkt im etwa kannten die Menschen anscheinend noch die richtige Erscheinung der Drachen. Aber vielleicht war diese vermeidliche Erkenntnis auch nur Zufall, überlegte sie weiter. Hanryo sprach immer von weit mehr als tausend Jahren, wenn er vom Untergang des Drachenvolkes berichtete, das passte nicht zusammen. Bevor sie weiter nach Erklärungen für oder gegen ihren Einfall nachdenken konnte, forderte ihr Gefährte sie auf, mit ihm in den ersten Stock zu gehen, worauf sie einwilligte und ihn folgte, Tsuzuri wollte hingegen noch einige Momente im Erdgeschoss verweilen. Sie hatte auf ein paar Gemälden Maschinen im Hintergrund entdeckt, und versuchte nun herauszufinden, um welche es sich handeln sollte, und wo die Bilder genau entstanden waren. Den Kunstwerken zu folge, müssten irgendwann einmal auf dem gesamten Kontinent ihres Volkes Drachen gehaust haben, diese Tatsache verwunderte sie sehr, wo doch nun niemand mehr etwas davon musste.

Im ersten Obergeschoss stand nichts Anderes als eine riesige Vitrine, in der ein uralter, in Alkohol konservierter Knochen lag, welcher wie ein Oberschenkelknochen eines Pferdes oder Stieres aussah, nur mit viel größeren Ausmaßen. Ein Hinweisschild bezeichnete ihn als den ,Beinknochen eines Drachens'. Chikará ging sofort näher heran und las sich gründlich den weiteren Text auf den Schild durch. Es wurde berichtet, dass der Knochen von einem Drachen aus der Umgebung von Nara stammen sollte, eine kaiserliche Soldatentruppe habe ihn nach langen Kämpfen mit einer riesigen Harpune erlegt. Es sollte der letzte seiner Art gewesen sein. Chikará wandte sich mit ratlosem Blick zu Hanryo, dieser kratzte sich am Kopf und begann zu erklären: "Wenn man von der Behauptung absieht, dass dies der letzte Drache gewesen sein soll, stimmt die restliche Geschichte so."

Ihre Augen öffneten sich weit vor Erstaunen. "Wie alt ist dieser Knochen, weißt du das?"

"Vor ungefähr tausenddreihundert Jahre ist dieser Drache gestorben, ich kannte ihn ein wenig, konnte ihn aber nicht helfen. Danach haben die Menschen niemals wieder einen Drachen gesehen, und somit dachten sie, die Drachen wären ausgestorben."

"Und von Leuten wie uns, die zwar zum Drachenvolk gehören, nicht aber mehr die wahre Gestalt haben, wissen sie von uns denn wirklich nichts?"

"Nun, es gibt von uns weniger als fünfzig auf der ganzen Welt, von den Menschen weit mehr als eine Milliarde, selbst wenn wir einmal davon ausgehen, dass jeder von uns in seinem Leben einigen Menschen sein Geheimnis offenbaren würde, auch dann wäre das keine Relation zu der unendlichen Menschenmenge, die überhaupt nichts von uns wissen."

Chikará sah das nicht so. "Aber diejenigen, die etwas von uns wissen, werden dies doch bestimmt auch anderen Menschen weitererzählt haben, und dadurch könnten dann letzten Endes doch sehr viele von uns erfahren haben?"

Er atmete tief durch und schüttelte anschließend den Kopf. "Hattest du mir vor einigen Wochen geglaubt, dass es Drachen gibt?"

Sie zögerte zunächst, aber schließlich erinnerte sie sich wieder ganz genau an den Anfang ihrer Freundschaft zurück. "Nein." Sie besann sich auf diese Situation mit Arai zurück, als sie endlich alles verstanden hatte. Es hatte ziemlich lange gedauert, bis sie angefangen hatte, Hanryos unfassbarer Geschichte Gauben zu schenken. "Ich verstehe langsam, was du meinst. Menschen können derart naiv sein."

"Früher hatte man alle, die behauptet hatten, es würde noch Drachen geben, sofort als geisteskrank bezeichnet ins Gefängnis eingesperrt."

"Verständlicherweise", bestätigte sie ihn. "Ich würde es niemanden übel nehmen, der unsere Geschichte nicht glauben würde. Es macht Sinn, was du gesagt hast. Ich verstehe nur eine andere Sache nicht, die Bilder im Erdgeschoss, die älter als zirka siebenhundert Jahre sind, zeigen noch sehr realistische Bilder von Drachen in ihrer wahren Gestalt. Wie ist das möglich, wenn doch vor tausenddreihundert Jahren der letzte Drachen, von den sie wussten, gestorben war und man schnell begonnen hatte, die alten Geschichten zu vergessen?"

"Im Geheimen können solche Geschichten wie die von uns Drachen noch sehr lange existieren, der Rest fällt unter die künstlerische Freiheit, aber auch das bleibt nicht ewig, irgendwann verschlingt die Zeit alles aus den Köpfen der Menschen."
 

"Gibt es denn nicht auch heute noch einige Menschen", wollte Chikará wissen, "die ernsthaft an die Existenz von uns Drachen glauben?"

"Alle Menschen, die mich gut kennen", entgegnete Hanryo. "Jene glauben auch in der heutigen Zeit noch an die Gegenwart von Drachen, zwar sind dies nicht allzu viele Menschen, aber immerhin überhaupt welche. Außerdem weiß der Präsident des Westens sehr gut über das Drachenvolk und seine letzten Erben, wie wir es sind, bescheid. Natürlich er darf das nicht öffentlich zugeben, aber es ist wirklich so, in seinen Gefängnissen sitzen noch viele Mitglieder und Anhänger der alten Kaisergarde Quanlis, also die kämpferischbesten und gefährlichsten Drachen überhaupt, aber das ist selbstverständlich ein extremgroßes Staatsgeheimnis."

"Wieso lässt er denn diese Drachen nicht einfach töten?"

Hanryo lachte höhnisch. "Die Menschen können sie nicht so einfach umbringen, da sie, ähnlich wie du, nahezu unverwundbar sind und nicht altern. Sie für die Ewigkeit wegzusperren ist für die Menschen die einzige Alternative, um sich ihrer zu entledigen."

Chikará grinste und schüttelte dabei den Kopf. "Die Menschen können so einfallslos sein. Woher weißt du dieses, wie du es nennst, ,extremgroßes Staatsgeheimnis' denn überhaupt, wenn ich fragen dürfte?"

Er lächelte. "Wenn gewisse Personen nicht mehr in den Gefängnissen wären, wäre ich schon lange tot. Ich bin kurz vor Ende des Krieges untergetaucht, ich hatte eingesehen, dass alles, wofür wir gekämpft hatten, zum einen sinnlos und des Weiteren auch verloren war, damit war ich jedoch einer von sehr wenigen gewesen. Wenn die ehemalige Kaisergarde irgendwann einmal wirklich aus den Gefängnissen entkommen sollte, dann würden sie als Erstes die so genannten ,Überläufer' wie mich töten und danach der gesamten Menschheit den Krieg erklären."

"Was würde dann mit mir passieren, ich bin ja eigentlich die jetzige Kaiserin des Drachenvolkes, sie müssten mir doch gehorchen, und ich würde es niemals zulassen, dass sie dich töten würden?"

"Wenn du Glück hast, glauben sie, du seiest tot. Wenn sie dich jedoch finden würden." Er zögerte kurz. "Ich habe keine Ahnung, was sie mit dir machen würden oder wozu sie deine Macht missbrauchen würden. Deine Vorstellung davon, was passieren würde, ist viel zu optimistisch und unrealistisch. Ich kenne sie, sie würden niemals auf dein Wort hören, auch wenn du eigentlich ihre rechtmäßige Thronfolgerin bist, deinen Vater habe sie grenzenlose Treue geschworen, nicht dir oder irgendwelchen anderen Mitgliedern der Kaiserfamilie."

Sie dachte kurz nach. "Wenn sie von meinem Vater so fasziniert gewesen sein sollen, wie du es schilderst, dann kann ich gut und gerne auf ihre Bekanntschaft verzichten. Wären sie überhaupt ernst zu nehmen? Ich meine, einen Krieg gegen die gesamte Menschheit führen zu wollen, haben sie nicht so etwas wie Vernunft oder Realitätsbewusstsein? Selbst wenn sie solch große Kräfte haben würden, eine Hand voll Drachen könnte es doch nicht mit der riesigen Menschheit aufnehmen?"

"Du kennst sie nicht, ein starker Wille und Ehrgeiz können einen weit bringen, überleg mal, wenn du gegen tausend Menschen kämpfen würdest, was würde passieren?"

"Ich würde gewinnen, aber nur weil die Menschen mich nicht verwunden können, wenn wir einmal davon ausgehen, dass sie nicht diese verdammte Rostklinge aus dem Dämonentempel haben würden."

"Die würden sie schon nicht haben. Jetzt stell dir vor, du wärst zudem noch ein ausgebildeter Elitesoldat, ein nahezu unbezwingbarer Kämpfer, wie leicht würde es dir dann erst fallen, Menschen, egal wie viele es sind, zu überwinden?"

Sie nickte. "Ich verstehe allmählich, was du meinst. Diese Vorstellung ist wirklich sehr beängstigend, bleibt uns wohl nur zu hoffen, dass es nicht soweit kommen wird."

"Wenn wir das Ziel unserer Reise erreicht haben werden, müssen wir davor keine Furcht mehr haben. Wenn wir es schaffen würden, durch dich die letzten Splittergruppen unseres Volkes auf dem anderen Kontinent wiederzuvereinen, dann würde auch die ehemalige Kaisergarde dich als neue Kaiserin akzeptieren und dir gehorchen. Aber mach dir über so etwas noch keine Sorgen, sie sind schon seit mehreren Jahrtausenden in den Gefängnissen der Menschen eingesperrt, wieso sollte ihnen auf einmal die Flucht gelingen?"

"Du hast wohl recht, aber wenn alles so verlaufen würde, wie wir es uns wünschen, dann könnten wir sie doch eigentlich befreien, egal wie schlecht sie früher gewesen waren, schließlich gehören sie immer noch zu unserem Volk und sollten vielleicht eine zweite Chance bekommen?"

"Lass uns über solche Angelegenheiten erst nachdenken, wenn die Zeit dafür reif ist. Vielleicht sollten wir noch nicht soweit nach vorne sehen, erst einmal müssen wir auf den anderen Kontinent kommen, und das wird mit Sicherheit kein Kinderspiel werden."
 

Tsuzuri kam hinzu, sie hatte sich bis dahin noch die Gemälde im Erdgeschoss angesehen und ihre beiden Freunde aufmerksam belauscht. "Mir ist da gerade noch etwas Interessantes eingefallen", sprach sie zu ihnen. "Meine Kaiserin, also die Kaiserin meines großartigen Volkes, hat vor kurzem eine ziemlich seltsame Frau zur ihrer Stellvertreterin ernannt. Gerüchten zufolge, soll sie auch ein Nachfahre des Drachenvolks sein."

"Wie heißt sie?", fragte Hanryo überrascht.

Sie runzelte die Stirn und dachte scharf nach, kam aber zu keinem Resultat. "Ich kann mir Namen leider sehr schlecht merken, wie sie heißt, fällt mir nicht mehr ein. Aber wenn es dir hilft, sie hat schneeweiße Haare, sieht recht jung aus, trägt auf ihrer Kleidung immer goldene Schriftzeichen, deren Bedeutung niemand kennt, und sie hat genauso leuchtendgrüne Augen wie Chikará und du."

Er seufzte. "Diese Beschreibung hilft mir auch nicht viel weiter."

"Kennst du sie eventuell?", wollte Chikará von ihrem Gefährten erfahren.

"Ich kann es nicht genau sagen, es gibt genug von uns, auf die diese ungenaue Beschreibung passen würde. Goldene Schriftzeichen auf der Kleidung waren damals ein Erkennungszeichen der Kaisergarde, aber vielleicht ist das auch nur ein Zufall, Gold steht schließlich bei fast allen Kulturen für eine hohe gesellschaftliche Stellung. Leuchtendgrüne Augen habt ihr Jishus doch auch zum Teil von Natur aus? Wie sicher ist es überhaupt, dass an diesem Gerücht etwas Wahres ist, Tsuzuri? Kann es nicht auch sein, dass sie eine Betrügerin ist, die dadurch mehr Aufmerksamkeit erhalten will? Mir kommt diese Geschichte sehr komisch vor, ich kann mir absolut nicht vorstellen, dass irgendwelche von uns großes Interesse an euch Jishus hätten. Ihr seid ja durch eure Maschinen ein wesentlicher Grund dafür gewesen, dass es zu Aufständen gegen den Drachenkaiser und schließlich zu seinem Fall gekommen war. Ich denke nicht, dass irgendein fanatischer Nachfahre des Drachenvolkes euch das jemals verzeihen könnte, erst recht kein Mitglied der Kaisergarde."

"Die Sache nimmt auch keiner von uns wirklich ernst", begründete Tsuzuri. "Ich wusste ja vor einigen Tagen auch noch nicht, dass die uralten Drachengeschichten einen wahren Kern gehabt haben müssen, vielleicht liegst du mit deiner Version richtig, vielleicht ist sie wirklich eine einfache Lügnerin?"

"Hast du kein Bild von ihr, oder weißt du keinen Text, in dem man ihren Namen finden könnte?", fragte Hanryo sie.

Sie zuckte mit den Schultern. "Ich habe die ganze Geschichte nur von einer Bekannten vor so ungefähr zwei Jahren gehört, die neue Maschinenteile für die Eisenbahn auf diesen Kontinent gebracht hatte. Seitdem hat niemand mehr etwas davon erwähnt, wahrscheinlich eben weil die ganze Angelegenheit nur ein Schwindel war, wie du es vormutest."

"Es scheint wohl so, aber vielleicht bietet sich uns irgendwann doch noch einmal die Gelegenheit, der Sache auf den Grund zu gehen, denn hochinteressant ist diese Geschichte allemal, selbst wenn sie nur ein Märchen ist. Ich finde es sehr merkwürdig, dass eine hohe Jishu-Politikerin auf einmal behauptet, sie würde vom Drachenvolk abstammen."
 

Am Mittag gingen Hanryo, Chikará und Tsuzuri zum Ende der Hauptstraße von Nara, wo sich der gigantische Palast des Kaisers des Ostens befand. Macht demonstrierte man am leichtesten mit Bauwerken von unglaublicher Größe und Prunk, so konnte man Menschen beeindrucken und einschüchtern. Dieses einfache Prinzip wandte auch der Kaiser des Ostens an. Ein zweites Element der Macht war eine gut organisierte und starke Armee, bestehend aus einer Unmenge von schwer bewaffneten Rittern, Wächtern und Söldnern. Überall in der Stadt patrouillierten Truppen von ihnen, wodurch Kriminalität und Aufstände nahezu unmöglich waren, deswegen nannte man Nara auch oft die Stadt des Schweigens und der ewigen Stille.

Vor dem Kaiserpalast befand sich eine große künstlich angelegte Gartenanlage, der ,Garten der Vergänglichkeit'. Ein Kieselpfad führte durch das Gelände, auf dem Hunderte von Kirschbäumen standen. Ihre dunklen Stämme und Äste trugen dunkelgrüne Blätter, einige hatten durch den nahenden Herbst schon gelbrötliche Verfärbungen. Leider war die Zeit, in der die Kirschbäume in voller Schönheit geblüht und Früchte getragen hatten, schon seit vielen Wochen vorüber. Nur wenige Wochen lang im Jahr, manchmal auch nur einen Monat lang, konnte man die weißlich-rote Blütenpracht der Kirschen erleben. Große Feste und Feiern gab es dann, der Kaiser lud jedes Mal Tausende von Gästen aus aller Welt ein, um mit ihnen die schönsten Tage des Jahres zu feiern. Doch die herrliche Blütenpracht hielt niemals allzu lange, weswegen die Kirschgewächse auch ein Symbol für die Vergänglichkeit waren, daher der Name des Gartens. Allerdings hatten die alten Bäume ebenso ohne ihre weiß-rosafarbenen Blüten und roten Früchte eine einzigartige Wirkung auf den Betrachter. Sie wirkten wie steinerne Denkmäler aus einer anderen Zeit, in der die Pflanzen noch die Herren über jenes Gebiet waren, aber das war, bevor die Kaiserstadt Nara errichtet wurde. Die Menschen zerstörten immer große Waldflächen und Plätze unberührter Natur, um Siedlungen für ihr schnell wachsendes Volk zu schaffen. Einige behaupten, dass sich die Natur eines Tages dafür bei den Menschen rächen würde und ihnen alles zerstören würde, was sie jahrtausendelang so mühsam aufgebaut haben.

Kleinere Teiche mit bunten Karpfen und Seerosen säumten am Rande des Weges. Ihr Wasser war stets sauber, und man konnte dadurch bis zum Grund schauen, wo grüne Algen wucherten. Auf einer Holzbrücke über einen dieser Teiche beobachtete Chikará die bunten Fische, gerne hätte sie ihnen ein paar Brotkrümel in das Wasser geworfen, um sie zu füttern. Sie sollten näher an die Oberfläche schwimmen, damit man sie besser sehen könnte. Aber Chikará beließ es bei bloßem Beobachten der stillen Gesellen, denn wenn sie mehr getan hätte, hätten sie bestimmt die Wachsoldaten angehalten oder vielleicht sogar verhaftet, dachte sie sich. Diese ständige Überwachung durch die Schergen des Kaisers gab ihr ein ziemlich ungutes Gefühl, da sie ständig Angst davor hatte, einen falschen Schritt zu machen und anschließend von ihnen dafür in eine dunkle Kammer gesperrt zu werden. Tsuzuri dachte ähnlich, auch sie fühlte sich beobachtet und zudem noch als Jishu erkannt durch die aufmerksamen Blicke der Söldner. Lediglich Hanryo, der schon mehrere Male in Nara gewesen war, hatte sich mittlerweile an diese Umstände gewöhnt und wusste, dass ihnen nichts passieren würde, sofern keiner von ihnen sich etwas zu Schulden kommen lassen würde.

Im Zentrum der großen Gartenanlage stand eine alte Bronzefigur. Umgeben von blauvioletten Chrysanthemen, die bald ihre letzten Blütenblätter verlieren sollten, thronte das Denkmal auf einer vergrauten Marmorsäule. Es zeigte einen einfachen Soldaten, der sein Schwert zum Himmel hielt und in die Ferne schaute. Einige Leute standen um die Statue herum und bewunderten sie.

"Das ist Jimmu", erklärte Hanryo seinen beiden Gefährtinnen. "Er soll hier, an dieser Stelle, vor sehr langer Zeit ein furchtbares Ungeheuer besiegt haben, dass diese Region in Angst und Schrecken versetzt hatte. Als danach keine Gefahr mehr für die Leute bestand, konnten sie hier eine Stadt gründen. Auch heute noch gilt Jimmu hier als Halbgott und wird angebetet."

"Stimmt denn diese seltsame Geschichte?", fragte Chikará.

"Ich weiß es nicht, die alten Legenden und Sagen der Menschen interessieren mich recht wenig, vielleicht handelt es sich nur um menschliche Fantasie. Man sagt sich auch, dass der Geist von Jimmu in dieser Statue hausen soll."

"Diese Menschen haben wirklich einen sehr geringen Realitätssinn", entgegnete Tsuzuri.

"Ganz so einfach ist das dann doch nicht", begann Hanryo. "Zumindest ist es früher durchaus möglich gewesen, dass gewisse Geister in bestimmten Gegenständen leben könnten oder in ihnen gefangen waren."

"Du willst doch wohl nicht behaupten, dass du dem glauben schenkst?"

"Nun Tsuzuri, wenn du mit Chikará und mir reist, wirst du dich wohl daran gewöhnen müssen, dass einige Dinge existieren, die man selbst mit den Wissenschaften deines Volkes nicht erklären kann, seien es Drachen, Geisterwesen oder noch viel Schlimmeres."

"Ich bekomme allmählich Angst", entgegnete sie hämisch.

Hanryo grinste daraufhin nur und ging weiter dem Kieselpfad entlang, die beiden Frauen folgten ihm schließlich.
 

Hinter dem Garten befand sich zunächst nur eine riesige Mauer, deren Größe mit jener schier unüberwindbaren Stadtmauer von Nara vergleichbar war. Vor ihr patrouillierten Dutzende von schwer bewaffneten Soldaten, die scheinbar nur darauf warteten, dass irgendjemand sie herausforderte. Es gab eine kleine Pforte, durch die man auf das Palastgelände gelangen konnte. Für normale Besucher kostete dies jedoch ungefähr soviel wie ein Abendessen im besten Restaurant der Stadt. Hanryos Taschen schienen niemals leer zu sein, er bezahlte die Wuchersumme für sich und seine beiden Begleiterinnen. Immer wenn Tsuzuri einen Beweis für den Reichtum von Hanryo erhielt, schätzte sie sich glücklich darüber, von ihm aufgenommen worden zu sein. Wo wäre sie nun, wenn es Chikará und ihn nicht gäbe? Wahrscheinlich immer noch im Führerhaus einer verrosteten Lokomotive, sagte sie sich.

Hinter der mächtigen Mauer könnte man dann den eigentlichen Kaiserpalast sehen. Die Ausmaße und der Umfang des gigantischen Kaiserpalastes waren unbeschreiblich, es handelte sich wohl um eines der größten und beeindruckendsten Bauwerke des gesamten östlichen Kontinentes. Eine breite, graue Freitreppe mit mehr als zweitausend Stufen führte hoch zum Eingangstor des Palastes. Der Weg wurde von goldenen Löwen- und Tigerstatuen bewacht, hinter jenen standen weitere Wachritter, die den Durchgang kontrollierten. Am Ende der Treppe befand sich schließlich das Tor zum Kaiserpalast. Das immense, mehrstöckige Gebäude, in das ohne Probleme eine ganze Elefantenherde gepasst hätte, war aus massiven, grauen Stein erbaut und mit goldfarbenem Holz verkleidet. Das Dach war bedeckt mit dunkelgrünen Ziegeln und hatte vergoldete Ränder und Kanten, die Holzwände waren von außen zu einem Relief verarbeitet, das mythologische Heldengestalten zeigte, unter anderem auch einen Drachen. Viele hohe Türme stiegen an allen Seiten des Palastes zum Horizont empor, an ihnen hingen Fahnen herunter, die den schwarzen Stern auf rotem Grund zeigten. Ein gewaltiges Eichenholztor mit stählernem Riegel stellte den einzigen Eingang des Palastes dar. Chikará deutete mit der Hand an, ob man eintreten könne, Hanryo nickte. Sie war einfach nur sprachlos und überwältigt von diesem Bauwerk. Obwohl sie wusste, dass die Residenzen der Weltherrscher immer von unbeschreiblicher Größe waren, entsprach der Kaiserpalast nicht einmal im entferntesten ihrer Erwartung. Es kam ihr vor, als wäre sie in einer anderen Welt, nicht in der Welt der Menschen, sondern in der Welt der Götter. Diesen gigantischen Palast konnten keine normalen Menschen errichtet haben. Sie fragte sich, ob der Palast ihres Vaters ähnlich unvorstellbare Ausmaße gehabt hatte, oder ob er vielleicht noch größer und mächtiger gewesen war? Jedenfalls hoffte sie heimlich, dass ihre Kaiserresidenz, falls sie irgendwann einmal eine haben sollte, noch viel größer und schöner sein sollte als jene des Kaisers des Ostens.

Hinter dem Eingangstor befand sich eine über hundert Meter lange Empfangshalle, die durch zahlreiche graue Säulen gestützt wurde. Viele Besucher trieben sich dort herum und schauten sich die Bilder und Statuen an, die an den Wänden verteilt waren. Es handelte sich bei den Kunstwerken um Landschaftsgemälde von Nara und der Umgebung, die Statuen zeigten wichtige Feldherren und Kaiser der Vergangenheit. Kleine Lampen, die durch brennende Teelichter leuchteten, spendeten etwas Licht in der Dunkelheit des geschlossenen Raumes, in dem kein einziges Fenster und kein Lichtschacht vorhanden waren. Die drei Gefährten schritten langsam und mit großer Ehrfurcht durch die gigantische Halle, immer im Lichtkegel der stillen Kerzenflammen. Sie traten behutsam auf den sauberen, dunkelgrauen Marmorboden und gingen staunend an den haushohen Granitsäulen vorbei, bis hin zum anderen Ende der Halle. Dort befand sich ein steinerner Thron, der von sieben ranghohen Rittern bewacht wurde, jene trugen schwere, rote Rüstungen und waren mit mehreren Schwertern und Dolchen bewaffnet. Jedoch stand der Herrscherstuhl, den sie bewachten, leer. Obgleich die Beschützer des Kaisers wie versteigert zu jeder Seite des Throns verweilten, war vom Oberhaupt des Ostens nicht die geringste Spur zu erkennen. Tsuzuri grinste, als ihr diese Tatsache bewusst wurde. Sie vermutete, dass dieser Kaiser gar nicht existierte, und dass die naiven Menschen von einem Geist oder einer reinen Illusion beherrscht wurden. Chikará wusste nichts zu sagen und fragte sich, was dieses scheinbar sinnlose Machtschauspiel darstellen sollte. Vielleicht war der Kaiser nur auf einer Reise oder in einem anderen Teil des riesigen Palastes oder irgendwo im kaiserlichen Garten? Aber sie sah auch, dass der Thron mit einer dicken Staubschicht bedeckt war, so als hätte seit Wochen oder gar Monaten niemand mehr auf ihm gesessen. Was sollte dies bedeuten? Wofür die unzähligen Ritter und Wachsoldaten, wofür die unüberwindbaren Mauern, wofür die Kontrollen und die ständige Überwachung, wenn doch der Kaiser nicht mehr in seiner Stadt oder in seinem Palast war? Was steckte nur dahinter? Chikará wandte sich nachdenklich zu Hanryo, sie sprach nur sehr leise, um nicht die Aufmerksamkeit der Wächter oder der übrigen Besucher zu erwecken. "Wo ist denn der Kaiser des Ostens nun?", fragte sie ihn. "Auf dem Thron scheint seit langer Zeit niemand mehr gesessen zu haben, ist er auf einer Reise am anderen Ende der Welt oder Ähnliches? Weißt du etwas darüber?"

Hanryo grübelte und antwortete ihr dann flüsternd: "Ich hatte gehört, es soll vor einigen Monaten einen dramatischen Zwischenfall gegeben haben. Unbekannte sollen den Palast gestürmt haben, die Wächter und Beschützers des Kaisers sollen machtlos gegen sie gewesen sein. Sie sollen zwar dem Kaiser kein Leid zugefügt haben, aber seitdem hat der Kaiser große Angst und erscheint nicht mehr in der Öffentlichkeit."

Tsuzuri hatte aufmerksam mitgelauscht und lachte nun laut. "Dieser komische Kaiser ist aber noch am Leben, oder?"

Alle Besucher des Palastes und die Ritter, die am Kaiserthron standen, sahen die verkleidete Jishu mit verwundertem und dunklem Blick an, nachdem jene ihre törichte Behauptung geäußert hatte. Hanryo hätte ihr dafür am liebsten eine gehörige Ohrfeige verpasst, aber die Reaktionen der Menschen in der Halle hatten beinahe denselben Effekt.

"Was ist los?" fragte Tsuzuri erschrocken und schaute sich nervös um. Allmählich verstand sie, dass sie wohl jeder gehört hatte, und dass wohl niemand ihre Meinung teilte, schämte sie sich sehr und erkannte einen gewissen Fehler an ihrer doch sonst so positiv gewerteten Offenheit. Sie fühlte sich durchbohrt von den unzählbaren Blicken der Menschen und wurde zuerst rot im Gesicht. Aber als einer der Ritter plötzlich den Griff seines Schwertes umfasste, verlor ihr Teint jegliche Farbe. Sie wurde blass wie eine Leiche, drehte sich blitzartig um und ging völlig verängstigt zurück zum Palasteingang. Durch die Ruhe erschallten ihre Schritte laut in der gesamten Halle.

Hanryo wandte sich mit verkrampftem Blick zu Chikará. "Komm, wir gehen jetzt auch besser, bevor es Probleme gibt", flüsterte er ihr zu.

Die Besucher drehten sich langsam wieder zu den Statuen und Bildern an den Wänden, und die Ritter am Thron blieben stumm auf ihrem Posten stehen.

Vor dem Palasttor holten die beiden Gefährten Tsuzuri ein. Ihre Spannung und ihre Angst hatten sich mittlerweile wieder größtenteils gelegt, und sie bemühte sich, beim Anblick ihrer Freunde zu lächeln, aber man konnte deutlich die Künstlichkeit ihres freudigen Blickes erkennen. Hanryo und Chikará schenkten ihr nur starre und strenge Blicke und gingen kopfschüttelnd an ihr vorbei. Tsuzuri sparte sich weitere falschinterpretierbare Kommentare und folgten ihnen schweigend die lange Treppe hinunter.
 

Am nördlichen Rande des ,Gartens der Vergänglichkeit' gab es ein Fischrestaurant, wo man die Karpfen aus den Teichen verspeisen konnte. In einer stillen Ecke des Wirtshauses setzten sich Hanryo, Chikará und Tsuzuri, sie aßen alle drei dasselbe Sushi-Gericht. Während das Essen Hanryo und Chikará ziemlich gut schmeckte, ekelte Tsuzuri sich ein wenig vor den Fischstücken jener Meerestiere, die sie doch vorhin noch quicklebendig in den Teichen gesehen hatte. Aber da sie an diesem Tag schon mehr als genug Aufmerksamkeit erweckt hatte, würgte sie wider Willen das Essen herunter. Dabei versuchte sie an das komplett künstliche, aber dennoch wohlschmeckende Essen ihres Volkes zu denken. Seitdem sie vor einer halben Stunde den Kaiserpalast verlassen hatten, hatten die drei Gefährten kein einziges Wort mehr miteinander gewechselt. Niemand von ihnen wusste so recht, weshalb dem so war, aber wahrscheinlich hatten sie nur alle drei ziemliche Angst davor, weitere Auffälligkeiten zu begehen. Aber Tsuzuri brach das Schweigen schließlich, indem sie versuchte, ihr Verhalten in der Kaiserhalle zu rechtfertigen und zu entschuldigen. "Ob ihr es mir glaubt oder nicht, ihr werdet es mir wohl eher nicht glauben, aber auf dem Kontinent meines Volkes gibt es wirklich so eine Art Sekte, die von einem Geist angeführt wird. Es ist zwar kein Geist, wie ihr ihn kennt, aber wenn ich es euch genauer erklären würde, würdet ihr es sowieso nicht verstehen, die Sache ist ziemlich kompliziert, aber dieses Wesen ist schon mit einem Geist vergleichbar."

"Du meinst ein Computerprogramm?", fragte Hanryo trocken.

Tsuzuri riss ihre Augen weit auf. "Woher weißt du davon?"

"Der Kontinent deines Volkes war früher der Kontinent meines Volkes, ich weiß auch heute noch, was dort geschieht, zumindest von den wichtigsten Ereignissen erfahre ich."

"Nun, wie dem auch sei, dann kannst du aber immerhin mein Kommentar von vorhin verstehen oder vielleicht sogar nachvollziehen?"

"Verstehen kann ich es sehr wohl, nachvollziehen vielleicht auch, was ich aber nicht verstehen oder nachvollziehen kann, ist, dass du so leichtsinnig mit unserem Geheimnis umgehst. Du kannst dir doch denken, was die Soldaten hier mit dir machen werden, wenn sie herausfinden sollten, wer du in Wirklichkeit bist?"

Tsuzuri senkte ihr Haupt. "Daran hatte ich in jenem Moment nicht gedacht, aber so etwas wird mir niemals wieder passieren."

Chikará mischte sich in das Gespräch ein. "Trotzdem ist mir das alles sehr rätselhaft. Wieso die vielen Wächter und Ritter, wenn doch der Kaiser nicht im Palast ist?"

Hanryo kratzte sich am Kopf. "Die meisten Leute denken bestimmt, der Kaiser wäre immer noch im Thronsaal oder irgendwo anders im Palast."

"Woher weißt du überhaupt, dass er es nicht ist?", fragte Tsuzuri.

"Das, was ich darüber weiß, sind eigentlich nur Gerüchte, die ich vor einigen Monaten von einem der kaiserlichen Ritter gehört habe, der nach dem Vorfall aus seinem Dienst entlassen wurde. Ich will nicht ausschließen, dass diese Geschichte nur eine Lüge jenes ehemaligen Ritters war, um seine Entlassung in ein besseres Licht zu rücken."

"Aber der Kaiser lebt noch, oder?", wollte Chikará wissen.

"Ich glaube schon, aber niemand weiß, wo er sich aufhält."

"Das passt du den Menschen", entgegnete Tsuzuri leise. "Sie haben ein Staatsoberhaupt, das sich ängstlich verkriecht, und nur durch ein paar Schwert bepackte Sklaven wird die vermeidliche Macht demonstriert."

Hanryo seufzte. "Ich freue irgendwie sehr auf den Tag, an dem du einsehen musst, dass auch du nur ein ganz normaler Mensch bist."

Sie lachte. "Dieser Tag wird niemals kommen."

"Wohin gehen wir überhaupt als nächstes?", übernahm Chikará das Wort. "Was hast du geplant, Hanryo?"

"Am östlichen und am westlichen Ende des Gartens befinden sich noch zwei interessante Bauwerke, der Pavillon des Shoguns und die Pagode des Geisterkönigs, vor allem letzteres ist für uns einen Besuch wert."

"Beim Geisterkönig waren wir doch gerade schon?", fügte Tsuzuri hinzu.

"Jedenfalls werden wir gleich auch noch dem richtigen begegnen."

Tsuzuri schaute ihn daraufhin verwundert an. Sie fragte sich, inwieweit sie diese Behauptung ernst nehmen sollte. Sie traute ihren beiden Gefährten viel zu, und immerhin hatten sie ihr von ihren Erlebnissen in Ryuchengshi erzählt, von den Geistern, Untoten und Drachen, die sich dort aufhielten. In der Hoffnung eine ehrliche Antwort zu erhalten wandte sie sich flüsternd zu Chikará. "Meint er das jetzt ernst?"

"Warten wir es ab", entgegnete diese lächelnd.
 

Nach dem Essen gingen die drei Gefährten zum östlichen Rand des ,Gartens der Vergänglichkeit', wo sich der Goldene Pavillon des Shoguns befand. Es war eine alte, dreistöckige Villa, gestrichen mit goldener Farbe, deren Grundriss ein Quadrat war und bei dem die Grundfläche jeder Etage jeweils ein Drittel kleiner war die der darunter liegenden. Das schwarze Dach hatte die Form einer Pyramide, auf deren Spitze eine goldene Drachenfigur säumte. Das Gebäude war von Wasser umgeben, nur ein schmaler Steg führte zur Eingangstüre, aber dieser wurde von Soldaten streng bewacht, ebenso war das gesamte Ufer förmlich übersät von patrouillierenden Rittern. Immerhin gab es zwanzig Meter von dem Ufer entfernt ein Hinweisschild, auf jenem stand: ,Der Goldene Pavillon - Wohnsitz des Shoguns des Ostreiches und Versteck der kaiserlichen Juwelen'.

Chikará betrachtete das beeindruckende Haus mit gemischten Gefühlen. Sie wusste seit dem Besuch des Kaiserpalastes nicht mehr, wie ernst sie die Unmengen von Wachsoldaten überhaupt nehmen sollte. Vielleicht war Nara nur eine Scheinwelt, eine tote Stadt, ähnlich wie Ryuchengshi? Man sah überall nur Bedienstete des Kaisers, einige Reisende und beinahe keine anderen Leute, diese schweigen, es gab kein Leben in Nara, so schien es ihr. "Können wir nicht näher herantreten?", fragte sie Hanryo, als sie direkt vor dem Hinweisschild standen.

Er schüttelte nur den Kopf.

"Ist dieser Shogun auch auf Weltreise?", wandte sich Tsuzuri leise zu ihm.

"Schau einmal dort oben", sagte Chikará ihr, verweisend auf den Balkon des Pavillons.

Dort stand ein alter Mann mit Krücken und betrachtete wie versteinert das Wasser. Er hatte keine Haare mehr auf dem Kopf, eine auffällige Narbe im Gesicht, sein Körper schien abgemagert und leblos. Er trug eine schwere, goldene Rüstung, er musste der Shogun sein.

Tsuzuri schaute ihn mehrere Male ungläubig an, da sie es nicht begreifen konnte. "Diese wandelnde Leiche soll die militärische Macht des Ostens darstellen?", flüsterte sie zu Hanryo.

Jener nickte.

"Wieso ist dieser alte Mann noch Shogun?", wollte Chikará wissen. "Er kann doch kaum mehr gehen und hat keine Lebenskraft mehr?"

Hanryo zögerte lange, da er ihr darauf keine direkte Antwort geben konnte. "Nun, mit ihm ist es wohl so wie mit ganz Nara, völlig veraltet, nicht fähig sich der modernen Zeit anzupassen. In dieser sich so schnell verändernden Welt werden diese alte Stadt und ihre Macht nicht mehr lange existieren."

"Ich verstehe die Menschen, die hier leben, nicht", erklärte Tsuzuri. "Wieso passen sich nicht der Zeit an, haben sie Angst davor?"

"Wahrscheinlich", erwiderte Hanryo. "Ich weiß es nicht, vielleicht wissen sie es auch selbst nicht."

"Noch eine Frage hätte ich", begann Chikará. "Was hat es mit den kaiserlichen Juwelen auf sich? Weißt du, weshalb sie hier und nicht im Kaiserpalast versteckt sind?"

"Die kaiserlichen Juwelen sollen einst den Göttern gehört haben, sie sollen sie dem Krieger Jimmu geschenkt haben, nachdem er das schreckliche Ungeheuer in ihrem Auftrag besiegt hatte. Eigentlich haben diese Juwelen mit dem Kaiser nicht allzu viel zu tun, jedoch gilt der Kaiser als Halbgott oder direkter Nachfahre des Göttergeschlechts. Deshalb sind seine Symbole jene drei Gegenstände, die den Menschen von den Göttern erhalten geblieben sind. Das sind die Juwelen, ein Schwert und ein Spiegel."

"Das Schwert und der Spiegel, wo sind sie versteckt?"

"Das Schwert befindet sich in der ,Pagode des Geisterkönigs', welche unser nächstes Ziel sein soll, und der Spiegel liegt in einem Schrein versteckt, den wir aber auch noch aufsuchen werden."

"Sind diese Gegenstände wirklich von den Göttern, oder bilden sich die Menschen dies nur ein?", fragte Tsuzuri.

Hanryo grinste. "Lass mich dir diese Frage beantworten, wenn die Zeit reif ist."
 

Die ,Pagode des Geisterkönigs' war angeblich eines der ältesten Gebäude in Nara, Legenden zufolge sollte sie bereits lange vor der Stadtgründung erbaut worden sein. Jedoch sah man ihr ihr hohes Alter nicht an, da sie regelmäßig renoviert und zum Teil auch verändert wurde, aber dem ungeachtet waren ihre Grundsteine wesentlich älter als die der meisten anderen Bauwerke in Nara. Sie war dem so genannten ,Geisterkönig' geweiht, der für die Menschen im Osten zu einen der wichtigsten Götter zählte. Er galt als einer der ersten und damit ältesten und ursprünglichsten Gottheiten, gleichzeitig sollte er aber auch einer der mächtigsten und grausamsten unter ihnen gewesen sein. Ihm zu Ehren wurde die fünfstöckige Pagode vor langer Zeit errichtet. Sie hatte einen rechteckigen Grundriss, alle Etagen sahen von außen vollkommen identisch aus, es gab keine sichtbaren Unterschiede. Sei es die Anzahl und Anordnung der Fenster, oder sei es die Größe und Breite einzelnen Stockwerke, alles war bis auf das letzte Detail gleich. Die rot gestrichenen Wände des ungefähr dreißig Meter hohen Gebäudes waren verziert mit goldenen Mustern, die Fenster- sowie Türrahmen waren dunkelgrün bemalt. Die grauen Dachziegel gaben den anderen, lebendigeren Farbtönen einen ruhig wirkenden Kontrast.

Zum Erstaunen der drei Gefährten bewachten die Pagode nur verhältnismüßig wenig Krieger, lediglich zwei leichtbewaffnete Soldaten kontrollierten den Eingang und verlangten nicht einmal eine Eintrittsgebühr.

Im Erdgeschoss befanden sich vier große Marmorstatuen, sie zeigten die vier ,Wächter der Himmelsrichtungen'. Es waren gute, dämonische Ritter, sie trugen schwere Rüstungen und unterschieden sich nur darin, dass sie unschiedliche Waffen führten. Der Wächter des Norden besaß einen langen Speer, der des Ostens ein Katana, der des Südens eine Fackel und der des Westens ein Wakizashi. Der Legende nach stellten diese vier göttlichen Geisterwesen die Leibgarde des Geisterkönigs dar. Ihre vier Skulpturen standen an den vier Wänden des Raumes verteilt, jeder bewachte die Himmelsrichtung, für die er verantwortlich war, gleichzeitig trafen sich ihre finsteren und strengen Blicke in der Mitte des Eingangszimmers.

Chikará hatte mittlerweile ihre Furcht vor versteinerten Dämonen abgelegt und konnte, ohne groß über sie nachzudenken, an den Statuen vorbeigehen. Tsuzuri schenkte ihnen überhaupt keine Beachtung, nachdem sich in ihren Augen auch der mächtige Shogun nur als eine Art Illusion gezeigt hatte, nahm sie nichts in dieser Stadt mehr ernst und wollte sie nur noch so schnell es ging verlassen.

Das zweite, dritte und vierte Stockwerk der Pagoden diente keinem wirklichen Zweck, lediglich ein paar Gemälde und Kalligraphien waren dort ausgestellt. Auf der fünften Etage hingegen befand sich eines der drei Realsymbole der Götter, das heilige Schwert des Geisterkönigs. In einer mit Eisenketten umwickelten Eichenholztruhe ruhte die sagenumwobene Waffe. An der Wand hing ein Portrait des Geisterkönigs, man konnte jedoch nicht viel mehr als einen menschenähnlichen Schatten mit drachenähnlichen Schwingen und roten Augen darauf erkennen. Die Kiste, in deren Inneren das Schwert wohlbehütet ruhte, stand auf einer Art Altar aus dunklem Holz in der Mitte des Raumes. Jener trug ein verrostetes Metallschild auf der Oberseite, auf jenem stand: ,Rakuen, Schwert des Geisterkönigs Teriel'

"Teriel?", sagte Chikará völlig perplex, als sie diesen Namen gelesen hatte. Sie drehte sich sofort zu Hanryo und schaute ihn mit fassungslosem Blick an. "Der Dämon Teriel? Aber das kann doch nicht sein?"

Er seufzte und bemühte sich, ihrer Verwirrtheit ein Ende zu setzen, indem er ihr erklärte, was er dazu wusste. "Gemeint ist wohl genau jener Teriel, dessen Waffe wir im Östlichen Dämonentempel gesehen haben. Das Schwert, das sich in dieser Truhe hier befindet, muss eine Fälschung sein." Er wandte sich zu Tsuzuri. "Geh bitte nach unten und pass auf, dass niemand hier hoch kommt."

Sie zögerte einen Moment lang, dann nickte sie schließlich und ging die Treppe hinunter.

Hanryo legte seine Hand auf die Eisenkette, welche die Kiste umschloss. Er schloss seine Augen und konzentrierte sich. Nach einigen Sekunden begann das Metall zu glühen und bald auch zu schmelzen. Obgleich Chikará diese Fähigkeit ihres Gefährten kannte, faszinierte es sie doch immer wieder, wenn er von ihr Gebrauch machte. Als die scheinbar unüberwindbare Kette völlig zerstört war, konnte man den Deckel der Kiste öffnen. Hanryo hob ein langes Katana aus der Truhe hervor, das keine einzige Kerbe an der Klinge hatte und hell glänzte in den Sonnenstrahlen, die durch ein Fenster in den Raum fielen. Die Waffe wirkte wie neu, ohne Makel oder Fehler, so als hätte man sie niemals in einem Kampf benutzt. "Das kann nicht das Schwert Teriels sein", stellte er fest. "Dieses Katana ist die Erfindung von Menschen, es lag niemals in der Hand des mächtigen Dämonenherrschers."

Er unterbrach plötzlich, drehte sich wieder zu Chikará und schlug das Schwert mit ganzer Kraft gegen ihren Oberkörper, sie zuckte erschreckt zusammen und riss zum Schutz ihre Arme vor sich hoch. Die Klinge zersprang in tausend Einzelteile, Chikará blieb unversehrt.

"Und ebenso kann es dir keinen Schaden zufügen", beendete Hanryo seinen Satz.

Chikará nahm die Arme wieder herunter, dabei atmete tief durch. "Du weißt doch, wie sehr ich diesen Beweis hasse."

Hanryo zuckte unschuldig mit den Schultern, anschließend lachten beide.
 

"Hast du diesen Knall gerade gehört", fragte einer der beiden Soldaten, die am Eingang der Pagode patrouillierten, den anderen, nachdem der helle Klang des zerspringenden Metalls erschallen war.

"Nein, ich habe nichts gehört."

"Doch, da war etwas, aus den oberen Stockwerken der Pagode kam der Lärm, wir sollten einmal nachschauen gehen, eben waren doch ein paar Besucher hochgegangen?"

Tsuzuri, die in der Nähe des Eingangs zur Pagode auf ihre beiden Freunde wartete, hatte auch das laute Geräusch des zerspringenden Schwertes gehört und bemerkte nun die Verwunderung der beiden Wachsoldaten. Da sie sich denken konnte, dass Hanryo und Chikará bestimmt irgendetwas Verbotenes mit der geheimnisvollen Kiste gemacht haben mussten, eilte sie schnell zu den beiden Soldaten und versuchte sie abzulenken. "Der neue Gong des Palastes ist ziemlich laut, findet ihr nicht?"

"Seit wann soll der Kaiserpalast einen derart lauten Gong besitzen, davon hat mir bisher noch keiner etwas gesagt?", entgegnete einer von ihnen misstrauisch.

"Nun, er wurde erst vor wenigen Stunden neu aufgehängt, er ist ein Geschenk der Jishus."

"Die Jishus? Wieso sollten diese Heiden dem heiligen Kaiser des Ostens ein Geschenk machen?"

"Also, die Jishus als Heiden zu bezeichnen, finde ich persönlich eine Frechheit, sie haben sehr wohl einen Glauben, zwar einen völlig anderen als wir hier in Nara, aber Atheisten sind sie wirklich nicht. Ich hörte, sie wollen der Stadt neues Gold für den herrlichen Kaiserpalast schenken, unter anderem eben einen Gong aus reinstem Gold. Deshalb macht er solch ungewöhnliche und laute Geräusche."

"Eine sehr wundersame Geschichte ist das, was du uns hier berichten willst."

"Dennoch ist es die Wahrheit, beim Geisterkönig der Pagode und beim hochehrwürdigen Kaiser schwöre ich es."

Die Wachsoldaten mussten lachen. "Geh besser weg", forderte einer von ihnen Tsuzuri auf. "Andernfalls müssten wir überlegen, ob wir dich wegen Lästerung oder Verrücktheit verhaften müssten. Aber wenn du schnell genug aus unserem Blickwinkel verschwindest, lassen wir die Auswüchse deiner blühenden Fantasie ungeachtet."

Tsuzuri lächelte kurz, wobei man deutlich erkennen konnte, dass diese Heiterkeit nur künstlich war, dann suchte sie schnell das Weite.

Einige wenige Augenblicke später verließen Hanryo und Chikará die Pagode, die schweigen und schauten unterwürfig zu Boden, als sie an den Wachen vorbeigingen. Tsuzuri erwartete sie in der Mitte des Gartens bei der Bronzestatue von Jimmu, von dort aus setzten sie ihren Weg wieder gemeinsam fort.

Einer der beiden Soldaten ging zwar zur Sicherheit noch einmal die oberen Stockwerke der Pagode kontrollieren, aber Hanryo hatte die Kiste, in der die Einzelteile des Schwertes nun lagen, mit den Ketten wieder sorgfältig verschlossen, so dass der Wächter nichts bemerkte.
 

Für Ckikará verwandelte sich die ganze Stadt, ihre Bauwerke und ihre Bewohner, immer mehr zu einem schier unlösbaren Geflecht aus großen Rätseln. Ob der Kaiser des Ostens vielleicht wirklich schon lange tot war? Sollten die vielen Soldaten und Ritter wirklich nur Zierrat oder Überrest eines längst vergessenen Imperiums sein? Auch der Shogun, der zweithöchste Repräsentant Naras, war nur noch ein Schatten seiner selbst. Und das sollte die Macht der Menschen des Ostens darstellen? Sie wusste nicht, was sie glauben sollte, und fand keine Lösung. Aber ein vielleicht noch viel wichtigeres Geheimnis für sie waren der ,Geisterkönig' genannte Dämon Teriel und sein Schwert Rakuen. Wieso wurde er in Nara als Gott verehrt, und welche Bedeutung sollte das falsche Schwert haben? Sollten die Menschen vielleicht doch wissen, womit man Kaiserdrachen töten konnte? Chikará hoffte vergeblich auf Antworten von Hanryo. Dieser schwieg, wie so oft, und ließ sie alleine mit ihren Fragen. Und was war mit Tsuzuri, ob sie vielleicht etwas mehr wissen sollte, als sie zugab? Wahrscheinlich eher nicht, dachte sich Chikará. Was sollte sie schon Großes von dieser, oft nutzlos scheinenden Jishu erwarten?
 

Das letzte Ziel des Tages war der Friedhof von Nara. Ganz am äußersten südlichen Stadtrand, direkt neben der hohen Umgrenzungsmauer befand sich ein kleiner, beschaulicher und sehr alter Nadelwald, einer der sehr wenigen Plätze in Nara, wo keine Wächter patrouillierten. Es wurde allmählich Nacht, die Sonne versank am Horizont in einem rotvioletten Meer. Die Grabmäler standen entlang der Lichtungen, es waren steinerne Figuren oder Blöcke, zwischen ihnen standen Steinlaternen, in denen Teelichter brannten. Ein kühler Wind wehte, durch ihn schwankten die Äste der Bäume und die Schatten der Kerzenflammen. Ein Uhu oder eine Eule hörte man leise aus der Ferne, ansonsten herrschte tiefe Stille. Keine Menschen sah man auf dem Friedhof, viele hatten Angst vor den Geistern ihrer Familienmitglieder und besuchten sie deshalb nur an Festtagen oder am Tage ihres Todes. In diesem Teil des Ostens waren der Ahnenkult und die Ahnenverehrung weit verbreitet und ein wichtiger Teil vieler Religionen. Jedoch herrschte auch die Vorstellung, dass die Geister der Menschen, die zu unrecht gestorben waren, nachts ihre Gräber verlassen sollten, um an denen, die sie getötet hatten, Rache zu üben.

Hanryo und seine beiden Gefährtinnen glaubten aber nicht an solche umherstreifende Geister, allerdings an andere Arten von Geisterwesen sehr wohl. Chikará mochte solche Orte nicht, erst recht nicht bei Einbruch der Nacht, weil die vielen Gräber sie an Ryuchengshi erinnerten, wo ihr zahlreiche Furcht einflössende Untote und anderen Kreaturen aus dem Jenseits begegnet waren. Niemals wieder wollte sie dieses vergessene Reich des Todes betreten. Wahrscheinlich würde sie Zeit ihres langen Lebens niemals ihre Erlebnisse und Erfahrungen in der alten Drachenstadt vollständig vergessen können. Zu tief saßen in ihr immer noch die Erinnerungen an die widerwärtigen Leichenfresser und an den schrecklichen, untoten Drachen.

Tsuzuri suchte vergeblich nach dem Grab des Kaisers, sie hielt ihn immer für noch für einen Geist, der schon lange nicht mehr existierte. Der Friedhof beeindruckte sie kaum, sie wusste genau, dass alles, was man dort finden konnte, tot und damit vollkommen harmlos war. Wie Maschinen, jene konnten auch nur durch eine lebende Person gesteuert werden, ohne jemanden, der sie führte und aktivierte, waren sie absolut ungefährlich. Zumindest die meisten von ihnen, Ausnahmen gab es schließlich immer. Sie gähnte mehrmals während des Weges vorbei an den Unmengen von alten Bäumen und Gräbern, sie wünschte sich nichts sehnlicher, als ihr warmes Bett in der Herberge. Zudem hätte sie Hanryo auch gerne gefragt, wann sie endlich abreisen würden aus dieser, ihr zu ,menschlichen' Stadt. Aber sie hatte ja ihr Pensum an Unannehmlichkeiten an diesem Tag schon mehr als ausgeschöpft, weswegen sie schwieg und beschloss, ihm erst am folgenden Tag jene Frage zu stellen.

Hanryo blieb irgendwann zwischen zwei Bäumen stehen, obwohl an dieser Stelle kein Grabmal zu erkennen war. Er starrte auf den leeren, dunklen Boden zwischen den beiden mächtigen Kiefern, auf dem kein Gras oder andere Pflanzen wuchsen. Seine beiden Begleiterinnen stellten sich schweigend hinter ihm, jede von ihnen fragte sich, was dies nun bedeuten sollte?

"Man hat den Grabstein im Laufe der vielen Jahrtausende weggenommen", sprach Hanryo mit dunkler, aber klarer Stimme. "Für die Menschen gibt es keine Ewigkeit. Was ihnen zu alt erscheint, zerstören sie ohne großartig darüber nachzudenken. Wir aber sind die Ewigkeit, und meine Erinnerungen verschwinden nicht, auch wenn die Menschen versuchen, sie mir wegzunehmen." Er kniete sich langsam hin, stützte seine Hände vor sich auf dem Boden ab, senkte seinen Kopf und schloss seine Augen. Kleine, fast unsichtbare Tränen lief an seinen Wangen herunter, dabei blieb er starr und bewegungslos. "Hier liegen meine Ehefrau und meine beiden Kinder begraben."

Chikará und Tsuzuri trauten ihren Ohren nicht. Sie waren beide völlig schockiert und wurden innerlich von Emotionen überschwemmt. Keine von ihnen hatte jemals etwas davon gewusst oder auch nur im Entferntesten erahnt. Hanryo hatte einst eine Familie? Es war für sie nahezu unvorstellbar. Gerade er, der doch oft so kalt und abweisend schien, sollte früher einen ganz anderen Charakter gehabt haben? Vielleicht sollte dies so Einiges erklären. Seine derzeitigen Einstellungen, seine seltsame, verschlossene Art, sein ganzes Leben und vor allem seine Vergangenheit, die doch immer so rätselhaft und unklar schien. Chikará verstand zwar nicht, weshalb er ihr dies erst jetzt anvertraute, dennoch war sie in diesem Moment mit ihren Gedanken nur bei ihm. Niemals zuvor hatte sie sich ihm so nah gefühlt wie nun, sie teilte mit ihm seine Schmerzen. Es war für sie, als ginge es nicht um irgendwen, den sie niemals gekannt hatte, sondern als ginge es um ihre eigene Familie, dementsprechend erfüllt von Trauer war auch sie nun. Ebenso Tsuzuri, die doch sonst so schnell nichts aus der Fassung bringen konnte, war völlig gelöst. Obwohl sie Hanryo noch nicht lange kannte, war er doch für sie binnen weniger Tage zu einem der wohl besten Freunde geworden, den sie jemals hatte. Auch sie teilte auf eine gewisse Weise sein Leid, und auch sie war den Tränen nahe nach seiner schrecklichen Offenbarung.

"Es ist sehr lange her", führte Hanryo fort, immer noch mit geschlossenen Augen vor dem Grab kniend. "Es war vor dem Krieg zwischen den Menschen und unserer Art. Ich lernte sie kennen, als ich noch nicht in der Armee war. Damals arbeite ich als Schneider in einem kleinen Dorf im Osten, das längst nicht mehr existiert. Früher lebten die Drachen noch friedlich in Gemeinschaft mit den Menschen, wobei viele aber auch nichts von unserer wahren Stärke und Herkunft wussten. Die Stadt Nara war noch jung, als sie zum ersten Mal besuchte. Die vielen Tempel und Paläste, die großen Gärten und die vielen Geschäfte, damals war alles noch recht neu. Auch schien mir die Stadt zu jener Zeit wesentlich lebendiger als heute. Irgendwann traf ich sie abends in einem der vielen Gärten. Wir waren alleine und begannen irgendwann ein Gespräch. Es war eine wunderschöne Nacht, der Himmel über uns war klar, die Sterne leuchteten hell für uns. Ich blieb in Nara und heiratete sie ein Jahr später. Wir lebten zusammen und waren sehr glücklich. Sie war eine Menschenfrau, ich erzählte ihr niemals, wer ich wirklich war. Vielleicht hätte ich es irgendwann tun sollen? Nach einigen Jahren gebar sie zwei Kinder, einen Jungen und ein Mädchen. Beide waren Menschen, von meinem Drachenblut wurden sie nicht berührt. Nur wenige Jahre später verstarben plötzlich alle drei beinahe gleichzeitig an einer seltenen, damals noch unbekannten Krankheit. Meine beiden Kinder wurden nicht einmal fünf Jahre alt." Er unterbrach kurz und öffnete wieder die Augen, drehte sich aber noch nicht vom Grab weg. "Ich glaube, ich habe mich niemals wirklich von meiner Familie verabschiedet. Sie fehlen mir selbst heute noch so sehr, nach den vielen Jahrtausenden. Niemals werde ich sie vergessen. Auch wenn ich nur wenige Jahre mit ihnen zusammen verbringen durfte, einen winzigen Abschnitt meines langen Lebens, so war dies dennoch die schönste und glücklichste Zeit meines Lebens." Er stand auf, wandte sich vom Grab ab und ging weg, dabei sah er weder Chikará noch Tsuzuri an, sein Blick schien leblos und leer. "Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, bis ich wieder hierhin kommen kann. Vielleicht werde ich niemals wieder hierhin kommen können. Ich weiß es leider wirklich nicht. Vielleicht war dies das letzte Mal in meinem Leben, dass ich hier, bei euch, sein durfte. Falls dem so sein sollte, lebet wohl, ich werde euch niemals vergessen. Bis zum Ende meines Lebens werdet ihr tief bei mir in meinem Herzen und meinem Geist bleiben."
 

Als die sich drei Gefährten im dunklen, durch Wolken geschwächten Mondlicht zurück zur Herberge begaben, sprach niemand von ihnen auch nur ein einziges Wort. Lediglich als sich jeder von ihnen in sein Zimmer zurückzog, verabschiedete man sich gegenseitig mit einem leisen ,Gute Nacht'.

Chikará legte sich tief betrübt in ihr Bett. Schlafen konnte sie nun nicht mehr, sie war innerlich viel zu aufgewühlt. Für sie war es, als würde die Zeit stillstehen. Sie stellte sich Hanryo zusammen mit seiner Frau und seinen kleinen Kindern vor, wie sie alle zusammen spielten, redeten oder einfach nur die Zeit miteinander verbrachten. Niemals zuvor hatte sie auch nur ein einziges Mal an so etwas gedacht. Sie sah von da an Hanryo mit ganz anderen Augen. Nicht mehr als gefühllosen Lehrer oder Meister, ebenso wenig als bloßen Freund oder Begleiter, sondern als jemanden, dessen Leid und Schicksal sie teilte. Niemals zuvor hatte sie sich mit jemandem so sehr verbunden gefühlt wie nun mit ihm. Genau wie ihres wurde wohl auch sein gesamtes Leben zerstört, und auch er stand dem genauso so hilflos gegenüber wie sie, als ihr Vater und die Macht der Drachen zerstört wurden.

Nun, da sie endlich mehr über ihn wusste, vor allem über sein früheres Leben und seine tote Familie, wurde die innere Verbindung zwischen ihnen beiden noch viel stärker, als sie sowieso schon bis dahin gewesen war. Chikará mochte Hanryo wirklich, hatte Angst um ihn, litt mit ihm zusammen, dachte und fühlte genauso wie er. Für sie war er nun so etwas wie ein Bruder oder vielleicht gar wie ein Zwillingsbruder. Was auch immer noch auf sie zukommen sollte, für Chikará stand nun endgültig fest, dass sie immer und zu jeder Zeit Hanryo zur Seite stehen würde, genauso wie er es für sie tat. Sie war ein für allemal bereit, sich zusammen mit ihm ihrem Schicksal zu stellen. Denn er würde für sie sein Leben lassen, wenn es nötig wäre, und sie würde genau dasselbe auch für ihn tun.

Nara (Teil 2)

Am nächsten Morgen bekam Chikará, direkt nachdem sie ihre Augen geöffnet hatte, starke Kopfschmerzen. Ihr war, als würde sich ein Dolch wieder und wieder in ihren Kopf bohren. Gleichzeitig erinnerte sie an den Friedhofbesuch des Vortages und damit an Hanryos traurige Vergangenheit, die auch sie tief berührte. Um die Schmerzen zu verdrängen, schluckte sie mehrere Stücke der Wurzel, die sie von der Ärztin verschrieben bekommen hatte. Der salzige Geschmack widerte sie an, aber zumindest zeigte das Medikament schnell seine Wirkung. Die stechenden Schmerzen ließen allmählich nach, nicht aber die schmerzhaften Erinnerungen und Gedanken.

Chikará fragte sie, ob es wirklich der beste Weg war, die ganze Vergangenheit von Hanryo ruhen zu lassen und zu versuchen, sie zu vergessen oder zumindest sie zu ignorieren. Sie hätte gerne einmal mit ihren Gefährten alleine über all das geredet, vielleicht hätte das die Schmerzen beider ein wenig gelindert. Jedoch sollte sie niemals genug Mut gehaben, um Hanryo auch nur ein einziges Mal auf dieses schwierige Thema anzusprechen. Sie wollte ihn nicht unnötig damit quälen, obgleich ihr bewusst war, dass dieser Weg sie selbst beinahe genauso mitriss wie ihn. Sie hoffte, im Verlaufe des Tages genug Abstand von den vielen negativen und traurigen Gefühlen zu gewinnen.

Hanryo benahm sich an jenem Morgen nicht anders, als man es von ihn gewohnt war, nichts an seinem Verhalten und in seinen Worten erinnerte mehr an den letzten Abend. Er sprach wie immer kalt und trocken, mit einem Hauch von Ironie und gar Optimismus, dennoch glaubte Chikará irgendwo in ihm noch eine gewisse Art von Trauer zu erkennen.

Tsuzuri schien das gestrige Erlebnis auch recht gut verarbeitet oder verdrängt zu haben, sie wirkte ruhig und heiter, wahrscheinlich weil sie vermutete, dass sie bald Nara verlassen würden. Sie freute sich sehr auf die weitere gemeinsame Reise mit Hanryo und Chikará, da sie wusste, dass sie bestimmt bald noch wesentlich interessantere Gebiete durchqueren sollten als diese veraltete Stadt.
 

Hanryo hatte für diesen Tag die Besichtigung von einigen bedeutsamen Heiligtümern verschiedener Religionen geplant. Als erstes wollte er Chikará eine sehr fanatische und fast schon bizarre Glaubensgemeinschaft zeigen, deren radikale Weltansicht jedoch im Laufe der Zeit immer mehr Befürworter fand.

Neben dem ,Garten der Vergänglichkeit' gab es in Nara noch etliche andere große Gärten, die meisten waren künstlich angelegt. Jene waren aber viel mehr von religiösen Grundsätzen geprägt als der kaiserliche Garten, dessen Hauptziel es ja war nur, als Sinnbild für die Macht der östlichen Kaiser zu stehen. Ein gutes Beispiel für die religiösen Gartenanlagen war der ,Garten des Nichts und der Wahrheit'.

Jener bestand allerdings nicht aus grüner Natur und blühenden Pflanzen, sondern ausschließlich aus weißem Sand und grauen Felsbrocken, die in einer völlig willkürlichen und nichts bedeutenden Ordnung angelegt waren. Er galt als so etwas wie ein Symbol einer großen Religion, die aus dem Westen kam, ihre meisten Anhänger aber in den ärmeren Gebieten des Ostreiches fand. Der Garten sollte das Weltbild dieser Religion widerspiegeln.

Wie sein Name es schon verriet, stellte er in den Augen der Gläubigen die absolute Realität dar. Kein Leben, nur tote und starre Überreste eines niemals da gewesenen Lebens. Er sollte die Welt als das zeigen, was sie wirklich war, nämlich nur eine große Illusion, deren einzige Elemente Sand und Felsen waren. Die Menschen hatte die Welt erst zudem gemacht, was sie nun war, zu einer grünen, lebenden Schöpfung. Der Ursprung der Welt aber war das Nichts, und das Nichts war somit die einzige Wahrheit. Durch die Illusionen der Menschen ging jedoch die absolute Wahrheit für immer verloren.

Der Garten zeigte die Welt so, wie wirklich aussah, wie sie ausgesehen hatte, bevor die Menschen sich ihrer angenommen hatten. Er symbolisierte gleichzeitig, dass es keine Götter gab, die sich um die Welt kümmerten, sondern dass die Menschen alleine ihre Welt aus dem Nichts erschaffen hatten. Die meisten Anhänger dieser Religion waren sehr fanatisch in ihrem Glauben und schworen allen Göttern der Welt die Treue ab.
 

Als die drei Gefährten den Garten durchquerten, wunderte sich Chikará zunächst darüber, das nirgendwo Wachsoldaten patrouillierten. Des Weiteren verstand sie nicht, was dieser Garten ohne Pflanzen überhaupt repräsentieren sollte. Wieso nannte man dieses Ödland überhaupt ,Garten'? Nur Sand und Felsen, wie als befände man sich in einer Wüste, weshalb hatte man diesem Garten kein Leben geschenkt?

In ihrer Ratlosigkeit wandte sie sich zu Hanryo. "Ich verstehe es nicht", schilderte sie. "Was soll diese künstliche Wüste sein? Ein Garten? Welchen Zweck erfüllen der Sand und die Felsbrocken?"

"Sofern sie überhaupt einen Zweck erfüllen sollten", fügte Tsuzuri hinzu. "Oder hatte der Kaiser nur kein Geld mehr für Pflanzen?"

"So leicht ist die Erklärung nicht", sagte Hanryo etwas amüsiert von der letzten Theorie. "Dieser Garten führt zum Phönix-Tempel, dem höchsten Heiligtum einer Religion, die sich der ,Weg des Phönix' nennt."

"Haben sie etwas mit der Sagengestalt des Phönix zu tun?", fragte Tsuzuri. "Der Vögel, der sich selbst verbrannte, um aus seiner eigenen Asche wiedergeboren zu werden?"

"Ja, genauso ist es. Die Anhänger dieser Religion glauben an keine Götter, sie sehen die gesamte Menschheit als die höchsten Wesen der Welt an. Außerdem glauben sie an die Wiedergeburt der Menschen. Der Phönix soll ihnen dies offenbart haben, ebenso wie die Tatsache, dass es keine höheren Wesen als den Menschen geben soll. Und wenn sie sich, wie der Phönix, in einer heiligen Flamme selbst verbrennen, so werden ihre Seelen in neuen Körpern wiedergeboren, dadurch sind ihre Seele auf eine gewisse Weise unsterblich. Im Phönix-Tempel brennt ein solches heiliges Phönix-Feuer. Jeden Tag stürzen sich Hunderte von Gläubigen in die Flammen, mit der Hoffnung wiedergeboren zu werden."

"Sie verbrennen sich bei lebendigem Leib?", entgegnete Tsuzuri bestürzt.

"Ja, es ist schwer zu verstehen, aber ihr Glaube ist ihnen wichtiger als ihr eigenes Leben. Sie sind derart überzeugt von ihrer Religion, dass sie keine Angst vor dem Feuertod haben."

"Werden sie denn wirklich wiedergeboren, nachdem sie sich verbrannt haben?", wollte Chikará wissen.

"Glaubst du es?", erwiderte Hanryo ihr.

Sie atmete aus und überlegte. "Nun, wenn ich ehrlich sein soll, ich weiß es nicht. Ich habe niemals darüber nachgedacht, ob so etwas wie Wiedergeburt wirklich möglich ist, ich will es aber dennoch nicht ausschließen."

"Vielleicht wirst du es nach dem Besuch des Tempels besser einschätzen können?", prophezeite er ihr lächelnd.

"Aber was hat es denn nun mit diesem seltsamen Garten auf sich, wo liegt sein Sinn?", ergriff Tsuzuri das Wort.

"Er soll die Welt zeigen, wie sie im Ursprung einst war, bevor die Menschen sie verändert haben. Er soll die Realität und die Wahrheit repräsentieren."

"So soll die Wahrheit aussehen?", fragte Chikará verwundert.

"Die Wahrheit soll nach Meinung der Phönix-Anhänger so sein, dass es keine Götter gibt, die Einfluss auf die Welt haben, dass die Menschen alleine die Macht des Erschaffens und Schöpfens haben. Wenn es nämlich Götter geben würde, so sollten sie diesen Garten erblühen lassen, aber da es sie ja nicht gibt, und weil die Menschen nichts an diesem Garten verändern, dient er den Gläubigen als Beweis für die Vollmacht der Menschen und für die Nichtexistenz von Göttern. Die Menschen sollen ihre eigenen Götter sein, sie haben die Fähigkeiten, göttliche Phänomene wie Leben zu kreieren und zu vernichten. Dieser Garten soll nichts Anderes als ein Symbol dafür sein."

"Es gibt genug Leute, die behaupten, dass mein Glaube irrsinnig und verrückt wäre", erläuterte Tsuzuri und senkte anschließend ihre Stimme. "Aber dieser Glaube ist jawohl der irrsinnigste und verrückteste auf der ganzen Welt."

"Glauben heißt immer, seinen Verstand dem Nichterfassbaren und Übernatürlichen zu öffnen", erklärte Hanryo. "Richtig oder falsch lässt sich dabei oft nicht entscheiden, deshalb besteht immer die Gefahr, dass eine Religion in den Wahnsinn verfällt."

"Also stimmt es doch, dass dieser Glaube absurd und falsch ist", bemerkte Chikará.

"Ich habe diesen Glauben nur wahnsinnig genannt, nicht aber absurd oder falsch. Ich respektiere alle Religionen dieser Welt und will nicht die Richtigkeit von auch nur einer einzigen in Frage stellen. Denn welcher Glaube der Wahrheit entspricht, dies wissen nur die Götter selbst, sofern es sie denn wirklich gibt, und sonst niemand auf der Welt, kein Mensch, keine Jishu und kein Drache."
 

Der Weg durch den Garten ohne Leben dauerte nicht viel länger als eine halbe Stunde. Im warmen morgendlichen Sonnenschein erkannten die drei Gefährten in der Ferne den Phönix-Tempel, das Hauptheiligtum der Glaubensgemeinschaft, die sich der ,Weg des Phönix' nannte. Von weiten sah er wie jeder andere Tempel aus. Die Wände waren aus hellbraunem Holz und das Dach mit dunkelgrauen Ziegeln bedeckt, eine goldene Phönix-Figur thronte darauf. Auffällig war nur, dass aus dem Tempel dichte Rauchwolken emporstiegen, man hätte denken können, dass der Tempel brennen würde.

Chikará vermutete bereits, dass dies wohl der Rauch des heiligen Feuers sein musste, in dem sich die Gläubigen selbst verbrennen sollten. Sie wollte diese ungewöhnliche Geschichte aber erst dann glauben, wenn sich vor ihren eigenen Augen ein Mitglied dieser Religion ins Feuer stürzen sollte. Heimlich hoffte sie darauf, dass dies nicht passieren würde. Auch Tsuzuri fragte sich, ob Menschen wirklich dazu fähig wären, sich selbst zu verbrennen. Sie, die den Menschen sowieso keinen Mut und keine Religiosität zutraute, war sich sicher, dass Hanryos Wörter bestimmt nicht der Wahrheit entsprachen. Aber wieso sollte er sie und vor allem Chikará belügen?

Den Tempeleingang kontrollierte kein Ritter wie üblich, sondern ein junger Mann, gekleidet mit einem weißen Gewand, auf welchem ein rot-orangefarbener Phönix zu erkennen war. Nach einer gegenseitigen Begrüßung durch Verbeugen fragte er die drei Besucher freundlich, ob sie seiner Religion beitreten wollten. Hanryo verneinte dies und erklärte, dass sie lediglich Reisende wären, welche die Absicht hatten, den Tempel zu besichten.

Der Glaubensdiener ließ sie eintreten, allerdings mussten sie als Zeichen des Respekts gegenüber dem Heiligtum ihre Schuhe ausziehen und am Eingang zurücklassen. Chikará und Hanryo war diese Sitte bereits geläufig, Tsuzuri hingegen nicht, weswegen sie sich zunächst davor scheute, barfuss weiterzugehen. Aber Hanryos Überredungskunst konnte sie schließlich doch noch davon überzeugen, sich an die ihr fremden Regeln zu halten. Als die drei Gefährten dann den eigentlichen Tempel betraten, schloss der Mann hinter ihnen wieder die Eingangspforte.
 

Hinter dem Eingangtor befand sich eine riesige Halle, die wahrscheinlich beinahe genauso groß war wie die des Kaiserpalastes. Ein merkwürdiger leichenähnlicher Geruch lag in der Luft, der in der Nase brannte. Ein breiter, über fünfzig Meter langer, karminroter Teppich, der mit goldenen Vogelmotiven verziert war, führte geradewegs zu einer Feuerstelle, einer kreisförmigen Grübe mit einem Durchmesser von zirka zehn Metern, in der ein seltsames gelbes Pulver verbannte. Blaue Flammen stiegen von dort aus empor bis zur Decke des Raumes, wo ein runder Durchlass nach draußen führte, durch den der Rauch ins Freie entweichen konnte. An den hölzernen Wänden des Saales standen unzählige, lebensgroße Steinstatuen, die Menschen zeigten, es mussten wohl einige Hunderte bis Tausende gewesen sein. Die meisten stellten bewaffnete Ritter dar, einige aber auch Frauen und Kinder.

In der Mitte der Halle ging Hanryo zu einer dieser Figuren, einem kleinen Jungen, und strich ihn mit der Handfläche sanft über den Kopf. "Wenn eine berühmte Persönlichkeit, ein ranghoher Ritter oder ein sehr junger Mensch sich selbst im heiligen Feuer verbrennt, wird ihm zu Ehren in dieser Halle eine Statue errichtet", erzählte er und drehte sich wieder zu seinen beiden Begleiterinnen. "In Laufe der vielen Jahre sind ziemlich viele Leute diesen schrecklichen Weg gegangen, wie man sieht."

"Ist dieses Feuer wirklich etwas Übernatürliches?", fragte Chikará, die staunend auf die Feuerstelle starrte, von der sie nur noch ungefähr fünf Meter weit entfernt stand. "Ich habe niemals zuvor ein Feuer mit einer blauen Flamme gesehen, es muss doch etwas Göttliches dahinter stecken, oder etwa nicht?"

Tsuzuri wandte sich zu ihr. "Es handelt sich um einen sehr billigen Zaubertrick: Sie verbrennen Schwefel, dieser hat nämlich beim Verbrennen eine blaue Flamme. Riechst du nicht diesen ekelhaften Schwefelgeruch in der Luft?"

Hanryo klopfte der Jishu bestätigend auf die Schulter. "Tsuzuri, es ist genauso, wie du es gesagt hast. In der heutigen Welt gibt es keinen Zauber mehr, und wenn doch, dann muss er etliche Jahrtausende alt sein. Alles andere, was man heute als Zauberei bezeichnet, sind in Wahrheit nur Illusionen."

"Aber erkennen die Menschen diesen Trick denn nicht?", fragte Chikará weiter.

Er drehte sich zu ihr. "Sie wollen ihn nicht erkennen."
 

Plötzlich ertönte ein lauter Glockenklang.

Während Chikará und Tsuzuri vollkommen verwirrt stehen blieben und sich nicht rührten, drehte Hanryo sich verwundert um. Das Eingangstor öffnete sich langsam. "Ein Ritual beginnt, schnell, wir dürfen nicht gesehen werden!" Er eilte sofort hinter eine Gruppe von Steinstatuen und kniete sich dort auf den Boden. Die beiden Frauen folgten ihm in das Versteck. Eng zusammengepfercht hockten sie sich zwischen den Figuren und der Holzwand. Vom Gang aus betrachtet waren sie nahezu unsichtbar, jedoch konnten sie aus ihrem Hinterhalt die gesamte Halle und die Feuerstelle recht gut beobachten.

Chikará und Tsuzuri warteten gespannt und fragten sich beide, was nun wohl passieren sollte. Aufgeregt und mit laut pochendem Herzen starrten sie vorsichtig auf den Gang mit dem roten Teppich. Hanryo, der wusste, was sie nun erwarten sollte, bemühte sich nicht um einen guten Blickwinkel, sondern dachte indes darüber nach, ob er das folgende Ereignis seinen beiden Begleiterinnen überhaupt zumuten durfte. Wahrscheinlich würden sie es nicht verstehen und einige weitere schlaflose Nächte in Kauf nehmen müssen, aber manchmal sollte man die Augen vor der Realität nicht verschließen, egal wie schrecklich sie war, sagte er sich.
 

Fünf Menschen, alle in weißen Kapuzengewändern gekleidet, betraten die Halle und gingen hintereinander über den roten Teppich langsam zur Feuerstelle. Vier von ihnen trugen anfangs eine steinerne Staue mit sich, die eine junge Frau zeigte, jene stellten sie in der Nähe des Eingangs bei den anderen unzähligen Figuren ab. Danach setzten sie ihren Weg fort in Richtung des heiligen Feuers. Sie bemerkten dabei nicht, dass sie heimlich beobachtet worden.

Chikará erahnte allmählich, welche Absicht die fünf Menschen hatten, dennoch hoffte sie innigst darauf, dass irgendetwas Anderes passieren würde als jene Bluttat, von der Hanryo ihr vorhin berichtet hatte.

Als die fünf Gläubigen nur noch einige Meter von der Feuerstelle weit entfernt waren, blieben sie stehen und begangen miteinander zu reden. Man konnte aus dem Versteck hinter den Steinstatuen nur Wortfragmente wie ,Leben', ,Ewigkeit' und ,Wiedergeburt' hören. Dafür konnten man sie nun aber besser erkennen, sie hatten ihre Kapuzen abgelegt. Bei vier der fünf Personen handelte es sich um ältere Männer mit grauem Haar, die fünfte aber war eine junge Frau, die höchstens achtzehn Jahre alt war. Sie ähnelte vom Gesicht und vom Körperbau her der Statue, welche die vier Männer zu Beginn der Zeremonie aufgestellt hatten.

Nach einigen Minuten endete schließlich das Gespräch zwischen den fünf. Nachfolgend begab sich jeder der vier Männer zu einer Position am Rande der Feuerstelle, jeweils einer zur Nord-, Ost-, Süd- und Westseite der Halle. Sie setzten sich dort in Richtung des Feuers auf den Boden, zogen ihre weißen Kapuzen wieder auf und senkten wie Trance ihre Häupter.

Die junge Frau, die immer noch an derselben Stelle verharrte und sich bis dahin nicht mehr bewegt hatte, begann plötzlich zu weinen und fiel völlig verzweifelt und entsetzt auf die Knie. Sie hielt sich vor Scham und Angst die Hände vor ihr Gesicht. "Ich kann es nicht tun!", schrie sie mehrere Male mit lauter und traurig klingender Stimme. Die vier Männer beachteten sie nicht und fingen an, wie in Trance immer und immer wieder einen Gebetsspruch aus einer unbekannten Sprache zu wiederholen.

Chikará, deren furchtbare Befürchtungen sich zu erfüllen schienen, wandte sich leise zu Hanryo. "Sie wird es nicht tun, oder?", fragte sie hoffensvoll und angespannt.

Ihr Gefährte schüttelte nur stumm den Kopf und schaute schwermütig nach unten.
 

Nach einer Minute des vergeblichen Klagens richtete sich die junge Frau wieder auf; sie hatte wohl erkannt, dass dies nichts mehr half, und sie bekam wieder neuen Mut für das grausame Ritual. Obwohl sie immer noch Tränen in den Augen hatte, entschloss sie sich für den Weg, der ihrer Meinung nach der einzige richtige sein musste. Sie atmete noch einmal tief durch und dann lief schreiend auf die blauen Flammen zu.

Genau in diesem Moment blieb Chikará der Atem stehen. Es schien ihr, als würde die Zeit stehen bleiben. Obwohl die Frau nur wenige Schritte bis hin zur Feuerstelle brauchte, kam es Chikará so vor, als würde alles ewig dauern - jeder Schritt, jeder Atemzug, jeder Angstschrei, jede Bewegung der jungen Frau. Chikará hoffte erneut auf die Vernunft der jungen Frau, obgleich es dafür bereits viel zu spät war. Chikará kämpfte mit sich. Soll ich etwa machtlos zuschauen, wie ein Mensch direkt vor meinen Augen in sein Verderben rennt? Soll ich wieder eine Mitschuld am Tod eines hilflosen Menschen tragen? Wie bei der Begegnung mit den Eisenbahnräubern? Wie damals bei Mián? Soll ich wiederum zur Mörderin werden?

Oder sollte sie endlich ihr feiges Versteck verlassen, um zumindest dieses Mal ein Menschenleben vor dem Tod zu retten? Chikará rang weiter mit ihrem Innersten. Sie machte sich Vorwürfe und suchte vergeblich nach Erklärungen und einer Lösung.

Am Ende entschied sie sich für den riskanteren Weg, denn sie wollte nicht noch einmal zur Mörderin werden.
 

Hanryo bemerkte Chikarás große Anspannung und erkannte ihren übermütigen Plan.

Als sie aufstehen wollte, um die junge Frau aufzuhalten, reagierte er blitzartig. Er packte sie am Arm und zog sie zurück zu Boden. "Du kannst das nicht tun", flüsterte er ihr wütend zu. "Sie will sterben, also lass sie sterben!"

Chikará wurde schlagartig zurück in die Realität gerissen. Sie wusste, dass sie sich nicht über die Worte ihres weisen Lehrmeisters, der schon so oft Recht mit seinen Entscheidungen hatte, hinwegsetzen sollte. Sie beruhigte sich, schloss kurz die Augen und schaute danach wieder zu der jungen Frau.

Jene sprang in das heilige Feuer. In der Sekunde, in der ihr Körper die vernichtenden Flammen berührte, glühte das Feuer bis hoch zur Decke des Raumes auf und knisterte laut. Man sah noch kurz, wie die Frau, deren Leib langsam verbrannte, in dem blauen Flammenmeer umhertaumelte, dann fiel sie schließlich hin und stieß ihren letzten, verzweifelten Todesschrei aus.

Chikará musste alles tatenlos mit ansehen. Sie senkte ihr Haupt und versteckte ihr Gesicht hinter ihren Handflächen. Sie hatte versagt, sie war erneut zur Mörderin geworden, redete sie sich ein. Hanryo griff nach ihrer Hand und sprach sie behutsam an. "Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen, dich trifft keine Schuld an ihrem Tod. Selbst wenn du sie vor den Flammen gerettet hättest, sie hätte es garantiert ein zweites Mal versucht. Sie war schon tot, als sie diese Halle betreten hat. Sie kam nur hierher, um im heiligen Feuer zu sterben. Der Tod war das einzige Ziel, das sie noch hatte. Man konnte ihr nicht mehr helfen."

Chikará hörte ihm nicht zu und schwieg, völlig in Gedanken versunken. Er wollte ihr nur ihr schlechtes Gewissen austreiben, aber dies gelang ihm nicht einmal ansatzweise. Chikará war fest davon überzeugt, dass sie das Leben der Frau hätte retten können, wenn sie es versucht hätte.

Tsuzuri stand der ganzen Situation ziemlich hilflos gegenüber. Sie wollte für keinen ihrer beiden Gefährten Partei ergreifen, deshalb sagte sie kein Wort. Eigentlich berührte sie selbst das Schicksal der jungen Frau, wie auch das Schicksal aller Menschen, kein kleines bisschen. Es war ihr gleich, ob ein Mensch tot oder lebendig war, infolgedessen verstand sie auch Chikarás mitleidiges Verhalten überhaupt nicht.
 

Als die vier Männer den Tempel verlassen hatten, begaben sich die drei aus ihrem Versteck. Chikará eilte sofort zu der Feuerstelle. Die brennende Leiche der jungen Frau lag mitten in den blauen Flammen, die sie langsam auffraßen. Die Haut und die Haare waren versengt, die letzten Kleidungsfetzen glimmten, die Knochen kamen an einigen Stellen bereits zum Vorschein, das tote Gesicht war geschwärzt von Asche und Rauch, der weit geöffnete Mund, er schien immer noch zu schreien.

Chikará schloss kurz die Augen. Innerlich wünschte sie der Seele der Frau ein besseres Leben in einer anderen Welt oder die Wiedergeburt, von der sie geträumt hatte. Mehr blieb ihr nicht mehr übrig, da sie wieder einmal versagt hatte und durch ihre Schuld ein Mensch gestorben war. Vielleicht hatte zwar Hanryo recht damit, dass Chikará nichts hätte unternehmen können, um das Leben der Frau zu retten, aber sie selbst konnte dies nicht einsehen und quälte sich weiter mit schweren Vorwürfen. In ihren Augen war sie erneut zur Mörderin geworden, obwohl sie sich erst vor wenigen Tagen geschworen hatte, niemals wieder für den Tod eines Menschen verantwortlich sein zu wollen.

Während sie auf die Leiche in mitten der blauen Flammen starrte, kam Tsuzuri an ihre Seite. Sie bemühte sich, ihrer verzweifelten Gefährtin neue Hoffnung zu geben. "Chikará, ich finde, du solltest dir über diesen Menschen nicht so sehr den Kopf zerbrechen. Was hast du denn davon? Du darfst dich nicht nur darauf konzentrieren, vorbildlich zu handeln. Wahrscheinlich denkst du, dass du als große Drachenkaiserin perfekt sein müsstest, aber das musst du nicht sein. Du kannst dich nicht um jede Person kümmern oder ihr nachtrauern, damit würdest dich auf Dauer nur selbst zerstören.

Denk doch einmal an die anderen Drachen auf den Kontinent meines Volkes. Sie warten auf dich. Sie brauchen deine Hilfe nun mehr als alle andere auf der gesamten Welt. Und denk an deine wichtigen Fragen, daran, dass du endlich die Wahrheit über deine Vergangenheit erfahren willst. Die Antworten warten auf dich am anderen Ende der Welt. Du kannst das Schicksal eines einzelnen Menschen ändern, dafür aber dein eigenes Schicksal und das der Drachen.

Du musst wieder nach vorne schauen. Der Weg ist zwar noch sehr lang, aber es gibt ein Ziel, dass wir zusammen erreichen werden. Also, versuch bitte, diese Frau zu vergessen, und fass dir neuen Mut für unsere große Reise."

Chikará bemerkte schnell, dass es nicht Tsuzuris Stärke gewesen war, sinnvolle Argumente für neuen Optimismus zu erfinden. Aber trotzdem ergaben für sie einige der Wörter, die die Jishu gebraucht hatte, so etwas wie einen Sinn.

Zuviel Pessimismus und Trauer waren wirklich nur hinderlich für die weitere Reise. Chikará fragte sich, wieso sie eigentlich immer noch jedem, der starb, nachtrauerte. Eigentlich hätte sie sich doch allmählich daran gewöhnen sollen, daran, dass es so viel Leid und Tod auf der gesamten Welt gab, und dass man immer wieder damit konfrontiert werden würde, egal ob man es wollte oder nicht. Sie sollte vielleicht wirklich langsam etwas abgehärteter auf Trauer und Tod reagieren können. Allein schon aus dem Grund, dass sie gegen das Schicksal eines jeden einzelnen Menschen ohnehin nichts unternehmen konnte.

Jedoch konnte sie das Schicksal von Hanryo, von Tsuzuri, von den anderen Drachen und selbstverständlich ihr eigenes sehr wohl ändern. Solange sie das Leben der Leute, die ihr nah waren und die ihr etwas bedeuteten, schützen konnte, müsste sie sich keine Vorwürfe darüber machen, falsch gehandelt zu haben.

Was die Menschen betraf, sie zu beschützen vor Tod und Leid schien beinahe unmöglich, deshalb sollte man sich auch nicht in sinnloses Mitleid stürzen, wenn man an dieser Aufgabe scheiterte. Einen Menschen bewusst zu töten hingegen, das war ein Verbrechen, beschloss Chikará für sich selbst. Den Eisenbahnräuber hatte sie mit voller Absicht und Berechnung getötet, gegen das Schicksal von Mián und der jungen Frau aber war sie machtlos gewesen, dafür trug sie keine Verantwortung.

Hanryo, der mittlerweile auch zur Feuerstelle gekommen war, legte Chikará sanft die Hand auf die Schulter. "Du kannst nicht das Schicksal der Menschen ändern, aber du kannst unser Schicksal ändern."

"Ich weiß es", antwortete Chikará deprimiert. "Dennoch wünschte ich so sehr, dass auch ihres ändern könnte."
 

Am Nachmittag, nach einem kleinen Mittagessen in der Herberge, wollten die drei Gefährten die Heiligtümer einer anderen Religion aufsuchen, einer, die eine Vielzahl von Göttern verehrte.

So erreichten sie zunächst einen großen Garten, der die Form eines Quadrates hatte. Einige Besucher gingen auf den Kieselwegen umher, beschauten die Pflanzen oder beteten. Die Fläche des Gartens war in vier weitere Quadrate aufgestellt, in jedem wuchs nur eine ganz bestimmt Baumart. Ein Holzschild am Eingang berichtete, dass der Garten den Namen ,Garten der Vier Jahreszeiten' besaß, da jede der vier Baumarten immer nur zu einer ganz bestimmten Zeit im Jahr blühte, während die übrigen drei jeweils in diesem Zeitraum keine Blätter oder Früchte trugen. Dies sollte den Kreislauf eines Jahres widerspiegeln, die Tatsache, dass alles irgendwann wieder von Anfang an begann und dass alles auf der Welt nur sehr kurzlebig war. Des Weiteren demonstrierte dieser Garten auch die Macht der Götter, denn nur durch sie konnten die Pflanzen im Winter erblühen und im Sommer absterben.

Da die drei Gefährten den Garten im späten Sommer besuchten, zeigten ein paar Apfelbäume mit ihren weißen Blüten und kleinen gelbroten Äpfeln ihre vollkommenste Pracht. Die Bäume der anderen drei Teile des Gartens trugen weder Früchte noch Blüten oder Blattgrün, sie schienen beinahe tot zu sein.

Chikará verstand zwar die Symbolik des Gartens, nicht aber, weshalb einige der Bäume im Winter erblühen sollten, weil doch normalerweise im Winter lediglich Nadelbäume noch ihr grünes Kleid besaßen. Und wie war es möglich, dass nur eine einzige der drei Arten im Sommer, wo doch sonst alle Pflanzen gediehen, ergrünte? Tsuzuri hingegen verstand überhaupt nicht die Funktion oder den Sinn des Gartens. "Die Menschen sind schon merkwürdige Wesen", flüsterte sie. "Ein Garten, von dem nur ein Viertel blüht, das soll verstehen, wer es will."

"Versuch es doch so zusehen", begann Hanryo, "dieser Garten hat immerhin ein Viertel, das erblüht. Der ,Garten des Nichts und der Wahrheit' am Phönix-Tempels besaß nicht einmal das."

"Beim Bau dieses Gartens hatte der unsichtbare Kaiser wieder kurzzeitig Geld, dies wäre meine Begründung."

"Diese Variante wäre viel zu einfach. Es ist so, die Götter selbst kontrollieren die Pflanzen des Gartens, und dadurch lassen sie immer nur eine Art zu jeder Jahreszeit gedeihen, während sie den anderen kein Leben ermöglichen."

"Hanryo, sei bitte einmal ehrlich", sagte Tsuzuri sehr leise. "Du glaubst diesen Schwachsinn doch selber nicht, oder?"

Er antwortete ihr nicht und ging weiter den Kieselpfad entlang, quer durch den Garten. Tsuzuri schaute verwundert zu Chikará, diese zuckte nur mit den Schultern und folgte ihrem Gefährten.
 

Hinter der Gartenanlage lag der Nara-Schrein, das wohl wichtigste Heiligtum der Stadt, da es der Hauptreligion des Ostens geweiht war. Dementsprechend wurde es auch, ähnlich wie der Kaiserpalast, von sehr vielen Reisenden und Gläubigen besucht, allerdings war im Falle des Schreins kein Schutz durch Hunderte Ritter oder Soldaten notwenig.

Den Eingang des Schreins stellten zwei senkrecht aufgestellte Holzbalken dar, die sich vollkommen glichen und im Abstand von drei Metern nebeneinander standen. Auf ihren Enden lagen zwei waagerechte Balken gleicher Farbe und Form, wobei zwischen den beiden einige Zentimeter Freiraum waren und der höher liegende etwas länger war als der andere. Dieses ungefähr fünf Meter hohe Bauwerk sollte weniger ein rationales, sondern vielmehr ein geistiges Portal sein, hinter dem man den Göttern besonders nahe war.

Als Chikará das sonderbare Tor durchschritt, glaubte sie einen kleinen Teil der göttlichen Aura fühlen können. Ein warmes Licht in ihrem Innersten, das kurz aufglühte und dann wieder verschwand. Sie hoffte, vielleicht dieses Mal wirklich Antworten auf ihre Fragen finden zu können. Obgleich sie sich selbst oft als Atheistin bezeichnete, schlummerte doch noch irgendwo in ihr so etwas wie Religiosität und ein Hauch vom Glauben an das Göttliche.
 

Unweit der merkwürdigen Balkenkonstruktion befand sich eine Umgrenzungsmauer, welche den religiösen Komplex aus Mauern und Gebäuden umschloss. Sie bestand aus einem goldfarbenen Palisadenwall, jedoch war dieser selbst an den höchsten Stellen nicht einmal drei Meter hoch. Er bot folglich keinen wirklichen Schutz, sondern war ähnlich wie das Tor vielmehr als symbolische Grenze des Schreins zu verstehen.

Eine recht kleine, geöffnete Pforte stellte den eigentlichen Eingang zu dem umzäunten Schreingelände dar. Hinter jenem befand sich ein überdachtes Wasserbecken aus Stein mit zwei Schöpfkellen, das zu der rituellen Reinigung vor dem Betreten des Heiligtums diente. Gezackte Papierstreifen an der Bedachung sollten die bösen Geister fern halten.

Hanryo erklärte seinen beiden Begleiterinnen kurz, wie sie sich die Hände und den Mund mit den Schöpfkellen waschen sollten. Beiläufig erwähnte er, dass dies die Hände von den bösen Taten und den Mund von den Lügen reinigen sollte. Keine der beiden Frauen wirklich verstand den Sinn und Zweck dieses Brauches, dennoch machten sie alles genauso, wie Hanryo es ihnen erklärt hatte. Nach der rituellen Reinigung konnten die drei ihren Weg auf dem Schreingelände fortsetzen.

Ein Steinpfad zwischen dem überdachten Wasserbecken und den nächsten Gebäude, der Gebetshalle, führte vorbei an einem Verkaufstand, wo ein Priester die Besucher mit einer Verbeugung begrüßte und ihnen Opfergaben für die Götter anbot. Hanryo kaufte drei rechteckige Holztafeln, auf denen jeweils ein Tier gemalt war. Auf einer war ein Pferd zu sehen, auf der nächsten ein Rind und auf der letzten ein Schaf. Er verstaute sie in einer Tasche in seinem Gewand. Chikará und Tsuzuri schaute sich gegenseitig an und konnten nur noch mit den Schultern zucken; ihnen waren diese eigenartigen Bräuche völlig fremd. Sie wendeten beide fast gleichzeitig ihre verdutzten Blicke auf Hanryo, der, ohne sie zu beachten, seinen Weg fortsetzte.
 

Am Rande der Gebetshalle, unter einer alten Zeder fühlte er sich unbeobachtet und begann, seinen beiden Begleiterinnen mehr über den Schrein zu erzählen: "Vielleicht sollte ich auch einmal erklären, wo wir hier überhaupt sind?"

"Eine großartige Idee", entgegnete Tsuzuri ironisch, "im Anschluss daran kannst du uns auch erklären, was es mit diesen Tierbildertafeln für Kinder auf sich hat, das würde mich besonders interessieren."

"Wir werden sie erst später brauchen, sie sind aber trotzdem wichtig", wehrte er ihre Frage, ohne eine klare Antwort zu geben, ab. "Also, wir sind hier im Nara-Schrein, einem Heiligtum einer Religion, die sich der ,Weg der Götter' nennt. Vielleicht habt ihr schon einmal etwas davon gehört, die meisten Leute im Osten gehören ihr an. Wir werden jetzt beten. Am besten macht ihr einfach nur alles nach und bitte betretet auf keinen Fall die Gebetshalle, die darf nur bei bestimmten Zeremonien und Ritualen betreten werden. Wenn ihr alles richtig macht, wird niemand verdacht schöpfen und auch ihr beiden werdet dann in der Gnade der Götter stehen."

"Hanryo", sagte Chikará plötzlich, "lass mir dir bitte noch kurz eine Frage stellen und beantworte sie mir ehrlich: Gehörst du dieser Religionsgemeinschaft an, glaubst du an ihre Götter?"

"Ja", erwiderte er grinsend, druckte jeder der beiden Frauen ein Münzstück in die Hand und ging vor das Tor der Gebetshalle.

Von außen betrachtet hatte das Gebäude die Größe eines durchschnittlichen Wohnhauses, allerdings weit in der Länge gestreckt. Es war komplett aus Holz errichtet, mit kleineren Verzierungen, größtenteils eingeritzten Schriftzeichen, an den Wänden und undurchsichtigen gelbrötlichen Fenstern. Eine fünfstufige Steintreppe führte hoch zu der geschlossenen Eingangpforte, vor der ein Holzkasten mit kleinen Schlitzöffnungen an der Oberseite stand, welcher für einen Laien wie ein Kaninchenkäfig aussah.

Hanryo warf zunächst ein Geldstück in diesen Opferkasten. Anschließend verbeugte er sich zweimal, klatschte zweimal in die Hände, verbeugte sich noch einmal und ging zur Seite. Erst dann begann er mit gefalteten Händen, gesenktem Haupt und ohne ein Wort zu sagen sein Gebet. Chikará und Tsuzuri hätten beide gerne über dieses sonderbare Schauspiel gelacht, sie konnten sich aber beherrschen und versuchten es nun nachzuahmen. Jede von ihnen warf eine Münze in den Opferkasten, verbeugte sich zweimal, klatschte zweimal, verbeugte sich noch ein weiteres Mal, entfernte sich vom Opferkasten und begann das Gebet.

Nur wen sollten sie überhaupt anbeten? Keine von beiden wusste, welchen Gott oder Göttern dieser Schrein geweiht war. Deshalb dachten sie beide, während sie mit gefalteten Händen schwiegen, nur daran, dass ihre Reise ein gutes Ende nehmen sollte. Tsuzuri bemerkte zeitweilig, dass sie dabei war gegen ihre eigenen, gegen die Jishu-Götter zu freveln. Aus diesem Grund beendete sie schnell ihr Gebet und wartete nervös auf ihre beiden Gefährten, bis sie ihre beendet hatten. Indes fragte sie sich ernsthaft, ob sie nun mit einer schweren und grausamen Strafe der Jishu-Götter rechnen musste. Die wurde bleich im Gesicht und schwitzte vor Angst. Zum Glück musste sie nicht lange über die schreckliche Götterrache nachdenken, da auch Chikará und Hanryo recht bald ihre Gebete beendeten und alle drei gemeinsam ihren Weg fortsetzen konnten.
 

Rechts hinter der Gebetshalle stand ein Holzgerüst, an dem solche Holztafeln hingen wie die drei, die Hanryo vorhin gekauft hatte. Er holte diese wieder hervor und gab seinen beiden Begleiterinnen jeweils eine und ein kleines Stück Kreide; die dritte Tafel befiehlt er selbst. "Diese Holztafeln werden wir jetzt auch opfern", erklärte er. "Auf der Vorderseite sind Tiere gemalt, symbolisch opfern wir den Göttern diese Tiere. Auf der Rückseite der Tafel soll man einen persönlichen Wunsch schreiben, den die Götter dann versuchen werden zu erfüllen."

"Welchen Göttern ist der Schrein genau geweiht?", wollte Chikará wissen.

"Das spielt eigentlich keine Rolle, an jedem Schrein kann man zu jeder Gottheit beten, die Götter stehen in keiner Konkurrenz zueinander. Aber um deine Frage zu beantworten, dieser Schrein ist dem Sonnengott geweiht, dessen Nachfahre der Kaiser des Ostens ist."

Chikará nickte und begann ihren Wunsch auf die Holztafeln zu schreiben. Ebenso machten es Tsuzuri und Hanryo. Als alle drei zu Ende geschrieben hatten, hingen sie die drei Tafeln zwischen die vielen anderen, die bereits an dem Gerüst hingen. Chikará glaubte nicht daran, dass ihr dies etwas nützen sollte, ebenso Tsuzuri.
 

Schließlich erreichten sie das Zentrum der Schreinanlage, die Haupthalle, in der ein heiliges Relikt der Götter aufbewahrt wurde. Es war eigentlich keine Halle, sondern nur eine kleine Hütte. Von außen sah sie der Gebetshalle recht ähnlich, jedoch war die Haupthalle wesentlich kleiner und mit goldenen Schriftzeichen verziert. Einige gezackte Papierstreifen und Zweige eines heiligen Laubbaumes hingen an den Dachrinnen herunter. Die drei Gefährten blieben aus Respekt vor den Göttern ungefähr zwei Meter weit vor dem wichtigsten Heiligtum der Religion des Ostens stehen.

"Hinter der Mauer befindet sich der heilige Spiegel", berichtete Hanryo, "das dritte Realsymbol der Götter und des östlichen Kaisers als lebenden Gott. Die Menschen sagen, man könnte in ihm das Spiegelbild des Sonnengottes sehen."

"Wenn ich in einen Spiegel schaue, kann ich auch so etwas Ähnliches wie einen Gott sehen", zog Tsuzuri diese Geschichte ins Lächerliche.

"Aber stimmt es denn?", harkte Chikará energisch nach. "Kann man durch den Spiegel wirklich einen Gott sehen?"

"Das werden wir nicht herausfinden können, nur der höchste Priester darf die Haupthalle betreten. Aber darüber sollten wir nicht unnötig viel nachdenken - der Hauptgrund, wegen dem wir hierher gekommen sind, waren unsere Gebete und unsere Opfer an die Götter. Egal ob wir an diese Götter glauben oder nicht, wenn wir nur reinen und unaufrechten Herzens handeln, so werden sie uns helfen auf unserer weiten Reise." Er verbeugte sich, um sich von dem Heiligtum und von den Göttern zu verabschieden, dann ging er zurück zum Schreineingang, Chikará und Tsuzuri folgten ihm.

Letztere der beiden war sehr froh darüber, den Schrein endlich zu verlassen, da sie sich immer mehr um die Gunst ihrer eigenen Götter sorgte. Nicht nur dass sie zu diesen anderen Göttern gebetet hatte, sie hatte es sogar gewagt ihnen ein Opfer zu erbringen. Sobald es ihr möglich war, musste sie unbedingt ein Jishu-Heiligtum betreten und ihre Götter um Vergebung anflehen, redete sich Tsuzuri in ihrer inneren Panik ein.

Ganz im Gegensatz dazu überlegte Chikará nach dem Schreinbesuch intensiv über ihre atheistische Grundhaltung nach. Sie fragte sich, ob sie nicht vielleicht doch anfangen sollte, an einen oder mehrere Götter zu glauben. Schaden würde es wohl nicht, auf den Beistand von höheren Mächten zu hoffen, sagte sie sich. Aber sie wollte diese wichtige Entscheidung nicht übereilt treffen und sich noch etwas Bedenkzeit nehmen, bevor sie sich endgültig festlegen sollte.

Hanryo war erfreut darüber, dass seine beiden Begleiterinnen den ihnen fremden Ritten des Schreins gefolgt waren. Denn er war davon überzeugt, dass dies bereits ausreichte, damit die Götter von nun an auch den beiden Frauen und somit ihnen allen dreien zur Seite standen auf dem gefährlichen Weg, den sie eingeschlagen hatten.
 

In der Nähe des Schreins führte eine schmale Lichtung in einen alten Wald, der ein Heiligtum einer anderen, aber durchaus ähnlichen Religion war, die sich der ,Weg des Erleuchteten' nannte.

Man musste, bevor man den Wald betreten durfte, seine Schuhe ausziehen und sie bei einem Mönch zurücklassen, der bereits Dutzende Paar Schuhe in einer großen Holzkiste hortete. Die Luft des Waldes war zäh und feucht, es lag ein fauliger Geruch in der Luft. Die Laubbäume, größtenteils waren es Eschen und Birken, waren völlig von dunkelgrünem Moos und Pilzen bewachsen. Nur wenig Sonnenlicht drang durch das dichte Blätterdach, man konnte fast den Eindruck bekommen, dass es bereits Nacht war. Große Waldtiere wie Rehe oder Wildscheine lebten dort nicht, ebenso keine Singvögel oder Raubvögel, auch erkannte man nirgendwo blühende Blumen, nur Farne und einige Kräuter wuchsen an manchen Stellen. Der sumpfige Waldboden wurde immer schlammiger und nasser, bei jedem Schritt sank man einige Zentimeter tief ins Erdreich, ohne Schuhe an den Füssen wohlgemerkt. Aber dies stellte für die drei Gefährten kein allzu großes Problem dar. Anfangs erlitt zwar jeder von ihnen noch einen kleinen Schreck, wenn er versehentlich auf einen winzigen Käfer oder Regenwurm trat, aber mit der Zeit gewöhnten sie sich daran.

Die einzige, die gewisse Schwierigkeiten hatte und innere Blockaden gegen diese Wanderung empfand, war Tsuzuri. Schmieriges Maschinenöl, glühende Metallsplitter oder spitze und kantige Zahnräder, solchen Dingen konnte sie absolut gelassen entgegensehen, nicht aber ein paar kleinen Kriechtieren und stinkendem Schlamm. Sie redete sich immer selbst, dass Maschinen ja eigentlich überhaupt nicht gefährlich wären, da sie immer nur das taten, was ihnen befahl. Tiere in der Wildnis aber, obgleich es nur winzige Kreaturen oder große Raubtiere waren, hatten keinen Herrn, auf den sie hörten oder der ihnen Anweisungen gab, die sie befolgten. Dies unterschied sie von den Maschinen, die immer einen Mechaniker oder Ingenieur hatten, der sie kontrollierte. Die Tiere dagegen handelten frei, selbstständig und vor allem unkontrolliert, und dies machte sie in den Augen der Jishu gefährlicher als jedes mechanische Gerät.

Chikará verband mit dem Wald keine Abscheu oder Angst, lediglich erinnerte sie diese Umgebung an den Eichenwald, wo Hanryo und sie damals den Schwertkampf trainiert hatten. Gefährlich waren für sie nur Menschen, Drachen und selbstverständlich Untote, vor denen fürchtete sie sich immer noch.

Während ihres Weges kamen den drei Gefährten viele Menschen entgegen, allerdings keine Wächter oder Soldaten, sondern ausschließlich Mönche und Pilger. Alle wirkten so, als hätten sie einen Geist oder ähnliches gesehen, völlig zerrüttet, benebelt und in Gedanken gefangen. Tsuzuri und Chikará fragten sich beide nach dem Grund dafür. Sie erwarteten gespannt das Ende des Pfades, wo sie die Antwort vermuteten.

Schließlich wurde die Lichtung breiter, die grellen Sonnenstrahlen blendeten die beiden Frauen. Viele Menschen, es müssen Hunderte gewesen sein, standen in einem Halbkreis versammelt und starrten in Gebeten versunken auf die Stelle, wo der Waldweg endete.

Chikará und Tsuzuri waren beide zu klein, um in der Menschenmenge etwas erkennen zu können. Sie stellten sich sogar auf die Zehenspitzen in ihrer unbändigen Neugier, aber auch dies half ihnen leider nichts. So wandte sich Tsuzuri verzweifelt zu Hanryo, der zwar ebenfalls nicht viel größer war als seine beiden Begleiterinnen, dafür aber bestimmt diesen Ort nicht zum ersten Mal besuchte. "Was befindet sich dort hinten, was betten sie an? Wir können es von hieraus nicht sehen."

"Dann geht ruhig weiter nach vorne, dort werdet ihr es bestimmt sehen können", antwortete er ihr lächelnd.

Tsuzuri und auch Chikará, die ihr sogleich folgte, quetschten sich durch die Menschenmaße. Als sie soweit vorgedrungen waren, dass das helle Sonnenlicht sie nicht mehr blenden konnte und nur noch wenige Menschen vor ihnen standen, konnten die beiden endlich das Phänomen sehen, das die vielen Leute anzog.
 

Es war ein Baum, jedoch kein gewöhnlicher Baum, dies sah man ihm sofort an. Er schien alt zu sein, sehr alt, wahrscheinlich noch viel älter als alle anderen Bäume des Waldes. Seine dunkle Rinde war stellenweise mit Moos bewachsen, seine dicken Wurzeln blieben ein weites Stück an der Oberfläche, bevor sie ins Erdreich verschwanden. Sein mächtiger Stamm trug erst in einer Höhe von etwa fünf Metern die ersten Äste, sein leuchtend grünes Blätterdach war noch viel breiter als die Fläche, über die sich seine Wurzeln erstreckten, so spendete es seinen Bewunderern Schatten. Seine Blätter hatten eine seltsame Form, die weder Chikará noch Tsuzuri irgendwann zuvor schon einmal gesehen hatte. Sie sahen aus wie Sterne mit zehn Spitzen, welche regelmäßig verteilt waren, und ihre grünliche Farbe ähnelte der giftiger Frösche oder Schlangen, dennoch wirkten sie nicht bedrohlich oder gefährlich. Im Übrigen konnte nirgendwo an der Rinde oder auf den Blättern auch nur ein einziges Getier erkennen, nicht einmal einen Käfer oder einen kleinen Singvogel. Früchte trug der Baum auch nicht, aber dafür dienten ihm seine außergewöhnlichen Blätter als blühende Pracht. Vor den Wurzeln stand ein goldenes Metallschild, auf dem Schriftzeichen eingraviert waren, die ,Ammunaba' bedeuteten. Neben dem Schild lagen Unmengen von Reissäcken und Geld als Opfergaben für den heiligen Baum.

"Was hat es mit diesem merkwürdigen Baum auf sich?", fragte Chikará Hanryo, der ihnen mittlerweile hinterhergekommen war. Obwohl überall um sie herum Menschen standen, beachtete niemand die beiden, denn alle waren derart gefesselt von der Aura des Baumes, dass sie in Gebeten versanken und ihre Umwelt völlig vergaßen. Dennoch gingen die drei Gefährten einige Meter von der Menschenmenge weg, um sich besser unterhalten zu können.

"Sein Name ist, wie du bestimmt gelesen hast, Ammunaba, der heilige Baum", erzählte Hanryo. "Er soll das älteste Lebewesen auf der Welt sein, das noch existiert. Über dreißigtausend Jahre lang soll es ihn schon geben, deshalb verehrt man ihn als einen hohen Gott in der Religion, die sich der ,Weg des Erleuchteten' nennt."

Tsuzuri hielt sich die Hand vor dem Mund, um ihr Lächeln zu verbergen; der letztgenannte Name amüsierte sie.

"Stimmt es denn, dass er das älteste Wesen der Welt ist?", wollte Chikará wissen, obgleich sie sich die Antwort schon denken konnte.

"Ja, das ist er wirklich", antwortete Hanryo entgegen ihrer Erwartung.

Chikará und Tsuzuri rissen beide vor Bestürzung Augen und Mund weit auf. Beide waren vollkommen entrüstet, da sie, wie sie es in dieser Stadt gewohnt waren, wieder einmal nur mit einer Illusion gerechnet hatten. "Du belügst uns doch?", entgegnete Tsuzuri in ihrer Fassungslosigkeit.

"Woher weißt du es, woher willst du wissen, ob es stimmt?", fragte Chikará ihn.

"Ich belüge euch nicht, wieso sollte ich? Und ich weiß es von deinem Vater, Chikará. Er war zwar selbst im Vergleich zu Ammunaba recht jung, aber er wusste es von seinem Vater, und dieser es von dem seinigen, und so weiter. Zudem erzählten mir selbst die ältesten Geschöpfe, die ich auf der Welt kenne, dass Ammunaba noch viel alter wäre als sie. Es ist wohl folglich die Wahrheit."

"Der Baum sieht wirklich recht alt aus", bestätigte Tsuzuri. "Ein Baum hat ja auch den Vorteil, dass die Menschen ihn meistens in Ruhe lassen und dass er nur wenige Dinge zum Leben benötigt."

"Wollten die Menschen ihn denn niemals fällen?", erwiderte Chikará skeptisch.

"Angeblich hatte man es einige Male versucht, aber die Äxte sollen jedes Mal an seiner Rinde zersprungen sein."

"Hat dieser Baum zufällig etwas mit den Drachen zu tun?", wollte Tsuzuri wissen, da sie dies an Chikarás Unverwundbarkeit erinnerte.

"Nein, eigentlich nicht", antwortete Hanryo, "davon habe ich niemals etwas gehört."

"Du sagtest doch auch, er würde hier als hoher Gott verehrt", übernahm Chikará wieder das Wort. "Ist er denn wirklich ein Gott?"

"Vielleicht ist er einer, ich weiß es nicht", erklärte Hanryo. "Ich wage nicht bei einem Wesen wie ihm zu urteilen, ob es göttlich ist oder nicht. Er könnte auch genauso gut dämonischen Ursprungs sein, wie gesagt, ich weiß es nicht. Die Menschen des Ostens verehren sowieso alles aus der Natur, was ihnen eigenartig erscheint, als Gottheit, beten es an und erbringen ihm Opfer. Alte Bäume, hohe Berge, reißende Flüsse und Wasserfälle, Vulkane, sogar manche Tiere, Schlangen mit besonders langem Körper zum Beispiel."
 

Auf einmal hörten alle drei leise Schritte, die sich ihnen von hinten nährten. Sie drehten sich sogleich verwundert um. Ein alter Mönch war zu ihnen gekommen und begrüßte sie höflich mit einer Verbeugung; man erwiderte seinen Gruß. Er hatte keine Haare mehr auf dem Kopf, war recht dick und klein und er trug ein orange-gelbes Gewand. "Ich sehe es euch an, meine Kinder, Euch plagen große Fragen", sprach er freundlich und geheimnisvoll.

Chikará und Tsuzuri wussten nicht recht, wie sie darauf reagieren sollten, deshalb schwiegen sie anfangs. Sie waren ziemlich froh, als Hanryo sich dazu entschied, dem seltsamen Mann antwortete: "Ja, wir suchen nach verlorenen Erinnerungen. Meine junge Begleiterin", er verwies auf Chikará, "sie verlor vor kurzem ihr Gedächtnis und weiß nun nicht mehr, wer ihre Eltern waren und woher sie stammt."

Der Mönch nickte aufmerksam. "Ich verstehe Euer Problem", entgegnete er. "Ich kann Euch zwar keinen Erfolg versprechen, doch wenn Ihr es mir gestattet, so werde ich mit ihr in die Traumhalle gehen. Vielleicht kann sie dort einen Teil ihrer Erinnerungen wiederfinden."

"Was soll denn dort mit mir geschehen?", fragte Chikará misstrauisch und verunsichert.

"Nichts Schlimmes, du musst nicht beunruhigt sein", sagte der Mönch lächelnd. "Du wirst dort in einen tiefen Schlaf fallen und durch einen Traum wird deine zerrissene Seele geheilt werden, mit der Hilfe des Erleuchteten."

"Sie ist aber Atheisten", fügte Hanryo scherzhaft hinzu.

Der Mönch lachte. "Das ist dem Erleuchteten gleich, er kümmert sich um jede Seele, egal ob sie gläubig ist oder nicht."

"Gut, dann nimm sie ruhig mit zur Traumhalle", erlaubte ihm Hanryo. "Erwarte jedoch dafür kein Geld von uns, wir haben heute schon reichlich geopfert, und sie sollte gegen Einbruch der Nacht wieder bei uns sein."

Der Mönch lachte erneut, diesmal aber noch viel lauter als zuvor. "Nein, ich will kein Geld dafür, der Erleuchtete hat kein Interesse an Geld, und bei Sonnenuntergang wird sie wieder an Eurer Seite stehen, ich verspreche es Euch im Namen der Götter."

Chikará verfolgte das Gespräch mit großen Sorgen. Sie verstand nicht wirklich, was man nun mit ihr vorhatte. Der Mönch wirkte auf sie übertrieben und aufgesetzt freundlich, so als hätte er in Wirklichkeit einen hinterlistigen Plan. Vielleicht hatte er ihre Verkleidung und ihre falsche Identität durchschaut und wollte sie nun den kaiserlichen Soldaten ausliefern? Sie schaute ihn skeptisch an, erkannte jedoch in seiner Erscheinung kein offensichtliches Zeichen für Misstrauen. Infolgedessen hörte sie auf, so trügerische, gar weltfremde Verschwörungsgedanken zu erfinden. Wovor hatte sie Angst, vor diesem kleinen dicken Mönch? Er könnte ihr niemals gefährlich werden, sagte sie sich, und wieso sollte er böse Absichten haben? Hanryo schien ihm zu vertrauen, und weshalb sollte er einem Betrüger Glauben schenken? Er kannte diese Welt sehr gut, sein Vertrauen hatten nur wenige und diejenigen, die es hatten, waren alle ehrenhafte und ehrliche Leute, wieso also sollte dieses Mal etwas Heimtückisches dahinterstecken?

"Komm mit mir", befahl der Mönch ihr gutmütig und nicht unhöflich klingend.

Sie drehte sich mit zweifelndem Blick zu Hanryo, da sie für sich selbst immer noch keine eindeutige Lösung gefunden hatte. Aber als ihr Gefährte ihr bestätigend und vertrauensvoll zunickte, verschwanden alle ihre Bedenken und Zweifel. Sie ging zusammen mit dem Mönch zurück zum Schrein.

Hanryo schaute ihnen unbesorgt hinterher.

"Wieso hast du das getan?", fragte Tsuzuri Hanryo entsetzt. Sie hatte ähnliche Befürchtungen wie Chikará und wollte ihr beinahe hinterherlaufen, um sie zu warnen. "Wer weiß, was dieser alte Hexer mit ihr vorhat? Man kann den Menschen niemals trauen."

Er klopfte ihr freundschaftlich auf den Rücken. "Mach dir keine unnötigen Sorgen. Er ist ein alter Freund von mir, er wird Chikará nichts antun, da bin ich mir sicher."
 

Der Mönch führte Chikará zu der Traumhalle, einem großen achteckigen Gebäude, dass umweit der Umgrenzungsmauer des Schreins stand, jedoch mit diesem nichts zu tun hatte.

Als die beiden den Wald verlassen hatten, wuschen sie sich in einem dafür vorgesehen Wasserbecken die Füße, ihre Schuhe durfte Chikará allerdings noch nicht anziehen. Der Mönch erzählte ihr alles Erdenkliche über Nara und über den Erleuchten während des Weges. Der Erleuchtete war einst ein Mensch, der es schaffte, durch sein gutes Herz als Mensch zu einem Gott zu werden. Seine Anhänger versuchen durch seine Lehren dasselbe Ziel zu erreichen.

Chikará hörte dem Mönch zwar konzentriert zu, vergaß aber das meiste seines Monologs wieder recht schnell, weil es in ihren Ohren unwichtig klang. Götter selbst interessierten sie recht wenig, vielmehr faszinierten sie die Aspekte, die einem Gott zu dem machten, was er war. Sie fragte sich, was die göttlichen Fähigkeiten und Attribute sein sollten? Macht, Unsterblichkeit, Unvergänglichkeit, Ewigkeit? Aber über so etwas sprach der Mönch nicht, für ihn waren die Götter und der Erleuchtete nicht zu hinterfragen, da sie den Menschen sowieso niemals oder erst in einer anderen Welt alle ihre Geheimnisse preisgaben.
 

Auf dem kleinen Platz, auf dem die Traumhalle sich befand, traf man nur auf wenige gläubige Besucher. Das religiöse Bauwerk war ungefähr sechs Meter hoch und hatte einen Durchmesser von zehn Meter. Das Dach war dunkelblau und auf der Spitze wuchs eine wunderschöne Lotusblume mit schneeweißer Blüte. Die Wände bestanden aus Holz, teils waren sie weiß angestrichen oder mit Reliefen verziert, eine kleine Steintreppe führte hoch zur Eingangspforte. Der Mönch öffnete mit einem großen goldenen Schlüssel, den er aus seinem Gewand hervorzog, das schwere Metallschloss.

Drinnen war es stickig, und es roch nach allerlei seltenen Kräutern und Gewürzen. In der Mitte des fensterlosen Raumes stand eine meterhohe Bronzefigur des sitzenden Erleuchteten, der dem kleinen dicken Mönch recht ähnlich sah, um diese herum standen brennende Kerzen aus rotem Bienenwachs. Es schienen keine anderen Leute im Inneren der Traumhalle zu sein außer den beiden. Im Lichtkegel des Kerzenfeuers sah Chikará eine Strohmatte am Boden liegen. Der Priester bat sie, sich auf jene zu legen, was sie ohne zu zögern tat. Anschließend ging der Priester wieder zu der Türe, auf dem Weg dorthin blies er die Kerzen aus. Nur die offene Eingangspforte spendete nun noch Licht in der Finsternis des geschlossenen Zimmers, aber als der Mönch draußen war und die Türe wieder verschloss, verschwand auch dieses.

Von da an herrschte in dem Raum vollkommene Dunkelheit, so dass Chikará nichts mehr sehen konnte als ein tiefes geheimnisvolles Schwarz um sich herum. Zudem hörte sie kein einziges Geräusch mehr, das die Stille des gefängnisartigen Hauses zerstörte. Keine Schritte von Menschen, Vögelgesänge oder den Wind. Das ganze Ritual gab ihr zwar ein ziemlich unheimliches Gefühl, fast Furcht, dennoch hoffte sie sehr auf eine neue Erkenntnis oder auf eine verlorene Erinnerung aus ihrer Vergangenheit. Sie schloss erschöpft die Augen - der seltsame Geruch der Kerzen musste sie derart müde gemacht haben, dachte sie sich. Aber sie wollte nicht in Ohnmacht fallen, ihre Ängste und Zweifel kamen wieder in ihr hoch. Sie wollte nur noch den Raum so schnell es ging verlassen. Doch sie konnte sich nicht mehr bewegen, der giftige Rauch hatte gewonnen; sie musste sich geschlagen geben und schlief, ohne es zu wollen, ein.
 

*

"Chikará?"

"Ja?"

"Kannst du mich hören?"

"Ja, wer bist du?"

"Erkennst du meine Stimme denn nicht mehr?"

"Du hast recht, deine Stimme erkenne ich wieder. Sie wirkt mir vertraut und sie erinnert mich an tiefes Vertrauen, jedoch kann ich mich nicht mehr daran erinnern, wem sie genau gehörte. Du musst irgendeine geliebte Person aus meiner Vergangenheit sein, die ich verloren habe, vermute ich."

"Das stimmt. Aber es spielt nun keine Rolle mehr, wer ich einst war, denn ich muss dir unbedingt helfen, da du bald vor einer großen Entscheidung stehen wirst."

"Wie meinst du das genau, was rätst du mir? Welchen Weg soll ich einschlagen, wenn es soweit ist?"

"Wenn deine Seele nicht mehr weiß, welchen Weg sie einschlagen soll, dann höre auf deine Gefährten, sie werden dich wieder auf den richtigen Weg führen."

"Von welcher Entscheidung sprichst du, steht sie mir kurz bevor?"

"Dein Schicksal wird noch wesentlich bedeutender sein, als du es jetzt erahnst. Leb wohl."

"Halt! Warte doch! Wer bist du? Ein Gott? Wer bist du?"

*
 

Ein helles Licht riss Chikará aus ihrem Traum. Grelle Sonnenstrahlen blendeten sie, die durch die offene Türe der Traumhalle hineinschienen zu ihr. Der Mönch stand lächelnd an der Pforte und deutete ihr mit einer Geste an, dass sie herauskommen sollte.

Sie schloss noch einmal kurz die Augen und erhob sich dann wankend. Der kurze Weg bis zu der Eingangstüre der Halle schien ihr viel länger als er in Wirklichkeit war. Viele Gedanken und vor allem Fragen jagten ihr durch den Kopf. Was sollte dieser bizarre Traum bedeuten? Hatte er überhaupt eine ernst zu nehmende Botschaft für sie? Etwas benebelt kam sie schließlich wieder nach draußen, auf den Platz, wo der Mönch ihr sogleich lächelnd entgegentrat. "Hat der Schlaf in der Obhut des Erleuchteten dir geholfen?"

"Ja, das hat er", antwortete sie geistesabwesend und schaute sich dabei in der Umgebung um. Sie genoss die frische, saubere Luft, die sie nun endlich wieder atmen konnte. Sie sah Hanryo und Tsuzuri auf einer Steinmauer sitzen, mit dem Rücken zu ihr gewendet beobachteten die beiden die Landschaft vor ihnen, den sich langsam ins Rot verfärbenden Abendhorizont.

Sie eilte sogleich zu ihnen, woraufhin die beiden, die Chikarás Schritte hörten, sich umdrehten. Mit einem freundlichen Lächeln empfingen sie ihre Gefährtin. Alle drei waren sehr froh darüber wieder vereint zu sein, obgleich sie nur einige wenige Stunden voneinander getrennt gewesen waren.

"Geht es dir gut, du bist so blass aus?", fragte Hanryo.

"Sie ist doch immer so blass", lästerte Tsuzuri.

"Sieh mal dort", sagte Hanryo zu Chikará und zeigte auf das Gebiet hinter Mauer, auf der er saß. Dort sah man ein unscheinbares, stilles Tal. Ein schmaler Pfad führte ungefähr zwanzig Meter weit steil bergab, an seinem Ende lag ein kleiner See. Am Ufer verteilt und auf einer Insel standen viele Ahornbäume; man erkannte an der Wasseroberfläche auch einige bunte Karpfen.

"Dies ist das ,Bad des Drachen'", fuhr Hanryo fort und drehte sich wieder zu seiner Gefährtin. "Man sagt sich, dass auf dem Grund des Sees ein mächtiger Drache schlafen soll. Aber leider ist das nur eine erfundene Legende der Menschen."

Chikará hörte ihm nicht zu, sie war innerlich noch zu aufgewühlt und unruhig, um wieder klar denken zu können.

Sie erschreckte sich sogar ein wenig und zuckte schreckhaft zurück, als Tsuzuri ihr sanft auf den linken Arm schlug, um sie aus ihrer Starre aufzuwecken. "Chikará, spann uns doch nicht so lange auf die Folter", ergriff die Jishu das Wort. "Erzähl uns endlich, wovon du geträumt hast, von einem schönen männlichen Drachen vielleicht?"

"Ich kann es euch nicht sagen", antwortete Chikará lustlos und setzte sich zwischen ihre beiden Begleiter auf die Mauer. Sie drehten sich anschließend alle drei wieder in Richtung des Tals und schauten sich zusammen den idyllischen Sonnenuntergang an.
 

"Ich weiß es selbst nicht so genau", sprach Chikará weiter. "Ich habe nur eine Stimme gehört, die mit zu mir gesprochen hat. Sie kam mir zwar bekannt vor, aber ich habe trotzdem keine Ahnung, wem sie gehörte. Ich bin jetzt völlig verwirrt. Vielleicht war es ein Gott, mit dem ich mich unterhalten habe."

"Du riechst seltsam", bemerkte Tsuzuri. "Nach seltsamen Pflanzen, die im Westen verboten sind, weil sie die Sinne und den Verstand betäuben."

"In dem Raum brannten seltsame Kerzen", erwiderte Chikará unschuldig.

"Um den Göttern nahe zu sein braucht es manchmal Drogen", kommentierte Hanryo. "Die Mönche trinken auch selbst Unmengen von heiligem Reiswein, und wenn sie dann langsam wieder nüchtern werden, haben sie große Probleme die Botschaft der Götter, die sie im Rausch erhalten haben, zu deuten oder sich überhaupt noch an sie zu erinnern."

"Ich muss meinen merkwürdigen Traum erst einmal verarbeiten", erklärte Chikará trocken. "Ich bin noch ziemlich durcheinander und ratlos im Moment. Vielleicht kann ich euch morgen früh etwas mehr darüber erzählen, wenn ich noch etwas länger über den Traum nachgedacht habe."

"Wenn es dich beruhigt", begann Tsuzuri, "wie Hanryo mir eben offenbart hat, werden wir morgen früh Nara verlassen. Ich, für meinen Teil, bin darüber sehr glücklich." Sie nickte noch einmal zur Verstärkung ihrer Meinung.

Keiner fügte danach noch etwas hinzu, alle drei schwiegen lange und genossen den anmutigen Anblick der am Horizont versinkenden Sonne.
 

Im Laufe der Nacht, als Chikará alleine in ihrem Bett lag und immer noch über ihren Traum nachdachte, begann es zu regnen. Es war recht warm in ihrem Zimmer, es roch noch ein wenig nach der Chrysantheme in der Blumenvase. Das Wasser prasselte laut auf das Dach der Herberge, einige Tropfen fielen durch das offene Fenster in den Raum.

Sie lag mit den Rücken auf der Strohmatte, an ihrem Körper schmiegte sich das dünne Baumwolltuch. Sie hatte die Augen geöffnet und war hellwach. Sie starrte durch das offene Fenster nach draußen, beobachtete die winzigen Regentropfen, die herunterfielen, und die dichten dunklen Wolken am Nachthimmel, die langsam mit dem Wind weiterwanderten.

Was sollte dieser merkwürdige Traum nur bedeuten, fragte sie sich immer und immer wieder. Wessen Stimme sie zu ihr gesprochen hatte, wusste sie ebenfalls noch nicht, sie hatte nicht einmal die geringste Ahnung. Von welcher Entscheidung hatte sie gesprochen? Welches Schicksal, das noch wesentlich bedeutender sein sollte, als sie es erahnen würde? Als hätte ich nicht gestern Abend schon vor genug unlösbaren Rätseln gestanden. Was soll das alles nur? Chikará begann allmählich völlig zu verzweifeln. Sie drehte sich auf den Bauch und ließ ihr Gesicht in die weiche Strohmatte sinken.

Ihr kam ein kleiner Hoffnungsschimmer in den Sinn: sie hatte immerhin an diesem Tag zumindest eine wichtige Antwort erhalten. Das Einzige, was sie nun sicher sagen konnte, war, dass die Götter des Schreins allem Anschein nach wirklich existierten. Denn sie hatte auf ihre Holztafel geschrieben, dass sie sich wünschen würde, mehr über ihre Vergangenheit zu erfahren. Und dies war durch den rätselhaften Traum mehr oder weniger genauso geschehen. Trotzdem fragte sich Chikará, inwieweit der Traum wirklich eine tiefere Bedeutung haben sollte, oder ob es nur ein sinnloser Fantasietraum war, wie sie jeder von Zeit zu Zeit hatte. Hätte der Mönch sie nicht auch angesprochen, wenn sie etwas Anderes auf die Holztafel geschrieben hätte?

Letzten Endes war dies also auch nicht der erwünschte, eindeutige Beweis, nach dem sie sich so sehr sehnte. Was hatte ihr dieser Tag überhaupt Positives gebracht? Sie hatte wieder einmal gesehen, wie verrückt einige Menschen sein konnten, vor allem die Anhänger des Phönix-Glaubens, die sich selbst verbrannten. Und sie hatte erneut erkennen müssen, wie undurchschaubar die Götter waren.

Sie drehte sich wieder auf den Rücken und begann ein weiteres Mal aufmerksam aus dem Fenster zu schauen. Es regnete immer noch, und immer noch konnte sie durch diesen Anblick weder Ablenkung noch Ruhe finden. Sie fragte sich, wie spät es wohl war. Mitternacht, ein Uhr oder vielleicht sogar schon zwei Uhr?
 

Plötzlich öffnete sich langsam die Papiertüre ihres Zimmers. Chikará schreckte sofort auf und schaute erschrocken zum Eingang des Raumes. Aber ihre Sorge war zum Glück unbegründet; es handelt sich nur um Hanryo, der wohl ebenfalls keinen Schlaf finden konnte. Sie vor Erleichterung atmete laut aus und lachte leise. "Was führt dich zu dieser Zeit noch zu mir?"

Er trat in das Zimmer und schob die Papiertüre wieder zu. "Ich wollte dir eine Einschlafgeschichte erzählen."

Sie grinste und ließ sich entspannt auf die Strohmatte fallen.

Hanryo beugte sich zu ihr herunter, um sich besser mit ihr unterhalten zu können. "Du kannst nicht schlafen, stimmt's?"

Sie nickte. "Ich bin so wach und fit wie selten. Von meiner Seite aus könnten wir jetzt ruhig noch ein wenig den Schwert- oder waffenlosen Kampf trainieren, vielleicht würde ich danach Ruhe für diese endlos lang scheinende Nacht finden?"

Er lächelte kurz. "Du zerbrichst dir den Kopf über deinen Traum?"

"Ja, aber nicht nur darüber, sondern auch über die Götter. Ich bin fast an dem Punkt angekommen, dass ich anfange, an sie zu glauben. Aber eben nur fast, davor liegt noch ein tiefer schwarzer Abgrund." Sie starrte wieder aus dem Fenster.

"Hast du Lust auf einen kleinen Spaziergang?"

Sie drehte sich lachend zu ihm. "Meinst du das ernst? Hast du keine Angst davor, völlig durchnässt zu werden?"

"Hast du etwa Angst davor?"

Sie schaute ihn wütend an, oder versuchte es zumindest. "Du weißt genau, dass es auf dieser Welt nur eine einzige Sache gibt, vor der ich Angst habe, und das ist eine alte Rostklinge, sonst fürchte ich mich vor nichts und niemandem. Lass uns endlich nach draußen gehen."
 

Sie zogen sich schwarze Gewänder an und schlichen sich aus der Herberge, in der alle anderen Gäste tief und fest schliefen. Die Hauptstraße, auf der das Wasser bereits einige Zentimeter hoch stand, wurde zu dieser späten Stunde kaum noch bewacht, und die wenigen Soldaten, die zu dieser Zeit arbeiten mussten, waren alle recht müde und infolgedessen unachtsam.

Hanryo, der solch einen geheimen nächtlichen Spaziergang nicht zum ersten Mal zu machen schien, wusste gut, wie man sich, ohne gesehen zu werden, an den wenigen noch patrouillierenden Wachrittern vorbei schleichen konnte. Chikará folgte ihm aufgeregt Schritt für Schritt. Das laute Prasseln des Regens und die Dunkelheit boten ihnen zusätzlichen Schutz.
 

Ohne Schwierigkeiten konnten sie zum ,Garten der Vier Jahreszeiten' vordringen, in dem sich seltsamerweise noch viele Leute aufhielten. Als die beiden nahe genug an die Grünflächen herankamen - im Schatten der Bäume fiel es ihnen leicht - erkannte Chikará, was die Menschen dort zu dieser Zeit noch machten. Sie traute ihren Augen nicht.

Die kaiserlichen Bediensteten und Soldaten waren damit beschäftigt, die Sprossen und Triebe der Bäume abzuhacken, die im Sommer keine Früchte und kein Laub tragen sollten. Sorgfältig verstecken sie alles Laub und überflüssige Holz in einer versteckten Grube am Rande des Gartens. An die vermeintlich blühenden Apfelbäume klebten sie mit Leim zusätzliche Früchte und Blätter an.

Dies ist also die Macht der Götter, die die Pflanzen am Wachstum hindert. Chikará schüttelte ungläubig den Kopf. Sie war wirklich kurz davor gewesen, an die Götter zu glauben, aber diese Entdeckung zerstörte alle ihre Hoffnungen und Gedanken an die Existenz von übernatürlichen Wesen.

Hanryo klopfte ihr sanft auf die Schulter. Daraufhin wandte sie sich wieder zu ihm, und sie setzten ihren Weg fort.
 

Der Nara-Schrein war ihr eigentliches Ziel. An einer Stelle, an der die Umgrenzungsmauer nur knapp zwei Meter hoch war, wollten sie auf das Schreingelände gelangen. Hanryo nahm etwas Anlauf und sprang an der Wand hoch, mit den Händen konnte er sich an der Oberseite der Holzmauer festhalten und sich herüber ziehen.

Als Chikará dies versuchte, schaffte sie es beim ersten Versuch nicht, an der nassen und rutschigen Wand Halt zu finden. Sie stürzte in den Schlamm und hörte, wie Hanryo hinter der Mauer leise lachte. Wütend schlug sie mit der Faust auf den feuchten Boden. Als sie sich wieder aufrichten wollte, sah sie, dass ihre gesamte Kleidung völlig beschmutzt war.

Dann hörte sie Schritte hinter ihrem Rücken. Sie drehte sich sofort um und sah von weitem ein paar Soldaten mit Fackeln, die wohl auch das laute Geräusch ihrer unsanften Landung gehört haben mussten.

Chikará schmiss sich wieder auf den Boden, duckte sich wider willen flach auf die schlammige Erde und bewegte sich nicht.

Die Soldaten blieben etwa sieben Meter vor ihr stehen und schauten sich um. Da sie im schwachen Licht ihrer Pechfackeln nicht viel erkennen konnten, bemerkten sie Chikarás Gewand, das mittlerweile dieselbe Farbe wie der nasse Erdboden hatte, nicht und gingen wieder zurück auf ihren Posten.
 

Als sie ihre Schritte nicht mehr hören konnte, stand Chikará wieder auf und versuchte erneut, die Schreinmauer zu erklingen - dieses Mal mit Erfolg. Sie schaffte es darüber hinaus, stehend auf der anderen Seite zu landen, wo Hanryo sie gelangweilt erwartete. "Du siehst schlimmer als ein Erdferkel aus", sagte er ihr grinsend.

"Genauso fühle ich mich gerade auch", entgegnete sie mit einer gewissen Wut. "Wieso sind wir überhaupt hier?"

"Du wolltest doch wissen, ob es die Götter wirklich gibt? Erinnerst du dich noch an den heiligen Spiegel?"

Sie ahnte, was er vorhatte. "Du gehörst doch auch dieser Religion an? Wie kannst du dann in ihr Heiligtum einbrechen? Werden die Götter nicht ziemlich zornig darüber sein?"

"Sehe ich so aus, als ob ich mich vor Göttern fürchten würde?"

"Jedenfalls könnte ich dies an deiner Stelle nicht mit meinem Gewissen und meinem Glauben vereinbaren."

"Ich diene nicht den Göttern, sondern der Drachenkaiserin. Was die Götter davon halten, dass ich lediglich versuche, dir zu helfen, ist mir ziemlich egal." Er ging weiter in Richtung der Haupthalle.

Chikará verstand ihn nicht. Wie konnte er sich gegen seine eigenen Göttern verschwören, nur um ihr zu helfen? Er musste wohl, wie es den Anschein hatte, die Götter wirklich nicht fürchten.
 

An der Haupthalle angekommen, riss Hanryo zunächst von einem nahe stehenden Laubbaum einen kleinen Ast ab. Er umfasste mit seiner rechten Hand die Spitze des Holzes. Als er seine Hand wieder wegnahm, brannte der Ast an jener Stelle. Mit dieser improvisierten Fackel, die für ihre Umstände außergewöhnlich lange brannte, wandte er sich zu der Türe der Haupthalle. Diese war nicht verschlossen, er öffnete sie vorsichtig. Drinnen war es recht eng; man hatte außerdem auf große Dekoration oder Inneneinrichtung verzichtet. Nur eine alte, von Staub bedeckte Metallkiste stand am Ende des kleinen Raums. Hanryo und Chikará knieten sich vor die Kiste. Im Lichtkegel des Fackelfeuers öffnete Hanryo behutsam den Deckel.

Der heilige Spiegel kam zum Vorschein. Es handelte sich bei ihm um eine runde Platte aus alter Bronze mit dem Durchmesser eines normalen Esstellers; eine achteckige Spiegelfläche befand sich auf der Vorderseite.

Hanryo hob das heilige Relikt behutsam heraus und reichte es Chikará. Diese nahm es mit zitternden Händen und wagte es nicht, auf die Spiegelfläche zu schauen. Erst jetzt wurde ihr die ungeheurere spirituelle Bedeutung dieses Gegenstandes bewusst, was ihr großen Respekt und sogar Furcht einflößte.

"Schau ruhig hinein", riet Hanryo ihr freundlich.

Sie nickte und wandte ihren Blick langsam zu der im Licht glänzenden Spiegelfläche. Aber sie traute sich nicht hinein zu sehen und kniff wie aus Reflex ihre Augen zu. Ihr wurde immer mehr bewusst, dass sie das höchste Heiligtum der Götter in den Händen hielt, und diese Vorstellung bereitete ihr große Angst. Sie zitterte stärker, bekam Schweißperlen auf der Stirn und im Gesicht. Sie hatte nun entsetzliche Angst vor den Göttern, und Angst vor der Wahrheit. "Ich kann es nicht", erwiderte sie mit leiser, eingeschüchtert klingender Stimme. Sie wollte den Spiegel, ohne hineingeschaut zu haben, wieder in die Kiste legen.

Hanryo strich ihr mit der Hand sanft über den Rücken. "Du musst dich nicht fürchten, überwind deine Angst und schau hinein. Diese Chance wirst du niemals wieder haben, deshalb nutze sie!"

Sie nickte und öffnete langsam und zaghaft ihre Augen.

In der Spiegelfläche erkannte sie ihr eigenes Spiegelbild wie in jedem anderen Spiegel auch. Sie sah, wie sie zitterte, schwitze und beinahe unmächtig wurde vor Angst. Ihr eigener Anblick beruhigte sie ein wenig, sie hatte ihre Angst überwunden und wurde allmählich wieder etwas entspannter.

Doch dann verzerrte sich ihr Spiegelbild, zunächst langsam und dann immer schneller, bis es vollkommen verschwunden war.

Anschließend nahm die Spiegelfläche dieselbe Farbe an wie ihr bronzener Untergrund. Das kristallklare Achteck verschwand, und zurück blieb nur die alte glanzlose Bronze.

Chikará seufzte entmutigt und legte den Spiegel zurück in die Kiste. "Es gibt also doch keine Götter", hauchte sie frustriert.

"Nun, sag es lieber so", begann Hanryo und schloss wieder den Deckel der Kiste. "Es gibt keine eindeutigen Beweis auf der Welt für die Existenz der Götter."

"Das ist doch irgendwo dasselbe", erwiderte sie enttäuscht.

"Nein, das ist es nicht."
 

Sie verließen den Schrein und schlichen sich im Schutze von Nacht und Regen zum Ufer vom ,Bad des Drachen', das ebenfalls kaum bewacht wurde. Dort setzten sie sich unter einem der großen Ahornbäume, wo der Boden noch recht trocken war und die Regentropfen sie kaum trafen. Sie schauten zum Himmel, aber durch die dichte Wolkendecke konnte man weder den Mond noch Sterne sehen. So wendeten sie ihren Blick auf das Wasser des Sees, auf die kleinen Wellen, die bei jedem fallenden Regentropfen entstanden. Es wehte ein kühler Wind, dennoch war den beiden nicht kalt.

"Ich verstehe das alles nicht mehr", sagte Chikará wütend. "Der ,Garten der Vier Jahreszeiten' ist einzig und allein das Werk der Menschen, der heilige Spiegel ist nichts Anders als eine einfache Bronzeplatte, was soll das alles? Wieso glaubt man überhaupt an Götter, wenn es sie doch sowieso nicht gibt? Wenn alles, was göttlich sein soll, in Wirklichkeit von Menschenhand geschaffen wurde? Wozu der ganze Unsinn?"

"Du machst es dir viel zu einfach", antwortete Hanryo gelassen und holte aus seinem Gewand zwei Bierflaschen hervor, von denen er eine Chikará gab, diese nahm sie dankend an sich. "Der Garten ist ein großer Betrug", fuhr er fort, " das stimmt schon, aber der Spiegel hat schon etwas mit den Göttern zu tun. Zuerst hast du ja nur dein eigenes Spiegelbild gesehen, dann verschwand es langsam und mit ihm die Spiegelfläche auf der Bronzescheibe." Sie öffneten beide ihre Flaschen und begannen zu trinken. "Ich denke, dies sollte bedeuten, dass die Götter nicht mehr da sind."

Chikará blickte ihn überrascht an. "Die Götter sind nicht mehr da? Wie meinst du das? Sollen sie gestorben sein?"

"Ich weiß es nicht, vielleicht haben sie auch einfach nur keine Lust mehr, im Spiegel zu erscheinen. Sie könnten auch tot sein oder verschwunden oder haben ihre göttliche Macht verloren, zumindest einige von ihnen."

"Aber woher willst du denn wissen, dass es überhaupt noch Götter gibt, oder dass es sie jemals gab?", blieb Chikará kritisch. "Bei Ammunada warst du dir doch auch nicht sicher?"

"Was hast du als Wunsch auf deine Holztafel im Schrein geschrieben?"

"Dass ich etwas über meine Vergangenheit erfahren will."

"Und ist das nicht durch deinen Schlaf in der Traumhalle geschehen?"

Sie überlegte einige Momente lang. "Nicht wirklich, vielleicht." Sie zögerte. "Ich kann es dir nicht sagen."

Hanryo lächelte. "Und genauso kann ich dir nicht sagen, was das Geheimnis des Göttlichen ist. Wir können nicht alles hinterfragen oder begründen, manchmal muss man eben auf die Gefühle und auf die Seele hören. Genauso wie du mir nicht eindeutig beweisen kannst, dass es Götter gibt, kann ich dir nicht eindeutig das Gegenteil beweisen.

Dadurch werden wir uns wohl darüber niemals einig werden, aber das müssen wir auch gar nicht. Du siehst doch, dass uns dies nicht daran hindert treu zusammen zu halten, gemeinsam zu reisen und zu kämpfen. Deshalb mach dir bitte keine so großen Sorgen um die Existenz von Göttern.

Selbst wenn du auf einmal anfangen würdest, an Götter zu glauben, würde das unser Verhältnis zueinander oder unsere gemeinsame Aufgabe großartig verändern? Ich denke nicht."

Sie seufzte bestätigend. "Ich glaube, du hast wieder einmal Recht. Ich hasse es, dass ich mir immer über völlig unnötige Dinge den Kopf zerbrechen muss."

"So unnötig oder nutzlos sind solche Angelegenheiten nicht. Ich finde, dass es nur wichtig ist, dass du deine eigene Meinung dazu hast und diese auch verteidigst oder ernsthaft hinterfragst, wenn es nötig ist." Beide tranken an ihren Flaschen.
 

"Solche tiefgründigen Gespräche machen mich auf Dauer krank", sagte Chikará grinsend. "Können wir nicht über etwas Erheiternderes sprechen?"

"Über was denn zum Beispiel? Schlag etwas vor."

"Lass uns doch über Tsuzuri lästern, jetzt, wo sie einmal nicht an unserer Seite ist."

Er trank aus seiner Flasche. "Gut, dann fang du ruhig an. Ich bin gespannt, wer von uns beiden mehr zu diesem Thema zu sagen hat." Er nahm einen weiteren Schluck.

"Sie stinkt immer noch nach Maschinenöl."

Er nickte, während er noch die Flasche am Mund hielt. "Ja, das ist wirklich ein ernstes Problem, das wurde mir vor allem bewusst, als wir beiden zusammen vor der Traumhalle auf dich gewartet haben. Du glaubst gar nicht, wie froh ich war, als du endlich kamst, und ich etwas weiter von ihr wegrücken konnte. Ich verstehe auch nicht, woran das liegt. Sie trägt doch ihre normale Arbeitskleidung überhaupt nicht mehr, sondern das saubere Gewand, wie ist das möglich?"

"Nun, soweit ich weiß, trägt sie ihre normale Kleidung noch unter dem Gewand."

"Woher weißt du das denn?", fragte er neugierig.

"Ihr Gewand hat an der Rückenpartie ein kleines Loch, nicht viel größer als eine Münze. Das war mir aufgefallen, als ich aus der Traumhalle kam, und sie mit dem Rücken zu mir gerichtet saß."

Er schlug sich leicht und ohne Kraft mit der Hand vor die Stirn. "Ich verstehe es, das hätte mir früher auffallen sollen. Ich glaube, ich habe dir noch niemals erzählt, dass die Jishus nur eine ganz bestimmte Farbe tragen dürfen. Erinnerst du dich, dieses komische Dunkelblau, das sie immer getragen hat, bevor wir nach Nara gefahren sind? Höchstens ein Drittel ihrer Kleidung darf eine andere Farbe besitzen, und das Blau ihres Gewands ist eben nicht hundertprozentig derselbe Farbton."

Chikará lachte. "Wenn ich irgendwann einmal religiös werden sollte, werde ich auf keinen Fall ihrer Religion beitreten." Sie schüttelte den Kopf. "Was hat sie dir denn erzählt, als ich nicht bei euch war?"

"Sie hat mir erzählt, dass sie es sehr lustig fand, dass die Religion des Mönchs der ,Weg des Erleuchteten' hieß. Sie meinte, es gäbe in ihrer Heimat eine Maschine, die Glühbirnen produzieren würde, die man auch als den ,Erleuchteten' bezeichnen würde."

Chikará trank an ihrer Flasche und lachte anschließend. "Was hat sie sonst noch so gesagt?"

"Sie hat mich damit genervt, dass sie das Gefühl hätte, dass ihre Götter sehr wütend auf sie wären, da sie zu den fremden Göttern im Schrein gebetet hat und ihnen sogar Opfer erbracht hat."

"Ich wäre als Gott auch sehr wütend darüber, wenn meine Jünger einem anderen Gott eine Münze und eine bemalte Holztafeln opfern würden", sagte sie höhnisch.

"Nun, ihr war das schon sehr ernst, vor allem auch, weil die fremden Götter ihr den Wunsch erfüllt haben, den sie auf die Holztafel geschrieben hatte."

"Was hatte sie sich denn gewünscht?"

"Dass wir endlich Nara verlassen."

Chikará begann daraufhin derart laut zu lachen, dass Hanryo befürchtete, die Nachtwächter könnten sie hören. "Sie ist so verrückt, dass ich langsam anfange sie zu mögen."

Er klopfte ihr freundschaftlich auf die Schulter. "Damit hast du meinen Wunsch erfüllt: ich hatte auf meine Tafel geschrieben, dass du und Tsuzuri euch besser verstehen sollt."

"Gut, am Anfang war ich vielleicht wirklich etwas abweisend ihr gegenüber", sah Chikará ein. "Aber seit heute Morgen im Phönix-Tempel, als sie sich bemüht hat, mich wieder zu ermutigen, habe ich irgendwie eine gewisse Sympathie für sie entwickelt. Natürlich wäre mir ihr Leben bei weitem nicht so wichtig deines, aber dennoch würde ich auch genauso um ihres kämpfen wie um deines, wenn es nötig wäre. Ich glaube, sie würde dasselbe auch für mich tun."
 

Der Regen hörte bald auf, und der Himmel erhellte sich langsam. Der neue Tag brach an. Im Schutze der schwindenden Dunkelheit schlichen sich Hanryo und Chikará, noch bevor die Sonne aufging, zurück in die Herberge.

Epilog

"Chikará!", schrie Tsuzuri wütend vom Flur der Herberge aus. "Wenn du nicht sofort aufstehst, kannst du von mir aus in dieser Stadt verschimmeln! Hanryo und ich warten schon seit vier Stunden darauf, dass Fräulein Kaiserin endlich ihre Äuglein öffnet!"

Wahrscheinlich hätte Chikará, wenn sie durch die Worte der Jishu wach geworden wäre, lediglich den Kopf auf die andere Seite gedreht; aber sie hörte nichts davon in ihrem tiefen Schlaf. Da Tsuzuri nicht den Hauch einer Bewegung oder Reaktion von Chikará hörte, ging sie in das Zimmer ihrer Gefährtin.

Chikará lag wie versteinert in ihrer Decke eingehüllt auf der Strohmatte und schnarchte manchmal leise. Sie schlief immer noch tief und fest, obwohl es bereits drei Uhr am Nachmittag war und die Sonne von draußen durch das Fenster in den Raum schien. Tsuzuri kniete sich neben den scheinbar leblosen Körper von Chikará und beugte sich über ihren Kopf, der mit dem Gesicht zu ihr hin gerichtet lag. "Untote", brüllte sie ihr direkt ins Ohr.

Chikará riss sofort die Augen weit auf und schreckte zurück, dabei schlug sie ziemlich unsanft mit ihrem Hinterkopf gegen die harte Holzwand. Mit Schmerz erfülltem Blick packte sie sich mit beiden Händen an die langsam anschwellende Blessur. Dann schaute sie wütend zu Tsuzuri, die sich, um ihr schadenfrohes Lachen zu verbergen, die Hände vor dem Mund hielt und ihre Lippen aneinander presste.

"Das wirst du irgendwann von mir zurückkriegen", drohte Chikará ihr zornig. "Ich werde dich in Stücke reißen - und diese dann den Untoten zum Fraß vorwerfen!"

"Beruhig dich mal wieder! Ich konnte ja nicht wissen, dass du so schreckhaft bist und gleich versucht durch die Wand zu flüchten. Aber lass uns das vergessen - wir müssen endlich los! Wir haben schon dein Schwert abgeholt, und in zwei Stunden fährt unser Zug ab. Du musstest also unbedingt langsam einmal aufstehen."

"Trotzdem", übernahm Chikará wieder das Wort, "du hättest mich ruhig etwas vorsichtiger wecken können!"

"Bei allem was recht ist", verteidigte sich Tsuzuri, "dich zu wecken ist schwerer als ein Faultier aus seinem Tiefschlaf zu befreien."

Chikará verlor durch diesen nicht gerade unpassenden Vergleich ihre Wut und musste lachen. "Da kann ich dir leider nicht widersprechen. Ich habe leider letzte Nacht nur sehr wenig geschlafen, deshalb bin ich noch etwas müde."

"Das spielt jetzt keine Rolle, beeil dich bitte nur. Ich will wegen dir und deiner Schlafsucht keine Minute länger in dieser schrecklichen Stadt bleiben müssen."
 

Eine halbe Stunde später standen die drei Gefährten am großen Stadttor von Nara. Es war an diesem Tag recht kühl, der Wind fegte schnell über die alte Hauptstraße und blies alles, was zu leicht war, weg. An der Ausgangskontrollstelle hatte sich eine lange Schlange von wartenden Leuten gebildet. Sie wollten die Stadt verlassen und mussten sich deshalb noch einmal den aufmerksamen Kontrollen durch die kaiserlichen Soldaten stellen.

Chikará verließ Nara mit einem glücklichen und einem traurigen Auge. Die vielen religiösen Bauwerke von unbeschreiblicher Größe und Schönheit, die herrlichen Gartenanlagen und nicht zuletzt der riesige Kaiserpalast blieben ihr als positive Erfahrungen zurück. Allerdings mit dem bitteren Beigeschmack, dass es sich bei ihnen eigentlich nur um Illusionen aus der Vergangenheit gehandelt hatte.

Die Geschichte von Hanryos Familie, ihr Erlebnis im Phönix-Tempel und das große Rätsel um die Existenz der Götter, diese Dinge bleiben auch in ihrem Gedächtnis, obgleich sie am liebsten niemals von ihnen erfahren hätte. Sie hatte gehofft, in Nara Antworten zu finden, aber sie fand lediglich noch mehr Fragen, auf die es anscheinend keine Antwort geben sollte. Sie wusste eigentlich genauso viel wie vor dem Besuch der Hauptstadt des Ostens, jedoch hatte sie endlich etwas mehr über Hanryo erfahren.

Dieser hatte mit dem Besuch des Grabes seiner Familie, mit dem Gebet und Opfer im Schrein alles erledigt, was ihn noch auf dieser Seite der Welt festgehalten hatte. Nun war er bereit, sein Leben nur noch Chikarás Schicksal zu widmen. Er hatte gehofft, ihr in Nara die Welt der Menschen und die der Götter etwas näher bringen zu können; stattdessen wuchsen jedoch nur ihr Unverständnis und ihre Verwirrung. Aber manchmal konnten auch negative Erfahrungen unbewusst etwas Positives bewirken, sagte er sich. Denn immerhin wurden Chikarás Entschlossenheit und ihr Mut durch die Ereignisse in Nara weiter gestärkt.

Tsuzuri erwartete gespannt die nächsten Etappen ihrer großen Reise. In der Hauptstadt hatte sie nichts gefunden, was ihr Weltbild verändern konnte. Die Menschen waren ihr immer noch völlig egal - nicht aber ihre beiden Gefährten, denen sie sehr viel verdankte. Wahrscheinlich schuldete sie den beiden mehr, als sie ihnen jemals zurückgeben könnte. Wo wäre sie nun ohne Hanryo und Chikará? In der Gosse irgendeiner Großstadt, wo sie um Essen betteln würde, oder sogar tot? Sie wollte über so etwas Schreckliches nicht nachdenken und freute sich im Stillen über ihr großes Glück, das sie vielleicht eigentlich gar nicht verdient hatte.
 

Als Chikará durch das Tor der Stadtmauer ging, schossen ihr noch einmal alle Erlebnisse durch den Kopf. Sie sah noch einmal die brennende Leiche im Phönix-Tempel, den leeren Kaiserthron, Ammunabas seltsame Blätter und den heiligen Spiegel.

Bei der Kontrolle hinter dem Stadttor gab es keinerlei Probleme; die gefälschten Ausweise und die Verkleidungen überzeugten erneut die wachsamen Augen der Furcht einflössenden Wächter. Ein Soldat entfernte die schwere Holzkiste, in der Chikarás neues Schwert sicher aufbewahrt worden war.

Auf einer grünen Wiese umweit des Stadteingangs zog Chikará das Katana zum ersten Mal aus der schwarzen Ummantelung. Der Griff war aus Elfenbein gefertigt und lag ihr ausgezeichnet in der Hand. Sobald die stählerne Klinge zum Vorschein kam, glänzten die hellen Sonnenstrahlen im sauberen Metall. Allein schon dieser überwältigende Anblick zog Chikará in seinen Bann - dies war ohne Zweifel die beste und stärkste Waffe, die sie jemals in den Händen halten sollte.

Sie umfasste den Elfenbeinbeingriff fest und schlug ein paar Mal zur Probe durch die Luft, ohne jemanden dabei zu treffen. Die Waffe erschien ihr außergewöhnlich leicht, genau wie der Schmied es ihr prophezeit hatte.

"Es ist sein Geld wert", sagte Hanryo überzeugt und beeindruckt von der nahezu perfekten Arbeit.

Chikará hielt das Schwert in Angriffshaltung und führte noch einen letzten ziellosen Hieb aus, bevor sie das Schwert wieder wegpacken wollte. Doch in diesem Moment glimmte plötzlich die Klinge auf; Chikará ließ sie erschrocken fallen und sprang zur Seite.

"Was hast du", fragte Tsuzuri überrascht.

"Es hat auf einmal anfangen zu glühen", erklärte Chikará nervös und ging langsam wieder zu ihrer Waffe, die zwischen einigen Grashalmen auf dem grünen Boden lag. Sie beugte sich über die Klinge, die immer noch leicht glimmte. Hanryo und Tsuzuri stellten sich neugierig neben ihre Gefährtin.

Schriftzeichen erschienen als glühendes Relief auf der Klinge. "Du seiest meine neue Herrin, Chikará Yong-Yuandé, Kaiserin der Drachen", las Hanryo verwundert vor.

"Was hat das zu bedeuten?", fragte Chikará entsetzt und starrte ihn an.

Er gab ihr zunächst keine Antwort, sondern beobachtete fasziniert und kritisch das Schwert. Die Schriftzeichen auf der Klinge verschwanden langsam wieder und neue erschienen an ihrer Stelle: Mein Name sei Yuigon.

"Was hat das bitteschön zu bedeuten?" Sie wurde unruhig und wandte sich, um besser nachdenken zu können, von dem rätselhaften Schwert ab.

Hanryo hingegen verstand allmählich das Geheimnis des Katanas und grinste. "Ich hatte dir doch vor kurzem schon einmal davon erzählt, dass einige Geisterwesen in Gegenständen hausen können", sprach er zu Chikará, die sich daraufhin wieder in seine Richtung drehte. Ihr verdutzter Blick zeigte jedoch deutlich, dass sie nicht wirklich verstand, worauf er hinaus wollte, oder dass sie es nicht verstehen wollte.

"In dem Metall deines Schwertes", fuhr er fort, "hat sich wohl auch ein Dämon eingenistet."

Sie wusste nicht recht, ob sie darüber erfreut oder besorgt sein sollte. "Und was heißt das für mich? Kann er mir gefährlich werden?"

Hanryo lachte. "Mach dir keine Sorgen - er scheint dich ja schließlich zu mögen."

Sie blieb ernst: "Aber wer sagt mir, dass er nicht irgendwann einmal nachts aus der Klinge herauskommt und mich angreift?"

Er schüttelte den Kopf. "Sei nicht so paranoid, ein kleiner Dämon wird dir nichts anhaben können. Außerdem scheint er für einen Dämonen recht harmlos zu sein."

"Wenn ich mich einmischen darf", sprach Tsuzuri, "ein lebendes und sprechendes Schwert zu haben ist doch etwas Außergewöhnliches - das hat für dich bestimmt nur Vorteile. Wenn dir mal langweilig ist, kannst du dich mit ihm unterhalten?"

"Bleib bitte ernst", entgegnete Chikará genervt. Sie beugte sich, packte das Schwert am Griff und steckte es wieder in die Ummantelung. "Ich bin jedenfalls sehr gespannt, ob mir Yuigon im Kampf einen guten Dienst erweisen wird. Der Rest ist mir vorerst ziemlich egal."
 

Am Bahnhof von Nara holten sich die drei Gefährten aus den Schließfächern ihre normale Kleidung und ihre Waffen wieder. Auf den Toiletten zogen sie sich um und nahmen die dunklen Kontaktlinsen aus den Augen; Tsuzuri wuchs sich ihre Haarfärbung heraus.

Chikará fühlte sich in ihrem Kampfanzug wesentlich wohler als in dem langen Gewand. Die dunkelgraue Hose, das schwarze Oberteil und der hellgraue Mantel, die Schriftzeichen und Drachensymbole, und nicht zuletzt ihr neues Schwert und die silberne Halskette, die Hanryo ihr in Chaó geschenkt hatte. Auf ein Halstuch verzichtete sie jedoch, denn sie wollte ihre Narbe und damit ihre Identität vor sich selbst nicht länger verstecken.

Hanryo war es eigentlich gleich, was er trug; er hatte sich im Laufe seines Lebens so oft verkleiden müssen, das ihm mittlerweile jede Art von Kleidung angenehm vorkam. Eine weite olivefarbene Hose, ein dunkelbraunes Hemd und eine schwarze Jacke mit hellem Fellkragen zog er sich an. Vollendet wurde sein äußeres Erscheinungsbild durch sein altes Katana.

Tsuzuri war froh darüber, dass sie nun wieder die ihr vorgeschriebene, richtige Kleidung tragen konnte. Das blaue Hemd mit den Blütenverzierungen, die breite, bis zu den Knien reichende Hose und die Kappe, unter der sie ihre langen orangefarbenen Haare versteckte. Als sie sich selbst in einem Spiegel am Waschbecken sah, wusste sie, dass sie endlich wieder sie selbst war.
 

Mit ihren schweren Reisekoffern beladen suchten die drei den Fahrkartenschalter. Das Bahnhofsgelände bestand aus einer großen Halle aus Stein und Metall, in der insgesamt zwanzig Gleise aus allen Himmelsrichtungen zusammentrafen; hier flossen viele wichtige Handels- und Reisewege des Ostens zusammen. Viele Menschen aus der ganzen Welt liefen unruhig umher und eilten aus einen Wagon in den nächsten, in den Massen konnte man sich leicht verirren.

Das Ziel der drei Gefährten war eine Stadt an der Grenze des Ostens und Westens, denn nur im Westen gab es einen Weg zum großen Ozean und somit zum anderen Kontinent. Ihr Zug sollte in etwa zwanzig Minuten abfahren, wie sie auf einem Fahrplan am Eingang gelesen hatten, sie standen also nicht unter Zeitdruck. Während Hanryo an einem überfüllten Schalter für die Fahrkarten anstand, warten Chikará und Tsuzuri mit dem Gepäck auf einer Sitzbank am Rande des Bahnsteigs und beobachteten die fahrenden Züge.

"Ist es schwer, einen Zug zu fahren?", fragte Chikará die Jishu.

Tsuzuri war im ersten Moment recht überrascht darüber, dass Chikará mit ihr ein Gespräch beginnen wollte, und zögerte mit der Antwort. "Nein, es ist theoretisch ziemlich leicht", sprach sie trocken und gelangweilt wirkend. "Man drückt nur ein paar Knöpfe, legt ein paar Hebel um und beobachtete die vielen Zeiger und Kontrolllämpchen, der Rest funktioniert von alleine, man muss praktisch nichts tun."

"Es muss doch bestimmt ein großartiges Gefühl sein, einen riesigen Stahlkoloss zu steuern und für ihn verantwortlich zu sein - das ist schon eine anspruchsvolle Aufgabe, finde ich."

"Wenn man es jeden Tag machen muss und sich alles jeden Tag bis aufs letzte Detail wiederholt, verliert man schnell solch ein Gefühl. Außerdem ist man auch als Lokführerin nur wie eine kleine Puppe, die von anderen gesteuert wird und von ihnen vollkommen abhängig ist." Man hörte bei ihren letzten Worten eine gewisse Bitterkeit und Wut.

Chikará dachte sich, dass Tsuzuri ihren Beruf bestimmt früher einmal gemocht haben musste. Der einzige Grund für ihren derzeitigen Zorn gegen dieses Thema war wohl die Tatsache, dass sie gegen ihren Willen gefeuert worden war. Chikará erkannte dies und begann über etwas anderes zu sprechen: "Ich weiß zwar nicht, wohin wir als nächstes kommen, aber früher oder später werden wir in die Teile der Welt kommen, wo dein Volk herrscht. Kannst du mir, wenn wir dort sein werden, ein paar Dinge erklären? - zum Beispiel, wie man eine fahrende Maschine baut oder wie sie funktioniert. Das würde mich wirklich interessieren, denn ich habe nicht allzu viel Ahnung von der modernen Technik."

"Ja, gut", entgegnete Tsuzuri abweisend. "Erinnere mich daran, wenn es soweit ist."

Ein neuer Güterzug fuhr in die Halle und hielt an; Chikará erkannte ihn sofort wieder; es war der, den Tsuzuri früher gefahren hatte. "Schau mal dahinten, ist das nicht deine alte Lokomotive?"

Die Jishu wandte ihren Blick auf den Zug - er war es wirklich! "Cha-yi", flüsterte sie verblüfft.

"Cha-yi?" Chikará musste lachen. "Du hast dem Zug einen Namen gegeben?"

Sie sprang auf und eilte weg in Richtung des Zuges.

"Was ist los? Wo willst du hin?", fragte Chikará verwundert.

Tsuzuri drehte sich kurz um. "Ich will ihn bitte noch einmal sehen; ich beeil mich auch." Sie drehte sich wieder um und verschwand im Menschengetümmel.
 

Nach knapp zehn Minuten kam sie zurück zu der Sitzbank, fast gleichzeitig erschien auch Hanryo wieder in der Gegenwart seiner beiden Gefährtinnen. "Kommt", fordert er sie freundlich auf. "Ich habe die Fahrkarten, unser Zug fährt gleich ab."
 

Der Zug, in den sie einstiegen, war aus Metall und Plastik konstruiert und schien recht modern zu sein; die Türen funktionierten sogar automatisch. Hanryo hatte für die Fahrt, die sicher ein bis zwei Tage lang dauern würde, ein ganzes Abteil gemietet, das normalerweise für sechs Personen bestimmt war. Dadurch hatten die drei eine gewisse Anonymität in dem großen, jedoch nahezu menschenleeren Personenwagon. Vom Gang aus führte eine fensterlose Schiebetür in das Abteil. Als sie es betraten, wirkte es auf sie zwar anfangs recht eng und einfach, aber im Vergleich zu den bescheidenen Umständen, unter denen die meisten anderen Leute reisen mussten, erschien dies schon fast als luxuriös. Es gab sechs Sitze, drei rechts in einer Reihe und drei links, die man zusammen schieben könnte, so dass sie zu drei Betten wurden. Ein Glasfenster gegenüber der Türe ermöglichte den Blick ins Freie und erhellte den kleinen Raum ein wenig; elektrischre Beleuchtung gab es lediglich auf dem Gang. Die drei Gefährten verstauten ihre Koffer und setzen sich; Hanryo an einer Seite und die beiden Frauen gegenüber von ihm.

Der Zug rollte langsam los. Die quietschenden und rauschenden Geräusche der schweren Räder und des Lokomotivenmotors ertönten. Chikará lehnte sich zurück und schloss entspannt die Augen. "Dies sind die schönsten Stationen unserer Reise."

Tsuzuri lachte. "Sag nicht, dass du schon wieder schlafen willst?"

"Doch, genau das werde ich jetzt tun."

"Hast du nicht dein Halstuch vergessen?", bemerkte Hanro.

"Ich will es nie wieder tragen." Sie öffnete wieder die Augen und sah ihn an. "Wieso sollte ich meine Narbe verdecken, wenn sie doch genauso zu mir gehört wie meine tiefgrünen Augen und meine pechschwarzen Haare? Sie ist ein Teil von mir, für den ich mich nicht schämen muss, auf den allerdings ebenso wenig stolz sein sollte. Sie ist ein Teil meines Schicksals und meiner Selbst, den ich akzeptieren und nicht verstecken will."

Er wirkte zunächst etwas überrascht über diese Antwort, nickte aber schließlich bestätigend. "Dem will ich nicht widersprechen, aber woher hast du dieses neue Selbstbewusstsein; nicht dass ich es vorurteile, nur kommt es in meinen Augen recht plötzlich und ohne ersichtlichen Grund?"

"Ich kann es dir nicht genau erklären, es hat sich eben so ergeben. Es gibt keinen wirklichen Grund dafür." Sie schloss wieder ihre Augen legte ihre Beine hoch.
 

Einige Minuten später erschallte plötzlich der laute Knall einer Explosion aus Richtung des Bahnhofs. Chikará schreckte aus ihrem Schlaf auf und schaute sich aufgeregt um. Hanryo stand sofort auf, schob die Glasscheibe des Fensters herunter und lehnte sich mit dem Oberkörper nach draußen; Chikará tat es ihn in ihrer Neugier gleich. Schwarzer Rauch stieg aus der Bahnhofshalle auf und verfinsterte den blauen Himmel. Menschen stürmten panisch aus dem qualmenden Gebäude ins Freie. Chikará wollte ihren Augen nicht trauen. "Was ist dort nur passiert?", fragte sie aufgeregt.

Hanryo überlegte kurz. "Vielleicht es gab einen Zusammenstoß zweier Züge oder einer ist bei Reparaturarbeiten oder beim Umkuppeln explodiert", sagte er ruhig, "so etwas passiert leider manchmal. Das ist ein unvermeidbares Risiko der modernen Technik."

Sie trat seufzend vom Fenster weg und schaute auf Tsuzuri, die gelassen auf ihrem Platz saß und wie versteinert wirkte; sie schien das alles kaum zu kümmern. Wieso war ihr dies völlig egal, fragte sich Chikará, die ihre Gefährtin doch sonst immer nur als äußerst neugierige und aktive Person kannte. Sie sah ihr in die Augen - ihr Blick war leer, dennoch schien er erfreut mit einem leichten sarkastischen Lächeln. Chikará überkam auf einmal ein schrecklicher Gedanke, den sie am liebsten niemals gehabt hätte. Soll sie etwa dafür verantwortlich sein? Sie?

Genau in diesem Moment, als hätte sie Chikarás Gedanken lesen können, hob die Jishu ihr Haupt und blickte ihrer gegenüber kurz und zaghaft in die Augen. Jedoch dauerte es nur einige Sekunden, bis Tsuzuri wieder verschüchtert begann gegen die Wand zu starren; dabei wurde sie langsam blass im Gesicht und sie bewegte sich nicht.

"Nein", hauchte Chikará ungläubig und mit dem Kopf schüttelnd. "Nein, wie konntest du das nur tun?"

Tsuzuri erwachte aus ihrer Starre, stand auf und richtete ihren Wut entbrannten Blick auf Chikará. "Wenn ich schon nicht mehr Cha-yi steuern darf, soll niemand mehr mit ihm fahren können!"

Chikará verlor durch dieses Geständnis die Kontrolle über sich selbst. Wie entfesselt stürzte sie sich auf die Jishu, packte sie mit der linken Hand am Hemdkragen und schlug ihr mit der rechten Faust gegen die Schläfe. Tsuzuri flog dabei die Kappe vom Kopf - dennoch wehrte sie sich nicht; sie hätte gegen ihre wesentlich stärkere Gegnerin sowieso keine Chance gehabt. Den harten und kraftvollen Schlag spürte sie kaum, ihr wurde schnell schwarz vor Augen. Chikará bemerkte dies nicht, ebenso nicht Hanryos vergebliche Versuche, sie von ihrem hilflosen Opfer abzuhalten, auf das sie indes weiterhin wie in Trance einprügelte. Tsuzuri begann aus Nase, Mund und einer Platzwunde an der Augenbraue zu bluten. Chikará erkannte in ihrem Wahn nicht, was sie tat. Sie verspürte nur noch Wut - grenzenlose Wut - als würden alle ihre Aggressionen, die sie in der letzten Zeit unterdrückt hatte, nun endlich entweichen. Vor allem war es die Wut über sich selbst, denn sie hatte selbst Menschen getötet oder deren Tod nicht verhindert. Ihr Selbsthass verwandelte sich in unkontrollierte Gewalt. Mit jedem Schlag schrumpften der angestaute Zorn und die Verzweiflung, und mit jedem Schlag schien Tsuzuri dem Tode näher zu kommen.

Hanryo schaffte es schließlich, Chikará von hinten zu umklammern und sie so von Tsuzuri weg zu reißen. Er schleuderte sie gegen die Türe des Abteils, so dass sie das Gleichgewicht verlor und auf den Boden fiel. Er beugte sich schnell zu ihr herunter, packte sie am Hals und presste dadurch ihren Kopf gegen die Wand. Sie hechelte nach Luft und sah ihn rasend vor Wut an. "Lass mich los, du verdammter Idiot!"

Er schlug ihr daraufhin mit der linken Handfläche auf die Wange. "Komm endlich wieder zur Besinnung! Du hättest sie fast tötest!", schrie er sie entzürnt an.

Chikarás grenzenloser Zorn verschwand blitzartig. Er hat mich geschlagen - Hanryo hat mich tatsächlich geschlagen. Niemals hätte sie auch nur im Entfernsten damit gerechnet, dass so etwas jemals passieren würde. Er war ihr gegenüber bis dahin niemals wirklich wütend oder aggressiv geworden; allerdings hatte sie auch, wie sie allmählich einsah, niemals zuvor derart die Nerven und die Selbstherrschung verloren. Wie konnte es nur soweit kommen? Durch diesen unerwarteten Schock fand sie wieder zurück zur Vernunft und Realität.

Als Hanryo in ihren starren Augen eine gewisse Trauer und so etwas wie Einsicht erkannte, ließ er von ihr ab und wandte sich zu Tsuzuri. Ihr Körper lag leblos auf dem Boden, sie hatte Blutflecken auf der weißen Haut und auf ihrer blauen Kleidung, ihre Augen waren geschlossen.

Chikará stand vorsichtig und noch etwas benebelt auf und schaute wehmutig auf ihre tot scheinende Gefährtin. War ich das? Sie konnte nicht fassen, was sie Tsuzuri angetan hatte. Zitternd hielt sich Chikará die Hände vors Gesicht. Wie konnte ich das nur tun? Sie konnte diesen furchtbaren Anblick, an den sie alleine die Schuld trug, nicht lange ertragen. Sie riss verzweifelt die Türe des Abteils auf und verschwand hektisch auf dem Flur des Wagons.

Hanryo schaute ihr zwar noch hinterher, sagte ihr aber nichts. Er kniete sich vor Tsuzuri und rüttelte ihr sanft an der Schulter. Daraufhin öffnete sie langsam ihre müden Augen und schaute Hanryo benommen an. "Bitte verzeih es Chikará" flüsterte sie ihm keuchend zu. "Sie wusste nicht, was sie tat. Ich steh ihr ohne Hass gegenüber. "

Er nickte ihr zu und half ihr, sich auf die Sitze zu legen. "Ruh dich ein wenig aus", sagte er ihr mit sanfter Stimme. "Ich verurteile weder dich noch Chikará; ich will versuchen mit ihr zu sprechen."
 

Chikará stand alleine am Ende des Ganges und schaute durch ein Fenster nach draußen auf die Landschaft. Sie sah wilde Zedern- und Ahornbäume, ein kleines Dorf, einige Bauern, die auf ihren Feldern arbeiteten, und den schönen blauen Himmel. Sie weinte unauffällig, die Tränen liefen fast unsichtbar an ihren Wangen herunter. Tsuzuri ist eine Mörderin - und ich, ich bin auch eine Mörderin. Wer von uns beiden ist die grausamere? Ich habe eine Hand voll Menschen getötet, sie wahrscheinlich Dutzende. Aber ist das ein Unterschied? Und ich als Mörderin soll die Kaiserin eines gespaltenen Volkes werden? Nein, dieser Aufgabe bin ich nicht gewachsen; ich würde das Volk der Drachen nur noch weiter ins Verderben stürzen. Hier endet mein Teil der Reise.

Hanryo kam langsam zu ihr, als sie seine Nähe spürte, begann sie zu sprechen, sah ihn dabei aber nicht an: "Wie viele Menschen hat sie damit getötet? Zehn, zwanzig oder noch mehr? Was geht in ihrem Kopf nur vor? Wieso ist ihr das Leben der Menschen nur so gleichgültig?"

Er stellte sich neben sie, blickte jedoch nicht zu ihr. "Man hat ihr ihr Leben lang eingeredet, dass sie zu einem höheren Volk gehöre, und dass Menschen im Vergleich zu ihr nur eine wesentlich niedrigere und primitivere Rasse seien, ähnlich wie Tiere. Der Tod eines Menschen berührt sie weniger als eine defekte Maschine.

Als ich ihr gestattet habe, sich um anzuschließen, wusste ich das. Ich war mir bewusst, dass es irgendwann einmal deswegen Differenzen zwischen uns geben musste - nicht aber erahnte ich, dass es solche Ausmaße annehmen sollte.

Wir können ihre Einstellung nicht ändern, zu tief sitzen diese weltfremden Ideologien in ihrem Verstand fest. Wir können nur hoffen, dass sie irgendwann einmal selbst einsehen muss, dass auch sie eigentlich nur ein Mensch ist."

Sie schwieg einige Minuten lang, bis sie weitersprach: "Geht es ihr denn einigermaßen gut? Ist sie nur leicht verletzt?"

"Sie hat wohl die Nase gebrochen, eine Augenbraue aufgeplatzt und einen oder zwei Zähne verloren, ansonsten geht es aber dennoch gut; sie ruht sich aus und sammelt neue Kräfte."

Sie seufzte wehmutig. "Wieso hast du mich geschlagen? Ich habe niemals damit gerechnet, dass du so etwas jemals tun würdest?"

"Es ging nicht anders -du hast mir keine andere Wahl gelassen. Tsuzuri hätte deinen Wahnsinn sonst wohl nicht überlebt. Und ich hoffe, du kannst nachvollziehen, dass man bei dir mit gutem Zureden überhaupt nichts mehr erreichen konnte. Trotzdem, verzeihe es mir bitte, die Situation hatte mir keine andere Möglichkeit gelassen."

Chikará drehte sich zu ihm und sah ihn erstaunt an. "Wie kannst du immer noch so gefasst und kalt mit mir reden? Warum hasst du mich nicht für das, was ich Tsuzuri angetan habe? Warum hasst du mich nicht dafür, dass ich oft die Kontrolle über mich selbst verliere und dann Menschen töte?"

Er wandte sich zu ihr: "Wieso sollte ich dich hassen? Du bist nun einmal so menschlich, dass du leicht die Nerven verlierst. Wieso sollte ich wütend auf dich sein? Du bist schließlich die Kaiserin der Drachen. Ich habe vor langer Zeit deiner Familie meine ewige Treue geschworen, und ich halte mein Wort."

"Du hast doch meinen Vater verraten? Das hast du mir zumindest selbst gesagt."

"Dein Vater war am Ende ein Wahnsinniger."

"Und bin ich das etwa nicht?", schrie sie angespannt. "Ich bin doch genauso! Ich schlage in meiner Wut sinnlos auf Menschen ein und bringe sie damit fast um."

Hanryo trat näher an sie heran und griff behutsam nach ihrer Hand.

Sie verlor dadurch ihren Zorn und wurde wieder ruhiger. "Warum tun wir uns das alles überhaupt an?", fragte sie ihn hoffnungslos. "Du hast doch viel Geld - wieso suchen wir uns nicht irgendwo ein kleines Haus an einem idyllischen Platz und vergessen die ganze Geschichte mit den Drachen?

Weshalb können wir kein normales Leben führen? Für Tsuzuri könnten wir doch bestimmt eine neue Arbeitsstelle finden? Sie müsste dann nicht wie ein Schmarotzer bei uns leben. Und ich, wenn ich erst einmal etwas Geld verdient hätte, könnte auch ich alleine einen Neuanfang wagen. Wir würden alle drei wieder eigene Wege einschlagen können und ein besseres, glücklicheres Leben beginnen."

Er schüttelte den Kopf. "Was hätten wir davon, vor unserem Schicksal zu fliehen?"

"Aber hatte mein Vater denn nicht noch andere Kinder? Habe ich keinen Bruder oder keine Schwester? Gibt es niemanden, der diese schwere Last an meiner Stelle übernehmen könnte? Ich bin zu schwach, zu verletzlich, zu gleichgültig und zu zwiespältig für diese Aufgabe. Bitte, kannst du nicht jemanden anders diese hohe Würde auferlegen? Ich zerbreche dran! Ich schaffe es nicht ..."

Hanryo trat näher an sie heran und umarmte sie; sie legte erschöpft ihren Kopf auf seine warme Schulter. "Du bist das einzige Mitglied der Kaiserfamilie, das noch am Leben ist", sagte er ihr mit trauriger Stimme. "Aber selbst wenn es noch jemanden anders geben würde, dann würde ich trotzdem zu dir halten und dir diese hohe Würde auferlegen. Du machst Fehler, du bist manchmal viel zu aggressiv, du hast manchmal große Angst, du verstehst viele Dinge nicht und suchst verzweifelt nach Antworten; du fragst dich, ob die Götter wirklich existieren.

Aber dennoch kämpfst du tapfer und mutig für deine Ziele, kennst Mitleid und Erbarmen, handelst gewissenhaft und ehrlich, und du vertraust und verteidigst diejenigen, die auf dich hoffen.

Chikará, es gibt auf dem anderen Kontinent ein Volk, das auf dich wartet. Ein Volk, das noch weniger Hoffnung hat als du in diesem Moment. Sie sind zerstritten, uneinig, bekämpfen und töten sich sogar untereinander. Natürlich hat dich niemand jemals gefragt, ob du ihre Kaiserin sein willst: du bist einfach!

Durch deinen Vater und die Menschen wurde unser Volk geteilt - die Drachen warten auf dich, um durch dich wieder zudem zu werden, was sie einst waren - ein stolzes und vereintes Volk! Und du allein bist ihre Kaiserin; auf dich allein hoffen sie nun in dieser schweren Zeit! Willst du etwa im Stich lassen?"

Chikará riss sich von ihm weg und schüttelte nervös den Kopf. "Nein, ich kann es nicht schaffen, ich würde es niemals schaffen!" Sie ging zurück in das Abteil.
 

Tsuzuri lag immer noch auf den Sitzen, immer noch waren die Spuren des Kampfes an ihr deutlich sichtbar. Sie hörte Chikarás Schritte und öffnete die Augen; ihr Blick war schmerzverzehrt, trotzdem lächelte sie. Chikará bemühte sich ebenfalls zu lächeln, sie schaffte es aber nicht mehr. Sie kniete sich vor ihrer verletzten Gefährtin auf den Boden und starrte nach unten. "Bitte verzeih mir", sprach sie mit tiefer und bekümmerter Stimme und senkte dabei ihr Haupt.

"Chikará", begann Tsuzuri hustend. "Ich habe dir bereits verziehen. Aber kannst du auch nur verzeihen?"

"Ja, das kann ich", antwortete sie ihr mit gedämpfter Stimme. "Aber bitte versprich mir, dass wenn du noch einmal eine Maschine zerstörst, bitte schau dann, dass dabei kein Mensch mehr sein Leben lassen muss."

"Ich verspreche es dir." Sie nickte. "Mir war wirklich nicht klar, dass die Explosion derart großen Schaden verursachen würde. Eigentlich wollte ich nur den Motor sabotieren, ich kann dir ehrlich gesagt gar nicht erklären, wieso der ganze Zug letzten Endes explodiert ist. Es war jedenfalls nicht meine Absicht gewesen, Menschen zu töten. Ich wollte nur Cha-yi ins Jenseits schicken, bitte glaub mir das, bitte."

"Ich glaube es dir." Sie nickte, zögerte danach aber einige Momente lang. "Tsuzuri, bitte sag mir, glaubst du, dass ich eine gute Kaiserin wäre? Glaubst du, dass ich dieser schweren Aufgabe wirklich gewachsen bin?"

Sie überlegte nur kurz. "Ja, du wärst eine gute Kaiserin, glaube ich. Du bist stark, du kannst kämpfen und trotzdem kannst du ebenso verzeihen und dich entschuldigen. Bitte Chikará, gib nicht auf! Hanryo hält zu dir - und ich, ich werde auch zu dir halten - bis zum bitteren Ende, wenn es nötig ist."

Sie umarmte die Jishu und begann dabei zu weinen. "Danke", hauchte sie leise. "Danke, dass du an mich glaubst, denn ich selbst kann es nicht mehr. Ich selber habe keinen Mut mehr für diese hohe Würde. Aber Hanryo und du - ihr beiden glaubt immer noch an mich. Und ich will euch nicht enttäuschen; ich will mein Volk nicht enttäuschen. Ich werde weiter kämpfen."
 

*Ende von Buch 1*

*Buch 2 ist in Arbeit*

*Bitte schreibt mir Kommentare!*

*Danke fürs Lesen!!!*

http://www.angelfire.com/space/katakana/drachenengel.htm



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Kommentare zu dieser Fanfic (8)

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Von: abgemeldet
2005-02-20T03:44:44+00:00 20.02.2005 04:44
tja, lang ist's her da haste die geschichte geschrieben. und ich werd jetzt erst drauf aufmerksam. eine schande, gut ich kenn breath of fire nich. find das spiel nirgends zu kaufen. aber es wäre schön wenn du weiter schreiben würdest.
Von: abgemeldet
2003-11-15T17:11:30+00:00 15.11.2003 18:11
so...
*drop*
immer noch nicht fertig... aber immer hin meld ich mich mal wieder *g*
der teil ist bis jetzt echt super genial!!! ^^
bin erst bei seite 3 (sorry... ich bin im moment so im streß) aber... ich freu mich schon weiter zulesen ^^
mach auf jeden fall noch lange weiter so!! *peacezeichen mach* du schreibst echt super!!!!
ich schreib dann noch mal nen kommi wenn ich mit dem tei endlich mal fertig bin!!! ^^
ich hoffe nur das dauert nicht mehr allzu lange XD
ich versuch mir zeit zu verschaffen... und die geht dann nur für deine ff drauf ^.-
also... bis bald
grey
Von:  starwater
2003-11-13T19:28:03+00:00 13.11.2003 20:28
Also , mir gefällt deine Story , auch wenn dir kaum jemand Kommis schreibt (wundert sich)... Schreib weiter!!!! starwater/sternenwasser
Von: abgemeldet
2003-10-28T10:28:23+00:00 28.10.2003 11:28
hallo!!! ^^
tut mir leid das es so lange gedauert hat, aber wie du ja gesehen hast (dankedankedane... ich hab mich tierich über den gbe gefreut) arbeite ich an meiner HP ^^°°
und mit den nächsten kommis kann es auch noch dauern... ich fahr heute für ein paar tage weg ..(leider... ich will doch wissen wie es weiter geht *heul*) deswegen... ich hab gück das ich den teil noch fertig bekommen hab XD

wirklich super.. ich dachte schon sie schlitzt den armen kerl die kehe auf -.- das war ja mal ne totale fehleinschätzung von chikará *drop*
wirklich genial... der teil war super!!! ^^ ich würde am liebsten gar nicht mehr wegfahren, damit ich weiter lesen kann... aber das geht auch nicht -.-
jeden falls freu ich mich schon drauaf weiter zu lesen ... der nächste kommi kommt dann also sobald ich wieder da bin ^^
tschüüüßi und stell schön weiter on!!! (mach den freischalter fertig XD lehre ihn das fürchten!!!)
Von: abgemeldet
2003-10-22T11:15:14+00:00 22.10.2003 13:15
huuui wieder so schön lang ^^ *froi*
*nick nick* gut gut... jetzt weiß ich mehr über die drachen... aber ich verstehe chikará nicht!! ich finde das hanryo recht hat .. ich verstehe sie einfach nicht.... naja.... ich find das cool... das er ihr gleich hinterher ist... aber das sie so viel schneller ist...hmmmm... tjaja... bin mal gespannt wann sie wieder kommt!!! denn eines ist ja sicher noch trenen sich ihre wege nicht!!! hmmm.... ich weiß nicht... mir fallen keine passende worte dazu ein.. wie sag ich nur wie gigantisch ich deine ff finde *g* also super gigantisch klasse ur toll nervenaufreibend!!!! ^^ mach bitteeeee bitteeeeee bitteeeeeee ganz schnell weiter!!!! ich bin irre gespannt wies weiter geht!!!
tschüßi grey
Von: abgemeldet
2003-10-22T11:07:32+00:00 22.10.2003 13:07
O.o
boah wie cool... der teil war ja so lang!!! *daumenhoch*
wenn man ne ff auch benoten knnte, so wie die fanarts, würde ich dir 100%ig ne 1 geben!!!! ^^
endich... jetzt gehts erst richtig los ^^ bin mal echt gespannt was du dir noch so ausgedacht hast!! ich bin sowas von gebannt!!! mich bekommt hier keiner mehr vom monitor weg!!! das mit den schwertern und der narbe und dem training.... hmmm... da war ich gut gespannt... (oder kommt das erst im nächsten part??? naja... ich gaub das ist alles hier drin!!)
einfach zum nieder knien!!! ich bin schon echt gespannt wann chikará endich über vergangenheit bescheid weiß!!!
bai bai grey
Von: abgemeldet
2003-10-22T10:57:38+00:00 22.10.2003 12:57
cool!!! ^^ ist ja echt interessant!!! einfach klasse!!! bin mal gespannt was sie noch so zu zweit erleben werden!!!! das wird garantiert noch echt spannend!!!

und wieder ist mir dein stil aufgefallen... hmm... weißt du egentlich bin ich echt neidisch geworden *g* wenn ich so gut schreiben könnte würde ich es tun... also ich mein.. ich würde die ganze zeit nur noch schreiben... hmmm... weißt du... du könntest das als buch rausbringen!!! wäre bestimmt ein bestseller!!! ^^
und eine käuferin hättest d auch schon auf jeden falll * mit finger auf mich zeig*
also ich finde deine geschichte klasse!!! ^^
Von: abgemeldet
2003-10-22T10:53:34+00:00 22.10.2003 12:53
^^ hi!!!
ih hab gerade deine ganze ff gelesen.. und bin begeistert... den titel fand ich so gut das ich einfach mal angefangen hab.... und dann war der prolog noch so genial das ich einfach weter gelesen habe und die kommis ganz vergessen hab *drooop* deswegen schreib ich sie ebn jetzt noch mal!!! ^^

hm.... ich finde echt du hast nen klasse stil!!! ich war von der ersten zeile an gefesselt!!! ^^
ich bitte dich... bitte bitte bitte mach weiter so!!!
die geschichte ist echt klasse!!! ^^
tschüß grey


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