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Drachenengel (Buch 1)

{inspiriert von Breath Of Fire, Final Fantasy & Herr der Ringe}
von

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Epilog

"Chikará!", schrie Tsuzuri wütend vom Flur der Herberge aus. "Wenn du nicht sofort aufstehst, kannst du von mir aus in dieser Stadt verschimmeln! Hanryo und ich warten schon seit vier Stunden darauf, dass Fräulein Kaiserin endlich ihre Äuglein öffnet!"

Wahrscheinlich hätte Chikará, wenn sie durch die Worte der Jishu wach geworden wäre, lediglich den Kopf auf die andere Seite gedreht; aber sie hörte nichts davon in ihrem tiefen Schlaf. Da Tsuzuri nicht den Hauch einer Bewegung oder Reaktion von Chikará hörte, ging sie in das Zimmer ihrer Gefährtin.

Chikará lag wie versteinert in ihrer Decke eingehüllt auf der Strohmatte und schnarchte manchmal leise. Sie schlief immer noch tief und fest, obwohl es bereits drei Uhr am Nachmittag war und die Sonne von draußen durch das Fenster in den Raum schien. Tsuzuri kniete sich neben den scheinbar leblosen Körper von Chikará und beugte sich über ihren Kopf, der mit dem Gesicht zu ihr hin gerichtet lag. "Untote", brüllte sie ihr direkt ins Ohr.

Chikará riss sofort die Augen weit auf und schreckte zurück, dabei schlug sie ziemlich unsanft mit ihrem Hinterkopf gegen die harte Holzwand. Mit Schmerz erfülltem Blick packte sie sich mit beiden Händen an die langsam anschwellende Blessur. Dann schaute sie wütend zu Tsuzuri, die sich, um ihr schadenfrohes Lachen zu verbergen, die Hände vor dem Mund hielt und ihre Lippen aneinander presste.

"Das wirst du irgendwann von mir zurückkriegen", drohte Chikará ihr zornig. "Ich werde dich in Stücke reißen - und diese dann den Untoten zum Fraß vorwerfen!"

"Beruhig dich mal wieder! Ich konnte ja nicht wissen, dass du so schreckhaft bist und gleich versucht durch die Wand zu flüchten. Aber lass uns das vergessen - wir müssen endlich los! Wir haben schon dein Schwert abgeholt, und in zwei Stunden fährt unser Zug ab. Du musstest also unbedingt langsam einmal aufstehen."

"Trotzdem", übernahm Chikará wieder das Wort, "du hättest mich ruhig etwas vorsichtiger wecken können!"

"Bei allem was recht ist", verteidigte sich Tsuzuri, "dich zu wecken ist schwerer als ein Faultier aus seinem Tiefschlaf zu befreien."

Chikará verlor durch diesen nicht gerade unpassenden Vergleich ihre Wut und musste lachen. "Da kann ich dir leider nicht widersprechen. Ich habe leider letzte Nacht nur sehr wenig geschlafen, deshalb bin ich noch etwas müde."

"Das spielt jetzt keine Rolle, beeil dich bitte nur. Ich will wegen dir und deiner Schlafsucht keine Minute länger in dieser schrecklichen Stadt bleiben müssen."
 

Eine halbe Stunde später standen die drei Gefährten am großen Stadttor von Nara. Es war an diesem Tag recht kühl, der Wind fegte schnell über die alte Hauptstraße und blies alles, was zu leicht war, weg. An der Ausgangskontrollstelle hatte sich eine lange Schlange von wartenden Leuten gebildet. Sie wollten die Stadt verlassen und mussten sich deshalb noch einmal den aufmerksamen Kontrollen durch die kaiserlichen Soldaten stellen.

Chikará verließ Nara mit einem glücklichen und einem traurigen Auge. Die vielen religiösen Bauwerke von unbeschreiblicher Größe und Schönheit, die herrlichen Gartenanlagen und nicht zuletzt der riesige Kaiserpalast blieben ihr als positive Erfahrungen zurück. Allerdings mit dem bitteren Beigeschmack, dass es sich bei ihnen eigentlich nur um Illusionen aus der Vergangenheit gehandelt hatte.

Die Geschichte von Hanryos Familie, ihr Erlebnis im Phönix-Tempel und das große Rätsel um die Existenz der Götter, diese Dinge bleiben auch in ihrem Gedächtnis, obgleich sie am liebsten niemals von ihnen erfahren hätte. Sie hatte gehofft, in Nara Antworten zu finden, aber sie fand lediglich noch mehr Fragen, auf die es anscheinend keine Antwort geben sollte. Sie wusste eigentlich genauso viel wie vor dem Besuch der Hauptstadt des Ostens, jedoch hatte sie endlich etwas mehr über Hanryo erfahren.

Dieser hatte mit dem Besuch des Grabes seiner Familie, mit dem Gebet und Opfer im Schrein alles erledigt, was ihn noch auf dieser Seite der Welt festgehalten hatte. Nun war er bereit, sein Leben nur noch Chikarás Schicksal zu widmen. Er hatte gehofft, ihr in Nara die Welt der Menschen und die der Götter etwas näher bringen zu können; stattdessen wuchsen jedoch nur ihr Unverständnis und ihre Verwirrung. Aber manchmal konnten auch negative Erfahrungen unbewusst etwas Positives bewirken, sagte er sich. Denn immerhin wurden Chikarás Entschlossenheit und ihr Mut durch die Ereignisse in Nara weiter gestärkt.

Tsuzuri erwartete gespannt die nächsten Etappen ihrer großen Reise. In der Hauptstadt hatte sie nichts gefunden, was ihr Weltbild verändern konnte. Die Menschen waren ihr immer noch völlig egal - nicht aber ihre beiden Gefährten, denen sie sehr viel verdankte. Wahrscheinlich schuldete sie den beiden mehr, als sie ihnen jemals zurückgeben könnte. Wo wäre sie nun ohne Hanryo und Chikará? In der Gosse irgendeiner Großstadt, wo sie um Essen betteln würde, oder sogar tot? Sie wollte über so etwas Schreckliches nicht nachdenken und freute sich im Stillen über ihr großes Glück, das sie vielleicht eigentlich gar nicht verdient hatte.
 

Als Chikará durch das Tor der Stadtmauer ging, schossen ihr noch einmal alle Erlebnisse durch den Kopf. Sie sah noch einmal die brennende Leiche im Phönix-Tempel, den leeren Kaiserthron, Ammunabas seltsame Blätter und den heiligen Spiegel.

Bei der Kontrolle hinter dem Stadttor gab es keinerlei Probleme; die gefälschten Ausweise und die Verkleidungen überzeugten erneut die wachsamen Augen der Furcht einflössenden Wächter. Ein Soldat entfernte die schwere Holzkiste, in der Chikarás neues Schwert sicher aufbewahrt worden war.

Auf einer grünen Wiese umweit des Stadteingangs zog Chikará das Katana zum ersten Mal aus der schwarzen Ummantelung. Der Griff war aus Elfenbein gefertigt und lag ihr ausgezeichnet in der Hand. Sobald die stählerne Klinge zum Vorschein kam, glänzten die hellen Sonnenstrahlen im sauberen Metall. Allein schon dieser überwältigende Anblick zog Chikará in seinen Bann - dies war ohne Zweifel die beste und stärkste Waffe, die sie jemals in den Händen halten sollte.

Sie umfasste den Elfenbeinbeingriff fest und schlug ein paar Mal zur Probe durch die Luft, ohne jemanden dabei zu treffen. Die Waffe erschien ihr außergewöhnlich leicht, genau wie der Schmied es ihr prophezeit hatte.

"Es ist sein Geld wert", sagte Hanryo überzeugt und beeindruckt von der nahezu perfekten Arbeit.

Chikará hielt das Schwert in Angriffshaltung und führte noch einen letzten ziellosen Hieb aus, bevor sie das Schwert wieder wegpacken wollte. Doch in diesem Moment glimmte plötzlich die Klinge auf; Chikará ließ sie erschrocken fallen und sprang zur Seite.

"Was hast du", fragte Tsuzuri überrascht.

"Es hat auf einmal anfangen zu glühen", erklärte Chikará nervös und ging langsam wieder zu ihrer Waffe, die zwischen einigen Grashalmen auf dem grünen Boden lag. Sie beugte sich über die Klinge, die immer noch leicht glimmte. Hanryo und Tsuzuri stellten sich neugierig neben ihre Gefährtin.

Schriftzeichen erschienen als glühendes Relief auf der Klinge. "Du seiest meine neue Herrin, Chikará Yong-Yuandé, Kaiserin der Drachen", las Hanryo verwundert vor.

"Was hat das zu bedeuten?", fragte Chikará entsetzt und starrte ihn an.

Er gab ihr zunächst keine Antwort, sondern beobachtete fasziniert und kritisch das Schwert. Die Schriftzeichen auf der Klinge verschwanden langsam wieder und neue erschienen an ihrer Stelle: Mein Name sei Yuigon.

"Was hat das bitteschön zu bedeuten?" Sie wurde unruhig und wandte sich, um besser nachdenken zu können, von dem rätselhaften Schwert ab.

Hanryo hingegen verstand allmählich das Geheimnis des Katanas und grinste. "Ich hatte dir doch vor kurzem schon einmal davon erzählt, dass einige Geisterwesen in Gegenständen hausen können", sprach er zu Chikará, die sich daraufhin wieder in seine Richtung drehte. Ihr verdutzter Blick zeigte jedoch deutlich, dass sie nicht wirklich verstand, worauf er hinaus wollte, oder dass sie es nicht verstehen wollte.

"In dem Metall deines Schwertes", fuhr er fort, "hat sich wohl auch ein Dämon eingenistet."

Sie wusste nicht recht, ob sie darüber erfreut oder besorgt sein sollte. "Und was heißt das für mich? Kann er mir gefährlich werden?"

Hanryo lachte. "Mach dir keine Sorgen - er scheint dich ja schließlich zu mögen."

Sie blieb ernst: "Aber wer sagt mir, dass er nicht irgendwann einmal nachts aus der Klinge herauskommt und mich angreift?"

Er schüttelte den Kopf. "Sei nicht so paranoid, ein kleiner Dämon wird dir nichts anhaben können. Außerdem scheint er für einen Dämonen recht harmlos zu sein."

"Wenn ich mich einmischen darf", sprach Tsuzuri, "ein lebendes und sprechendes Schwert zu haben ist doch etwas Außergewöhnliches - das hat für dich bestimmt nur Vorteile. Wenn dir mal langweilig ist, kannst du dich mit ihm unterhalten?"

"Bleib bitte ernst", entgegnete Chikará genervt. Sie beugte sich, packte das Schwert am Griff und steckte es wieder in die Ummantelung. "Ich bin jedenfalls sehr gespannt, ob mir Yuigon im Kampf einen guten Dienst erweisen wird. Der Rest ist mir vorerst ziemlich egal."
 

Am Bahnhof von Nara holten sich die drei Gefährten aus den Schließfächern ihre normale Kleidung und ihre Waffen wieder. Auf den Toiletten zogen sie sich um und nahmen die dunklen Kontaktlinsen aus den Augen; Tsuzuri wuchs sich ihre Haarfärbung heraus.

Chikará fühlte sich in ihrem Kampfanzug wesentlich wohler als in dem langen Gewand. Die dunkelgraue Hose, das schwarze Oberteil und der hellgraue Mantel, die Schriftzeichen und Drachensymbole, und nicht zuletzt ihr neues Schwert und die silberne Halskette, die Hanryo ihr in Chaó geschenkt hatte. Auf ein Halstuch verzichtete sie jedoch, denn sie wollte ihre Narbe und damit ihre Identität vor sich selbst nicht länger verstecken.

Hanryo war es eigentlich gleich, was er trug; er hatte sich im Laufe seines Lebens so oft verkleiden müssen, das ihm mittlerweile jede Art von Kleidung angenehm vorkam. Eine weite olivefarbene Hose, ein dunkelbraunes Hemd und eine schwarze Jacke mit hellem Fellkragen zog er sich an. Vollendet wurde sein äußeres Erscheinungsbild durch sein altes Katana.

Tsuzuri war froh darüber, dass sie nun wieder die ihr vorgeschriebene, richtige Kleidung tragen konnte. Das blaue Hemd mit den Blütenverzierungen, die breite, bis zu den Knien reichende Hose und die Kappe, unter der sie ihre langen orangefarbenen Haare versteckte. Als sie sich selbst in einem Spiegel am Waschbecken sah, wusste sie, dass sie endlich wieder sie selbst war.
 

Mit ihren schweren Reisekoffern beladen suchten die drei den Fahrkartenschalter. Das Bahnhofsgelände bestand aus einer großen Halle aus Stein und Metall, in der insgesamt zwanzig Gleise aus allen Himmelsrichtungen zusammentrafen; hier flossen viele wichtige Handels- und Reisewege des Ostens zusammen. Viele Menschen aus der ganzen Welt liefen unruhig umher und eilten aus einen Wagon in den nächsten, in den Massen konnte man sich leicht verirren.

Das Ziel der drei Gefährten war eine Stadt an der Grenze des Ostens und Westens, denn nur im Westen gab es einen Weg zum großen Ozean und somit zum anderen Kontinent. Ihr Zug sollte in etwa zwanzig Minuten abfahren, wie sie auf einem Fahrplan am Eingang gelesen hatten, sie standen also nicht unter Zeitdruck. Während Hanryo an einem überfüllten Schalter für die Fahrkarten anstand, warten Chikará und Tsuzuri mit dem Gepäck auf einer Sitzbank am Rande des Bahnsteigs und beobachteten die fahrenden Züge.

"Ist es schwer, einen Zug zu fahren?", fragte Chikará die Jishu.

Tsuzuri war im ersten Moment recht überrascht darüber, dass Chikará mit ihr ein Gespräch beginnen wollte, und zögerte mit der Antwort. "Nein, es ist theoretisch ziemlich leicht", sprach sie trocken und gelangweilt wirkend. "Man drückt nur ein paar Knöpfe, legt ein paar Hebel um und beobachtete die vielen Zeiger und Kontrolllämpchen, der Rest funktioniert von alleine, man muss praktisch nichts tun."

"Es muss doch bestimmt ein großartiges Gefühl sein, einen riesigen Stahlkoloss zu steuern und für ihn verantwortlich zu sein - das ist schon eine anspruchsvolle Aufgabe, finde ich."

"Wenn man es jeden Tag machen muss und sich alles jeden Tag bis aufs letzte Detail wiederholt, verliert man schnell solch ein Gefühl. Außerdem ist man auch als Lokführerin nur wie eine kleine Puppe, die von anderen gesteuert wird und von ihnen vollkommen abhängig ist." Man hörte bei ihren letzten Worten eine gewisse Bitterkeit und Wut.

Chikará dachte sich, dass Tsuzuri ihren Beruf bestimmt früher einmal gemocht haben musste. Der einzige Grund für ihren derzeitigen Zorn gegen dieses Thema war wohl die Tatsache, dass sie gegen ihren Willen gefeuert worden war. Chikará erkannte dies und begann über etwas anderes zu sprechen: "Ich weiß zwar nicht, wohin wir als nächstes kommen, aber früher oder später werden wir in die Teile der Welt kommen, wo dein Volk herrscht. Kannst du mir, wenn wir dort sein werden, ein paar Dinge erklären? - zum Beispiel, wie man eine fahrende Maschine baut oder wie sie funktioniert. Das würde mich wirklich interessieren, denn ich habe nicht allzu viel Ahnung von der modernen Technik."

"Ja, gut", entgegnete Tsuzuri abweisend. "Erinnere mich daran, wenn es soweit ist."

Ein neuer Güterzug fuhr in die Halle und hielt an; Chikará erkannte ihn sofort wieder; es war der, den Tsuzuri früher gefahren hatte. "Schau mal dahinten, ist das nicht deine alte Lokomotive?"

Die Jishu wandte ihren Blick auf den Zug - er war es wirklich! "Cha-yi", flüsterte sie verblüfft.

"Cha-yi?" Chikará musste lachen. "Du hast dem Zug einen Namen gegeben?"

Sie sprang auf und eilte weg in Richtung des Zuges.

"Was ist los? Wo willst du hin?", fragte Chikará verwundert.

Tsuzuri drehte sich kurz um. "Ich will ihn bitte noch einmal sehen; ich beeil mich auch." Sie drehte sich wieder um und verschwand im Menschengetümmel.
 

Nach knapp zehn Minuten kam sie zurück zu der Sitzbank, fast gleichzeitig erschien auch Hanryo wieder in der Gegenwart seiner beiden Gefährtinnen. "Kommt", fordert er sie freundlich auf. "Ich habe die Fahrkarten, unser Zug fährt gleich ab."
 

Der Zug, in den sie einstiegen, war aus Metall und Plastik konstruiert und schien recht modern zu sein; die Türen funktionierten sogar automatisch. Hanryo hatte für die Fahrt, die sicher ein bis zwei Tage lang dauern würde, ein ganzes Abteil gemietet, das normalerweise für sechs Personen bestimmt war. Dadurch hatten die drei eine gewisse Anonymität in dem großen, jedoch nahezu menschenleeren Personenwagon. Vom Gang aus führte eine fensterlose Schiebetür in das Abteil. Als sie es betraten, wirkte es auf sie zwar anfangs recht eng und einfach, aber im Vergleich zu den bescheidenen Umständen, unter denen die meisten anderen Leute reisen mussten, erschien dies schon fast als luxuriös. Es gab sechs Sitze, drei rechts in einer Reihe und drei links, die man zusammen schieben könnte, so dass sie zu drei Betten wurden. Ein Glasfenster gegenüber der Türe ermöglichte den Blick ins Freie und erhellte den kleinen Raum ein wenig; elektrischre Beleuchtung gab es lediglich auf dem Gang. Die drei Gefährten verstauten ihre Koffer und setzen sich; Hanryo an einer Seite und die beiden Frauen gegenüber von ihm.

Der Zug rollte langsam los. Die quietschenden und rauschenden Geräusche der schweren Räder und des Lokomotivenmotors ertönten. Chikará lehnte sich zurück und schloss entspannt die Augen. "Dies sind die schönsten Stationen unserer Reise."

Tsuzuri lachte. "Sag nicht, dass du schon wieder schlafen willst?"

"Doch, genau das werde ich jetzt tun."

"Hast du nicht dein Halstuch vergessen?", bemerkte Hanro.

"Ich will es nie wieder tragen." Sie öffnete wieder die Augen und sah ihn an. "Wieso sollte ich meine Narbe verdecken, wenn sie doch genauso zu mir gehört wie meine tiefgrünen Augen und meine pechschwarzen Haare? Sie ist ein Teil von mir, für den ich mich nicht schämen muss, auf den allerdings ebenso wenig stolz sein sollte. Sie ist ein Teil meines Schicksals und meiner Selbst, den ich akzeptieren und nicht verstecken will."

Er wirkte zunächst etwas überrascht über diese Antwort, nickte aber schließlich bestätigend. "Dem will ich nicht widersprechen, aber woher hast du dieses neue Selbstbewusstsein; nicht dass ich es vorurteile, nur kommt es in meinen Augen recht plötzlich und ohne ersichtlichen Grund?"

"Ich kann es dir nicht genau erklären, es hat sich eben so ergeben. Es gibt keinen wirklichen Grund dafür." Sie schloss wieder ihre Augen legte ihre Beine hoch.
 

Einige Minuten später erschallte plötzlich der laute Knall einer Explosion aus Richtung des Bahnhofs. Chikará schreckte aus ihrem Schlaf auf und schaute sich aufgeregt um. Hanryo stand sofort auf, schob die Glasscheibe des Fensters herunter und lehnte sich mit dem Oberkörper nach draußen; Chikará tat es ihn in ihrer Neugier gleich. Schwarzer Rauch stieg aus der Bahnhofshalle auf und verfinsterte den blauen Himmel. Menschen stürmten panisch aus dem qualmenden Gebäude ins Freie. Chikará wollte ihren Augen nicht trauen. "Was ist dort nur passiert?", fragte sie aufgeregt.

Hanryo überlegte kurz. "Vielleicht es gab einen Zusammenstoß zweier Züge oder einer ist bei Reparaturarbeiten oder beim Umkuppeln explodiert", sagte er ruhig, "so etwas passiert leider manchmal. Das ist ein unvermeidbares Risiko der modernen Technik."

Sie trat seufzend vom Fenster weg und schaute auf Tsuzuri, die gelassen auf ihrem Platz saß und wie versteinert wirkte; sie schien das alles kaum zu kümmern. Wieso war ihr dies völlig egal, fragte sich Chikará, die ihre Gefährtin doch sonst immer nur als äußerst neugierige und aktive Person kannte. Sie sah ihr in die Augen - ihr Blick war leer, dennoch schien er erfreut mit einem leichten sarkastischen Lächeln. Chikará überkam auf einmal ein schrecklicher Gedanke, den sie am liebsten niemals gehabt hätte. Soll sie etwa dafür verantwortlich sein? Sie?

Genau in diesem Moment, als hätte sie Chikarás Gedanken lesen können, hob die Jishu ihr Haupt und blickte ihrer gegenüber kurz und zaghaft in die Augen. Jedoch dauerte es nur einige Sekunden, bis Tsuzuri wieder verschüchtert begann gegen die Wand zu starren; dabei wurde sie langsam blass im Gesicht und sie bewegte sich nicht.

"Nein", hauchte Chikará ungläubig und mit dem Kopf schüttelnd. "Nein, wie konntest du das nur tun?"

Tsuzuri erwachte aus ihrer Starre, stand auf und richtete ihren Wut entbrannten Blick auf Chikará. "Wenn ich schon nicht mehr Cha-yi steuern darf, soll niemand mehr mit ihm fahren können!"

Chikará verlor durch dieses Geständnis die Kontrolle über sich selbst. Wie entfesselt stürzte sie sich auf die Jishu, packte sie mit der linken Hand am Hemdkragen und schlug ihr mit der rechten Faust gegen die Schläfe. Tsuzuri flog dabei die Kappe vom Kopf - dennoch wehrte sie sich nicht; sie hätte gegen ihre wesentlich stärkere Gegnerin sowieso keine Chance gehabt. Den harten und kraftvollen Schlag spürte sie kaum, ihr wurde schnell schwarz vor Augen. Chikará bemerkte dies nicht, ebenso nicht Hanryos vergebliche Versuche, sie von ihrem hilflosen Opfer abzuhalten, auf das sie indes weiterhin wie in Trance einprügelte. Tsuzuri begann aus Nase, Mund und einer Platzwunde an der Augenbraue zu bluten. Chikará erkannte in ihrem Wahn nicht, was sie tat. Sie verspürte nur noch Wut - grenzenlose Wut - als würden alle ihre Aggressionen, die sie in der letzten Zeit unterdrückt hatte, nun endlich entweichen. Vor allem war es die Wut über sich selbst, denn sie hatte selbst Menschen getötet oder deren Tod nicht verhindert. Ihr Selbsthass verwandelte sich in unkontrollierte Gewalt. Mit jedem Schlag schrumpften der angestaute Zorn und die Verzweiflung, und mit jedem Schlag schien Tsuzuri dem Tode näher zu kommen.

Hanryo schaffte es schließlich, Chikará von hinten zu umklammern und sie so von Tsuzuri weg zu reißen. Er schleuderte sie gegen die Türe des Abteils, so dass sie das Gleichgewicht verlor und auf den Boden fiel. Er beugte sich schnell zu ihr herunter, packte sie am Hals und presste dadurch ihren Kopf gegen die Wand. Sie hechelte nach Luft und sah ihn rasend vor Wut an. "Lass mich los, du verdammter Idiot!"

Er schlug ihr daraufhin mit der linken Handfläche auf die Wange. "Komm endlich wieder zur Besinnung! Du hättest sie fast tötest!", schrie er sie entzürnt an.

Chikarás grenzenloser Zorn verschwand blitzartig. Er hat mich geschlagen - Hanryo hat mich tatsächlich geschlagen. Niemals hätte sie auch nur im Entfernsten damit gerechnet, dass so etwas jemals passieren würde. Er war ihr gegenüber bis dahin niemals wirklich wütend oder aggressiv geworden; allerdings hatte sie auch, wie sie allmählich einsah, niemals zuvor derart die Nerven und die Selbstherrschung verloren. Wie konnte es nur soweit kommen? Durch diesen unerwarteten Schock fand sie wieder zurück zur Vernunft und Realität.

Als Hanryo in ihren starren Augen eine gewisse Trauer und so etwas wie Einsicht erkannte, ließ er von ihr ab und wandte sich zu Tsuzuri. Ihr Körper lag leblos auf dem Boden, sie hatte Blutflecken auf der weißen Haut und auf ihrer blauen Kleidung, ihre Augen waren geschlossen.

Chikará stand vorsichtig und noch etwas benebelt auf und schaute wehmutig auf ihre tot scheinende Gefährtin. War ich das? Sie konnte nicht fassen, was sie Tsuzuri angetan hatte. Zitternd hielt sich Chikará die Hände vors Gesicht. Wie konnte ich das nur tun? Sie konnte diesen furchtbaren Anblick, an den sie alleine die Schuld trug, nicht lange ertragen. Sie riss verzweifelt die Türe des Abteils auf und verschwand hektisch auf dem Flur des Wagons.

Hanryo schaute ihr zwar noch hinterher, sagte ihr aber nichts. Er kniete sich vor Tsuzuri und rüttelte ihr sanft an der Schulter. Daraufhin öffnete sie langsam ihre müden Augen und schaute Hanryo benommen an. "Bitte verzeih es Chikará" flüsterte sie ihm keuchend zu. "Sie wusste nicht, was sie tat. Ich steh ihr ohne Hass gegenüber. "

Er nickte ihr zu und half ihr, sich auf die Sitze zu legen. "Ruh dich ein wenig aus", sagte er ihr mit sanfter Stimme. "Ich verurteile weder dich noch Chikará; ich will versuchen mit ihr zu sprechen."
 

Chikará stand alleine am Ende des Ganges und schaute durch ein Fenster nach draußen auf die Landschaft. Sie sah wilde Zedern- und Ahornbäume, ein kleines Dorf, einige Bauern, die auf ihren Feldern arbeiteten, und den schönen blauen Himmel. Sie weinte unauffällig, die Tränen liefen fast unsichtbar an ihren Wangen herunter. Tsuzuri ist eine Mörderin - und ich, ich bin auch eine Mörderin. Wer von uns beiden ist die grausamere? Ich habe eine Hand voll Menschen getötet, sie wahrscheinlich Dutzende. Aber ist das ein Unterschied? Und ich als Mörderin soll die Kaiserin eines gespaltenen Volkes werden? Nein, dieser Aufgabe bin ich nicht gewachsen; ich würde das Volk der Drachen nur noch weiter ins Verderben stürzen. Hier endet mein Teil der Reise.

Hanryo kam langsam zu ihr, als sie seine Nähe spürte, begann sie zu sprechen, sah ihn dabei aber nicht an: "Wie viele Menschen hat sie damit getötet? Zehn, zwanzig oder noch mehr? Was geht in ihrem Kopf nur vor? Wieso ist ihr das Leben der Menschen nur so gleichgültig?"

Er stellte sich neben sie, blickte jedoch nicht zu ihr. "Man hat ihr ihr Leben lang eingeredet, dass sie zu einem höheren Volk gehöre, und dass Menschen im Vergleich zu ihr nur eine wesentlich niedrigere und primitivere Rasse seien, ähnlich wie Tiere. Der Tod eines Menschen berührt sie weniger als eine defekte Maschine.

Als ich ihr gestattet habe, sich um anzuschließen, wusste ich das. Ich war mir bewusst, dass es irgendwann einmal deswegen Differenzen zwischen uns geben musste - nicht aber erahnte ich, dass es solche Ausmaße annehmen sollte.

Wir können ihre Einstellung nicht ändern, zu tief sitzen diese weltfremden Ideologien in ihrem Verstand fest. Wir können nur hoffen, dass sie irgendwann einmal selbst einsehen muss, dass auch sie eigentlich nur ein Mensch ist."

Sie schwieg einige Minuten lang, bis sie weitersprach: "Geht es ihr denn einigermaßen gut? Ist sie nur leicht verletzt?"

"Sie hat wohl die Nase gebrochen, eine Augenbraue aufgeplatzt und einen oder zwei Zähne verloren, ansonsten geht es aber dennoch gut; sie ruht sich aus und sammelt neue Kräfte."

Sie seufzte wehmutig. "Wieso hast du mich geschlagen? Ich habe niemals damit gerechnet, dass du so etwas jemals tun würdest?"

"Es ging nicht anders -du hast mir keine andere Wahl gelassen. Tsuzuri hätte deinen Wahnsinn sonst wohl nicht überlebt. Und ich hoffe, du kannst nachvollziehen, dass man bei dir mit gutem Zureden überhaupt nichts mehr erreichen konnte. Trotzdem, verzeihe es mir bitte, die Situation hatte mir keine andere Möglichkeit gelassen."

Chikará drehte sich zu ihm und sah ihn erstaunt an. "Wie kannst du immer noch so gefasst und kalt mit mir reden? Warum hasst du mich nicht für das, was ich Tsuzuri angetan habe? Warum hasst du mich nicht dafür, dass ich oft die Kontrolle über mich selbst verliere und dann Menschen töte?"

Er wandte sich zu ihr: "Wieso sollte ich dich hassen? Du bist nun einmal so menschlich, dass du leicht die Nerven verlierst. Wieso sollte ich wütend auf dich sein? Du bist schließlich die Kaiserin der Drachen. Ich habe vor langer Zeit deiner Familie meine ewige Treue geschworen, und ich halte mein Wort."

"Du hast doch meinen Vater verraten? Das hast du mir zumindest selbst gesagt."

"Dein Vater war am Ende ein Wahnsinniger."

"Und bin ich das etwa nicht?", schrie sie angespannt. "Ich bin doch genauso! Ich schlage in meiner Wut sinnlos auf Menschen ein und bringe sie damit fast um."

Hanryo trat näher an sie heran und griff behutsam nach ihrer Hand.

Sie verlor dadurch ihren Zorn und wurde wieder ruhiger. "Warum tun wir uns das alles überhaupt an?", fragte sie ihn hoffnungslos. "Du hast doch viel Geld - wieso suchen wir uns nicht irgendwo ein kleines Haus an einem idyllischen Platz und vergessen die ganze Geschichte mit den Drachen?

Weshalb können wir kein normales Leben führen? Für Tsuzuri könnten wir doch bestimmt eine neue Arbeitsstelle finden? Sie müsste dann nicht wie ein Schmarotzer bei uns leben. Und ich, wenn ich erst einmal etwas Geld verdient hätte, könnte auch ich alleine einen Neuanfang wagen. Wir würden alle drei wieder eigene Wege einschlagen können und ein besseres, glücklicheres Leben beginnen."

Er schüttelte den Kopf. "Was hätten wir davon, vor unserem Schicksal zu fliehen?"

"Aber hatte mein Vater denn nicht noch andere Kinder? Habe ich keinen Bruder oder keine Schwester? Gibt es niemanden, der diese schwere Last an meiner Stelle übernehmen könnte? Ich bin zu schwach, zu verletzlich, zu gleichgültig und zu zwiespältig für diese Aufgabe. Bitte, kannst du nicht jemanden anders diese hohe Würde auferlegen? Ich zerbreche dran! Ich schaffe es nicht ..."

Hanryo trat näher an sie heran und umarmte sie; sie legte erschöpft ihren Kopf auf seine warme Schulter. "Du bist das einzige Mitglied der Kaiserfamilie, das noch am Leben ist", sagte er ihr mit trauriger Stimme. "Aber selbst wenn es noch jemanden anders geben würde, dann würde ich trotzdem zu dir halten und dir diese hohe Würde auferlegen. Du machst Fehler, du bist manchmal viel zu aggressiv, du hast manchmal große Angst, du verstehst viele Dinge nicht und suchst verzweifelt nach Antworten; du fragst dich, ob die Götter wirklich existieren.

Aber dennoch kämpfst du tapfer und mutig für deine Ziele, kennst Mitleid und Erbarmen, handelst gewissenhaft und ehrlich, und du vertraust und verteidigst diejenigen, die auf dich hoffen.

Chikará, es gibt auf dem anderen Kontinent ein Volk, das auf dich wartet. Ein Volk, das noch weniger Hoffnung hat als du in diesem Moment. Sie sind zerstritten, uneinig, bekämpfen und töten sich sogar untereinander. Natürlich hat dich niemand jemals gefragt, ob du ihre Kaiserin sein willst: du bist einfach!

Durch deinen Vater und die Menschen wurde unser Volk geteilt - die Drachen warten auf dich, um durch dich wieder zudem zu werden, was sie einst waren - ein stolzes und vereintes Volk! Und du allein bist ihre Kaiserin; auf dich allein hoffen sie nun in dieser schweren Zeit! Willst du etwa im Stich lassen?"

Chikará riss sich von ihm weg und schüttelte nervös den Kopf. "Nein, ich kann es nicht schaffen, ich würde es niemals schaffen!" Sie ging zurück in das Abteil.
 

Tsuzuri lag immer noch auf den Sitzen, immer noch waren die Spuren des Kampfes an ihr deutlich sichtbar. Sie hörte Chikarás Schritte und öffnete die Augen; ihr Blick war schmerzverzehrt, trotzdem lächelte sie. Chikará bemühte sich ebenfalls zu lächeln, sie schaffte es aber nicht mehr. Sie kniete sich vor ihrer verletzten Gefährtin auf den Boden und starrte nach unten. "Bitte verzeih mir", sprach sie mit tiefer und bekümmerter Stimme und senkte dabei ihr Haupt.

"Chikará", begann Tsuzuri hustend. "Ich habe dir bereits verziehen. Aber kannst du auch nur verzeihen?"

"Ja, das kann ich", antwortete sie ihr mit gedämpfter Stimme. "Aber bitte versprich mir, dass wenn du noch einmal eine Maschine zerstörst, bitte schau dann, dass dabei kein Mensch mehr sein Leben lassen muss."

"Ich verspreche es dir." Sie nickte. "Mir war wirklich nicht klar, dass die Explosion derart großen Schaden verursachen würde. Eigentlich wollte ich nur den Motor sabotieren, ich kann dir ehrlich gesagt gar nicht erklären, wieso der ganze Zug letzten Endes explodiert ist. Es war jedenfalls nicht meine Absicht gewesen, Menschen zu töten. Ich wollte nur Cha-yi ins Jenseits schicken, bitte glaub mir das, bitte."

"Ich glaube es dir." Sie nickte, zögerte danach aber einige Momente lang. "Tsuzuri, bitte sag mir, glaubst du, dass ich eine gute Kaiserin wäre? Glaubst du, dass ich dieser schweren Aufgabe wirklich gewachsen bin?"

Sie überlegte nur kurz. "Ja, du wärst eine gute Kaiserin, glaube ich. Du bist stark, du kannst kämpfen und trotzdem kannst du ebenso verzeihen und dich entschuldigen. Bitte Chikará, gib nicht auf! Hanryo hält zu dir - und ich, ich werde auch zu dir halten - bis zum bitteren Ende, wenn es nötig ist."

Sie umarmte die Jishu und begann dabei zu weinen. "Danke", hauchte sie leise. "Danke, dass du an mich glaubst, denn ich selbst kann es nicht mehr. Ich selber habe keinen Mut mehr für diese hohe Würde. Aber Hanryo und du - ihr beiden glaubt immer noch an mich. Und ich will euch nicht enttäuschen; ich will mein Volk nicht enttäuschen. Ich werde weiter kämpfen."
 

*Ende von Buch 1*

*Buch 2 ist in Arbeit*

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*Danke fürs Lesen!!!*

http://www.angelfire.com/space/katakana/drachenengel.htm



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2005-02-20T03:44:44+00:00 20.02.2005 04:44
tja, lang ist's her da haste die geschichte geschrieben. und ich werd jetzt erst drauf aufmerksam. eine schande, gut ich kenn breath of fire nich. find das spiel nirgends zu kaufen. aber es wäre schön wenn du weiter schreiben würdest.


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