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Raupe im Neonlicht

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Da es aufgrund der Server-Umstellung letzte Woche kein neues Kapitel gab, bekommt ihr heute zwei. Falls ihr also keine Ahnung habt, was los ist, solltet ihr vielleicht erst Kapitel 18 lesen ;) Komplett anzeigen

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Prolog

Künstliches Licht erhellte dunkle Straßen, Autos dröhnten über Asphalt. Es war spät geworden.

„Das war das letzte Teil.“ Erschöpft sank Jonas gegen die Wand, wischte eine Strähne aus seiner verschwitzten Stirn. Aus der Wohnung gegenüber drang laute Musik, ließ den Umzugskarton neben seinen Füßen vibrieren.

„Hoffentlich kannst du bei diesem Krach schlafen.“ Das besorgte Gesicht seiner Mutter erschien in seinem Sichtfeld. Holzspäne zierten ihre schwarze Hose, Schweißränder verfärbten den Kragen ihrer Bluse. Sie deutete hinter sich, in das winzige Ein-Zimmer-Apartment. „Papa und ich haben den Schrank fertig aufgebaut und der Schreibtisch wackelt nicht mehr. Du musst nur noch das Bett beziehen und die restlichen Kartons auspacken. Dabei können wir dir leider nicht mehr helfen, wenn wir heute noch nach Hause fahren wollen.“

„Kein Ding“, versicherte Jonas. „Schaut lieber zu, dass ihr sicher ankommt. Ruft kurz durch, wenn ihr da seid.“

Seine Mutter lächelte, eine Spur Betrübtheit in den dunklen Augen, die seinen so ähnlich waren. „Schon seltsam, diesen Satz zur Abwechslung aus deinem Mund zu hören. Kaum verlassen sie das Nest, werden sie gleich ganz erwachsen.“ Ihre Finger strichen über die Wange ihres Sohns, zupften an dessen Haaren. „Ich wünschte nur, du hättest dir das mit der Frisur noch einmal überlegt. Schlimm, die Seiten so kurzrasiert und dann bloß ein bisschen was Langes in der Mitte. Wie ein Rattennest.“

Mürrisch schob Jonas ihre Hand weg. „Lass den Scheiß, Mama. Ich bin doch kein kleines Kind mehr.“

„Und du wirst trotzdem darauf achten, wie du mit uns sprichst.“ Jonas‘ Vater lehnte am Türrahmen, klopfte Staub von seinen Händen. Weder seine kräftige Statur, noch die rotblonden Haare hatten sich bei seinen drei Kindern durchgesetzt und Jonas hoffte inständig, dass das auch für die Neigung zur Glatzenbildung galt, die im vergangenen Jahr sehr deutlich geworden war.

„Sorry, Papa“, murmelte er zerknirscht, rief sich in Erinnerung, dass er nur noch wenige Minuten durchhalten musste. Bald wären die beiden auf dem Weg in ihr winziges, bayerisches Dorf und er befreit von jeder elterlichen Zurechtweisung. „Also … dann macht’s mal gut.“

Unschlüssig standen seine Eltern im Hausgang, schienen ihr ältestes Kind nicht sich selbst überlassen zu wollen. Jonas keuchte auf, als er sich unerwartet in einer zweifachen Umarmung wiederfand, der Kopf seiner Mutter an seine Brust, der seines Vaters an seine Schulter gelehnt. Wann war er über sie hinausgewachsen?

Zu seiner eigenen Überraschung, drückte Jonas seine Eltern fest an sich, wurde, nun, da der definitive Abschied nahte, doch noch von seinen Gefühlen übermannt. „Kommt gut heim, ja?“

„Aber ja“, versicherte sein Vater. „Und du passt auch gut auf dich auf. Berlin ist ein ganz anderes Pflaster als unser Dörfchen.“

„Ich verstehe immer noch nicht, weshalb du gleich ans andere Ende Deutschlands ziehen musst.“ Die Stimme seiner Mutter war tränenschwanger.

„Ich hab nun mal bloß in Berlin ‘nen Studienplatz bekommen“, erwiderte Jonas und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie froh er darüber war.

„Und dann noch diese voreilige Trennung von Maria. Das arme Mädchen ist sicher am Boden zerstört“, redete seine Mutter weiter, vielleicht, um sich nicht anmerken zu lassen, dass erste Tränen über ihre Wangen rollten. „Als wolltest du alle Brücken hinter dir abbrechen.“

„Das will ich ganz sicher nich‘!“, beteuerte Jonas. Er hörte Schritte im Gang, schaffte es aber nicht, sich aus der Umarmung zu lösen, bevor bereits ein böswilliges Kichern erklang, gefolgt von einem undeutlichen Murmeln, das sich verdächtig nach ‚Muttersöhnchen‘ anhörte. Ein Schlüssel klickte, die Musik aus der Nachbarwohnung wurde lauter, dann schloss sich die Tür mit einem Knall und dämpfte den Lärm wieder.

Resolut schob Jonas seine Eltern von sich. „Ihr geht jetzt lieber. Den Rest schaff ich schon ohne euch.“

„Komm noch mit zum Auto“, bat sein Vater. „Wir haben da eine kleine Überraschung für dich.“

Die silbrige Oberfläche glänzte matt im künstlichen Licht, Jonas‘ Finger fuhren über das wohlbekannte Firmenlogo. „Danke.“ Das Wort klang lahm in seinen Ohren, aber mehr brachte er nicht heraus.

„Dein jetziger Laptop war doch schon alt als du ihn von Maria bekommen hast und wir dachten, fürs Studium könntest du etwas Neues brauchen.“ Sein Vater schlug die Kofferraumtür zu.

„Danke“, wiederholte Jonas.

„Gern geschehen, Spatz“, sagte seine Mutter. „Wir sind sehr stolz auf dich.“

Weitere Umarmungen, mahnende Worte und Abschiedstränen folgten, bevor Jonas endlich allein in seinem frisch eingerichteten Reich war. Sein Blick huschte über das schmale Bett, die winzige Küchenzeile, den alten Holztisch seiner Eltern. Vor dem Fenster stand sein neuer Schreibtisch, an der Wand daneben ein zweitüriger Schrank. So wenig und dennoch war damit sämtlicher Platz aufgebraucht. Der Boden war mit Kartons vollgestellt, in denen sich Bücher, Comics, Fotografien, Kleidung und anderer Kram stapelten. Jonas hatte vieles mitgenommen und noch mehr zurückgelassen.

Sanft legte er sein neues Notebook auf dem Bett ab, direkt neben seine geliebte Lederjacke und die günstige, aber treue Digitalkamera, die er vor Jahren zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Nach kurzem Abwägen, machte er sich ans Auspacken. Vermutlich war es sinnvoll, wenigstens dafür zu sorgen, dass er sich am nächsten Morgen nicht im Halbschlaf durch bergeweise Kartons wühlen musste, um überhaupt das Haus verlassen zu können.

Schwarze Kapuzenpullis wanderten in Jonas‘ Kleiderschrank, dicht gefolgt von Shirts mit bekannten und unbekannten Kunstaufdrucken, Röhrenjeans und Boxershorts. Die Hemden, auf die seine Mutter bestanden hatte, verschwanden in einem der obersten Fächer, der von seiner Oma gestrickte Wollpulli erhielt einen Ehrenplatz am Kleiderbügel, auch, wenn Jonas ihn vermutlich nie tragen würde. Zehn Minuten und zwei leere Kartons später, entschied er, für heute genug getan zu haben.

Jonas schnappte sich seine Kamera und kletterte auf den unter seinem Gewicht ächzenden Schreibtisch. Zwei Tage vor seiner Abreise hatte er in mühevoller Handarbeit Fotos ausgeschnitten, sie in kleine Plexiglasanhänger gestopft und diese an den weißen Vorhängen befestigt, die nun das Fenster einrahmten. Jonas‘ Eltern, seine Großmutter, seine beiden Schwestern Christine und Vroni; Maria, die lieber alleine in München studierte als mit ihm in Berlin und Clemens, sein Kindheitsfreund, dem er seit Jahren aus dem Weg ging, ohne sich ganz von ihm lösen zu können – sie alle lächelten Jonas entgegen und brachten ein kleines Stück Heimat in die Fremde.

Nach langen Sekunden wandte Jonas‘ seinen Blick von der Vergangenheit ab und der Zukunft zu. Grelle Reklametafeln bewarben die an der Straße aufgereihten Lokale, ein Plattenbau, der sich in nichts von dem Haus unterschied, in dem Jonas die nächsten vier Jahre leben sollte, versperrte die Aussicht.

War Jonas‘ Geburtsort von zartem Grün überzogen, pulsierte in Berlin Neonlicht durch tristes Grau. Schwungvoll stieß er das Fenster auf, atmete abgasgeschwängerte Luft und brüllte seine Ekstase nach draußen. „HALLO BERLIN!“

„HALT DIE SCHNAUZE!“ Offensichtlich teilte einer seiner Nachbarn Jonas‘ Enthusiasmus nicht.

Der ließ sich davon allerdings nicht beeindrucken, hüpfte zurück auf den Teppich und startete sein Notebook. Das Alte, das bereits mit dem WLAN verbunden und startklar war.

Endlich war er allein, konnte tun und lassen was er wollte, ohne irgendjemandem Rechenschaft ablegen zu müssen.

Endlich konnte er sich entfalten, befreit von den konservativen Ketten seines Dorfs.

Endlich konnte er in Ruhe wichsen, ohne Gefahr zu laufen, dass jemand in sein Zimmer platzte.

Bald dröhnte kehliges Stöhnen durch Jonas‘ Kopfhörer, auf dem im Dunkeln glimmenden Bildschirm gab sich ein Mann einem anderen bedingungslos hin.

Endlich brauchte Jonas nicht mehr zu fürchten, dass seine Familie von seiner Homosexualität erfuhr.

Kapitel 1

Was letzte Mal geschah

Jonas hat seinem Geburtsort den Rücken gekehrt und ist fürs Studium nach Berlin gezogen. Dort hat er einen ersten Eindruck bei den Nachbarn hinterlassen, seine Eltern zum vorläufig letzten Mal umarmt und sich mithilfe schneller Internetverbindung und exhibitionistisch veranlagter Kerle kräftig einen von der Palme gewedelt.

 

Kapitel 1

Der Duft nach frisch aufgebrühtem schwarzem Tee umwehte Jonas‘ Nase. „Hier, Frau Kleiber. Assam, kein Zucker, etwas frische Milch.“ Er stellte die Tasse auf dem Tisch ab, an dem soeben ein älteres Ehepaar platzgenommen hatte. „Ihr Kaffee kommt gleich, Herr Kleiber. Wir haben heut übrigens ‘nen wunderbaren Himbeerkuchen. Ich durfte schon ‘n Stück, ähm, nennen wir es ‚vorkosten‘.“ Von Jonas‘ erstem Arbeitstag an, kam das Ehepaar Kleiber jeden Nachmittag in das kleine Café, bestellte Tee und Kaffee und fragte nach dem Kuchenangebot des Tages.

„Ach, Jonas, Sie sind wirklich eine echte Perle“, lobte Frau Kleiber, nachdem sie vorsichtig an ihrem Tee genippt hatte. „Willie und Helga haben so ein Glück, Sie gefunden zu haben.“

Verlegen winkte Jonas ab. „Ich mach doch bloß meinen Job.“ Mal ganz davon abgesehen, dass Frau Kleiber ihn an seinem ersten Tag dreimal zurück in die Küche geschickt hatte, weil der Tee nicht perfekt zubereitet gewesen war. Das Wasser war zu heiß, das Wasser war zu kühl, der Tee zulange gezogen, nein, selbst aufgießen würde sie ganz sicher nicht. Eine ‚echte Perle‘ war man bei ihr vermutlich schon dann, wenn man in den vierten Versuch nicht hineinspuckte und anschließend kündigte. „Soll ich Ihnen zwei Stück vom Himbeerkuchen bringen?“, fragte Jonas mit seinem geduldigsten Lächeln.

„Bitte, tun Sie das.“

Jonas eilte zur Theke, machte sich daran, zwei großzügige Kuchenstücke abzuschneiden und nickte einem anderen Gast zu, der ihm signalisierte, zahlen zu wollen.

„Jonas, du bist ja noch da.“

Die brummige Stimme seines Chefs ließ ihn zusammenzucken. „Wo sollt ich denn sonst sein?“

„Musst du nicht zur Uni? Deine Schicht ist seit einer halben Stunde vorbei.“

„Was?“ Panisch holte Jonas sein Handy aus der Tasche, warf einen Blick auf die Uhrzeit. „Fuck, das hab ich völlig übersehen. Ich, ähm, ich kassier noch schn–“

„Jetzt geh schon“, wies sein Chef ihn an.

„Wir haben meine Schichten für nächste Woche noch nich‘ geklärt!“

„Ruf nach der Uni einfach kurz durch. Oder morgen, das reicht auch noch. Jetzt geh, du willst dein Studium doch nicht schon im ersten Semester vergeigen.“

Dankbar schlüpfte Jonas nach hinten, entledigte sich seiner Schürze und tauschte das dunkle Hemd gegen Kapuzenpulli und Lederjacke. Hastig eilte er zum Ausgang, drehte sich an der Tür jedoch noch einmal um und winkte. „Bis nächste Woche!“

Jonas stürzte durch den kühlen Herbstregen, trampelte blind durch Pfützen, trat in der eindeutig zu langsamen Bahn ungeduldig auf der Stelle, hetzte die letzten Meter zur Uni und die viel zu vielen Stufen nach oben, bis er abrupt vor dem Vorlesungssaal stoppte. Dort holte er einmal tief Luft, bevor er möglichst leise durch die Tür schlich. Glücklicherweise ließ sich der Dozent durch die Störung nicht aus der Ruhe bringen und fuhr mit seinem Vortrag fort, als hätte er Jonas‘ Existenz gar nicht registriert. Nach kurzer Suche strebte Jonas zielgerichtet auf die hintere Reihe zu, in der er gewellten Himmel, goldene Locken und schwarze Seide entdeckt hatte.

„Hey! Hab ich was verpasst?“, fragte er flüsternd die drei Kommilitonen, die er nach den ersten Wochen am ehesten als seine Freunde bezeichnen konnte.

Esther, gepierct, tätowiert, mit prächtig blau gefärbten Haaren, schüttelte den Kopf. „Nicht wirklich.“

„Ist bis jetzt stinklangweilig“, fügte Larissa hinzu. Ein wenig zu laut. Ausgehend von dem Zucken ihres Dozenten, war ihr Kommentar problemlos bis in die vordersten Reihen zu hören gewesen.

Kemal hüllte sich wie immer in Schweigen und Jonas entschied, es ihm für den Rest der Vorlesung gleichzutun.

„Maaan!“ Larissa streckte sich genüsslich. „Man sollte meinen, nach zwölf Jahren Schule wäre ich an die lange Sitzerei gewöhnt, aber hier ist das irgendwie noch schlimmer. Zum Glück haben wir sonst hauptsächlich Seminare, sonst würde ich echt eingehen. Keine Ahnung, wie meine Mitbewohnerin ihr Studium packt. Wer studiert denn bitte freiwillig Maschinenbau?“

Das kleine Grüppchen stand im Gang vor dem Vorlesungssaal, versperrte den Weg für genervt vorbeieilende Studenten.

„Hatte ich eigentlich schon erzählt, dass es ein paar meiner Graffitis in die Zeitung geschafft haben?“, fuhr Larissa fort, als sich niemand besonders für das Studium ihrer Mitbewohnerin zu interessieren schien.

„Echt?“ Neugierig neigte Esther den Kopf, um einen Blick auf das Foto des Zeitungsartikels erhaschen zu können, das Larissa auf ihrem Handy herumzeigte. „Das ist ja toll.“

„Ach, naja, ich hatte sie halt taktisch gut platziert und in meinem Heimatort ist Streetart noch eher unbekannt“, antwortete Larissa bescheiden. „Hier in Berlin würde kein Hahn danach krähen.“

„Trotzdem klasse! Ich war schon stolz, als eines meiner Bilder einen regionalen Oberstufenwettbewerb gewonnen hat. ‚Bestes Acrylgemälde Nordrhein-Westfalens‘. Klingt schon irgendwie bescheuert.“

„Immer noch besser als ‚bestes Webdesign des Wettbewerbs für Schüler der neunten bis zwölften Klassenstufe des Saarlands‘“, warf Kemal ein. „Wir hatten wahrscheinlich so drei Leute, die überhaupt daran teilgenommen haben.“

Die anderen lachten.

„Ich geh mal kurz pissen. Bin gleich zurück.“ Jonas verschwand hinter der Tür der Herrentoilette und atmete einmal tief durch. War er wirklich der einzige in diesem verfluchten Studiengang, der noch keine Preise eingeheimst hatte, bevor er überhaupt Laufen konnte? Frustriert stellte er sich an eines der Pissoirs, weit entfernt von dem einzigen anderen Studenten im Raum. ‚Charly‘ war ebenfalls in ihrem Studiengang, aber abgesehen von einem kurzen ‚Hallo‘ an ihrem ersten Tag, hatten sie zu Jonas‘ Bedauern noch kein Wort miteinander gewechselt. Im Gegensatz zu Jonas, der stets bemüht war, seine sexuelle Orientierung so gut wie möglich zu verbergen, schien Charly mit sämtlichen Klischees zu kokettieren. Seine Stimme war unnatürlich hoch, er lispelte ein wenig und das Innere seines Schranks musste nach Narnia führen, nur, dass die Weiße Hexe jetzt die Pinke Queen war, die überall Glitzerstaub statt Schnee verteilte. Zu gerne hätte Jonas Charly näher kennengelernt, doch er traute sich nicht, den ersten Schritt zu machen.

„Wenn du noch länger starrst, verlange ich Geld dafür.“

„Was?“ In Gedanken versunken hatte Jonas überhaupt nicht bemerkt, dass sein Blick fest auf Charlys Gesicht geheftet gewesen war. Rasch wandte er sich ab. „Sorry.“

„Hast du Angst, dass ich dir was weggucke?“

„Was? Nee, ich …“ Jonas verstummte. Was sollte er schon sagen?

„Keine Sorge, ich bin wirklich nicht verzweifelt genug, um mich im Klo auf wildfremde Minipimmel zu stürzen.“

„Ich wollte nich‘ …“

„Erspar uns beiden deine Ausflüchte“, würgte Charly ihn ab, ging zum Waschbecken und wusch sich die Hände. Bevor die Tür hinter ihm zufiel, konnte Jonas ihn noch ‚Scheiß homophobe Arschlöcher‘ murmeln hören. Frustriert von sich selbst und seiner Feigheit, beendete Jonas, was er angefangen hatte, wusch sich die Hände besonders gründlich, um sicher zu gehen, dass Charly weg war und schlüpfte nach draußen.

„Und?“ Larissa war die Einzige, die auf ihn gewartet hatte. „Welche Laus ist dir so über die Leber gelaufen?“

„Keine“, murrte Jonas unwillig. „Bin bloß müde. Stand seit sieben im Café.“

„Bah, eklig. Das ist doch kein Studentenleben.“ Sie neigte den Kopf, schien nachzudenken. „Eine Freundin von mir hat in einem Club gearbeitet. War wohl ganz zufrieden, hat jetzt aber einen Job in irgendeiner Zeitungsredaktion ergattern können und die suchen aktuell einen Nachfolger für sie. Soll ich mal fragen, ob sie dich weitervermittelt?“

Jonas überlegte. Er mochte das Café und seine Besitzer, aber sie bezahlten gerade so den Mindestlohn und abgesehen von den Kleibers, knauserten die Gäste gerne mit dem Trinkgeld. „Weißt du was? Tu das mal, wenn’s keine Umstände macht.“

 

Die Neonlichter, die in großen, geschwungen Lettern TIX buchstabierten waren ausgeschaltet und die schlichte Stahltür passte sich nahezu perfekt an das mausgraue Gebäude an. Beinahe wäre Jonas an seinem Ziel vorbeigelaufen.

Auch im Club selbst war die Beleuchtung gedämpft, die Tische im hinteren Bereich versanken im Schatten. Jonas‘ nasse Stiefelsohlen quietschten unangenehm laut auf dem frisch gewischten PVC-Boden. Es war ungewohnt, einen beliebten Szene-Club so menschenleer zu sehen und es dauerte einen Moment, bis Jonas die dunkel gekleidete Gestalt entdeckte, die auf einem der Barhocker an der Theke platzgenommen hatte. Sie war so auf das Tablet in ihrer Hand konzentriert, dass sie sein Eintreten noch nicht bemerkt hatte.

„Ähm, hi.“ Jonas hatte nicht wirklich laut gesprochen, aber der leere Raum warf seine Stimme von den Wänden zurück.

Der Mann an der Bar blickte nicht auf, schien ihn jedoch gehört zu haben. „Jonas Staginsky, nehme ich an?“

„Japp.“

„Setzen Sie sich.“ Er deutete auf den Hocker neben ihm.

Als Jonas näherkam, konnte er das Gesicht des Mannes besser erkennen. Er war überraschend jung; vielleicht Anfang dreißig. Seine blonden Haare waren zu einem nachlässigen Knoten gebunden, mit seinen Wangenknochen hätte man Glas schneiden können und über seiner geraden Nase funkelten Augen, deren Farbe Jonas im schummrigen Licht nicht ausmachen konnte. Seine Schultern waren breit, die Hände, mit denen er noch immer das Tablet hielt gepflegt, die Finger lang und feingliedrig. Der Typ sah gut aus und alles an seinem Verhalten sprach dafür, dass er das wusste.

„Sie sind zu spät.“ Eine Stimme wie samtenes Tuch über rauem Fels.

„Sorry, hab meinen Bus verpasst.“ Das war eine dreiste Lüge, aber Jonas‘ Gegenüber schien sich ohnehin nicht besonders für ihn zu interessieren.

„Schon gut. Sie sind sowieso der letzte Kandidat für heute.“ Noch immer hatte der Mann keinen Blick für ihn übrig.

Jonas zog den Hocker, den man ihm angeboten hatte ein Stück weg und setzte sich. Er fühlte eine altbekannte Hitze auf seinen Wangen und hoffte, dass die Röte, die sie überzog in diesem Licht nicht zu erkennen war.

„Mein Name ist Erik Kolb“, stellte sich der Mann endlich vor. „Ich bin der kaufmännische Leiter dieses Clubs.“

„Freut mich, Sie kennenzulernen.“ Okay, das hatte genauso auswendig gelernt geklungen, wie es war.

Zum ersten Mal blickte Kolb auf und musterte Jonas eingehend. Nichts ließ erkennen, was er über seinen Bewerber dachte. „Sie wollen also hier an der Bar arbeiten?“

„An der Bar, an der Garderobe, als Reinigungskraft. Was auch immer mir hilft, die Miete zu zahlen.“

Zum ersten Mal zeigte sich ein schmales Lächeln auf Kolbs Gesicht. „Ah, das überzeugt mich natürlich von Ihrer Motivation für den Job.“

„Ich kann Ihnen auch vorschwärmen, wie erfüllend ich es finde, jeden Abend Betrunkene noch betrunkener zu machen, bis sie auf die Tanzfläche kotzen. Is‘ dann Ihre Sache, ob Sie mir das abkaufen.“ Jonas biss sich auf die Lippe. Sehr gut, so bekam man Jobs. Immer schön den Boss anmaulen.

„Haben Sie Erfahrung im Gastgewerbe?“ Kolb hatte offensichtlich beschlossen, Jonas‘ patzige Antwort zu übergehen.

„Meine Eltern haben ‘ne Wirtschaft. Ich kellnere, seit ich ‘ne Halbe tragen kann.“

„Hier in Berlin?“

„Nee, bin erst vor ein paar Wochen fürs Studium hergezogen.“

„Verstehe. Sie studieren …“, Kolb warf einen flüchtigen Blick auf das bläulich leuchtende Display des Tablets, das wohl Jonas‘ ursprüngliche E-Mail an ihn zeigte, „… an der Universität der Künste?“

„Japp.“

„Hm. Standen Sie auch schon mal hinter einer Bar?“

„Nee, jedenfalls nix, was mit dem Club hier vergleichbar wäre. Wir haben natürlich auch Alk ausgeschenkt, aber halt mehr für gutbürgerliche Stammtische und so.“

„Wie sind Sie auf die Stelle hier gekommen? Wir haben sie nicht öffentlich ausgeschrieben.“

„Über die Freundin einer Freundin“, antwortete Jonas ehrlich. „Im Moment jobbe ich in ‘nem Café, aber ich würd lieber nachts arbeiten.“

„Hm …“ Kolb zog das Tablet, das er eben erst zur Seite gelegt hatte wieder zu sich, wischte darauf herum. „Ich setze Sie mal auf die Liste für die engere Auswahl. Wenn alle Gespräche durch sind, melden wir uns noch mal bei Ihnen.“

„Das war’s schon?“, fragte Jonas verstimmt. „Sagen Sie doch gleich, dass Sie mich nich‘ nehmen.“

Kolb hatte nur ein müdes Lächeln für ihn übrig. „Wir haben hier eine hohe Fluktuation. Die meisten Mitarbeiter sind Studenten, die einen Job brauchen, der sich mit den Vorlesungszeiten vereinbaren lässt und aufhören, sobald sie etwas Besseres gefunden haben. Kaum einer macht den Job länger als ein paar Monate. Wir sind deshalb immer froh, für diesen Fall schon ein paar geeignete Kandidaten in der Hinterhand zu haben. Gut möglich, dass wir uns bei Ihnen melden, selbst wenn es dieses Mal nicht gleich mit der Stelle klappt.“ Er stand auf. Das graue Hemd und die dunkle Weste, die er darüber trug, betonten seinen schlanken Oberkörper, der in schmale Hüften überging. „Wir können uns noch den hinteren Bereich ansehen und ich erzähle Ihnen ein bisschen was über die Stelle. Dann wissen Sie schon mal, was auf Sie zukommt, falls wir Sie nehmen.“

Wortlos folgte Jonas Kolb durch eine unscheinbare Tür in einen Gang, der zur Abwechslung hell erleuchtet war. Das kalte Licht stach in Jonas‘ Augen und er blinzelte.

Kolb deutete zum anderen Ende des Gangs. „Dort hinten ist das Büro der Clubbesitzerin, die Tür rechts davon ist meines. Das hier links ist der Aufenthaltsraum für die Mitarbeiter.“ Der Raum war klein, aber gemütlich. Wild zusammengenwürfelte Hocker und Stühle, eine Garderobe mit Schließfächern, ein Kühlschrank und eine Kaffeemaschine hatten irgendwie ihren Platz darin gefunden.

„Gleich hier“, Kolb öffnete die Tür neben einem Lastenaufzug, hinter der sich eine breite Steintreppe verbarg, „ist der Lagerraum.“ Er ließ Jonas den Vortritt. Vorsichtig stieg dieser die ungewohnten Stufen hinab; mit jedem Schritt wurde es kühler, bis er sich selbst dafür verfluchte, seine Jacke zuhause gelassen zu haben.

Das flackernde Licht beleuchtete mit diversen Spirituosen gefüllte Regale. Im hinteren Bereich stapelten sich Getränkekisten und einige Kartons mit Orangen, Zitronen und Limetten. Jonas wusste nicht, was er erwartet hatte, im Großen und Ganzen unterschied sich der Lagerraum kaum von dem seiner Eltern. Er drehte sich um.

Kolbs Körper blockierte die Tür, sein Gesicht lag im Halbschatten, sodass Jonas nur die vornehm geschwungenen Lippen erkennen konnte, auf denen ein feines Lächeln lag. Es war schwierig, nicht darauf zu starren wie ein Reh aufs Scheinwerferlicht.

„Wie stehen meine Chancen, die Stelle zu bekommen?“, wollte er wissen, hauptsächlich, um sich abzulenken. „Also keine Warteliste und so ‘n Schei–“, Jonas räusperte sich, „Schrott, bei dem ihr euch dann irgendwann meldet, wenn ich längst mitm Studium fertig bin.“

„Ganz ehrlich?“ Kolb musterte ihn, wägte seine Worte ab. „Ihre Referenzen sind nicht schlecht, aber wir suchen im Moment nur eine Kraft und es gibt zwei oder drei Bewerber, die deutlich mehr Erfahrung speziell in diesem Bereich mitbringen. Allzu große Hoffnungen sollten Sie sich nicht machen.“

Jonas unterdrückte einen obszönen Fluch. Die Stelle wäre der Jackpot gewesen. Der Club war keine zehn Minuten von seiner Wohnung entfernt und der Stundenlohn deutlich besser als alles, was man ihm bisher angeboten hatte. Andererseits: Wollte Jonas wirklich mit Kolb zusammenarbeiten? Er war nicht unfreundlich, aber zumindest distanziert und eher kühl; wirkte wie ein Mann, der stets die Kontrolle behielt. Eine Wesensart, die Jonas leider recht anziehend fand und für seinen Chef zu schwärmen, war eine Peinlichkeit, auf die er gut verzichten konnte.

Kolbs Stimme riss ihn alsbald aus seinen nicht mehr gänzlich jugendfreien Gedanken. „Die endgültige Entscheidung liegt allerdings nicht bei mir, sondern bei der Besitzerin.“

„Scheiße, da hätte ich mir meinen ganzen Charme ja sparen können“, erwiderte Jonas frech. Jetzt war es ja auch schon egal.

„Mein Glück, dass Sie es nicht getan haben.“

Dieser nonchalant vorgetragene Satz brachte Jonas für einen Augenblick aus der Fassung. Kolbs süffisantes Lächeln ebenfalls.

Sie nutzten mir aber nix!“ Jonas hoffte inständig, dass Kolb das kurze Zögern vor seiner Erwiderung nicht bemerkt hatte.

„Ah, ein Opportunist. Schade für mich.“ Kolb trat einen Schritt zur Seite und gab die Treppe frei. „Ich lege dennoch ein gutes Wort für Sie ein.“

Bevor sich Jonas darüber klarwerden konnte, ob das eben ein kleiner Flirt gewesen war, oder sein hormonverseuchtes Hirn ihm einen Streich gespielt hatte, stand er bereits im Regen, die Tür des Clubs fest verschlossen.

Kapitel 2

Was zuletzt geschah:

Jonas hat die ersten Wochen in Berlin genutzt, um sich in der fremden Stadt einzuleben und neue Kontakte zu knüpfen. Neben dem Besuch seiner Vorlesungen und Seminare, bewirtet er in einem kleinen Café anspruchsvolle Gäste für den Mindestlohn und verprellt Kommilitonen, weil er ihnen auf der Toilette zu lange ins Gesicht starrt. Larissas Angebot, ihm ein Vorstellungsgespräch in einem Club zu vermitteln, ist eine willkommene Abwechslung aus dem jetzt schon eingetretenen Alltagstrott, allerdings verläuft das Gespräch nicht ganz so, wie er sich das vorgestellt hatte.
 

Kapitel 2

Winzige Regentropfen leuchteten im Licht der Neonröhren auf, bevor sie die Erde benetzten.

„Och komm schon, Jonas!“ Larissa zerrte an dessen Arm. „Warum denn nicht ins Tix? Da ist’s echt geil!“

„Ich mag halt nicht“, murrte Jonas ausweichend. Er hatte sich so auf den Abend gefreut. Tanzen, feiern und saufen. Kurzum, das Studentenleben genießen, aber natürlich wollten seine Freunde ausgerechnet ins Tix. Als ob Berlin keine anderen Clubs zu bieten hatte.

„Hattest du dich da nicht beworben?“ Mist. Warum musste sich Kemal alles merken? Nicht einmal Larissa schien sich daran zu erinnern, dabei hatte sie ihm das Gespräch überhaupt erst vermittelt.

„Jaah, schon irgendwie.“

„Dann haben sie dich nicht genommen?“

„Nee. Haben mir angeboten, mich auf die Warteliste zu setzen, aber das wollt ich dann echt nicht.“

„Pah!“ Larissa schnaubte. „Die haben doch keine Ahnung, wer ihnen da entgeht! Komm, wir gehen da jetzt hin, machen richtig fett Party und du freust dich darüber, nicht auf der anderen Seite der Bar stehen zu müssen!“

„Hab ich überhaupt ‘ne Wahl?“ Kraftlos ließ sich Jonas schrittweise von Larissa zur hell erleuchteten Tür ziehen.

„Absolut keine!“, bestätigte diese seine Vorahnung.

„Jedenfalls nicht, wenn du weiter Teil unserer supercoolen Clique sein willst“, bekräftigte Esther grinsend.

Jonas rollte mit den Augen. „Allein, dass du das Wort ‚supercool‘ verwendest, macht dich zu so einem unglaublichen Nerd.“

„Weniger meckern, mehr saufen!“ Esther legte einen Arm um seine Schultern und half Larissa, ihn über den Gehweg bis vor den imposanten Türsteher zu schleifen.

Leise seufzend zahlte Jonas den Eintritt, schielte auf die verbleibenden Euroscheine in seinem Geldbeutel und überschlug rasch, wie sehr er sich betrinken konnte, ohne den Rest des Monats von Nudeln mit Ketchup leben zu müssen.

Gut gefüllt und passend ausgeleuchtet, machte das Tix deutlich mehr Eindruck als an dem Nachmittag seines Vorstellungsgesprächs. Kein House, sondern rockige Indie-Mukke dröhnte über die Tanzfläche, auf der Jonas spontan gleich zwei Kerle entdeckte, die seinem Beuteschema entsprachen.

„Na, haste dir schon Eine ausgeguckt?“ Larissa steuerte einen kleinen Bartisch an, der wie ein Wunder noch frei war.

„Nee, so schnell geht das bei mir nicht“, flunkerte Jonas. Ihre Annahme, er würde hier nach Frauen suchen, korrigierte er nicht. „Ich hol uns mal was zu trinken.“ Halb tanzend, halb drängelnd, arbeitete er sich zur Bar vor und beobachtete die ausgelassen Feiernden, bis ihm der Barmann seine Aufmerksamkeit schenkte.

„Was darf es denn sein?“

Jonas drehte den Kopf, um ihn zu antworten und stockte. Fuck!

Auch Kolb schien überrascht, Jonas wiederzusehen, aber nach der ersten Schrecksekunde verzog sich sein Mund zu einem süffisanten Lächeln.

Aller Bemühungen zum Trotz, konnte Jonas die Bilder, die sofort vor seinem inneren Auge aufstiegen nicht vertreiben. Sie hatten keine Viertelstunde miteinander verbracht, und doch hatte sich Kolb erfolgreich in Jonas‘ Fantasie geschlichen, ihn sogar bis in seine Träume verfolgt.

Kolb, der mit undurchschaubarer Miene vor ihm stand und mit seiner samtenen Stimme verkündete, was er von ihm erwartete. Kolb, dessen athletischer Körper seinen Worten Nachdruck verlieh. Kolb, der Jonas an seine Grenzen und darüber hinausbrachte. Ihn mit dem Hauch eines Lächelns für seine Hingabe belohnte.

Der echte Kolb zog fragend eine Braue nach oben. „Also?“

„Vier … Vier Wodka-Bull“, stammelte Jonas.

„Hm?“ Kolb tippte gegen sein linkes Ohr, um zu signalisieren, dass er ihn über den Krach nicht verstehen konnte und Jonas bemerkte um ersten Mal die beiden winzigen, silbernen Stecker darin. Einen Augenblick lang starrte er wie hypnotisiert darauf, bevor er sich erinnerte, weshalb er überhaupt mit Kolb sprach. „Wodka-Bull!“, brüllte er, dieses Mal viel zu laut. „Vier!“ Zur Verdeutlichung hielt er vier Finger in die Höhe.

Kolb nickte. „Tut mir leid, dass es mit der Stelle nicht geklappt hat!“, rief er, während er die Gläser mit Eis füllte.

„Passt schon.“ Wieder zu leise, aber Kolb schien zumindest die Essenz seines Satzes begriffen zu haben. Lauter fragte Jonas: „Warum stehen Sie an der Bar? Das ist doch sicher nicht Ihr Job!“

„Krankheitsausfall!“

„Kein Ersatz?“

Kolb schüttelte den Kopf, kippte Wodka in die Gläser. Eine gute Mischung. „Zu kurzfristig.“

„Ich hätte Zeit gehabt!“

Das entlockte Jonas‘ Gegenüber ein Lächeln, jedoch keinen Kommentar. „Hier.“ Kolb stellte die vier Gläser und Dosen auf den Tresen. „Macht zwanzig Euro.“

Das war günstig und dennoch war damit die Hälfte von Jonas‘ Budget verbraucht, selbst, wenn er auf Trinkgeld verzichtete. Was er nicht tat, denn er wusste sehr genau, wie hart dieser Job sein konnte.

Jonas überreichte Kolb das Geld und schnappte sich die insgesamt acht Getränke. Wenn er es schaffte, sie heil an ihren Platz zu balancieren, gab er Kolb vielleicht einen weiteren Grund zu bedauern, ihn nicht eingestellt zu haben. Falls er es schaffte. Bei seinem Glück würde er sich gleich mächtig auf die Fresse legen.

Bevor ihn das Getümmel auf der Tanzfläche vollends verschlingen konnte, warf Jonas einen Blick zurück. Mehrere Gäste an der Bar versuchten verzweifelt, Kolbs Aufmerksamkeit zu erregen, aber der hatte nur Augen für Jonas. Er lächelte.
 

„Fuck, ich muss pissen!“ Jonas gestikulierte grob in Richtung der Toiletten, war sich aber nicht sicher, ob Kemal und Esther ihn überhaupt bemerkt hatten. Sie waren völlig in die Musik versunken, lachten, hüpften, ließen ihre Hüften gegeneinanderprallen und schienen den Spaß ihres Lebens zu haben. Larissa war schon vor einiger Zeit mit einem Typen abgezogen, den sie an der Bar aufgerissen hatte.

Ein wenig schwerfällig tapste Jonas zu der Treppe, die zu den ein Stockwerk tiefer gelegenen Toiletten führte. Kolbs großzügige Mischung hatte ganze Arbeit geleistet und die drei Bier, die ihm seine Freunde im Anschluss ausgegeben hatten, waren auch nicht hilfreich gewesen. Desorientiert starrte er auf die drei Türen vor ihm, brauchte einen Augenblick, bis er ihre Beschriftung dechiffriert hatte. Kreis mit Kreuz nach unten: Frauen. Privat: Nun ja, privat eben. Kreis mit Pfeil nach oben: Da wollte er hin.

Die Toiletten waren verhältnismäßig sauber. Dem Geruch nach zu urteilen, war dem einen oder anderem Gast im Laufe des Abends der Alkohol nicht ganz bekommen, aber immerhin holte sich Jonas keine nassen Füße oder musste sich demnächst auf diverse Krankheiten testen lassen.

Nachdem er seine Blase entleert hatte, ließ Jonas kaltes Wasser über Hände und Handgelenke laufen und verrieb einige Tropfen auf seinen Schläfen. Mit etwas weniger Nebel im Kopf, starrte er auf sein Spiegelbild. Seine Augen waren gerötet, seine Haare zerzaust und seine Klamotten saßen nicht ganz so, wie sie sollten. Alles in allem sah man ihm an, dass er einen guten Abend hatte.

Zufrieden verließ er die Toiletten und rempelte beinahe einen anderen Kerl um. „Ups, sorry!“

„Schon gut.“

Zum zweiten Mal an diesem Abend, blickten sich Jonas und Kolb überrascht an. Kolb musste gerade aus der Privat-Tür, hinter der sich vermutlich die Toilette für Angestellte verbarg gekommen sein.

„Sorry“, wiederholte Jonas verlegen.

Kolb verschränkte die Arme, zeigte aber ein amüsiertes Lächeln. „Wenn wir uns weiterhin so oft über den Weg laufen, sollte ich vielleicht meine Meinung zum Schicksal überdenken. Oder mich über Stalking informieren.“

Alkohol, Euphorie und Hormone taten Jonas keinen Gefallen. Ohne darüber nachzudenken, schnellte er nach vorne und küsste Kolb. Seine Lippen streiften lediglich dessen Mundwinkel und bevor er die Chance hatte, seinen Fehler zu korrigieren, schob Kolb ihn sanft von sich. „Nicht während ich arbeite. Nicht, wenn du betrunken bist.“ Er gab Jonas nicht die Zeit für eine Erwiderung, drückte sich an ihm vorbei und eilte die Treppen nach oben.

Jonas ließ sich gegen die kühle, geflieste Wand hinter ihm sinken, versteckte sein Gesicht in den Händen. Verfickte Scheiße! Was zur scheißbeschissenen Hölle hatte er sich dabei gedacht? Einen fremden Typen zu küssen? Einfach so? In der Öffentlichkeit? Jetzt konnte er sich hier endgültig nicht mehr blicken lassen. Vermutlich musste er froh sein, keine Faust in die Fresse bekommen zu haben. Fuck, fuck, fuck! Wenn er jetzt sofort verschwand, war die Gefahr, Kolb in die Arme zu laufen gering, oder? Und falls doch, konnte er sich vielleicht einfach entschuldigen und alles auf den Alkohol schieben?

Wenigstens hatte Kolb keinen Aufstand veranstaltet, sein ‚Nein‘ war sogar verhältnismäßig nett ausgefallen. Jonas schnappte nach Luft.

Kolb hatte überhaupt nicht ‚Nein‘ gesagt. Nur: ‚Nicht so.‘ ‚Nicht jetzt.‘

Mit pochendem Herzen kehrte Jonas auf die Tanzfläche zurück.

Kapitel 3

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Kapitel 4

Was zuletzt geschah:

Nach einem gewaltigen Sprung über seinen Schatten, folgt Jonas Kolb in dessen Wohnung, um dort die Nacht mit ihm zu verbringen, muss aber bald einsehen, dass er mit dieser Aktion mehr abgebissen hat als er kauen kann. Kurz bevor er erstickt, bricht Kolb ab. Enttäuscht und gedemütigt flüchtet Jonas in die Nacht.

 

Kapitel 4

Die Mittagssonne stand hoch am Himmel, aber ein kalter Novemberwind fegte durch die Straßen und riss die letzten bunten Blätter von den Ästen.

Ungeduldig zog Jonas den Reißverschluss seines Anoraks höher, die Finger der Hand mit der er sein Handy hielt waren inzwischen steif und gerötet. „Und jetzt hat der Arsch auch noch meine Lederjacke!“

„Ich weiß, Jonas“, entgegnete die geduldige Frauenstimme am anderen Ende der Leitung. „Das hast du mir jetzt schon dreimal erzählt. Mindestens. Genaugenommen jedes Mal, wenn wir miteinander telefoniert haben und das haben wir ziemlich oft getan.“

Jonas öffnete den Mund zu einer Erwiderung, schloss ihn aber rasch wieder. Wenn er es geschafft hatte, selbst Maria mit seiner Litanei über den schiefgelaufenen One-Night-Stand mit Kolb zu nerven, musste er das Thema tatsächlich arg breitgetreten haben. Während er an einer roten Ampel wartete, schielte er auf das Display seines Handys, um zu sehen, wie lange sie schon miteinander telefonierten. Die Antwort lautete: Lange. „Sorry. Ich hör jetzt damit auf.“ Die Ampel sprang auf Grün und er überquerte die Straße. „Wie läuft’s denn bei dir?“

„Abgesehen davon, dass ich mich wie der dümmste Mensch der Welt fühle, die Leute im Wohnheim Dauerpartys schmeißen und meine Eltern keine Stunde brauchen, um hierher zu fahren und mich zu kontrollieren? Alles super!“

„Ich versteh‘ echt nich‘, warum du nich‘ mit mir nach Berlin gekommen bist. Mathe kannst du doch auch hier studieren.“

„Jo“, bestätigte Maria. „In der Zeit, die ich nicht damit beschäftigt bin, mich mit meinen Eltern um den Unterhalt zu streiten.“

„Aber den müssten sie dir doch so oder so zahlen“, widersprach Jonas, als hätten sie dieses Thema nicht schon hunderte Male durchgekaut. „Völlig egal, ob du jetzt in Berlin oder in München wohnst.“

„Müssten sie. Aber davor würden sie mir so viele Steine wie nur möglich in den Weg legen. Sorry Jonas, ich vermiss dich auch total, aber das ist Stress, den ich mir nicht noch zusätzlich antun will. Außerdem …“ Maria seufzte. „Sie sind immer noch meine Eltern.“

„Das weiß ich“, gab Jonas leise nach. „Du fehlst mir einfach.“

„Du mir auch. Sorry, dass ich nicht bei dir sein kann.“

„Schon gut. Ist ja nicht deine Schuld.“

Maria schnaubte. „Na schön. Du hast dir offiziell die Erlaubnis erarbeitet, mich weiter mit diesem Typen zu nerven, über den du offensichtlich immer noch nicht hinweg bist.“

„Bitte? Scheiße, ich bin sowas von über den Typen weg! Ich muss noch nich‘ mal über ihn wegkommen, weil ich gar nich‘ erst an ihm interessiert war!“

„Klar.“ Jonas konnte Marias Augenrollen hören.

„Fuck. Okay, ich war an ihm interessiert. Er sieht geil aus. Aber das is‘ vorbei, weil der Kerl ‘n übles Arschloch is‘, das ich im ganzen Leben nich‘ mehr wiedersehen will.“

„Hält dich nicht davon ab, über ihn zu reden.“

„Das is‘ ja das Problem!“, rief Jonas aufgebracht. „Ich kann mich nich‘ von ihm ablenken! Es reicht ja nich‘, dass er grad mal zehn Minuten von meiner Wohnung entfernt arbeitet und das ausgerechnet im verfickten Lieblingsclub der anderen, sondern der wohnt auch noch scheißnah an der Uni. Ständig denk ich, ich steh in seiner Straße! Jetzt schon wieder! Hier sieht alles gleich aus, ich find das verfickte Restaurant nich‘, in das die anderen gehen wollten und ich könnt schwören, ich steh direkt vor seiner Tür.“ Jonas stoppte und sah sich um. „Fuck! Fuck, fuck, fuck!“

„Okay …“, sagte Maria vorsichtig. „Dieser Ausbruch war selbst für deine Verhältnisse heftig. Alles okay?“

„Nein! Nichts is‘ okay!“, schimpfte Jonas. „Ich steh‘ wirklich vor seiner verfickten Tür! Ich seh‘ sein verficktes Auto!“

„Tief Luft holen und einfach weitergehen“, empfahl Maria.

„Jaa …“ Aber etwas hielt Jonas‘ Füße am Boden und seinen Blick auf die Eingangstür gerichtet. „Nee, weißt du was, scheiß drauf! Ich klingle da jetzt und hol mir meine Jacke zurück!“

„Tu, was du tun musst, wenn das bedeutet, dass wir demnächst mal wieder über was anderes reden können als dein verkorkstes Liebesleben.“

„Danke für dein Mitgefühl.“

„Jederzeit. Viel Glück.“

Maria legte auf und zusammen mit ihrer Stimme, schwand auch Jonas‘ Selbstbewusstsein. Er hatte Kolbs Namen auf dem Klingelschild entdeckt, stand also definitiv am richtigen Ort, brachte es jedoch nicht über sich, den Knopf zu drücken.

Wütend tigerte er auf und ab. Immer wieder zog die stahlgraue Eingangstür an ihm vorbei. Dieser Arsch! Ohne es zu wollen, sah Jonas Kolbs Gesicht vor sich. Die blitzenden Augen, deren Farbe er noch immer nicht kannte, seine breiten Schultern und die kräftigen Hände, die so genau gewusst hatten, wie sie ihn berühren mussten.

„Fuck!“ Jonas trat eine leere Dose quer über den Gehweg. Er hatte sich geschworen, den Typen nie wieder zu sehen. Und jetzt stand er hier. Vor seiner Haustür.

Nicht, dass er davor von Kolbs Einfluss befreit gewesen wäre. Seit beinahe zwei Wochen waren die Erinnerungen an diese Nacht zu den unmöglichsten Zeiten wieder hochgekommen. Jonas konnte sich nicht auf die Uni konzentrieren, nicht auf seinen Kellnerjob, hatte wiederholt seinen Freunden abgesagt, aus Furcht, sie könnten wieder ins Tix wollen. Nicht einmal in Ruhe wichsen konnte er, ohne Kolbs verfluchte Stimme im Ohr und seinen Geruch in der Nase zu haben. „Fuck!“ Es ging um mehr als seine Lederjacke. Er musste das irgendwie zu Ende bringen.

Einen zögerlichen Augenblick schwebte Jonas‘ Finger über der Klingel, bevor er sie energisch drückte. Wahrscheinlich war Kolb gar nicht da. Es war früher Nachmittag, vielleicht war er einkaufen, oder trieb Sport, oder… Der Summer ertönte.

Jonas stieß die Tür auf und stürmte die Treppen nach oben. Den ersten Stock hatte er schnell erreicht, im Zweiten wurde er langsamer, bis er stehenblieb und sich erst ein Herz fassen musste um die letzten Stufen zu überwinden. Die Tür zu seiner linken Seite war einen Spalt geöffnet, gerade ausreichend, um Kolbs verdutztes Gesicht zu offenbaren.

Beide waren sichtlich überrascht über den Anblick des anderen. Kolb hatte augenscheinlich nicht mit Jonas‘ Auftauchen gerechnet und Jonas hatte nicht damit gerechnet, dass Kolb so völlig anders aussah, als er ihn in Erinnerung hatte. Eher sorgloser Philosophiestudent als knallharter Geschäftsmann. Hemd und Weste hatte er gegen Wollpulli und ausgewaschene Jeans getauscht, sein langes, blondes Haar war offen und zerzaust und er trug eine Brille. Dazu war er vermutlich eine ganze Ecke jünger, als Jonas ursprünglich angenommen hatte.

Kolb war der Erste, der seine Stimme wiederfand. Er strich sich eine Strähne hinters Ohr. „Möchtest du … reinkommen?“

Nach einer kurzen innerlichen Debatte, drückte sich Jonas an ihm vorbei. Fordernd streckte er die Hand aus. „Du hast meine Jacke!“

„Ah, perfektes Timing. Sie lag bis gestern im Tix, weil ich dachte, dass du vielleicht vorbeikommst. Nachdem du nicht aufgetaucht bist, habe ich sie wieder mitgenommen und wollte sie heute ins Fundbüro bringen.“

„Dann kannst du sie mir ja jetzt geben.“

„Hinter dir, an der Garderobe.“

Jonas drehte sich um und lächelte erleichtert, als er seine geliebte Lederjacke entdeckte, die ordentlich und völlig unbeschädigt an einem Kleiderbügel hing. Er konnte es gar nicht erwarten, den langweiligen Anorak, den er übergangsweise getragen hatte dagegen auszutauschen.

„Ich muss mich bei dir entschuldigen“, unterbrach Kolb Jonas‘ Gedanken unvermittelt.

„Was?“

„Ehrlich gesagt hatte ich gehofft, dass du noch einmal vorbeikommst, damit ich dir das sagen kann. Ich bin neulich zu weit gegangen und das tut mir sehr leid. Was auch immer meine Entschuldigung wert sein mag.“

Argwöhnisch musterte Jonas Kolb, fand aber keinen Hinweis darauf, dass dessen Worte nicht ehrlich gemeint waren, oder er sich gar über ihn lustig machte. Im Gegenteil, mit den zerzausten Haaren und der Art wie er nervös über seine Unterarme rieb, wirkte er ein wenig wie ein Welpe, der zum ersten Mal von seinem neuen Herrchen geschimpft worden war.

„Jedenfalls“, setzte Kolb an, nachdem Jonas nach einer Weile noch immer nicht geantwortet hatte, „bin ich froh, dass du hier bist. Ich hatte mir Sorgen gemacht.“

„Du hättest mir ja auch einfach mal nachlaufen können“, brummte Jonas. Kolbs Entschuldigung mochte noch so ehrlich gemeint sein, er war nicht gewillt, ihm so einfach zu vergeben.

„Bin ich“, versuchte Kolb sich zu verteidigen. „Ich dachte, du würdest vielleicht die Nachtlinie nehmen und bin zur Haltestelle, aber du warst nicht da und ich konnte dich auch sonst nirgends finden.“

„Oh.“ Bis zu diesem Zeitpunkt war Jonas nicht bewusst gewesen, dass es in dieser Gegend überhaupt eine Nachtlinie gab. Das hätte ihm einige Zeit des Herumirrens und eine teure, ausgesprochen peinliche Taxifahrt erspart, die damit geendet hatte, dass der Fahrer ungeduldig vor einer Bankfiliale hatte warten müssen, während Jonas Gebete zum Himmel schickte, mit der Abbuchung seinen Dispo nicht zu überziehen. „Fuck.“

„Ich kann nur noch mal sagen, dass es mir sehr leid tut wie der Abend gelaufen ist.“

„Schon gut“, murmelte Jonas plötzlich verlegen. Seine Finger fuhren über das glatte Leder seiner Jacke und er wollte seine Füße zwingen, einen Schritt auf die Tür zuzumachen, aber sie verharrten an Ort und Stelle.

Wieder entstand eine unangenehme Stille und wieder war es Kolb, der sie brach. „Willst du vielleicht etwas trinken?“

„Ähm …“ Nach einer kurzen Bedenkzeit, zuckte Jonas mit den Schultern. Das Mittagessen mit seinen Freunden konnte er sowieso abschreiben und was auch immer ihn erneut zu Kolb getrieben hatte, es fühlte sich nicht an, als hätte er es bereits erreicht. „Von mir aus.“

Als Kolb ihn in seine Küche führte, stoppte Jonas schlagartig. Das war dieselbe Küche, in der er keine zwei Wochen zuvor seinen ersten Schwanz im Mund gehabt hatte; derselbe Küchentisch, über den er sich gebeugt hatte, die Hose bis zu den Knöcheln herunterzogen. Hitze legte sich auf Jonas‘ Wangen. Rasch blickte er sich um, in dem verzweifelten Versuch, sich abzulenken. Die Küche war nett eingerichtet, hell mit farbenfrohen Details. Kolb hatte nicht gelogen, als er gesagt hatte, er würde seine Welt bunt mögen. Zitronenfarbene Vorhänge schirmten den Raum vor allzu neugierigen Augen ab, die dahinterliegende Tür führte auf einen weitläufigen Balkon.

„Ist Cola okay?“, erinnerte ihn Kolbs Stimme wieder an dessen Anwesenheit.

Jonas lehnte sich gegen den kleinen Küchentisch. „Ich nehm, was auch immer du da hast.“

Kolb reichte ihm eine Dose, sich selbst schenkte er eine Tasse würzig riechenden Tee aus einer Thermoskanne ein. „Du hast einen guten Orientierungssinn, wenn du noch so genau wusstest, wo ich wohne.“

Ohne es zu wollen, lachte Jonas. „Nee, wirklich nich‘. Wollt mich eigentlich mit ‘n paar Freunden beim Italiener treffen. Hab mich verlaufen und bin dann irgendwie hier gelandet.“

Kolb musterte Jonas über den Rand seiner Tasse hinweg. „Dann hatte ich wohl Glück.“

„Japp.“ Jonas neigte den Kopf, begegnete Kolbs Blick zum ersten Mal ohne Scheu oder Trotz. „Eigentlich hast du’s nicht verdient, dass ich noch mal auch nur ein Wort mit dir wechsle. Du warst echt ein Arsch.“

Kolb seufzte, offensichtlich verstimmt. „Du warst nicht ganz unschuldig daran.“

„Einen Scheiß war ich!“, rief Jonas und schon war der eben erst abgeflaute Zorn zurück. „Häng das jetzt nicht mir an!“ Er wusste nicht, was ihn mehr ärgerte: Kolbs Vorwurf oder das Wissen, dass er recht hatte.

Kolb trank scheinbar völlig ungerührt einen Schluck Tee, doch als er die Tasse absetzte, hatte sich seine Miene verändert. Plötzlich war da ein harter Zug um seinen Mund, den Jonas bisher noch nicht an ihm gesehen hatte. „Ist dir eigentlich klar, was für ein Risiko du in dieser Nacht eingegangen bist?“

„Oh, bitte!“, höhnte Jonas, aber seine Stimme klang dünn. „Ich war für dich doch genauso fremd, wie du für mich. Du bist also dasselbe Risiko eingegangen.“

„Ich habe keinen völlig Fremden aufgefordert, mich zu vögeln, völlig egal, wie sehr ich jammere.“

Kolbs nüchterne Feststellung nahm Jonas den Wind aus den Segeln und er brachte nicht mehr als ein gemurmeltes Arschloch hervor.

„So weit waren wir schon.“

„Du hättest ja auch einfach ‚Nein‘ sagen können“, presste Jonas schließlich hervor. „Anstatt mitzuspielen und mich noch weiter zu demütigen.“

„Hätte ich und das wäre auch der deutlich bessere Weg gewesen“, räumte Kolb zu Jonas‘ Überraschung ein.

„Wäre es“, erwiderte er bitter.

„Trotzdem …“ Kolb schüttelte den Kopf. „Wenn du an den Falschen geraten wärst … Du hättest ernsthaft verletzt werden können.“

Das war der letzte Tropfen. Jonas sprang auf; hatte genug von Kolbs Belehrungen. „Du hast mich verletzt! Vielleicht nich‘ körperlich, aber …“

„Das weiß ich!“ Frustriert fuhr sich Kolb durchs Haar. „Hör zu, ich … Ich weiß, dass ich dich mit meinem Verhalten verletzt habe. Und es tut mir leid. Wirklich. Mehr als ich in Worte fassen kann. Ich habe überreagiert und es hätte unendlich viele Möglichkeiten gegeben, die Situation besser zu lösen. Du …“, er zögerte, wich Jonas‘ Blick aus. „Du hast mich da an jemanden erinnert. Ich habe wohl versucht, vergangenes Unrecht wiedergutzumachen.“

Jonas kaute auf seiner Unterlippe herum. Wieder wirkte Kolbs Entschuldigung aufrichtig und es war schwierig, auf seinen Zorn zu bestehen. Zudem war ihm, ungeachtet dessen wie sehr er sich in den vergangenen Tagen über Kolbs Verhalten aufgeregt hatte, durchaus bewusst, dass es letztlich er gewesen war, der Mist gebaut hatte. Kolb hatte recht. Er war gefährlich leichtsinnig gewesen und vermutlich wäre er um eine ziemlich unangenehme Erfahrung reicher, wenn Kolb nicht besser auf seine Grenzen geachtet hätte als er selbst. Schließlich seufzte er. „Schon gut. Ich weiß, dass eigentlich ich mich entschuldigen sollte.“

Dieses Mal war es Kolb, der überrascht wirkte. Er zog eine Braue hoch. „Ach ja?“

Jonas trat von einem Fuß auf den anderen, zwang sich, seinen Blick nicht zu senken. „Ich bin erwachsen genug, um zuzugeben, dass ich dich in eine beschissene Situation gebracht und dann auch noch völlig überreagiert hab, als du versucht hast, da irgendwie wieder rauszukommen. Hast ‘n bissl ‘nen wunden Punkt getroffen.“

„Das tut mir leid“, sagte Kolb leise. „Und es tut mir leid, wenn ich dir das Gefühl gegeben habe, nicht ‚Nein‘ sagen zu können.“

„Nee, das … Ach fuck!“ Jonas vergrub das Gesicht in den Händen. „Wie gesagt, war ’n wunder Punkt. Trotzdem hab ich die Scheiße gebaut und nich‘ du. Ich war nur so … so froh, endlich mal … und dann hatte ich Angst, nicht gut genug zu sein und nie wieder …“ Er stöhnte. „Vergiss mein Gelaber einfach. Sorry, dass ich das so verbockt hab und sorry, dass ich dich dafür auch noch angeschnauzt habe.“ Eine Hand auf seiner Schulter ließ ihn endgültig verstummen.

„Ist in Ordnung“, versicherte Kolb. „Einigen wir uns einfach darauf, dass das für uns beide keine Glanzstunde war. Inzwischen habe ich übrigens eine ganze Sammlung solcher Geschichten und in den meisten davon war ich der Depp.“

Jonas war sich nicht sicher, was er von diesem Geständnis halten sollte, honorierte Kolbs Versuch ihn aufzumuntern aber mit einem schmalen Lächeln. Erstaunlich, wie schnell seine sorgsam gepflegte Wut verpufft war.

„Und nur um das klarzustellen“, fuhr Kolb fort, „mal abgesehen vom Ende, hatte ich in der Nacht mit dir eigentlich ziemlichen Spaß.“

„Wirklich?“ Jonas ärgerte sich über die Verblüffung in seiner Stimme.

„Mhm. Nur so als Hinweis, bevor du die nächste Dummheit planst.“

Schnaubend schubste Jonas Kolb zur Seite, konnte aber nichts gegen das Lächeln tun, das sich auf seine Lippen stahl. Mit Jeans und zerzausten Haaren wirkte Kolb plötzlich viel nahbarer als in ihrer gemeinsamen Nacht.

Schweigend standen die beiden in der Küche und nippten an ihren jeweiligen Getränken. Immer wieder huschten Jonas‘ Augen zu Kolb. Nachdem er den ersten Schreck über dessen verändertes Auftreten verdaut hatte, hatte sein Gehirn wieder genug Kapazitäten, darüber zu sinnieren, dass er noch immer verflucht scharf aussah. Ein Gedanke formte sich in Jonas‘ Kopf, aber war sich nicht sicher, ob er den Mut hatte, ihn laut auszusprechen. Die Dose knackte leise, als seine Finger sich zu fest darum schlossen. „Ähm … Hör mal, ich … Ich weiß nich‘ so genau, wie ich das jetzt sagen soll, aber … Könntest du dir vorstellen, das mit uns noch mal zu versuchen?“

Kolb hob die Brauen, aber bevor er die Chance hatte, etwas zu erwidern, winkte Jonas ab. „Ja, ja, ich weiß. Das Ende war ‘ne Katastrophe und … und ich bin nich‘ grad der Erfahrenste, also in Bezug auf One-Night-Stands mit Männern!“, fügte er rasch an, „aber … wenn wir es nur ein klein wenig, ähm, gelassener angehen, dann … dann könnte das doch durchaus Potenzial haben, oder?“

Kolb nahm sich einige Sekunden für seine Antwort und am Ende war sie reichlich unbefriedigend. „Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.“

„Ich auch nich‘“, gab Jonas zu. „Aber ich würd’s ganz gern rausfinden.“

„Ich bin nicht an irgendetwas Ernsthaftem interessiert, falls das deine Absicht ist.“

„Nee, so war das nich‘ gemeint.“ Tatsächlich war Jonas diese Möglichkeit bis eben nicht einmal in den Sinn gekommen. Wie sollte er eine ernsthafte Beziehung vor seiner Familie und seinen Freunden geheim halten? Im gleichen Augenblick fragte er sich, was Kolbs Beweggründe waren, ihm so deutlich klarzumachen, dass das zwischen ihnen, wenn überhaupt, etwas rein Sexuelles werden würde. Zum ersten Mal fiel ihm auf, wie groß die Wohnung für eine Einzelperson war. „Ähm, du bist aber nich‘ vergeben oder so? Mit so ‘nem Scheiß will ich nämlich echt nix zu tun haben.“

„Ich bin Single“, antwortete Kolb mit einem schmalen Lächeln. „Und ich habe nicht vor, das in nächster Zeit zu ändern. Deshalb will ich dir keine falschen Hoffnungen machen.“

Jonas schüttelte den Kopf. „Nee, von meiner Seite aus gibt’s da keine Hoffnungen. Außer auf guten Sex und neue Erfahrungen.“ Einem spontanen Impuls folgend, trat er näher an Kolb heran, stützte die Hände an beiden Seiten dessen Körpers auf der Küchenzeile ab. Als keine Gegenwehr kam, brachte er seine Lippen ganz nah an Kolbs Ohr und flüsterte: „Ich find das nämlich grad ganz nett so.“ Sein Herz raste, aber er zwang sich, scheinbar gelassen eine Antwort abzuwarten.

Kolbs Stimme war eine Erlösung. „Ich auch.“ Seine Worte waren jedoch nichts im Vergleich zu den Händen, die Jonas‘ Hüfte umfassten.

Jonas schaffte es, Kolbs Blick standzuhalten und hoffte, dabei nicht zu grinsen wie der letzte Idiot. Gleichzeitig sehnte er sich nach einer Möglichkeit, unauffällig seine Wangen zu kühlen; sie mussten inzwischen tomatenrot sein. „Und … Ähm … Ich steh drauf, wenn du mir sagst, was ich tun soll und … ich hatte das Gefühl, dass du das auch gar nich‘ so übel fandst. Also … könnten wir das vielleicht ein bisschen ausbauen?“

„Mhm. Vielleicht könnten wir das.“ Kolb seufzte. „Aber nicht jetzt. Ich habe noch einiges zu tun, bevor ich in die Arbeit fahre und sollte mir die Sache ohnehin noch mal durch den Kopf gehen lassen, wenn sich mein Blut nicht gerade zwei Etagen zu tief sammelt.“

Trotz seiner Nervosität lachte Jonas. „Scheiße, du machst die Sache wirklich spannend.“

„Damit wirst du leben müssen.“ Sanft schob Kolb Jonas zur Seite. „Gib mir deine Nummer, dann melde ich mich bei dir.“

„Pff, gib du mir doch deine Nummer und ich meld mich dann bei dir.“ Als hätte er es heraufbeschworen, vibrierte das Handy in seiner Tasche und kündigte eine Nachricht an. Jonas warf einen verstohlenen Blick darauf. Sie war von Maria.

 

Maria, 12:43 Uhr

Alles okay bei dir? Es dauert doch keine halbe Stunde, so eine Jacke zu holen …

 

Rasch tippte er eine Antwort.

 

Du, 12:44 Uhr

alles gut. bin noch da. meld mich später.

 

„Sorry, besorgte Ex-Freundin“, erklärte er Kolb und genoss die Überraschung, die in dessen Zügen aufflackerte zu sehr, um weitere Erklärungen zu liefern. „Also, jetzt wo ich das Ding schon in der Hand hab, kannst du ja mal deine Nummer rausrücken.“

Ohne weitere Proteste, diktierte Kolb seine Telefonnummer, aber als Jonas seinen Namen einspeichern wollte, stockte er. In Gedanken hatte er ihn seit dem Vorstellungsgespräch immer mit Nachnamen angesprochen, aber angesichts der jüngsten Ereignisse erschien ihm das nun doch ein wenig formell. Nur wie zum Teufel …

„Erik“, half Kolb, dem Jonas‘ Ratlosigkeit offenbar nicht entgangen war, belustigt aus.

„Das wusste ich!“

Kolb, nein Erik, ließ ein raues Lachen hören, das ein Prickeln über Jonas‘ Haut sandte.

„Ich klingle dich an, dann hast du meine auch“, versuchte er das Thema zu wechseln.

„Ausgezeichneter Plan, Jonas Staginsky.“

„Angeber.“ Nachdem er sicher war, dass Erik seine Nummer eingespeichert hatte, steckte er sein Handy weg und tauschte den langweiligen Anorak gegen seine Lederjacke aus. „Ich pack’s dann mal. Meld dich nicht zu spät, sonst hab ich’s mir am Ende doch noch anders überlegt.“

„Warte.“ Erik hatte nicht laut gesprochen, aber etwas in seinem Ton ließ Jonas in der Bewegung erstarren. „Schließ die Augen.“

Nach minimalem Zögern befolgte Jonas die Anweisung. Nun blind, hörte er zunächst nur das Klopfen seines eigenen Herzens, bevor er die Schritte wahrnahm, die sich ihm näherten, direkt vor ihm stehenblieben. Jonas zuckte zusammen, als er warmen Atem an seiner Haut fühlte, Haare seine Wange kitzelten.

„Bis bald.“ Eriks tiefe Stimme an seinem Ohr und dann, so flüchtig, dass sie ebenso gut Einbildung hätten sein können, seine Lippen auf seinem Mund.

„W-Wehe du meldest dich nicht!“, war alles, das Jonas hervor pressen konnte.

Kapitel 5

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Kapitel 6

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Kapitel 7

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Kapitel 8

Was zuletzt geschah:

Ein weiteres Treffen zwischen Erik und Jonas enthüllt viel Neues. Dinge, von denen Jonas nie dachte, sie mögen zu können, Beichten, mit denen er nicht gerechnet hatte und Gefühle, auf die er lieber verzichten würde. Der Abschied verläuft allerdings weniger leidenschaftlich als die Begrüßung und ein Schal ist nicht dort wo er sein sollte.

 

Kapitel 8

Die Sonne war schon lange hinter den Dächern der Hochhäuser verschwunden und ein eisiger Wind fegte Regentropfen wie Geschosse durch die Straßen. Jonas schlug den Kragen seiner Jacke nach oben, fluchte über seinen nutzlos an Eriks Garderobe hängenden Schal und schleppte seinen müden Körper die letzten Meter zu seiner Wohnung. Den Vormittag in der Uni zu verbringen, um anschließend bis Ladenschluss im Café zu arbeiten, war eine dämliche Idee gewesen. Er war jung, aber selbst ihn schlauchte so ein Zwölfstundentag. Nicht einmal zum Einkaufen war er gekommen, dabei hing ihm sein Magen bereits in den Kniekehlen. Hoffentlich konnte er die Schicht in der kommenden Woche tauschen.

Jonas‘ Briefkasten war leer, doch an der Außenseite war ein Zettel befestigt, der ihn darüber informierte, dass ein Paket für ihn bei den Nachbarn abgegeben worden war. Er überprüfte den Namen und ja, natürlich waren es die reizenden Leute gegenüber, die ihn zu den unmöglichsten Zeiten an ihrem grässlichen Musikgeschmack teilhaben lassen mussten. Lustlos klopfte er, sah ein, dass er damit nicht gegen den dröhnenden Bass ankam und benutzte die Klingel. Oft.

Als sich die Tür endlich öffnete, blickte Jonas in das Gesicht eines schlechtgelaunten Glatzkopfs, dessen muskelbepackte Arme durch das schlichte weiße Shirt unnötig betont wurden.

„Ähm, hi …“

„Was willst du?“

„Ihr, ähm, ihr habt ‘n Paket für mich.“

„Ach ja?“

„Ja, ähm, hier …“ Jonas hielt den Zettel hoch. „Muss irgendwann heute abgeben worden sein.“

„Davon weiß ich nichts.“

Der Typ streckte die Hand nach dem Zettel aus, doch Jonas zog ihn instinktiv weg und trat einen Schritt zurück. „Hör zu, ich weiß bloß, dass ich mein Päckchen haben möchte und auf dem Zettel hier dein Name steht. Wenn du jetzt also einfach–“ Die zuschlagende Tür schnitt Jonas das Wort ab. Fluchend stand er im Gang und überlegte fieberhaft, wie er die Situation auflösen konnte, ohne einen riesigen Aufriss deshalb veranstalten zu müssen. Schließlich setzte er sich – nach einem sehnsüchtigen Blick zu seiner eigenen Wohnungstür – noch einmal in Bewegung und suchte die nächstbeste Tankstelle.

Wieder dauerte es einige Zeit, bis Jonas‘ Nachbar dem penetranten Klingeln seiner Türglocke nachgab und öffnete. Bevor er ein Wort sagen konnte, hielt Jonas ihm seinen Einkauf vor die Nase. „Bier gegen Paket.“

Der Nachbarn schüttelte nur den Kopf und seine Lippen zogen sich über seine Zähne zurück als versuchte er zu knurren. „Denkst du echt, ich mach mir was aus dieser Plörre? Hau endlich ab!“ Er war bereits im Begriff, die Tür zu schließen, als eine zierliche, junge Frau hinter ihm auftauchte und sich an seinen Rücken schmiegte.

„Na komm, sei nicht so fies zu dem Kleinen.“ Sie lächelte Jonas an. „Ich tausch mit dir. Warte kurz.“ So schnell wie sie gekommen war, verschwand sie wieder, nur, um gleich darauf mit Jonas‘ Paket zurückzukehren.

Jonas kontrollierte, ob es ungeöffnet und intakt war, bevor er ihr im Austausch das eben erstandene Sixpack überreichte. „Danke.“

„Jederzeit“, flötete sie und knallte die Tür zu.

Endlich konnte sich Jonas in die relative Ruhe seiner Wohnung zurückziehen und der Frage nachgehen, was zur Hölle ihm da überhaupt geschickt worden war. Bestellt hatte er jedenfalls nichts.

Ein kurzer Blick auf den Absender klärte dieses Mysterium. Eilig schnappte sich Jonas das Teppichmesser in seiner Schreibtischschublade, schnitt durch mehrere Lagen Klebeband und einen Teil seiner linken Zeigefingerkuppe, die er schimpfend und mehr als notdürftig mit einem sauberen Küchentuch umwickelte. „Wehe, das hat sich nicht gelohnt!“

Im Inneren des Päckchens lag eine Karte mit verschnörkelten Blumenmuster. Etwas zu kitschig für Jonas‘ Geschmack, aber immerhin brachte sie ein wenig Farbe in den tristen Tag. Auf der Rückseite entdeckte er die geschwungene Schrift seiner Mutter.

 

Lieber Jonas,

 

bei unserem letzten Telefonat hatte ich das Gefühl, dass du dich etwas allein in der großen Stadt fühlst. Egal, ob das so ist oder nicht, hier hast du ein paar Kleinigkeiten aus der Heimat.

 

Alles Liebe

Mama, Papa, Christine, Oma und Vroni

 

Jonas lächelte über die Unterschriften, die unterschiedlicher nicht hätten sein können. Schlicht und sauber, kunstvoll verschnörkelt oder an der Grenze zur Unleserlichkeit. Jeder hatte seinen Beitrag geleistet.

Jonas‘ Eltern hatten ihm etwas von dem herzhaften Mürbeteiggebäck geschickt, das solange er denken konnte die kleine Schale in der Küche füllte und auf magische Weise nie auszugehen schien. Er hatte den buttrigen Geschmack schon auf der Zunge, noch bevor er sich den ersten Keks in den Mund geschoben hatte.

Seine Oma hatte zwei paar Stricksocken, eines schwarz, das andere bunt geringelt beigelegt und Vronis selbstgemaltes Bild – Jonas war sich nicht völlig sicher, was es darstellen sollte, glaubte aber, eine Katzen-Waschbär-Giraffe zu erkennen – erhielt einen Ehrenplatz an der Pinnwand neben seinem Schreibtisch.

Nur Christines Geschenk gab ihm zunächst Rätsel auf. Ein alter Gedichtband. Mal abgesehen davon, dass Jonas trotz guter Deutschnoten nie wirklich Zugang zur Lyrik gefunden hatte, war etwas so Romantisches eigentlich nicht Christines Art. Er war beinahe erleichtert, als er die Kondome entdeckte, die sie zwischen die Seiten geschmuggelt hatte. Das entsprach schon eher ihrem Humor. Im Einband hatte sie ihm eine kurze Nachricht hinterlassen. Vögel dir ruhig Maria aus dem Kopf, aber mach mich nicht zu früh zur Tante.

Kraftlos sank Jonas auf sein Bett, Christines Buch noch in der Hand, eines der Kondome zwischen den Fingern. Er hatte einen tollen Studienplatz ergattert, lebte in der aufregendsten Stadt Deutschlands, hatte schnell neue Freunde gefunden und eine Affäre mit einem verflucht heißen Typen angefangen. Dazu eine liebevolle Familie, die ihm den Rücken stärkte. Er sollte glücklich sein. Warum nur wollte sich der Knoten in seinem Magen nicht lösen?

Nach langen Stunden, in denen Jonas zunächst versucht hatte, sich zu versichern, dass es in Ordnung war, seiner Familie nicht alles zu erzählen, was er in Berlin trieb und anschließend dazu übergegangen war, sich mithilfe des Internets von seinen Schuldgefühlen abzulenken, zwang er sich, ins Bett zu gehen. Der kommende Tag würde kaum weniger anstrengend werden.

 

„Was ist mit der da?“

Jonas warf einen abwesenden Blick auf das Mädchen, auf das Larissa zeigte. Es balancierte ein überladenes Essenstablett auf seinen Armen und suchte verzweifelt nach einem freien Sitzplatz in der bereits überfüllten Mensa.

„Nee, nich‘ wirklich mein Typ.“

„Auch nicht?“ Larissa schnaubte. „Du bist ganz schön wählerisch. Mal sehen, was ist mit …“

„Wo stecken eigentlich Esther und Kemal?“, versuchte Jonas das Thema zu wechseln. Er war sich nicht sicher, wann dieses Spiel begonnen hatte, aber Larissa war nun schon eine ganze Weile darum bemüht, ihre Kommilitoninnen für ihn auf Traumfrauen-Material zu prüfen.

„Ich glaube, die haben Besseres zu tun, als mit uns beiden Mittag zu essen.“

„Ach ja? Was denn?“

„Vögeln“, antwortete Larissa trocken und lachte über Jonas‘ verdutzten Gesichtsausdruck. „Ist dir echt noch nicht aufgefallen, dass zwischen den beiden was läuft? Hey, die da ist süß!“ Larissa deutete über Jonas‘ Schulter. „Was ist mit der?“

„Nicht mein Typ.“

„Woher willst du das wissen, wenn du noch nicht mal hingesehen hast?“

Jonas schluckte. Bevor er kneifen konnte, antwortete er: „Zu viel Titten, zu wenig Schwanz.“

„Hä? So groß sind ihre Dinger jetzt auch n… oh. Ach sooo! Sag das doch gleich!“ Larissas Blick schweifte durch die Mensa. „Was ist dem Blonden nahe der Tür?“

Jonas zögerte einen Moment. „Der … trifft schon eher meinen Geschmack.“

„Ha! Wusste ich doch, dass ich noch jemanden finde! Und was ist mit …“

„Larissa?“

„Hm?“

„Könnte das … Könnte das erst mal unter uns bleiben?“

„Was? Dass du schwul bist?“

Jonas nickte und hoffte, dass Larissa sein Zusammenzucken beim Wort ‚schwul‘ nicht bemerkt hatte.

„Warum? Ist doch nichts dabei.“

„Trotzdem …“

Larissa verdrehte die Augen. „Wie du meinst.“

„Danke.“ Allmählich beruhigte sich Jonas‘ Herzschlag wieder. Am Ende war es so einfach gewesen. Wovor hatte er sich eigentlich gefürchtet?

Das Handy, das Larissa vor sich auf den Tisch gelegt hatte leuchtete auf. „Sieht aus, als würden Esther und Kemal uns nicht nur beim Essen versetzen. Sie haben gerade geschrieben, dass sie es leider nicht zum Schwimmbad schaffen. Zeitgleich.“

„Ausgesprochen unauffällig.“

„Hey, wenn ich dir nicht gesteckt hätte, dass die beiden es miteinander treiben, würdest du immer noch im Dunkeln tappen.“

Jonas wollte protestieren, war sich aber selbst nicht ganz sicher, wie lange er ohne Larissas Hilfe gebraucht hätte, um zwei und zwei zusammenzuzählen. „Dann sind’s wohl nur wir beide."

„Sieht so aus. Wenigstens muss ich jetzt keine Angst mehr haben, dass du dich sofort in mich verknallst, sobald du all das hier“, ihre Hände zeichneten ihre Rubensfigur nach, „im Badeanzug siehst.“

„Larissa …“ Bedauernd schüttelte Jonas den Kopf. „Ich weiß, dass unerwiderte Liebe hart is‘, aber sei stark. Du wirst einen, na, vielleicht nich‘ besseren, aber wenigstens annähernd gleichwertigen Mann finden.“

„Pah! Iss mal lieber auf, du Spargel, damit wir loskönnen. Um diese Zeit ist im Schwimmbad noch nicht viel los und das würde ich gern nutzen.“

 

Larissa hatte eine gute Wahl getroffen. Das Schwimmbad war nicht weit von der Uni entfernt und ausgehend davon, dass abgesehen von Jonas nur ein anderer Mann in der Umkleide stand, vermutlich tatsächlich ziemlich leer.

Jonas musterte den Fremden so unauffällig wie möglich. Dieser hatte ihm den Rücken zugewandt und war bereits in seine Jeans geschlüpft, doch sein Oberkörper war nur mit einem Handtuch bedeckt, das er sich locker über die Schultern geworfen hatte. Und das war ein verflucht gutaussehender Oberkörper. Schlank, mit dezenten Muskeln, die sich bei jeder Bewegung unter seiner Haut abzeichneten und bezaubernden Grübchen oberhalb des Pos. Die Statur des Fremden erinnerte ihn beinahe an …

„Erik?“ Der Fremde hatte den Kopf gedreht und auch, wenn Jonas so schnell wie möglich zur Seite gesehen hatte, hatte er aus dem Augenwinkel sein Gesicht erkannt.

Eriks erschrockenen Ausdruck nach zu urteilen, war das eine Begegnung, mit der er nicht gerechnet hatte. Auch das dünne Lächeln, das er gleich darauf zeigte, konnte die Falte zwischen seinen Brauen nicht vertreiben. „Ah. Hallo.“ Er zog das Handtuch von seinen Schultern. „Dich hätte ich hier nicht erwartet.“

„‘Ne Freundin hat mich überredet.“ Jonas ließ seinen Blick über Eriks Körper wandern. Seine Schultern waren mit winzigen Sommersprossen gesprenkelt, die das Bedürfnis weckten, sie mithilfe eines Stifts zu einem Gemälde zu verbinden, sein Bauch war flach, die unter der Haut liegenden Muskeln erkennbar. Eine Reihe verblasster Narben zog sich zickzackförmig über seine Unterarme, verschwand aber rasch aus Jonas‘ Sicht, als Erik sein Handtuch darum wickelte. Verlegen über sein offensichtliches Starren, räusperte sich Jonas. „Bist du öfter hier?“

„Mhm.“

„Vielleicht sehen wir uns dann ja häufiger“, sagte Jonas hoffnungsvoll. Sollte sein Herz so pochen?

„Vielleicht.“

„Ich mein, ich sollt echt mal wieder ‘n bissl Sport treiben. Bevor ich umgezogen bin, hab ich Fußball gespielt, aber im Moment fehlt mir die Zeit für regelmäßige Trainingstermine, von den Spielen selbst mal ganz abgesehen. Aber irgendwas muss ich machen, ich fühl mich schon ganz hibbelig.“

„Mhm.“

„Aber ohne Larissa, also die Freundin, von der ich grad erzählt hab, wär ich wohl nich‘ hergekommen. Ganz allein ist’s irgendwie langweilig.“

„Kann sein.“

Die Unterhaltung verlief etwas anders, als sich Jonas erhofft hatte. Mit jedem zusätzlichen Satz, den er vor sich hinplapperte, schien er Erik weiter abzustoßen. „Außer man mag sowas, natürlich. Also, alleine Sport treiben. Vielleicht gewöhn ich mich auch noch dran. Mal sehen.“

„Mhm.“

„Also … ähm, ich geh dann mal. Larissa wartet bestimmt schon.“ Eilig sperrte Jonas seine Wertsachen ein und winkte zum Abschied, doch Erik hatte ihm bereits erneut den Rücken zugewandt.

 

„Boah, das hat wirklich gutgetan.“ Larissa streckte sich ausgiebig. Wasser tropfte von ihrem Badeanzug und platschte lautlos auf den gefliesten Boden. „Nur schade, dass die hier keine Sauna haben.“

„Jaah. Schade.“

„Verrätst du mir, was mit dir los ist?“

„Was soll sein?“

„Och, ich weiß auch nicht.“ Sie rollte mit den Augen. „Seit wir hier sind, bist du völlig abwesend. Ein Wunder, dass du mir nicht abgesoffen bist.“

„Ich … ach, is‘ nich‘ wichtig.“ Jonas dachte an seine letzten Begegnungen mit Erik. Zuerst sein dämlicher Sprung mitten ins Tote-Eltern-Fettnäpfchen und jetzt Eriks wortkarge Art in der Umkleidekabine. Das Wochenende nahte und er hatte kein Wort darüber verloren, ob sie sich am Sonntag wiedersehen würden. Hatte er die Nase voll von Jonas? Fürchtete er am Ende sogar, Jonas wäre gar nicht zufällig zum selben Zeitpunkt im Schwimmbad gewesen? Und falls ja, wie konnte Jonas dieses Missverständnis aufklären, ohne dabei noch mehr wie ein verrückter Stalker zu wirken?

„Jonas!“ Larissas Stimme wurde von den Fliesen zurückgeworfen.

„Was?“

„Meine Güte, du bist ja echt komplett weggetreten.“

„Sorry.“

Mitleidig schüttelte Larissa den Kopf. „Ich hätte da einen Vorschlag, um dich auf andere Gedanken zu bringen. Was auch immer du gerade denken magst.“

„Wird schwierig“, gab Jonas zu. „Aber versuch’s trotzdem mal.“

„Wir geben heute Abend eine kleine WG-Party. Nix großes und ich hätte dich eh noch dazu eingeladen, aber jetzt kannst du mir auch gleich helfen, ein paar Sachen einzukaufen.“

„Geht leider nich‘, ich hab noch ‘ne Schicht im Café.“ Und wirklich Lust auf Party hatte er auch nicht unbedingt.

„Wann hast du aus?“

„Halb neun sowas. Je nachdem, wann der letzte Gast geht und wie lange ich zum Absperren brauch.“

„Dann komm einfach danach zu uns, ja?“

„Ich weiß nich‘ … Irgendwie is‘ mir heut nich‘ nach Party. Vielleicht lieber ein andermal.“

Drohend hob Larissa den Finger, pikste damit gegen Jonas‘ nackte Brust. „Ich werde dich ab acht mit so vielen Sprachnachrichten zubomben, bis zu aufgibst und deinen Arsch zu uns bewegst!“

 

Jonas konnte die Musik bereits auf der Straße hören, was bedeutete, dass er nach nur zwei mittelgroßen Umwegen zur richtigen Adresse gefunden hatte.

„Da bist du ja!“ Larissa zog ihn in die Wohnung, die sie sich mit ihren zwei Mitbewohnerinnen teilte. „Ich muss dir jemanden vorstellen!“

Bevor Jonas auch nur den Mund öffnen konnte, drückte sie ihm eine Flasche lauwarmes Bier in die Hand und schob ihn in die Küche.

„Das ist Dominik.“ Sie deutete auf einen Typen, der gerade vergebens eine Kiste Bier nach noch ungeöffneten Flaschen durchsuchte. Bei der Erwähnung seines Namens drehte er sich um.

„Dominik, das ist Jonas. Ein Kommilitone von mir.“

„Hi“, sagte Dominik.

„Hi“, sagte Jonas. Unsicher blickte er zu Larissa. Die ganze Wohnung war voll mit Menschen, die er nicht kannte, aber sie hatte ihm gezielt diesen einen vorgestellt. Der nicht ganz unauffällige Rippenstoß, den sie ihm verpasste, als er keine Anstalten machte, die Konversation fortzusetzen, bestätigte seine Befürchtung. „Ähm, Larissa ...“

„Später, Jonas. Ich muss mich um die anderen Gäste kümmern.“ Und schon war sie verschwunden.

Die beiden Männer beäugten sich unschlüssig. Dominik war süß, so viel musste Jonas zugeben. Ein Stück kleiner als er selbst, mit kastanienbraunen Locken, die ihm in die Stirn fielen und tiefen Grübchen, die sein Lächeln betonten.

„Und, wie freiwillig bist du hier?“, fragte er Jonas.

„Völlig“, antwortete dieser und grinste verlegen. „Es hat nur“, er holte sein Handy aus seiner Hosentasche, „acht Sprachnachrichten gebraucht, bis ich aufgegeben habe.“

„Wow, ich respektiere deinen Widerstand. Bei mir waren es nur vier. Dann hasst du solche Partys wohl noch mehr als ich.“

„Eigentlich mag ich sowas“, gestand Jonas. „Nur heute war mir irgendwie nich‘ danach.“

„Mir ist irgendwie nie danach. Aber hey, Bier hilft.“ Dominik prostete Jonas mit seiner leeren Flasche zu.

„Das auf jeden Fall.“ Da Dominik nichts erwiderte, fragte Jonas: „Woher kennst du Larissa?“

„Über Ling, ihre Mitbewohnerin. Wir studieren beide Maschinenbau. Also Ling und ich, nicht Larissa und ich. Offensichtlich. Sie studiert ja Visuelle Kommunikation. Was du weißt, weil du dasselbe studierst.“ Dominik rieb über seine geröteten Wangen als wollte er sie verbergen. „Naja, ich glaube, ich werde dann mal gehen.“

„Schon?“

„Mein Tag war lang und ich habe gleich morgen früh eine Übung.“

„Schade. War aber nett, mit dir zu quatschen.“

Dominik lächelte. Auf dem Weg zum Wohnzimmer stoppte er noch mal. „Hey, würdest du mir vielleicht deine Nummer geben? Dann könnten wir uns mal sehen, wenn ich nicht kurz vorm Einschlafen bin.“

Jonas zögerte. Er hatte nicht erwartet, so schnell zu einer quasi-Verabredung zu kommen. Unbewusst scannte er den Raum nach Mithörern. Erst als er sich sicher war, dass sich niemand für ihr Gespräch interessierte, nickte er. „Jaah … Klar. Würd mich freuen.“

„Cool.“

Bevor Dominik die Haustür hinter sich zugezogen hatte, stand Larissa bereits an Jonas‘ Seite. „Uuuund?“

Erneut sah sich Jonas nach möglichen Mithörern um. „Er is‘ ganz süß.“

„Ha! Ich wusste, dass er dir gefallen würde.“

„Du hättest es ‘n bisschen dezenter machen können“, brummte Jonas. „Hatte ich nich‘ gesagt, du sollst es für dich behalten?“

„Habe ich doch!“, protestierte Larissa. „Ich habe kein Wort gesagt, sondern euch nur vorgestellt. Wenn ihr dann gleich solche Schlüsse zieht … Nicht meine Schuld!“

„Ach fuck, ich kann nich‘ sauer auf dich sein, wenn ich grad die Nummer von ‘nem süßen Typen abgestaubt hab.“

„Ha!“ Larissa legte einen Arm um Jonas‘ Schultern. „Und jetzt lass uns das gebührend feiern!“

 

Jonas lag auf seinem Bett und starrte auf sein Handy. Die frisch aufgezogenen Laken unter ihm fühlten sich unangenehm kalt an.

Dominik hatte noch am selben Abend geschrieben und gefragt, wann er Zeit für ein Treffen hätte. Unschlüssig schwebten Jonas‘ Finger über dem Display. Er mochte Dominik, zumindest das, was er bisher von ihm gesehen hatte und wollte ihn besser kennenlernen, aber wann immer er zu einer Antwort ansetzte, war es, als flüsterte Erik Jonas‘ Namen, als fühlte er Eriks Hände auf seinem Körper und er wünschte sich, jetzt neben ihm zu liegen. Verzweifelt versuchte er, sich ins Gedächtnis zu rufen, dass das zwischen ihnen nicht mehr als eine lockere Affäre war, aber es half nicht.

„Fuck!“

Eine neue Nachricht ließ sein Handy aufleuchten.

 

Erik, 00:25 Uhr

Ich kann diesen Sonntag nicht. Zu viel zu tun. Wird vor Weihnachten wohl auch nicht besser. Tut mir leid.

 

Jonas las die Nachricht noch dreimal. Das war es dann also. Erik hatte sich seiner elegant erledigt; Jonas rechnete nicht damit, nochmal von ihm zu hören. Schwungvoll sprang er vom Bett, konnte unmöglich länger stillliegen und tigerte auf den wenigen Metern, die ihm seine winzige Wohnung bot hin und her. Im Grunde sollte er erleichtert sein, dass ihm diese Entscheidung abgenommen worden war, konnte er sich jetzt doch auf neue, fruchtbarere Beziehungen einlassen, aber die Art der Absage schmerzte ihn mehr als er zugeben wollte.

Erik war ihm gegenüber immer offen und ehrlich gewesen, da hätte er auch jetzt den Arsch in der Hose haben können, ihm die Wahrheit zu sagen. Aber vielleicht hatte Jonas ihn in diesem Punkt auch nur falsch eingeschätzt. Vielleicht hatte er generell viel zu viel in Eriks Verhalten hineininterpretiert – in sein Lachen, in seine Zärtlichkeit – und erhielt jetzt die Quittung dafür.

Jonas war wütend. Wütend auf sich selbst und wütend auf Erik. So würde das zwischen ihnen nicht enden. Wenn Erik schon keinen deutlichen Schlussstrich ziehen wollte, würde er es eben selbst machen. Direkt, von Angesicht zu Angesicht.

 

Du, 00:32 Uhr

mein schal is noch bei dir

 

Du, 00:32 Uhr

würd ihn nächste woche gern holen, bevor ich über weihnachten nach Hause fahr

 

Die beiden Häkchen hinter seiner Nachricht färbten sich sofort blau, doch Erik ließ sich nicht zu einer Antwort herab.

„Arschloch“, murmelte Jonas. Er rief den noch sehr kurzen Chat mit Dominik auf und tippte:

 

Du, 00:43 Uhr

wie klingt sonntag für dich? muss vormittags arbeiten, aber ab zwei hät ich zeit.

 

Dominik, 00:44 Uhr

kk

 

Wenigstens einer, der schnell antwortete, wenn auch der Inhalt nicht besonders viel für weitere Gespräche hergab. Jonas wusste, dass er sich eigentlich auf sein Date freuen sollte, aber es dauerte lange, bis er aufhörte, auf die zwei blauen Häkchen hinter seiner Nachricht an Erik zu starren.

 

Kapitel 9

Was zuletzt geschah:

Jonas springt über seinen Schatten und erzählt seiner Kommilitonin Larissa, weshalb deren Verkupplungsversuche mit jungen Damen immer ins Leere laufen. Später springt er ins kalte Wasser, allerdings nicht, ohne zuvor Erik zu treffen, der sich von ihrer spontanen Begegnung wenig begeistert zeigt. Am Ende des Tages hat Jonas zwar ein Date, nur lautet der Name in seinem Terminkalender plötzlich ‚Dominik‘ und nicht ‚Erik‘.

 

Kapitel 9

Es war nur ein Treffen. Nur ein Treffen. Zwei Leute, die Zeit miteinander verbrachten. Die lachten, wenn es gut lief und sich anschwiegen, wenn nicht. Nichts Besonderes. Er hatte das schon tausendmal gemacht.

Nur, dass das nicht stimmte. Jonas‘ inneres Mantra wurde von der Erkenntnis durchbrochen, dass er sich auf dem Weg zu seinem allerersten Date befand. Ein Date. Ein Treffen, mit der Absicht, sich besser kennenzulernen und bei Gefallen eine romantische Beziehung einzugehen. Mit einem Mann. Jonas war auf dem Weg zu einem Date mit einem Mann.

Unbewusst verlangsamte er seine Schritte, bis der Bus, der seiner Rechnung nach erst in drei Minuten hätte ankommen sollen, an ihm vorbeiraste, ein paar Passagiere auf die Straße schmiss, ein paar andere einsteigen ließ und abbrauste, bevor Jonas auch nur in die Nähe seiner Türen gekommen war. Fuck. Zu spät zum ersten Date. Er hätte kaum einen besseren ersten Eindruck hinterlassen können.

Die Pizzeria war gut besucht und Jonas froh, doch noch reserviert zu haben. Bevor er an den Tisch trat, an dem er Dominiks lockigen Kopf erspäht hatte, wischte er seine feuchten Hände an seiner Jeans ab, schluckte mehrmals, um den Geschmack nach trockener Pappe von seiner Zunge zu streifen und setzte ein hoffentlich überzeugendes Lächeln auf. „Hey. Sorry, dass ich zu spät bin.“

„Kein Problem.“ Auch Dominik lächelte, aber Jonas hatte den Eindruck, dass es ein wenig bemüht wirkte. Die Grübchen, die ihm seit ihrem ersten Treffen im Kopf herumspukten, wollten nicht so recht hervortreten. „War ja nur eine Viertelstunde …“

„Jaah, nochmal sorry deswegen.“ Verlegen rutschte Jonas auf den freien Sitz gegenüber Dominik. „Mir ist der Bus vor der Nase weggefahren und dann bin ich irgendwie eine Seitenstraße zu früh abgebogen und …“ Hilflos zuckte er mit den Schultern. „Berlin ist einfach zu groß für mich.“

„Ich finde, man gewöhnt sich recht schnell daran. Und notfalls gibt es ja auch noch Google Maps.“

Jonas nickte schuldbewusst. Offenbar hatte er Dominik mit seiner Verspätung gehörig auf dem falschen Fuß erwischt. „Dann, ähm … Dann bist du auch noch recht frisch in Berlin?“

„Nein. Schon ein paar Jahre.“

Jonas wartete darauf, dass Dominik von alleine fortfuhr und hakte er nach, als das nicht der Fall war. „Du bist also nich‘ erst fürs Studium hergekommen?“

„Nein.“

Nervös glättete Jonas die Tischdecke vor ihm. „Sorry, is‘ das … Trampel ich da grad auf ‘nem blöden Thema rum?“

„Nein, wieso?“

„Oh, du warst nur … Ich dacht‘ …“ Jonas schüttelte den Kopf und rief sich ins Gedächtnis, dass Dominik nicht Erik war. Wortkarg zu reagieren bedeutete nicht zwangsweise, nicht über etwas sprechen zu wollen. Vielleicht war das auch einfach Dominiks Art. „Schon gut, vergiss es. Kennst du Larissa schon länger?“

„Nicht wirklich.“

„Aber ausreichend, damit sie dich mit nervigen Sprachnachrichten bombardiert.“

Dieses Mal war Dominiks Lächeln echt. „Ehrlich, ich glaube, dafür muss man sie nicht besonders gut kennen.“

Jonas schnaubte. „Stimmt auch wieder. Ich hab am ersten Studientag bloß versehentlich in ihre Richtung geguckt und zwei Minuten später wusste ich praktisch alles über ihr Leben, inklusive der Farbe ihrer Lieblingsunterwäsche.“

„Lila?“

„Mit gelben Blümchen.“

Ihr allmählich warmlaufendes Gespräch wurde kurzfristig von einem gestressten Kellner unterbrochen, der eilig ihre Bestellungen aufnahm. Zweimal Cola und zweimal Salamipizza.

Erleichtert atmete Dominik aus. „Hättest du jetzt Pizza Hawaii bestellt, hätte ich dieses Date für beendet erklären müssen.“

„Nee du, keine Sorge“, erwiderte Jonas und hoffte, dass Dominik ihm nicht anmerkte, wie nervös ihn der Begriff ‚Date‘ machte. „Nix gegen Ananas, aber den Scheiß auf meine Pizza packen will ich dann doch lieber nich‘.“

„Gut.“

Anstatt mit der Tischdenke, spielte Jonas nun mit einer Ecke seiner Serviette, während er überlegte, welche Fragen er Dominik noch stellen konnte. „Was machst du denn, wenn du dich nich‘ unfreiwillig auf WG-Partys rumtreibst?“

„Studieren.“

„Maschinenbau, richtig?“

„Ja.“

„Und, ähm … Wie is‘ das so?“

„Anspruchsvoll. Die Karriereaussichten sind ganz gut, deshalb wollen das viele machen, ganz egal, ob sie dafür geeignet sind oder nicht. Da wird im ersten Jahr ordentlich aussortiert und man muss aufpassen, nicht den Anschluss zu verlieren.“

„Aber es macht dir Spaß?“

Dominik zuckte mit den Schultern. „Ist okay. Wie gesagt, die Jobaussichten nach dem Abschluss sind ziemlich gut.“

„Bei mir jetzt nich‘ so.“

„Ich verstehe sowieso nicht, warum man etwas in Richtung Kunst studiert“, sagte Dominik und nahm die Cola entgegen, die ihm der Kellner brachte. „Kann man das nicht einfach hobbymäßig machen und etwas Ordentliches studieren?“

„Ähm, naja, ich würd jetzt nich‘ sagen … Ich mein, was empfindest du denn als was ‚Ordentliches‘?“

„Keine Ahnung. Irgendetwas, mit dem man dann eben auch einen Job findet. Etwas, das wirklich gebraucht wird.“

„Ich find schon, dass unsre Gesellschaft Kunst braucht“, gab Jonas ein wenig verstimmt zurück.

„Du hast recht.“ Dominik rieb sich übers Gesicht und als er die Hände senkte, waren da nicht nur diese bezaubernden Grübchen, die sein Lächeln einrahmten, sondern seine Wangen hatten zusätzlich eine charmante Röte angenommen. „Entschuldige, ich klinge schon wie einer dieser arroganten MINTler, die denken, ihr Studium sei das einzig Wahre, oder?“

„Vielleicht ein bisschen“, entgegnete Jonas, doch sein kurzfristig aufgeflammter Zorn war bereits verraucht. „Aber das treib ich dir schon noch aus.“

„Hoffentlich. Ich will echt nicht so wie mein Vater werden. Du kennst diese Witze über Asiaten, deren Kind erst wieder mit ihnen sprechen darf, nachdem es ein erfolgreicher Arzt geworden ist? Abgesehen davon, dass ich mir ziemlich sicher bin, keinerlei asiatische Verwandtschaft zu haben trifft es das bei uns ziemlich genau.“

Jonas verzog das Gesicht. „Klingt ätzend.“

„Manchmal ist es das.“ Dominik verstummte und trank einen Schluck Cola. Vielleicht wollte er nicht weiter über seine Familie sprechen, aber vielleicht interpretierte Jonas auch schon wieder zu viel in sein Verhalten hinein.

Ein anderer Kellner, Jonas vermutete, dass der vorhergehende entweder Pause hatte oder weinend auf der Personaltoilette hockte, brachte ihnen zwei imposante Pizzen, deren Duft nach krosser Salami und geschmolzenem Käse seinen Magen zu einem ausgehungerten Knurren animierte.

Weitestgehend schweigend verspeisten Dominik und Jonas die beiden runden Monster vor ihnen. Gelegentlich streifte Dominiks Fuß Jonas‘ Unterschenkel, aber dieser war sich nicht sicher, ob die Berührung zufällig oder gewollt war und fand sich außerstande, sie zu erwidern.

„Schade, dass wir morgen beide so scheißfrüh aufstehen müssen“, sagte er, nachdem jeder seine Rechnung beglichen hatte und sie in Richtung ihrer jeweiligen Haltestellen schlenderten. „Sonst könnten wir jetzt noch ‘n bissl um die Häuser ziehen.“

„Vielleicht machen wir das einfach, wenn wir uns das nächste Mal treffen“, schlug Dominik vor.

Jonas sah ihn mit großen Augen an, kam allerdings nicht umhin, einen raschen Blick auf ihre Umgebung zu werfen. Niemand achtete auf sie oder ihr Gespräch. „Hättest du denn Lust dazu?“

„Von mir aus gerne.“

Ein warmes Gefühl breitete sich in Jonas‘ Brust aus. „Dann schreib ich dir, sobald ich weiß, wie meine Schichten im Café aussehen, okay?“

„Gut.“ Dominik nickte zur Straße. „Da kommt mein Bus. Bis dann.“

Lange blickte Jonas den roten Rücklichtern nach und versuchte, aus seinen Gefühlen schlau zu werden.

 

Eine halbe Woche nach seinem Date mit Dominik, fand sich Jonas erneut vor Eriks Tür wieder und war kurz davor, die Klingel ein zweites Mal zu drücken, als dieser endlich den Summer betätigte. Mit jeder Stufe, die Jonas überwand, beschleunigte sein Herz einige Schläge und er hatte Mühe, sich seine zurechtgelegten Sätze in Erinnerung zu rufen. Hi. Danke für den Schal. Übrigens, ich habe jemanden kennengelernt. Es ist besser, wenn wir uns nicht mehr sehen. Mach’s gut.

Wie gewohnt wartete Erik an seiner geöffneten Haustür, doch anders als sonst, schaffte es Jonas dieses Mal nicht, ihm in die Augen zu sehen. „Sorry für die Verspätung, der Prof hat überzogen.“

„Schon gut.“ Erik klang nicht, als ob alles gut wäre. „Ich wollte ohnehin mal Pause machen.“ Er trat zur Seite, um Jonas in seine Wohnung zu lassen.

„Bin auch sofort wieder weg, sobald ich meinen Schal hab.“

„Hängt an der Garderobe.“

Jonas nickte. Erst, nachdem er Erik den Rücken zugewandt hatte, traute er sich, den Blick zu heben. Sein blauer Wollschal hing unschuldig an dem Haken, über den er ihn bei seinem letzten Besuch so nachlässig geworfen hatte. Er nahm ihn an sich und holte tief Luft. Ich habe jemanden kennengelernt. Wir sollten uns nicht mehr sehen. Aber als er sich umdrehte, wollten die Worte nicht über seine Lippen kommen.

Eriks war blass, die kleinen Fältchen um seine Mundwinkel traten deutlich hervor und unter seinen Augen lagen dunkle Schatten. Immer wieder strich er fahrig über seine Unterarme, als versuchte er, den Stoff seines Pullovers zu glätten.

Besorgt runzelte Jonas die Stirn. „Bist du krank?“

„Hm? Nein, nein.“ Erik rang sich ein schmales Lächeln ab. „Nur etwas müde.“

Jonas begriff, dass er möglicherweise zu viel in Eriks Nachricht interpretiert hatte. Man sah ihm die Erschöpfung deutlich an. „Du hast grad echt den Arsch voll Arbeit, was?“

„So könnte man es vielleicht ausdrücken.“ Einen Augenblick lang wurde Eriks Lächeln breiter, bevor es flackerte und erstarb.

„Und wie lange soll das so weitergehen? Nix für ungut, aber du siehst aus, als könntest du mindestens zwanzig Stunden Schlaf brauchen.“

„So schlimm ist es dann doch nicht“, sagte Erik abwehrend. „Nur gerade viel auf einmal. Kurz vor Weihnachten habe ich ein Referat und wenn das erledigt ist, muss ich dringend mit meiner Hausarbeit anfangen. Danach wird es, was die Uni betrifft etwas ruhiger. In der Arbeit …“ Erik zuckte mit den Schultern. „Es ist eben Jahresabschluss und ich bin zum ersten Mal alleine dafür verantwortlich.“

Ich habe jemanden kennengelernt. Wir sollten uns nicht mehr sehen. War es nicht schrecklich unfair von Jonas, Erik zu allem anderen auch noch diese Worte aufzubürden? Anscheinend würden sie sich in nächster Zeit ohnehin nicht treffen, also konnte er damit doch auch noch warten, bis er nicht mehr befürchten musste, Erik könnte jeden Moment im Stehen einschlafen. Allerdings fand Jonas noch immer keine Erklärung für dessen seltsames Gebaren im Schwimmbad. Stress allein schien ihm ein ziemlich unzureichender Grund dafür zu sein und er wollte sich nicht länger in Rätselraten ergehen. „Ach so, ähm, wegen neulich. Als wir uns in der Umkleidekabine getroffen haben …“

„Ah. Ja.“ Jetzt war es Erik, der den Blick senkte.

„Ähm, es is‘ nich‘ so, dass ich dir irgendwie … keine Ahnung, nachgelaufen wär oder so. Das war echt Zufall.“

Verwirrung machte sich auf Eriks Gesicht breit. „Ich weiß nicht, was du–“

„Ich stalke dich nich‘!“, fiel ihm Jonas ins Wort. „Nur, falls du das dachtest …“

Erik zog die Brauen zusammen, bis sich die kleine Falte dazwischen zeigte. „Jonas, ich hatte keine Sekunde lang angenommen, dass du mich stalken würdest. Mir ist schon klar, dass unsere Begegnung neulich Zufall war. Sie hat mich nur …“ Er schüttelte den Kopf. „Ich hatte einfach nicht damit gerechnet, dich dort zu sehen.“

„Oh. Okay. Du warst nur so … abweisend.“

„Ich weiß. Tut mir leid.“

Skeptisch musterte Jonas Erik, der erneut begonnen hatte, den Saum seiner Ärmel nach unten zu ziehen. Als er Jonas‘ Blick bemerkte, verschränkte er die Arme hinter seinem Rücken. Diese Beklommenheit war so untypisch, dass Jonas ihre Begegnung im Schwimmbad noch einmal Revue passieren ließ. Er hatte Erik angesprochen. Sie hatten sich kurz unterhalten. Eventuell hatte Jonas die Gelegenheit genutzt, mal einen etwas genaueren Blick auf Eriks nackten Oberkörper zu werfen. Die Sommersprossen auf seinen Schultern, der goldene Pfad zwischen Bauchnabel und Schambereich, die kräftigen Arme. Die … Jonas seufzte. „Isses dir unangenehm, dass ich die Narben an deinen Unterarmen gesehen hab?“

Ironischerweise hatte Jonas ihnen bis zu diesem Moment keinerlei Bedeutung beigemessen. Im Schwimmbad hatte er sie einfach für das Souvenir einer recht kratzbürstigen Katze gehalten. Erst jetzt, nachdem er noch einmal darüber nachgedacht hatte, war ihm eingefallen, dass sie denen einer ehemaligen Mitschülerin ähnelten, über deren psychische Probleme mehr als genug Gerüchte im Umlauf gewesen waren. Sollte das wirklich die Erklärung sein? „Keine Ahnung, was du glaubst, was ich d–“ Jonas verstummte.

Erik war sichtlich um einen neutralen Gesichtsausdruck bemüht, aber seine Lippen waren zu einem schmalen Strich gepresst und das letzte bisschen Farbe aus seinen Wangen gewichen. Instinktiv zog Jonas ihn in eine feste Umarmung und flüsterte: „Du glaubst doch nich‘ etwa, ich würd dich deswegen plötzlich für ‘nen völlig anderen Menschen halten, oder?“

Erik tat nichts, um die Umarmung zu erwidern, entzog sich ihr jedoch auch nicht, also entschied Jonas, dass er ihn noch nicht daraus entlassen würde. „Ich mein, echt jetzt, eigentlich sollt ich dir das richtig übelnehmen, dass du mich für so oberflächlich hältst!“

„Ich halte dich nicht für oberflächlich“, murmelte Erik. Seine Hände legten sich auf Jonas‘ Rücken, aber die Berührung war so zart, dass dieser sie kaum wahrnahm.

„Oh gut, dann muss ich dir ja nich‘ klarmachen, dass ich es scheißeblöd finde, andere nach ihrem Äußeren zu beurteilen. Und dann noch für was, was offensichtlich ‘ne Weile her is‘.“

„Würdest du dasselbe sagen, wenn ich ein Hakenkreuz auf die Brust tätowiert hätte?“

Jonas schnaubte. „Okay, das wär ‘n Sonderfall.“ Spielerisch zupfte er an Eriks Pullover. „Scheiße, das heißt, du musst mal für mich strippen, damit ich sowas ausschließen kann.“ Zu Jonas‘ Erleichterung lachte Erik leise.

„Entschuldige. Es war dumm von mir, so ein Geheimnis darum zu machen.“

„Jaah, irgendwie schon. Ich mein, is‘ nich‘ so, als würd ich’s nich‘ auch verstehen. Menschen sin‘ Idioten. Ich wette, du hast schon mal beschissenere Reaktionen geerntet hast als ‘ne Umarmung.“

Wieder lachte Erik. „Gelegentlich. Trotzdem hatte ich eigentlich nicht geplant, sie zu verstecken. Es ist nur …“ Sanft löste er sich aus der Umarmung. Er wirkte ruhiger, aber seine linke Hand spielte noch immer mit dem Saum seines rechten Ärmels „Wir hatten so einen komischen Start und ich wollte … Ah, ich wollte wohl einfach einen möglichst guten Eindruck auf dich machen. Damit du dich sicher bei mir fühlen kannst.“

„Versteh ich“, sagte Jonas mehr zu sich selbst als zu Erik. Auch er war nicht immer ehrlich gewesen, entschied jedoch, dass das der völlig falsche Zeitpunkt war, um die Geschichte mit Maria aufzuklären. „Aber ich muss dich jetzt trotzdem an das erinnern, was du mir ganz am Anfang gesagt hast. Von wegen unsere Rollen, die wir im Spiel annehmen nich‘ ins reale Leben mitzunehmen und so.“

„Den Fehler habe ich wohl wirklich gemacht“, gab Erik zu. „Aber es war auch einfach eine gute Gelegenheit für mich, dem ganzen Thema aus dem Weg zu gehen. Ehrlich gesagt spreche ich nicht besonders gerne darüber, wollte dich aber auch nicht belügen, oder eventuelle Fragen abwimmeln. Letztlich habe ich wohl beides getan.“ Er schwieg einen Augenblick und Jonas hatte den Eindruck, dass er mit sich selbst rang, ob er fortfahren oder es dabei belassen sollte. „Reicht es dir, wenn ich sage, dass ich nach dem Tod meiner Eltern eine …“ Wieder stockte er. „Die Zeit danach war ziemlich hart. Aber das ist lange her und zum Glück sind nur ein paar Narben geblieben.“

„Erik, du musst mir gar nix erzählen“, beteuerte Jonas und versuchte sich an einem aufmunternden Lächeln. „Ich hör zu, wenn du willst, aber davon abgesehen beurteile ich bloß, was ich direkt sehe und erlebe. Dahingehend ist mir deine Vergangenheit echt scheißegal.“

„Danke.“ Unerwartet drückte Erik Jonas an sich. Seine Stirn sank auf Jonas‘ Schulter, seine Finger gruben sich in dessen Jacke. „Und danke, dass du es so offen angesprochen hast. Das hat … geholfen.“

„Kein Ding. Wenn ich eins gut kann, dann die Klappe aufzureißen.“ Entgegen seiner großspurigen Worte, war Jonas‘ Mund völlig ausgetrocknet. Er hatte keine Ahnung, wie er mit dieser Situation umgehen sollte. Ihre bisherige Beziehung war nahezu ausschließlich sexueller Natur gewesen; körperliche Nähe, die nicht erregen, sondern Trost und Wärme spenden sollte absolutes Neuland. Aber dieses Neuland fühlte sich erschreckend richtig an.

Zärtlich fuhr Jonas durch Eriks Haar, ließ seine Fingerspitzen von dem feinen Flaum an dessen Nacken kitzeln. Eriks Atem strich über seine Halsbeuge und die fest um seinen Körper geschlossenen Arme erinnerten ihn an seine eigene Sehnsucht. Der Duft nach Sonne und Holz stieg ihm in die Nase.

Mit jeder ihrer Begegnungen war ein Stück der perfekten Schale, mit der Erik sich umgeben hatte weggebrochen und Jonas merkte, wie sehr er den Menschen, der sich dahinter verborgen hielt mochte. Still lauschte dem Klopfen seines Herzens und wusste, dass er im Begriff war, sich zu verlieben.

Erik war der Erste, die sich aus der Umarmung löste. Sanft nahm er Jonas den Schal aus den Händen und legte ihn stattdessen um dessen Schultern. „Gut, dass du ihn wiederhast. Ich mag die Farbe an dir.“

Ohne darüber nachzudenken, beugte sich Jonas vor und küsste Erik.

Dessen Lippen vibrierten gegen Jonas‘, als er fragte: „Sehen wir uns nach Weihnachten?“

Ich habe jemanden kennengelernt. Wir sollten uns nicht mehr treffen. Wie konnte Jonas das sagen, nachdem er eben erst großspurige Reden darüber gehalten hatte, dass sich nichts zwischen ihnen geändert hatte? Natürlich würde Erik Jonas‘ Zurückweisung auf seine Narben beziehen. Natürlich würde er denken, Jonas war lediglich auf der Suche nach einer Ausrede. Und natürlich wollte Jonas ihn wiedersehen. „An mir soll’s nich‘ scheitern.“

War es Wunschdenken, oder war Eriks Lächeln zum ersten Mal an diesem Tag weniger melancholisch als vielmehr glücklich? „Das fände ich sehr schön.“

Selbst die kühle Luft, die Jonas vor der Haustür empfing, konnte die Röte nicht von seinen Wangen vertreiben.

Fuck! Fuck! Fuck!

 

Auf dem Weg in das kleine Café, machte sich Jonas eine mentale Notiz: Es war eine dämliche Idee, drei Stunden vor einem Date mit einem süßen Typen einen vergessenen Schal aus der Wohnung seiner aktuellen Affäre zu holen. Völlig in Gedanken versunken, wäre er um ein Haar an dem Tisch vorbeigelaufen, an dem Dominik bereits auf ihn wartete.

„Hey, hier bin ich.“

„Ups, sorry.“ Jonas ließ sich auf den Stuhl ihm gegenüber fallen.

Mit einem zweifelnden Blick hob Dominik sein mit einer zartrosa Flüssigkeit gefülltes Glas, schwenkte es ein wenig und trank schließlich tapfer daraus, bevor er fragte: „Wie war dein Tag?“

„Ganz okay.“ Jonas versuchte, die Aufmerksamkeit der Kellnerin auf sich zu lenken und an etwas zu denken, das nichts mit seiner Begegnung mit Erik zu tun hatte. Das Wetter! Nein, das erinnerte ihn nur an den Schal, der sich weich und warm um seinen Hals schmiegte. Die Arbeit! Das Vorstellungsgespräch, bei dem er Erik kennengelernt hatte. Partys! Seine erste Nacht mit Erik. Die Uni! Ja, die Uni! „Ich hab bloß noch immer keinen Plan, was das Thema für mein Projekt zum Semesterende sein soll. Was trinkst du da?“

„Rosen-Eistee. Ist mir aber viel zu süß.“ Dominik reichte sein Glas an Jonas weiter, damit dieser probieren konnte. „Ist es so schwer, ein Projektthema zu finden?“

„Is‘ halt relativ offen, was die Vorgaben angeht. Ich würd‘ ganz gern was mit Fotografie machen, aber irgendwie glaub ich, dass das allein nich‘ genug ist und selbst wenn, dann fällt mir kein gutes Grundthema ein und–“

„Ja, klingt wirklich schwierig.“

„Ähm … Ja.“ War das Einbildung, oder hatte Dominik ihn gerade eiskalt abgewürgt?

„Was darf ich dir denn bringen?“, löste die Kellnerin das kurze Schweigen zwischen ihnen auf.

„Rosen-Eistee, bitte.“ Jonas fand ihn kein bisschen zu süß, sondern gerade richtig.

„Aber ich weiß, wie es dir geht“, nahm Dominik das Gespräch wieder auf. „Wir haben so viele Klausuren am Ende der Vorlesungszeit. Ich habe echt keine Ahnung, wie ich die alle schaffen soll.“

„Ach, Augen zu und durch. Ich bin sicher, dass du das kannst.“

„Das sagt sich so leicht, wenn man selbst den Stress nicht hat.“

Jonas bemühte sich zu lächeln, aber es wurde eher ein Zähnefletschen. „Stimmt, ich hab natürlich keine Ahnung, wie sich Stress so anfühlt.“

Dominik sah ihn erschrocken an und verzog das Gesicht. „So war das nicht gemeint. Ich bin nur … naja, gestresst eben.“ Er drehte seinen Strohhalm zwischen den Fingern. „Hast du dir überlegt, welchen Film wir heute sehen wollen?“

„‚Paterson‘, dieser neue Film von Jim Jarmusch würd‘ mich interessieren.“

„So ein Kunstding? Naja, wenn du unbedingt willst. Ich dachte eher an den neuen Jack Reacher oder so. Irgendwas zum Abschalten.“

„Oh. Ähm … Ich hab den ersten Teil nich‘ gesehen.“

„Hm … Dann ‚Arrival‘? Soll ein recht guter SciFi-Streifen sein.“

Sofort dachte Jonas an Eriks Vorliebe für Science-Fiction Bücher und fragte sich, ob dieser den Film bereits gesehen hatte und falls ja, mit wem. „Jaa … Ja, warum eigentlich nich‘.“

Dominik lächelte, seine Grübchen so bezaubernd wie immer. „Super, dann sind wir uns da ja schon mal einig.“ Seine Fingerspitzen streiften Jonas‘ Hand, der sie mit einem Seitenblick auf die anderen Gäste wegzog.

„Ähm … Ich guck mal fix, wann und wo der Film läuft.“ Rasch holte er sein Handy hervor und suchte nach den Laufzeiten in den nahegelegenen Kinos, in der Hoffnung, Dominik hätte seine Zurückweisung nicht als solche erkannt. „Wir sollten uns beeilen.“

Der Kinosaal war groß, voll und ihre Plätze nicht besonders gut, aber es war das schnatternde Pärchen neben ihnen, das Jonas den letzten Nerv raubte. Er atmete innerlich auf, als der Film begann und die beiden verstummten. Mit jeder Sekunde ihrer angeregten Unterhaltung, war ihm das Schweigen, das zwischen ihm und Dominik herrschte bewusster geworden.

Seine Erleichterung hielt jedoch nur wenige Szenen an. Es war dunkel, die Sitze so bequem wie Kinositze nun einmal sein konnten und die schmalen Armlehnen boten die perfekte Gelegenheit, unauffälligen Körperkontakt herzustellen. Unsicher schielte Jonas zu Dominik, der gebannt das Geschehen auf der Leinwand verfolgte. Sollte er seine Abweisung im Café wiedergutmachen? Wollte er sie wiedergutmachen?

Warme Finger streiften seinen Handrücken und wieder zog er sich zurück.

Kapitel 10

Was zuletzt geschah:

Jonas‘ erstes Date mit Dominik läuft gut, aber mehr auch nicht. Ähnliches gilt für das zweite. Liegt es an ihm? Liegt es an Dominik? Oder liegt es an Erik, der sich immer wieder in Jonas‘ Gedanken stiehlt?

 

Kapitel 10

Hand in Hand mit Larissa, bahnte sich Jonas seinen Weg durch die Innenstadt. Nur so schafften sie es, im vorweihnachtlichen Gedränge nicht ständig durch vorbeieilende Passanten getrennt zu werden.

„Willst du noch wohin, oder hast du alles?“, fragte sie.

Jonas warf einen zweifelnden Blick auf den Inhalt seiner Taschen. „Ich glaub, ich sollt alles haben. So eine Scheiße echt. Jedes Jahr nehm ich mir wieder vor, nich‘ alles auf den letzten Drücker zu kaufen und dann fang ich doch wieder ‘ne Woche vor Heiligabend damit an.“

„Ach, es war ja ohnehin mehr als netter Stadtbummel gedacht. Wenn man es so sieht, ist es doch gar nicht übel. Also mal abgesehen davon, dass man sich fast prügeln muss, um durch die Menschenmassen zu kommen.“

Jonas bemühte sich, Larissas Optimismus zu teilen, aber er war angespannt und hatte das Gefühl, dass auch ihre Stimme ein wenig schriller als gewöhnlich war. Immer wieder ertappte er sich dabei, seine Mitmenschen kritisch zu beäugen. Der Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt saß ihm im Nacken und die besorgten Anrufe und Nachrichten seiner Freunde und Verwandten hatten nicht zu seiner Beruhigung beigetragen. Seine Mutter hatte ihn sogar gebeten, sofort zu ihnen zu fahren und nicht erst, wie ursprünglich geplant, an Heiligabend, aber er hatte abgelehnt. So wie alle anderen, mit denen er darüber gesprochen hatte, bemühte er sich, diesem Ereignis so wenig Raum wie möglich zu geben und ohne Angst seinem Alltag nachzugehen.

„Wie läuft es eigentlich mit Dominik?“, riss Larissa ihn aus seinen Gedanken.

„Oh, ähm … Ganz okay.“

„Nur ganz okay?“

Jonas biss sich auf die Lippe. „Ich weiß auch nich‘ … Wir haben uns jetzt zweimal getroffen und er is‘ echt nett, aber irgendwie … Ihm geht Kunst am Arsch vorbei, ich bin ‘ne Niete in Naturwissenschaften. Is‘ irgendwie schwierig ‘n Gesprächsthema zu finden.“

„Na komm, es gibt doch so viel anderes, worüber man reden könnte.“

„Is‘ mir schon klar, aber irgendwie finden wir nix. Wenn wir erst irgendwo essen und danach ins Kino gehen, haben wir uns schon im Saal nix mehr zu sagen.“

„Dann macht doch was anderes, Herrgott nochmal!“, schimpfte Larissa.

„Jaah … Ich sag ja auch nich‘, dass ich schon aufgebe.“ Dass Jonas bisher konsequent jeden Annäherungsversuch von Dominik abgeblockt hatte, verschwieg er ebenfalls lieber. „Vielleicht brauchen wir einfach mal was Privateres als so’n Treffen in ‘nem Café.“ Vielleicht musste er sich auch einfach endlich Erik aus dem Kopf schlagen.

„Netflix and chill?“

„Sowas in der Art”, wich er aus, unsicher, was die Vorstellung, Dominik körperlich näherzukommen in ihm auslöste. „Wollen wir noch was essen?“

„Wollen wir!“, stimmte Larissa freudig zu. „Meine Füße bringen mich allmählich um.“ Sie deutete auf eine Seitengasse. „Ein paar Straßen weiter ist ein ganz guter und recht günstiger Chinese. Könnte aber schwierig werden, noch einen Platz zu bekommen.“

„Sehen wir ja gleich.“ Jonas stoppte Larissa, bevor sie abbiegen konnte „Warte, ich würd noch gern da drüben reinschauen.“

Ihr Blick folgte der Richtung, in die sein ausgestreckter Arm deutete.

„Gute Idee, ich brauch eh auch einen neuen Zeichenblock. Vielleicht haben die auch Sprühdosen da.“

Während Larissa zielgerichtet auf die Abteilung für Künstlerbedarf zusteuerte, wanderte Jonas mit offenen Augen durch den Laden. Abgesehen von neuem Klebstoff, den er in jedem Kaufhaus bekommen konnte, war er gut ausgestattet und hatte lediglich seiner Neugierde nachgegeben, als er Larissa in das Geschäft gezogen hatte. Wie so oft, endete er in der Fotoabteilung.

Nach langer innerer Debatte, griff er nach einem schlichten, dunklen Bilderrahmen und machte sich nach einem kurzen Preischeck auf den Weg zur Kasse.

Die beiden ergatterten tatsächlich noch einen Tisch im Restaurant und Jonas war froh, einfach essen und Larissa zuhören zu können, anstatt selbst reden zu müssen. Immer wieder drückte seine Hand gegen die Tasche, in der sich der Bilderrahmen abzeichnete.

 

Ich empfinde mehr für dich als ich sollte und deshalb muss ich das zwischen uns beenden.

Jonas starrte auf den Zettel. Seine Handschrift wirkte unsauber, die Formulierung holprig – gehörte da ein Komma vor das ‚als‘? – und er war sich nicht sicher, ob es überhaupt das war, was er sagen wollte. Frustriert knüllte er das Stück Papier zusammen und warf es neben den Papierkorb. Nein, das war definitiv nicht das, was er sagen wollte. Was er sagen wollte war: Hey, ich glaube, ich bin dabei mich in dich zu verknallen und es wäre echt super, wenn wir dem Ganzen eine Chance geben könnten.

Aber das war unmöglich. Erik hatte von Anfang an deutlich gemacht, dass das nicht die Richtung war, die er sich vorstellte und wenn es jemals einen falschen Zeitpunkt gegeben hatte, ihn unter emotionalen Druck zu setzen, dann diesen. Selbst ohne Stress mit Arbeit und Uni, würde seine Antwort vermutlich nicht positiv ausfallen, mal ganz davon abgesehen, dass es auch nicht wirklich fair war, ihm ausgerechnet jetzt eine weitere Baustelle aufzuhalsen.

Mit einem tiefen Seufzen lehnte sich Jonas in seinem Stuhl zurück. Dasselbe galt doch aber für das Beenden ihrer Affäre, oder? Und dann noch auf so eine feige Art. Ein Zettel, angeheftet an ein Weihnachtsgeschenk. Lächerlich.

Kurzentschlossen griff er sich das rubinfarbene Geschenkpapier und wickelte den Rahmen darin ein. Am Ende versah er das Päckchen mit einer kunstvollen Schleife. Ein Blick auf sein Handy zeigte ihm, dass er gerade noch rechtzeitig fertig geworden war, wenn er das Geschenk in Eriks Briefkasten werfen wollte, bevor er den Bus nach München nahm.

 

Stöhnend stolperte Jonas aus dem Wagen. Er fühlte seine Beine nicht mehr, von seinem Arsch wollte er gar nicht erst anfangen. Weshalb hatte er sich noch einmal dazu entschieden, lieber acht Stunden mit dem Bus zu fahren, anstatt die Bahn zu nehmen? Ach ja, weil er so ein paar Euro sparte. Er war sich nicht sicher, ob das eine seiner besseren Ideen gewesen war.

Die Luft war bitterkalt, aber zu Jonas‘ Enttäuschung, hatte auch hier keine einzige Schneeflocke den Boden berührt. Er wuchtete seine Reisetasche über die Schulter und suchte nach dem Aufgang zu den Regionalzügen, inständig darauf hoffend, dass er seinen Anschluss nach Rosenheim erwischte. Bei der Aussicht, diesen zu verpassen und über eine Stunde am Bahnhof totschlagen zu müssen, schrie sein übermüdeter Körper erbost auf.

Während er die Treppe hochstieg, kramte er sein Handy aus seiner Hosentasche, um seinen Eltern Bescheid zu geben, dass er gut in München angekommen war. So weit kam er allerdings nicht.

„Jonas!“

Verblüfft blieb er stehen und hob den Blick. Am oberen Ende der Treppe standen seine Eltern, beide mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht, seine Mutter die Arme bereits für eine Umarmung ausgestreckt. Jonas überwand die letzten Stufen schneller, als seine verkrampften Beine für möglich gehalten hätten.

„Was macht ihr denn hier?“

„Wir dachten uns, wir holen dich gleich hier ab. Du hast eh so einen langen Weg hinter dir, da ist das letzte Stück im Auto doch besser als mit dem Zug.“

„Aber sowas von.“ Erschöpft und gerührt, schmiegte sich Jonas in die kräftigen Arme seiner Mutter. „Scheiße, hab ich euch vermisst!“

„Hörst du auf zu fluchen!“

„Sorry, Mama.“

„Und ganz dünn bist du geworden!“

„Das bildest du dir nur ein.“

„Komm, gib mir mal deine Tasche.“

„Danke, Papa.“

„Zuhause mache ich dir gleich eine Kleinigkeit zu essen.“

„Mama, ich werd‘ nich‘ verhungern, wenn ich bis zum Abendessen warte.“ Jonas rieb sich über seine juckenden Augen. „Eigentlich will ich bloß noch schlafen.“

„Das ist auch gut“, erwiderte seine Mutter. „Solange du zuhause bist, schläft du in deinem alten Zimmer. Vroni zieht derweil wieder zu Christine in den Speicher.“

„Scheiße, da mach‘ ich mich ja gleich beliebt bei den beiden.“

„Die freuen sich zu sehr auf dich, um groß zu meckern“, sagte sein Vater.

„Ich freu mich auch auf sie.“ Lächelnd schüttelte Jonas den Kopf. „Hätte nie gedacht, dass ich das mal sag. Das dürfen die beiden nie erfahren.“

„Wir müssen ein Stück laufen“, erklärte seine Mutter. „Dein Vater weigert sich, ein paar Euro für den Parkplatz hier am Bahnhof auszugeben. Also stehen wir jetzt in irgendeiner Nebenstraße.“

„Die Preise sind völliger Wucher!“, schimpfte Jonas‘ Vater. „Früher hätte es das nicht gegeben!“

„Jetzt reg dich nicht wieder so auf! Und natürlich gab es das früher schon!“

Jonas grinste. Seine Schwestern und die kleinen Streitereien seiner Eltern. Zwei Dinge, die er erst zu schätzen gelernt hatte, nachdem er nicht mehr täglich von ihnen umgeben war.

Gemeinsam überquerten sie den Parkplatz und Jonas‘ Blick wanderte zu zwei Männern, die sich offenbar gerade voneinander verabschiedeten. Als sie sich zärtlich küssten, fühlte er einen Stich in seiner Brust. Er wollte das auch. Wollte einen Partner, den er liebte. Der ihn liebte. Und den Mut, das aller Welt zu zeigen.

„Schwuchteln.“

„Papa!“ Jonas biss sich auf die Zunge und atmete einmal tief durch, bevor er etwas sagen konnte, das garantiert zur Eskalation führte. „Die küssen sich doch bloß.“

Sein Vater schnaubte. „Die können’s treiben mit wem sie wollen, aber doch bitte in ihren eigenen vier Wänden, nicht hier. Ich will das nicht sehen.“

„Würdest du so’n Scheiß auch sagen, wenn’s ‘n Kerl und seine Ische wären?“

„Die müssten sich auch nicht gerade abschlecken, aber zwischen Mann und Frau ist das eben normal.“

„Homosexualität ist auch normal!“

„Früher hat es das nicht gegeben“, widersprach sein Vater.

„Ja, weil man früher Angst haben musste, dafür in den Knast gesteckt zu werden! Oder halb totgeprügelt! Oder ganz totgeprügelt!“

„Ist ja gut jetzt!“, ging Jonas‘ Mutter dazwischen. „Du musst einfach verstehen, dass dein Vater und ich in anderen Zeiten aufgewachsen sind. Ich finde zwei sich küssende Männer auch seltsam. Bei uns gab’s sowas nicht, zumindest nicht offen. Da können unsere ach so modernen Parteien noch so oft runterbeten, dass das jetzt zu Deutschland gehört – für uns fühlt sich das einfach irgendwie falsch an.“

„Is‘ noch lang kein Grund–“

„Schluss jetzt!“, unterbrach seine Mutter erneut. „Ich will nichts mehr zu dem Thema hören. Ich bin sicher, ihr findet über die Feiertage noch genug andere Gelegenheiten, euch zu streiten.“

Jonas verbrachte die Fahrt nach Hause schweigend auf dem Rücksitz. ‚Irgendwie falsch‘, hatte seine Mutter gesagt. Wie würde sie reagieren, wenn sie erfuhr, dass ihr eigener Sohn ‚irgendwie falsch‘ war?

 

Die Begrüßung zuhause vertrieb Jonas‘ düstere Gedanken. Sein Vater hatte noch nicht einmal den Motor abgestellt, als seine Schwestern die Garage stürmten und ihn aus dem Auto zerrten.

„Endlich bist du da“, nuschelte Vroni in seine Jacke. „Ich hab dich sooooo vermisst.“

Jonas wuschelte ihr durch das dunkle Haar. „Ich dich auch.“ Er konnte sich nicht verkneifen, ein ‚du kleine Kröte‘ hinterherzusetzen und erntete prompt einen erbosten Aufschrei.

„Mama! Jonas ärgert mich schon wieder!“

„Petze!“, neckte Christine und schob ihre kleine Schwester zur Seite, um ihren großen Bruder ebenfalls in die Arme schließen zu können. „Na, wie fühlt es sich an, endlich wieder gute Landluft zu atmen?“

„Gar nich‘ so beschissen“, gestand Jonas. „Dafür kann ich sogar euch ‘n paar Tage ertragen.“

„Na komm“, sagte Christine grinsend, „wir wissen alle, dass du nachts heimlich in dein Kissen weinst, weil du uns so vermisst.“

„Scheiße, du hast mich durchschaut!“ Jonas wischte sich eine imaginäre Träne aus dem Auge. „Ich bin ‘n Häufchen Elend.“

Christine klopfte ihm auf die Schulter. „Das weiß ich doch.“

„Jetzt steht doch nicht hier in der kalten Garage rum!“, rief ihre Mutter. „Jonas, Abendessen gibt’s um–“

„Sechs“, unterbrach er. „Das weiß ich, Mama. Bloß, weil ich ‘n Vierteljahr woanders gewohnt hab, hab ich nich‘ vergessen, wie’s hier so läuft.“

„Umso besser. Dann nutz die Zeit bis dahin, bring deine Sachen auf dein Zimmer, geh duschen und zieh dir was Ordentliches an. Und begrüß Oma!“

Jonas wollte etwas einwenden, entschied sich aber spontan dagegen und stieß lediglich ein gequältes Seufzen aus. „Ja, Mama.“ Er versuchte, das Kichern seiner Schwestern, die ihn bis in sein Zimmer verfolgten zu ignorieren.

Aber sein Zimmer war nicht länger sein Zimmer. Die alte Diele im Türrahmen knarzte, wie sie es immer getan hatte, doch seine Collagen waren durch Poster von Pferden und Popstars ersetzt worden, der schlichte Holzschreibtisch war nun weiß lackiert und auf dem Boden lag ein dünner, grüner Teppich, der nicht ansatzweise so flauschig war wie der, der ihm gehört hatte.

„Gefällt es dir?“, fragte Vroni, ungeduldig von einem Bein auf das andere hüpfend.

„Es is‘ … echt schön geworden.“ Jonas zwang sich ein Lächeln aufs Gesicht.

„Guck, guck, die hat Mama mir geschenkt!“ Sie deutete auf drei besonders ausladende Poster mit Pferden, die für Jonas‘ ungeschulte Augen alle ziemlich gleich aussahen. „Und ich darf eine halbe Stunde am Tag mit deinem Nintendo spielen!“ Nun zeigte Vroni auf den kleinen Schrank gegenüber des Betts, dessen Türen allerdings abgeschlossen waren. Das war wohl der Kompromiss, den Jonas‘ Eltern gefunden hatten, nachdem er seiner kleinen Schwester ohne vorher zu fragen seine alte Konsole überlassen und damit beinahe ein ernsthaftes Familiendrama verursacht hatte. „Und die Vorhänge habe ich selbst aufgehängt!“

„Das ist ja der Wahnsinn!“, rief Jonas und hoffte, Vroni würde die Übertreibung nicht bemerken. „Ich war schon zwanzig, als ich zum ersten Mal Vorhänge aufgehängt habe.“

Vronis Brust schwoll an vor Stolz. „Ich bin eben erwachsener als du!“

„Das bist du“, bestätigte Jonas mit dem ernsthaftesten Gesichtsausdruck, den er zustande brachte. „Tust du mir den Gefallen und guckst mal, wo Oma is‘? Die hab ich noch gar nich‘ gesehen.“

Einen Augenblick lang huschte Misstrauen über Vronis Gesicht, aber dann hüpfte –ja, hüpfte – sie aus dem Raum.

Kopfschüttelnd sah Christine ihr nach. „Was bin ich froh, dass wir bloß drei Jahre auseinander sind, sonst hättest du mich wahrscheinlich auch zu deinem kleinen Lakaien erzogen.“

„Was bin ich froh, dass du dich nich‘ an die ersten paar Jahre deines Lebens erinnern kannst.“ Verschlagen zwinkerte Jonas seiner verdutzten Schwester zu. „Du hast jetzt also den ganzen Speicher für dich allein?“, wechselte er das Thema, während er seine Reisetasche auf das ungewohnt schmale Bett beförderte.

„Jawohl!“ Die Freude darüber war Christine deutlich anzusehen. „Dafür hat es sich fast gelohnt, ihn sieben Jahre mit Vroni teilen zu müssen. Jetzt bin ich beinahe traurig, dass ich nächstes Jahr fürs Studium wohl umziehen muss.“

„Schon ‘ne Ahnung, was du machen willst?“

„Nicht wirklich. Lehramt, vielleicht, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich mich den Rest meines Lebens um die Schratzen anderer Leute kümmern will.“ Christine zuckte mit den Schultern. „Außerdem muss ich meinen Abschluss erst mal schaffen. Glaub bloß nicht, Mama und Papa hätten eine Aushilfe eingestellt, nur, weil du nicht mehr da bist. Ich komme vor lauter Kellnern schon gar nicht mehr zum Lernen.“

„Ach komm, als ob du jemals viel für die Schule getan hättest“, widersprach Jonas, auch, um sein schlechtes Gewissen zu mildern. „Du schaffst so oder so ‘nen Bombenabschluss.“

„Jaaa, da hast du wohl recht“, antwortete Christine grinsend. „Ich bin immer noch eine der Jahrgangsbesten.“

„Streber und Angeber zugleich. Bist sicher beliebt.“ Jonas schüttelte den Kopf. „Und mir Schulgefühle einreden, is‘ auch nich‘ grad die feine Art.“

„Dann erklärst du dich vielleicht eher bereit, mich über Silvester mit nach München zu nehmen.“

„Mama und Papa haben aber schon ‚Nein‘ gesagt!“, petzte Vroni, die sich unbemerkt zurück ins Zimmer geschlichen hatte.

„Was ist mit Oma?“, erkundigte sich Jonas.

„Die sitzt in der Küche. Und Christine darf nicht nach München, weil sie noch nicht alt genug ist!“

„Was echt unfair ist“, murrte diese. „Jonas durfte schon mit sechzehn in München Party machen.“

„Jonas ist ja auch ein Junge!“, erklärte Vroni, als wäre damit alles gesagt.

„Das ist genau diese sexistische Kackscheiße, die heutzutage einfach nicht mehr existieren sollte!“

So wie Jonas seine Schwester kannte, regte sie sich mehr über die Begründung ihrer Eltern auf, als darüber, Silvester nicht in München feiern zu können. Beschwichtigend hob er die Hände, um den beginnenden Streit zu beenden. „Is‘ ja gut. Ich versuch mal, sie zu überreden, wenn, und nur wenn du versprichst, mir keinen Ärger zu machen.“

„Ach Bruderherz, wann habe ich jemals Ärger gemacht?“

„Das war jetzt hoffentlich ‘ne rhetorische Frage? Und jetzt raus hier, ich bin’s nich‘ mehr gewohnt, euch nervige Pestbeulen so lang um mich zu haben!“ Jonas wedelte mit den Händen, als wollte er ein lästiges Insekt verscheuchen und seine Schwestern traten kichernd den Rückzug an.

Nach einer kurzen Dusche, zwängte er sich in das Hemd, von dem er wusste, dass es seiner Mutter gefallen würde, musterte sich kurz im Spiegel und tauschte es wieder gegen einen seiner bequemen Kapuzenpullover. Auf Socken schlich er durch das Haus und wurde schnell fündig.

Jonas‘ Oma hatte es sich auf dem alten Schaukelstuhl bequem gemacht, der aus irgendeinem Grund immer in der Küche, anstelle des Wohnzimmers stehen musste. Hinter ihr dudelte das Radio so leise, dass er sich nicht sicher war, ob sie es überhaupt hörte.

Der vertraute Anblick, eine Erinnerung an seine Kindheit, wärmte sein Herz. „Hallo, Oma“, begrüßte er sie.

„Bua!“, rief sie freudig und kämpfte sich aus dem Stuhl hoch, um ihn in die Arme zu schließen. „I hob di gor ned g‘heard.“

„Bin auch erst vor ein ‘ner halben Stunde oder so angekommen.“ Eng kuschelte er sich an die Frau, die er für den Rest seines Lebens mit Wolle und Butterplätzchen verbinden würde.

„Bleibst a weng bei mia hockn? Erzeast vo da großn Stod?“

„Solange du willst.“ Und es wurde lange. Anstatt die Zeit bis zum Abendessen zu verschlafen, saß Jonas bei seiner Oma am Küchentisch und erzählte ihr, was er in den vergangenen Monaten so erlebt hatte. Jedenfalls das meiste. Seine Abenteuer mit Erik und Dominik sparte er geflissentlich aus.

Je näher der Abend rückte, umso mehr Familienmitglieder gesellten sich zu ihnen, bis irgendwann die ganze Familie am Tisch versammelt war. Der Heiligabend war offiziell eingeläutet.

 

Jonas lag auf seinem Bett, das Leuchten seines Handys die einzige Lichtquelle im Raum. Der Großteil seiner Freunde hatte seine Frohe-Weihnachten-Nachricht beantwortet, nur Maria, Erik und Dominik fehlten noch. Er rief seinen Chat mit Maria auf und las noch einmal seine letzten Nachrichten an sie.

 

Du, 22:34 Uhr

schade, dass wir uns heute nich mehr gesehen haben.

 

Du, 22:34 Uhr

hätte nich gedacht, dass der erste tag zuhause so anstrengend wird

 

Du, 22:34 Uhr

warst du in der kirche? hätte beinahe drama bei uns geben

 

Du, 22:35 Uhr

dabei war ich schon die letzten jahre nich mehr da

 

Du, 23:01 Uhr

ist es bei dir auch so … komisch?

 

Du, 23:05 Uhr

ich mein, es is echt super, meine fam wiederzusehen, aber irgendwie fühl ich mich wie der totale außenseiter.

 

Jonas sah, dass Maria jede einzelne seiner Nachrichten gelesen hatte, aber sie ließ sich Zeit mit ihrer Antwort. Er war kurz davor, einfach anzurufen, als sie zu tippen begann.

 

Maria, 23:13 Uhr

Bin ziemlich geschafft, daher die Kurzfassung: Ich bin wieder im Wohnheim in München. Riesenstreit. Details gibt es ein andermal.

 

Das klang gar nicht gut. Allmählich begann Jonas, sich Sorgen um Maria zu machen. Sie hatte sich in den vergangenen Monaten zunehmend von ihm abgekapselt, die meisten Telefonate wegen Zeitmangel abgesagt und es bei oberflächlichem Geplänkel belassen, wenn sie doch einmal miteinander gesprochen hatten. Rasch antwortete er:

 

Du, 23:13 Uhr

fuck! tut mir echt leid. kann ich irgendwas tun?

 

Maria, 23:16 Uhr

Sorry, ich will grad nur allein sein. Aber du könntest an Silvester zu mir kommen, dann haben wir Zeit zum Reden. Gute Nacht.

 

Du, 23:16 Uhr

machen wir so. schlaf gut!

 

Jonas tastete nach dem Schalter der Nachttischlampe. Ihr kurzer Austausch hatte nicht dazu beigetragen, ihn zu beruhigen, aber er kannte Maria gut genug, um zu wissen, dass alles Bohren nichts nutzte, wenn sie nicht darüber sprechen wollte. Schlafen konnte er dennoch nicht mehr.

Zum gefühlt tausendstem Mal an diesem Abend, bewunderte er die Spiegelreflexkamera, die seine Eltern ihm geschenkt hatten. Sie war wundervoll, genau das Modell, das er schon so oft sehnsüchtig im Laden beäugt hatte, weshalb auch ihr unverschämt hoher Preis kein Geheimnis für ihn war. Seine Eltern mochten nicht glücklich über seine Studienwahl sein, aber sie taten ihr Bestes, um ihn zu unterstützen. Zärtlich strich er über das pechschwarze Gehäuse und entfernte eine winzige Staubfluse vom Objektiv. Wenn er sich doch nur sicher sein könnte, dass seine Eltern auch andere Teile seines Lebens so leicht akzeptieren würden.

Jonas‘ Handy kündete von einer weiteren Nachricht, aber zu seiner Enttäuschung, hatte sich Maria nicht spontan dazu entschieden, ihm doch noch ihr Herz auszuschütten. Stattdessen hatte Dominik geantwortet.

 

Dominik, 23:22 Uhr

Dir auch frohe Weinachten.

 

Du, 23:22 Uhr

danke. hattest du einen schönen abend?

 

Dominik, 23:23 Uhr

Ja.

 

Genervt rollte Jonas mit den Augen. Sie konnten sich schon nicht richtig unterhalten, wenn sie sich direkt gegenübersaßen, schriftlich war es nahezu unmöglich. Eine weitere Nachricht von Dominik schien dieser These jedoch zu widersprechen, denn sie war ungewohnt lang.

 

Dominik, 23:29 Uhr

Ich habe nachgedacht und ich glaube nicht, dass das zwischen uns funktioniert. Du bist wirklich nett, aber wohl einfach nicht mein Typ. Tut mir leid, ich hoffe du verstehst das. Viel Glück bei deinem Projekt!

 

Jonas las den Text wieder und wieder, doch auch nach dem dritten Mal, konnte er nicht sagen, was er in ihm auslöste. Er hatte schon lange geahnt, dass er und Dominik nicht wirklich zusammenpassten und wenn er ehrlich zu sich selbst war, schlug sein Herz ohnehin für Erik. Letztlich war es unfair von ihm gewesen, Dominik als Lückenbüßer zu missbrauchen und es war gut, dass dieser ihm die Entscheidung abgenommen hatte, das zwischen ihnen nicht weiterzuführen.

Die Ablehnung schmerzte aus einem ganz anderem Grund. Jonas war einsam. Seine Familie, seine Freunde, sogar Maria; niemandem schien er sich wirklich öffnen zu können. Entweder, sie waren zu sehr mit ihrem eigenen Leben beschäftigt, um ihm zuzuhören, oder sie brachten einfach kein Verständnis für ihn auf. Jetzt hatte sich die Zahl der Personen, mit denen er sich über etwas anderes als das Wetter und die letzte Party unterhalten konnte noch weiter reduziert.

 

Du, 23:36 Uhr

is okay. dir auch viel erfolg für deine klausuren!

 

In Jonas‘ Kopf klangen diese Worte so verlogen wie sie waren, aber mit etwas Glück bemerkte Dominik das nicht. Und selbst wenn, brauchte es Jonas im Grunde nicht zu interessieren. Die Sache mit ihnen war gelaufen.

Er löschte das Licht, drückte sein Gesicht tief in das viel zu weiche Kissen und inhalierte den vertrauten Duft nach seiner Kindheit, der nicht mehr wirklich zu ihm passen wollte.

 

Kapitel 11

Was zuletzt geschah:

Jonas verbringt die Weihnachtsferien in Bayern, ein Besuch, der von guten und weniger guten Erlebnissen durchzogen ist. Ein Zusammenstoß auf dem Parkplatz des Busbahnhofs erinnert ihn unsanft daran, weshalb er zögert, sich vor seinen Eltern zu outen. Dominik nimmt ihm derweil die Entscheidung ab, ob sie sich wiedersehen sollen oder nicht und Erik hat noch kein Wort über das Weihnachtsgeschenk verloren, das Jonas ihm – ohne erklärenden Zettel – in den Briefkasten geworfen hatte.

 

Kapitel 11

Jonas schreckte hoch. Hatte er schlecht geträumt? Orientierungslos blickte er sich in der Dunkelheit um und entdeckte, dass das Display seines Handys leuchtete. Er musste vergessen haben es auf ‚stumm‘ zu schalten und prompt hatte ihn das Piepsen einer eingegangenen Nachricht aus dem Schlaf gerissen. Sein Herz machte einen Hüpfer, als er sah, von wem diese stammte.

 

Erik, 04:47 Uhr

Dir auch frohe Weihnachten :)

Bist du über die Feiertage bei deinen Eltern?

 

Spontan und noch zu verschlafen, um darüber nachzudenken, ob das eine gute Idee war, wählte Jonas‘ Eriks Nummer. Schon nach dem zweiten Klingeln hob dieser ab.

„Mit einem Anruf hatte ich gar nicht gerechnet. Ich habe dich jetzt aber nicht geweckt, oder?“

„Nee, passt schon.“

„Sicher? Du klingst nämlich, als wärst du eben erst aus dem Bett gefallen.“

„Jaa, okay. Vielleicht hast du mich geweckt. Ich bin aber nich‘ der einzige hier, der müde klingt.“

„Ich bin gerade erst von der Arbeit nach Hause gekommen.“

Jonas warf einen Blick auf den mit fluoreszierenden Pferdestickern beklebten Wecker, den seine Schwester neben dem Bett platziert hatte. Es war fast fünf Uhr morgens. „Scheiße, dann willst du sicher gleich pennen gehen. Ich wollt dich nich‘ stören.“

„Tust du nicht“, versicherte Erik. Da war eine kleine Pause, ein oder zwei gleichmäßige Atemzüge, bevor er hinzufügte: „Ehrlich gesagt ist es schön, deine Stimme zu hören.“

Jonas öffnete und schloss seinen Mund, unsicher, was er erwidern sollte. Unsicher, ob ein Herz so klopfen konnte, ohne Schaden zu nehmen.

Glücklicherweise schien Erik keine Antwort zu erwarten. „Im Club war heute der Teufel los.“

Das war besser. Das war bekanntes Terrain. Darauf konnte Jonas angemessen reagieren. „So schlimm?“, fragte er mitfühlend. „Ich dacht, an Weihnachten wär’s eher leer. Meine Eltern schließen die Wirtschaft über die Feiertage immer komplett.“

„Wirklich gut besucht war es bei uns auch nicht. Das kommt dann an Silvester. Aber manchmal fühlt es sich an, als würden die paar, die an Weihnachten da sind, sich extra Mühe geben, Mist zu bauen. Wir hatten heute dreimal den Krankenwagen hier. Einmal mitsamt Polizei, weil zwei Idioten meinten, sich prügeln zu müssen.“

„So ‘ne Scheiße. Gibt das Ärger für den Club?“

„Das wohl nicht. Nur Papierkram. Und noch mehr Stress.“

„Nimm’s mir nich‘ übel, aber du klingst echt fertig“, sagte Jonas. „Kannst du nich‘ mal ‘n paar Tage Urlaub nehmen oder so?“

„Ich habe ein paar anstrengende Wochen hinter mir“, räumte Erik ein. „Aber ich denke, es wird besser.“ Er gähnte herzhaft. „Lass uns über etwas Angenehmeres reden, ja?“

Offensichtlich war Erik bemüht, die Frage nach Urlaub zu umschiffen und Jonas entschied, ihn nicht weiter zu drängen. „Hast du mein Geschenk gekriegt?“, erkundigte er sich stattdessen nervös.

„Geschenk? Welches … Ah! Das im Briefkasten? Das ist von dir?“

Jonas lachte über seine eigene Dummheit. „Ich hab vergessen, ‘ne beschissene Karte reinzulegen.“ ‚Vergessen‘, war zugegebenermaßen ein Euphemismus für ‚gekniffen‘. „Eigentlich wollt ich’s dir persönlich geben, aber ich musste in aller Herrgottsfrüh meinen Bus erwischen und dachte, dass du um die Zeit sicher noch schläfst.“

„Und ich bedanke mich für deine Umsicht, indem ich dich mitten in der Nacht wecke.“ Erik seufzte. „Jetzt habe ich gleich ein doppelt schlechtes Gewissen. Ich habe gar nichts für dich.“

„Brauchst du nich‘!“, beteuerte Jonas. „Is‘ ja nur ‘ne Kleinigkeit und war auch eher ‘ne spontane Idee.“

„Trotzdem … Ich revanchiere mich, wenn du wieder in Berlin bist.“

„Wenn du drauf bestehst, sag‘ ich nich‘ ‚Nein‘.“ Ruhelos zwirbelte Jonas das Bettlaken zwischen den Fingern. Erik hatte noch kein Wort darüber verloren, ob ihm der Bilderrahmen gefiel. „Ähm, also, was das Geschenk betrifft …“

„Ah, warte, ehrlich gesagt, bin ich noch gar nicht zum Auspacken gekommen.“

„Oh. Ach so.“

„Moment, das ändern wir gleich. Ich stell dich mal eben auf laut.“

Jonas hörte Schritte und schließlich ein Rascheln im Hintergrund. Es schien ewig zu dauern. „Du bist jetzt aber nich‘ einer von diesen Spießern, die ihre Geschenke feinsäuberlich auspacken und das Papier glattbügeln, damit sie es wiederverwenden können, obwohl sie genau wissen, dass sie das nie tun werden?“

Erik lachte. „Das nicht, aber ich lasse mir beim Auspacken tatsächlich gerne Zeit. Schließlich hat sich der Schenkende doch auch Mühe beim Einpacken gegeben. Es fühlt sich irgendwie falsch an, das überhaupt nicht zu würdigen und das Papier einfach aufzureißen.“ Das Rascheln wurde lauter, bevor es verstummte. „Ah, ein Bilderrahmen. Der ist hübsch. Danke.“

Hübsch. Das war maximal eine Nuance besser als ‚nett‘. Es dauerte einen Moment, bis Jonas klar wurde, dass Erik die Idee dahinter nicht kannte.

„Weißt du, ähm … Als ich das letzte Mal bei dir war, da hatte ich doch das Foto mit deinen Eltern in der Hand und … da war so ein kleiner Sprung im Glas. Nich‘ tragisch, aber ich dacht, vielleicht willst du zumindest das Glas austauschen. Der Rahmen sollte die passende Größe haben.“

„Ah, das …“ Erik schwieg einen Augenblick und als er weitersprach, klang seine Stimme belegt. „Das ist wirklich sehr aufmerksam von dir. Danke. Nochmal.“

„Nicht dafür“, flüsterte Jonas.

Erneut herrschte Schweigen, bis sich Erik hörbar räusperte. „Wann bist du denn wieder in Berlin?“

Die Ecke des Bettlakens, die zwischen Jonas‘ unruhige Finger geraten war, musste inzwischen beinahe durchgewetzt sein. Er bemühte sich, die fröhliche Neutralität zu kopieren, mit der Erik gesprochen hatte. „Die Uni geht am zweiten Januar weiter, also muss ich schon Neujahr zurück. Wird super. Wer will nich‘ nach ‘ner durchgefeierten Nacht acht Stunden im ruckelnden Bus hocken?“

„Ich würde ja vorschlagen, dass du es an Silvester einfach ruhig angehen lassen solltest, aber irgendwie halte ich das für unrealistisch.“

„Japp. Völlig.“

„Hmm, dann kann ich dir wohl nur eine gute Kondition und einen starken Magen wünschen.“

„Den wünsch‘ ich mir auch. Eigentlich wollt‘ ich ja bloß über die Weihnachtsfeiertage bleiben und hab mich eher von meinen Eltern breitschlagen lassen, Silvester noch dranzuhängen, aber …“

„Aber?“

„Ich hab völlig unterschätzt, wie sehr mir meine Familie fehlt“, gab Jonas zu. „Ich will so viel Zeit wie möglich mit ihnen verbringen.“

„Das kann ich sehr gut verstehen.“

Der Schwermut in Eriks Stimme versetzte Jonas einen Stich. „Fuck. Das war grad echt richtig unsensibel von mir, oder?“

„Warum?“

„Naja, weil ich … Ich mein, ich jammere hier, wie sehr ich meine Familie vermiss, während du …“

„Jonas“, schalt Erik sanft. „Nur, weil ich meine Familie verloren habe, musst du deine doch nicht totschweigen. Jeder hat sein Päckchen zu tragen.“

Jonas war sich nicht sicher, ob es Eriks Müdigkeit geschuldet war, aber da schwang etwas in seinen Worten mit, eine Art resignierte Erschöpfung, die ihm Sorgen bereitete. „… Erik?“

„Hm?“

„Wenn … Wenn du mit mir über etwas quatschen willst, keine Ahnung, zum Beispiel, warum die Arbeit grad so scheiße ist oder was grad Ätzendes in der Uni passiert oder auch irgendwas ganz anderes, dann … dann hör ich dir zu. Also, natürlich bloß, wenn du Bock hast, aber … Ich bin da.“

„Ah, das ist ein liebes Angebot, aber mein Leben ist bei weitem nicht so aufregend, wie du vielleicht denkst.“

„So war das nich‘ gemeint!“ Innerlich fluchte Jonas ein weiteres Mal über seine Gedankenlosigkeit. Er hatte nicht den Eindruck erwecken wollen, sensationsgierig zu sein. „Ich dachte nur … Keine Ahnung. Jeder braucht doch mal jemanden, bei dem er sich ausjammern kann.“ Toll, jetzt klang es, als nähme er an, Erik hätte keine Freunde. „Ich mein, ähm, ich–“ Ein durch den Hörer dringendes Gähnen unterbrach ihn.

„Entschuldige“, murmelte Erik. „Ich fürchte, ich gehöre ins Bett.“

„Merkt man gar nich‘“, neckte Jonas in einem Versuch, wieder einen etwas lockereren Ton in ihre Unterhaltung zu bringen.

„Meldest du dich, wenn du wieder in Berlin bist?“

„Klar!“

„Dann hab noch schöne Feiertage und wir hören voneinander. Schlaf gut.“

„Du auch.“ Nachdem Jonas aufgelegt hatte, schwang er die Beine über die Bettkante. Was er jetzt brauchte, war kein Schlaf, sondern etwas zu trinken. Vorzugsweise Alkohol.

Seine nackten Füße platschten leise auf den kühlen Küchenfliesen und die Gestalt, die im Schein der Kühlschranklampe gerade dessen Inhalt plünderte, zuckte zusammen. „Du hast mich vielleicht erschreckt!“

„Geschieht dir recht, du Diebin.“ Anklagend deutete Jonas auf Christine. „Aber ich bewahre Stillschweigen, wenn du mir was abgibst.“

„Was willst du elendiger Erpresser denn haben?“

„Irgendwas mit Promille.“

„Harte Nacht?“ Grinsend reichte Christine ihm ein kühles Bier und öffnete sich selbst ebenfalls eines. „Hast du deshalb schon so selig geschlafen, als wir von der Christmette zurückgekommen sind?“

„Ich hab gepennt, weil ich den halben Tag in ‘nem verfickt unbequemen Bus verbracht hab“, maulte Jonas.

„Oooh, armer großer Bruder.“ Christine lehnte sich gegen den Tresen. „Wenn du bei Mama und Papa auch so gejammert hast, verstehe ich sogar, warum sie dich mit nur minimalem Theater hiergelassen haben. Aber wehe, ich sage ihnen, dass ich keinen Bock auf diese archaische, frauenverachtende Institution hab. Gott bewahre, das ist ein halber Weltuntergang.“

Jonas setzte sich auf einen der Barhocker neben ihr. „Vielleicht probierst du’s mal mit anderen Worten?“

„Du meinst, ich soll so diplomatisch vorgehen wie du? Hab schon gehört, dass du gestern ungefähr fünf Minuten gebraucht hast, um mit Papa aneinanderzugeraten.“

„Oh. Die Sache.“

„Was war denn los mit dir? Du reagierst doch sonst nicht so angefressen, wenn er mal einen blöden Spruch bringt. Und wir wissen beide, dass er echt oft blöde Sprüche bringt.“

„Muss ich mir das jetzt echt auch von dir anhören? ‘Reg dich nicht so auf‘, ‘Sind doch nur Worte‘, ‘Ignorier es doch einfach‘. Diese ganze Scheiße?“

„So habe ich das nicht gemeint“, widersprach Christine sichtlich verblüfft über Jonas‘ heftige Reaktion. „Aber bisher hast du’s eher mit Humor genommen, anstatt voll auf Konfrontation zu gehen.“

„Vielleicht hab ich’s einfach satt, sowas einfach nur zu schlucken und zu tun, als würd’s mich gar nich‘ wirklich stören.“ Jonas warf einen Seitenblick auf seine Schwester, deren Aufmerksamkeit allerdings eher auf ihrem Bier zu liegen schien als auf ihm. Sein Herz pochte und sein Hals war so eng, dass er nicht glaubte, noch einen einzigen Schluck trinken zu können. „Haben … Haben sie dir auch erzählt, was Papa überhaupt gesagt hat?“

„Sie haben mir gar nichts erzählt“, erwiderte Christine achselzuckend. „Ich hab‘s nur am Rande mitbekommen, als sie sich auf dem Weg zur Kirche unterhalten haben.“

„Und?“

„Was ‚und‘? Der Schwuchtel-Spruch? Ja, ist dämlich, aber political correctness hat Mama und Papa doch noch nie interessiert und wenn ich das richtig verstanden habe, haben die beiden Typen, die sich da geküsst haben, das sowieso nicht gehört. Warum also die Aufregung?“

„Weil ich es gehört habe!“ Jonas flehte, dass der Groschen bei Christine fallen würde, bevor er expliziter werden musste. Gleichzeitig flehte er, dass genau das nicht passieren würde.

„Ja, Jonas, so langsam habe ich verstanden, dass du dich an dem Wort störst. Tu ich ja auch, aber ich kapier einfach nicht, warum du dir die Mühe machst, dich deshalb mit Mama und Papa anzulegen. Die beiden ändern sich nicht mehr.“

„Also schlägst ausgerechnet du, die idealistische Feministin, die einen Sitzstreik in der Schule organisiert hat, weil ein Informatikkurs, der sie überhaupt nicht interessiert hat explizit für Jungs ausgeschrieben war mir vor, sowas einfach stillschweigend hinzunehmen?“

Christine rollte mit den Augen. „Da war ich zwölf! Heute ist mir klar, dass man sich seine Kämpfe aussuchen sollte.“

„Vielleicht hab ich genau das getan.“ Jonas starrte auf seine Finger, die den Hals seiner Bierflasche umklammerten. „Ich mein …Was, wenn Papa mich damit quasi auch ansprechen würde?“

„Womit? Mit ‚Schwuchtel‘?“

Jonas zuckte mit den Schultern und wagte es nicht, Christine anzusehen. Spätestens jetzt genoss er ihre volle Aufmerksamkeit.

Sie zögerte. „Jonas … Versuchst du gerade, mir zu sagen, dass du schwul bist?“

Wieder zuckte er mit den Schultern und brachte erst nach einigen Sekunden ein nahezu unmerkliches Nicken zustande. Plötzlich brannten Tränen in seinen Augen, die er wütend wegblinzelte. Eine sanfte Berührung an seiner Schulter ließ ihn aufblicken.

„Hey, du weißt, dass ich …“ Christine stockte und musterte ihn eindringlich. „Himmel, Jonas! Hast du wirklich geglaubt, das würde irgendwas zwischen uns ändern?“

„Ich … Keine Ahnung.“ Beinahe hätte Jonas sein Bier fallen lassen, als seine Schwester ihn in eine überraschend feste Umarmung zog.

„Natürlich ändert sich nichts!“

Ein Schluchzen kämpfte sich aus Jonas‘ zugeschnürter Kehle, die Finger seiner freien Hand krallten sich in Christines Shirt. Er hörte auf, gegen seine Tränen zu kämpfen und mit ihnen schien auch eine Last aus seinem Körper zu fließen, der er sich bis zu diesem Moment nicht einmal wirklich bewusst gewesen war.

„Ist ja gut, ist ja gut.“ Liebevolle Worte flüsternd, hielt Christine ihn in ihren Armen.

Mit verquollenen Augen und feuchten Wangen, löste sich Jonas schließlich von ihr und wischte verschämt eine weitere Träne aus seinem Augenwinkel. „Sorry.“

„Wofür?“, fragte Christine belustigt, wurde gleich darauf jedoch wieder ernst. „Da hat sich ganz schön was aufgestaut, was?“

„Kann schon sein.“

Sie nahm einen tiefen Schluck von ihrem mittlerweile vermutlich warmen Bier. „Ich nehme mal an, Mama und Papa wissen es nicht?“

„Bezweifle ich. Von mir jedenfalls ganz sicher nich‘.“

„Dann bin ich die Erste, der du es erzählt hast?“

Jonas schüttelte den Kopf. „Maria weiß es schon lang. Eine Kommilitonin in Berlin seit ein paar Wochen und … noch ein anderer Freund.“

„Clemens?“

„Was? Nein!“ Dieser Gedanke kam Jonas so absurd vor, dass er beinahe gelacht hätte. „Jemand in Berlin.“

„Ach so.“ Neugierig musterte Christine ihren Bruder. „Wirst du es Mama und Papa erzählen?“

„Keine Ahnung.“

„Hast du Angst, dass sie es nicht akzeptieren?“

„Kannst du mir garantieren, dass sie‘s tun?“

„Ich …“ Christine seufzte. „Ich wünschte, ich könnte. Ich meine, ich glaube, dass sie es tun. Sie lieben dich, völlig egal, ob du jetzt Männer oder Frauen oder beides vögelst. Aber … Vielleicht dauert es eine Weile, bis ihnen das bewusst wird.“

„Genau davor hab ich Angst.“

„Das verstehe ich.“ Christine wuschelte durch Jonas‘ Haare und grinste, als er ihre Hand ungeduldig beiseite schlug. „Egal, ob du es ihnen sagst oder nicht und wie sie reagieren, ich stehe immer hinter dir.“

„Danke“, murmelte Jonas. „Ganz ehrlich, es tut verflucht gut, das zu hören.“

„Dann waren Maria und du …“

„Nur Freunde. Ihr habt einfach bloß angenommen, dass da mehr wäre, also haben wir euch irgendwann in dem Glauben gelassen. Waren scheißfroh, dass damit endlich die nervige Fragerei und die beschissenen Anspielungen aufgehört haben.“

„Dafür bekomme ich das jetzt voll ab.“ Genervt verdrehte Christine die Augen. „‚Oh, Schätzchen, guck mal. Der ist doch niedlich‘“, äffte sie die Stimme ihrer Mutter nach. „‚Hast du denn noch keinen Jungen gefunden, der dir gefällt? Du bist doch mitten im besten Alter für die erste Liebe!‘ Bla, bla, bla. Aber wehe, ich würde einen nach Hause bringen, was denkst du, wie sie da reagieren würden?“

„Du meinst abgesehen davon, dass sie dir ‘nen Keuschheitsgürtel verpassen?“ Dieses Mal lachte Jonas wirklich. „Sagen wir mal, ich bin gleichermaßen froh wie enttäuscht, dass ich vermutlich nicht daheim sein werde, um Zeuge dieses Gesprächs zu werden.“

„Dein Mitgefühl ist beeindruckend“, erwiderte Christine trocken. „Was ist mit Maria? Ist sie … Steht sie auf Frauen?“

„Nee, sie hat‘s einfach generell nich‘ so mit dem ganzen Getue um Liebe, Sex und Partnerschaft.“ Er stöhnte auf. „Und eigentlich sollt‘ ich dir das gar nich‘ erzählen. Geht dich nix an.“

Christine lachte. „Zu spät, du Labertasche.“ Sie nippte an ihrem Bier. „Ich steh‘ dafür umso mehr drauf.“

„Wäh!“ Empört hielt sich Jonas die Ohren zu. „So’n Scheiß will ich von meiner kleinen Schwester echt nich‘ wissen!“

„Spießer.“

Jonas wollte protestieren, hielt dann aber inne. So wie er versucht hatte, seiner Schwester durch die Blume von seiner Homosexualität zu erzählen, schien sie jetzt ihm etwas anvertrauen zu wollen. „Verstehe ich das richtig, dass du jemanden kennengelernt hast?“

„Vielleicht.“

Er schnaubte. „Na los, erzähl schon.“

„Da gibt es nicht viel zu erzählen“, sagte Christine achselzuckend. „Wir haben uns ursprünglich über ein Forum kennengelernt, rausgefunden, dass wir gar nicht so weit voneinander entfernt wohnen und das war’s. Aber bisher hatten wir kaum Gelegenheiten, uns zu treffen.“

„Und ihr plant, dafür wenigstens Silvester miteinander zu verbringen“, schlussfolgerte Jonas. „Von wegen, du willst nach München. Du willst einfach bloß Zeit mit deinem Typen verbringen.“

„Du bist ja doch nicht so blöd, wie ich immer dachte.“

„Vorsicht“, warnte er. „Wenn ich den Scheiß decken soll, bist du besser lieb zu mir.“

„Also machst du’s?“

Jonas musterte seine Schwester. „Nur, wenn du mir versprichst, keinen Scheiß zu bauen. Schwanger werden oder so.“

„Jawohl, Mama.“

„Muss ich dir zeigen, wie man Gummis benutzt?“

„Bitte nicht. Ich bin bestens informiert. Genaugenommen wette ich, dass ich dir noch den einen oder anderen Trick beibringen könnte.“

„Okay.“ Jonas stellte seine leere Flasche ab und stand auf. „Alles Bier der Welt wird mich nich‘ dazu bringen, jemals wieder so’n Gespräch mit meiner kleinen Schwester zu führen. Ich geh ins Bett.“

„Hey, Jonas!“

Er drehte sich noch mal um. „Was?“

„Ich hab dich lieb.“

Ein warmes Lächeln breitete sich auf Jonas‘ Gesicht aus und spiegelte das seiner Schwester. „Ich dich auch.“

Wieder wandte er sich zum Gehen und wieder hielt sie ihn zurück. „Hey!“

„Ja?“

„Was ist mit dir? Gibt es da jemanden, von dem ich wissen sollte?“

Jonas zuckte lediglich mit den Schultern und war froh, dass sich Christine mit dieser Antwort zufriedengab.

Vielleicht lag es am Bier, aber sobald er den Kopf auf sein Kissen gelegt hatte, schlief Jonas wie ein Welpe nach einem anstrengenden Tag im Park.

 

Kapitel 12

Was zuletzt geschah:

Wichtige Gespräche finden immer in der Küche statt. Dieser Regel folgend, nutzt Jonas eine nächtliche Begegnung mit seiner Schwester für sein Comingout und erntet entgegen seiner Befürchtung keine Ablehnung, sondern eine rippenbrechende Umarmung.

Damit hat er eine Sorge weniger, doch ein paar andere bleiben. Ist seine Beziehung zu Erik wirklich rein sexuell? Und was zur Hölle ist eigentlich mit Maria los?

 

Kapitel 12

„Und du trinkst keinen Schluck Alkohol!“

„Natürlich nicht, Mama“, versprach Jonas etwa zum fünfzigsten Mal.

„Und du hast deine Schwester im Blick!“

„Ja, Papa.“ Das hatte er sicher schon sechzig Mal versprochen.

„Und du rufst an, wenn etwas sein sollte.“

„Aber ja.“

„Denk daran, dass Christine minderjährig ist.“

„Christine steht übrigens neben euch und hört jedes Wort“, maulte diese ihre Eltern an. „Ich werde mich nicht abfüllen, schwängern oder entführen lassen. Jonas wird in der Rolle des verantwortungsvollen Fahrers und großen Bruders völlig aufgehen. Können wir jetzt, da sich alle über die Bedingungen im Klaren sind, endlich los?“

„Fahrt vorsichtig.“ Jonas‘ Mutter zog ihre beiden Kinder in eine rippenzermalmende Umarmung.

„Aber ja“, versicherte Jonas. „Is‘ doch bloß München. Die Fahrt dauert nich‘ mal ‘ne Stunde.“

„Denk immer daran, dass alle anderen Volltrottel sind und fahr entsprechend“, mahnte sein Vater.

„Daran musst du mich wirklich nich‘ erinnern.“

„Okay, ich erkläre das hier jetzt offiziell für beendet!“ Christine ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und schloss die Tür mit einem lauten Knall.

„Wir sehen uns morgen.“ Jonas beeilte sich, seiner Schwester zu folgen, bevor seine Eltern ihre Belehrungen fortsetzen konnten. Es war wundervoll, wieder hinter dem Steuer seines geliebten, kleinen Autos zu sitzen, das er bei seinem Umzug nach Berlin schweren Herzens Christine vermacht hatte.

„Schade, dass du zu jung bist, um meinen Begleiter zu spielen“, sagte diese. „Sonst könnte ich jetzt fahren.“

„Und mir den ganzen Spaß verderben?“ Jonas tippte gegen seine Schläfe. „Vergiss es!“

„Dann hoffe ich mal, dass du das Fahren mit der alten Rostlaube noch nicht verlernt hast. Ist ja doch schon eine Weile her, seit du das letzte Mal damit unterwegs warst.“

„Jetzt fang du nich‘ auch noch an!“ Auch diesen Vortrag hatte Jonas bereits von seinen Eltern zu hören bekommen. Zu seiner Erleichterung, erinnerte sich sein Körper genau an die kleinen Macken und Bedürfnisse des Wagens und bald brausten sie entspannt über die Landstraße.

„Was treiben du und Maria heute?“, fragte Christine, nachdem eine ganze Weile nur das Radio zu hören gewesen war.

„Keine Ahnung. Ich treff‘ mich erst mal mit ihr im Wohnheim und dann sehen wir mal weiter.“

„Langweilig!“

„Will ich fragen, was du und dein … ähm … Freund? … so plant?“

„Mein Freund. Sprich es ruhig aus.“ Glücklicherweise schien Christine über Jonas‘ Zögern eher amüsiert als verstimmt. „Und ich bezweifle, dass du die Antwort darauf hören willst.“

„Ich wollt‘ noch nich‘ mal das hören …“ Jonas warf seiner Schwester einen raschen Seitenblick zu. „Bist du dir sicher, dass das eine gute Idee ist?“

„Was?“

„Allein bei diesem Typen zu bleiben? Ich fühl‘ mich nich‘ besonders wohl dabei, dich einfach bei dem abzusetzen. Sollt‘ was sein, brauch‘ ich sicher ‘ne halbe Stunde, bis ich bei dir bin.“

„Würdest du das auch sagen, wenn ich ein Kerl wäre?“

„Japp“, erwiderte Jonas schlicht. „Dann wär‘ der Typ nämlich trotzdem irgendwer, den du im Internet aufgegabelt hast.“

„Och Jonas, ich bin doch nicht blöd.“ Christine schüttelte den Kopf. „Natürlich treffen wir uns heute nicht zum ersten Mal. Das hast du falsch verstanden. Wir hatten schon einige Dates, aber nie die Gelegenheit, mal allein miteinander zu sein.“

„Oh.“ Jonas diskutierte mit sich selbst und traf eine Entscheidung. „Ich würd‘ ihn trotzdem gern kennenlernen. Sonst mach ich mir den ganzen Abend Sorgen.“

„Aber ja, großer Bruder. Du darfst ihn mal kurz beschnuppern, wenn du dich dann besser fühlst.“

„Glaub mir, wir profitieren beide davon, wenn ich dich nich‘ alle fünf Minuten anrufe, um zu checken, ob du noch lebst oder schon in irgendnem Folterkeller hängst.“

„Wenn du es jetzt noch schaffst, nicht an seinem Haus vorbeizufahren, haben wir einen Deal.“

„Oh, ups.“ Jonas hatte die resignierte Stimme seines Navis, das ihn darauf hinwies, dass er sein Ziel schon vor hundertfünfzig Metern erreicht hatte, gekonnt ignoriert.

Belustigt stellte er fest, wie nervös ihn die Aussicht Christines Freund zu treffen machte und er nahm sich fest vor, seinen überbordenden Beschützerinstinkt im Zaum zu halten. Das Letzte, das er sein wollte, war der übermotivierte Bruder, der glaubte, die ‚Ehre‘ seiner Schwester verteidigen zu müssen.

Die Türglocke des kleinen Reihenhauses spielte eine nette Melodie, durchbrochen von dem quäkenden Bellen eines Hundes.

„Ist ja gut, Stella, ist ja gut. Bleib in deinem Körbchen.“ Der Junge, der die Tür öffnete, war Jonas auf Anhieb sympathisch. Seine warmen Augen spiegelten das Lächeln auf seinen Lippen wider und dass es ihm peinlich zu sein schien, von Christine vor den Augen ihres Bruders geküsst zu werden, bescherte ihm einen weiteren Pluspunkt. Zu guter Letzt war da noch der altersschwache Malteser-Mix, der die Neuankömmlinge argwöhnisch beäugte, ohne seinem Herrchen von der Seite zu weichen.

Mit einem Strahlen, das in den vergangenen Jahren selten geworden zu sein schien, deutete Christine zwischen den beiden Männern hin und her.

„Jonas, das hier ist Nick. Nick, das ist mein Bruder Jonas.“

Ganz ohne gespielte Höflichkeit, sondern mit einem ehrlichen Lächeln, streckte Jonas die Hand aus. „Hi, schön, dich kennenzulernen.“

„Freut mich auch.“ Nick war schmal gebaut und reichte Jonas gerade bis zur Brust – selbst Christine musste ihn um ein paar Zentimeter überragen – aber sein Händedruck war trocken und fest. Er deutete auf seinen Hund. „Das da ist übrigens Stella. Keine Angst, die mault zwar, beißt aber nicht. Dafür fehlen ihr inzwischen die Zähne. Sie kann sich höchstens an euren Knöcheln festsaugen und eure Haut wundlutschen.“

Abwehrend hob Jonas die Hände. „Das will ich nich‘ riskieren. Ich lass‘ euch mal lieber allein.“

„Ähm, ehrlich gesagt …“ Nick wandte sich an Christine. „Ein Kumpel von mir gibt eine kleine Party bei sich und ich dachte, wir könnten da vorbeischauen.“

„Echt jetzt?“ Christine schaffte es, beinahe so missmutig auszusehen wie Stella. „Da haben wir endlich mal die Gelegenheit, die Nacht zusammen zu verbringen und du willst lieber mit irgendwelchen besoffenen Deppen feiern?“

„Diese ‚besoffenen Deppen‘ sind meine Freunde.“ Nick hatte versucht, die Rüge durch ein Lächeln abzumildern, aber sein Ärger klang hörbar durch.

„Tut mir ja leid, aber ich bin einfach enttäuscht. Willst du n–“

„Wo wohnt dein Freund denn?“, unterbrach Jonas, in der Hoffnung, den aufflammenden Streit im Keim zu ersticken. Christine warf ihm einen grimmigen Blick zu, schwieg jedoch.

„Am anderen Ende der Ortschaft. Wir würden schon irgendwie hinkommen, aber ich dachte …“

„Is‘ kein Problem für mich. Wenn ihr hinwollt, fahr ich euch gern.“

Mit einer stummen Bitte in den Augen, drehte sich Nick zu Christine, die sich bei diesem Anblick geschlagen gab. „Ist ja gut. Wird wohl eh mal Zeit, dass ich deine Freunde kennenlerne.“

„Du wirst sie mögen, versprochen!“

Wieder versöhnt, kuschelten sich die beiden auf die schmale Rückbank und sahen dabei so glücklich aus, dass Jonas einen spontanen Anfall von Eifersucht niederkämpfen musste. Nachdem er sich von Nick die Adresse hatte diktieren lassen, fuhren sie los, waren aber noch keine zwei Minuten unterwegs, als sein Handy, das er auf den nun freien Beifahrersitz gelegt hatte, piepste.

„Das sind bestimmt Mama und Papa.“ Bevor Jonas protestieren konnte, hatte sich Christine sein Handy gekrallt und las die Nachricht. „Doch nicht.“

Jonas wurde heiß und kalt zugleich. War die Nachricht am Ende von Erik? Stand etwas darin, das Fragen aufwarf?

Christine beendete seine Spekulationen. „Maria hat dir geschrieben.“

„Was will sie denn?“ Jonas bemühte sich, nicht erleichtert zu klingen.

„Sie sagt dir für heute ab. Schreibt, sie sei zu müde.“

„Was?“

„Das ist ja schräg. Ist doch sonst nicht ihre Art, Verabredungen so kurzfristig platzen zu lassen.“

Christine hatte recht, das war tatsächlich nicht Marias Art. Jonas entdeckte eine Parklücke und stellte den Wagen ab. „Sorry, ich muss das kurz klären.“

Seine Schwester reichte ihm sein Handy. „Tu das.“

Um ein wenig Privatsphäre zu haben, stieg Jonas aus und schloss die Tür hinter sich, aber ausgehend davon, dass Christine und Nick bereits damit beschäftigt waren, das Gesicht des jeweils anderen zu essen, hätten sie vermutlich ohnehin nicht viel mitbekommen. Er wählte Marias Nummer und wartete. Und wartete. Und wartete. Irgendwann erbarmte sich die Mailbox.

„Maria, was ist los mit dir? Du kannst mir doch nich‘ einfach so absagen! Ich mach mir Sorgen um dich!“ Jonas atmete einmal tief durch. Vorwürfe halfen niemandem. „Ich setz‘ jetzt Christine und ihren Freund ab und dann fahr‘ ich zu dir. Wenn du müde bist, machen wir uns einfach ‘nen ruhigen Abend. Von mir aus verpiss ich mich auch, sobald ich weiß, dass es dir gut geht. Aber ich komm‘ vorbei, also bist du besser zuhause!“

Frustriert warf er sein Handy zurück auf den Beifahrersitz.

„Und?“, fragte Christine. „Was hat sie gesagt?“

„Sie is‘ gar nich‘ erst rangegangen.“

„Hm. Komisch.“

„Ja.“

Zum Glück war die verbleibende Fahrt kurz, denn die Stimmung im Auto war mehr als seltsam. Jonas hatte Mühe, sich auf die Straße zu konzentrieren, Christine schien ebenfalls in Gedanken versunken und Nick fühlte sich vermutlich ziemlich ausgeschlossen und sichtlich unwohl.

„Wir sind da.“ Das Haus, vor dem sie hielten, lag etwas weiter außerhalb als Nicks, war dafür aber auch deutlich größer. „Sagt mir Bescheid, wenn ich euch wieder aufsammeln soll. Aber denkt dran, dass ich mindestens dreißig Minuten her brauch.“

„Machen wir, Bruderherz“, versprach Christine. „Oh, und sag Maria bitte schöne Grüße. Seit sie nach München gezogen ist, sehen wir uns kaum noch. Höchstens mal zufällig, wenn sie bei ihren Eltern zu Besuch ist und dann ist sie nicht besonders gesprächig.“

„Schweigsamkeit scheint sowieso ihr neues Ding zu sein“, murmelte Jonas zu sich selbst. Laut sagte er: „Richt‘ ich ihr aus.“

„Die Grüße, nicht das mit dem gesprächig sein!“, mahnte Christine.

„Jetzt haut endlich ab.“ Als die beiden bereits zur Tür raus waren, kurbelte Jonas das Fenster herunter und rief hinterher: „Und betrinkt euch nich‘ zu sehr! Wer in mein Auto kotzt, zahlt die Reinigung!“

Vor dem Gartentor drehte sich Christine noch einmal um und winkte Jonas zum Abschied. „Fordere mich nicht heraus!“

 

Jonas hatte beinahe länger dafür gebraucht, Marias Wohnheimzimmer zu finden, als von Nicks Haus nach München zu kommen. Nun beantwortete Stille sein Klopfen. Bereits zum fünften Mal hob er die Hand und ließ seine Knöchel wiederholt hart gegen das billige Holz schlagen. „Komm schon, Maria. Mach auf!“

Eine Gruppe lachender Studenten zog an Jonas vorbei und einer von ihnen drückte ihm ein warmes, aber noch verschlossenes Bier in die Hand. „Zum Trost.“

„Danke …“

Jonas klopfte erneut. „Maria! Lass mich hier nich‘ rumstehen wie ein beschissener Bittsteller! Ich glaub‘, da laufen schon Wetten, ob du mich heut‘ noch reinlässt!“

Ranlässt“, verbesserte ein breit grinsendes Mädel aus dem Nachbarzimmer. Die meisten Türen waren weit geöffnet, anscheinend hatte das Stockwerk entschieden, sich zu einer einzigen großen Party zusammenzuschließen. „Ich habe fünf Euro auf ‚Ja, und wir alle werden es hören können‘ gesetzt.“

„Herzlichen Dank für diese Zuversicht, aber den Fünfer bist du los.“

„Damit die Welt an dich glauben kann, musst du zunächst an dich selbst glauben.“

„Hey, Konfuzius“, maulte Jonas, „würd’s dir viel ausmachen, dich um deinen eigenen Scheiß zu kümmern?“

„Jetzt werd doch nicht gleich so pissig.“ Das Mädchen rollte mit den Augen. „Kein Wunder, dass deine Perle nicht aufmacht. Vielleicht sollte ich ja lieber die Polizei rufen, damit du sie nicht weiter belästigen kannst?“

Belästigen? Ich werd ja wohl noch meine beste Freundin besuchen dürfen!“

„Sie will aber offensichtlich nicht von dir besucht werden!“

Jonas entschied, dass es klüger war, vorerst den Rückzug anzutreten, bevor er noch mehr Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Während er die Treppen zum nächsten Stockwerk nahm, kramte er sein Handy hervor und wählte erneut Marias Nummer, erreichte aber wieder nur die Mailbox. Was sollte er jetzt tun?

„Jonas?“

Das Handy noch in der Hand, drehte sich Jonas zu dem Mann, der ihn angesprochen hatte. „Clemens …“

Das halbe Jahr, in dem sie sich nicht gesehen hatten, hatte keine tiefschürfenden Veränderungen mit sich gebracht. Clemens‘ haselnussfarbenes Haar fiel ihm noch immer in wilden Strähnen ins Gesicht, seine tiefblauen Augen funkelten verschmitzt und die Lippen, von denen sich Jonas unzählige Male gefragt hatte, wie sie sich auf seiner Haut anfühlen würden, verzogen sich zu jenem unbedarften Sunny-Boy-Grinsen, das Jonas‘ Knie in Wackelpudding verwandelte. „H-Hi“, murmelte er verlegen und hoffte inständig, nicht zu auffällig zu starren. Plötzlich schlossen sich zwei starke Hände um seine Schultern und zogen ihn näher an diese betörende Mischung aus frischem Schweiß und dem Deo eines bekannten Herstellers.

„Mensch, das ist ja Monate her, dass wir uns gesehen haben! Wie geht’s dir denn? Meine Eltern haben erzählt, du studierst jetzt Kunst in Berlin?“

„Jaah, sowas Ähnliches.“

„Und? Wie gefällt es dir da? Ist bestimmt aufregend!“

Jonas zuckte mit den Schultern. „Is‘ ganz okay.“ Konnte Clemens ihn nicht einfach in Ruhe lassen? All die unerwiderten Gefühle, die er über Jahre hinweg heruntergeschluckt hatte, drohten, sich wieder einen Weg nach oben zu bahnen.

Clemens schien blind für den Tumult zu sein, den er in Jonas auslöste. „Was treibt dich denn hierher?“

„Wollt mit Maria feiern gehen.“

„Ach, stimmt, die wohnt ja auch hier. Wir sind uns ein paar Mal über den Weg gelaufen."

„Hm.“

„Ich wollte gerade zu einem Freund, ein bisschen vorglühen. Bin für die Snacks zuständig.“ Clemens hielt eine Einkaufstüte hoch. „Später ziehen wir dann weiter. Wollt ihr euch uns anschließen?“

„Vielleicht ‘n andermal.“

Allmählich flackerte Clemens‘ beständiges Lächeln. „Okay, schade. Naja, dann werde ich mal zu den anderen gehen. Ruf mich einfach an, wenn ihr es euch doch noch anders überlegt, ja?“

„Okay.“

Clemens versuchte sich an einem letzten, aufmunternden Lächeln. „Also dann. Melde dich mal wieder, ja? Wäre doch schade, wenn wir ganz den Kontakt verlieren.“

Jonas nickte nur und wünschte sich, Clemens möge endlich verschwinden. Zum Glück tat er ihm diesen Gefallen nach einer weiteren, viel zu langen Sekunde und joggte leichtfüßig die Stufen zu einem der unteren Stockwerke hinab.

Einfach, um etwas zu tun zu haben, wählte Jonas erneut Marias Nummer. Zu seiner Überraschung, wurde das quälende Freizeichen bald durch ihre Stimme ersetzt.

„Hallo?“ Maria klang, als hätte sie ihren Mund mit Watte ausgestopft.

„Wo zum Fick steckst du?“

„Ich habe geschlafen“, nuschelte sie. „Hast du meine Nachricht nicht bekommen?“

„Doch, hab ich. Und dir gleich drauf auf die Mailbox gequatscht, dass du das voll vergessen kannst.“ Als Maria nichts erwiderte, fuhr Jonas fort: „Ich bin im Wohnheim. Hab ich Chancen, dass du mir diesmal aufmachst, bevor deine Nachbarn die Bullen rufen und mich rausschmeißen lassen?“

Maria zögerte.

„Bitte?“, schob Jonas hinterher. „Ich geh‘ auch gleich wieder, wenn’s dir nich‘ gut geht und du mich loshaben willst. Ich … Ich will dich nur kurz sehen. Einfach mal ‚Hallo‘ sagen.“

„Na gut.“ Maria hatte sich große Mühe gegeben, ihren gesamten Unwillen mit diesen zwei Silben auszudrücken. „Komm vorbei.“

„Danke. Bis gleich.“

Jonas sprintete die Treppen hoch und über den Gang, wobei er sein Möglichstes tat, das Grölen und Pfeifen, das ihn dabei begleitete zu ignorieren. Zu seiner Erleichterung öffnete Maria ihre Tür, kurz nachdem er zum ersten Mal geklopft hatte und zog ihn in ihr überraschend geräumiges Zimmer.

„Oh, wow. Wenn ich gewusst hätte, dass so ’n Wohnheim ‘ne scheiß Luxusbude is‘, wär‘ ich auch in eins gezogen.“ Jonas runzelte die Stirn. Eine Jeans hing lieblos über dem Schreibtischstuhl, einige Arbeitsblätter lagen auf dem Boden verstreut und neben dem Bett stand benutztes Geschirr. Das Zimmer war weit davon entfernt chaotisch zu sein, aber für die sonst so pedantische Maria war es dennoch ungewöhnlich unordentlich.

Nachdem er den Zustand ihres Zimmers ausreichend begutachtet hatte, nahm Jonas Maria selbst unter die Lupe und erschrak über die Zerbrechlichkeit, die sich ihm dabei offenbarte. Marias rote Locken wirkten stumpf, ihre Haut blass und die eigentlich charmanten Sommersprossen stachen hervor wie Dreckspritzer auf weißer Leinwand. Das Besorgniserregendste war aber die weniger offensichtliche Veränderung. Der sonst so störrische Blick – das Symbol der Kraft, mit der Maria Jonas über seine schlimmsten Phasen von Selbsthass und Verleugnung hinweggeholfen hatte – glich nun eher dem eines geprügelten Hundes. Jonas überlegte, wie er seiner Sorge Ausdruck verleihen konnte, ohne zu aufdringlich zu werden und entschied sich für die offensichtliche Frage. „Alles okay bei dir?“

Maria sank auf ihr Bett. „Ich weiß nicht.“ Bereitwillig rutschte sie zur Seite, als sich Jonas zu ihr gesellte, starrte dabei aber weiterhin auf ihre Hände. „Entschuldige für vorhin. Und dafür, dass ich mich so selten melde. Ich habe im Moment einfach keine Energie dafür.“

„Kann ich dir irgendwie helfen?“

„Keine Ahnung, ich glaube nicht. Oder sagen wir, ich wüsste nicht wie.“ Sie schüttelte den Kopf. „Es fühlt sich an, als würde die komplette Welt über mir zusammenbrechen und gleichzeitig finde ich es lächerlich, wie sehr ich mich durch solche Luxusprobleme aus dem Konzept bringen lasse.“

„Deine Eltern?“ Marias Eltern, die mit strenger Hand über ihr einziges Kind regierten, lieferten regelmäßig Material für Konflikte. Jonas hatte noch nie verstanden, wie sie solange in ihrem goldenen Käfig hatte leben können, ohne völlig verrückt zu werden.

„Auch“, gab Maria zu. „Und das Studium. Und dieses Wohnheim. Und dass du sechshundert Kilometer entfernt sitzt. Irgendwie alles.“

„Jetzt bin ich ja erst mal hier.“ Jonas‘ Worte klangen stumpf in seinen Ohren, in Anbetracht der Tatsache, dass er in ein paar Stunden seine Schwester abholen und kurz darauf zurück nach Berlin fahren würde, aber Maria lehnte sich an seine Schulter und murmelte: „Zum Glück bist du so hartnäckig.“

„Japp, damit kann ich dienen.“ Er legte einen Arm um sie. „Erzählst du mir, was Weihnachten bei euch los war?“

Maria nahm Jonas‘ Hand. „Das Übliche.“ Sanft verflochten sich ihre Finger mit seinen. „Ich bin zehn Minuten zu spät, weil ich im Stau stehe und schon ist das ein Zeichen für meine Unzuverlässigkeit. Meine Kleidung ist nicht festlich genug, also respektiere ich meine Familie nicht. Ich wage es anzudeuten, auf eine Promotion zu verzichten, falls ich schon vorher einen passenden Job finde, oder auch einfach nicht gut genug sein sollte und meine Eltern interpretieren das als mangelnden Leistungswillen. Gleichzeitig soll ich aber bitte so schnell wie möglich heiraten und Kinder bekommen. Das war dann der Punkt, an dem mir der Kragen geplatzt ist. Ich … Ich liebe meine Eltern. Wirklich. Und ich weiß, dass sie auf ihre Weise auch mich lieben. Wenn sie dabei nur weniger … restriktiv sein könnten.“ Maria sackte nach hinten und rollte sich auf dem Bett zusammen. „Es ist so anstrengend. Ich habe das Gefühl, ständig zu scheitern und nie gut genug zu sein, völlig egal, was ich mache. Manchmal … Manchmal frage ich mich, warum ich morgens überhaupt die Energie aufbringe aufzustehen. Ich könnte genauso gut einfach liegen bleiben.“

„Sag das nicht.“ Jonas fühlte sich hilflos. Mit jedem Wort war Maria leiser geworden, sprach mehr mit der Wand als mit ihm. Zärtlich legte er die Arme um sie, in der Hoffnung, ihr wenigstens etwas Trost spenden zu können.

„Tut mir leid, dass ich dir Silvester versaue.“

„Und so ‘ne Scheiße sagst du auch nich‘! Ich bin einfach froh, dich wiederzusehen. Is‘ mir scheißegal, was das für’n Tag ist.“

Zur Antwort kuschelte sich Maria näher an ihn heran. Jonas schloss die Augen und hielt sie fest.

 

„Jonas?“

„Mhm?“

„Dein Handy klingelt.“

„Oh, fuck!“ Adrenalin jagte durch Jonas‘ Körper und vertrieb die letzten Fetzen Müdigkeit. Eilig fummelte er sein Handy aus seiner Hosentasche. „Shit!“ Es war kurz nach zwei Uhr morgens und er hatte schon drei Anrufe seiner Schwester verpasst. Rasch drückte er auf ‚Rückruf‘.

„Na, feierst du schön?“

Erleichtert stelle Jonas fest, dass Christine eher amüsiert als verärgert klang. „Sorry, ich hab’s nich‘ gehört. Wartest du schon lang?“

„Nee, alles gut. Ich wollte dir bloß sagen, dass Nick und ich gern so gegen drei aufbrechen würden. Hier sind schon einige weg und wir wollen niemanden nerven. Schaffst du das?“

„Japp, drei sollte klappen. Die Adresse hab ich auch. Ich klingle dich an, sobald ich da bin, okay?“

„Gut, bis dann!“

Maria ließ sich zu einem herzhaften Gähnen hinreißen. „War das Christine?“

„War sie. Ich soll dir übrigens Grüße ausrichten. Und sagen, dass du gefälligst mehr mit ihr quatschen sollst, wenn ihr euch trefft.“

„Ihr beiden seid euch viel zu ähnlich …“

„Ich tu‘ mal so, als hätte ich das nich‘ gehört.“ Jonas stand auf und streckte sich. „Ich sollt‘ los, wenn ich halbwegs pünktlich da sein will. Kommst du mit?“

„Wozu? In die Pampa fahren, deine Schwester kurz begrüßen und dann irgendwie wieder hierherkommen? Das ist doch Unsinn.“

„Eigentlich dacht‘ ich, dass du bei uns pennen könntest und wir morgen gemeinsam nach München fahren, wenn ich meinen Bus kriegen muss.“

„Du weißt, was meine Eltern davon halten, wenn ich bei dir übernachte.“

Jonas zuckte mit den Schultern. „Sie müssen’s ja nich‘ erfahren. Und selbst wenn, werden sie‘s überleben. Wir sin‘ beide erwachsen. Ich mein, fuck, wenn uns nach Ficken gewesen wär, hätten wir in den letzten Jahren unzählige Gelegenheiten gehabt, auch ohne beieinander übernachten zu müssen. Scheiße, wir hätten’s hier treiben können!“

„Kann schon sein“, räumte Maria ein. „Trotzdem ist das zusätzlicher Stress, den ich gut verzichten kann. Und … Ich denke, ich brauche einfach Zeit für mich allein.“

„Sicher?“ Jonas hatte da so seine Zweifel. Seiner Meinung nach hatte Maria mehr als genug Zeit allein verbracht, aber er wusste auch, dass sie in dieser Hinsicht schon immer völlig anders als er getickt hatte.

„Sicher. Aber es war schön, dass du hier warst. Hat meinen Akku wieder ein bisschen aufgeladen.“

„Wenigstens etwas“. Jonas zwang sich zu lächeln und zog Maria in seine Arme. „Pass auf dich auf. Übernimm dich nicht. Hör nicht zu sehr auf deine Eltern. Und ruf mich an, wenn irgendwas sein sollte, hörst du? Völlig egal was, völlig egal wann. Versprochen?“

„Versprochen.“

Mit einem dumpfen Stechen im Magen, verabschiedete er sich von seiner besten Freundin.

 

Es war kalt und Jonas fühlte den vorangegangenen Schlafmangel bitterlich. Nur das aufdrehte Gequassel seiner Familie hielt ihn wach.

„Ruf uns an, wenn du angekommen bist.“

„Ja, Mama.“ Jonas versuchte, sich aus ihrer Umklammerung zu winden. Wie konnte jemand, der ihm gefühlt bis knapp über den Bauchnabel reichte so viel Kraft in den Armen haben?

„Nächstes Mal fährst du mit der Bahn“, sagte sein Vater entschieden. „Das ist ja kein Zustand, so.“

„Das geht schon“, wehrte Jonas ab. „Der Bus is‘ billiger. Und die Bahn is‘ ja auch nich‘ wirklich schneller, bloß etwas bequemer.“

„Papperlapapp! Bequemer ist besser als gar nichts. Mach dir um das Geld mal keine Gedanken, das kriegen wir schon hin.“

„Jetzt lasst mich doch auch mal zu ihm!“ Christine drückte ihre Mutter zur Seite, um sich nun ihrerseits in Jonas‘ Arme zu werfen. „Komm gut nach Berlin, Bruderherz.“ Die Lippen Millimeter von seinem Ohr entfernt, flüsterte sie. „Wenn du irgendwas auf dem Herzen hast … Ich hör dir immer zu.“ Dann wuschelte sie durch sein Haar und brach den Bann der Geschwisterliebe.

„Lass den Scheiß!“

„Jonas! Sprache!“

Kichernd beobachtete Christine ihren Bruder, während dieser versuchte, seine Frisur wieder halbwegs in ihren Ausgangszustand zu bringen. „Ich hab dich lieb, du eitler Sack“

Zur Antwort streckte Jonas ihr die Zunge raus. „Verschwinde endlich, du Ekel.“ Seiner Worte zum Trotz, schloss er Christine ein weiteres Mal in die Arme, bevor er sich seiner jüngsten und herzerweichend schniefenden Schwester zuwandte. „Ach, Vroni …“

„Ich will nicht, dass du gehst!“

„Ich bin ja bald wieder da.“ Er nahm sich fest vor, dieses Versprechen zu halten. „Ende Februar sind meine Vorlesungen erstmal vorbei und dann komme ich gaaanz lange zu euch.“

„Versprochen?“

„Versprochen!“ In alter Familientradition knuddelte Jonas seine jüngste Schwester, bis sich ihr Schluchzen in Lachen verwandelt hatte.

Der Moment wurde viel zu früh von seiner Mutter beendet. „Es wird Zeit.“

Jonas warf einen Blick auf die große Uhr am Busbahnhof. In fünf Minuten würde er wieder auf dem Weg nach Berlin sein. Erleichterung und Trübsinn stritten um die Vorherrschaft in seinem Innersten.

„Jonas!“

Die ganze Familie Staginsky drehte sich zu dem Neuankömmling. Blass und atemlos, aber mit einem Lächeln im Gesicht, stand Maria vor ihnen. „Ich hatte wirklich Angst, ich hätte dich verpasst. Entschuldige, dass ich so spä–Hey! Lass mich sofort runter!“

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Jonas dieser Aufforderung Folge leistete und Maria aus seinen Armen und zurück auf den Boden entließ. „Mit dir hätte ich echt nich‘ mehr gerechnet.“

„Ich wollte dir nicht versprechen zu kommen, falls ich es nicht halten kann.“

„Bin froh, dass du‘s geschafft hast!“

„Knapp“, stellte Maria nüchtern fest. „Aber noch so eine Umarmung sollte wohl drin sein.“

Dieses Mal musste sie nicht lange auf Jonas‘ Reaktion warten.

Kapitel 13

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Kapitel 14

Was zuletzt geschah:

Zurück in Berlin, kehrt Jonas nahezu nahtlos in den Großstadtalltag zurück. Er studiert, zieht mit seinen Freunden um die Häuser und genießt heißen Telefonsex mit Erik. Zugegeben, Letzteres ist eine eher neue Erfahrung und dazu eine, die abgesehen von einem Höhepunkt, in eine Verabredung zum Kaffeetrinken gipfelt. Aus dem Kaffee werden Kakao und Tee und die sonntägliche Verabredung zum Vögeln verwandelt sich in eine Einladung ins Theater, der Jonas nur zu gerne folgt, auch, wenn ihn der Gedanke, Eriks Freunde kennenzulernen, schon jetzt in Schweiß ausbrechen lässt.

 

Kapitel 14

„Fuck, fuck, fuck!“

Atemlos und wild um sich blickend, hetzte Jonas die Straße entlang, in der Hoffnung, endlich das erlösende Schild zu entdecken. Er war schon zehn Minuten zu spät und hatte noch immer keine Ahnung, ob er sich auch nur ansatzweise am richtigen Ort befand. Sein GPS blinkte nutzlos und versetzte den kleinen Punkt, der seinen Körper markieren sollte, ruckartig in einen Tümpel, der vermutlich nicht einmal in Berlin lag. Das wäre der passende Zeitpunkt gewesen, seine Niederlage einzugestehen und Erik anzurufen, um ihn um Hilfe zu bitten, aber noch brachte Jonas das nicht über sich.

Die Erleichterung, die seinen Körper durchflutete, als er das niedrige Gebäude vor der nächsten Kreuzung als Theater erkannte, wurde rasch durch Unbehagen ersetzt. Sie hatten verabredet, sich vor dem Haupteingang zu treffen, aber keine Menschenseele war in Sichtweite. Wahrscheinlich hatte Erik die Warterei sattgehabt und sich ins Innere verzogen. Falls das so war, konnte Jonas ihm daraus kaum einen Vorwurf machen.

Mit jedem Schritt, den er sich der Eingangstür näherte, wurde Jonas langsamer. Eigentlich hatte er geplant, einen guten ersten Eindruck auf Eriks Freunde zu machen. Sich zu verspäten und sie in der Kälte stehen zu lassen, konnte man nur bedingt als solchen bezeichnen. Vielleicht sollte er einfach wieder umkehren und Erik schreiben, dass er sich nicht gut fühlte.

‚Mach keinen Scheiß!‘, schalt er sich selbst. Erik hatte seine Karte bezahlt. Gar nicht erst aufzutauchen, war weitaus dreister als sich zu verspäten. Jonas atmete einmal tief durch und ging auf die Tür zu. Erst kurz davor bemerkte er das pfeilförmige Schild mit dem Vermerk ‚Haupteingang ums Eck‘.

Schüchtern lugte Jonas um das Gebäude herum und entdeckte Erik in dem Moment, in dem dieser ihn entdeckte und mit einem breiten Lächeln zu sich und den beiden Männern neben ihm winkte.

„Sorry“, krächzte Jonas verlegen, als er die kleine Gruppe erreicht hatte. „Irgendwie hab ich wohl den falschen Bahnaufgang erwischt, jedenfalls sah alles ganz anders aus als auf dem Plan, den ich mir davor angesehen hab und …“

„Alles gut“, beruhigte Erik ihn. „Wir haben mehr als genug Zeit.“

„Du musst dann wohl Jonas sein.“

Jonas richtete seinen Blick auf den Mann neben Erik, der ihn angesprochen hatte. „Ähm, ja. Hi.“

„Ich bin Marco!“ Grinsend reichte er Jonas die Hand. Obwohl Marco fast einen Kopf kleiner als Jonas war, trug er gefühlt dessen doppeltes Gewicht an Muskelmasse mit sich herum und hätte durchaus einschüchternd gewirkt, wären da nicht sein offenherziges Lachen und die dunklen, freundlichen Augen gewesen, die Jonas neugierig musterten. „Kommt nicht oft vor, dass Erik uns jemanden vorstellt.“

„Und jetzt frag dich mal, warum das so ist“, erwiderte dieser mit einem schmalen Lächeln.

„Och, ich denke, das wissen wir beide.“

„Marco“, raunte dessen Nebenmann kaum hörbar, bevor er sich an Jonas wandte. „Mein Name ist Drago.“ In seinen Worten schwang ein für Jonas‘ Ohren ungewohnter Akzent mit. Weich und melodisch, mit einer ganz eigenen Art das ‚R‘ zu rollen. Im Gegensatz zu Marco, war Drago groß und drahtig, mit aschblondem Haar, hohen Wangenknochen und harten Gesichtszügen. Im ersten Augenblick fürchtete Jonas, er hätte sich mit seiner Verspätung doch bei wenigstens einer Person unbeliebt gemacht, aber als er Drago die Hand reichte, schenkte dieser ihm ein warmes Lächeln. „Schön, dich kennenzulernen.“

„Freut mich auch sehr.“

„Dann ist die offizielle Vorstellungsrunde wohl beendet, was?“, fragte Marco sichtbar gut gelaunt und legte einen Arm um Drago, der die Geste mit einem strengen Blick quittierte, aber nichts dagegen unternahm.

„Lasst uns reingehen“, schlug Erik vor. „Es ist doch relativ viel los und hier herrscht freie Platzwahl. Wenn wir zu spät dran sind, könnte es schwierig werden, zusammenhängende Sitze zu ergattern.“ Einen Moment lang hoffte Jonas, er würde Marcos Geste kopieren, doch Erik hielt Abstand als er sie ins Innere des Theaters führte.

Die Vorhallte war schlicht und gemütlich eingerichtet, aber so winzig, dass kaum alle Besucher hineinpassten und der eigentliche Saal bot nach Jonas‘ Schätzung nicht mehr als sechzig Plätze. Selbstverständlich waren die besten davon bereits besetzt.

„Hoffentlich wird es halbwegs lustig“, brummte Marco als er sich auf einen der knarzenden Holzstühle fallen ließ. „Mir würden spontan tausend bessere Ideen für ‘nen Sonntagabend einfallen.“

„Jetzt hör auf zu nölen“, tadelte Erik sanft. Er ließ Jonas den Vortritt und setzte sich selbst auf den äußersten Platz. „Du hast dem Theaterabend schließlich zugestimmt.“

„Weil ihr mir als einzige Alternative ein Musical gelassen habt. Ein Musical! Als würdet ihr euch extra Mühe geben, sämtliche Klischees zu erfüllen!“

„Was ist mit dir, Jonas?“ Drago hatte offenbar entschieden, das Quengeln seines – wie Jonas annahm – Partners zu ignorieren. „Gehst du häufiger ins Theater?“

„Ähm … gelegentlich. In der Schule hatten wir so ‘n Theaterabo …“

„In der Schule?“, wiederholte Marco und lachte. „Das ist eine sehr nette Art, unseren beiden Kulturfanatikern hier klarzumachen, dass dir Theater am Arsch vorbeigeht und du heute nur aus Mitleid oder Mangel an Alternativen mitkommst. Ich meine, wie lange ist die Schule bei dir her? Bestimmt fünf Jahre, oder?“

„Eigentlich hab ich grade erst mein Abi gemacht“, erwiderte Jonas peinlich berührt.

Marcos verblüffter Gesichtsausdruck verwandelte sich in ein joviales Grinsen. „Awww! Ein Küken!“

Marco!“ Dieses Mal kam der Rüffel zweistimmig. Einmal von Drago, einmal von Erik.

„Ignorier ihn einfach“, wies Drago Jonas an. „Er ist offensichtlich in einer Höhle groß geworden und weiß es nicht b–“ Das letzte Wort wurde von Marcos Lippen erstickt und Jonas sah, wie Dragos anfänglicher Protest erstarb, seine kühlen Züge weich wurden und sich sein Körper an den seines Freundes schmiegte.

Verlegen über diese öffentliche Zuneigungsbekundung, richtete Jonas den Blick auf seine verschränkten Hände und entschied, das Thema zu wechseln, nachdem die beiden wieder voneinander abgelassen hatten. „Erik hat erzählt, ihr wärt nur zu Besuch hier. Wie lange bleibt ihr denn?“

„Nur noch morgen“, antwortete Drago.

„Kaum zu glauben, dass das jetzt schon das sechste Mal ist, dass wir das machen. Ist inzwischen ‘ne richtige Tradition geworden“, fügte Marco hinzu.

„Also kommt ihr jedes Jahr hierher?“

„Wir können Erik seinen Geburtstag ja schlecht alleine feiern lassen! Auch, wenn wir dieses Jahr etwas spät dran waren.“

„Du hattest Geburtstag?“ Überrascht drehte sich Jonas zu Erik, dem das Thema unangenehm zu sein schien.

„Am neunzehnten“, antwortete er knapp.

„Warum hast du nix gesagt?“

Erik zuckte mit den Schultern. „Ich wollte nicht, dass du dich zu irgendwas verpflichtet fühlst.“

Der Saal verdunkelte sich und das Scheinwerferlicht, das auf die kleine Bühne vor ihnen gerichtet wurde, beendete ihr Gespräch frühzeitig.

 

Jonas stimmte in den stürmischen Beifall des Publikums ein. Das Stück war überraschend witzig gewesen, die Schauspieler hervorragend und die Stimmung ausgelassen. Der Abend wäre perfekt, hätte Erik nur irgendwann Jonas‘ Hand, die dieser demonstrativ auf der schmalen Lehne platziert hatte ergriffen.

„Und?“ Erik wandte sich an Marco. „War das jetzt so schlimm?“

„Nö, war eigentlich ganz nett.“ Erwartungsvoll grinste Marco in die Runde. „Wie geht’s jetzt weiter? Gibt’s das Duo noch?“

„Sofern es in den letzten sechs Monaten nicht dichtgemacht hat.“ Eriks Antwort klang in Jonas‘ Ohren ein wenig unwillig, aber Marco reagierte mit dem Enthusiasmus eines Kinds im Süßwarenladen.

„Dann mal los!“

„Du könntest auch erst fragen, ob wir überhaupt Lust darauf haben“, merkte Drago an.

„Nö, Ausreden sind nicht erlaubt. Ich bin mit ins Theater, dafür kommt ihr jetzt mit ins Duo! Müssen wir doch ausnutzen, wenn wir schon in Berlin sind.“

Kopfschüttelnd folgte Drago seinem Freund, der sich ungeduldig durch die schmale Sitzreihe drängte. Jonas und Erik schlossen sich ihnen an, doch auf der Treppe angekommen, stoppte Erik Jonas, indem er ihn sanft am Oberarm berührte, die Hand allerdings gleich darauf wieder wegzog. Ihre beiden Begleiter, die davon nichts bemerkt hatten, steuerten weiter den Ausgang an.

Fragend drehte sich Jonas zu Erik.

„Kennst du das Duo?“, erkundigte sich dieser.

„Nee.“

„Grundsätzlich ist dort natürlich jeder willkommen, aber es richtet sich vornehmlich an ein schwules Publikum. Falls du dort also lieber nicht gesehen werden willst, können wir gerne woanders hingehen.“

Im ersten Moment war Jonas so überrascht und gerührt von Eriks Umsicht, dass die Zweifel erst im zweiten kamen. „Irgendwie hab ich nich‘ das Gefühl, dass Marco davon begeistert sein wird.“

Erik winkte ab. „Der wird es überleben, wenn er einmal im Leben seinen Dickschädel nicht durchsetzen kann. Berlin hat wirklich genug Alternativen zu bieten.“

„Aber es is‘ doch scheiße, wenn ihr nur wegen mir eure Pläne umschmeißt.“

„Ich würde Marcos Ideen nicht als ‚Pläne‘ bezeichnen“, entgegnete Erik gelassen. „Ehrlich gesagt, bin ich auch nicht übermäßig scharf aufs Duo.“

Jonas zupfte am Reißverschluss seiner Lederjacke. Er dachte an Marco und Drago, die den gesamten Abend über offen gezeigt hatten, dass sie zueinander gehörten. Ihre Finger, die sich ineinander verschlungen hatten, die flüchtigen, aber liebevollen Küsse, die vielen beiläufigen Berührungen, die zeigten, wie selbstverständlich die Nähe des anderen für sie war. Wenn er auch nur hoffen wollte, jemals etwas Ähnliches zu haben, musste er anfangen, seine Hemmungen abzubauen. „Eigentlich wär‘ ich schon ‘n bissl neugierig auf den Laden.“

Erik wirkte überrascht, lächelte aber. „Dann sollten wir sehen, dass wir die anderen einholen, bevor sie ohne uns hingehen.“

Als sie auf die Straße traten, wurden sie Zeuge eben jener Zuneigung, die Jonas zu seiner Entscheidung bewogen hatte. Obwohl sich ihre Lippen nur sanft berührten, strahlten Marco und Drago eine solche Intimität aus, dass er sich erneut betreten abwandte.

Erik zog hingegen eine Braue hoch. „Wollt ihr doch lieber gleich ins Hotel?“

Ohne hinzusehen, scheuchte Marco ihn mit einer Handbewegung fort, aber Drago schob seinen Freund resolut von sich und ignorierte das darauffolgende enttäuschte Jammern. „Du wolltest ins Duo“, erinnerte er Marco. „Jetzt halte dich auch daran.“

 

Zaghaft blickte sich Jonas nach bekannten Gesichtern um und atmete erleichtert auf, als er feststellte, dass er das Duo wohl ungesehen betreten konnte. Sein ursprünglicher Mut hatte ihn überraschend schnell verlassen.

So unauffällig wie möglich, zog er seinen Geldbeutel aus der Tasche. Der Türsteher kontrollierte streng und Jonas plante, seinen Ausweis vorzuzeigen, bevor er lautstark dazu aufgefordert wurde. Irgendetwas sagte ihm, das Marco das nicht unkommentiert lassen würde.

Wie erwartet, musterte der Türsteher ihn kritisch, ließ ihn jedoch nach einem kurzen Nicken zu Erik passieren.

„Das is‘ mir auch noch nich‘ passiert“, sagte Jonas verblüfft und biss sich gleich darauf auf die Zunge. Er hätte die Sache auch einfach hinnehmen können als wäre es das Normalste der Welt für ihn, ohne Ausweiskontrolle in Clubs gelassen zu werden, aber nein, er hatte mal wieder die Klappe aufreißen müssen.

„Pascal hat eine Weile fürs Tix gearbeitet“, erklärte Erik, laut genug, damit Jonas ihn über die Musik hören konnte. „Er weiß, dass ich ihnen keine Minderjährigen anschleppen würde.“

„Oh. Ach so.“ Um seine Enttäuschung darüber zu verbergen, dass er offenbar doch nicht so erwachsen aussah wie er einen Moment lang gehofft hatte, ließ Jonas den Blick durch den Raum schweifen. Abgesehen von einer erhöhten Männerquote, wirkte der Laden völlig normal. Dämmrige Beleuchtung, eine große Theke, hinter der diverse Spirituosen ausgestellt waren sowie einige Tische und Hocker, die man an den Wänden postiert hatte, um noch genug Platz für eine kleine Tanzfläche zu bieten. „Ganz schön voll.“

„Du solltest mal an einem Samstag herkommen.“ Mit Jonas im Schlepptau, kämpfte sich Erik zur Bar durch. „Was willst du trinken?“

Jonas‘ spontaner Entschluss, Erik und die anderen zu begleiten, hatte unglücklicherweise nicht seinen ohnehin schon schmalen Geldbeutel bedacht, aber er weigerte sich, sich davon den Abend verderben zu lassen. „Nix da, das übernehme ich!“ Als Erik protestieren wollte, hob er abwehrend die Hand. „Keine Widerrede. Was willst du?“

„Eine Cola.“

Abschätzend musterte Jonas ihn. „Du brauchst echt nich‘ was möglichst Billiges nehmen.“

Erik lachte. „Tue ich nicht. Ich trinke nur sehr selten Alkohol.“

„Oh. Okay. Cola also.“

Mit ihren Getränken in der Hand – Cola für Erik, Bier für Jonas – sahen sie sich um. „Marco und Drago haben sich wohl in den hinteren Bereich verzogen.“

Tatsächlich war Dragos heller Schopf in der Menge gut auszumachen, aber er und Marco waren zu sehr miteinander beschäftigt, um den beiden Neuankömmlingen große Aufmerksamkeit zu schenken.

Amüsiert schüttelte Erik den Kopf. „Immer noch wie ein frisch verliebtes Pärchen.“

„Wär‘ ziemlich gut, das auch zu haben …“ Sorgsam beobachtete Jonas Eriks Reaktion auf seine Worte.

Dieser lächelte, gab darüber hinaus aber herzlich wenig preis.

Nach einigen Sekunden, in denen Enttäuschung ein schmerzhaftes Loch in Jonas‘ Brust grub, wechselte er das Thema. „Bist du eigentlich öfter hier?“

„Früher häufiger“, antwortete Erik. „In letzter Zeit nicht mehr wirklich.“

„Wieso nicht?“

Erik zuckte mit den Schultern. „Kaum Zeit und ehrlich gesagt auch keine Lust.“ „Darfst du das überhaupt schon trinken?“, mischte sich plötzlich Marco in ihr Gespräch ein und tippte gegen Jonas‘ Bier.

„Würdest du bitte endlich damit aufhören?“ Erik klang alles andere als amüsiert.

„Ach komm“, wehrte Marco lachend ab. „Ich zieh das Küken doch nur ein bisschen auf! So, wer macht jetzt mit mir die Tanzfläche unsicher?“

Jonas hob die Hand. „Das Küken!“ Zur Hölle mit dämlichen Spitznamen, damit konnte er gerade noch umgehen.

Zwei Sekunden verstrichen, dann brach Marco in schallendes Gelächter aus und klopfte Jonas kräftig auf den Rücken. „Siehst du, Erik? Er versteht meinen Humor!“

Ebenfalls lachend, packte Jonas Eriks Handgelenk und zog ihn – ein paar halbherzig vorgebrachten Protesten zum Trotz – mit auf die Tanzfläche.

Anfangs hielt er sich eng an Marco und Erik; verunsichert von den vielen knapp bekleideten männlichen Körpern und der eindeutig sexuell aufgeladenen Stimmung um ihn herum, aber jeder Song, der über ihn hinwegspülte, nahm ein paar Hemmungen mit sich. Allerdings nicht schnell genug. Kurz bevor sich Jonas überwinden konnte, nicht mehr nur sehnsüchtig auf Eriks Schultern, Hüften und Hände zu starren, sondern sie zu berühren, verabschiedete sich dieser von der Tanzfläche und gesellte sich zu Drago an einen der Stehtisch. Jonas war versucht, ihm zu folgen, aber er mochte den Song, der in diesem Moment begann. Und den nächsten. Und den übernächsten.

Verschwitzt und atemlos, traf Jonas das restliche Grüppchen an der Bar wieder.

„Ist hier noch jemand kurz vorm Verhungern?“, fragte Marco und stellte sein leeres Glas auf den Tresen.

Erik und Drago schüttelten die Köpfe, aber Jonas‘ Magen hatte sich schon im Theater bemerkbar gemacht und sein zweites Bier war ausreichend gewesen, um seinen Blick zu verschleiern. „Ich hätte nichts dagegen“, gab er zu.

„Sonst keiner?“ Als sich niemand meldete, hakte sich Marco bei Jonas unter. „Dann läuft’s wohl auf uns zwei Hübsche hinaus. Kennst du was in der Gegend?“

„Ähm, nee …“

„Gut, ich auch nicht.“

„Ein Stück die Straße runter sind ein paar Fast-Food-Läden, die noch offen haben sollten.“ Vage deutete Erik zum Ausgang und nach rechts.

„Dann mal los!“

Dankbarerweise entließ Marco Jonas wieder aus seinem Griff, bevor sie die Straße betraten. Schweigend liefen sie nebeneinander her, feiner Nieselregen trieb die Leute in eine der zahlreichen Bars, die sie passierten. Ein Pärchen, das sich unter einem viel zu kleinen Regenschirm zusammengekuschelte hatte, rannte kichernd an ihnen vorbei.

„Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt? Drago und du, mein ich …“ Obwohl er den ganzen Abend über sehr herzlich mit ihm umgegangen war, schüchterte Marco Jonas noch immer ein wenig ein.

„Ganz unspektakulär über einen gemeinsamen Freund. Wir waren auf seiner Einweihungsparty und sind eher zufällig ins Gespräch gekommen.“ Marco grinste breit. „Tja, und ein paar Jahre später sind wir dabei, ein gemeinsames Haus zu bauen.“

„Ehrlich?“ Der Gedanke, ein Haus zu bauen, um dort zusammen mit seinem Partner zu leben, lag für Jonas noch so weit in der Zukunft, dass es ihm beinahe unwirklich erschien.

„Naja, Drago ist Architekt und ich Tischlermeister, wir haben gute Kontakte in so ziemlich jeden Bereich der Bauchbranche. Da wäre es irgendwie paradox, ewig in einer Mietwohnung zu leben.“ Marco verschränke die Arme vor der breiten Brust. „Wir machen das meiste in Eigenregie oder mit Hilfe von Freunden, aber dafür braucht alles auch entsprechend lange. Dauert sicher noch ein halbes Jahr, bis das Haus halbwegs bewohnbar ist.“

„Ähm, ich hab noch gar nich‘ gefragt, wo ihr überhaupt wohnt. Nich‘ in Berlin, so viel weiß ich.“

„In Stuttgart. Geboren und aufgewachsen. Naja, ich. Drago lebt erst seit ein paar Jahren dort.“

„Dann kennst du Erik wohl schon eine ganze Weile?“

„Zehn Jahre, ungefähr.“

„Und wie habt ihr euch kennengelernt?“, fragte Jonas weiter.

Plötzlich war da etwas Wachsames in Marcos Zügen. „Hat er dir das nicht erzählt?“

„Ähm, nee. Er hat eigentlich gar nich‘ viel gesagt. Bloß, dass er heute mit zwei Freunden ins Theater geht.“

Seufzend kratzte Marco seinen Nacken. „Also, ursprünglich kennengelernt haben wir uns übers Boxen.“

„Erik boxt?“, rief Jonas entsetzt und einmal mehr brach Marco in schallendes Gelächter aus.

„Nicht wirklich. Er war grauenhaft und hat es gehasst.“ Marco schüttelte den Kopf, lächelte dabei aber. „Ich habe nie rausgefunden, wie sehr das eine das andere bedingt hat. Jedenfalls war ich schon seit Jahren in diesem Studio und hatte es mir zur Aufgabe gemacht, den Anfängern ein bisschen unter die Arme zu greifen.“

„Hat in Eriks Fall wohl nich‘ so ganz klappt.

„Ha! Nein, hat es wohl nicht. Aber wir haben uns kennengelernt und das war das wirklich Wichtige.“ Er tippte gegen Jonas‘ Schulter. „So, du bist dran. Erzähl mir ein bisschen was von dir.“

„Oh, ähm … Guck mal, der Dönerstand da drüben. Holen wir uns was von da?“

„Machen wir. Und glaub bloß nicht, dein Ablenkungsversuch würde funktionieren.“

Jonas tat, als hätte er Marcos Bemerkung überhört. Sie bezahlten ihr Essen und verschlangen es noch an Ort und Stelle.

„Also?“, fragte Marco, nachdem er den letzten Bissen heruntergeschluckt und das Papier im Müll entsorgt hatte. „Schieß los.“

„Da gibt es nich‘ so viel zu erzählen …“

„Bisher kenne ich genau deinen Namen. Ein bisschen mehr darf es schon sein.“

„Naja, ähm …“ Verlegen strich sich Jonas durchs Haar. Warum nur hatte er das Gefühl, genauestens durchleuchtet zu werden?

„Du hast gerade Abi gemacht, richtig?“, half Marco nach. „Also bist du – was? – achtzehn? Neunzehn?“

„Zwanzig, eigentlich“, murmelte Jonas, grub die Hände tiefer in die Taschen und starrte auf den Gehweg vor ihm. Sein Alter und sein Schulabschluss waren beides keine Themen, mit denen er sich besonders wohlfühlte. „Ich, ähm … Ich bin ‘n Jahr später in die Schule gekommen und … musste dann die achte Klasse wiederholen. Ich … war nich‘ grad ‘n Musterschüler.“

„Und trotzdem hast du es bis zum Abi durchgezogen?“

Jonas zuckte mit den Schultern. „Ich wusst‘ nich‘, was ich sonst machen soll. Wollte immer in Richtung Kunst gehen, aber wenn ich mir einfach bloß ‘ne Ausbildung gesucht hätte, hätten meine Eltern bestimmt drauf bestanden, dass ich ‘ne Kochlehre oder so mach‘, damit ich ihre Gaststätte übernehmen kann. Nach dem Abi war ich wenigstens volljährig und konnt‘ selbst entscheiden, was ich werden will.“

„Habt ihr ein gutes Verhältnis, du und deine Eltern?“

„Jaah, im Großen und Ganzen schon.“ Jonas stockte. „Nee, ich bin unfair. Eigentlich haben wir ‘n echt gutes Verhältnis.“

„Und uneigentlich?“

Kein Wunder, dass Marco und Erik befreundet waren. Sie waren beide absolute Genies darin, Jonas Dinge zu entlocken, die er normalerweise für sich behalten hätte. „Keine Ahnung … Wahrscheinlich hab ich manchmal Angst, sie zu enttäuschen. Das … kann ganz schön belastend sein.“

Marco brummte zustimmend. „Da bin ich fast froh, dass ich das schon hinter mir habe.“ Die unbekümmerte Aura, die ihn bisher umgeben hatte, flackerte und Jonas schluckte seine Frage herunter. Allerdings schien seine Neugierde Marco nicht entgangen zu sein. „Meine Eltern zu enttäuschen, meine ich.“

„Was ist passiert?“

„Sie haben nicht besonders gut auf mein Comingout reagiert.“

„Oh.“

„Was mir eigentlich immer klar war.“ Marco stieß ein leises Seufzen aus. „Dass sie mich direkt vor die Tür setzen, hatte ich allerdings nicht erwartet.“

„Das … Das is‘ heftig.“ Steif setzte Jonas einen Fuß vor den anderen, während er versuchte, die Vorstellung von sich zu schieben, seine eigenen Eltern könnten ihn ebenso verbannen, sollten sie jemals von seiner Homosexualität erfahren.

„Ach, scheiße“, murmelte Marco. „Du hast es deinen noch gar nicht gesagt, oder?“

Jonas schüttelte den Kopf.

„Und bist dir nicht sicher, ob du es tun sollst.“

Jonas nickte.

„Tja, da habe ich ja mal voll in die Scheiße gegriffen. Sorry. Lass mich dir sagen, dass ich über die Jahre sehr, sehr viele Comingouts mitbekommen habe und die Reaktion meiner Eltern definitiv die extremste war.“

„Darf ich fragen, wie’s danach zwischen euch weiterging? Ich mein, ähm, ich kann voll verstehen, wenn du nich‘ drüber quatschen willst, aber ...“

„Ach was, das ist schon okay“, versicherte Marco. „Ich fürchte nur, es gibt nicht viel Positives zu berichten. Mein Vater hat mich, im wahrsten Sinne des Wortes, aus der Wohnung geschmissen und sehr deutlich gemacht, dass ich ihm nicht mehr unter die Augen treten soll. Ich bin dann erst mal bei Freunden untergekommen, bis ich mit der Lehre fertig war und mir was eigenes leisten konnte. Von meinen Eltern habe ich seitdem nichts mehr gehört.“

„Gar nix?“, fragte Jonas entsetzt.

„Nein.“ Marco war offensichtlich um einen unbekümmerten Tonfall bemüht, doch seine Hände waren fest zu Fäusten geballt. „Am Anfang habe ich versucht, anzurufen, aber sie haben aufgelegt, wann immer sie meine Stimme erkannt haben. Danach bin ich dazu übergegangen, ihnen Briefe zu schreiben. Jedes Jahr einen. Ich erzähle ihnen, wie es mir so geht und was ich gemacht habe.“ Er seufzte. „Drago sagt immer, dass ich das lassen soll, weil ich mir nur unnötig Hoffnung mache, dass sie irgendwann doch darauf antworten könnten, aber … Ich sehe das anders. Die beiden sollen schlicht nicht vergessen, dass sie einen Sohn haben.“

Jonas wusste nicht, was er darauf erwidern sollte und es war Marco, der das Schweigen brach, kurz, bevor sie das Duo erreicht hatten.

„Guck nicht so traurig!“, forderte er ihn auf. „Ich hatte über zehn Jahre Zeit, um mich mit der Geschichte zu arrangieren und nur, weil es mir passiert ist, muss es bei dir noch lange nicht genauso laufen. Wie gesagt, ausgehend von dem, was ich in den letzten Jahren so mitbekommen habe, bin ich definitiv einer der extremsten Fälle.“

Stumm nickte Jonas und zuckte zusammen, als sich ein schwerer Arm um seine Schultern legte.

„Komm, ich gebe dir jetzt erstmal ein Bier aus und dann machen wir die Tanzfläche unsicher!“

Jetzt schaffte es wenigstens ein schmales Lächeln auf Jonas‘ Gesicht.

 

Verschwitzt und durstig bahnte sich Jonas seinen Weg zur Bar. Er hatte jedes Zeitgefühl verloren, wusste nur, dass er dringend etwas zu trinken brauchte. Idealerweise ohne Alkohol, wenn er an diesem Abend auch nur ansatzweise einen klaren Kopf behalten wollte. Während er darauf wartete, dass der Barkeeper ihn bemerkte, warf er einen Blick auf die kleine, inzwischen beinahe überfüllte Tanzfläche.

Erik war bereits vor einer Weile irgendwo in der Menge verschwunden, doch Jonas fühlte noch immer ein Kribbeln an den Stellen, die seine Hände zuvor beim Tanzen berührt hatten. Sicher, sie waren dabei nicht so eng umschlungen gewesen wie einige der anderen Gäste, oder auch nur halb so vertraut wie Marco und Drago, aber es war dennoch schön gewesen, mal nicht jeden Blick und jede Geste auf Öffentlichkeitstauglichkeit überprüfen zu müssen.

„Welch Glück, da bekomme ich ja doch noch die Gelegenheit, mit dem Neuen zu quatschen.“

Instinktiv trat Jonas einen Schritt zurück, um der unangenehm lauten Stimme an seinem Ohr zu entkommen. Direkt neben ihm stand ein Mann in seinem Alter, mit einem Lächeln auf den Lippen, das seine Augen nicht erreichte.

„Was?“

„Du bist doch Eriks neuester Fang, nicht wahr?“, fragte der Fremde vergnügt.

„Keine Ahnung, wovon du redest.“ Jonas versuchte weiterhin Abstand zu gewinnen, aber es war voll und seine Nachbarn machten keine Anstalten, ihm mehr Platz zu gönnen.

„Wirklich nicht?“ Das falsche Lächeln des Fremden wurde breiter. „Dann habe ich mir sicher nur eingebildet, euch den ganzen Abend zusammen gesehen zu haben. Und du hast nicht noch immer diesen erdigen Duft in der Nase, weißt nicht, wie es sich anfühlt, von ihm berührt zu werden. Oder geküsst … Sanft und zurückhaltend, beinahe schüchtern, bis du vor Sehnsucht nach ihm zerfließt. Dich zu ihm lehnst und ihm zeigst, wie sehr du ihn willst.“ Der Fremde machte eine kunstvolle Pause „Erst dann lässt er dich sein Verlangen spüren.“

Unwillkürlich wanderten Jonas‘ Finger zu seinen Lippen, strichen darüber, weckten die Erinnerung an ihren ersten Kuss. Diese Reaktion blieb seinem Gegenüber nicht verborgen.

„Na, siehst du? Das hättest du doch gleich zugeben können, wir sind hier doch alle Freunde.“ Der Fremde verzog das Gesicht zu einer Trauermiene. „Leider, leider hat man so einen Typen wie Erik nie für sich allein.“ Vertrauensvoll legte er einen Arm um Jonas und deutete mit der anderen Hand in den hinteren Bereich, der von der Bar aus gerade noch zu sehen war. „Guck!“

Er hatte Jonas den Rücken zugewandt, aber es war eindeutig Erik, der sich gerade angeregt mit einem ziemlich attraktiven Mann unterhielt, dessen Piercings im gedämpften Licht funkelten. Noch während Jonas ihn beobachtete, legte Erik zärtlich eine Hand an die Wange des Manns, strich eine Haarsträhne hinter dessen Ohr und beugte sich vor, als hauchte er ihm Küsse auf den bloßgelegten Hals.

„Tut mir ja echt leid für dich“, flötete der Fremde. „Sowas ist hart. Das weiß ich.“

„Einen Scheiß weißt du!“, knurrte Jonas und schlug die Hand von seiner Schulter. „Und nimm endlich deine Bratzn weg!“

„Ist hier alles in Ordnung?“

Bei Dragos Anblick, verzog sich der Fremde in die andere Richtung, allerdings nicht, ohne Jonas noch einmal verschwörerisch zuzuzwinkern.

„Jonas?“

„Jaah … Ja, alles okay“, murmelte Jonas abgelenkt. Dann zwang er sich zu einem Lächeln. „Bin wohl die viele Aufmerksamkeit nich‘ gewohnt.“ Das war noch nicht einmal gelogen, er war noch nie so oft angesprochen worden, wie an diesem Abend. Die anderen Begegnungen waren jedoch wesentlich angenehmer gewesen.

„Hm.“ Drago wirkte nicht überzeugt, ließ das Thema jedoch fallen. „Marco und ich würden langsam ins Hotel aufbrechen. Bleibt ihr noch?“

„Ich denk‘, ich hau auch ab.“ Jonas hatte eindeutig die Schnauze voll. „Ich wart‘ schon mal draußen.“

Die Nachtluft kühlte seine heißen Wangen und vertrieb ein paar Nebelfetzen aus seinem Kopf. Mit geschlossenen Augen reckte er die Nase in den Wind.

„Sieht aus, als müssten wir alle in verschiedene Richtungen. “ Marcos Stimme schien weit entfernt. Die Hand, die sich auf seine Schulter legte, holte Jonas jedoch zurück in die Realität.

Erik lächelte sanft. Unschuldig. Als hätte er sich nicht bis eben an einen anderen Typen rangemacht. „Müde?“

„‘N bisschen“, antwortete Jonas ausweichend.

„Wir haben gerade festgestellt, dass es sich nicht wirklich lohnt, uns ein Taxi zu teilen“, erklärte Erik. „Aber wenn du willst, kannst du heute gern bei mir übernachten.“

„Nee, lass mal“, wehrte Jonas ab. Rasch fügte er hinzu: „Ich hab morgen doch scheißfrüh ‘n Seminar.“ Daran hätte er mal lieber gleich denken sollen, bevor er sich auf den Abend eingelassen hatte.

„Ah, das verstehe ich natürlich.“ Erik trat von einem Fuß auf den anderen. „Vielleicht könnten wir uns trotzdem ein Taxi teilen. Dann setze ich dich zuerst bei dir ab und–“

„Wir müssen doch in entgegengesetzte Richtungen“, unterbrach Jonas ihn. Eigentlich hatte er keine Ahnung, wo sie überhaupt waren, aber er verspürte nicht die geringste Lust, sich zusammen mit Erik auf die Rückbank eines Taxis zu pferchen.

„Mir macht ein Umweg wirklich nichts aus.“

„Nee, das passt schon.“ Jonas wollte einfach nur weg, wollte Abstand zwischen sich und Erik bringen, damit er verarbeiten konnte, was er gerade gesehen hatte. „Da fährt bestimmt irgendwo eine Nachtlinie, die ich nehmen kann.“

„Sicher?“, fragte Erik zweifelnd.

„Ganz sicher. Du hast dich heut‘ echt schon genug um mich gekümmert.“ Er winkte Marco und Drago zu. „War nett, euch kennengelernt zu haben!“

Nach diesem kurzen Abschied flüchtete Jonas in eine Seitenstraße und hoffte, irgendwie nach Hause zu finden.

 

 

Kapitel 15

Was zuletzt geschah:

Zwei Schritte vor, einer zurück? Jonas‘ Beziehung zu Erik wächst und gedeiht. Wenn sie nicht reden, schreiben sie miteinander und wenn sie nicht schreiben, kreisen Jonas‘ Gedanken um den Mann, an den er sein Herz verschenkt hat. Eine Verabredung zum Theaterbesuch, zusammen mit Eriks Freunden, scheint nur ein weiterer Schritt in die richtige Richtung. Bis der freundliche Hinweis eines Fremden Jonas darauf aufmerksam macht, dass er sich möglicherweise auf dem völlig falschen Pfad befindet.

 

Kapitel 15

Klapperndes Geschirr und fröhliches Geplauder. Laut. Ohrenbetäubend.

„Und?“ Larissa stellte ihr Essenstablett neben Jonas. „Welche Laus ist dir über die Leber gelaufen?“

„Mir is‘ ‘n Scheiß irgendwo rüber gelaufen.“

Schnaubend rollte Larissa mit den Augen. „Am Montag dachte ich, du wärst bloß verkatert. Am Dienstag, dass dein Start in die Woche besonders hart war. Jetzt haben wir Donnerstag und du ziehst immer noch eine Fresse, als hätten wir Trump zum Kanzler gewählt. Also? Welche Laus ist dir über die Leber gelaufen und wie kann ich sie erschlagen?“

„Trump als Kanzler würd‘ mich zumindest auf andere Gedanken bringen.“ Jonas schob sich einen weiteren Bissen fad schmeckenden Auflauf in den Mund. Immer wieder wälzte er die Ereignisse im Duo, sah Erik vor sich, der zärtlich eine Haarsträhne hinter das Ohr eines gutaussehenden Typen strich, ihn sogar zu küssen schien; hörte die hämische Stimme des anderen, der all seine Ängste laut aussprach. Vielleicht hatte Jonas seine Beziehung zu Erik falsch eingeschätzt. Vielleicht war er nichts als eine unterhaltsame Zwischenstation für ihn, bevor er sich einem interessanteren Spielzeug zuwandte. Was hatte es schon zu bedeuten, dass sie sich mindestens einmal täglich schrieben? Sie stundenlang reden und lachen konnten? Erik ihm seine Freunde vorgestellt hatte? Wahrscheinlich hatte sich sein hormonumnebeltes Hirn einfach völlig falschen Hoffnungen hingegeben.

„Da sind Esther und Kemal.“ Larissas frenetisches Winken, das die Ankunft des jungen Pärchens begleitete, riss Jonas aus seiner Grübelei. Allerdings nur kurz.

„Mahlzeit“, grüßte Kemal als er sich auf den Platz neben Jonas fallen ließ.

„Jonas, geht’s dir gut?“, fragte Esther. „Du siehst irgendwie traurig aus.“

„Das habe ich ihm auch gerade gesagt“, bestätigte Larissa.

„Es ist alles okay mit mir!“, versicherte Jonas etwas lauter als nötig und warf seine Gabel auf sein Tablett. Ihm war der Appetit vergangen. „Mir fällt einfach bloß die Decke auf den Kopf. Nix, was ein paar dutzend Bier nich‘ richten könnten.“

„Bin dabei!“ Auffordernd sah Larissa in die Runde. „Was ist mit euch?“

Kemal und Esther wechselten einen Blick, führten eine stumme Debatte.

„Samstag würde gehen“, gab Kemal schließlich nach.

 

Die Schreibtischlampe beleuchtete die viel zu klein gedruckten Buchstaben des Fachwerks über historische Fotografie, das sich Jonas in der Hoffnung auf Inspiration aus der Bibliothek geholt hatte. Dummerweise zog sein regelmäßig aufblinkendes Handydisplay weit mehr Aufmerksamkeit auf sich.

 

Larissa, 18:03 Uhr

Wo wollen wir denn heute hin?

 

Esther, 18:05 Uhr

Schlag was vor

 

Larissa, 18:05 Uhr

Warum immer ich?

 

Esther, 18:05 Uhr

Dann halt nicht du. Kemal? Was ist mit dir? Wohin willst du heute?

 

Kemal, 18:11 Uhr

Ist mir völlig egal.

 

Larissa, 18:12 Uhr

Ihr seid keine Hilfe!

 

Esther, 18:12 Uhr

Von dir kam bisher auch nichts.

 

Kopfschüttelnd verfolgte Jonas seinen WhatsApp-Verlauf. Wenn die drei so weitermachten, würde der Abend mit Streit statt Saufen enden. Er beschloss, einzugreifen.

 

Du, 18:22 Uhr

wie wärs mitm tix? da is auch schon vor zwölf was los und es is nich sooo teuer.

 

Larissa, 18:25 Uhr

Echt jetzt? Ausgerechnet du schlägst das Tix vor?

 

Du, 18:25 Uhr

was dagegen?

 

Jonas verstand selbst nicht, was ihn geritten hatte, ausgerechnet den Club vorzuschlagen, in dem Erik arbeitete. Eigentlich sollte er Abstand halten, seine Gefühle unter Kontrolle bringen und sich auf die Enttäuschung vorbereiten, die unweigerlich kommen würde. Aber noch konnte er das nicht. Er musste Erik sehen, musste noch ein wenig hoffen können, dass da mehr zwischen ihnen war als Sex.

 

Larissa, 18:26 Uhr

Nö. Fand es nur witzig.

 

Esther, 18:32 Uhr

Dann steht das Tix?

 

Larissa, 18:33 Uhr

Von mir aus immer.

 

Kemal, 18:45 Uhr

Passt für mich auch.

 

Du, 18:55 Uhr

ihr könnt davor zu mir kommen. ich wohn ja gleich ums eck.

 

Larissa, 18:56 Uhr

Yeah! Vorglühen!

 

Esther, 19:06 Uhr

Wir kommen dann lieber direkt hin. Gegen zehn?

 

Larissa, 19:07 Uhr

Alles klar! Bis dann!

 

In Jonas‘ privatem Chat mit Larissa, erschien eine neue Nachricht.

 

Larissa, 19:09 Uhr

Diese Langweiler! Kann ich gleich vorbeikommen? In der WG sind alle ausgeflogen und ich langweile mich zu Tode!

 

Du, 19:09 Uhr

klar, komm rüber.

 

Bevor Jonas unter die Dusche sprang, um sich auf den Abend vorzubereiten, ließ er auch Erik eine kurze Nachricht über seine heutigen Pläne zukommen.

 

„Himmel, ist das kalt!“ Motzend hüpfte Larissa auf der Stelle auf und ab, um sich ein wenig zu wärmen. „Zehn Minuten haben sie gesagt. Die sind schon zweimal rum!“

„Die kommen schon noch“, erwiderte Jonas, um Gelassenheit bemüht. Die Stimmung zwischen Larissa, Kemal und Esther war in den letzten Wochen zunehmend gekippt und er hatte kein Interesse, jetzt auch noch Öl ins Feuer zu gießen. Erleichtert stellte er fest, dass die beiden es ihm dieses Mal leicht machten. „Guck, da sind sie schon!“

„Endlich!“

Während Larissa ein falsches Lächeln aufsetzte, um Esther und Kemal zu begrüßen, warf Jonas einen Blick auf sein Handy und las zum wiederholten Mal Eriks Antwort.

 

Erik, 20:28 Uhr

Viel Spaß heute Abend :)

Bin ziemlich beschäftigt, aber schreib mir noch mal, wenn ihr drin seid!

 

Du, 21:48 Uhr

stehen vor der tür!

 

„Mit wem schreibst du?“, erkundigte sich Esther neugierig.

„Bloß ‘n Bekannter“, antwortete Jonas ausweichend und verachtete sich selbst dafür. Rasch kramte er einen zerknüllten Schein hervor, erhielt im Austausch den hässlichen Einlassstempel und flüchtete in den Club. Larissa folgte ihm. „Holen wir dir erst mal dein Bier.“

Bereitwillig ließ sich Jonas von ihr über die noch fast leere Tanzfläche zur Bar schleifen, seine Aufmerksamkeit galt allerdings mehr der dahinterliegenden Tür zum Personalbereich. Er bestellte und erhielt sein Bier, ohne, dass sie sich auch nur einen Spalt weit geöffnet hätte und verbarg seine Enttäuschung hinter einem breiten Lächeln als er Esther und Kemal zu ihnen winkte. Alkohol, dröhnende Bässe und die gute Laune seiner Freunde halfen, seine Gedanken an Erik zu verdrängen.

Das zweite Bier hatte noch besser als das erste geschmeckt und ungeduldig mit dem Fuß tippend, wartete Jonas darauf, sein drittes bestellen zu können, aber die Thekenkraft gab einem anderen den Vorzug.

„Hey, is‘ der Kerl bei uns an der Uni?“

Larissa zog die Stirn kraus. „Der Große da?“

Jonas nickte. Der Typ, dem gerade das Bier gereicht wurde, nach dem sich Jonas sehnte, war durchaus ein Blickfang. Dunkle Haare, dunkle Augen, markante Gesichtszüge. Ein farbenprächtiges Tattoo schlängelte sich unter dem Rand seines Shirts hervor und wanderte über Schulter und Nacken, ehe es unter seinem Haaransatz verschwand.

„Glaub nicht. Warum fragst du?“

„Dacht‘, ich hätte ihn schon mal gesehen.“ Achselzuckend nahm Jonas das Bier entgegen, das ihm endlich von dem zweiten Barmann gebracht wurde – Thekenkraft Nummer eins flirtete noch immer mit dem Objekt ihrer Diskussion – und gab den Cuba Libre an Larissa weiter. „Hab mich wohl getäuscht.“

„Irgendwie schade. Der ist echt heiß!“

„Kann sein“, brummte Jonas vage und wandte sich zur Tanzfläche, allerdings nicht, ohne einen letzten Blick auf den Fremden zu werfen. Sein Dreitagebart und die scheinbar wahllos zusammengewürfelte Kleidung gaben ihm eine Aura achtsamer Achtlosigkeit, die irgendwo zwischen Gemütlichkeit und Arroganz oszillierte. Das selbstgefällige Grinsen, mit dem er Jonas‘ Starren beantwortete, verstärkte diesen Eindruck. Eilig folgte Jonas Larissa.

Musik betäubte die Sinne. Wodka und Bier schmeckten besser als Wasser und Cola. Die Nacht nahm ihren Lauf.

Mit vorrückender Stunde hatte die kleine Gruppe um Jonas begonnen, sich aufzulösen, bis er sich irgendwann allein auf der Tanzfläche wiederfand, halbherzig darum bemüht, zum Takt eines ihm unbekannten Lieds zu hüpften. Plötzlich legten sich zwei Hände auf seine Schultern. Erschrocken wirbelte er herum.

„Du bist mir schon letzte Woche aufgefallen!“ Der Fremde musste rufen, um die laute Musik zu übertönen.

„Hier?“, fragte Jonas verwirrt. „Ich war nich‘ …“

„Nicht hier! im Duo!“

„Oh.“ Jonas fühlte seine Wangen heiß werden. „Ach so.“

Der Fremde ließ ihm keine Zeit für Verlegenheit. „Noch ein Bier?“

Jonas musterte die noch halbvolle Flasche in seiner Hand, setzte an und leerte sie in einem Zug. „Klar!“ Gemeinsam steuerten sie zur Bar.

„Ich wollt‘ dich neulich schon ansprechen.“ Der Fremde winkte den Barkeeper zu sich. „Zwei Bier und zwei Tequila!“ Er drehte sich wieder zu Jonas. „Aber du warst ständig von irgendwelchen Kerlen umgeben. Also, noch mehr als im Duo üblich. Wie heißt du überhaupt?“

„Jonas.“

„Ich bin Rico!“ Grinsend nahm er einen Tequila und reichte den zweiten an Jonas weiter.

Obwohl das Klirren ihrer Gläser vom Lärm verschluckt wurde als sie anstießen, hatte die Geste etwas Befriedigendes. Wie der Beginn eines neuen Abschnitts, das Versprechen, einen eher durchschnittlichen Abend in einen wirklich erzählenswerten zu verwandeln. Salz, Zitrone und Alkohol brannten in Jonas‘ Hals, als er beschloss, dass nun er an der Reihe war, eine Runde springen zu lassen. Den Rest des Monats würde er sich von Nudeln mit Ketchup ernähren.

„Gleich noch eine?“, fragte Rico, nachdem er sein Glas geleert hatte.

„Lass mich erstmal mein Bier trinken, bevor’s lack wird!“ Allmählich zeigte der Alkohol Wirkung. Jonas‘ Blick war unstet, seine Zunge stolperte über vereinzelte Silben. Die stickige Hitze des Clubs und Ricos Nähe taten ihr Übriges. Er musste sich ablenken, etwas Abstand gewinnen. „Bist du allein hier?“

„Bis jetzt schon. Später kommen vielleicht ein paar Freunde vorbei.“

Jonas wollte vorschlagen, Larissa und die anderen zu suchen, verstummte aber, als Rico eine Hand auf seine Schulter legte und sanft mit dem Daumen über sein Schlüsselbein strich. „Was ist mit dir? Single oder vergeben?“

Instinktiv schob Jonas Ricos Hand zur Seite, zögerte jedoch mit einer Antwort. Erik hatte sich den ganzen Abend nicht blicken lassen, obwohl die beiden blauen Häkchen hinter Jonas‘ Nachricht zeigten, dass er sie gelesen hatte. „Single“, antwortete er schließlich bestimmt. Er war Erik nichts schuldig. „Und bereit für noch’n Stamperl!“

„Stamperl?“

„Schnaps! Tequila. Wodka. Korn. Scheißegal was!“

Rico grinste breit. „Kommt sofort!“

Jonas hatte eben in die Zitrone gebissen, als die ersten Töne von Linkin Parks In the End an sein Ohr drangen. Er packte Ricos Arm. „Tanzen!“

Die Musik dröhnte in Jonas‘ Kopf, der Bass massierte seinen Magen, Schweiß rann seinen Rücken hinab und bald waren Ricos Hände an seinen Hüften nicht mehr lästig, sondern angenehm. Die Welt um ihn herum verschwamm. Da waren nur noch Rhythmus und Tanz und Ricos Körper, der sich gegen seinen presste. Ein Song endete, ein neuer begann, es war egal, solange nur dieses Gefühl blieb.

Ricos Lippen, die sich auf seine legten, brachten einen kurzen Augenblick der Klarheit, aber die Sehnsucht, von jemandem, irgendjemandem, begehrt zu werden, erstickten jede Reue. „Geh’n wir zu mir“, nuschelte Jonas in Ricos Ohr, zog ihn mit sich.

Der Weg zu seiner Wohnung war eine Aneinanderreihung verworrener Szenen, lose verbunden durch Zungen und Hände und Verlangen. Plötzlich fand sich Jonas auf seinem Bett wieder, sein Oberkörper nackt, das Gewicht eines anderen Mannes auf seinem Körper, eine fremde Hand in seiner Hose. Sein Magen rebellierte. „Warte …“

„Musst du kotzen?“, fragte Rico wenig begeistert.

„Geht gleich wieder“, versprach Jonas. Mühevoll setzte er sich auf. „Muss nur kurz …“ Mit geschlossenen Augen konzentrierte er sich auf seinen Atem, zwang sich, tief und gleichmäßig Luft zu holen, doch mit dem Abebben der Übelkeit, kam die Schuld. Was zur Hölle tat er hier? Wie konnte er Erik dafür verurteilen, mit einem anderen zu flirten, wenn er selbst mit dem nächstbesten ins Bett stieg? Lechzte er wirklich so sehr nach Aufmerksamkeit? Scheiße, dieses Mal hatte er es wirklich verbockt! Oder hatte er? Erik und er hatten nie über Exklusivität gesprochen. Eigentlich hatten sie überhaupt nie über ihre Beziehung gesprochen. Nach allem, was Jonas wusste, war das zwischen ihnen lediglich eine lockere Sache. Friends with benefits, bestenfalls. Die Idee, dass das zwischen ihnen mehr sein könnte, existierte bisher nur in seinem eigenen Kopf.

„Wird das heut noch was?“, unterbrach Rico Jonas‘ kreisende Gedanken. „Schlafen kann ich nämlich auch zuhause.“

„Dann verpiss dich doch!“, fauchte Jonas, ohne sich umzudrehen.

„Meine Fresse …“ Rico zog seine Hose hoch, schloss mit unbeholfenen Fingern den Knopf und kletterte vom Bett. „Warum erwische ich immer die Dramaqueens?“

Jonas atmete auf, als er kurz darauf das Öffnen und Schließen seiner Tür hörte, aber die Erleichterung hielt nur kurze Zeit an. Sein Magen hatte die kurze Pause genutzt, um sich in sich selbst zu verknoten; Bier, Wodka und Tequila traten verzweifelt die Flucht nach vorne an. Er schaffte es gerade noch zur Toilette, bevor er die beißende Flüssigkeit hervorwürgte.

Wann immer Jonas glaubte, unmöglich noch mehr erbrechen zu können, belehrte ihn sein Körper eines Besseren, hielt ihn gnadenlos auf dem kalten Fliesenboden. Der Himmel hatte bereits begonnen, von tiefem Schwarz in fades Grau überzublenden, als er endlich erschöpft in einen ruhelosen Schlaf fiel.

Kapitel 16

Was zuletzt geschah:

Ein eigentlich netter Abend mit Erik und zwei Freunden lässt Jonas verunsichert darüber zurück, wo er und Erik nun eigentlich stehen. Zweifel, Alkohol und der Wunsch nach Ablenkung ergeben eine gefährliche Mischung und plötzlich findet sich Jonas im Bett mit einem Fremden wieder. Sein rebellierender Magen beendet die Sache vorzeitig, aber noch schafft es Jonas nicht, ihm dafür wirklich dankbar zu sein.

 

Kapitel 16

Beißende Kälte war das Erste, das Jonas nach dem Aufwachen wahrnahm. Das Zweite war sein flauer Magen. Nicht schlimm genug, um sich noch einmal zu übergeben, aber definitiv ausreichend, um ihm jeden Appetit zu verderben. Kein großer Verlust. Jonas war sich ohnehin nicht sicher, ob ihn seine steifen Gliedmaßen sicher bis zur Küche tragen würden. Er hoffte nur, wenigstens seinen Badschrank erreichen zu können. Eine Kopfschmerztablette war jetzt lebensnotwendig.

Erst, nachdem Jonas die Tablette geschluckt und die Bestandsaufnahme seines physischen Zustands beendet hatte, holten ihn die Erinnerungen der vergangenen Nacht ein. Stöhnend sank er zurück auf den Boden. Das war wahrlich nicht sein erster Kater und mehr als einmal hatte er im Suff etwas angestellt, worauf er nüchtern gut hätte verzichten können, aber das war ein neuer Tiefpunkt.

Die Füße an die Brust gezogen, den schmerzenden Kopf in den Händen, suhlte er sich in Selbstmitleid, bis er entschied, diese Tätigkeit seiner Gesundheit zuliebe in seinem warmen Bett fortzusetzen. Auf dem Weg dorthin hob er sein Handy auf, das im Laufe der Nacht aus seiner Hosentasche gerutscht sein musste. Er war beinahe überrascht, das Display heil vorzufinden. Angesichts seines bisherigen Tagesverlaufs hatte er etwas Anderes erwartet.

Abgesehen von Larissa, die sich erkundigte, ob er noch eine gute Nacht gehabt hatte – der Zwinkersmiley dahinter sprach dafür, dass seine nächtliche Eskapade nicht völlig unbemerkt geblieben war – warteten keine Nachrichten auf ihn. Erik hatte sich schlicht nicht mehr gemeldet.

Jonas biss sich auf die Lippe. Er schämte sich, wollte seine Sorgen mit jemandem teilen, sich Rat und Beistand holen oder einfach ordentlich ausheulen, bis er bereit war, den Dreck von seinen Klamotten zu klopfen und erhobenen Hauptes weiterzumachen. Aber an wen konnte er sich schon wenden?

Larissa? Sie kamen gut miteinander aus, aber Jonas hatte nicht das Gefühl, sich ihr schon weit genug öffnen zu können, um ihr von Erik zu erzählen. Davon abgesehen, war sie mit Dominik befreundet. Es war schlimm genug gewesen, die Enttäuschung in ihrem Gesicht zu sehen, als er ihr erzählt hatte, dass das zwischen ihnen nichts werden würde. Jetzt noch zu gestehen, die ganze Zeit mehr oder minder zweigleisig gefahren zu sein, schien ihm mehr als unklug.

Maria wollte er nicht mit seinen Problemen belasten, sie hatte genug mit ihren eigenen zu tun. Bei jedem ihrer Telefonate, hörte er die erzwungene Heiterkeit in ihrer Stimme, fühlte er ihren ständigen Kampf, sich nicht aufzugeben. Sie brauchte wirklich niemanden, der über sein verkorkstes Liebesleben jammerte.

Und seine Schwester Christine? War es nicht schlimm genug, täglich mit ihren Eltern konfrontiert zu sein, ohne ein Wort über Jonas‘ Comingout verlieren zu dürfen? Musste er ihr wirklich ein weiteres Geheimnis aufbürden?

Einen Augenblick lang dachte Jonas an Clemens. Wie einfach es doch wäre, ihn anzurufen und sein Leid zu klagen, wenn … tja, wenn Erik ein Mädchen wäre.

Wütend auf sich und die ganze Welt, warf sich Jonas Kopf voraus in seine Kissen. Ein vager Geruch nach Alkohol und fremdem Deo stieg in seine Nase, doch bevor er auch nur darüber nachdenken konnte, das Bett neu zu beziehen, war er bereits eingeschlafen.

Als Jonas die Augen das nächste Mal aufschlug, beherrschten lange Schatten sein Zimmer; Kopfschmerz und Übelkeit waren zu einem Gefühl diffusen Unwohlseins zusammengeschmolzen. Stöhnend tastete er nach seinem Handy. Ein Blick auf die Uhrzeit ließ ihn hochfahren. „Fuck!“

Wenn er auch nur ansatzweise pünktlich bei Erik auftauchen wollte, hatte er noch ungefähr fünf Minuten, um das Haus zu verlassen. Und diese fünf Minuten mussten eine Dusche beinhalten, er konnte unmöglich in seinem jetzigen Zustand in die Öffentlichkeit.

Das Handtuch schon im Arm, hielt Jonas inne. Wollte er überhaupt pünktlich bei Erik sein? Verkatert und mit schlechtem Gewissen? Nach allem, was passiert war? Vielleicht sollte er lieber absagen, durchatmen und dann zu einem besseren Zeitpunkt in Ruhe mit ihm sprechen. Oder sich zuhause vergraben und so tun, als hätten sie sich nie kennengelernt.

Energisch wischte Jonas diese Gedanken beiseite. Es war Zeit, sich wie ein Erwachsener zu benehmen, Erik seine Gefühle zu gestehen und mit den Konsequenzen zu leben. Mit neuer Energie drehte Jonas das Wasser auf und versuchte, Ricos Geruch und das Gefühl seiner Finger von seiner Haut zu waschen.

 

Jonas hatte noch nicht einmal Eriks Stockwerk erreicht, als ihn der Mut verließ. Die gesamte Fahrt hatte er damit verbracht nach passenden Worten zu suchen, aber jetzt da es Ernst wurde, war sein Kopf wie leergefegt.

Vor dem letzten Treppenabsatz holte Jonas tief Luft. Er konnte das. Das war keine mündliche Prüfung bei seinem Hasslehrer, sondern ein Gespräch mit Erik, einem der empathischsten Menschen, denen er je begegnet war. Sicher spürte er schon, dass etwas nicht stimmte, bevor Jonas überhaupt den Mund geöffnet hatte. Er würde nachfragen und dann einfach zuhören. Geduldig und verständnisvoll.

Die Wohnungstür war einen Spalt geöffnet, dahinter der Mann, der Jonas‘ Herz rasen ließ.

„H–“ Jonas schaffte es nicht, sein Hallo zu beenden. Erik zog ihn in seine Wohnung, erstickte die Begrüßung mit einem Kuss. Hart, fordernd und ausgehungert.

Unter anderen Umständen wäre Jonas in seine Arme geschmolzen und hätte sich Verlangen und Sehnsucht freudig hingegeben. Aber dieses Mal konnte er das nicht. Alles was er fühlte, waren grobe Hände und übereifrige Lippen, die ihn an Rico erinnerten. Still wartete er ab, bis Erik ihm eine kurze Pause gewährte, einen Augenblick, seine Gedanken zu sammeln.

Stattdessen wurde Erik immer zudringlicher. Seine Finger fanden Jonas‘ Jeansknopf, nestelten ungeduldig daran, während seine Zunge nass und schleimig über Jonas‘ Hals leckte. Merkte er nicht, dass seine Berührungen unerwidert blieben?

„Erik“, flüsterte Jonas hilflos, aber falls dieser ihn gehört hatte, ließ er sich nicht stören. Resigniert schloss Jonas die Augen. Erst Rico, jetzt Erik. War er für sie nicht mehr als ein Stück Fleisch, das ihrer Befriedigung diente? Ja, er hatte Scheiße gebaut, aber durfte man deshalb einfach auf seinen Gefühlen rumtrampeln, seine Wünsche und Bedürfnisse ignorieren? Zorn wallte in ihm auf. „Erik, HÖR AUF!“ Die Hände verschwanden, aber Jonas‘ Wut blieb. „Denkst du eigentlich nur ans Ficken?“

Nach einem tiefen Atemzug schlug er die Augen auf.

Erik stand einen guten Meter von ihm entfernt, mit einem Ausdruck im Gesicht, der nahe an Entsetzen reichte und Jonas fürchten ließ, ihn nicht nur mit Worten von sich gestoßen zu haben. Das hätte allerdings vorausgesetzt, dass er sich überhaupt bewegen konnte. Mühsam lockerte er seine schmerzhaft zu Fäusten verkrampften Finger.

Eine lange Sekunde sagte keiner von ihnen ein Wort. Jonas tastete nach der Türklinke.

„Tut mir leid.“ Erik rieb sich über die Augen, versteckte das Gesicht hinter seinen Händen. „Tut mir leid.“

Das Letzte, das Jonas hören wollte, war eine Entschuldigung. Wenigstens einmal wollte er der moralisch Überlegene sein. Nicht der, der Gefühle entwickelte, aus Angst, enttäuscht zu werden beinahe fremdvögelte und dann in die Hand Biss, nach deren Berührung er sich eigentlich so sehnte. Jonas war wütend. Wütend auf Erik und dessen gepiercten Typen. Wütend auf Rico. Aber vor allem war Jonas wütend auf sich selbst. Also versuchte er, die Verantwortung für sein Handeln auf jemand anderen abzuwälzen. Was jedoch schwierig war, wenn derjenige ihn ansah wie ein geprügelter Welpe.

„Könntest du endlich mal damit aufhören, immer so scheißverständnisvoll zu sein?“, fauchte Jonas. „Das is‘ einfach nur zum kotzen!“

„Du hast recht“, erwiderte Erik. Innerhalb von Sekundenbruchteilen war sein Ton merklich abgekühlt „Ich muss kein Verständnis für deine Launen aufbringen. Oder dafür, dass du mich offensichtlich zu ihrem Blitzableiter auserkoren hast. So viel Respekt sollte ich vor mir selbst haben.“ Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: „Ich denke, es ist besser, wenn du jetzt gehst.“

Verletzt und noch immer zornig wandte sich Jonas mit einem knappen Nicken zur Tür.

„Ach so, da wir ohnehin gerade beim Thema Respekt sind …“

Jonas hielt in seiner Bewegung inne, unschlüssig, ob er zuhören oder einfach gehen sollte.

Erik nahm ihm die Entscheidung ab, indem er fortfuhr. „Du bist mir natürlich zu nichts verpflichtet und darfst vögeln wen auch immer du willst. Aber ist es wirklich zu viel verlangt, das nicht direkt vor meiner Nase zu tun?“

Die Türklinge und Jonas‘ darauf liegende Hand verschwammen vor seinen Augen. „Du hast uns gesehen?“

„Ich wollte dich in meiner Pause fragen, ob du Lust auf einen Mitternachtssnack hättest. Du warst allerdings schon anderweitig beschäftigt.“

Eilig verrieb Jonas die Tränen, die unvermittelt über seine Wangen rannen. „Du hast echt das beschissenste Timing der Welt.“

„Tatsächlich denke ich, dass mein Timing in diesem Fall ausgesprochen günstig war.“

„Fuck. Fuck, fuck, fuck. Fuck!“

„Kein Grund, dich so fertig zu machen.“ Eriks Stimme schnitt durch die Luft. „Wir waren uns einig, dass das zwischen uns nur eine lockere Sache ist. Es wäre mir zwar lieber, wenn du dir nicht das Tix als Jagdgrund suchen würdest, aber wenn du das unbedingt nötig hast, dann bitte. Ich halte dich nicht auf.“

„Erik …“ Endlich konnte sich Jonas von der Tür lösen. In einem kläglichen Versuch die Spuren seiner Tränen zu verbergen, wischte er mit dem Jackenärmel über Augen und Wangen, bevor er sich umdrehte. „Es tut mir leid.“ Erik setzte zu einer Erwiderung an, aber Jonas unterbrach ihn. „Warte! Lass … Lass mich kurz …“ Er holte Luft und hoffte, so wieder Kontrolle über seine Stimme zu erlangen. Alles in ihm sträubte sich, zu sagen, was er zu sagen hatte, aber wenn die Alternative lautete, weiter Eriks kaltem Blick ausgesetzt zu sein, diesem harten Zug um seinen Mund, der keinen Hauch eines Lächelns zuzulassen schien, dann blieb ihm nichts übrig als reinen Tisch zu machen. Seine Finger verkrampften sich zu einer Faust, fest genug, damit seine Nägel tiefe Halbmonde in seiner Haut hinterließen. „Seit … Ich weiß nich‘ wie lang … Wochen, Monate … Seit ner scheißlangen Zeit jedenfalls, analysiere ich jetzt schon jedes Wort und jede Geste von dir, in der Hoffnung, etwas darin zu entdecken. Und inzwischen hab ich keine Ahnung mehr, woran ich bin. Mal bist du superlieb und aufmerksam und mal … seh‘ ich dich mit irgendwelchen Typen und … Ich war unsicher und hatte Angst vor Ablehnung und dann hast du dich gestern nicht blicken lassen, dafür war aber Rico da, der mir … Keine Ahnung, der einfach klargemacht hat, dass er mich will und …“ Jonas zwang sich, sein Gestammel an diesem Punkt zu beenden. „Ich hab mich in dich verliebt. So richtig heftig. Und hab die beschissenste Art gewählt, um damit umzugehen." Hoffnungsvoll blickte Jonas von seinen Füßen zu Erik, suchte in dessen Gesicht nach Hinweisen, aber da war nur diese neutrale Maske.

„Ich weiß nicht, was ich dir dazu sagen soll.“

Jonas hatte damit gerechnet, abgewiesen zu werden, aber es war Eriks Emotionslosigkeit, die es besonders schmerzhaft machte. „Dann is‘ das wohl meine Antwort.“

Ohne eine Reaktion abzuwarten, drehte er sich um und flüchtete aus Eriks Wohnung. Mit jedem Schritt wurde er schneller, übersprang halbe Treppen, bis er endlich aus dem Haus und in der Kälte war. Er rannte weiter, stürzte die Straße hinunter und erreichte gerade noch rechtzeitig den an der Haltestelle wartenden Bus, bevor die Türen sich hinter ihm schlossen. Normalerweise genoss er es, das Stück bis zur Bahn zu Fuß zu laufen, aber heute wollte er einfach nur nach Hause, das Gesicht in seine Kissen drücken und hemmungslos heulen.

 

Kapitel 17

Was zuletzt geschah:

Die Katze ist aus dem Sack. Nach langem Hin und Her, einer unrühmlichen Begegnung mit einem anderen Mann und der Erkenntnis, dass diese nicht ganz unbemerkt geblieben ist, entschließt sich Jonas, Erik endlich reinen Wein einzuschenken und ihm seine Gefühle zu gestehen.

Unglücklicherweise reagiert Erik nicht wie erhofft und Jonas tritt geknickt den Rückzug an.

 

Kapitel 17

Die Sitzbank war hart und kalt und Jonas froh, die Lichter der einfahrenden Bahn zu entdecken. In einem Versuch, die Welt aus seinem Kopf zu verbannen, suchte er sich einen Platz am Ende des Abteils, stopfte die Stöpsel seiner Kopfhörer in seine Ohren und durchwühlte sein Handy nach einem adäquat aggressiven Song.

Die ihm nächste Zugtür quietschte erbost, als sich im letzten Augenblick noch jemand in den Waggon quetschte und beinahe hätte Jonas es ihr gleichgetan, denn dieser jemand ließ sich ausgerechnet auf den Platz ihm gegenüber fallen. Er bemühte sich, den Neuankömmling zu ignorieren, kam jedoch nicht umhin, einen flüchtigen Blick auf die verschwommene Reflektion im Fenster zu werfen. Perplex zog er sich die Kopfhörerstöpsel aus den Ohren. „Erik?“

Verschwitzt und keuchend saß Erik vornübergebeugt auf seinem Platz. „Ich … musste …“ Nach jedem Wort sog er pfeifend Luft ein.

„Scheiße, komm erst mal wieder zu Atem!“ Das würde hoffentlich auch ihm selbst Zeit geben, seine Gedanken zu sortieren. „Bist du den ganzen Weg hierher gerannt?“

Stumm nickte Erik.

„Du spinnst ja!“

Die Strecke war nicht besonders weit, aber um dieselbe Bahn wie Jonas zu erwischen, musste Erik sie in Rekordzeit zurückgelegt haben. Abgehackt und viel zu leise nuschelte dieser eine Antwort.

„Was?“

„Sagte … sollte … wieder … öfter Joggen … gehen.“

„Oder einfach keinem Typen nachrennen, den du fünf Minuten vorher aus der Wohnung geschmissen hast.“ Jonas‘ Kommentar hatte wesentlich weniger humorvoll geklungen als geplant, aber er war das Beste, wozu er im Moment fähig war. Zweifelnd musterte er Erik. „Wieso bist du mir nachgerannt?“

Obwohl sich Eriks Atmung allmählich beruhigte, blieb er still; öffnete lediglich ein paar Mal den Mund, nur um ihn gleich darauf wieder zu schließen. Dafür hallte plötzlich seine Antwort auf Jonas‘ Liebesgeständnis in dessen Kopf. ‚Ich weiß nicht, was ich dir dazu sagen soll.‘ Bisher war Jonas nicht auf die Idee gekommen, den Satz einfach wörtlich zu nehmen und vielleicht war das ein Fehler gewesen.

War es möglich, dass Erik mit der ganzen Situation einfach ebenso überfordert war wie er selbst? Und versuchte er gerade, eine Tür, die Jonas für endgültig geschlossen gehalten hatte, wieder einen Spalt weit zu öffnen?

An der nächsten Haltestelle sprang Jonas auf. Das war kein Gespräch, das er in einer Bahn führen wollte, in der links und rechts neugierige Ohren auf ein wenig Drama warteten. „Lass uns ‘n Stück zu Fuß gehen.“ Er griff nach Eriks Mantelärmel und zog ihn mit sich auf den Bahnsteig.

Feiner Nieselregen verwandelte Straßenlaternen in flitternde Lichter und Pflastersteine in gefrorene Seen. „So ‘ne Scheiße …“ Fröstelnd zog Jonas seine Lederjacke enger um den Körper. Im Grunde war sie ungeeignet für diese Temperaturen, aber er konnte sich nicht überwinden, eine andere anzuziehen. Ziellos lief er die nächstbeste Straße entlang.

Eriks Schritte neben ihm verlangsamten sich, bis er ganz stehen blieb. „Ich mache es jetzt einfach kurz, dann können wir beide wieder nach Hause.“ Er seufzte. „Ich bin dir nach, weil es mir unfair erschien, dich in dem Glauben zu lassen, du seist der einzige von uns beiden, der Gefühle entwickelt hat.“

„Oh.“ Jonas brauchte einen Augenblick, um Eriks Worte sacken zu lassen. „Das … Das is‘ doch was Gutes, oder nich‘?“

„Ist es?“, fragte Erik. „Im Moment fühlt es sich nämlich nicht gut an.“ Er zögerte, rang nach Worten. „Ich denke, es ist besser, wenn wir die Sache zwischen uns an dieser Stelle beenden.“

Jonas‘ kurzfristig aufgeflammter Enthusiasmus verpuffte. „Sorry … Schon klar, dass du nach gestern keinen Bock mehr auf mich hast.“

„Es geht nicht um gestern!“ Erik grub seine Hände tiefer in die Taschen seines Wollmantels. Jonas konnte sich nicht erinnern, ihn jemals so gereizt erlebt zu haben.

„Worum geht‘s dann?“

„Es geht darum, dass wir nicht zusammenpassen. Das sollten wir einsehen, bevor es noch …“, wieder ein kurzes Zögern, „… schmerzhafter wird."

Um die Kälte ein wenig in Schach zu halten und weil er nicht wusste, was er sonst tun sollte, trat Jonas von einem Fuß auf den anderen. „Wie soll ich das verstehen? Was passt denn nich‘?“

„Wir stehen einfach an sehr unterschiedlichen Punkten in unserem Leben …“

„Oh, komm schon!“ Jonas hätte schreien können vor Frustration. „Sagst du mir als nächstes vielleicht, ich sei nich‘ dein Typ? Dass es wirklich gar kein bisschen an mir, sondern nur an dir liegt? Du dich grad echt auf deinen Job konzentrieren musst? Vielleicht noch ‘n paar Floskeln mehr? Scheiße, du könntest wenigstens mit der Wahrheit rausrücken!“ Erschrocken über den schrillen Ton in seiner Stimme und die Tränen in seinen Augenwinkeln verstummte Jonas. Rasch wandte er sich ab, lief ein paar Meter die Straße hinunter. Er war sich nicht sicher, ob er die Schritte, die ihm nach wenigen Sekunden folgten, tröstlich oder lästig fand. „Sorry“, presste er hervor. „Ich bin wohl echt ‘ne Dramaqueen. Aber … können wir bitte endlich über diese ganze Scheiße quatschen? In Ruhe und ohne, dass einer von uns voreilig abdampft?“ Jonas wagte es nicht, Erik anzusehen und jede verstreichende Sekunde nahm ihm ein Stück seiner Hoffnung, bis er zusammenzuckte, als er endlich eine Antwort erhielt.

„Das Café da vorne scheint noch geöffnet zu haben. Wärmen wir uns doch ein paar Minuten auf.“

Die Sanftmut in Eriks Stimme nahm einen Stein von Jonas‘ Herzen und fügte einen anderen hinzu. Ergeben schlich er in Richtung des kleinen Ladens.

Dunkle Möbel und spärliche Beleuchtung verbreiteten eine heimelige Atmosphäre, die ausgezeichnet zu der heißen Schokolade in Jonas‘ Händen passte. Sein Blick schweifte über die leeren Tische und blieb kurz an der Barista hängen, die aussah als dürfte sie ihrem Job in frühestens drei Jahren nachgehen. Sie wirkte ausgesprochen bemüht, den beiden einzigen Gästen keine Beachtung zu schenken. Als Jonas nichts mehr fand, mit dem er sich ablenken konnte, wandte er seine Aufmerksamkeit Erik zu.

„Fangen wir noch mal von vorne an?“, bot dieser an.

„Das is‘ wahrscheinlich nich‘ schlechteste Idee.“ Jonas rang sich ein Lächeln ab. „Wie ist dein Tee?“

„Grün.“

„Witzig.“ Konzentriert musterte Jonas die Maserung des Holztisches. „Ich sollte mich wohl bei dir entschuldigen. Für eben. Für gestern. Für alles.“

„Lass uns den Teil mit den Entschuldigungen für später aufheben. Als ich vorgeschlagen habe, noch mal von vorne anzufangen, meinte ich das auch so. Vergessen wir mal kurz, was passiert ist, seit ich dir die Tür aufgemacht habe, ja?“

„Okay.“ Jonas lächelte schief. „Hi, Erik. Ganz ungewohnt, mal wieder einen Sonntag mit dir allein zu verbringen. Hatte fast vergessen, wie deine Wohnung aussieht.“

Immerhin entlockte er Erik damit ein Lächeln. „Schön dich zu sehen. Wie war deine Woche?“

„Beschissen.“ Jonas entschied, ihr Spiel noch ein wenig weiterzutreiben. „Dachte, der Typ auf den ich steh könnt vielleicht ähnlich fühlen, aber seit letztem Samstag bin ich mir nich‘ mehr sicher. Und hab dann selbst richtig Mist gebaut.“

„Warum bist du dir nicht mehr sicher?“, hakte Erik nach.

Jonas trank einen Schluck Kakao, unschlüssig, wie er diese Frage beantworten sollte. „Wir waren weg und … Ach, scheiß drauf! Ich hab mich sowas von gefreut, als du mich ins Theater eingeladen und Marco und Drago vorgestellt hast, weil ich dachte … Ich dachte, das heißt, ich bin ‘n bissl mehr als ‘ne einfache Fickbekanntschaft. Aber dann warst du so … kühl.“

„Ich war kühl?“ Erik war sichtlich darum bemüht, den Vorwurf aus seiner Stimme herauszuhalten. Es wollte ihm nicht ganz gelingen.

„Du … du hast mich einfach nur behandelt wie einen x-beliebigen Freund“, versuchte Jonas zu erklären. „Keine Umarmung zu Begrüßung oder zum Abschied. Und im Theater … Ich hatte extra meine Hand auf die Lehne gelegt. Ganz nah an deiner. Aber du hast sie komplett ignoriert. Das … hat mich ganz schön verunsichert.“

Verdutzt blinzelte Erik. „Ich habe nichts davon getan, weil du mir gesagt hast, dass du so etwas in der Öffentlichkeit nicht willst.“

„Oh.“ Jonas erinnerte sich an ihr Gespräch. „Das … ach, fuck!“ Er barg das Gesicht in den Händen. „Du hast recht, das hatte ich wirklich gesagt.“

„Also hättest du dir gewünscht, dass ich deine Hand halte?“

„Vielleicht hätte ich mich unwohl gefühlt, wenn’s soweit gewesen wäre, aber … Ja, darauf gehofft hatte ich schon irgendwie“, gab Jonas zu. „Ich meine, ich hatte letzte Woche trotzdem echt Spaß mit euch … mit dir. Aber als wir dann im Duo waren und da dieser Typ kam und ich dich mit dem anderen gesehen habe …“

„Stopp, stopp, stopp“, unterbrach Erik ihn. „Welcher Typ? Welcher andere?“

„Naja … Da war so ein Kerl, der mich beim Tanzen darauf aufmerksam gemacht hast, dass … Ähm, dass du dich grad mit ‘nem andren unterhältst und meinte …“ Diese ganze Sache mit der Ehrlichkeit war noch viel schwieriger als Jonas erwartet hatte. Er wollte reinen Tisch machen, aber es wäre ihm lieber gewesen, sich dabei nicht so dumm vorzukommen. „Der Typ meinte, ich solle mich besser dran gewöhnen, dich nich‘ lang für mich zu haben.“

„Aha. Und das hat gereicht, dich zu überzeugen? Wir kennen uns seit Monaten und ein einziger Satz eines Typen, den du davor noch nie gesehen hast, stellt deine Meinung über mich völlig auf den Kopf?“

„Nein! Nein, das war … Das … Du …“ Unter dem Tisch ballte Jonas die Hände zu Fäusten. Warum war immer er an allem schuld? „Du hast dich nun mal mit ‘nem anderen unterhalten! Und wer weiß, was noch alles!“

„Ich habe nichts getan, das–“

„Der blonde Typ?“, unterbrach Jonas ihn. „Mit dem du dich in den hinteren Teil vom Duo verzogen hast, nachdem ich es gewagt hatte, mal fünf Minuten ohne dich auf die Tanzfläche zu verschwinden?“

„Ich habe ehrlich nicht die geringste Ahnung, wovon du–ah! Ah.“ Erik legte den Kopf in den Nacken und strich eine lose Strähne hinter sein Ohr. „Jetzt kommt allmählich Licht ins Dunkel. Du hast vermutlich mich und Tyler gesehen.“

„Kann schon sein.“ Woher sollte Jonas das wissen?

„Ein Stück kleiner als ich, blond und ungefähr zwanzig Piercings allein oberhalb des Schlüsselbeins?“

Jonas nickte. Das war eine ziemlich treffende Beschreibung, auch, wenn sie andeutete, dass Erik wusste, wie viele Piercings sich unterhalb des Schlüsselbeins befanden.

„Tyler ist ein … Freund.“ Jonas war das kurze Zögern nicht entgangen, aber er hatte nicht die Kraft, nachzuhaken. Auch Erik schien nicht in der Stimmung zu sein, weitere Erklärungen zu liefern. „Und der, der dich angesprochen hat, war eher schmal gebaut, mit braunen Haaren, Bart und einer kleinen Lücke zwischen den Schneidezähnen?“

„Kommt hin.“

„Dann hast du den Grund kennengelernt, warum ich das Duo in den letzten Monaten gemieden habe. Er ist ein wenig anhänglich geworden, nachdem wir …“ Erik ließ den Satz unvollendet. „Eigentlich war klar, dass das eine einmalige Sache sein sollte. Jedenfalls dachte ich, es wäre klar gewesen.“ Beinahe schwappte sein Tee über den gläsernen Rand der Tasse, als er sie gereizt schwenkte. „Tut mir leid, dass du da mit reingezogen wurdest.“

„Schon gut“, murmelte Jonas, ohne recht zu wissen, was er von der Sache halten sollte. „Ich war nur eh schon so verunsichert, ob da mehr zwischen uns is‘, oder ich mir das alles einbilde und dich dann mit dem anderen zu sehen … So … so verflucht zärtlich … Keine Ahnung, ich hatte wohl einfach gehofft, dass du nur mit mir so umgehst.“

„Zärtlich?“, wiederholte Erik. „Was war an unserem Gespräch denn bitte ‚zärtlich‘?“

Hilflos drehte Jonas die Handflächen nach oben und suchte nach passenden Worten. „Irgendwie alles. Zum Beispiel die Art, wie du mit seinen Haaren gespielt hast. Und dann hast du dich vorgebeugt und ich dachte … Es sah aus als ob du ihn … Ihr saht einfach scheißvertraut aus.“

Erik wirkte ehrlich verwirrt. „Ich kann mich nicht erinnern …“ Er schloss die Augen. „Ah, doch. Ich glaube, jetzt weiß ich, was du meinst. Ich habe mir Tylers neues Piercing angesehen. Ein, ah, Snug oder so? Irgendwas im Ohr. Jedenfalls waren seine Haare im Weg, also habe ich sie zur Seite geschoben. Was … möglicherweise aus der Ferne einen falschen Eindruck gemacht haben könnte.“ Seufzend lehnte er sich nach vorne. „Und weil ich weiß, dass du dir diese Frage stellst, selbst wenn du sie jetzt nicht laut aussprichst … Ja, wir hatten gelegentlich Sex. Allerdings bestimmt nicht an diesem Abend – oder überhaupt in den letzten Wochen.“

„Oh. Okay.“ Jonas hatte keine Ahnung, was er mit dieser Antwort anfangen sollte. Da war nur dieses diffuse Gefühl, dass sie nicht ausreichte. „Habt ihr jemals … Ich meine … Wart ihr mal zusammen?“

„Nein.“ Kein Zögern, kein Hinweis auf eine Lüge. „Es gab eine Zeit, kurz nachdem wir uns kennengelernt hatten, in der wir wohl beide ausgelotet haben, ob es mehr werden könnte. Es wurde nie mehr und ich kann dir versichern, dass von meiner Seite aus keinerlei romantische Gefühle involviert sind oder waren.“ Eriks Züge wurden weicher. „Aber ich kann verstehen, wenn das falsch rüberkam.“

„Nee, das …“ Jonas versuchte sich an einem Lächeln, aber es wollte ihm nicht so recht gelingen. „Ich hätte ja auch einfach mal nachfragen können.“

„Wäre eine Option gewesen.“

Das erzwungene Lächeln verwandelte sich in ein bitteres Lachen. „Das hätte den ganzen Scheiß hier vermutlich wesentlich einfacher gemacht. Wahrscheinlich würden wir’s grad selig miteinander treiben, wenn ich einfach gleich den Mund aufgemacht hätte.“

Erik erwiderte sein Lächeln nicht. „So gut ich es finde, dass wir dieses Missverständnis aus dem Weg räumen konnten, es ändert nichts an der Tatsache, dass ich keine Zukunft für uns sehe.“

Jonas biss die Zähne zusammen, eisern entschlossen, seine Enttäuschung durch Worte statt Lautstärke zu artikulieren. „Verrätst du mir wenigstens, warum? Du sagst, du hast Gefühle für mich, aber du findest es nich‘ gut, danach zu handeln. Laut dir hat das aber nix mit gestern zu tun. Trotzdem hast du bis dahin fröhlich jeden Tag mit mir geschrieben. Ich mein … Wär‘ es nich‘ sinnvoller gewesen, auf Abstand zu gehen, wenn du merkst, dass sich was zwischen uns entwickelt und du das eigentlich nich‘ willst? Statt mir Hoffnungen zu machen? Mir auch noch nachzulaufen, wenn ich gerade versuche zu akzeptieren, dass es vorbei ist? Und was sollte das in deiner Wohnung? Keinen Bock auf ‘ne Beziehung mit mir, aber zum Ficken bin ich dann doch grad noch gut genug?“

„Was? Nein! Jonas, ich …“ Schuldbewusst zerrupfte Erik das Papierschildchen an seinem Teebeutel, trank einen Schluck, drehte die Tasse zwischen den Händen, trank erneut, spielte mit den Überresten des Beutels. „Dich mit einem anderen Mann zu sehen, tat ganz schön weh.“

„Ja, ich weiß, dass ich das versaut hab!“, rief Jonas ungeduldig. „Aber das gibt dir nicht das Recht …“ Erik hob die Hand und er verstummte.

„Das war keine Kritik an dir. Wir haben nie über Exklusivität gesprochen. Noch nicht einmal über die Möglichkeit. Es ist nur …“ Er seufzte. „Du bist nicht der Einzige, der sich Hoffnungen gemacht hat, dass das zwischen uns mehr werden könnte. Im Nachhinein verstehe ich jetzt, wie es zu der Situation gestern gekommen ist, aber bis vorhin musste ich davon ausgehen, dass du unser Verhältnis anders siehst als ich. Das wäre der Moment gewesen, in dem ich einen klaren Schnitt hätte machen sollen, stattdessen habe ich mit Trotz reagiert und mir eingeredet, dass ich das zwischen uns genauso emotionslos betrachten kann wie du.“

„Deshalb der Überfall an der Tür …“

„Es tut mir wahnsinnig leid“, sagte Erik geknickt. „Ich habe meine schlechte Laune und meine Unsicherheit an dir ausgelassen und das auf eine Art, die … mehr als ekelhaft ist.“

Jonas zuckte mit den Schultern. „Das macht dann zwei aus uns. Aber das heißt doch, dass es sehr wohl mit gestern zusammenhängt! Wenn R–“, er stoppte, wollte diesen Namen nicht laut aussprechen, „der andere nich‘ gewesen wäre …“

„Vielleicht hast du recht“, räumte Erik ein. „Es hat mit gestern zu tun. Aber nur indirekt. Wie gesagt, dich mit einem anderen zu sehen war schmerzhaft, aber dann zu hören, dass meine Gefühle nicht einseitig sind …“ Er zeigte den Hauch eines Lächelns. „Ich hätte mir etwas weniger Drama gewünscht, aber einen Moment lang war ich wirklich glücklich. Bis mir bewusst geworden ist, dass, wenn es mich jetzt schon so mitnimmt, obwohl wir eigentlich kaum Zeit miteinander verbracht haben, ich nicht wissen will, wie es sein wird, wenn wir das hier weiterlaufen lassen und es aus irgendeinem Grund nicht funktioniert. Und, dass es eine Menge Gründe gibt, weshalb es nicht funktionieren wird.“

„Weil ich offensichtlich dazu neige, mit anderen zu vögeln, wenn’s zwischen uns grad nich‘ so läuft wie ich mir das vorstelle.“

„Da gibt es noch ganz andere Punkte.“

„Du scheinst dir echt schon ‘ne Menge Gedanken gemacht zu haben, was mit mir so alles schiefläuft“, stellte Jonas bitter fest. „Verrätst du mir wenigstens, wo meine Fehler sind?“

Deine Fehler?“, wiederholte Erik perplex. „Jonas! Es geht hier nicht um deine Fehler! Wenn ich dich nicht so verflucht mögen würde, würden wir dieses Gespräch doch gar nicht führen! Es geht um …“ Frustriert schüttelte er den Kopf und zog den rechten Ärmel seines Oberteils ein Stück nach oben, gerade weit genug, um die Ansätze seiner Narben zu enthüllen. „Früher habe ich versucht, die hier zu verstecken, aber inzwischen gehe ich recht offen damit um. Die Arbeit war eigentlich die einzige Ausnahme und selbst meine Chefin weiß davon. Bis ich dann entschieden habe, dir jemanden vorzuspielen, der besser ist als die Realität. Du hast keine Ahnung, wer ich bin. Wie … kompliziert ich sein kann.“

„Scheiße, erzählst du mir gleich noch, dass du zu gefährlich für mich bist? Und ich ohne dich viel glücklicher sein werde?“

„Zugegeben, das war jetzt ein wenig melodramatisch“, räumte Erik ein. Seine Mundwinkel zuckten. „Ich fürchte einfach, dass du nur eine idealisierte Form von mir kennst. Die Realität ist …“

„Genau das, was ich kennenlernen will“, entgegnete Jonas. „Klar hab ich dich am Anfang idealisiert. Weiß ich. War ja irgendwie auch ganz geil, solang wir uns nur zum Vögeln getroffen haben. Aber angefangen, dich wirklich zu mögen, hab ich erst, als diese Fassade Risse bekommen hat.“ Er schnaubte. „Außerdem hätte ich echt überhaupt keinen Bock drauf, mich ständig unterlegen zu fühlen. Schlimm genug, dass du älter, reifer, erfahrener und den ganzen Scheiß bist. Da musst du nich‘ auch noch Superman sein.“

Endlich zeigte Erik den Hauch eines Lächelns.

„Und was deine Schwächen angeht, musst du mich schon selbst entscheiden lassen, ob ich damit umgehen kann. Ich mein, guck mal, ich bitte dich ja nich‘, mich vom Fleck weg zu heiraten, oder auch nur gleich auf glückliche Beziehung zu machen. Alles was ich will, is‘ ‘ne Chance. Treffen wir uns weiter. Lernen wir uns richtig kennen. Wenn’s klappt, isses super und wenn nich‘ … Dann tut das vielleicht weh, aber wir wissen wenigstens, woran wir sin‘.“ Jonas streckte seine Hand nach Eriks aus, allerdings nicht, ohne zuvor einen verstohlenen Blick durch den Raum zu werfen, um sicher zu gehen, dass sie nicht beobachtet wurden. Als er sich wieder umdrehte, hatte Erik seine Hand zurückgezogen und starrte in seine Teetasse.

 

Frustriert und erschöpft kam Jonas nach Hause, pfefferte Jacke und Schuhe in ein Eck und warf sich mitsamt seinen übrigen Klamotten aufs Bett. Hätte das Wochenende noch ein klein wenig beschissener laufen können? Anstatt ihn mit einem klaren ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ nach Hause zu schicken, hing nun Eriks ‚Vielleicht‘ im Raum. Vielleicht würden sie sich noch einmal wiedersehen. Vielleicht war es das jetzt aber auch einfach. Vielleicht waren sie beide absolute Idioten. Nein, letzteres war definitiv der Fall.

Gedanken rotierten in Jonas‘ Kopf. Ständig tauchte die Frage auf, ob er es hätte besser machen können. Ob es seine eigene Feigheit gewesen war, die zu diesem Desaster geführt hatte. Irgendwann war er es leid, darüber nachzudenken. Er wollte einfach nur schlafen. Zum Glück schien der Tag sämtliche Kraftreserven seines Körpers aufgebraucht zu haben und Jonas sank rasch in eine Bewusstseinsebene, die ihn von seinen Zweifeln befreite.

Bässe hämmerten in Jonas‘ Magen, schrille Töne stachen in seine Trommelfelle. Gute dreißig Minuten wälzte er sich im Bett, aber der Versuch, den Lärm aus der Nachbarwohnung zu ignorieren und wieder einzuschlafen scheiterte kläglich. Müde und noch schlechter gelaunt als zuvor, stand er auf und schlurfte zur gegenüberliegenden Wohnungstür. Den Finger auf der Klingel, wartete er, bis jemand dem konstanten Schrillen nachgab.

Jonas war beinahe erleichtert, als die junge Frau, die dafür gesorgt hatte, dass er doch noch an sein Päckchen gekommen war öffnete. Ihre Augen waren glasig und die Luft um sie herum alkoholgeschwängert. „Was willst du?“

„Ähm, hi.“ Jonas kopierte ihr halbseitiges Lächeln. „Ich will ja echt kein Spielverderber sein, aber ich hab ‘nen beschissenen Tag hinter und ‘nen echt langen vor mir. Könntet ihr also die Musik ‘n bissl leiser drehen?“

Das Lächeln der Frau blieb unverändert. „Klar, Kleiner. Was immer du willst.“

Bumm. Da war die Tür auch schon wieder zu.

Einen wundervollen Augenblick lang glaubte Jonas, seine Bitte hätte geholfen. Bis er erneut im Bett lag und die Musik noch ätzender und noch dröhnender wurde. Damit war sein letztes Bisschen Geduld aufgebraucht und er tat etwas, das er nie von sich selbst erwartet hätte. „Hallo, Polizei? Ich möchte eine Ruhestörung melden.“

Es dauerte eine Weile, doch irgendwann hörte er Schritte, Stimmen und danach kehrte endlich Ruhe ein.

 

Kapitel 18

Was zuletzt geschah:

Jonas muss sich damit abzufinden, dass das Leben selten in geraden Bahnen verläuft. Da hat er es nach langen Wochen und viel zu viel Drama endlich geschafft, Erik seine Gefühle zu gestehen, nur, um aus der Wohnung zu fliegen. Keine halbe Stunde später erfährt er, dass diese Gefühle nicht unerwidert geblieben sind, doch Erik keine Zukunft für sie sieht. Tee und Kakao können die Situation ein wenig entspannen, führen aber auch nicht zu der Antwort, die sich Jonas gewünscht hätte. Seither wartet er auf eine Entscheidung.

 

Kapitel 18

Verzweifelt kippte Jonas Wasser auf die ausgetrocknete Erde. „Komm schon, Daisy! Du kannst mich hier doch nich‘ allein lassen!“ Zur Antwort ließ das Gänseblümchen ein weiteres Blättchen zu Boden gleiten. „Ach fuck! Kyle! Sag doch auch mal was zu ihr!“

Der Kaktus blieb stumm.

„Du bist keine Hilfe!“

Frustriert warf Jonas zunächst die Gießkanne in die Spüle und anschließend sich selbst auf sein Bett. Mit einer Hand tastete er nach seinem Handy und tippte eine Nachricht an Larissa.

 

Du, 14:42 Uhr

bitte sag mir, dass du zeit hast für … wasauchimmer.

 

Du, 14:42 Uhr

daisy und kyle sind langweilig.

 

Larissa, 14:45 Uhr

Wer sind Daisy und Kyle? Haben unsere Turteltauben neue Spitznamen, von denen ich nichts weiß?

 

Du, 14:45 Uhr

zimmerpflanzen. ja, ich hab mir zimmerpflanzen gekauft.

 

Du, 14:45 Uhr

und führe gespräche mit ihnen

 

Du, 14:45 Uhr

so verzweifelt bin ich

 

Larissa, 14:47 Uhr

Haha, scheiße, um dich muss es ja echt schlimm stehen! Aber dieses Wochenende kann ich dir da nicht helfen. Ich bin bei meiner Family und komme erst morgen Abend zurück.

 

Du, 14:48 Uhr

fuck, dein ernst? was soll ich denn dann machen?

 

Larissa, 14:53 Uhr

Dir mehr Freunde suchen?

 

Du, 14:53 Uhr

ich hab freunde!

 

Nur nicht in Berlin. Abgesehen von Larissa, waren Jonas‘ Kontakte oberflächlich geblieben, beinahe als wäre da eine dünne Membran zwischen ihm und den anderen, die dumme Witze und seichte Gespräche passieren ließ, aber alles Tiefergehende zurückhielt.

Nach einer sehr unproduktiven halben Stunde, die Jonas hauptsächlich damit verbrachte, in sein Kissen zu atmen und ich selbst zu bemitleiden, rappelte er sich auf, schlüpfte in seine Jacke und griff nach seiner Kamera. Bewegungslos rumzuliegen brachte ihn auch nicht weiter. Vielleicht würde ihm ein Spaziergang guttun und wenn er dabei ein paar brauchbare Motive aufspürte, war das umso besser.

Jonas‘ erstes Foto zeigte seine eigene Namensplakette, über die irgendjemand – und er ahnte, um wen es sich da handeln könnte – einen zuckerwattefarbenen Kaugummi geklebt hatte.

Die verbesserungswürdige Temperatur und der beißende Wind, der ihm um die Ohren pfiff, sobald er die Haustür geöffnet hatte, reduzierte seinen Plan, den Nachmittag mit der Erkundung Berlins zu verbringen recht schnell darauf, lediglich die nächste Stunde auf diese Art totzuschlagen. Neugierig nahm er seine Umgebung in Augenschein.

Es waren dieselben Straßen, die er seit einem halben Jahr regelmäßig auf und ab lief. Grau, verdreckt, mit weniger Grün als in einer mittelmäßigen Dystopie. Doch heute konzentrierte er sich auf die Details. Risse zogen sich wie Spinnennetze über den Asphalt, lieblos fortgeworfene Flyer bewarben lange vergangene Events, von denen er noch nie gehört hatte.

An eine der Hauswände war ein kleiner Schriftzug geschmiert worden. Jonas hatte keine Ahnung, um welche Sprache es sich handelte und was die Botschaft sein sollte, aber der sorgfältige Schwung der Buchstaben und die filigrane Ausarbeitung ihrer Ausläufer faszinierten ihn. Diese Stadt atmete Geschichten und seine Kamera half ihm, ihre flüchtigen Fragmente festzuhalten.

Durchgefroren und nur wenige Schritte von seiner Wohnung entfernt, beobachtete Jonas eine Gruppe Krähen, die sich um die Überreste eines Döners fetzten, den sie kurz zuvor aus einem Mülleimer gezogen hatten. Die sanfte Vibration seines Handys kündigte einen Anruf an.

„Maria! Es is‘ doch noch gar nich‘ der zweite Mittwoch des Monats.“

„Ja, ja, du mich auch“, murrte sie, offensichtlich wenig belustigt von der sanften Kritik an ihrem ein wenig festgefahrenen Kommunikationsverhalten. „Ich komme gerade von meiner Lerngruppe …“ Das Geräusch, das sie von sich gab, schwankte irgendwo zwischen Stöhnen und Knurren. „Eigentlich will ich gar nicht darüber reden, sondern einfach nur ein bisschen Ablenkung vom Alltag.“

„Wir teilen uns echt ein Hirn. Ich hab mir heut genau dasselbe gedacht.“

„Blöder Tag?“, fragte Maria.

„Blöde Woche“, antwortete Jonas.

„Bei mir auch. Die Klausuren stehen praktisch unmittelbar vor der Tür und ich kann an nichts Anderes denken. Weißt du, wann ich das letzte Mal mehr als vier Stunden geschlafen habe? Ich nämlich nicht.“

Jonas biss sich auf die Unterlippe, unschlüssig, ob er die Frage, die unweigerlich in seinem Kopf auftauchte laut stellen sollte.

„Jonas? Noch da?“

„Jaah, ja. Bin noch dran. Maria … Bist du sicher, dass das Studium das Richtige für dich is‘?“

Dieses Mal war es Maria, die sich Zeit für ihre Antwort ließ. „Ganz ehrlich?“, fragte sie schließlich. „Nein, ich bin mir kein bisschen sicher. Aber welche Alternativen habe ich denn? Für meine Eltern zählt nur Jura, was mich wiederum nicht mal ansatzweise interessiert. Der Deal war, dass sie mich mit meinem Wunschfach unterstützen, solange ich in München studiere und Bestnoten schreibe. Wenn ich versage, liefere ich ihnen letztlich nur noch mehr Argumente, mir ihren Willen aufzuzwingen.“

„Versteh ich schon, aber dich so fertig zu machen, kann doch auch nicht die Lösung sein …“

„Und trotzdem ist es im Moment die einzige Möglichkeit“, würgte Maria ihn ab. „Ich wiederholte: Ich rufe nicht an, um über mein Studium zu jammern, sondern weil ich gehofft hatte, dass du mich auf andere Gedanken bringst. Erzähl mir was!“

Jonas überlegte einen Augenblick. „Jemand hat meine Klingel mit Kaugummi verklebt.“

Mission erfolgreich, Maria lachte. „Was hast du angestellt?“

„Ich?“, fragte Jonas entsetzt. „Nix!“

„Sicher? Dann ist Klingeln verkleben einfach so ein Berliner Ding?“

„Jaah, keine Ahnung. Wahrscheinlich waren’s meine reizenden Nachbarn. Ich mein, das is‘ jetzt nich‘ das erste Mal, dass wir aneinandergeraten …“

„Was ist noch passiert?“

Jonas verzog das Gesicht. Eigentlich hatte er Maria aufmuntern wollen, doch jetzt klang sie alarmiert. „Nich‘ viel. Die sin‘ halt laut und … Arschlöcher. Wär eigentlich alles nich‘ so schlimm, wenn mir nich‘ so viel anderer Scheiß durch den Kopf ginge.“

„Was denn noch? Bei dir ist doch alles in Ordnung, oder?“

„Klar.“

„Jonas Straginsky!“ Die Ähnlichkeit mit der Stimme seiner Mutter war unheimlich. „Hör sofort auf, mich aus deinem Leben auszuschließen!“

„Tu ich d–“

„Hältst du mich wirklich für so blöd?“, unterbrach Maria ihn unwirsch. „Du lebst in der verdammten Hauptstadt und ich soll dir glauben, dass in den letzten Monaten nicht mehr in deinem Leben passiert ist als ein paar Uniprojekte und irgendwelche Nachbarn, die dein Klingelschild mit Kaugummi verkleben? Kurz nach deinem Umzug hast mir nach einem einzigen Tag abgefahrenere Storys erzählt als in den letzten Wochen zusammen!“

„Okay! Okay.“ Jonas gab sich geschlagen. „Es sin’n paar andre Sachen passiert.“

„Ha!“, rief Maria triumphierend. „Und nein, ich erwarte nicht, dass du mir davon erzählst, wenn du nicht magst. Du sollst bloß aufhören, falsche Rücksicht auf mich zu nehmen. Wenn dir etwas auf dem Herzen liegt und du jemanden zum Reden brauchst, bin ich für dich da. Immer.“

„Is‘ angekommen“, beteuerte Jonas. Ohne wirklich hinzusehen, blätterte er durch seine frisch geschossenen Fotos. Trist. Farblos. Geisterhaft. „Eigentlich könnt‘ ich wirklich jemanden zum Reden brauchen, aber …“ Er blickte auf. Der Döner war verschwunden, die Krähen hüpften zwischen den Passanten umher, die sich trotz des miesen Wetters aus dem Haus getraut hatten. „Vielleicht nich‘ in aller Öffentlichkeit. Ich mach mich mal auf den Rückweg. Lass uns derweil über was Andres quatschen.“

„Kein Problem. Du kommst in den Semesterferien nach Hause, oder?“

„Japp. Aber ich hab noch keine Ahnung, wann genau und wie lang. Obwohl ich mir das so langsam mal überlegen sollte, bevor die Preise für die Zugtickets durch die Decke gehen. Wie sieht’s denn bei dir aus?“

„Wir schreiben unsere Klausuren übernächste Woche und danach hätte ich frei, sofern ich alles bestehe.“

„Klar bestehst du“, versicherte Jonas. „Du bist schließlich ‘n Genie!“

„Das baut zum Glück gar keinen Druck auf …“

„Sorry, so war das jetzt echt nich‘ gemeint.“

„Schon gut, weiß ich ja. Ich bin gerade einfach etwas dünnhäutig.“

„Versteh ich. Ähm, ich pack dich mal kurz in die Hosentasche, die Haustür klemmt ein bisschen und ich brauch beide Hände. Wart, bin gleich wieder da.“ Jonas drehte seinen Schlüssel, ruckelte ein wenig daran, zog die Tür näher zu sich, ruckelte noch mehr und hörte schließlich das erlösende Klicken. Rasch drückte er sich ins Innere und holte Maria wieder an sein Ohr. „So, jetzt.“

„Ist das jetzt privat genug, um mir pikante Details aus deinem Leben zu erzählen?“

„Zwei Stockwerke wirst du dich noch gedulden müssen. Ich schätz übrigens, dass ich Anfang März mal für eine oder zwei Wochen zu meinen Eltern fahr.“

„Nur so kurz?“ Maria klang enttäuscht.

„Verlängern kann ich immer noch, aber ich will‘s ja nich‘ übertreiben. Schon allein, weil die arme Vroni solang wieder zu Christine in den Speicher muss.“ In Wahrheit war das etwa die Zeitspanne, von der Jonas annahm, die heimelige Dorfatmosphäre genießen zu können, ohne Gefahr zu laufen, sich zu Tode zu langweilen. Er sperrte die Wohnung auf, kickte seine Schuhe von den Füßen, verstaute die Kamera und ließ sich aufs Bett fallen. „Also … willst du’s noch immer wissen? Den Scheiß, der grad so bei mir los ist?“

„Hmm.“

„Ich weiß aber nich‘ so recht, wo ich anfangen soll.“

„Mit dem Grundthema. Danach die Hauptfiguren. Der Rest entwickelt sich dann schon.“

„Hey, ich war hier der Liebling im Deutschunterricht!“, meckerte Jonas. „Lass mir das eine Fach, in dem ich glänzen konnte.“

„Fokus, Jonas, Fokus“, zitierte Maria ihre ehemalige Deutschlehrerin erneut. „Außerdem warst du auch unser kleiner Künstler. Also zwei Fächer. So. Grundthema?“

„Liebesscheiß.“

„Hauptfiguren?“

„So‘n Kerl und ich.“

„Vielleicht ein klein wenig genauer.“

„Erinnerst du dich noch an Erik?“, fragte Jonas vorsichtig. „Der Typ aus dem Club, in dem ich mich mal beworben hatte?“

„Der, bei dem du deine Jacke vergessen hattest? Jaah …“ Das Misstrauen in Marias Stimme war zurück.

„Wir haben uns noch ‘n paar Mal getroffen. Zuerst nur so zum, naja, ‚Ficken‘ darf man das eigentlich nich‘ nennen. Wir haben halt ‘n bisschen rumgemacht.“ Ein bisschen sehr.

„Okay. Und hat es einen speziellen Grund, dass du mir das bisher verheimlicht hast?“

„Du warst so gestresst und … Ich war mir auch nich‘ sicher, was du davon hältst und wollt keine Diskussionen.“

„Du kannst schnackseln wen du willst, solange du dabei auf deine Sicherheit achtest“, stellte Maria klar. „Ich hätte nur nicht gedacht … Ich meine, so wie du das erzählt hast, klang der Kerl echt nach ‘nem Arsch.“

„Hab mich geirrt“, gab Jonas zu. „Eigentlich is‘ er echt lieb und verständnisvoll. Klug und witzig und–“

„–du hast dich in ihn verliebt.“

„Hab ich wohl.“ Wozu leugnen?

„Tja, shit. Hast du es ihm gesagt?“

„Etwas hysterischer als geplant und mit ‘ner Menge Scheiß davor, den ich dir lieber mal erzähl, wenn wir im selben Raum hocken, aber ja, ich hab’s ihm letzten Sonntag gesteckt.“

„Ich nehme mal an, es ist nicht so ausgegangen wie erhofft.“

„Nein.“ Jonas spürte, wie der Panzer, den er in den vergangenen Tagen aufgebaut hatte, unter Marias Mitgefühl Risse erlitt „Er hat gesagt, er braucht Zeit. Muss darüber nachdenken.“ Jonas‘ Worte klangen verzerrt, seine Stimme zu hoch. „Das is‘ jetzt fast ‘ne Woche her und ich hab keinen Pieps von ihm gehört.“ Wütend blinzelte er die Tränen in seinen Augen weg. Es war, als wollten alle Gefühle, die er in den letzten Monaten verdrängt hatte endlich Beachtung finden.

„Hast du dich mal bei ihm gemeldet?“

„Hab vorgestern seine Nummer gelöscht.“ Mit einem tiefen Atemzug versuchte Jonas, die Kontrolle über seine Stimme wiederzuerlangen. „Wollte nich‘ so erbärmlich sein und ihm auch noch nachrennen.“

„Ach, Jonas“, flüsterte Maria. „Du behauptest zwar, dass er klug ist, aber wenn er nicht erkennt, was er an dir hat, dann ist er ein Vollidiot. Und sich dann einfach nicht mehr melden … Dem musst du wirklich nicht hinterhertrauern.“

„Ich tu’s aber trotzdem“, presste Jonas hervor. „Es hätte so anders laufen können, wenn …“ Er schluckte. „Wenn ich nur …“ Mehr brachte er nicht heraus, als lange zurückgehaltene Tränen über seine Wangen rannen.

Minutenlang lauschte Maria seinem Schluchzen, murmelte gelegentlich tröstende Worte, spendete die Nähe, die er in den letzten Monaten so kläglich vermisst hatte.

Nach einer ganzen Weile – in seinem Zimmer war es merklich dunkler geworden – rappelte sich Jonas auf und atmete tief durch. „Danke“, krächzte er. „Das hab ich echt gebraucht.“

„Nicht dafür. Du weißt, dass du dich immer bei mir melden kannst. Fühlst du dich denn wenigstens ein bisschen besser?“

„Ein bisschen.“ Jonas brachte sogar ein klägliches Lächeln zustande. „War gut, den ganzen Scheiß mal rauslassen zu können. Traurig bin ich natürlich trotzdem, aber scheiße, ich leb in Berlin, ich kann nirgendwo hinspucken ohne dabei ‘nen süßen Kerl zu treffen.“

„Nicht unbedingt die Methode, die ich dir empfehlen würde, aber ich verstehe, worauf du hinauswillst.“

„Reden wir nächste Woche noch mal, wenn ich mich wieder ‘n bissl besser im Griff hab? Ich glaub, für heut hab ich dich lang genug aufgehalten.“

„Du hast es zumindest geschafft, mich von der Uni abzulenken.“

Jonas lachte. Heiser und rau, aber es fühlte sich gut an. „Ich hab dich lieb.“

„Ich dich auch. Wir hören voneinander.“

Das Freizeichen seines Handys schien in Jonas‘ leerer Wohnung widerzuhallen.

 

Jonas drehte das heiße Wasser auf und warf sein benutztes Geschirr in die Küchenspüle. Während sich das Becken langsam füllte, bemühte er sich, das Chaos in seiner Wohnung auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Aus dem Augenwinkel nahm er das Blinken seines Handys wahr; eine nicht eingespeicherte Handynummer versuchte ihn zu erreichen. Jonas‘ vom reichhaltigen Essen gefüllter Magen drückte plötzlich gegen sein Herz. War das …?

Eilig nahm er das Gespräch an. „Hallo?“

„Ah, hi. Erik hier.“

Jonas sank auf sein Bett. „Scheiße.“ Er schüttelte den Kopf. „Du hast dir echt verfickt lang Zeit gelassen.“

„Ich weiß.“ Ein tiefer Seufzer drang durch die Leitung. „Ich weiß. Es gab da ein paar Dinge, über die ich mir klarwerden musste.“

„Naja, ich sollt wohl froh sein, dass du dich überhaupt meldest. Is‘ ja auch nich‘ selbstverständlich.“ Nervös zwirbelte Jonas eine Ecke seines Bettlakens zwischen den Fingern. Das war also der Moment, in dem Erik ihm sagte, dass das mit ihnen nichts werden würde. Immerhin konnte er dieses Kapitel damit endgültig abschließen. „Also?“

„Ah, ich weiß, dass das etwas kurzfristig ist, aber hast du am Sonntag schon etwas vor?“

„Sonntag? Also … morgen?“, hakte Jonas verwirrt nach. „Ich muss vormittags arbeiten, aber sonst …“

„Treffen wir uns?“

„Du meinst abends bei dir?“ Jonas konnte sich gerade noch ein ‚Ist das dein verfickter Ernst?‘ verkneifen. Völlig unabhängig davon, wie sehr er sich nach Eriks Stimme gesehnt hatte; sollte dieser die Dreistigkeit besitzen, auf seinen Gefühlen rumzutrampeln und versuchen, ihn weiter unverbindlich ins Bett zu bekommen, würde Jonas durchs Telefon greifen und ihm die Stimmbänder aus dem Hals rupfen.

„Eigentlich dachte ich eher, dass ich dich nachmittags abholen könnte.“

„Ähm … wozu?“

„Um Zeit miteinander zu verbringen.“

Allmählich dämmerte Jonas, dass dieses Gespräch eine andere Richtung nahm, als er angenommen hatte. „Erik … Fragst du mich grad nach ‘nem Date?“

„Ja. Ich …“ Einige Sekunden hörte Jonas lediglich regelmäßige Atemzüge. „Entschuldige, mir wird gerade klar, dass ich bin das Ganze wohl falsch angegangen bin. Ich kann natürlich verstehen, wenn du keine Lust mehr h–“

„Nee!“, fiel Jonas ihm ins Wort. „Also ja! Also … Ich meine … Morgen is‘ gut. Morgen is‘ sehr gut! Ich muss bis eins im Café arbeiten, dann bin ich so gegen zwei daheim. Passt dir halb drei?“

„Halb drei passt gut.“ Erik klang erleichtert. „Hast du auf etwas Bestimmtes Lust?“

„Nee, so spontan fällt mir da nix ein.“

„Gut, dann sehen wir uns morgen.“

„Bis morgen.“

Es brauchte zwei Nachrichten an Maria und einen kleinen Freudentanz, bis Jonas bemerkte, dass er das Wasser für die Küchenspüle nicht abgedreht hatte.

Kapitel 19

Was zuletzt geschah:

Jonas‘ lange überfälliges Gespräch mit Erik verläuft weitestgehend ergebnislos. Um für ein wenig Ablenkung zu sorgen, ziehen zwei neue Mitbewohner in seine Wohnung, die sich allerdings als recht schweigsam (und in Daisys Fall auch kränklich) entpuppen. Just, als Jonas endlich Maria sein Herz ausschüttet, meldet sich Erik und bittet um ein Date.

 

Kapitel 19

„Nee, das geht echt gar nich‘!“ Ungeduldig riss sich Jonas das Karohemd vom Körper.

„Ich fand’s eigentlich recht niedlich“, kommentierte Maria vom ihrem Platz auf dem Schreibtisch aus. Die Lautsprecher des Notebooks verwandelten ihre ohnehin schon hohe Stimme in blechernes Piepsen.

„‚Niedlich‘ is‘ nich‘ grad der Eindruck, den ich vermitteln will.“

„Sondern?“

„Keine Ahnung. Heiß? Geil? Unwiderstehlich?“

„Da bin ich die falsche Ansprechpartnerin“, erinnerte ihn Maria. „Aber was auch immer dein Look aussagen soll, sofern dein Date pünktlich ist, hast du noch etwa zehn Minuten, um ihn zu erreichen.“

„Was? Fuck!“ Verzweifelt musterte Jonas die Klamottenberge, die er neben, auf und stellenweise unter seinem Bett verteilt hatte. Wahllos griff er nach dem ersten schwarzen Hoodie, den er zwischen die Finger bekam und schlüpfte hinein. „Dann eben so …“ Wenigstens war das Oberteil schön warm und erfüllte damit die Anforderung, die Erik gestellt hatte.

„Ich will ja nicht meckern“, mischte sich Maria ein, „aber unter ‚heiß‘ verstehe ich dann doch etwas Anderes.“

„Ja, ja“, nuschelte Jonas. „Deshalb zieh ich dazu ja auch die hier an.“ Er befreite eine graue Jeans von mehreren Lagen Stoff und präsentierte sie seiner Webcam.

Maria schnaubte. „Wie lange hast du das Teil jetzt schon? Seit der achten Klasse?“

„Zehnte“, presste Jonas zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und versuchte, sich unter beständigem Fluchen in das widerspenstige Kleidungsstück zu quetschen. Am Ende drehte er Maria triumphierend den Rücken zu. „Na, was sagst du?“

„Ich bin bekehrt. Urplötzlich fühle mich zu Männerhintern hingezogen“, erwiderte sie trocken. „Nein, im Ernst. Du siehst gut aus.“

„Jetzt noch ‘nen passenden Gürtel und dann …“

„Hast du noch etwa fünf Minuten, um dieses Chaos zu beseitigen.“

„Fuck!“

Jonas‘ Klingel ertönte, während er damit beschäftigt war, sich gegen die Türen seines Kleiderschranks zu werfen, in der Hoffnung, sie endlich schließen zu können.

„Oh, er ist pünktlich“, stellte Maria fest. „Das gibt Pluspunkte.“

„Nich‘ bei mir!“ Eilig betätigte Jonas den Summer, sprintete zurück zu seinem Schrank und stopfte einen überstehenden Ärmel ins Innere.

„Ich lasse euch mal ein bisschen Privatsphäre“, sagte Maria. „Aber ich will Fotos sehen!“

„Vielleicht noch Lebenslauf und Führungszeugnis?“

„Warum eigentlich nicht?“

„Maria!“

„Ja, ja, ist ja gut. Viel Spaß!“ Maria unterbrach die Verbindung und das keine Sekunde zu früh. Ein sanftes Klopfen wies Jonas darauf hin, dass sein Besucher die Wohnungstür erreicht hatte und geduldig wartete, bis ihm geöffnet wurde.

Erik sah aus wie immer. Groß und athletisch, mit goldenem Haar, das an seinem Hinterkopf zu einem strengen Knoten gebunden war und die klaren Linien seiner attraktiven Züge betonte. Ein feines Lächeln umspielte seine Lippen, deutete einen Hauch Unsicherheit an und imitierte damit Jonas‘ eigene Mimik.

„Hi!“ Fahrig strich sich Jonas eine Strähne aus seiner von einem dünnen Schweißfilm überzogenen Stirn. „Hast du gut hergefunden?“

„Mhm. Ich arbeite ja quasi ums Eck.“

„Oh. Stimmt ja.“ Jonas‘ Wangen wurden heiß. Er hatte keine Ahnung, wie er Erik gegenübertreten sollte. War eine Umarmung angemessen? Verflucht, er wollte ihn umarmen, aber seine Hand schien an der Klinke festgeklebt. „Ähm, komm doch kurz rein. Ich muss bloß noch schnell meine Jacke anziehen.“

Falls sich Erik ebenfalls nach einer Umarmung sehnte, machte er keine Anstalten, diesen Wunsch umzusetzen. Seine Hände waren fest in seinen Manteltaschen vergraben.

Jonas ließ ihn in die Wohnung und begann, nach seiner Jacke Ausschau zu halten, die während seines Bekleidungsmarathons in irgendein Eck gerutscht sein musste. Zum Glück war seine Wohnung winzig, allzu viele Verstecke gab es dort nicht.

„Ist das von dir?“, fragte Erik, ohne seinen Blick von der weitläufigen Collage zwischen Küchenzeile und Badtür abzuwenden.

Waren Jonas‘ Wangen zuvor gerötet, begannen sie nun, mit sonnengereiften Tomaten zu konkurrieren. „Ähm, jaah. Ich wollt nur … Eigentlich stellt das so‘n bisschen meine Reise von Bayern nach Berlin dar. Also, jedenfalls soll es das.“ Er deutete zum linken Rand der Collage, der mit einer Sammlung alter Kinderfotos, Zeitungsartikel und Magazinausschnitte geziert war. „Hier ging es sozusagen los und dann irgendwann … kommt Berlin.“ Die Personen auf den Fotos wurden älter, Urkunden und Zeugnisse mischten sich unter fröhliche Gesichter, die Farben wechselten von sanften Erdtönen zu fahlem Grau und schrillem Neon.

„Beeindruckend.“ Erschreckenderweise schien Erik das ernst zu meinen.

„Nee, so besonders isses wirklich nich‘“, wehrte Jonas rasch ab. „Ähm, es is‘ auch nich‘ fertig. Eher so ‘ne Art Dauerprojekt. Guck, das hier …“ Er deutete auf ein Foto. Glückliche Menschen vor einem opulent geschmückten Christbaum. „Das war dieses Weihnachten. Ich war mir erst nich‘ sicher, wohin ich’s packen soll, aber dann dacht ich mir, dass die Mitte wohl ganz gut wär. So als, ähm, Schnittstelle zwischen meinem alten und meinem jetzigen Leben und ...“ Jonas stoppte. „Sorry, das interessiert dich wahrscheinlich kein bisschen.“

„Doch, tut es“, widersprach Erik schlicht. „Fühlt sich an, als hätte ich in den letzten fünf Minuten mehr über dich erfahren als in den Monaten davor.“ Er beugte sich nach vorne und studierte das Weihnachtsfoto. „Deine Familie, nehme ich an?“

„Japp. Meine Mum, mein Dad. Das ganz vorne is‘ Christine, eine meiner Schwestern. Wir sind ziemlich genau drei Jahre auseinander, aber Vroni – das Mädchen in dem blauen Kleid da – is‘ dafür ‘n echtes Nesthäkchen. Das dahinter is‘ meine Oma, sie wohnt seit Opas Tod bei uns, also seit, ähm, etwa fünfzehn Jahren.“ Jonas‘ Blick schweifte über die Collage. „Oh, und das is‘ Maria! Von der hab ich dir ja schon öfter erzählt.“ Er deutete auf ein Foto, das am Tag ihrer Abifeier geschossen worden war. Maria in Anzug und Krawatte, Jonas in zerrissenen Jeans und Bandshirt. Seine Mutter hätte ihn beinahe nicht aus dem Haus gelassen.

Ein schwer zu deutender Ausdruck huschte über Eriks Gesicht. „Man sieht, wie nahe ihr euch steht.“

„Ach ja?“ Jonas konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Mir war nich‘ klar, dass das so offensichtlich is‘. Aber es stimmt wohl. Ich mein, ich hab keine Ahnung, wo ich heute ohne Maria wäre. Jedenfalls nich‘ hier. Ohne sie–“ Er stockte und strich sich verlegen durchs Haar. Zu spät war ihm eingefallen, dass er Erik in dem Glauben gelassen hatte, zwischen ihm und Maria hätte eine Weile mehr als Freundschaft existiert. Irgendwann würde er ihm die Wahrheit sagen müssen, besser heute als morgen. Aber jetzt gerade brachte er es nicht über sich. „Wegen mir können wir dann übrigens los.“ Er hatte seine Jacke über jener Stuhllehne entdeckt, über die er sie beim Heimkommen geworfen hatte.

„Mhm. Dann lass uns das tun.“

Das Auto war kuschelig warm, Erik musste es auf der Hinfahrt ordentlich geheizt haben. Jonas lehnte sich in seinem Sitz zurück und genoss das Gefühl, nur wenige Zentimeter von Erik getrennt zu sein. „Wohin geht’s eigentlich?“, fragte er neugierig.

„Das siehst du noch früh genug.“

„Echt jetzt? Du verrätst es mir nich‘?“

„Nö.“

Theatralisch seufzend und künstlich beleidigt, starrte Jonas aus dem Fenster. Bald wurde klar, dass sie die Stadt verließen. Die Häuser wurden kleiner und die Lücken zwischen ihnen größer, bis sie vollends hinter dichten Wäldern verschwanden. Nachdem ungefähr eine halbe Stunde verstrichen war, bog Erik in einen von Bäumen umgrenzten Parkplatz ein und stellte den Wagen ab.

Jonas sah sich um. „Verrätst du mir jetzt, wo wir sind?“

„Ein Stück außerhalb Berlins.“

„Echt jetzt?“, fragte Jonas gespielt schockiert. „Scheiße, und ich hatte gehofft, du zeigst mir Las Vegas.“

„Vielleicht nächstes Mal.“ Erik führte ihn über den fast leeren Parkplatz auf einen schmalen Wanderweg. Zu Jonas‘ Bedauern nicht schmal genug, um einen Vorwand zu liefern, ihre Schultern und Oberarme aneinanderzupressen.

„Ich dachte mir, ich zeige dir mal den See, in dem ich im Sommer ganz gerne schwimme“, erklärte Erik. „Er ist nicht besonders groß, wir könnten ihn also einmal umrunden und danach eine Kleinigkeit in dem Restaurant auf der anderen Seite des Parkplatzes essen.“ Er zupfte an seinem Ärmelsaum. „Ah, so laut ausgesprochen klingt das allerdings ziemlich lahm. Und das Wetter scheint auch nicht wirklich mitzuspielen. Ich hatte auf ein wenig Sonne gehofft.“

Eriks Stimme, im Grunde seine ganze Körpersprache, sendete deutliche Signale. Jonas grinste. „Nervös?“

Überrascht sah Erik ihn an. „Natürlich. Ich wollte einen schönen Tag mit dir verbringen, aber mein letztes erstes Date ist über neun Jahre her. Da fühle ich mich ein wenig eingerostet.“

„Falls dich das tröstet: Mein allererstes erstes Date ist keine drei Monate her und trotzdem bin ich scheißnervös.“ ‚Keine drei Monate‘ bedeutet, dass du Erik zu diesem Zeitpunkt schon gekannt hast, erinnerte der rationalere Teil seines Gehirns Jonas. Zu spät.

Er und Erik musterten sich aus den Augenwinkeln, unsicher was sie von dem Geständnis des anderen halten sollten.

„Du fängst an“, entschied Jonas schließlich.

Erik zuckte mit den Schultern. „Da gibt es eigentlich nicht besonders viel zu erzählen. Ich war zwei Jahre mit meinem Ex zusammen und danach sieben Jahre Single. Also hatte ich mein letztes erstes Date vor etwas mehr als neun Jahren.“

„Sieben Jahre Single?“, wiederholte Jonas ungläubig. „Scheiße, das is‘ ‘ne verflucht lange Zeit. Gab … gab es echt niemanden, mit dem du wenigstens mal ein erstes Date wolltest?“

„Nein.“

„Das … Wirklich?“ Jonas konnte sich mit Eriks Antwort nicht zufriedengeben. „Oder hast du es einfach nie weit genug kommen lassen?“ Als Erik nichts erwiderte, wurde ihm bewusst, wie vorwurfsvoll er geklungen hatte. „Scheiße, tut mir leid. Das war nich‘ als Angriff gemeint.“

„Ich habe es auch nicht als solchen aufgefasst“, stellte Erik klar, „sondern darüber nachgedacht, ob du recht haben könntest. Ah, da vorne ist übrigens der See.“ Er deutete auf eine graue, von sich kräuselnden Wellen aufgeraute Fläche, die zwischen kugeligen Büschen und kahlen Bäumen schimmerte. Der Wanderweg machte eine Biegung, die den Ausläufern des Wassers folgte. „Wir kommen gleich zu den Liegewiesen, dann sieht man ihn besser.“ Noch während Erik redete, brach der Wildwuchs am Wegrand auf und machte Platz für eine schlammige Wiese.

Jonas beobachtete den sanften Wellengang des Sees, lauschte dem Knistern der Äste, atmete den Duft nach klarem Wasser und zertrampeltem Laub. „Fuck, jetzt wo ich hier bin, merk ich erst, wie sehr mich die Stadt in letzter Zeit angekotzt hat. Ich mein, is‘ natürlich alles aufregend und lebendig und so und ich wollt wohl auch nich‘ mehr zurück aufs Land ziehen, aber Scheiße, es is‘ auch so verfickt anstrengend.“

Gemeinsam liefen sie über die Wiese bis zum Ufer. Dort angekommen, klaubte Jonas ein flaches Steinchen vom Boden auf und ließ es schwungvoll übers Wasser hüpfen. „Ha! Viermal!“

„Nicht schlecht.“ Erik suchte einen passenden Stein und tat es ihm nach. Der Stein titschte über das Wasser und versank. „Hm.“

„Einmal“, kommentierte Jonas. „Mit viel gutem Willen.“

„Nur, weil ich abgelenkt war“, behauptete Erik. „Ich verlange eine Revanche!“

„Die Ehre gebietet, dir diese Bitte zu gewähren“, erklärte Jonas grinsend. „Auch, wenn wir beide wissen, dass es nix ändern wird.“ Aufmerksam suchte er das Ufer nach einem Stein ab, der seinen Ansprüchen genügte. „Sieh zu und lerne!“ Er hob den Arm, hielt sein Handgelenk stabil aber locker und holte Schwung. Ein schmerzhafter Stich fuhr durch seine rechte Seite, gerade, als er das Steinchen fliegen lassen wollte. Es rutschte aus seiner Hand und landete mit einem traurigen Platsch! im Matsch.

Vorwurfsvoll wirbelte Jonas herum, die nun freie Hand auf die schmerzende Stelle gepresst. „Betrug! Verrat!“

Erik hob abwehrend die Hände, ganz so, als hätte er Jonas nicht im passenden Moment gekniffen, um seinen Sieg zu vereiteln. „Ich bin unschuldig.“

Beinahe hätte Jonas ihm dieses Schauspiel abgekauft, doch das süffisante Schmunzeln, das sich auf Eriks Gesicht stahl, strafte seine Worte Lügen.

„Wenn es nich‘ so arschkalt wäre, würd ich dich dafür in den See schubsen“, drohte Jonas. „Ach, weißt du was? Ich mach’s einfach!“ Mit einem Kampfschrei stürzte er sich auf den Betrüger, umklammerte dessen Taille und schob mit aller Kraft, die er aufbringen konnte. Doch Erik stemmte die Beine in den Boden und bewegte sich keinen Millimeter. Stattdessen packte er Jonas‘ Schultern, drehte ihn und sich selbst um die eigene Achse und ehe Jonas sich versah, stand er selbst mit dem Rücken zum Wasser.

„Fuck!“ Jetzt war es an Jonas, einen Abstecher ins kalte Nass zu verhindern. „Das is‘ noch nich‘ entschieden!“

Lachend und gelegentlich fluchend, kämpften die beiden um die Oberhand, immer darauf bedacht, weder selbst im See zu landen, noch ihren Kontrahenten versehentlich tatsächlich im eisigen Wasser zu versenken.

„ARFF, ARFF, WUFF!“ Das Kläffen des kleinen Köters unterbrach Jonas‘ und Eriks Rangelei, „Kiry!“, die Stimme seines Frauchens ließ sie schneller auseinanderfahren als gleichpolige Magnete.

Verlegen blickte Jonas zum Wanderweg, aber von der Frau, die ihren Hund gerufen hatte war bisher nichts in Sicht. Lediglich das Tier selbst stand an der Einbiegung und bellte sich die Seele aus dem Leib.

Jonas ging in die Knie. „Musst du dich so aufregen?“ Seine ruhige Stimme und die friedfertige Geste wirkten, der Hund verstummte beinahe augenblicklich und neigte misstrauisch den Kopf. Anscheinend zufrieden mit dem Ergebnis seiner Inspektion, näherte er sich schwanzwedelnd und schnüffelte an Jonas‘ ausgestreckter Hand.

„Na, das is‘ doch schon viel besser.“

Das Fell des Hundes hatte eine unspektakuläre mausgraue Farbe, war jedoch dicht, warm und unglaublich weich. Glücklich tänzelte das Tier auf seinen Pfötchen, während Jonas seine steifen Finger in der flauschigen Unterwolle wärmte.

„Hier bist du!“ Eine junge Frau hetzte um die Ecke, in ihrer linken Hand baumelte eine Leine. „Tut mir wirklich leid!“, rief sie Erik und Jonas zu. „Ich würde ja sagen ‚eigentlich tut sie sowas nicht‘, aber seien wir ehrlich, sie tut es sehr wohl.“

„Kein Problem“, versicherte Jonas. „Sie kann ja auch ganz lieb sein.“ Er kraulte die Hündin abschließend noch einmal hinter den Ohren, bevor ihre Besitzerin sie anleinte und mit einer letzten Entschuldigung in die entgegengesetzte Richtung verschwand.

„Du hast ein Händchen für Tiere“, stellte Erik fest.

„Um‘s mit Marias Worten zu sagen: Ich hab ‘n Händchen für alles, dessen IQ erfolgreich an Limbo-Wettbewerben teilnehmen könnte.“

„Ich bin mir nicht sicher, was das jetzt über mich aussagt.“ Erik hob den Blick zum Himmel. „Gehen wir weiter? Mir gefällt das Wetter nicht. Da hinten wird es ganz schön düster.“

Jonas nickte und trottete voran, wünschte sich jedoch stumm, den Abstand zwischen ihnen wieder verringern, Eriks Hände erneut auf seinem Körper fühlen zu können. Immer wieder huschten seine Blicke zu Eriks Gesicht, in der Hoffnung zu erahnen, was er dachte.

„Ah, ich habe dir deine Frage von vorhin noch gar nicht beantwortet“, sagte Erik unvermittelt, als sie auf dem schmalen Pfad zurückgekehrt waren.

Verwirrt runzelte Jonas die Stirn. „Welche Frage?“

„Ob ich Beziehungen in den letzten Jahren bewusst aus dem Weg gegangen bin.“

„Oh. Stimmt.“ Jonas war sich nicht sicher, ob er die Antwort noch hören wollte.

„Du hast tatsächlich nicht ganz unrecht“, räumte Erik ein. „Die Vorstellung, nochmal eine feste Beziehung einzugehen macht mich nervös. Aber … Ah, wie sage ich das jetzt, ohne unnötigen Druck aufzubauen? Ich mag dich. Als Freund und in meinem Bett. Ich will mehr Zeit mit dir verbringen, viel mehr. Und das ist nichts, das ich in den vergangenen Jahren für jemand anderen empfunden habe.“

Es war unmöglich, das Lächeln, das sich auf Jonas‘ Gesicht ausbreitete aufzuhalten, genauso wenig, wie den Zweifel, der sich leise in seine Gedanken stahl. „Kann ich dich trotzdem noch fragen, warum dich Beziehungen nervös machen?“

Wieder antwortete Erik nicht sofort. Nachdenklich runzelte er die Stirn. „Vermutlich, weil … Nein, das muss ich anders formulieren …“ Hilflos öffnete und schloss er die Hände. „Meine erste Beziehung war … nicht wirklich gut und sie hat eine Menge Trümmer hinterlassen, die ich mit in die zweite geschleppt habe. Die hätte zwar so oder so nicht funktioniert – heute ist mir das klar, damals war es das nicht – aber es hätte meinem Ex und mir einige schmerzhafte Momente erspart, wenn ich mit meinen Altlasten besser hätte umgehen können. Und ich kann nicht versprechen, dass ich jetzt dazu in der Lage bin.“ Erik zögerte, setzte mehrmals zum Sprechen an und schloss den Mund wieder, bis er hinzufügte: „Das war einer der Gründe, warum ich mich so spät gemeldet habe.“

Jonas wollte mehr wissen. Mehr über Erik und mehr über dessen Beziehungen, die offenbar ein so unglückliches Ende genommen hatten, aber er fürchtete, damit die bisher so gute Stimmung zu kippen. Erik schien sich entschieden zu haben, ihnen eine Chance zu geben und Jonas hatte keinerlei Interesse, seine Zweifel erneut aufflammen zu lassen, indem er zu lange auf ihnen zündelte.

„Du bist dran“, sagte Erik nach einer Weile.

„Womit?“

„Ich habe dir erzählt, warum mein letztes erstes Date ewig her ist. Jetzt will ich wissen, was es mit deinem allerersten Date vor drei Monaten auf sich hatte.“

Nervös starrte Jonas auf seine Schuhe, während er mechanisch einen Fuß vor den anderen setzte. „Da war dieser Typ, den ich auf ‘ner WG-Party kennengelernt habe. Und … ähm … also …“ Zwischen ihm und Dominik war nie mehr passiert, als ein paar Versuche Händchen zu halten, die er auch noch abgeblockt hatte und trotzdem fühlte sich Jonas als müsse er beichten. „Er hat mich gefragt, ob ich wir, äh …“

„Eigentlich hat mich interessiert, warum du trotz Beziehung nie ein Date hattest“, unterbrach Erik Jonas‘ Stammeln.

„Bez–Oh. Du sprichst von Maria.“

„Mhm.“

Vermutlich hatte Erik bemerkt, dass Jonas die Geschichte mit Dominik unangenehm war und entschieden, das Thema zu wechseln. Dummerweise läutete er damit gleich die nächste Beichte ein. „Vom Regen in die Traufe“, murmelte Jonas zu sich selbst.

Fragend hob Erik eine Braue. „Ach ja?“

Zeit für die Wahrheit. „Maria und ich sin‘ bloß Freunde“, stieß Jonas hervor. Deutlich leiser fügte er hinzu: „War mir peinlich, vor dir zuzugeben, dass ich völlig unerfahren bin.“ Noch leiser schloss er seine Beichte ab: „Du warst mein erster richtiger Kuss.“

„Verstehe.“ Die kleine Falte zwischen Eriks Augenbrauen erschien und seine Lippen wurden schmal.

Unsicher schielte Jonas zu ihm, brauchte ein paar Sekunden, um genug Mut für seine Frage aufzubringen. „Bist … bist du sauer?“

„Was? Nein!“ Erik schüttelte den Kopf. Die kleine Falte blieb. „Ich kann mir nur bessere erste Küsse vorstellen. Vom restlichen Verlauf dieser Nacht mal abgesehen.“

Jonas verkniff sich ein Lachen. Erik, der ewige Perfektionist. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte Jonas‘ erster Kuss wohl vor einem prasselnden Kaminfeuer und auf Rosen gebettet stattgefunden. Selbstverständlich, nachdem er zuvor monatelang umgarnt worden war. „Ich fand’s eigentlich ziemlich gut“, stellte er klar. „Zugegeben, das Ende hätte ‘n bissl anders laufen können, aber alles in allem kann ich mich kaum beschweren. Da hätte ich echt an beschissenere Typen geraten können.“

„Ah, danke?“

Jetzt lachte Jonas doch. „Gern geschehen. Obwohl ich es schon vorgezogen hätte, nich‘ erst zwanzig werden zu müssen, bevor mir jemand die Zunge in den Hals steckt.“

Eine Weile schlenderten sie schweigend nebeneinander, jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt und Jonas wurde das Gefühl nicht los, dass sich Erik eine Menge Fragen verkniff.

„Maria und ich waren unser gegenseitiges Alibi, damit der Rest der Welt aufhört uns zu nerven“, erklärte er. „Ihre Eltern sin‘ bei dem Gedanken, dass sie Sex haben könnt‘ zwar völlig ausgeflippt, aber als sie sich mit fünfzehn immer noch so gar nich‘ für Jungs interessiert hat, war’s auch nich‘ recht. Meine Eltern waren nich‘ ganz so prüde, aber genauso penetrant. Und weil sowieso jeder dachte, dass wir ‘n Pärchen wären, weil, wo kämen wir denn hin, wenn sich ‘n Junge und ‘n Mädchen einfach so gut verstehen, haben wir sie einfach in dem Glauben gelassen.“ Jonas kaute auf seiner Unterlippe. „Als ich mir zum ersten Mal eingestanden habe, dass ich Jungs viel spannender als Mädchen finde, war Maria für mich da. Sie hat mir durch ‘ne Menge Scham und Angst und Wut geholfen. Ich weiß nich‘, wie ich diese Zeit ohne sie überstanden hätte.“

„Ich glaube, langsam verstehe ich, wie wichtig sie für dich ist.“

Jonas lächelte breit. „Das is‘ sie definitiv.“

„Dann bin ich jetzt wohl an der Reihe, ein Geständnis zu machen.“ Plötzlich wirkte Erik ernst und Jonas‘ Lächeln erlosch.

„Was denn?“, fragte er misstrauisch.

„Ich dachte, nachdem du auch mit deiner Ex befreundet bist, wäre das keine große Sache, aber jetzt sieht das vielleicht etwas anders aus.“

Es war unmöglich, das ‚auch‘ in Eriks Satz zu überhören. „Du machst es ganz schön spannend …“

„Entschuldige, das war nicht mein Ziel. Du, ah, erinnerst dich sicher noch an Marco?“, fragte Erik.

„Klar.“ Jonas begriff, worauf er hinauswollte. „Ihr wart …?“

„Ja.“

Das erklärte Marcos zögerliche Reaktion, als Jonas ihn gefragt hatte, woher er und Erik sich kannten. „Der zweite Freund, nehme ich an?“ Das wenige, das Erik über seine erste Beziehung erzählt hatte, sprach nicht unbedingt für freundschaftliche Gefühle.

„Der zweite“, bestätigte Erik. „Ich hätte dir das wohl früher erzählen sollen, aber …“ Er seufzte. „Marco und ich sind schon so lange einfach nur Freunde, dass ich ehrlich gesagt gar nicht auf die Idee gekommen bin, darin ein Problem zu sehen. Bis er mir eine Standpauke gehalten hat, weil ich es dir verschwiegen habe.“ Erik blieb stehen und drehte sich zu Jonas. „Marcos Freundschaft ist mir wichtig, aber ich will auch nicht, dass du dich deswegen unwohl fühlst. Falls das so ist … Lass uns darüber sprechen, ja?“

Das war wohl Eriks Art, Jonas zu sagen, dass er die Freundschaft mit Marco im Zweifel über eine Beziehung mit ihm stellen würde und auch, wenn diese Erkenntnis schmerzte, gestand sich Jonas ein, dasselbe in Marias Fall zu tun. In seinem Kopf schwirrten viel zu viele Fragen, um auch nur eine davon herausgreifen zu können. Marco. Selbstbewusst, erfolgreich und lebenserfahren. Keine Scheu, der Öffentlichkeit zu zeigen, wem sein Herz gehörte. Wie konnte Erik von jemandem wie ihm, zu jemandem wie Jonas springen?

„Ah, siehst du die Büsche da drüben?“, fragte Erik. Er deutete auf eine dichtbewachsene Stelle neben dem Wanderweg, die die Sicht auf den See verdeckte.

Jonas brauchte einen Moment, um sich auf den unerwarteten Themenwechsel einzustellen, nahm die Ablenkung aber dankbar an. „Japp.“

„Man kann es von außen nicht erkennen, aber wenn man sich durch dieses Gestrüpp quetscht, kommt man zu einer kleinen Liegewiese direkt am See. Gerade genug Platz für eine Handvoll Leute und zum Glück ziemlich unbekannt.“

„Dein Stammplatz?“, fragte Jonas.

„Mhm. Habe ich vor ein paar Jahren mal zufällig beim Schwimmen entdeckt. Du bist der Erste, dem ich in dieses Geheimnis anvertraue.“

So trivial sich das für einen Außenstehenden anhören mochte, Jonas‘ Herz machte bei diesen Worten einen Hüpfer. Der Himmel über ihnen verdunkelte sich zunehmend, aber seine Aufmerksamkeit galt Eriks rechter Hand, die wenige Zentimeter neben seiner eigenen baumelte. Sollte er?

Behutsam streifte Jonas‘ Handrücken über Eriks. Ein Schauder breitete sich auf seiner Haut aus, zog bis tief in seinen Magen. Wachsam verfolgte er Eriks Reaktion, als er die Geste wiederholte. Erik musste die Berührung spüren, ließ sich jedoch nichts anmerken.

Jonas schluckte und hakte seinen kleinen Finger bei Erik ein. Endlich drehte dieser den Kopf, Überraschung in den Augen und ein Lächeln auf den Lippen. Jonas‘ ganzer Körper kribbelte. Wie konnte eine so unschuldige Berührung eine solche Wirkung entfalten?

Sie waren nicht die Einzigen, die dem schlechten Wetter trotzten. Hinter einer der zahlreichen Biegungen kam ihnen ein älteres Pärchen entgegen, dick eingehüllt in Gummistiefel, Regenjacke und Mützen über den grauen Locken. Instinktiv wollte Jonas seine Hand wegziehen, seine Verbindung mit Erik leugnen. Stattdessen verschränkte er nun auch ihre übrigen Finger miteinander.

Scheu nickte er dem Pärchen zu, murmelte ‚Grüß Gott‘, ganz so, wie es ihm von seinen Eltern beigebracht worden war. Das Paar erwiderte sein Nicken und stiefelte an ihnen vorbei. Damit war die kurze Interaktion beendet, doch als Jonas sich nach ihnen umdrehte, sah er, wie die Frau nach der Hand ihres Manns griff und die vertraute Geste imitierte.

„Ah!“

„Was?“ Die Frage hatte aggressiver geklungen als geplant, aber es war schwierig für Jonas, adäquat zu reagieren, während eine Wagenladung Adrenalin durch seine Adern jagte.

„Es fängt an zu regnen. Ich habe gerade einen Tropfen abbekommen.“

„Wirklich? Ich … Scheiße, doch. Wie weit isses noch zur Wirtschaft?“

„Nicht weit“, versicherte Erik. „Noch einmal ums Eck.“

Donner rollte über ihre Köpfe hinweg. Glücklicherweise stimmte Eriks Angabe und sie erreichten das Restaurant, kurz bevor sich die vereinzelten Wassertröpfchen zu rauschenden Fäden entwickelten, die die Erde benetzten und den Wanderweg in Schlamm verwandelten. Der weißgetünchte Putz, die warmen Holzrahmen der Fenster und die von Bäumen umrahmte Terrasse verliehen dem kleinen Lokal die Aura eines Hexenhäuschens in einem verzauberten Wald. Ein perfekter Unterschlupf bei schlechtem Wetter und gleichzeitig bestens geeignet, die Sommersonne zu genießen.

„Ah, Shit.“

Wenn Erik fluchte, konnte das nichts Gutes bedeuten. Jonas‘ Blick huschte zu den dunklen Fensterscheiben. „Lass mich raten … Ruhetag?“

„Betriebsurlaub.“ Stöhnend barg Erik das Gesicht in den Händen. „Tut mir leid. Daran hatte ich überhaupt nicht gedacht. Wenigstens können wir uns hier unterstellen, bis das Wetter ein wenig aufklart.“

„Nee, da weiß ich was Besseres.“ Lachend zog Jonas Erik zum Rand der Überdachung. "Wettlauf zum Auto! Der Gewinner … ähm … wird weniger nass?“ Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, sprintete er los. Schlamm spritzte auf und ruinierte seine Lieblingshose, die für sportliche Ertüchtigungen denkbar ungeeignet war.

„Unfair!“, rief Erik ihm hinterher und startete mit einigen Sekunden Verzögerung. Dafür, dass er behauptet hatte, zu selten Joggen zu gehen, holte er erschreckend schnell auf, aber auch, wenn Jonas seit einigen Monaten nicht mehr spielte, hatte er seine Fußballerbeine noch nicht völlig verloren. Sie lieferten sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen. Erik übernahm kurzfristig die Führung, als Jonas am Rand des Parkplatzes im Matsch ausrutschte und verzweifelt versuchte, sich nicht aufs Maul zu legen, doch mit dem Ziel in Sichtweite, aktivierte er seine letzten Kraftreserven und zog an seinem Kontrahenten vorbei.

„Ha!“ Atemlos lehnte sich Jonas gegen die Beifahrertür. „Gewonnen!“

„Nur … dumm für dich … dass ich … den Schlüssel … habe“, schnaufte Erik. Mit einem Knopfdruck entriegelte er die Tür, aber als er das Auto umrunden wollte, hielt Jonas ihn fest. Der Parkplatz war leer, er und Erik allein.

„Zeit für meinen Preis.“ Auffordernd tippte sich Jonas gegen die Lippen. Wenn er nervös gewesen war, als er Eriks Hand ergriffen hatte, stand er jetzt kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Er schloss die Augen.

Zärtliche Finger strichen nasse Strähnen aus Jonas‘ Stirn, erkundeten seine Wangen, streiften über seine erwartungsvoll geöffneten Lippen. Zunächst schmeckte Jonas nur Wasser. Dann schmeckte er Erik. Sanft, kaum wahrnehmbar und viel zu kurz.

„Mehr“, flüsterte Jonas in die Leere. Erik erfüllte seinen Wunsch.

Arm in Arm, versunken in ihrer eigenen Welt, lehnten die beiden an dem fliederfarbenen Ford. Ihre Hände suchten Halt am Körper des anderen; sie küssten, streichelten, erkundeten sich, schienen jede Berührung nachholen zu wollen, die ihnen in den letzten Wochen entgangen war.

Eisige Tropfen rannen von Jonas‘ Haaren über seinen Nacken und Rücken, bis sie seine Kleidung völlig durchweicht hatten.

„Du zitterst“, stellte Erik fest.

„Du doch auch.“

„Wollen wir …“ Erik zögerte.

„Zu dir?“, vervollständigte Jonas seinen Satz. „Japp, wollen wir definitiv.“

 

 

Kapitel 20

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Kapitel 21

Was zuletzt geschah:

Jonas‘ und Eriks erstes Date geht in die zweite Runde und treibt dabei die Wasserrechnung in beeindruckende Höhen. Allerdings ist nicht alles eitel Sonnenschein – völlig unabhängig vom Regen, der ungezähmt gegen die Fenster prasselt. Immer wieder bricht Jonas‘ Unsicherheit hervor und auch, wenn Erik ihm einen Teil davon nehmen kann, pflanzt Maria einen Gedanken in seinen Kopf, den er nicht los wird. Egal, wie sehr er das will.

 

Kapitel 21

Die ersten Worte, die Erik an Jonas richtete, nachdem dieser ihm die Tür geöffnet hatte lauteten: „Da klebt Kaugummi auf deiner Klingel.“

Angewidert verzog Jonas das Gesicht. „Schon wieder?“

„Passiert das häufiger?“

„Hm. Ich hab ‘ne Vermutung, wer’s is‘, aber eigentlich gehofft, es wär was Einmaliges. Hab ich mich wohl getäuscht.“ Jonas zuckte mit den Schultern, wollte nicht darüber nachdenken. „Naja, scheiß drauf. Essen is‘ gleich fertig.“ Er dirigierte Erik zu dem uralten Klapptisch aus Holz, den seine Eltern früher bei schönem Wetter in den Garten gestellt hatten, bevor er durch ein größeres Modell ersetzt worden war.

„Riecht gut“, bemerkte Erik.

„Schmeckt hoffentlich auch so.“ Obwohl sich bisher noch niemand beschwert hatte, war Jonas immer schrecklich nervös, wenn er zum ersten Mal für jemanden kochte. Er wollte zurück zu seiner Küchenzeile eilen, aber Erik griff seinen Ärmel und hielt ihn fest.

„Hast du nicht eine Kleinigkeit vergessen?“

„Hab ich? Ach so, deinen Mantel kannst d–oh!“ Eriks Lippen, die sich auf Jonas‘ legten, waren Erinnerung genug. „Wie dumm von mir“, nuschelte er. „Ich sollt aber wirklich mal die Soße …“

„Mhm.“ Erik knabberte an Jonas‘ Unterlippe.

„Wenn’s anbrennt, isses deine …“

„Mhm.“ Eine freche Zunge fand ihren Weg.

Ach, scheiß drauf! Jonas genoss den kühlen Körper, der sich an seinen schmiegte, die Finger, die seinen Nacken kraulten. Nur das lauter werdende Blubbern hinter ihm störte die friedliche Szene. Ein letztes Mal sog er den erdigen Duft ein, der ihm inzwischen so vertraut war, dann schob er Erik resolut von sich. „Jetzt aber wirklich. Setz dich endlich!“

„Hmm, na schön.“

Nachdem er sichergegangen war, dass Erik tatsächlich Platz genommen hatte und ihn nicht wieder ablenken würde, schmeckte Jonas ein letztes Mal die Soße ab, arrangierte alles auf schlichten, weißen Tellern und balancierte sie mitsamt der Gläser elegant zum Tisch. „Bitteschön. Semmelknödel in Schwammerlrahm.“ Er stutzte. Für eine Sekunde war ein Ausdruck über Eriks Gesicht gehuscht, den er nicht einschätzen konnte. „Nich‘ gut?“

„Doch, doch“, versicherte Erik rasch. „Sogar sehr gut. Das war … eines der Lieblingsgerichte meiner Mutter.“

„Oh.“ Kritisch beäugte Jonas sein Essen. Plötzlich wirkte der Knödel verformt, die Soße grau und die eilig darüber gestreute Petersilie lächerlich. „Das is‘ ‘ne harte Konkurrenz.“

„Eigentlich nicht“, erwiderte Erik. „Meine Mutter hatte viele Begabungen, aber Kochen gehörte nicht unbedingt dazu.“ Jonas bemühte sich, ihn nicht zu offensichtlich zu beobachten, als er den ersten Bissen probierte. „Mhm. Schmeckt fantastisch. Hast du das in eurem Restaurant gelernt?“

„Teilweise. Wirklich gelernt hab ich‘s aber, als Christine verkündet hat, dass sie kein Fleisch mehr essen mag. Da war sie zwölf oder so. Jedenfalls meinte meine Mum, dass sie da gern drauf verzichten kann, solang es ihr gefällt, sie ihr aber sicher nix extra machen wird. Nachdem sie sich dann ‘ne Woche lang von Käsebroten ernährt hatte, konnte ich mir das nich‘ länger mitansehen und hab zum Topf gegriffen.“

„Dann profitiere ich hier also gerade davon, dass du ein verantwortungsbewusster großer Bruder bist.“

„Und Christine ein unverbesserlicher Dickschädel. Ich glaub allerdings, dass das meinen Eltern ganz recht so war. Also, dass ich mich mehr mit Kochen beschäftigt hab. Wäre es nach ihnen gegangen, wäre ich direkt ins Familiengeschäft eingestiegen, aber … Naja, ich hatte eben andere Pläne und zum Glück unterstützen sie mich auch dabei. Vielleicht warten sie aber auch bloß drauf, dass ich einseh‘, dass das mit’m Fotografieren nich‘ klappt und zurückkomme.“ Er lächelte grimmig. „Du weißt schon … ‚Wer nix wird, wird Wirt‘ und so.“

„Mhm. Und wer nicht Wirt wird, wird Betriebswirt.“ Erik zwinkerte dem verblüfften Jonas verschwörerisch zu. „Mit Verlegenheitsentscheidungen kenne ich mich durchaus aus.“

„So war das nich‘ … Ich mein nur …“ Jonas seufzte. „Vielleicht rechne ich sogar selbst damit, dass ich im Kunstbereich nich‘ fußfassen werd. Ich hab mir jedenfalls noch nie wirklich Gedanken drum gemacht, was ich nach meinem Abschluss tun will.“

„Du bist gerademal im ersten Semester“, erwiderte Erik. „Es ist ganz normal, dass du noch keine Ahnung hast, was du nach dem Abschluss machen willst. Immerhin weißt du schon mal, in welche Richtung es gehen soll. Das ist mehr, als viele andere in deinem Alter sagen können.“

„Ach ja?“, fragte Jonas zweifelnd. „Was is‘ mit dir? Wusstest du in meinem Alter, was du willst?“

„Naja.“ Nachdenklich kaute Erik auf einem Bissen herum. „Ich dachte ich wüsste es. Medizin zu studieren war immer mein Traum und als mir klar wurde, dass ich der Belastung nicht gewachsen war, bin ich erstmal in ein ziemliches Loch gefallen. Jetzt habe ich zwar einen Abschluss und arbeite am nächsten, kann aber nicht wirklich behaupten, zu wissen, was ich vom Leben will.“

„Ehrlich?“, fragte Jonas überrascht. „Du wirst immer so, ähm, zielstrebig.“

„Wenn ich ein konkretes Ziel habe, ist das vielleicht auch so“, sagte Erik achselzuckend. „Aber ich habe kein konkretes Ziel. Keinen Zehn- oder auch nur Fünf-Jahres-Plan.“

Jonas lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Scheiße, weißt du eigentlich, wie beruhigend das is‘? Dass ich nich‘ der Einzige bin, der keinen Plan vom Leben hat?“

„Freut mich, wenn mein Leid dir weiterhilft“, stichelte Erik gutmütig.

„Mich auch.“ Jonas starrte auf seine Gabel. Ein Champignon rutschte in Zeitlupe zurück in die Soße. „Eigentlich könnte ich mir sogar vorstellen, im Apfelbäumchen zu kochen. Ich mach’s ja gern, auch für viele Leute. Aber … der Druck, das Familiengeschäft weiterzuführen … mit Allem, was dazugehört … Ich glaub, ich muss wenigstens ausprobieren, ob es nich‘ noch etwas Anderes für mich gibt.“

„Verstehe ich.“

„Themenwechsel!“, entschied Jonas. „Was is‘ deine Lieblingsfarbe?“

Erik wirkte ein wenig überrumpelt. „Ah … Grau.“

„Grau? Wessen Lieblingsfarbe is‘ denn bitteschön Grau?“

„Meine. Offensichtlich.“

„Scheiße, du hast mir mal gesagt, du magst deine Welt bunt. Und dann sagst du ‚Grau‘? Wie passt das denn zusammen?“

„Ich mag meine Welt bunt“, erwiderte Erik, sein Ton irgendwo zwischen gereizt und amüsiert, „aber ich habe keine Farbe, die ich bevorzuge. Grau ist“, er neigte den Kopf, überlegte, „unauffällig. Es sticht selbst nie heraus, aber unterstützt alle anderen Farben. Lässt sie leuchten. Das gefällt mir.“

Jonas stöhnte. „Wie schaffst du‘s eigentlich, jede noch so scheißbillige Frage in was Philosophisches zu verwandeln?“

„Du wolltest es wissen!“, protestierte Erik.

„Jaah, aber … Da sagt man dann sowas wie ‚weiß nich‘‘, oder ‚is‘ halt schön grell‘, oder so.“

„Was ist denn deine Lieblingsfarbe?“

„Weiß nich‘“, gestand Jonas.

„Also das ist jetzt enttäuschend.“

„Nee, ich mein … Ich weiß nich‘ so ganz, wie ich‘s beschreiben soll. Es is‘ keine wirkliche Farbe, sondern … ähm … die Veränderung von Farbe.“

„Mhm. Aber ich bin philosophisch.“

Verlegen rieb Jonas über seine geröteten Wangen.

„Also?“, hakte Erik nach. „Jetzt musst du das schon näher erklären.“

„Ähm … also … Ich versuch’s mal. Aber du darfst nich‘ über mich lachen!“

„Würde ich nie.“

„Natürlich nich‘ …“

„Versprochen.“

„Bitte! Dann versuch ich halt, den Scheiß zu erklären.“ Theatralisch rollte Jonas mit den Augen. „In unserem Garten, also dem Garten meiner Eltern, steht ein Apfelbaum und solange ich denken kann, hat es mich total fasziniert, wie sich seine Blätter über’s Jahr verändern. Du weißt schon, schneebedeckt, frischgrün, weiße Blüten, rote Äpfel, buntes Herbstlaub und wieder kahl. Immer dasselbe und trotzdem immer anders. Keine Ahnung, wie ich das besser ausdrücken soll, aber ich glaub, es gibt nix Spannenderes für mich, als dieses Wechselspiel.“ Jonas schnaubte frustriert. „Und ja, das klingt aufgeblasen und pseudophilosophisch. Und is‘ eigentlich ‘ne Themaverfehlung, weil‘s ja die Frage nach der Lieblingsfarbe nich‘ beantwortet. Und …“ Den Blick gesenkt, die Hände um sein Besteck gekrampft, verstummte er. Irgendwann im Laufe seiner Erklärung war die Stimmung gekippt. Er fühlte sich dumm, wegen einer Frage, die er selbst gestellt hatte. Wenn das nicht armselig war.

„Jonas?“ Eriks Stimme war leise, als fürchtete er, ihn zu verschrecken. „Was ist los?“

„Ich …“ Weiß es nicht. Jonas strich mit dem Handrücken über seine viel zu heißen Wangen. Er musste glühen. Mal wieder. „Fuck, irgendwie hab ich wohl einfach ständig das Gefühl, mich dir beweisen zu müssen. Als wäre ich nich‘ gut genug. Zu jung, zu dumm, zu … keine Ahnung.“

Erik runzelte die Stirn. „Woher kommt dieses Gefühl?“

„Ich hab keine Scheißahnung!“, schnappte Jonas. Er seufzte, nahm sich einen Moment Zeit, seine Gedanken zu ordnen und zu formulieren, was bisher nur ein vages Gefühl gewesen war. „Vielleicht hast du mich einfach einmal zu oft zurückgewiesen.“ Erik öffnete den Mund zu einer Erwiderung, aber Jonas schüttelte den Kopf. „Warte, ich … ich muss das mal aussprechen und dann können wir drüber reden, ja? Aber wenn ich’s jetzt nich‘ sag, dann tu ich’s nie und das wird irgendwann sicher ‘n Problem. Scheiße, es is‘ ja jetzt grad schon ‘n Problem.“

Mit einer Geste bedeutete Erik Jonas fortzufahren.

„Manchmal … da fühl ich mich dir gegenüber wie ein verfickter Bittsteller. Ich mein, denk nur mal dran, wie wir uns überhaupt kennengelernt haben. Ich hab mich auf ‘nen Job beworben. Den ich dann noch nich‘ mal bekommen hab! Und … und … das nächste Mal dann im Tix. Ich hab dich geküsst, was verfickt noch mal echt scheißviel Mut verlangt hat und du hast ‚Nein‘ gesagt.“ Jonas sah, dass Erik protestieren wollte und fügte rasch hinzu: „Ja, ja, ich versteh deine Gründe dafür. So is‘ das nich‘, aber es war halt erst mal Ablehnung. Und wenn ich nich‘ so hartnäckig gewesen wär, wär ich an dem Abend allein nach Hause gegangen. Und da wir grad dabei sin‘ … Diese ganze Geschichte in dieser Nacht. Ich hab einfach bloß versucht, das zu tun, wovon ich dacht, dass du’s erwartest. Hast du nich‘, aber das Gefühl du würdest es, war halt da. Und is‘ irgendwie nie wirklich weggegangen und … Fuck!“ Erst jetzt merkte Jonas, wie viel sich in den vergangenen Monaten bei ihm angestaut hatte. „Ich mein, ich musste dich praktisch anflehen, mir noch mal ‘ne Chance zu geben und es is‘ echt beschissen für’s Selbstwertgefühl, wenn man drum betteln muss gefickt zu werden … Und jetzt die ganze Geschichte neulich … Ich gesteh dir meine Gefühle und du schickst mich weg. Nur um mir dann nachzulaufen, damit du mir erklären kannst, dass du zwar irgendwie auch was für mich empfindest, aber wirklich ganz sicher keine Beziehung mit mir willst. Dann flehe ich dich an, dir das noch mal zu überlegen – schon wieder, übrigens – und du lässt dir ‘ne komplette Woche Zeit, um zu entscheiden, ob ich auch gut genug für dich bin und … Jetzt hab ich ständig das Gefühl, auf deine Gnade angewiesen zu sein und wart nur drauf, dass du entscheidest, ich sei halt doch unter deiner Würde!“ Jonas atmete tief aus und hoffte, dass sich das Zittern seiner Hände bald beruhigte. „Ich glaub, das war erst mal Alles.“

Das Schweigen zwischen ihnen wog zentnerschwer und Jonas hatte das Gefühl, aller Sauerstoff in seiner Wohnung sei aufgebraucht worden. „Ich mein, ich versteh dich schon auch“, krächzte er. „Ich bin viel jünger als du und in praktisch allem völlig unerfahren. Ich bin impulsiv, überemotional und vermutlich nich‘ die hellste Kerze auf der Torte. Und ich hab Angst vor meiner eigenen Sexualität. Oder kann sie zumindest nich‘ voll akzeptieren … Oder sie offen zeigen. Ich bin … Ich …“

„Es tut mir leid.“ Lange Zeit war das das Einzige, das Jonas von Erik hörte. Irgendwann fügte er hinzu: „Ich habe nicht darüber nachgedacht, wie du dich bei der ganzen Sache fühlen musst.“

Jonas‘ Zorn war verraucht, aber seine Unsicherheit blieb. Ein Teil von ihm rechnete damit, dass Erik jeden Augenblick aufstehen und diesen Versuch für gescheitert erklären würde. Und hätte er nicht recht? Machte Jonas etwas potenziell Wunderbares nicht gerade kompliziert, nur, weil Maria ein paar kritische Worte angebracht hatte? „Sorry, ich wollt nich‘ so’n Fass aufmachen.“

Langsam schüttelte Erik den Kopf. „Es ist gut, dass du es angesprochen hast. Ich wünschte nur, du hättest mich nicht erst mit der Nase darauf stoßen müssen, wie unfair ich mich dir gegenüber verhalten habe.“

„Du hast nich‘–“

„Doch, Jonas. Ich habe mich unfair verhalten“, unterbrach Erik ihn. „Ich hatte Angst, verletzt zu werden und habe stattdessen dich verletzt.“

Ohne darüber nachzudenken, rutschte Jonas von seinem Stuhl auf Eriks Schoß und schloss ihn in die Arme.

Erik seufzte. „Dass meine erste Beziehung nicht besonders toll war, habe ich schon mal erzählt, oder?“

„Du hast es zumindest angedeutet“, antwortete Jonas und verkniff sich jede Nachfrage.

„Aus Angst, dass mir das jemals wieder passieren könnte, habe ich angefangen mich sehr frühzeitig von Menschen zu trennen, die mir nicht guttun.“

„Was ja erstmal nix Schlechtes is‘, oder?“

„Nein, vermutlich nicht“, stimmte Erik zu. „Nur … Mit den Jahren und ein paar anderen unglücklichen Erfahrungen, wurden diese Grenzen immer enger. Plötzlich gab es da all diese Regeln und Bedingungen, die jemand erfüllen musste, damit ich denjenigen überhaupt näher an mich ranlasse.“ Er lächelte freudlos. „Muss ich erwähnen, dass die Zahl derjenigen, die das geschafft haben, gegen Null geht? Naja, und dann“, seine Finger strichen durch Jonas‘ Haar, „kamst du und hast an meinen selbsterrichteten Zäunen gezerrt. Und es war so viel einfacher, dich die ganze Arbeit machen zu lassen, während ich selbst in meiner Komfortzone gesessen habe und entscheiden konnte, ob ich die Zäune einfach wieder aufstellen oder dich weitermachen lassen soll. Ich habe dich übernehmen lassen, was eigentlich meine Aufgabe gewesen wäre.“

„Also … willst du das hier wirklich?“, fragte Jonas schüchtern. „Du willst … mich?“

„Natürlich!“

„Ich bin dir nich‘ einfach bloß lange genug auf den Sack gegangen?“

„Nein, das–“

„Und“, unterbrach Jonas ihn, „es is‘ auch nich‘ so, dass du‘s schlicht genießt, wenn ich“, er zögerte, musste die Worte, die ihn so schwer getroffen hatten aussprechen, „wenn ich dir wie ein treudoofes Hundchen hinterherlaufe, das alles mit sich machen lässt, solang du manchmal lieb zu mir bist?“

Erik schob Jonas von sich, bis dieser vom Stuhl rutschte und starrte ihn aus weit aufgerissenen Augen an.

„Sorry, das war nich‘–“

„Fühlt es sich so für dich an?“ Ein Hauch Panik schwang in Eriks Stimme mit.

„Nein.“ Jonas schüttelte den Kopf und wiederholte noch einmal bestimmter: „Nein! Gar nich‘. Das war nur ein blöder Floh, den mir jemand ins Ohr gesetzt hat.“

„Aber er scheint einen Nerv getroffen haben“, erwiderte Erik skeptisch. „Im Ernst, wenn sich das für dich so anfühlt, dann müssen wir darüber reden. Das sollte so nicht …“ Er holte tief Luft. „Was kann ich ändern?“

„Ich glaub …“ Jonas trat auf der Stelle, unsicher, ob er sich auf seinen eigenen Stuhl setzen sollte, oder es wagen konnte, sich wieder an Erik zu kuscheln. „Ich weiß einfach nich‘ so wirklich, was du an mir findest. Und … Und es gibt da so offensichtlichen Scheiß, der bei mir schiefläuft, den du noch nich‘ mal angesprochen hast. So, als wär’s dir eh scheißegal. Als würdest du damit rechnen, mich sowieso bald abzuschießen.“

„Das tue ich ganz sicher nicht“, beteuerte Erik. Zögerlich streckte er den Arm nach Jonas aus und entspannte sich sichtlich, als dieser die Geste erwiderte, sachte die ihm angebotene Hand drückte.

Jonas entschied, noch einen Schritt weiterzugehen und sank erneut auf Eriks Schoß. Das Gesicht gegen dessen Brust gedrückt nuschelte er: „Wenn du da bist, bei mir sitzt, dich mit mir unterhältst … mich küsst … Dann hab ich keine Zweifel. Aber danach, wenn ich zu viel Zeit zum Nachdenken hab. Dann frag ich mich manchmal, was du eigentlich mit jemandem wie mir willst.“

„Tröstet es dich, wenn ich dir verrate, dass ich mir dieselbe Frage nur umgekehrt stelle?“

„Nee“, murrte Jonas. „Ich weiß ja schließlich, was ich an dir hab. Kann ja nix dafür, dass dein Selbstbewusstsein für’n Arsch is‘.“

„Ah, charmant wie immer.“ Spielerisch zwickte Erik in Jonas‘ Ohr, der ihm dafür auf die Finger klopfte. „Weißt du, was das Erste war, das mir an dir aufgefallen ist?“

„Mein Hang zur Unpünktlichkeit?“, schlug Jonas vor und Erik lachte.

„Ja, okay, das auch. Aber eigentlich war es deine direkte Art.“

„Du meinst, meine Unfähigkeit, wenigstens mal fünf Minuten mein Maul zu halten. Nich‘ mal bei ‘nem Vorstellungsgespräch.“

„Genau. Ich weiß, dass du denkst, du seist zu laut und – wie hast du es vorhin genannt – überemotional? Aber genau das gefällt mir an dir. Du bist ehrlich und direkt und lässt die Welt wissen, was du von ihr hältst. Das ist etwas Gutes!“

„Okaaay …“, sagte Jonas zweifelnd. „Was war das Zweite, das dir an mir aufgefallen is‘?“

„Jetzt betreibst du aber fishing for compliments“, tadelte Erik amüsiert.

„Gar nich‘!“, protestierte Jonas, konnte sich ein schmales Lächeln aber nicht verkneifen.

„Mhm. Na schön. Das Zweite, das mir an dir aufgefallen ist, ist …“

Jonas keuchte.

Eriks Zunge kitzelte seinen Hals, widmete sich der empfindsamen Stelle unterhalb seines Ohrs. „Wie sensibel du auf meine Berührungen reagierst“, raunte er. „Und welche wundervollen Geräusche du dabei von dir gibst. Au!“ Er rieb über seinen Oberarm. „Das habe ich jetzt davon, dass ich dir die Wahrheit gesagt habe.“

„Ganz toll!“, beschwerte sich Jonas. „Jetzt weiß ich, dass du’s witzig findest, dass ich meine Fresse nich‘ halten kann und, dass du ‘n notgeiler Bock bist!“

„Außerdem verteilst du die schönsten Komplimente“, entgegnete Erik trocken. „Lass mich dir noch sagen, was mir als Drittes an dir aufgefallen ist.“

„Mein Arsch?“

Erik schmunzelte. „Der erhält einen Sonderplatz. Das Dritte, das mir an dir aufgefallen ist, ist deine Herzlichkeit. Ich weiß nicht, wann mir das letzte Mal ein so fürsorglicher und warmherziger Mensch begegnet ist. Du bist hilfsbereit, neigst dazu, das Wohl anderer über dein eigenes zu stellen und gehst offen auf neue Menschen zu.“

Jonas‘ Wangen glühten, verschämt drückte er sein Gesicht in Eriks Halsbeuge. „Scheiß Schleimer.“

„Vielleicht war ich bisher nicht deutlich genug“, erwiderte Erik. „Ich mag dich. Sehr. Und mein Zögern, das zwischen uns mehr als eine Affäre werden zu lassen, hatte nur sehr, sehr wenig mit dir als Person und dafür eine Menge mit meinen Verlustängsten zu tun.“

„Also hatte es etwas mit mir zu tun!“ Einen Augenblick lang empfand Jonas Triumph, bis ihm bewusstwurde, was das bedeutete. „Was stört dich denn an mir?“

Das ist es, was du aus meinen Worten rausgehört hast?“ Erik schüttelte den Kopf. „Wills du mir nicht lieber erst mal verraten, welcher ‚offensichtliche Scheiß‘ bei dir schiefläuft, den ich angeblich ignoriere?“

„Ich weiß nich‘ …“ Jonas zögerte. „Muss dich ja nich‘ grad mit der Nase drauf stoßen.“

„Wird nur schwierig, eine Lösung zu finden, wenn du es nicht machst.“

„Jaah, wahrscheinlich.“ Unruhig wand sich Jonas auf Eriks Schoß, dachte nach. „Isses ein Problem, dass ich so viel jünger bin als du?“

Überrascht hob Erik die Brauen. „Für mich? Nein. Wir reden hier von gerade mal sechs Jahren.“

„Sechseinhalb“, korrigierte Jonas.

„Verzeihung. Sechseinhalb Jahre. Bei dir klingt das, als stünde ich kurz vor der Berentung. Stört dich der Unterschied?“

Eilig schüttelte Jonas den Kopf. „Nee, eigentlich nich‘.“

„Und uneigentlich?“

„Auch nich‘!“

„Okay, dann ist das doch schon mal aus dem Weg. Was noch?“

„Ich bin scheißarm. Du nich‘.“

„Und?“

„Ich fühl mich unwohl, wenn du mich immer einlädst. Aber wenn ich alles selber zahl, müssen wir uns einschränken.“

„Hm. Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht“, gab Erik zu. „Ich habe kein Problem damit, dich einzuladen, aber ich verstehe schon, dass das ein blödes Gefühl sein kann. Da finden wir doch sicher einen Mittelweg? Zum Beispiel …“ Erik tippte gegen sein Kinn, tat als überlegte er angestrengt. „Ich lade dich gelegentlich zum Essen ein, dafür kochst du hin und wieder für mich. Deal?“

Jonas grinste breit. „Deal.“

„Sehr gut. Was noch?“

Das Lächeln verschwand aus Jonas‘ Gesicht und er schaffte es nicht, Erik in die Augen zu sehen. „Ich bin zu feige, mich zu outen.“

„Ich dachte, du hättest es deiner Schwester erzählt. Und einer Kommilitonin. Und Maria.“

„Jaah, denen schon“, murmelte Jonas. „Aber halt sonst keinem. Und ich hab auch keine Ahnung, wann und wie … Ich mein, allein bei dem Gedanken, dass meine Eltern erfahren könnten, dass ich … schwul bin … Dann wird meine Brust scheißeng und ich kann nich‘ richtig atmen und …“ Seine Finger gruben sich in Eriks Schultern, suchten Halt und Beistand. „Ich mein … wie zum Fick soll das mit uns laufen, wenn ich noch nich‘ mal …“ Er stockte.

„Wenn du nicht zu mir stehen kannst?“, fragte Erik ruhig.

Stumm nickte Jonas, kämpfte gegen den Kloß in seinem Hals.

Das ist tatsächlich etwas, worüber ich nachdenken musste, bevor ich dich angerufen habe.“

„Musstest du?“, fragte Jonas zerknirscht und zwang sich, den Blick zu heben. „Und? Was is‘ dabei rausgekommen?“

„Dass ich ein Date mit dir will.“ Aufmunternd wuschelte Erik durch Jonas‘ Haar.

„Hey!“ Jonas schlug Eriks Hand weg. „Ich bin doch kein Scheißköter.“

„Nein? Aber du hast diese großen, dunklen Augen, die mich gerade so traurig ansehen.“ Ein wenig ernster fuhr Erik fort: „Jeder sollte für sich und in seinem Tempo entscheiden, wann und wem gegenüber er sich outen möchte. Ich werde dir nie in irgendeine Richtung Druck machen.“

„Ich höre ein ‚Aber‘“, flüsterte Jonas.

Aber ich muss gestehen, dass ich mich nicht auf dich eingelassen hätte, wenn du nicht schon einen Anfang gemacht hättest. Hast du aber und es ist in Ordnung für mich, dich auf diesem Weg zu begleiten, auch, wenn er langwierig werden sollte.“

„Okay …“

Zärtlich küsste Erik Jonas‘ Schläfen, vergrub die Nase in seinem Haar. „Es ist in Ordnung“, wiederholte er. „Fühl dich bitte nicht unter Druck gesetzt. Und falls sich etwas ändert, falls ich merke, dass es mir doch schwerer fällt als ich dachte, sprechen wir noch mal darüber.“

„Okay“, sagte Jonas ein wenig zuversichtlicher.

„Sehr gut. Was noch?“

„Ich glaub … das war’s erst mal.“ Jonas‘ Lippen streiften Eriks. „Danke. Das … das hat doch ‘n paar Ängste genommen. Ähm …“ Gedankenverloren spielte er mit Eriks Hemdknopf. „Ich hab da vorhin ziemlich drübergebügelt, als du gesagt hast, dass du dich auch manchmal unsicher fühlst. Aber ich will schon wissen, woran das liegt und … und was ich tun kann, damit‘s besser wird.“

Erik lächelte, aber die schmale Sorgenfalte zwischen seinen Brauen wollte nicht verschwinden. „Ich fürchte, das ist nichts, das ich konkret benennen kann. Manchmal, da“, er suchte nach Worten, „da zweifle ich einfach, ob ich dir guttue.“

„Äh, was?“, fragte Jonas irritiert. „Wie kommst du’n darauf?“

„Du hast dich vor wenigen Minuten noch als geprügeltes Hündchen bezeichnet, das seinem Herrn hörig ist“, entgegnete Erik schlicht. „Wie kann ich bei so einem Vergleich nicht darauf kommen?“

„Das war doch … Ach, scheiße!“ Jona‘ Fingerspitzen streiften über Eriks glattrasierte Wange. „Ich geb ja zu, dass ich mich dir manchmal unterlegen fühl und deine Bestätigung suche. Weil du immer so ruhig bleibst. Und scheinbar dein Leben voll im Griff hast. Und immer die richtigen Worte findest. Und … Und so scheiße es für mich is‘, das zuzugeben, aber ich glaub, dass du das ausnutzen könntest. Aber!“, sagte er, bevor Erik eine Chance hatte, ihn zu unterbrechen. „Aber ich weiß, dass du das nich‘ tun wirst.“ Die Hände, die sich auf Jonas‘ Rücken legten und ihn so fest gegen den warmen Körper vor ihm pressten, dass ihm beinahe die Luft wegblieb, zeigten ihm, dass seine Worte einen Nerv getroffen hatten.

„Vielleicht wäre alles einfacher, wenn wir nicht so holprig gestartet hätten“, sagte Erik.

„Vielleicht“, räumte Jonas ein. „Aber ums mit den Worten meiner Mum zu sagen: ‚Für den Scheiß, der sich wirklich lohnt, muss man hart arbeiten.‘ Okay, sie hat nich‘ ‚Scheiß‘ gesagt, aber du verstehst, worauf ich hinauswill. Lieber starte ich jetzt ‘n bissl rucklig und hab danach für immer Zuckerwatte und Regenbögen und den ganzen Rotz, als dass alles toll anfängt und dann später in Scheiße ertrinkt.“

„Hm.“

„Außerdem“, sagte Jonas, „finde ich, dass sich das mit uns eigentlich ziemlich gut anfühlt. Ich wüsst‘ jedenfalls nich‘, mit wem ich den Tag grad lieber verbringen würd.“

Endlich zeigte sich ein ehrliches Lächeln auf Eriks Gesicht. „Zugegeben, mir fallen da gerade auch keine anderen Kandidaten ein.“

Jonas lehnte seine Stirn gegen Eriks und fragte sich, ob sie es schaffen würden. Laut sagte er: „Ich glaub, ich muss unser Essen nochmal aufwärmen.“

 

 

Kapitel 22

Was zuletzt geschah:

Während Eriks und Jonas‘ zweitem Date, kommen nicht nur Semmelknödel mit Schwammerlsoße auf den Tisch. Jonas zieht den Splitter, den Marias Worte in ihm hinterlassen haben heraus und mit ihm sprudeln jede Menge Ängste und Sorgen ins Freie. Ein paar davon lassen sich noch an Ort und Stelle beseitigen, andere sind leider hartnäckiger.

 

Kapitel 22

Die Sonne stand tiefer, die Schatten waren länger und der Duft nach frisch gekochtem Essen hing in Jonas‘ Wohnung.

„Satt?“, fragte er.

Wohlig brummend streckte sich Erik. „Mhm.“

„Trifft sich gut. Es is‘ nämlich nix mehr da.“ Erik hatte keinen Krümel, keinen noch so kleinen Fleck Soße auf seinem Teller gelassen und auch die Töpfe waren leergekratzt. Mehr als zufrieden mit diesem Ergebnis, stapelte Jonas das Geschirr in der Spüle.

„Warte, ich helfe dir“, bot Erik an. „Ich muss erst in einer halben Stunde los.“

Jonas schob Eriks Hand, die nach dem weiß-blau-kariertem Trockentuch gegriffen hatte zur Seite. „Lass mal, das mach ich später selbst.“

„Zu zweit geht’s schneller.“ Erik angelte erneut nach dem Tuch.

„Nee, wenn wir bloß noch ‘ne halbe Stunde miteinander haben, will ich die anders verbringen.“ Jonas nahm ihm das Tuch wieder ab. „Musst du echt während der kompletten Öffnungszeiten da sein? Obwohl du eigentlich nix mit dem laufenden Betrieb zu tun hast? Ich mein, is‘ ja nich‘ so, als würdest du hinter der Bar stehen oder wärst für die Technik verantwortlich oder so. Und jetzt isses grade mal Viertel nach sieben, ihr macht doch erst um neun auf?“

„Normalerweise fange ich nicht so früh an“, gab Erik zu „aber wir haben heute Teambesprechung und da sollte ich pünktlich sein. Außerdem bin ich erster Ansprechpartner, wenn etwas schiefgeht. Kaputte Geräte, für die irgendwie, irgendwo schnell Ersatz aufgetrieben werden muss und unseren Technikern die Ideen ausgegangen sind, Engpässe bei Getränken, spontan ausfallende Angestellte, sonstige Katastrophen. Polizei- und Notarzteinsätze …“

„Habt ihr sowas öfter?“

„Oft genug, um als ‚regelmäßig‘ bezeichnet zu werden.“

„Ätzend. Ich hab ja bei meinen Eltern mitbekommen, was da so spontan alles für Scheiß anfallen kann, aber son Club mitten in Berlin is‘ wahrscheinlich noch ‘ne ganze Ecke härter.“

Erik lächelte schief. „Naja, es geht schon. Ganz am Anfang habe ich versucht, den Verwaltungskram zu etwas alltäglicheren Uhrzeiten zu bearbeiten und nachts nur noch als Notfallkontakt zur Verfügung zu stehen. Das hat dann allerdings dazu geführt, dass ich im Schnitt dreimal pro Woche irgendwann Mitten in der Nacht im Club aufschlagen durfte und statt eines Zehnstundentags eher irgendwo bei sechzehn lag. Also habe ich mich angepasst. Jetzt arbeite ich eben größtenteils nachts, dann bin bei Notfällen auch gleich vor Ort. Ist angenehmer für alle Parteien.“

„Und … Irgendwann dazwischen studierst du noch?“

„Ist ja nur Teilzeit“, erwiderte Erik achselzuckend und zog das Trockentuch zu sich. „Und gerade, weil ich nachts arbeite, habe ich keine Probleme damit, dass sich meine Vorlesungen zeitlich mit dem Job überschneiden. Die Prüfungszeit ist ein bisschen härter, aber normalerweise geht das schon irgendwie.“

„Solang ich nich‘ deine ganze Freizeit belege …“

Auch dafür hatte Erik nur ein Schulterzucken übrig. „Das ist dann meine Entscheidung und nicht deine.“

Resolut schob Jonas Erik von der Spüle weg, rupfte ihm das Tuch aus der Hand und warf es hinter sich. „Dann will ich die verbleibende Zeit wenigstens gescheit nutzen! Also nimm endlich deine Bratzen von diesem verfickten Tuch und leg sie lieber auf mich.“

Das schmale Lächeln, das sich auf Eriks Gesicht stahl, jagte einen Schauer über Jonas‘ Rücken. „So? Wohin denn genau?“

„Ähm … Naja … Hier so …“ Vage gestikulierte Jonas zu seinen Hüften. „Oder wohin du sonst so willst.“

Da so klingt erst mal ganz gut“, raunte Erik. Seine Fingerspitzen streiften Jonas‘ Kapuzenpulli, so sachte, dass Jonas lediglich die Bewegung des Stoffs auf seiner Haut wahrnahm. Selbst dieser winzige Reiz genügte, um seine Lippen zu einem stillen Stöhnen zu öffnen. Ein Stöhnen, das ihm Eriks Worte, wie empfindlich er auf Berührungen reagiere ins Gedächtnis rief. Verschämt schloss er den Mund wieder.

„Nicht doch“, tadelte Erik leise. „Versuchst du gerade wirklich, diese wundervolle Reaktion zu unterdrücken, nur, weil du weißt, dass sie mir gefällt?“

„Will nich‘ so scheißvorhersehbar für dich sein“, murrte Jonas, erneut an der Schwelle zu einem Stimmungswechsel, den er selbst nicht verstand. Aber immerhin hatte er den Hauch einer Idee, was ihn verursacht haben könnte. „Ähm … Erik?“

„Hmm?“ Eriks Brummen vibrierte gegen Jonas‘ Ohr, gegen sein Inneres.

Jonas drehte den Kopf und versuchte, seine Gedanken zu klären. „Können wir … Ähm …“

„Was ist los?“ Plötzlich Sorge statt Lust, der Griff um Jonas‘ Hüften nicht länger neckend, sondern stützend.

„Alles super!“, beteuerte Jonas schnell. „Nur … ähm … Können wir …“ Er hatte keine Ahnung, wie er seinen Wunsch ausdrücken sollte, ohne sich lächerlich zu machen. Ohne Erik zu verletzen.

„Können wir was?“, hakte Erik nach. „Aufhören?“

„Nein! Nein, das …“ Jonas schloss die Augen, lehnte die Stirn gegen Eriks Schulter. „Kannst du … ähm … etwas …“, ein schüchternes Flüstern, „weniger dominant sein?“

„Weniger dominant?“

„Äh, ja. Du, äh, weißt schon … nich‘ so … so …“ Hilflos wedelte Jonas mit den Armen. Es war schwierig, etwas in Worte zu fassen, das man selbst kaum begriff.

Erik nahm ihm diese Notwendigkeit ab. „Natürlich kann ich das.“ Er klang entspannt, aber seine Muskeln verhärteten sich unter Jonas‘ Fingerspitzen.

„Sorry, ich weiß, wie paradox das is‘“, murmelte Jonas. „Ich wollt ja immer, dass wir … Und ich steh da auch drauf. Immer noch. Aber …“

„Du musst das nicht erklären. Oder entschuldigen.“

Jonas versuchte laut und sicher zu sprechen und zwang sich, Erik dabei anzusehen. „Du sollst bloß nich‘ denken, dass du was falsch gemacht hast. Hast du nich‘! Es is‘ nur … Ich … Ähm … Fuck!“ Frustriert ballte er die Hände zu Fäusten. „Ich würd’s dir so gern erklären, aber ich find grad nich‘ die richtigen Worte!“

Erik zeigte ein Lächeln, nicht breit, nicht übermäßig glücklich, aber zu Jonas‘ Erleichterung wirkte es echt. „Ich sage es noch einmal: Du musst das nicht erklären.“ Nach einer kurzen Pause, in der er sein Gewicht von einem Bein auf das andere verlagerte, fuhr er fort. „Um ehrlich zu sein, bin ich sogar froh, dass du das Thema angesprochen hast.“

„Bist du?“

„Mhm. Ich bin durchaus gerne dominant im Bett und ich habe jedes unserer Treffen voll und ganz genossen, aber …“

Jonas hob den Kopf. „Aber?“

„Ich bin mir nicht sicher, ob ich unser gesamtes Sexleben darauf aufbauen will.“

„Oh. Okay.“

„Ist das in Ordnung?“

„Ja!“, versicherte Jonas eilig. „Klar. Ich mein, das is‘ ja das, was ich grad auch gesagt hab, oder? Also … zumindest so irgendwie? Erstmal etwas weniger, äh, du weißt schon und etwas mehr … Augenhöhe?“ Ein verschlagenes Lächeln schlich sich auf seine Lippen. „Oder … Wir tauschen mal die Rollen.“

Erik hob eine Braue. „Tun wir das?“

„Japp.“ Jonas deutete auf sein Bett. „Ausziehen und hinlegen.“

Die Sekunden zogen sich und Jonas begann zu fürchten, Erik könnte seine Anweisung in den falschen Hals bekommen haben, als dieser die Hände zur Brust hob und gemächlich den obersten Knopf seiner Weste öffnete. Bald flatterte sie zu Boden und er widmete sich seinem Hemd.

Mit angehaltenem Atem beobachtete Jonas die geschickten Finger, die sich Knopf um Knopf vorarbeiteten, Zentimeter um Zentimeter nackter Haut entblößten. Anders als Jonas, war Erik weder nervös noch übereifrig. Er nahm sich Zeit, zelebrierte die Entblößung seines Körpers.

„Scheiße, hattest du mal ‘nen Nebenjob als Stripper oder so?“

„Nur viele Jahre Erfahrung im An- und Ausziehen meiner Kleidung.“ Der letzte Knopf sprang auf, das Hemd gesellte sich zur Weste. Jonas‘ Lippen kribbelten, wollten kosten, was seine Augen sahen.

„Soll ich weitermachen?“, fragte Erik.

„Was denkst du denn?“

„Dass du davor eventuell die Vorhänge schließen möchtest. Ich bin nicht schüchtern, aber …“

„Fuck!“ Jonas hetzte zum Fenster und riss so fest an den Vorhängen, dass die daran festgenähten Fotoanhänger klimperten. „Sorry.“

„Kein Problem.“ Erik kehrte Jonas den Rücken zu, löste seinen Gürtel, ließ die Jeans über seine Hüften rutschen und schaffte es irgendwie, Hose und Socken mit einer einzigen, eleganten Bewegung loszuwerden.

Jonas‘ Aufmerksamkeit galt den dunklen Shorts, die sich an Eriks verlockenden Hintern schmiegten und den Daumen, die sich in den Bund hakten, um sie langsam nach unten zu schieben. „Warte!“ Jonas‘ Lippen fanden Eriks Nacken, genossen das Kitzeln der feinen Härchen, während seine Hände den Körper erkundeten, den Erik ihm viel zu lange vorenthalten hatte. „Das mach ich lieber selbst.“

„Mhm. Keine Einwände.“

Mit Genugtuung registrierte Jonas das Verlangen in Eriks Stimme, seinen beschleunigten Atem. Schrittweise drängte Jonas ihn zum Bett, immer wieder unterbrochen von Momenten, in denen sie sich zu wenig auf ihre Füße und zu sehr auf andere Dinge konzentrierten.

„Leg dich hin und zieh das da“, abfällig tippte Jonas gegen Eriks Shorts, „endlich aus.“

„Ich dachte, du wolltest das machen.“ Herausfordernd zupfte Erik am Stoff, zog ihn einige Zentimeter herunter, stoppte, warf Jonas einen auffordernden Blick zu. „Na, was ist?“

Zur Antwort schubste Jonas Erik aufs Bett und sprang hinterher.

Knack!

„Fuck! Dieser scheißbillige Lattenrost!“ Jonas realisierte, dass das plötzliche Beben, das durch Eriks Körper ging kein Zeichen von Erregung war, sondern er sich alle Mühe gab, nicht in Gelächter auszubrechen. „Jaja, lach du nur du Arsch. Is‘ ja nich‘ dein Bett.“

„‘Tschuldige“, würgte Erik kichernd hervor. „Sollen wir uns den Schaden mal ansehen?“

„Nope“, entschied Jonas. „Ich will lieber was Andres angucken.“ Seine Fingerspitzen strichen über Eriks noch immer verborgene Erektion und er entschied, es als Kompliment zu betrachten, dass die kurze Unterbrechung keinerlei Einfluss auf darauf genommen hatte. Bereitwillig hob Erik die Hüften, um endlich aus seinen Shorts befreit zu werden.

Spielerisch erkundete Jonas die samtene Haut seines Glieds, betrachtete den klaren Tropfen an der Spitze, der jeden Moment zu fallen drohte. Er leckte sich über die Lippen. „Du hast nich‘ zufällig Gummis dabei?“

„Nur im Auto und das steht schon in der Garage neben dem Tix. Hast du keine hier?“

Jonas schüttelte den Kopf, starrte wie hypnotisiert auf den Tropfen; wollte ihn schmecken, die Textur nicht nur mit seinen Fingern, sondern seiner Zunge erkunden. Erik hatte selbst zugegeben, dass das Ansteckungsrisiko gering und er ein wenig paranoid war. Zumal er sich regelmäßig testen ließ und Jonas nicht wirklich die Gelegenheit gehabt hatte, sich etwas einzufangen. Sollte er einfach …? Energisch schob Jonas die Idee zur Seite. Da konnte er diese Beziehung auch gleich für beendet erklären. „Dann musst du dich mit Handbetrieb zufriedengeben.“

„Ich denke, damit kann ich leben.“

Mit pochendem Herz hockte sich Jonas auf Eriks Oberschenkel und fixierte sie mit seinem Gewicht auf dem Bett. Er genoss das Zittern unter ihm, die erstickten Laute, irgendwo zwischen Lachen und Ächzen, die Ruhe, mit der er sich diesem wunderbaren Körper widmen konnte.

Jonas nahm sich Zeit. Flüchtige Berührungen, zarte Streicheleinheiten, Fingernägel, die die empfindliche Penisspitze umkreisten und Laute aus Erik hervorlockten, die er noch nie zuvor von diesem gehört hatte. Wäre es nach Jonas gegangen, hätte er dieses Tempo stundenlang beibehalten können. Aber sie hatten keine Stunden und allmählich genügte sein Körpergewicht nicht mehr, um die ungeduldigen Hüften unter ihm zu bändigen.

„Küss mich“, bat Erik und auch wenn Jonas entschieden hatte, dieses Mal derjenige zu sein, der den Ton angab, kam er dieser Bitte mit Freuden nach.

Erik zuckte, seine Finger krallten sich in Jonas‘ Nacken und sein Stöhnen verwandelte sich in atemloses Keuchen. Ihre Lippen trennten sich erst lange danach.

Jonas‘ Finger zogen Kreise durch die milchige Flüssigkeit auf Eriks Oberkörper, fühlten das rasche Heben und Senken seiner Brust. Erik hatte einen Arm über die Augen gelegt, schützte sie vor dem grellen Licht, als versuchte er, seine Rückkehr in die wirkliche Welt noch ein wenig länger hinauszuzögern. „Ich hoffe, du hast wenigstens Tempos hier“, murmelte er nach einer Weile.

„Wenn du lieb ‚Bitte, bitte‘ sagst“, erwiderte Jonas breit grinsend.

Erik nahm den Arm von den Augen und blinzelte träge, nur um gleich darauf mit erschreckender Geschwindigkeit Jonas‘ Schultern zu packen und ihn nach unten zu drücken.

Mit aller Kraft stemmte Jonas die Hände gegen Eriks Brust und konnte gerade so verhindern, dagegen gepresst zu werden. „Igitt!“

„Igitt?“, wiederholte Erik pikiert. „Also, das tut jetzt aber weh.“

Panisch versuchte Jonas, sich aus Eriks eisernem Griff zu winden. „Weißt du wie schwer es is‘, das Zeug aus dunklem Stoff zu waschen?“

„Mhm. Zufällig habe ich da ebenfalls Erfahrung.“

„Is‘ ja gut!“, rief Jonas. „Ich hol dir was! Dafür musst du mich aber schon loslassen.“ In der Sekunde, in der Erik von ihm abließ, schnellte Jonas hoch, sprintete zu seinem Schreibtisch, in dessen Schublade rein zufällig eine Rolle Küchenpapier lagerte und stöhnte innerlich. Neben dem Küchenpapier lagen die Kondome, die Christine ihm geschickt hatte. Das hätte ihm mal früher einfallen können. Er entschied, darüber Stillschweigen zu bewahren, kehrte mit einigen Blättern zum Bett zurück und reichte sie an Erik weiter.

„Danke.“ Notdürftig säuberte Erik seinen Oberkörper. „Ah, dein Bad …“

„Hinter der einzigen anderen Tür in dieser Wohnung.“

„Ah. Bin gleich wieder da.“

Jonas streckte sich auf seinem Bett aus, fühlte Eriks im Laken gespeicherte Körperwärme und dachte an das Zittern, das Stöhnen – an die schiere Selbstverständlichkeit, mit der sich Erik ihm hingegeben hatte. Da war kein Zögern gewesen. Keine Scham und kein Schuldbewusstsein. Nur Lust. Weshalb schaffte er selbst das nicht? Weshalb war da immer diese kleine Stimme, die ihm einzureden versuchte, dass das, was sie taten falsch war?

Das Bett knarzte und Jonas schreckte hoch. Erik saß am Rand, musterte ihn. „Alles in Ordnung?“

„Jaah. Ja. Schon. Mir geht bloß viel im Kopf rum.“

„Merke ich.“

Jonas rutschte näher zu Erik, lehnte seinen Kopf an dessen Oberschenkel und genoss das zarte Kribbeln, als Erik seinen Nacken kraulte.

„Irgendetwas, wobei ich helfen kann?“

„Ich glaub nich‘.“ Selbst jetzt fühlte sich Jonas schuldig für die Geborgenheit, die er empfand. „Es is‘ … Okay, beschissener Vergleich, aber irgendwie bringt’s das grad am besten rüber. Es is‘ ‘n bissl wie damals, als ich mit sechzehn zum ersten Mal in ‘nem größeren Club war. Ich war total aufgeregt und wollt echt unbedingt rein, aber als es dann geklappt hat … Da war es laut und voll und zu dunkel und zu hell gleichzeitig. Jeder hat irgendwie an mir gezerrt oder mich weggedrängt und obwohl ich Spaß hatte, war ich erst mal völlig überfordert. Ungefähr so fühlt es sich jetzt auch an.“ Jonas drehte den Kopf, um Erik anzusehen. „Sorry, ich weiß, dass ich grad voll schwierig bin.“

„Brauchst du ein bisschen Zeit für dich?“

„Schon.“ Seufzend rieb sich Jonas über die Augen. „Aber damit mein ich nich‘, dass ich dich nich‘ mehr sehen will oder so. Ich brauch nur … die Möglichkeit, mir über ein paar Dinge klarzuwerden. Und bis dahin bin ich sicher echt scheißanstrengend. So wie jetzt halt auch. Ich … kann verstehen, wenn du dir das nich‘ antun willst.“

„Ich dachte, das Thema hätten wir heute schon geklärt?“ Eriks Stimme war ruhig, weder enttäuscht noch vorwurfsvoll. „So leicht kannst du mich nicht vertreiben. Also nimm dir Zeit, sei schwierig, werde dir über die Dinge klar, über die du dir klarwerden musst. Nur … rede mit mir, ja? Sag mir, wie ich dir helfen kann und“, er wurde leiser, „sag mir auch, wenn“, er stockte, „falls du keine Zukunft für uns siehst.“

Jonas wollte protestieren, versichern, dass das nie der Fall sein würde, aber die Worte wollten nicht über seine Lippen kommen. Wie konnte er so ein Versprechen geben, solange dieses Chaos in seinem Kopf herrschte?

„Ah, wie spät ist es eigentlich?“, fragte Erik unvermittelt. „Entweder, irgendetwas läuft mit dem Ding falsch, oder ich habe plötzlich verlernt, Analoguhren abzulesen.“ Offenbar hatte auch er in der eingetretenen Stille das Ticken wahrgenommen.

„Is‘ ne bayerisch Uhr“, erklärte Jonas grinsend. „Haben mir meine Eltern vermacht.“ Ursprünglich hatte ihr Ticken ihn in den Schlaf gewiegt, doch inzwischen hielt es ihn immer öfter wach. Er drückte den Rücken durch, um von seiner Position aus das Ziffernblatt ablesen zu können. „Ähm … etwa dreiviertel acht.“

„Dann sollte ich mich wohl anziehen.“ Das unzufriedene Murren, das Jonas ausstieß, als er sich an Eriks Oberschenkel festklammerte, entlockte diesem ein helles Lachen. „Ich würde auch lieber noch hierbleiben, aber wenn ich bis acht im Tix sein will, muss ich jetzt wirklich los. Entschuldige, ich fürchte, heute gehst du leer aus.“

„Na schön“, gab Jonas nach und ließ von Erik ab, um ihm anschließend bedrückt beim Aufsammeln und Anziehen seiner Klamotten zuzusehen. „Also … Sehen wir uns am Sonntag?“, fragte er vorsichtig.

Erik war gerade dabei, seinen Gürtel zu schließen, blickte bei Jonas‘ Frage jedoch auf und zeigte wieder dieses Schuljungenlächeln, das ihn so anders aussehen ließ. „Wahnsinnig gerne.“

„Und … ähm …“ Nervös zupfte Jonas an seinem Bettlaken. „Ich hatte diese Woche meinen letzten Seminartermin. Also hätte ich … Ich kann montags ausschlafen.“

Eriks Lächeln flackerte. „Ich fürchte, ich brauche den Montag, um mich auf meine Klausuren vorzubereiten.“

„Oh. Ja. Versteh‘ ich. Kein Ding.“

„Nach den Prüfungen, ja?“

„Klar. Wahrscheinlich sollte ich eh auch meine Stunden im Café erhöhen, solang ich kann. Und, ähm, ich bin im März mal bei meinen Eltern. Weiß noch nich‘ wie lange. Oder wann genau.“

„Ist es sehr egoistisch, wenn ich sage: ‚Hoffentlich nicht zu bald und zu lange‘?“ Erik war vollständig angezogen und wartete an der Tür.

„Nee, das … is‘ genau das, was ich hören wollt.“ Jonas krabbelte vom Bett und schlich zu Erik, unwillig, den Abend zu beenden. „Sonntag steht?“

„Natürlich.“ Erik küsste Jonas‘ Wange. „Bis dann.“

„Warte!“

Schon halb aus der Tür, drehte sich Erik noch einmal um. „Wa–?“

Jonas fiel ihm in die Arme und drückte ihn fest an sich. Sanft rieben Eriks Hände über seinen Rücken, schenkten Wärme, die bis tief in sein Inneres strahlte. Lange standen sie in Jonas‘ Hausgang, ignorierten das Öffnen und Schließen der gegenüberliegenden Tür, den kühlen Luftzug, der über ihre Körper fegte.

„Jetzt kommst du doch zu spät“, murmelte Jonas schließlich.

„Manchmal ist es das wert.“

 

 

 

Kapitel 23

Was zuletzt geschah:

Jonas‘ und Eriks zweites Date endet relativ erfolgreich, aus Zeitgründen muss ersterer allerdings auf sein Happy End verzichten. Dafür holt er sich vor der Tür eine Extraportion Umarmungen, die dummerweise nicht ganz unbeobachtet bleiben. Im Moment ist das Jonas aber egal – er freut sich auf eine baldige Wiederholung.

 

Kapitel 23

Du, 17:38

ha!

 

Erik, 17:46 Uhr

?

 

Du, 17:47 Uhr

daisy, mein gänseblümchen, hat ein neues blatt! sie lebt!

 

Erik, 17:48 Uhr

Gratuliere ;)

 

Erik, 17:50 Uhr

Hast du dir eigentlich schon überlegt, was du morgen machen willst?

 

Du, 17:52 Uhr

ich weiß, es is öde, aber können wir uns einfach bei einem von uns treffen?

 

Du, 17:53 Uhr

einfach n bissl ruhe und quatschen?

 

Erik, 17:53 Uhr

Klar :)

 

Du, 17:54 Uhr

bei dir?

 

Erik, 17:55 Uhr

Okay :)

Wollen wir zusammen kochen?

 

Du, 17:55 Uhr

klasse idee! pizza?

 

Erik, 17:56 Uhr

xD

Von mir aus. Ich besorge die Zutaten, für Getränke ist der Gast zuständig. (Belagwünsche werden aber entgegengenommen)

 

Zum gefühlt tausendsten Mal überflog Jonas seinen Nachrichtenaustausch mit Erik, während er darauf wartete, dass dieser die Eingangstür öffnete. Das Klirren der Flaschen in der Plastiktüte, die er bei sich trug, wurde nur vom Knurren seines Magens übertönt. Endlich erklang der Summer und Jonas musste sich zwingen, die Stufen hochzugehen satt zu rennen, drehte sich aber noch einmal um, als er etwas hinter sich rascheln hörte.

Eine ältere Dame – Eriks Nachbarin, der Jonas schon einmal begegnet war – hielt zwei Einkaufstüten und einen dicken Schlüsselbund in der Hand und versuchte, die Eingangstür zu erreichen, bevor sie sich schloss. Mit einem Satz sprang Jonas die Stufen wieder herunter und eilte zu ihr.

„Det is awa nett.“

„Kein Problem.“ Jonas hielt die Tür noch ein wenig weiter auf, damit die mit Tüten beladene Frau durchpasste. „Kann ich Ihnen beim Tragen helfen?“

„Ach, det is nich nötig. Nur keene Umstände.“

„Ich muss doch eh auch nach oben“, sagte Jonas. „Ob ich dabei zwei Tüten mehr oder weniger trage, macht keinen Unterschied. In welchen Stock müssen Sie denn?“

„Den Zweeten.“

„Sehen Sie, ich muss in den Dritten. Is‘ also wirklich kein Ding.“ Jonas nahm die Tüten entgegen, die die Frau ihm reichte.

„Hamwa uns schonma jesehen?“, fagte sie. „Ick meen, ick erinner mich. Sind‘se neu einjezogen?“

„Nee, ich bin nur zu Besuch.“

„Im dritten Stock … Ach, beem Kolb?“

„Ähm … ja.“ Jonas wusste nicht, was er noch dazu sagen sollte und die alte Dame schien keine weiteren Fragen zu haben. Schweigend legten sie die Stufen zum zweiten Stock zurück. „Ich stell die Taschen hier ab, ja?“

Die Frau sperrte ihre Tür auf, drehte sich aber noch einmal zu Jonas, um sich bei ihm zu bedanken.

„Gern geschehen.“ Jonas hob die Hand zum Abschied und spurtete das letzte Stockwerk nach oben.

Dort wartete bereits Erik, eine Braue fragend nach oben gezogen. „Schleimst du dich bei den Nachbarn ein?“

„Ich dacht bloß, es schadet vielleicht nich‘, auf guten Fuß mit ihnen zu sein, wenn ich ab jetzt öfter hier bin und mal wieder mitten in der Nacht ‘nen Stuhl umreiß, oder so.“

„Mhm, ich mag Männer, die vorausschauend denken.“

„Und ich mag Männer, die die Klappe halten und mir Essen kochen.“ Jonas drängte sich an Erik vorbei in die Wohnung, allerdings nicht, ohne ihm davor einen Kuss auf die Lippen zu hauchen. „Ich bin echt scheißhungrig!“

„Dann hast du dir ja das richtige Gericht ausgesucht. Wir müssen ja nur noch den Teig zubereiten, ihn gehen lassen, ausrollen, belegen und dann noch backen. Also essen wir in“, er warf einen Blick auf seine Uhr, „frühestens eineinhalb Stunden.“

„Japp. Und wenn du nich‘ willst, dass ich die komplette Zeit quengle, musst du mich ordentlich ablenken.“

„Mal sehen, wie ich das am besten anstelle.“ Erik streckte die Hand aus, um Jonas die Tüte mit den Getränken abzunehmen. „Ah, kühlstellen?“

„Glaub schon.“

„Du glaubst? Was hast du überhaupt mitgebracht?“ Neugierig spickte Erik in die Tüte.

„Ich hab keine Ahnung“, gestand Jonas. „Du trinkst ja keinen Alk, also fiel das schon mal raus, Cola is‘ lahm und sonst hatte ich keine Ideen. Also hab ich das Getränkeregal geplündert und alles eingepackt, was ich nich‘ kannte. Was übrigens echt viel is‘.“

„Ist mir aufgefallen.“ Erik musste ein paar Dinge in seinem Kühlschrank umsortieren, um Platz für die bunte Flaschensammlung zu machen. „Fangen wir gleich an?“

„Mit Kochen oder Trinken?“

„Beidem?“ Erik reichte Jonas eine dunkle Flasche, bei deren Inhalt es sich laut Etikett um vegane Gojibeeren-Limonade handelte. „Und für mich gibt es … Apfelschorle mit Heuextrakt. Hm.“

Schweigend kosteten sie ihre jeweiligen Getränke. Einen Schluck. Einen zweiten. Musterten die bunten Flaschen.

„Das ist ziemlich lecker“, stellte Erik verblüfft fest.

„Lass mich mal probieren.“ Jonas legte seine Hand in Eriks Nacken und zog ihn zu sich, genoss die Süße auf seiner Zunge als sich ihre Lippen berührten. Der Geschmack der Schorle war dabei ziemlich zweitrangig. „Fuck, du hast mir echt gefehlt.“

„Dabei waren das nur drei Tage. Wie wird das erst, wenn du wieder in Bayern bist?“

„Weiß nich‘“, nuschelte Jonas. „Vielleicht muss ich dich im Handgepäck mitnehmen oder so.“

„Vielleicht musst du das.“ Erik holte eine silberne Küchenwaage aus einer seiner Schubladen. „Lass uns anfangen. Du bist nicht der Einzige, der Hunger hat.“

Hefe, Wasser, Mehl und Öl waren schnell zusammengekippt und mit einem Kochlöffel zu einer klebrigen Masse gerührt. „Schätze, ab jetzt brauchen wir unsere Finger.“ Jonas trocknete seine frisch gewaschenen Hände und machte sich daran, den Teig zu kneten.

Erik schien dagegen andere Pläne zu haben. Offensichtlich taub für Jonas‘ kleinen Protestlaut, schlang er seine Arme um dessen Taille und presste ihn gegen den Küchentresen. „Hmm, ich hoffe, du bist gut im Multi-Tasking.“

„Ich bin ‘n Scheißprofi.“ Spielerisch bewegte Jonas die Hüften, genoss die Vorstellung, Eriks Glied damit zum Leben zu erwecken. Glücklicherweise brauchte Teigkneten keine gesteigerten kognitiven Fähigkeiten, andernfalls hätte er den Pizzaboden gnadenlos versaut.

„Sind wir ein wenig abgelenkt?“, raunte Erik in Jonas‘ Ohr, blies heiße Luft über empfindliche Haut.

„Kein bisschen. Weiß nich‘, wie du darauf kommst.“ Jonas zwang sich, sich auf den Hefeteig zu konzentrieren, bis dieser eine glatte, leicht glänzende Kugel formte, die sich mühelos vom Boden lösen ließ. „Fertig!“ Mit diesem Siegesruf entzog er sich Erik.

„Sehr gut“, lobte dieser jovial. „Und? Schon eine Idee, wie du dich die halbe Stunde, die der Teig jetzt gehen muss, von deinem grauenhaften Hunger ablenken möchtest?“

„Ähm … ähm … So?“ Blitzschnell tauschte Jonas den Platz mit Erik, drängte nun wiederum ihn gegen die Arbeitsplatte. Die Härchen in seinem Nacken stellten sich auf und er sog den Duft nach Holz und Sonne tief in seine Lungen. Eriks Lippen waren warm und weich und wussten, was Jonas von ihnen wollte.

Ein Telefon schrillte.

Unwillig brummte Erik in den Kuss. „Hört sicher gleich wieder auf.“ Nach dem sechsten Klingeln brummte er noch unwilliger und löste sich vor Jonas. „Ich mach’s kurz.“

Er verschwand aus der Küche, um den Anruf entgegenzunehmen und Jonas warf einen neugierigen Blick unter das Küchentuch, mit dem sie den Teig abgedeckt hatten. War er schon größer geworden? Würden sie vielleicht nur zwanzig Minuten statt einer halben Stunde warten müssen? Obwohl sich Jonas bemühte, es nicht zu tun, lauschte er mit halbem Ohr Eriks Gespräch.

„Danke, gut und euch? … Ah, schön … Ja … Unglaublich, dass sie schon achtzehn wird … Mhm … Du, ich habe gerade Besuch, also … Ah … In der Woche … Ja, nein, macht euch da mal keine Gedanken … Nein, das ist wirklich kein Problem … Ja … Ja … Das verstehe ich … Nein, das solltet ihr wirklich nutzen … Genau, das können wir mal machen … Vielleicht im Sommer … Ach so … Nein, das ist natürlich auch in Ordnung … Sicher. So, wie es euch passt … Ja … Ja … Danke … Ja, euch auch … Ja, danke. Mach’s gut.“

Das Telefon piepte leise und Jonas widmete sich rasch seinem eigenen Handy. Er wollte nicht neugierig erscheinen, aber Eriks Gesichtsausdruck, als er in die Küche zurückkehrte, ließ ihn dennoch die Stirn krausziehen. „Is‘ alles okay?“

„Sicher.“ Eriks Lächeln war nicht übermäßig glaubwürdig. „Das war nur …“ Er hielt inne, lehnte sich gegen den Küchentisch und starrte auf seine Hände. „Das war meine Tante.“

„Die, bei der du aufgewachsen bist, nachdem …“ Jonas beendete den Satz nicht.

„Mhm. Seit ich nach Berlin gezogen bin, fahre ich zum Todestag meiner Eltern nach Stuttgart und bleibe ein paar Tage dort. Kümmere mich um die Grabpflege, treffe ein paar alte Freunde, was eben so ansteht, wenn man einmal im Jahr in die alte Heimat zurückkehrt. Dazu gehört, dass ich an einem Abend bei meiner Tante und ihrer Familie zum Essen eingeladen bin. Dieses Jahr hat sie mir abgesagt.“ Erik zupfte an einem überstehenden Stück Haut neben seinem Fingernagel.

„Warum?“

„Sie haben ein Angebot für eine Reise nach Zypern bekommen und das ist der einzige mögliche Zeitraum. Was absolut in Ordnung ist!“, beteuerte er, bevor Jonas etwas erwidern konnte. „Ich bin nicht der Typ Mensch, der sich an einem Datum aufhängt.“

„Du siehst aber nich‘ so aus, als ob dich der Scheiß völlig kalt lassen würd. Bist du enttäuscht?“

„Eher … durcheinander.“ Ein winziger roter Fleck erschien neben Eriks Fingernagel. Er schien ihn nicht zu bemerken, kratzte weiter mit dem Daumen über die blutige Stelle. „Ich habe das Gefühl, ich sollte enttäuscht sein, aber eigentlich bin ich erleichtert.“

Jonas nahm Eriks Hand, hauchte zarte Küsse darauf. „Ich hab auch den einen oder anderen Verwandten, bei dem ich erleichtert bin, wenn ich die hässliche Fresse nich‘ sehen muss.“

Immerhin brachte er Erik damit zum Lachen. „Ganz so ist es nicht. Es ist nur …“ Er seufzte. „Der Verlust meiner Eltern hat mich in ein ziemlich tiefes Loch gerissen und ich habe mein Umfeld mit runtergezogen. Da ist eine Menge Mist passiert und viele hässliche Worte gefallen. Irgendwie sind wir alle halbwegs heil aus der Situation rausgekommen, aber wirklich aus der Welt schaffen, konnten wir diese Dinge nie. Jedenfalls fühlt es sich für mich so an. Also wird jedes dieser jährlichen Essen zum Eiertanz, bei dem wir uns höfliche Komplimente machen und erzählen, was in den vergangenen zwölf Monaten so passiert ist. Natürlich nur die guten Sachen, wir wollen ja nicht in Gefahr geraten, die heitere Stimmung zu trüben. Meine Tante und ihre Familie tun so, als hätten sie mich gerne bei ihnen und ich tue so, als wären sie überzeugend. Ich sollte also eigentlich froh sein, wenn sie entschieden haben, dieses Theaterspiel endlich zu beenden.“ Überrascht blickte Erik auf, als Jonas‘ eine Hand an seine Wange legte. Er versuchte sich an einem Lächeln. „Es ist wirklich in Ordnung. Ich klinge vermutlich gerade arg dramatisch.“

„Du klingst traurig“, sagte Jonas. „Und auch wenn ich scheißsicher bin, dass du dich irrst und ihr einfach bloß nich‘ wisst, wie ihr miteinander umgehen sollt … Falls sie dich wirklich nich‘ gern um sich haben, is‘ das ihr Verlust. Nich‘ deiner.“

„Wir sollten mit der Soße anfangen.“ Erik schob Jonas zur Seite, um zum Herd zu gelangen.

Jonas rollte mit den Augen. „Du kannst echt keine Komplimente annehmen. Sie hätten dich sicher nich‘ mehrere Jahre bei sich leben lassen, wenn sie nich‘–“ Der Topf, den Erik aus einer Schublade geholt hatte, knallte auf die Anrichte.

„Sie haben mich nicht mehrere Jahre bei sich leben lassen!“

„Sorry, ich …“ Aber Jonas wusste nicht, was er sagen wollte. Also verstummte er.

Erik holte hörbar Luft und ließ sie langsam wieder aus seinen Lungen entweichen. Die Knöchel der Hand, die den Topfgriff umklammert hielt, waren weiß. „Nein, ich muss mich entschuldigen.“ Er stellte den Topf auf die Herdplatte, zog Schneidbrett und Zwiebeln zu sich. „Das konntest du nicht wissen. Und ganz offenbar sitzt dieser Dorn tiefer, als ich mir bis eben eingestehen wollte. Tut mir leid, dass du das gerade abbekommen hast.“

Wortlos drückte Jonas Erik an sich und spürte, wie kalt dessen Finger waren, als er sie mit seinen eigenen verwob.

„Ich war nur ungefähr ein Jahr bei ihnen“, erklärte Erik deutlich ruhiger, wand sich jedoch aus Jonas‘ Griff und schnappte sich ein Gemüsemesser. „Und das auch nur, weil es relativ lange gedauert hat, einen Platz in einer geeigneten Wohngruppe zu bekommen.“ Er rieb sich über die Augen. „Ah, diese Zwiebel macht mich fertig.“

„Ich schneid sie“, bot Jonas an und nahm Eriks Platz ein. „Du kannst dafür die Tomaten übernehmen.“ Er beobachtete Erik aus dem Augenwinkel, fragte sich, ob er das Thema fallenlassen, oder seiner Neugierde nachgeben sollte. Letztlich nahm Erik ihm diese Entscheidung ab.

„Du kannst dir so eine Wohngruppe wie eine WG vorstellen. Mit dem Unterschied, dass die Bewohner üblicherweise minderjährig und rund um die Uhr Sozialpädagogen anwesend sind. Zumindest war das in meinem Fall so, es gibt da unterschiedliche Varianten.“

„Is‘ das nich‘ anstrengend, so viele Jugendliche auf einen Fleck? Die ja vermutlich nich‘ ganz grundlos in so ’ner WG gelandet sin‘.“ Zu spät bemerkte Jonas, wie dieser Satz für Erik geklungen haben musste. „Ähm, ich mein, die alle irgendwie ihre Probleme haben mussten. Also, ähm …“

„Ich weiß schon, wie du das meinst“, beruhigte ihn Erik. „Ich war ja auch kein unbeschriebenes Blatt und es wäre eine dreiste Lüge, zu behaupten, dass es keine Reiberein zwischen uns gegeben hätte. Aber alles in allem, war der Zusammenhalt gut und …“ Er warf die kleingeschnittenen Tomaten in den Topf. „Weißt du, es war eine ziemliche Erleichterung für mich, zu sehen, dass ich nicht der Einzige war, der irgendwann in seinem Leben gestrauchelt ist und Schwierigkeiten hatte, wieder auf die Beine zu kommen. Das gab mir das Gefühl, kein völliger Versager zu sein.“

„War es das, was deine Tante dir eingeredet hat?“

„Nein!“, versicherte Erik eilig. „Nein, so war das nicht. Ich glaube, sie kommt hier gerade viel zu schlecht weg. Der Tod meiner Eltern kam für sie genauso überraschend wie für mich. Plötzlich war sie nicht nur völlig allein für ihre demenzkranke Mutter verantwortlich, sondern musste sich um den Nachlass ihrer Schwester kümmern. Die beiden hatten kein übermäßig enges Verhältnis, aber sie hat sicher getrauert. Dazu hatte sie ihre eigene Familie. Einen Mann, der häufiger im Büro als zuhause war, einen pubertierenden Sohn, eine kleine Tochter … und trotzdem stand keine Sekunde außer Zweifel, dass sie mich bei sich aufnehmen würde. Zu all ihrem Stress, kam also noch ich dazu und damit auch Termine bei Jugendamt, Jugendgericht und so weiter. Neben all dem emotionalen Kram, noch ein riesiger Haufen organisatorischer Mist. Aber sie hat sich kein einziges Mal darüber beschwert.“

„Woran ist es dann gescheitert?“, fragte Jonas und biss sich gleich darauf auf die Zunge. „Ähm, sorry, ich weiß, dass das ein Scheißthema für dich is‘. Du musst also nich‘ …“

„Frag ruhig“, ermutigte Erik ihn. „Falls ich etwas mal nicht beantworten will, sage ich dir das dann schon. Und frag auch nach, wenn etwas unklar ist. Damals ist so viel in so kurzer Zeit passiert, dass ich gar nicht genau weiß, wie ich anfangen soll.“

Der Sud aus Tomaten, Zwiebeln, Knoblauch und Kräutern begann im Topf zu blubbern und Erik reduzierte die Hitze. Jonas wartete, bis er weitersprach.

„Gescheitert ist es letztlich wahrscheinlich an einer Reihe von Dingen. Nach dem Tod meiner Eltern wollte ich mich irgendwie ablenken und bin mehr oder weniger in meine erste Beziehung gestolpert. Ich war völlig auf meinen Ex fokussiert, bis zu dem Punkt, an dem ich Schule und Freunde vernachlässigt und immer wieder Absprachen mit meiner Tante gebrochen habe, nur um mehr Zeit mit ihm verbringen zu können. Am Ende war ich“, der Hauch eines Zögerns, den Jonas sicher übersehen hätte, hätte er Erik inzwischen nicht so gut gekannt, „emotional ziemlich von ihm abhängig und als die Beziehung dann in Rauch aufging, habe ich andere Wege gefunden, den Schmerz erträglich zu machen.“

Wieder eine kurze Pause. Eriks Finger strichen über seine Unterarme. „Rückblickend betrachtet war das vermutlich das Beste, das passieren konnte, weil es meine Probleme offensichtlich gemacht hat und ich endlich die Hilfe bekommen habe, die ich damals brauchte. Aber was denkst du, wie viel Stress so ein Verhalten in eine Familie bringt? Zumal die Dinge davor schon wacklig waren. Das waren sie wohl schon, bevor ich dazu gekommen bin und meine Anwesenheit hat es nicht besser gemacht. Mein Cousin war damals dreizehn und musste plötzlich sein Zimmer mit einem Jungen teilen, den er zuvor vielleicht einmal im Quartal gesehen hatte. Dass er darüber nicht glücklich war, ist klar. Wir haben gestritten. Oft.

Mein Onkel fand dagegen, dass ich zu viel Zeit in Anspruch nehme, während seine eigenen Kinder und seine Ehe zu kurz kamen. Und er hatte ja recht. Meine Tante hat sich fast zerrissen, um allen irgendwie gerecht zu werden. Geholfen hat es nicht. Mein Cousin wusste nicht wohin mit seiner Wut, meine kleine Cousine war viel zu oft auf sich gestellt und ich kam mir vor wie ein Fremdkörper, der selbst dann, wenn er perfekt funktioniert, gerade mal geduldet wird, aber sicher nicht willkommen ist. Damit sage ich nicht, dass es so war“, betonte Erik. „Aber so hat es sich angefühlt. Der Platz in der Wohngruppe wurde schließlich auf Anraten meiner Psychologin und mit Hilfe meiner Betreuerin beim Jugendamt organisiert, was für uns alle wirklich die beste Lösung war. Nur … Das Gefühl abgeschoben worden zu sein, wollte nie völlig verschwinden.“

Jonas bekämpfte das Bedürfnis, Erik in den Arm zu nehmen, fürchtete, dass dieser die Geste als Mitleid interpretieren würde. Vielleicht lag er damit auch gar nicht so falsch. Stattdessen sagte er: „Du hast echt ganz schön viel Scheiß hinter dir.“

„Nicht mehr als andere auch.“ Erik tunkte einen Löffel in die Soße und hielt ihn Jonas vor die Nase. „Probier mal.“

„Bisschen mehr Salz würd nich‘ schaden.“ In Gedanken war Jonas noch immer bei Eriks Erzählung.

„Entschuldige, ich habe das gerade ganz schön über dir ausgekippt, was?“

„Nee, ich wollt’s ja wissen. Ich hab bloß keine Ahnung, wie ich … mit dir umgehen soll.“ Jonas verzog das Gesicht. „Scheiße, klang das grad blöd. Aber genau das mein ich! Was soll ich sagen, wie soll ich mich verhalten? Irgendwie muss ich ja reagieren. Gar nix sagen is scheiße, dich bemitleiden auch, vor allem, weil ich echt nich‘ das Gefühl hab, dass du das brauchst, weil du dein Leben ziemlich gut im Griff hast und–“

Eriks Lachen unterbrach Jonas‘ verunsichertes Gestammel.

„Okayyy“, sagte Jonas gedehnt. „Wenigstens schein ich dich zu amüsieren.“

„Entschuldige.“ Vergeblich versuchte Erik, sein Schmunzeln hinter seinem Ärmel zu verstecken. „Es ist nur ein wenig absurd zu hören, dass du denkst, ich hätte mein Leben im Griff, während ich selbst ständig befürchte, all mein Chaos könnte dich vertreiben. Und, dass du ganz offensichtlich dieselbe Angst nur umgekehrt hast, bringt da noch einen ganz wunderbaren Schuss Ironie mit rein.“

„Na toll … Dann sin‘ wir also beide ein verficktes Komplexbündel?“

„Mhm, sieht ganz so aus.“ Nach einer letzten kritischen Verkostung, zog Erik die Pizzasoße vom Herd. „Aber um deine Frage, wie du mit mir umgehen sollst zu beantworten … ‚Wie mit jedem anderen auch‘, wäre mir das liebste. Nur bin ich eben doch die Summe meiner Erfahrungen und reagiere manchmal empfindlich auf bestimmte Auslöser. Bitte erschrick nicht, falls das passiert. Es ist nicht deine Schuld. Und es sollte nicht dazu führen, dass du mit mir vorsichtiger umgehst als mit anderen. Mach mich darauf aufmerksam und sag mir, wenn du dich unsicher fühlst. Oder, wenn ich mich wie ein Idiot aufführe.“ Verlegen lächelnd rieb Erik über seinen Nacken. „Das sagt sich jetzt alles ziemlich leicht, aber ich weiß, dass ich da viel von dir erwarte. Obwohl ich es ja nicht wirklich erwarte. Es wäre nur …“ Er seufzte. „Vielleicht kann ich dir deine Frage auch einfach nicht beantworten.“

„Passt schon“, sagte Jonas. „Du bist unsicher, ich bin unsicher, irgendwie kriegen wir das schon hin. Und wenn’s eins gibt, worauf du dich verlassen kannst, dann, dass ich meine Klappe eh nich‘ lang halten kann.“

Erik lächelte und küsste Jonas‘ Schläfe. „Habe ich dir schon gesagt, wie gerne ich dich bei mir habe?“

„Sag’s ruhig noch mal.“ Jonas deutete auf den von einem bunten Küchentuch abgedeckten Teigklops. „Ich glaub, der durfte lang genug gehen. Lass uns weitermachen!“

 

Kapitel 24

Was zuletzt geschah:

Für Jonas herrscht noch immer Wolke 7. Zusammen mit Erik schwebt er nun schon mitten in ihrem dritten offiziellen Date, das nicht nur zu knurrenden Mägen und duftender Pizza führt, sondern auch einen weiteren Teil von Eriks Panzer abreibt. Was werden ihre gemeinsamen Stunden noch zu Tage fördern?

 

Kapitel 24

„Oh, fuck! Fuck! Fuck, fuck, fuck! FUCK!“

„Ich hatte dir gesagt, du sollst auf den zweiten Ritter achten.“

Frustriert warf Jonas Erik den Controller in den Schoß. „Mach’s besser, du Angeber.“

Erik nahm den metaphorischen Fehdehandschuh auf und setzte sich aufrecht hin. Bald erschien die kleine Falte zwischen seinen Brauen, seine Finger flogen über die Tasten und sein Blick machte deutlich, dass er den Rest der Welt gerade völlig ausgeblendet hatte. Ganz im Gegensatz zu Jonas, dessen Augen immer wieder vom Bildschirm zu Eriks Gesicht huschten. Er wollte mehr als ihn nur anzusehen, beugte sich vor und küsste das kleine Dreieck aus Muttermalen auf Eriks Hals, arbeitete sich von dort bis zu seinem Mund.

„Ah, da gehen unsere Seelen dahin.“

„Scheiß drauf.“ Kurzerhand rutschte Jonas auf Eriks Schoß, schlang die Arme um seinen Hals und presste ihre Lippen aufeinander. Fordernd und ausgehungert, ohne Geduld für vorsichtige Annäherungen. Der Controller lag vergessen neben ihnen auf der Couch und wurde kurz darauf unter ihren Oberteilen begraben. Als Jonas‘ Finger zu Eriks Gürtelschnalle wanderten, stoppte dieser sie jedoch.

„Stimmt was nich‘?“, fragte Jonas verunsichert.

„Es ist nur, ah …“ Erik strich eine lose Haarsträhne hinter sein Ohr. „Willst du das hier wirklich? Ich habe nämlich überhaupt kein Problem damit, die Dinge langsam angehen zu lassen. Mitanzusehen, wie du dich hinterher mit Schuldgefühlen quälst, ist dagegen etwas, worauf ich gut verzichten kann.“

„Sorry.“

„Das war keine Kritik!“, beteuerte Erik. „Du hast nichts falsch gemacht. Ich will nur sichergehen, nicht versehentlich über irgendwelche Grenzen zu treten. Oder dich unbewusst zu etwas zu drängen, für das du dich noch nicht bereit fühlst.“ Er seufzte. „Aber natürlich will ich dir auch keine Probleme einreden, wo keine sind. Entschuldige, mache ich eine eigentlich einfache Sache gerade unnötig kompliziert?“

„Naja …“ Tat Erik das? Die Erregung, die Jonas bis eben gefühlt hatte, war jedenfalls verflogen und durch die beklommene Leere ersetzt worden, die üblicherweise erst nach dem Höhepunkt auftrat. Nur war es schwer zu leugnen, dass sie auftrat und ja, das war ein verfluchtes Problem. Jonas‘ ließ seinen Kopf gegen Eriks Brust sinken. „Ich will das hier. Aber …“ Er suchte nach den richtigen Worten, um das Chaos, das in ihm herrschte zu erklären. „Ich hab dir noch nie erzählt, wie ich mich vor Maria geoutet hab, oder?“

„Nein.“

„Hab’s ihr panisch ins Gesicht gebrüllt.“ Die Erinnerung brachte ein verlegenes Lächeln auf Jonas‘ Lippen. „Wir waren, ähm, sechzehn, glaub ich. Also ich, Maria is‘ eineinhalb Jahre jünger. Wir kannten uns schon etwas länger, weil sie und Christine in derselben Pfadfindergruppe waren, aber wirklich angefreundet haben wir uns erst, als ich ein Schuljahr wiederholen musste und zu ihr in die Klasse gekommen bin. Sie hat mir Nachhilfe in Mathe gegeben, ich ihr ein wenig in Englisch unter die Arme gegriffen. Irgendwann saßen wir auf dem Sofa in unsrem Wohnzimmer, meine Schwestern waren unterwegs, meine Eltern im Apfelbäumchen und ich dachte … Ich dachte, dass Maria klug und witzig is‘ und ich sie echt gern hab. Und dass das doch das sein musste, was die andren Jungs meinten, wenn sie über Mädels gequatscht haben. Also … hab ich versucht sie zu küssen.“

„Ich rate mal und sage, dass das keine gute Idee war.“

Jonas lachte. „Japp. Sie is‘ völlig ausgeflippt. Hat mir vorgeworfen, genauso wie alle anderen Typen zu sein, mich überhaupt nich‘ für sie als Mensch zu interessieren und meinte, so könne sie auf keinen Fall mit mir befreundet sein. Und … Ich hatte so Angst, sie zu verlieren. Sie war der erste Mensch, bei dem ich das Gefühl hatte … keine Ahnung, dass ich offen sein konnte, schätze ich. Hab sie angefleht zu bleiben, ihr gesagt, dass sie das völlig falsch versteht und ich es nich‘ so gemeint hätte … und als alles nix half, hab ich verzweifelt geschrien, dass ich noch nich‘ mal wüsste, ob ich überhaupt auf Mädchen steh‘. Ich muss so ehrlich schockiert ausgesehen haben, dass sie keine Sekunde gezweifelt hat, ob ich die Wahrheit sage.“ Jonas schloss die Augen und kuschelte sich näher an Erik. „Das war auch das erste Mal, dass ich’s mir selbst eingestanden hab. Und das war … Es war so, so schwer. Dass ich nich‘ heimlich andre Jungs beobachte, weil ich ihren Körper bewundre und selbst so aussehen will, sondern … weil ich sie geil find. Dass ich beim Anblick von Männern was empfinde, das ich bei Mädels nie gefühlt hab und wohl auch nie fühlen werd. Es hat Monate, nee, Jahre und ‘ne Menge Gespräche mit Maria gebraucht, um das zu akzeptieren und … Irgendwann ging‘s. Jedenfalls dacht ich das. Aber jetzt … Jetzt merke ich, dass ich zwar akzeptiert hab, dass ich nich‘ auf Frauen steh‘, es aber noch mal was andres für mich is‘, ‘ne Beziehung mit ‘nem Mann zu wollen. Sex mit ‘nem Mann zu wollen. Ich mein, selbst die Kirche is‘ inzwischen so weit, zu sagen, dass Homosexualität keine Sünde per se is‘. Nur … Ihr nachzugeben is‘ ‘n Problem. Und ich glaub, dass ich diesen Gedanken ziemlich verinnerlicht hab.“ Eriks Brust war warm und sein regelmäßiger Herzschlag beruhigend. „Das is‘ wohl das, womit ich grad kämpfe. Am Anfang, als wir uns die ersten Male getroffen haben, konnte ich das noch irgendwie wegschieben. ‘N bissl schuldig hab ich mich trotzdem gefühlt, aber irgendwie … Es waren halt sonst keine Emotionen damit verbunden. Nur ein … Austesten. Und dadurch, dass du die Führung übernommen hast, war alles, was wir gemacht haben irgendwie deine Verantwortung. Ähm, ich hoff, das kommt jetzt nich‘ falsch rüber. Ich wollt alles, was wir gemacht haben. Aber ich konnt mich eben auch darauf zurückziehen, dass es ja nich‘ wirklich meine Idee war.“

„Ich denke, ich verstehe, wie du das meinst“, sagte Erik.

„Oh, okay. Gut. Ich will nämlich nich‘, dass du dich für irgendwas schuldig fühlst oder so. Ähm, jedenfalls is‘ das was, womit ich jetzt irgendwie umgehen lernen muss. Dass das auch meine Wünsche sind. Dass ich genauso Sex will wie du. Dass ich überhaupt Sex will. Mit Männern. Auf Augenhöhe. Und später auch wieder anders. Aber erstmal …“

„In deinem Tempo und nach deinen Regeln.“

„Das wär ganz gut, ja. Ich … kann dir nur nich‘ versprechen, wie dieses Tempo aussehen wird. Oder, dass ich mich danach nie schuldig fühle. Währenddessen merk ich das oft selbst nich‘, oder kann es zumindest ignorieren. Erst danach … Das is‘ dann wie ein Absturz, den ich vorher nich‘ hab kommen sehen.“

„Das ist in Ordnung“, sagte Erik. Seine Stimme war warm und verständnisvoll. „Ich will dir nur weder das Gefühl geben, dass du mir irgendetwas bieten musst, wofür du nicht bereit bist, noch, dass ich kein Interesse an dir habe. Beides ist nicht wahr. Ich mag dich. Ich will dich. Aber nur, wenn du auch möchtest.“

„Auch, wenn das vielleicht ‘ne Weile dauert?“

„Ach so. Nein, dann doch nicht.“ Erik deutete auf den Platz neben sich. „Los, ausziehen, Augen schließen und an England denken. Au!“ Lachend rieb er über seinen Oberarm. „Ah, gut. Eine Sekunde lang hatte ich Angst, du könntest mich erstnehmen.“

„Pff, nee, da musst du dir keine Sorgen machen.“ Gedankenverloren zeichnete Jonas kleine Kringel auf Eriks Haut. „Ich versteh bloß nich‘, warum ich mich nich‘ einfach von diesen verfickten Schuldgefühlen trennen kann. Logisch weiß ich ja, dass sie Quatsch sin‘, aber … Ach, keine Ahnung.“

Eine kurze Stille entstand, die Erik mit einem eher unerwarteten Geständnis brach. „Es hat einen Grund, warum ich bei One-Night-Stands grundsätzlich die Führung übernehme.“

„Weil du’s geil findest?“, schlug Jonas vor und Erik schnaubte amüsiert.

„Zugegeben, das auch. Aber wenn ich es nicht tue, wenn ich meinen jeweiligen Partner die Richtung vorgeben lasse, vielleicht sogar passiv bin, dann fühle ich mich danach benutzt.“

„Benutzt?“ Ungläubig starrte Jonas in Eriks wieder ernstes Gesicht. „Warum? Is‘ das … findest du, den passiven Part einzunehmen setzt dich irgendwie herab? Macht dich, ähm … weniger männlich?“ Leider war das eine Denkweise, die er von sich selbst nur zu gut kannte und die nicht einmal Maria wirklich aus seinem Kopf hatte vertreiben können. Sein Pech, dass das gleichzeitig die Fantasie war, die ihn in der Sicherheit seines eigenen Gehirns mit Abstand am meisten erregte.

Erik schloss die Augen, die Furche zwischen seinen Brauen wurde tiefer. „Ganz so ist es nicht. Zumindest nicht so, wie du vielleicht denkst. Dieses ausgenutzt fühlen ist ein Überbleibsel aus meiner ersten Beziehung, das ich nie völlig abschütteln konnte. Wenn ich beim Sex – gerade bei eher lockeren Geschichten – nicht derjenige bin, der den Ton angibt, fühle ich mich danach erstmal schlecht. Da kann ich den Sex noch so sehr gewollt und genossen haben. Hinterher habe ich ständig die Frage im Kopf, ob ich Dinge zugelassen habe, die ich eigentlich nicht wollte. Diese Gedanken loszuwerden ist sehr schwer, völlig egal, wie oft ich mir vorsage, dass sie irrational sind.“ Er lächelte schief. „Vielleicht kann ich mich also ein bisschen in deine Situation einfühlen.“

„Aber isses dann nich‘ doppelt beschissen für dich, wenn ich jetzt auch noch sag, dass ich grad nich‘ will, dass du die Führung übernimmst?“

Erik schüttelte den Kopf. „Wenn ich jemanden kenne und ihm vertraue, verflüchtigt sich dieses Gefühl. Das ist aber durchaus hart erarbeitet.“

Jonas hoffte, irgendwann ebenfalls so weit zu sein. „Sorry, dass ich die Stimmung so gekillt hab.“

„Du erinnerst dich aber schon noch, dass ich derjenige war, der das Thema aufgebracht hat?“

„Weiß ich. Aber wegen mir war’s nötig.“ Jonas schielte nach oben. „Obwohl ich zugeben muss, dass einfach hier liegen und kuscheln schon auch ganz nett is‘.“

„Mhm, finde ich auch.“

„Nich‘ langweilig?“

„Nein, nicht langweilig.“ Erik legte seine Hände auf Jonas‘ Schultern und schob ihn ein Stück von sich, um ihm in die Augen sehen zu können. „Woher kommt denn ständig diese Angst, du könntest mich langweilen?“

„Ich bin ja nich‘ völlig naiv“, murrte Jonas. „Ich mein, scheiße, du hast Gleitmittel und Kondome in deiner Küchenschublade! In verschiedenen Größen! Mit und ohne Geschmack! Das gleiche im Schlafzimmer. Und vermutlich auch hier im Wohnzimmer.“

„In dem Holzkästchen unterm Tisch“, gab Erik zu.

„Siehst du? Und bestimmt auch in dem mysteriösen dritten Raum, den du mir noch nie gezeigt hast, was mich vermuten lässt, dass da ein geheimer Folterkeller drinsteckt. Der natürlich kein Keller is‘. Aber du weißt, was ich mein. Und, ähm, ja, ich versuche grad vom Thema abzulenken … Was ich mein, is‘ … Offensichtlich hast du sowas wie ein Sexleben. Letztlich haben wir uns ja auch genau darüber kennengelernt. Als One-Night-Stand. Dass ich das jetzt so runterfahre, konntest du nich‘ ahnen. Und ich weiß, dass du wirklich wild entschlossen bist, mir so viel Zeit zu lassen, wie ich brauche, aber isses nich‘ trotzdem beschissen für dich? Sei ehrlich!“

Erik öffnete den Mund zu einer Antwort, schloss ihn wieder und schien seine Worte noch einmal genau abzuwägen. Schließlich holte er tief Luft. „Ich mag Sex. Ich gebe auch offen zu, dass es da eine Reihe an Dingen gibt, die ich gerne mit dir ausprobieren würde. Und ich gestehe weiterhin, dass ich höllische Angst habe, einen Fehler mit dir zu machen. Zu schnell zu sein, zu viel zu fordern, oder dich gerade aus dieser Angst heraus wegzustoßen und weiter zu verunsichern. Also ja, so ganz einfach ist diese Situation auch für mich nicht. Aber“, seine Finger zeichneten das auf Jonas‘ Brust tätowierte Herz nach und seine Stimme wurde leiser, bis sie nur noch ein Flüstern war, „deine Art, mich zu berühren, mich in den Arm zu nehmen, durch meine Haare zu streichen, einfach da und mir nah zu sein … Diese Intimität ist etwas Besonderes für mich. Ich bin nicht poetisch genug, um auszudrücken, wie besonders, aber du darfst mir glauben, dass es so ist.“

Jonas‘ Wangen glühten. Rasch drückte er sein Gesicht in Eriks Halsbeuge, kämpfte gegen das Kichern, das in ihm aufstieg. Erfolglos.

„Hm. Gutes Lachen, oder schlechtes Lachen?“, erkundigte sich Erik.

„Scheißglückliches Lachen“, antwortete Jonas. „Und scheißverlegenes dazu.“

„Ah, das beste Lachen. Dann habe ich wohl halbwegs klarmachen können, dass ich mich nicht aus irgendwelchen diffusen Gründen mit dir rumquäle und auf bessere Zeiten hoffe?“

„Hast du. Aber du kannst es mir gern noch ‘n paar Mal sagen.“

„Mhm, ich werde versuchen, mich bei Gelegenheit daran zu erinnern.“

Zufrieden schloss Jonas die Augen, lauschte Eriks Puls und genoss die Wärme, die sich zwischen ihren nackten Oberkörpern bildete. Er könnte ewig so verharren. Warum nur musste sich dieser Abend so schnell dem Ende entgegenneigen?

„Wollen wir noch einen Film anschauen?“, fragte Erik nach einer Weile. Seine Hände rieben über Jonas‘ Rücken, vertrieben jeden Anflug von Kälte.

Nach einem flüchtigen Blick auf sein Handy überschlug Jonas, dass er in zwei Stunden auf die Nachtlinie angewiesen sein würde, aber wenn mehr Zeit mit Erik das nicht wert war, was dann? „Klar!“

„Such dir was raus, ich bringe solange die Teller in die Küche.“ Im Türrahmen drehte sich Erik noch einmal um. „Magst du Popcorn? Ich hätte welches hier.“

„Süßes?“

„Zuckersüß.“

Wenige Minuten später, Jonas hatte das verräterische Poppen aus der Küche aufmerksam verfolgt, kehrte Erik mit einer großen, gut gefüllten Schüssel zurück und stellte sie auf dem Wohnzimmertisch ab. „Und? Fündig geworden?“

„Ähm, wie wär’s mit The Conjuring? Gibt’s grad auf Netflix.“

„Ah, okay …“

Eriks Zögern war Jonas nicht entgangen. „Hast du den schon gesehen?“

„Nein. Nein, habe ich nicht. Lass ihn uns ansehen.“

„Machst du das Licht aus? Sonst kommt ja gar keine Stimmung auf.“

„Mhm.“ Der Weg zum Lichtschalter schien ungewöhnlich lange zu dauern, aber kurz nachdem sich der Raum verdunkelt hatte, sank Erik neben Jonas auf die Couch.

Jonas‘ Augen waren auf den Bildschirm gerichtet, nur seine Hände ließen es sich nicht nehmen, Eriks nackten Oberkörper zu erkunden. „Du hast Gänsehaut“, stellte er fest. „Es is‘ aber auch irgendwie kalt.“

Wortlos zog Erik die Wolldecke von der Rücklehne des Sofas und breitete sie über ihnen aus. So zusammengekuschelt, war es unmöglich für Jonas, Eriks Zusammenzucken bei der ersten halbwegs unheimlichen Stelle zu ignorieren. „Erik … Kann es sein, dass du nich‘ auf Horrorfilme stehst?“

„Sagen wir, ich bin ein wenig schreckhaft.“

„Aww!“ Breit grinsend streichelte Jonas über Eriks Kopf. „Warte, ich hab ‘ne Idee.“ Er kippte zur Seite und zog Erik mit sich. „Okay, du musst mit deinem Kopf ein biss–“

„Autsch, meine Haare!“

„Sorry! Rutsch mal ‘n Stück nach …“

„Geht das?“

„Nee, nich‘ so wirklich. Wenn du noch ‘n bissl …“

„So?“

„Gib mir mal das Kissen. Okay … Japp, so geht’s!“

Jonas schlang einen Arm um Erik, schmiegte sich von hinten an dessen Körper und fühlte die Anspannung daraus weichen.

„Hmm, das ist besser“, raunte Erik.

„Find ich auch.“ Es war schön, zur Abwechslung mal derjenige zu sein, der die starke Schulter bot. Selbst, wenn es nur wegen eines dämlichen Horrorfilms war.

 

Kapitel 25

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Kapitel 26

Was zuletzt geschah:

Jonas und Erik verbringen ihre erste Nacht miteinander und einen beträchtlichen Teil des Folgetags. In ihrer letzten gemeinsamen Minute, stellt Erik eine Frage, die Jonas nur freudestrahlend mit ‚Ja!‘ beantworten kann. Aber natürlich kein sein Tag nicht so positiv enden, wie er begonnen hat.

Den Streit mit Larissa hätte Jonas vielleicht nach ein paar ruhigen Stunden weggesteckt, dummerweise beweisen seine Nachbarn exorbitant schlechtes Timing und treiben den Splitter ein gehöriges Stück tiefer in die Wunde.

 

Kapitel 26

Erik, 15:26 Uhr

Hey :)

Ich weiß, dass das schlechter Stil ist, aber wäre es sehr schlimm, wenn ich mich diese Woche bei dir zum Abendessen einlade?

 

Du, 16:04 Uhr

sorry. bin jetzt doch schon früher zu meinen eltern gefahren

 

Du, 16:04 Uhr

gesternabend angekommen

 

Du, 16:04 Uhr

sorry

 

Erik, 16:07 Uhr

Hoffentlich kein Notfall?

 

Du, 16:08 Uhr

nee

 

Du, 16:09 Uhr

nur heimweh

 

Erik, 16:09 Uhr

Ah, das verstehe ich :)

 

Du, 16:10 Uhr

nochmal sorry, dass ichs dir nich eher gesagt hab.

 

Du, 16:10 Uhr

war ne ziemlich spontane aktion.

 

Erik, 16:11 Uhr

Kein Problem :)

Du fehlst mir, aber das werde ich schon überstehen. Tank ein bisschen Kraft, bevor du dich wieder ins Stadt- und Unileben stürzt!

 

Du, 16:12 Uhr

werd ich machen.

 

Du, 16:12 Uhr

du fehlst mir auch

 

Du, 16:14 Uhr

vielleicht können wir mal telefonieren?

 

Erik, 16:14 Uhr

Gern :)

 

„Jonas!“ Die Stimme seiner Mutter schallte vom Hauptraum durch den Gang zu den Toiletten, in den er sich zurückgezogen hatte. „Die Grubers warten auf ihr Bier!“

„‘Tschuldige, Mama.“ Resolut schob Jonas sein schlechtes Gewissen beiseite. Sobald er etwas Luft zum Atmen hatte, würde er Erik anrufen und ihm den Grund für seine überstürzte Flucht nach Bayern erklären. Oder es zumindest versuchen. Eigentlich wäre es ihm lieber, nicht darüber zu sprechen. Nicht daran zu denken. Vielleicht konnte die Erklärung auch warten, bis er zurück in Berlin war? Ja, das musste definitiv reichen.

„Jonas!“

„Sorry!“ Eilig zapfte Jonas zwei Helle, brachte sie an den Vierertisch im hinteren Bereich der Gaststätte und beantwortete pflichtschuldig die Fragen, die er bereits den ganzen Tag aus verschiedenen Mündern gehört hatte. Ja, Berlin war ganz schön anders als das Leben hier. Ja, manchmal war es ihm zu laut und zu hektisch. Nein, er bereute den Umzug trotzdem nicht. Ja, das Studium gefiel ihm gut. Nein, einen Taxischein hatte er noch nicht gemacht. Genau, er konnte ja immer noch die Wirtschaft übernehmen, wenn das mit seinem Kunstkrempel nicht klappte.

Eine vertraute Hand legte sich auf Jonas‘ Schulter und ließ ihn herumwirbeln. Seine Schwester Christine musterte ihn mit einem wissenden Lächeln. „Na? Bedauerst du es schon, hier früher aufgetaucht zu sein?“ Sie zog sich ihre warme Wollmütze vom Kopf, die Wangen noch vom Fahrtwind gerötet.

„Bitte sag mir, dass du mich ablöst!“

„Nope, sorry. Hab noch Hausaufgaben, die gemacht werden wollen. Aber danach helfe ich dir, versprochen.“

„Ich hatte vergessen, wie scheißanstrengend es hier werden kann. Da is‘ mein Job in Berlin echt ‘n Dreck dagegen.“

„Tja, willkommen zuhause.“ Christine hockte sich auf einen der Barhocker und breitete ihre Unterlagen auf dem Tresen aus. „Bringst du mir eine Cola, Bruderherz?“

„Zahlst du dafür?“

„Haha. So lustig.“

Demonstrativ langsam füllte Jonas ein Glas mit der klebrigen Flüssigkeit und stellte es gerade so weit von Christine entfernt ab, damit sie sich strecken musste, um es zu erreichen. „Wie geht’s Nick?“

„Ganz gut. Wir–“ Die Tür öffnete sich und eine lärmende Meute junger Männer stürmte das Apfelbäumchen. „Uff, sieht aus, als sollte ich die Hausaufgaben auf später verschieben und dir lieber gleich unter die Arme greifen. Konzentrieren kann ich mich jetzt eh nicht mehr.“

„Nee, bleib sitzen. Ich hol dich dann schon, wenn’s zu hektisch werden sollt.“ Mit einem breiten Lächeln auf den Lippen, machte sich Jonas auf, die Neuankömmlinge zu begrüßen. Die meisten von ihnen kannte er aus der Schule oder hatte Fußball mit ihnen gespielt und zu seiner Überraschung, freute er sich darüber, sie wiederzusehen. Nur als er Clemens in der Gruppe entdeckte, flackerte sein Lächeln. Allerdings nur kurz, dann gewann die über lange Jahre trainierte Professionalität die Oberhand. „Servus! Was darf ich euch bringen?“

Die bunt gemischte Runde begrüßte ihn einstimmig und brav arbeitete sich Jonas durch dieselben Fragen, die ihm kurz zuvor die Grubers gestellt hatten, bevor er endlich die Bestellungen aufnehmen konnte. Beladen mit zwei vollen Tabletts, bei denen er sich fragte, ob sie schwerer geworden waren oder die Monate in Berlin ihn verweichlicht hatten, wankte er zum Tisch und servierte die jeweiligen Getränke.

„Setz dich doch ein paar Minuten zu uns“, bat Clemens und hielt Jonas‘ Ärmel fest. „Du hast doch sicher eine Menge zu erzählen.“

„Sorry, ich, ähm, hab grad viel zu tun. Wenn’s ‘n bissl ruhiger wird, schau ich mal vorbei, ja?“ Jonas entzog sich der Berührung und versuchte, Clemens kritischen Blick zu ignorieren.

Nachdem er sich vergewissert hatte, dass alle Gäste vorerst zufrieden waren, floh er in die Küche. „Brauchst du Hilfe, Papa?“

„Ähm, lass mal sehen. Hast du neue Essensbestellungen?“

„Im Moment nich‘.“

„Dann gibt es gerade nicht so viel zu tun. Die nächste große Welle kommt wahrscheinlich erst gegen sechs. Solange kannst du gerne wieder nach vorne gehen.“

„… okay …“ Jonas musste sich zwingen, einen Schritt Richtung Tür zu machen.

„Oder …“ Sein Vater drehte sich in der engen, aber gut ausgestatteten Küche um die eigene Achse und deutete schließlich auf die bereits blitzenden Arbeitsflächen gegenüber des Gasherds. „Die Oberflächen könnten mal wieder ordentlich gereinigt werden. Danach die Regale, falls du noch Zeit hast.“

„Wird erledigt!“ Dankbar für die Aufgabe fernab der Kundschaft, schnappte sich Jonas einen Schwamm. Er hatte die Putzaktion eben in Angriff genommen, als seine Mutter den Kopf in die Küche steckte.

„Jonas? Was machst du denn hier hinten? Clemens und seine Freunde sind da und ihre Gläser fast leer. Christine sagt, sie braucht noch eine halbe Stunde für ihr Schulzeug.“

„Ich habe ihn gebeten, hier ein wenig Klarschiff zu machen“, sprang ihm sein Vater zur Seite, bevor Jonas eine Ausrede stammeln konnte. „Müssen wir doch ausnutzen, wenn mal wieder ein paar Hände mehr da sind, die problemlos an die oberen Regale rankommen.“

Jonas‘ Mutter runzelte die Stirn, musterte ihre beiden Männer und verschwand mit einem resignierten Schulterzucken zurück in den Schankraum.

„Wie läuft’s in der Uni?“, fragte sein Vater nach einer Weile beiläufig.

„Ganz gut. Wir haben zum Glück kaum Klausuren, sondern eher Projektarbeiten und sowas. Da sind die Abgaben erst gegen Ende der vorlesungsfreien Zeit.“

„Schön, schön. Und sonst so?“

„Sonst … Läuft‘s auch ganz gut.“ Seit dreißig Sekunden rieb Jonas über dieselbe Stelle. „Ähm, Papa?“

„Was ist?“

„Als du damals hierher gezogen bist … Hast du dich da erstmal fremd gefühlt? Irgendwie … nich‘ zugehörig?“

„Ich verstehe nicht ganz, was du meinst?“ Das Stirnrunzeln seines Vaters war quasi hörbar. „Ich bin zugezogen, natürlich war man da mir gegenüber erst mal kritisch.“

„Ja, aber … Wie bist du damit umgegangen?“

„Na, ich habe mich eben an die hiesigen Gepflogenheiten angepasst.“

„Auch an die, mit denen du so gar nichts anfangen konntest?“, hakte Jonas nach.

„Manchmal muss man eben über seinen Schatten springen“, antwortete sein Vater achselzuckend. „Und wenn man immer nur aneckt, mal hinterfragen, ob das wirklich die Schuld der anderen ist. Oder, ob man an diesen Ort gehört.“

„Verstehe.“ Das war nicht unbedingt die Antwort, die Jonas hatte hören wollen.

„Du weißt, dass du hier immer willkommen bist, oder?“, fragte sein Vater.

„Jaah. Ja, weiß ich doch.“ Solange er sich ihren Werten und Ansichten beugte. „Ich guck mal wieder nach vorne, ob Mama Hilfe braucht. Die Regale wisch ich morgen ab, okay?“

„Dann aber wirklich!“

„Ja, Papa!“

Die Schultern kein bisschen leichter, aber dafür mit einer Menge neuer Gedanken im Kopf, stieß Jonas die Schwingtür auf und rempelte beinahe mit seiner Schwester zusammen. „Sorry.“

„Ich wollte dir gerade sagen, dass ich dich erst mal ablöse.“

„Musst du nich‘“, versicherte Jonas. „Gönn dir doch ‘ne Pause. Hast du überhaupt schon was gegessen?“

„Das passt schon. Du kannst dann ja die Nachtschicht übernehmen. Ich wette darauf, dass die da“, Christine nickte zu Clemens und seinen Freunden, „bis zum Schluss bleiben.“ Vertrauensvoll beugte sie sich vor. „Außerdem siehst du aus, als könntest du ein bisschen Zeit für dich gebrauchen.“

„Oh. Okay, danke. Kann ich dein Rad nehmen? Ich bring’s dann abends wieder mit.“

„Klar.“ Christine sah sich nach neugierigen Zuhörern um, bevor sie fortfuhr. „Es ist doch alles in Ordnung, oder?“

„Ja, klar, alles super.“

„Ich bohr nicht weiter nach“, versprach sie, „aber du siehst nicht besonders gut aus–“

„Danke.“

„Du weißt, wie ich das meine. Und, dass du so spontan hier aufgetaucht bist … Bitte sag mir, wenn ich etwas tun kann, ja?“

„Mach ich.“

„Versprochen?“

„Versprochen.“ Jonas warf einen Blick aus dem Fenster. „Etwas könntest du tatsächlich für mich tun.“

„Was denn?“

„Mir deine Mütze leihen. Bin’s nich‘ mehr gewohnt, bei dem Wetter mit dem Rad zu fahren.“

„Pah, du verweichlichtes Stadtkind.“ Lachend warf Christine ihm ihre Wollmütze ins Gesicht. „Wehe, die klaust du mir auch noch! Ich weiß genau, dass du meine andere mit nach Berlin genommen hast.“

„Hab ich nich‘!“ Hatte er doch. Aber Jonas war nicht gewillt, zu warten, bis Christine ihn zwang, das zuzugeben und schlüpfte an ihr vorbei in den Schankraum. Sein Plan, sich heimlich an Clemens und dessen Gruppe vorbei zu schleichen, ging allerdings nicht auf.

„Warte mal!“ Vertrauensvoll beugte sich Clemens über den Tisch. „Kommst du später noch mal wieder?“

Jonas zögerte, war sich letztlich aber im Klaren darüber, dass ihm eine Lüge nichts nutzen würde. „Japp, so ab neun, denk ich.“

„Klasse!“ Clemens zeigte sein unbedarftes Sunny-Boy-Grinsen, dessen Anblick jedes Mal geradewegs über Jonas‘ Netzhäute durch seinen Magen bis zu seinen Lenden schoss. „Ich wollte dich nämlich noch fragen, ob du Bock hättest, am Wochenende mit uns Skifahren zu gehen.“

„Oh, ähm, ich … Weiß nich‘?“

„Check einfach deinen Kalender und sag’s mir, wenn du wieder da bist, okay?“

Jonas nickte. „Okay … bis … später.“

 

Jonas lag auf einem Bett, das nicht länger sein Bett war, in einem Zimmer, das nicht mehr ihm gehörte. Als er seinen Vater angerufen und ihn gebeten hatte, früher nach Hause kommen zu dürfen, war ihm nicht klar gewesen, dass dieses ‚Zuhause‘ für ihn nicht mehr existierte. Das Dorf, in dem er sich nie wirklich wohl gefühlt hatte, war ihm ferner denn je und sogar seine eigene Familie schien kein vollständiger Teil mehr von ihm zu sein. Sie lebten ohne ihn weiter, er ohne sie.

Unfähig, länger still zu liegen, sprang Jonas vom Bett und lief ruhelos in seinem ehemaligen Zimmer auf und ab. Er hatte gehofft, hier ein wenig zu Atem zu kommen, sich in das vertraute Nest kuscheln zu können, stattdessen wusste er nun wieder, weshalb er ursprünglich unbedingt hatte ausziehen wollen. Zu viele Einschränkungen, zu viele Erwartungen, zu wenig Bedingungslosigkeit.

Frustriert griff er nach seinem Handy, suchte nach Ablenkung. Die Nachrichten, die er erhalten hatte, entpuppten sich dabei jedoch nicht als übermäßig hilfreich.

 

Esther, 17:04 Uhr

Ich kann verstehen, dass du sauer wegen der Sache am Montag bist und erst mal deine Ruhe willst, aber kannst du dich wenigstens kurz melden? Wir machen uns echt Sorgen.

 

Dazu zwei verpasste Anrufe von Kemal. Lediglich Larissa hüllte sich in Schweigen. Jonas seufzte. Ihm war klar, dass er mit seinem Rückzug die Falschen bestrafte und es nicht fair war, Esther und Kemal zu ignorieren. Sie hatten noch am selben Abend versucht, ihn zu erreichen, aber er hatte es nicht über sich gebracht, mit ihnen zu sprechen. Kein Wunder, dass sie sich Sorgen machten. Wenigstens das sollte er klären, wenn er im Moment auch sonst nichts auf die Reihe brachte.

 

Du, 17:58 Uhr

hey. alles gut! Denkt euch nix wegen neulich. war nich so schlimm. sorry für das lange schweigen. bin zu meinen eltern gefahren und komme erst in ein paar wochen wieder. dann melde ich mich bei euch.

 

Kaum hatte Jonas die Nachricht abgeschickt, klopfte jemand an seine Tür. „Ja?“

Das runzlige Gesicht seiner Großmutter erschien im Türspalt. Wann war sie so alt geworden? „I hob dir a hoaße Schokoladn g‘mocht. Kimmst owe?“

„Ähm …“ Bei genauerem Überlegen gab es bestimmt schlechtere Wege, sich auf andere Gedanken zu bringen. „Ich komm gleich.“

Die Schokolade war süß, heiß und so dickflüssig, dass Jonas sie fast kauen konnte. Eine dezente Zimtnote gab ihr etwas herrlich Weihnachtliches. „Danke, Oma.“

„Gern g‘scheh‘n, Bua.“

Das Küchenradio dudelte bayerische Volksmusik, vor der Jonas früher so bald wie möglich Reißaus genommen hatte, deren gewöhnungsbedürftige Töne in diesem Moment jedoch etwas Heimeliges an sich hatten. Die Welt drehte sich auch ohne ihn weiter, aber dieser Raum blieb unverändert.

„Sag mal, Oma, hast du ‘ne Ahnung, wo mein Snowboard abgeblieben is‘? Im Keller?“

„Dei wos?“

„Mein Snowb– Meine Skier.“

„Die san sicha im Kella. Soi i se suachn?“

„Mach dich nich‘ lächerlich!“, schimpfte Jonas. „Die such ich dann schon selbst.“ Er stand auf und schlurfte zum Herd. „Aber erst hol ich mir noch ‘ne Tasse. Deine heiße Schokolade is‘ klasse. Wie immer.“

„Die host scho ois kloana Bua g‘mocht“, erwiderte seine Oma. „A boh Sachn bleim oiwei glei.“

„Da hast du wohl recht.“ Die warme Tasse in der Hand, drehte sich Jonas um und betrachtete die alte Frau, die sich konzentriert über ihr Strickwerk beugte, um das vermutlich hundertste Paar Socken dieses noch jungen Jahres zu fabrizieren. „Ich hab dich lieb, Oma.“

„I di a, Bua.“

Schweigend trank Jonas seinen Kakao, spülte die leere Tasse ab und bereitete sich innerlich darauf vor, den Keller zu durchwühlen. Solange er denken konnte, war darin alles Mögliche verstaut, aber niemals etwas aussortiert worden. Vielleicht sollte er seiner Oma ein Wollknäuel abschwatzen, dessen Ende er an die Tür befestigen konnte. Brotkrümel schienen ihm wegen der Mäuse zu riskant.

Zu Jonas‘ Überraschung, fand er sein Snowboard zusammen mit all seinen Sachen, die er nicht mit nach Berlin genommen hatte, ohne wirklich danach suchen zu müssen. Seine Eltern hatten sie feinsäuberlich an der Wand gleich neben dem Eingang gestapelt und jeder einzelne Karton war mit der schnörkeligen Handschrift seiner Mutter versehen. Basteleien, Comics, Kuscheltiere, Schuhe, Wintersport. Aus letzterem zog Jonas seine Skihose hervor und entschied, dass sie einem weiteren Tag im Schnee standhalten konnte, sollte er sich entscheiden, Clemens‘ Einladung anzunehmen.

Sein Blick fiel auf seine alten Laufschuhe, die zusammen mit der winterfesten Kleidung verstaut waren und er erinnerte sich an die angenehme Schwere, die ihn nach einer ausgiebigen Runde durch den Wald zuverlässig überkommen hatte. Keine Grübelei, keine Zweifel. Nur Ruhe und das gelegentliche Zucken seiner erschöpften Muskulatur.

Ohne lange darüber nachzudenken, schlüpfte Jonas noch im Keller in seine Sportsachen, nahm lediglich eine Stirnleuchte und sein Handy mit und trabte durch den Garten bis zu dem schmalen Feldweg, der sich hinter dem Haus seiner Eltern entlangschlängelte. Ab dort begann er zu laufen.

 

Weiße Wölkchen schwebten vor Jonas‘ Gesicht und er gestand sich zähneknirschend ein, dass er, seit er nicht mehr regelmäßig Fußball spielte, ziemlich nachgelassen hatte. Vor seinem Umzug nach Berlin hatte er den Waldrand ohne sichtliche Anstrengung erreicht, jetzt ging sein Atem bereits merklich schneller und er musste sein Tempo drosseln.

Die Luft war kalt und erdig, der gefrorene Boden ließ seine Schritte federn. Er setzte Fuß vor Fuß und obwohl es ein wenig länger dauerte als früher, verfiel er letztlich in diesen tranceartigen Zustand, in dem nur noch sein Körper, sein Atem, sein nächster Schritt zählte.

Immer tiefer lief Jonas in den Wald, nahm kaum erkennbare Abzweigungen, wich niedrigen Ästen aus. Endlich, zum ersten Mal seit Wochen, war sein Kopf leer, war niemand um ihn herum, niemand in seinen Gedanken. Niemand, der an ihm zerrte, forderte, erwartete, hinterfragte. Zum ersten Mal seit Wochen war er nur er selbst und glücklich damit. Jonas‘ Handy klingelte. Er wies den Anrufer ab, ohne auf den Namen zu achten.

 

Atemlos und trotz des kalten Wetters völlig verschwitzt, schleppte sich Jonas die Stufen zu seinem Zimmer nach oben. Er hätte die kleinere Runde nehmen sollen. Wie seine Beine ihn jetzt noch durch die Spätschicht im Apfelbäumchen tragen sollten, war ihm ein Rätsel. Ein heißes Bad schien eine gute Erste-Hilfe-Maßnahme zu sein, um wenigstens den gröbsten Schaden abzuwenden.

Während das Wasser blubbernd in die Badewanne sprudelte und sich der Duft nach Tannengrün im Raum ausbreitete, entsorgte Jonas seine durchgeschwitzten Klamotten im Wäschekorb. Gerade noch rechtzeitig erinnerte er sich an sein Handy und rettete es aus der Innentasche der Funktionsjacke, die dank der Lagerung im Keller weniger verschwitzt als modrig war. Ohne auch nur einen Zeh ins Badewasser gestreckt zu haben, breitete sich ein warmes Gefühl in seinem Körper aus. Erik war der unbekannte Anrufer gewesen und Jonas hoffte, ihn zu erreichen, bevor er zur Arbeit aufbrach.

Nach nur drei Klingelzeichen nahm ihm Eriks weiche Stimme die Befürchtung, zu spät dran zu sein. „Hey.“ Diese kleine Silbe reichte, um Jonas‘ Sehnsucht zu wecken. Sehnsucht nach Eriks Händen, die zärtlich über seinen Körper strichen und nach seinen Lippen, die sich bei seinem Anblick zu einem Lächeln kräuselten. Sehnsucht nach Eriks Art, Jonas zu zeigen, dass er ihn glücklich machte.

Vermutlich sollte er ihm all das sagen. Stattdessen brachte er lediglich ein schwaches ‚Hi‘ hervor.

„Wie geht’s dir?“, fragte Erik. „Zuhause alles gut?“

„Jaah. Ja, schon. Nochmal sorry, dass ich so plötzlich weg bin. Ich … hab mal ‘ne Pause von Berlin gebraucht.“ Jonas drehte den Hahn zu, bevor er Gefahr lief, seine Eltern mit einem Wasserschaden zu erfreuen.

„Dafür musst du dich bei mir nicht entschuldigen“ sagte Erik. „Ich weiß noch, wie es mir ging, als ich hierhergezogen bin. Am Anfang dachte ich, der Unterschied zu Stuttgart würde schon nicht so groß sein. Ein bisschen mehr Verkehr, ein bisschen mehr Hektik. Nichts Besonderes. Was es bedeutet, sein komplettes soziales Umfeld zurückzulassen, ist mir erst nach dem Umzug klargeworden.“

Das heiße Badewasser umspülte Jonas‘ Füße, als er sich auf den Wannenrand setzte. „Is‘ echt scheißschwer.“

„Mhm.“ Ein kurzes Schweigen entstand. „Ah, kann ich dich … Ist zwischen uns alles in Ordnung?“

Jonas seufzte, rutschte vom Wannenrand vollständig ins heiße Wasser. „Meine Flucht hierher hat dir ‘nen ziemlichen Schrecken eingejagt, was?“ Und dass er seinen Anruf weggedrückt hatte, hatte sicher nicht zu Eriks Beruhigung beigetragen.

Erik zögerte einen Moment, bevor er antwortete. „Am Wochenende ist einiges passiert und ich kann schon verstehen, wenn das zu viel auf einmal gewesen sein sollte.“

„Nee, das …“ Jonas rieb sich übers Gesicht und bekam prompt Badeschaum ins Auge. „Fuck. Fuck!“

„Jonas?“, fragte Erik alarmiert. „Ist alles in Ordnung?“

„Ja–ah! Shit! Ich hab bloß Seife im Aug. Dachte, Telefonieren und Baden gleichzeitig wär ‘ne gute Idee. Mein Fehler.“ Wild blinzelnd ließ er die Tränen, die aus seinem gereizten Auge flossen ihre Arbeit machen. „Okay. Wird besser.“

Am anderen Ende der Leitung atmete Erik hörbar auf.

„Und Erik?“

„Ja?“

„Es hatte nix mit dir zu tun. Mit uns. Höchstens indirekt, aber auch das eigentlich nich‘. Es war … Der Abend mit meinen Freunden is‘ echt scheiße gelaufen und als ich nach Hause kam …“ Jonas hielt inne. Er hatte keine Lust über die Schmiererei an seiner Tür zu sprechen. Nicht jetzt. Damit musste er sich noch früh genug auseinandersetzen. „Ich fühl mich in Berlin einfach fehl am Platz. Hier im Dorf war ich der Sonderling. Der Rebell. Und ich dachte, Berlin würd mir endlich die Möglichkeit geben, mich voll auszuleben, aber … Dort bin ich kein Rebell. Ich bin belangloser Scheißdurchschnitt. Wenn überhaupt. Ich bin nich’ halb so kreativ wie ich dachte. Du solltest mal sehen, was meine Kommilitonen schon so alles auf die Beine gestellt haben. Fuck, so gut werd ich mein Leben nich‘. Und … eigentlich dacht ich, ich würd immer zu meiner Meinung stehen, aber Überraschung, offenbar tu ich das bloß, wenn ich entweder davon ausgehen kann, dass andere ohnehin derselben Meinung sind, oder sie für so abseitig halten, dass sie mich sowieso nich‘ wirklich ernst nehmen und alles auf meine ‚rebellisch Phase‘ schieben, um mal die Worte meiner Mum zu verwenden. Ich fühl mich klein und unbedeutend und dumm und feige. Also wollte ich zurück hierher. Zu meinem Zuhause. Aber …“ Jonas atmete einmal tief durch. „Wie sich herausgestellt hat, fühl ich mich hier genauso falsch wie in Berlin. Irgendwie sin‘ die Probleme dieselben und irgendwie auch nich‘ und … Naja … Nur, falls du dich gefragt haben solltest, was grad so alles schief bei mir läuft.“

„Ich wünschte, ich könnte dir etwas Sinnvolles sagen“, gestand Erik nach einigen Sekunden. „Irgendetwas, das dir wirklich weiterhilft. Aber ich fürchte, ich kann dir nicht viel mehr anbieten als dir zuzuhören.“

„Das reicht mir“, flüsterte Jonas. „Alles andere muss ich mit mir selbst ausmachen. Mir is‘ nur wichtig, dass du weißt, dass ich nich‘ wegen dir abgehauen bin.“ Gedankenverloren beobachtete er die kleinen Schaumbläschen auf der Wasseroberfläche, die mit jeder Bewegung durch die Wanne gewirbelt wurden. „Ich war vorhin Joggen. Deshalb ich bin ich auch nich‘ rangegangen, als du mich angerufen hast. Nich‘, weil ich nich‘ mit dir reden wollt oder so. Und … Es hat sich sooo verfickt gut angefühlt. Mal wieder allein sein. Also … werd ich das wohl wieder öfter machen. Und, ähm, mir vielleicht doch ‘nen Sportverein suchen. Weiß noch nich‘, ob’s Fußball wird oder ich mal was Andres versuchen will, aber … mir fehlt dieses Mannschaftsgefühl.“

„Das klingt doch aber, als hätte deine Fahrt nach Hause schon einiges in Bewegung gesetzt“, sagte Erik. „Dabei bist du gerade mal einen Tag dort.“

„Vielleicht.“ Jonas wünschte, er könnte sich so sicher sein wie Erik. „Halt ich dich eigentlich grad von der Arbeit ab?“

„Nein, keine Sorge. Heute fange ich nicht vor neun an. Wir haben also noch genug Zeit zum Reden, wenn du magst.“

„Erzähl mir was Peinliches von dir“, forderte Jonas unvermittelt.

„Ah … Okay?“ Erik klang nicht überzeugt.

„Irgendwas, völlig egal. Hauptsache, wir können beide drüber lachen. Ich mag nich‘ immer nur so Krisengespräch mit dir führen. Danach erzähl ich dir auch was von mir. Versprochen.“

„Lass mich überlegen. Hmm … Ah, ja. Seit dich dreizehn bin, versuche ich, jeden Tag nach dem Aufstehen wenigstens eine halbe Stunde lang Yoga zu machen.“

„Das … is‘ echt scheißenttäuschend. Ich mein, okay, Yoga is‘ vielleicht nich‘ der männlichste Sport der Welt, aber … Komm schon? Versuchst du gerade wirklich, mir deine Disziplin als etwas Peinliches zu verkaufen?“

„Ich war noch nicht fertig“, erwiderte Erik gelassen. „Damit angefangen habe ich ursprünglich, weil ich unbedingt gelenkig genug werden wollte, um mir selbst einen zu blasen.“

Um ein Haar wäre Jonas‘ Handy im Wasser gelandet, als dieser in Gelächter ausbrach. „Und?“, japste er atemlos. „Kannst du?“

„Ah, sagen wir, in der Praxis ist das Ganze recht unbequem und wirklich sehr, sehr entwürdigend. Du bist übrigens der Erste, dem ich das erzähle.“

„Ich fühle mich geehrt, dass du so scheißviel Vertrauen in mich setzt.“

„Du bist dran.“

„Ach so. Nee, da hab ich gelogen. Ich erzähl doch nix von mir.“

„Ich werde dich nicht dazu zwingen“, versprach Erik. Plötzlich wurde seine Stimme rauer. „Aber du darfst mir glauben, dass ich dich das büßen lasse, sobald du wieder in Berlin bist.“

„Eeeeriiiiik“, jammerte Jonas. „Sowas darfst du mir doch nich‘ sagen, wenn ich nackt und allein in der Wanne liege.“

„Nackt und allein, hm? Vielleicht überlege ich mir das mit der Strafe noch mal, wenn du mir ein paar zusätzliche Details lieferst.“

„Zum Beispiel, dass mein Badezusatz meine Haut ganz glitschig macht? Was ich deswegen so genau weiß, weil ich gerade mit meiner freien Hand über meinen nackten Bauch streiche?“

„Mhm. Ungefähr sowas hatte ich mir vorgestellt.“

„Oder, dass mich die Wassertropfen, die über meinen Hals rinnen, an deine Fingerspitzen erinnern?“

„Mhm.“

„Dass ich …“ Mit jedem Satz ließ Jonas ein Stück seiner Hemmungen hinter sich und erfreute Erik schon bald mit einer ausgesprochen expliziten Beschreibung seines derzeitigen körperlichen Zustands.

Als er das Gespräch beendete, war das Wasser kalt, aber alles andere an ihm warm.

 

„Da bin ich wieder!“ Zielgerichtet steuerte Jonas auf den Tisch zu, an dem Clemens und seine Freunde noch immer versumpften. Die Fahrt zum Apfelbäumchen hatte er dafür genutzt, seinen Mut zusammenzukratzen.

„Hast dir gan‘schön Sseit gelass’n“, nuschelte Clemens und hob sein halbleeres Bier zum Gruß. „Bringssst du mir noch‘ns?“

„Klar, mach ich gleich“, versprach Jonas. „Und sag mir Bescheid, wann ihr in die Berge fahrt. Ich will mit!“

 

Kapitel 27

Was zuletzt geschah:

Die Heimat hat Jonas wieder, mit all ihren guten und schlechten Seiten. Endlose Fragen kratzen an eiternden Wunden, endlose Waldläufe desinfizieren sie. Erik bleibt vorerst in Berlin zurück, dafür rufen Clemens und das Gebirge.

 

Kapitel 27

Zurück im Dorf waren die Straßen frei von Schnee und Dunkelheit umhüllte die akkurat gepflegten Vorgärten. Nur die beiden Kegel des Scheinwerferlichts durchbrachen den idyllischen Frieden.

„Danke fürs Mitnehmen“, sagte Jonas, als der Wagen vor dem Haus seiner Eltern hielt.

„Ach, Quatsch“, wehrte Clemens ab. „Es war eh noch ein Platz bei mir frei, du wohnst praktisch ums Eck und ich wollte sowieso mal wieder was mit dir machen. Der Skiausflug war also die perfekte Gelegenheit. Wie geht’s dem Arm?“

„Scheißfantastisch.“ Neben dem obligatorischen Muskelkater, würde Jonas beim Aufwachen vermutlich ein gewaltiger blauer Fleck begrüßen. „Hätte nich‘ gedacht, dass ich so aus der Übung bin.“

Clemens lachte. „War aber ein beeindruckender Sturz. Verflucht schade, dass das keiner gefilmt hat.“

„Zum Glück is‘ nix weiter passiert. Wär verfickt peinlich geworden, wenn gleich die erste Abfahrt mit ‘nem Krankentransport geendet hätte.“

„Was nur mal wieder beweist, dass es ohne dich echt verflucht langweilig hier geworden ist.“

„Deshalb wohnst du jetzt ja auch in München.“

„Ist trotzdem nicht dasselbe.“

Die beiden starrten aus dem Fenster auf die verlassene Straße. Irgendwo in der Ferne sprang ein Bewegungsmelder an und tauchte einen Teil des Gehwegs in kaltes Licht. „Ich sollt dann wohl endlich mal aussteigen.“ Jonas rappelte sich auf. „Also, bis demnächst mal …“

„Willst du noch auf ein Bier mit zu mir kommen?“, fragte Clemens plötzlich.

„Oh. Ähm …“ Jonas öffnete den Mund zu einer Ablehnung, zögerte dann jedoch. Wollte er wirklich den Rest seines Lebens vor seinem ehemals besten Freund weglaufen? Er sank zurück auf den Sitz. „Klar. Bier klingt gut.“

Clemens grinste breit. „Yeah!“

Obwohl Jonas seit Jahren nicht mehr in Clemens‘ Haus gewesen war, fühlte es sich beinahe vertrauter an als sein eigenes. Im Eingang hingen dieselben Familienfotos, im Esszimmer stand noch immer die alte Eckbank mit den durchgesessenen, blauweißen Sitzbezügen und selbst die Biermarke war die gleiche, die sie schon mit dreizehn heimlich aus dem Kühlschrank stibitzt hatten.

Clemens reichte Jonas eine kühle Flasche. „Gehen wir in mein Zimmer? Da haben wir Ruhe.“

„Isses denn noch ‚dein Zimmer‘?“, fragte Jonas neugierig. „Kein Gästezimmer oder so?“

„Nee, ich durfte nicht mal meine Poster von der Wand nehmen, um sie im Wohnheim aufzuhängen. Manchmal übertreibt meine Mutter echt.“

Clemens hatte nicht gelogen. Anders als der Rest des Hauses, hatte sich sein Zimmer zwar verändert, seit Jonas das letzte Mal dessen Schwelle übertreten hatte, aber es war noch immer eindeutig seins. Keine Popstars an den Wänden, keine Einhornfiguren auf den Regalen. Dafür jede Menge Pokale und Medaillen diverser Sportveranstaltungen, ein paar Hanteln und natürlich der FC Bayern Schal, den Jonas ihm vor ein paar Jahren zum Geburtstag geschenkt hatte.

Er deutete darauf. „Nich‘ mal den durftest du mitnehmen? Das is‘ ja scheißfies.“

„Aber echt, oder?“ Clemens ließ sich rücklings auf sein Bett fallen und bedeutete Jonas mit einer Geste, seinem Beispiel zu folgen. „Wie läuft’s in Berlin?“

„Is‘ echt okay. Bei dir?“

„Auch.“ Clemens zuckte mit den Schultern. „Vielleicht komm ich dich im Sommer mal besuchen. Also ich meine, ich wollte eh mal nach Berlin und da bietet es sich ja an, dass wir was machen, oder?“

„Japp. Meld dich dann einfach.“

Schweigend saßen sie auf Clemens‘ Bett, den Rücken gegen die Wand gelehnt und tranken ihr Bier.

„Wie geht’s Maria?“, erkundigte sich Clemens nach einigen Minuten. „Ihr habt euch getrennt, bevor du nach Berlin bist, oder? Ich sehe sie manchmal im Wohnheim, aber irgendwie scheint sie mir ziemlich ausm Weg zu gehen.“

„Nimm das nich‘ persönlich. Maria geht jedem ausm Weg. Sie is‘ einfach lieber für sich.“ Das war nur die halbe Wahrheit, aber Jonas wollte Marias Probleme nicht hinter ihrem Rücken breittreten.

„Hat sie dich deswegen Silvester vor der Tür versauern lassen?“, fragte Clemens grinsend. „Mein Stockwerk spricht immer noch davon.“

Jonas verzog das Gesicht. „Könnten wir da den Mantel des Schweigens drüberbreiten?“

„Nee, Mann, das musst du schon noch ein paar Jahre ertragen. Da fällt mir ein …“ Ruckartig setzte sich Clemens auf. „So ein Typ ausm Wohnheim hat eine Band und mir irgendeine Demo-CD mitgegeben. Hab ihm versprochen, mal reinzuhören, bin aber bisher nicht dazu gekommen. Okay, ich hatte keinen Bock. Soll ich sie mal auflegen?“

„Damit wenigstens einer mit dir mitleidet?“

„Ja.“

„Nur, wenn du mir zum Ausgleich noch ‘n Bier holst.“ Auffordernd hielt Jonas Clemens seine erstaunlich schnell geleerte Flasche entgegen.

Neun eher mäßige, dafür aber überlange Songs und ein paar Bier später, lagen die beiden nebeneinander auf dem Bett. Ihre Schultern und Oberschenkel berührten sich, aber zum ersten Mal seit Jahren überkam Jonas nicht das Bedürfnis, panisch zur Seite zu rutschen.

„Jetzt weiß ich wenigstens, dass ich sicher nicht hingehe, wenn der Typ mal irgendwo spielt“, brummte Clemens. „Außerdem muss ich echt mal pissen.“ Er wandte sich zu Jonas. „Noch ein Bier?“

Kritisch hielt Jonas seine Flasche gegen das Licht. Sie war fast leer und sein Kopf noch nicht so vernebelt, dass er Gefahr lief, etwas wirklich Dummes zu tun. „Klar.“

Etwas wacklig auf den Beinen, schlurfte Clemens aus dem Zimmer und Jonas nutzte die Gelegenheit, um einen Blick auf sein Handy zu werfen.

 

Erik, 18:38 Uhr

Frage: Wie oft kann man innerhalb einer Woche beim Pizzadienst bestellen, ohne erbärmlich zu wirken?

 

Du, 20:49 Uhr

einmal mehr geht immer.

 

Du, 20:49 Uhr

willst du damit sagen, dass du meine kochkunst vermisst?

 

Obwohl seit Eriks ursprünglicher Nachricht bereits ein paar Stunden vergangen waren, antwortete er prompt.

 

Erik, 20:50 Uhr

Nicht nur die ;)

Bist du schon zurück vom Skifahren?

 

Du, 20:50 Uhr

schon lang. bin grad noch bei nem freund.

 

Du, 20:51 Uhr

wir trinken bier und hören echt schlechte musik.

 

Erik, 20:51 Uhr

Klingt, als hättest du einen schönen Tag (gehabt) :)

 

Du, 20:52 Uhr

japp.

 

Du, 20:52 Uhr

noch besser, wenn du auch hier wärst.

 

Du, 20:53 Uhr

und mein arm nich so scheiße weh täte

 

Erik, 20:53 Uhr

Bist du gestürzt?

 

Du, 20:53 Uhr

nennen wir es gestürzt. und nich etwa ‚über die eigenen füße gefallen‘

 

Erik, 20:54 Uhr

Oh je :(

Wie gerne würde ich dir jetzt sanft den Kopf tätscheln.

 

Du, 20:54

vielleicht doch gut, dass du nich da bist

 

Erik, 20:54 Uhr

Hey!

Gemein :P

 

„Den Ausdruck kenne ich!“ Clemens‘ plötzliches Auftauchen wischte das Lächeln aus Jonas‘ Gesicht, aber davon ließ sich sein Freund nicht beirren. Das Bett knarzte laut, als er sich neben Jonas fallen ließ und versuchte, einen Blick auf dessen Handy zu erhaschen. „Neue Freundin?“

„Ähm …“, stotterte Jonas und schloss rasch seinen Chat mit Erik. „Das … also …“

„Was ist los?“, fragte Clemens hämisch grinsend. „Ist sie hässlich? Verheiratet? Ein Kerl?“

„Japp“, antwortete Jonas schlicht, bevor er kneifen konnte.

„Was ‚Japp‘? Hässlich?“

„Nee, das wirklich nich‘.“

„Du vögelst ‘ne verheiratete Frau?“, rief Clemens gleichermaßen vorwurfsvoll wie begeistert. „Hätte ich nicht von dir erwartet. Die einsame Nachbarin, deren Mann ständig auf Dienstreise ist?“

„Was? Nein!“

„Wen dann? Eine Professorin? Oh bitte sag mir, dass du dir eine verheiratete Professorin gekrallt hast.“

„Ich hab nie von verheiratet geredet!“, rief Jonas. Himmel, war Clemens schon immer so begriffsstutzig gewesen? Vielleicht sollte er das Ganze einfach als Scherz deklarieren und gut sein lassen.

„Jetzt gehen mir aber langsam die Optionen aus“, beschwerte sich Clemens. „Hässlich ist sie nicht, verheiratet ist sie nicht … Was habe ich denn noch gesagt?“

Jonas starrte ihn mit offenem Mund an. „Kerl. Du hast ‚Kerl‘ gesagt.“

„Ach soooo.“ Ungeduldig winkte Clemens ab. „Das war doch bloß ein Scherz. Waren die anderen Vorschläge auch, aber–“ Abrupt stoppte er und Jonas konnte zusehen, wie seine Augen die Größe von Untertassen erreichten. Von einer Sekunde auf die nächste sprang Clemens vom Bett, lief im Zimmer auf und ab. „Shit! Echt jetzt? Shit!“

Mit wachsender Panik überlegte Jonas, was gerade in Clemens‘ Kopf vor sich gehen musste. Die unzähligen Male, die sie beim jeweils anderen übernachtet hatten, ihre freundschaftlichen Rangeleien, die Gemeinschaftsduschen im Anschluss an ein Fußballspiel. Er streckte die Hand nach Clemens aus, besann sich aber eines Besseren und ließ sie wieder sinken.

„Hast du dich deswegen so zurückgezogen?“, wollte Clemens plötzlich wissen.

Jonas hatte keine Ahnung, was er darauf antworten sollte. Zuzugeben, dass er schwul war, hatte mehr als genug Mut erfordert und Clemens‘ schockierte Reaktion war weit schmerzhafter, als er sich eingestehen wollte. Ihn jetzt noch damit zu konfrontieren, dass er seine halbe Jugend hoffnungslos in ihn verliebt gewesen war, war einfach zu viel. Es war Zeit, zu gehen. Mit etwas Glück würde Clemens wenigstens Stillschweigen über die Sache bewahren.

„Sag halt was!“, forderte Clemens, bevor Jonas eine Chance hatte, seinen Fluchtplan in die Tat umzusetzen. „Ich weiß, dass ich manchmal echt Scheiße labere. Als wir jünger waren sowieso. Shit, mir fallen so viele blöde Sprüche ein, die ich irgendwann mal über Schwule losgelassen habe. Oder nein, du warst ja mit Maria zusammen. Also bist du … bi?“ Er schüttelte den Kopf. „Scheiß drauf. Wie man’s nennt, ist jetzt nicht wichtig. Bist du deswegen irgendwann nicht mehr mit uns rumgehangen?“

„Was?“, fragte Jonas, verwirrt von Clemens‘ Gedankensprüngen und seinen eigenen Erwartungen.

„Habe ich mal irgendeinen Scheiß gelabert, der dich verletzt hat?“

Jonas‘ hysterisches Gelächter brachte Clemens sichtlich aus der Fassung. „Sorry“, japste Jonas, nachdem er sich wieder gefangen hatte und wischte sich eine Träne aus dem Auge. „Ähm, nein. Du hast mich nich‘ verletzt. Nich‘ wirklich.“ Deutlich leiser fügte er hinzu: „Verunsichert, manchmal.“

„Tut mir leid.“ Nach kurzem Zögern setzte sich Clemens wieder aufs Bett. „Shit, ich wusste, dass ich ein unsensibler Depp sein kann, aber … Shit. Sorry.“

„Is‘ okay“, murmelte Jonas. „Also … Is‘ alles gut zwischen uns? Nich‘ irgendwie komisch?“

„Quatsch.“ Clemens ließ sich nach hinten fallen, verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Bin froh, dass du’s mir erzählt hast. Und tut mir leid, wenn ich dir das Gefühl gegeben habe, das nicht schon eher tun zu können.“

„Passt schon.“

„Ich bin jetzt aber nicht der Erste, dem du’s erzählst, oder?“, fragte Clemens mit einem Hauch Panik in der Stimme.

„Nee. Maria weiß es schon lang. Wir … Wir waren übrigens nie wirklich zusammen. Ich bin … also, ich mein … ich steh ausschließlich auf Kerle.“ Wieso jetzt noch mit Details hinterm Berg halten? „Christine hab ich‘s über Weihnachten erzählt. Ein paar Leute aus Berlin wissen’s auch noch. Aber, ähm, ich wär dir dankbar, wenn du’s nich‘ rumerzählen würdest. Meine Eltern wissen’s noch nich‘ und ich will nich‘, dass sie’s durch Dorftratsch erfahren. Hab eh schon ‘n schlechtes Gewissen. Fühlt sich beschissen an, sie so auszuschließen, grad jetzt mit meinem Freund und so, aber …“ Frustriert seufzte Jonas. „Naja, jedenfalls wär ich dir für dein Schweigen echt dankbar.“

„Kein Ding, Mann“, versprach Clemens. „Ich wüsste auch nicht, wie ich sowas meinen Eltern erzählen sollte. Äh, also nicht, dass irgendwas falsch dran ist schwul zu sein“, fügte er schnell hinzu. „Shit, das kam jetzt falsch rüber, oder? Ich wollte nur sagen, dass sie halt doch irgendwie konservativ sind und das macht es nicht gerade leichter.“

Anstelle einer Antwort, trank Jonas einen großen Schluck Bier.

„Also bist du fest mit jemandem zusammen?“

„Oh, ähm, ja …“ Jonas‘ Wangen wurden heiß. „Aber erst seit kurzem.“

Nachdenklich blickte Clemens zur Decke. „Muss schon geil sein, mit jemandem zu schnaxln, der genau weiß, wo er hinlangen muss.“

Beinahe hätte sich Jonas vor Lachen an seinem Bier verschluckt. „Ich kann nich‘ klagen.“

„Hast du eigentlich die Vierschanzentournee verfolgt?“, fragte Clemens nach kurzem Schweigen.

„Klar.“

„Was sagst du zu …“ Ohne weitere Überleitung versanken die beiden in sportliche Fachsimpelei.

Irgendwann in den frühen Morgenstunden stolperte Jonas nach Hause. Angetrunken, todmüde und ziemlich glücklich.

 

 

Kapitel 28

Was zuletzt geschah:

Jonas harrt weiterhin in seinem Elternhaus in Bayern aus, ohne sich dort wirklich zuhause zu fühlen. Genervt von seiner Passivität beschließt er, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen und verabredet sich mit seiner Jugendliebe Clemens zum Skifahren, um eine fast vergessene Freundschaft neu aufleben zu lassen. Der Tag verläuft nicht völlig schmerzfrei, aber glücklicherweise ohne Knochenbrüche. Gut gelaunt lässt sich Jonas überzeugen, den Abend zusammen mit Clemens bei ein paar Bier ausklingen zu lassen. Dabei wagt er sich an eine Herausforderung, gegen die sich eine Schwarze Piste wie der Kinderhügel anfühlt – er erzählt Clemens von Erik und wird für seinen Mut mit Akzeptanz und Freundschaft belohnt.

 

Kapitel 28

Schnuppernd hielt Jonas die Nase ins Esszimmer, dicht gefolgt von Christine und Maria.

Der berühmte Schweinebraten in Dunkelbiersoße seines Vaters duftete himmlisch, grüne Bohnen und mit geröstetem Weißbrot gefüllte Kartoffelknödel rundeten das Bild ab. Der wenige freie Platz, den der Küchentisch noch bot, wurde von gegrilltem Wurzelgemüse, Blaukrautsalat und Semmelknödelauflauf besetzt. Gedämpftes Licht, das sich in den Gläsern brach, sorgte für einige urige Atmosphäre, mit der Jonas‘ Meinung nach kein noch so schickes Berliner Lokal mithalten konnte.

„Fuck, wer soll’n das alles essen?“, fragte er.

„Challenge accepted!“, rief seine Schwester grinsend und ließ sich auf ihren Stuhl fallen.

„Du fängst erst an, wenn alle an ihrem Platz sitzen!“, schimpfte ihre Mutter aus der Küche.

„Jawohl, Mutter!“, brüllte Christine – deutlich lauter als nötig – zurück.

„Und Jonas, nochmal so ein Wort und du brauchst dir keine Gedanken mehr machen, wer das alles isst. Du bist es dann nämlich sicher nicht!“

„‘Tschuldige, Mama“, murrte Jonas über das Kichern seiner beiden Begleiterinnen hinweg. Er nutzte die Gelegenheit, um einen Blick auf sein Handy zu werfen und konnte nur mit Mühe ein Lachen unterdrücken. Erik hatte ihm das Foto einer Tiefkühlpizza geschickt, auf deren Karton ein mit einem traurigen Smiley bekritzeltes Post-It klebte. Zur Antwort schoss Jonas ein Foto des aufwändig gedeckten Esstischs.

„Hast du kleiner Hipster gerade wirklich dein Essen fotografiert?“, fragte Christine entsetzt.

„Jonas, leg dein Handy weg!“, forderte sein Vater, während er die Getränke von der Küche ins Esszimmer trug. „Wir wollen essen.“

„Mit wem schreibst du überhaupt die ganze Zeit?“, fragte seine Mutter.

„Einem, ähm, Freund.“

„Der, von dem du mir schon erzählst hast?“, bohrte sie weiter. „Der bei dir ums Eck arbeitet?“

„Jaah. Genau der.“ Jonas konnte Marias und Christines Blicke auf sich spüren. „Und ich hab ihm nur gezeigt, wie toll ich hier bekocht werd.“

„Was soll der Aufwand eigentlich?“, fragte Christine. „Man sollte meinen, ihr wüsstet euren einen freien Tag in der Woche besser zu schätzen.“

„Wir müssen es doch ausnutzen, wenn mal wieder die ganze Familie versammelt ist“, erklärte ihr Vater lächelnd und zwinkerte Maria zu. Ein kalter Schauer jagte über Jonas‘ Rücken und dem Gesichtsausdruck seiner Schwester nach zu urteilen, war er nicht er einzige, der einen größeren Plan hinter diesem Essen witterte.

„Ihr werdet verkuppelt“, wisperte sie hinter vorgehaltener Hand.

„Bitte nicht“, seufzte Maria und Jonas schloss sich ihrem Flehen still an.

„Worüber redet ihr?“, fragte Vroni; entrüstet, dass sie wie so oft von ihren älteren Geschwistern ausgeschlossen wurde.

„Darüber, wie lecker das Essen ist“, sagte Jonas schnell. Das stimmte zwar, aber allzu oft konnte er diese Ausrede am heutigen Abend nicht mehr verwenden. Irgendwann würden sogar seine Eltern misstrauisch werden.

„So, Maria.“ Das überfreundliche Lächeln seiner Mutter war gruselig. „Was macht das Studium?“

 

Ein üppiges Abendessen – begleitet von einem noch üppigeren Verhör – später, versteckten sich Jonas, Christine und Maria im ausgebauten Speicher vor weiteren unangenehmen Fragen.

Stöhnend ließ sich Christine auf ihr Bett fallen und rieb über ihren gut gefüllten Magen. „Okay Jonas, Zeit für ein paar ehrliche Antworten.“

Jonas sank noch etwas tiefer in den mit blauem Kunstpelz bezogenen Sitzsack. Er hatte eine Ahnung, was gleich kommen würde.

„Wie zum Teufel hast du zwei Portionen Nachtisch geschafft?“, wollte Christine wissen. „Ich hatte nicht einmal eine Halbe und bin kurz vorm Platzen!“

„Entschlossenheit“, antwortete Jonas schlicht. Er war sich sicher gewesen, gleich über Erik ausgehorcht zu werden, aber anscheinend hatte er sich getäuscht.

„Du hast echt was aus dem Speicher gemacht, seit ich das letzte Mal hier war“, stellte Maria bewundernd fest. Sie war die einzige, die sich noch keinen Platz zum Faulenzen gesucht hatte. Stattdessen stand sie auf der Bodenklappe in der Mitte des Raums und sah sich neugierig um.

„Du weißt doch, Maria. Groß genug, damit jemand darin übernachten kann, sollte sie länger bleiben wollen. Zum Beispiel, weil diese Person sich dazu entschieden hat, doch eine Fernbeziehung mit meinem lieben Bruder zu wagen und die Zeit, die beide in Bayern sind, nutzen möchte.“

Jonas rollte mit den Augen. „Ich glaub, mein persönliches Scheißhighlight war Mums Erzählung von ihrer Freundin, deren Mann im Ausland arbeitet ‚aber sie schaffen es trotzdem zusammenzubleiben, weil sie sich lieben und füreinander gemacht sind‘.“

„Ehrlich?“, fragte Maria. „Nicht die ‚früher haben wir noch an unseren Beziehungen gearbeitet‘ Tirade deiner Oma?“

„Nee“, winkte Jonas ab. „Die lässt sie sowieso etwa einmal pro Woche ab.“

„Schön fand ich aber auch das Verhör von Dad, wann du denn planst Kinder zu bekommen, wenn du mindestens fünf Jahre bis zum Master brauchst und danach vielleicht sogar promovieren möchtest“, warf Christine ein.

Stöhnend barg Maria das Gesicht in den Händen und nuschelte: „Erinnere mich bitte nicht daran.“

Während Christine damit beschäftigt war, Maria im selben Atemzug aufzumuntern wie aufzuziehen, warf Jonas einen verstohlenen Blick auf sein Handy.

„Aha!“, rief Christine triumphierend. „Schon wieder! Eigentlich wollte ich ja warten, bis du selbst mit der Sprache rausrückst, aber jetzt hast du es versaut! Jetzt musst du einfach erzählen, wer dieser ‚Freund‘ ist, von dem Mum vorhin gesprochen hat!“

„Oh. Ähm, naja …“ Verlegen strich Jonas eine Strähne aus seiner Stirn, konnte aber nichts gegen das Lächeln unternehmen, das sich klammheimlich auf sein Gesicht stahl. „Vielleicht isser ‘n bissl mehr als ‚ein Freund‘.“

„Ich wusste es!“, quietschte Christine. „Seit wann? Wie heißt er? Was macht er? Wie sieht er aus? Wie habt ihr euch kennengelernt? Und warum bist du“, anklagend deutete sie auf Maria, „nicht überrascht?“

„Weil die Sache nicht so neu ist, wie Jonas jetzt tut“, antwortete diese.

„Was?“

Maria warf Jonas einen langen Blick zu und zum ersten Mal fiel ihm auf, dass sich auch bei ihr diese schmale Falte zwischen den Brauen bildete, wenn sie mit etwas unzufrieden war. „Willst du es erzählen, oder soll ich?“

„Was erzählen?“ Fragend blickte Christine zwischen den beiden hin und her. „Kommt schon Leute, hört mit der Geheimniskrämerei auf!“

„Sein Name is‘ Erik“, sagte Jonas, ohne Maria aus den Augen zu lassen. „Er ist Verwaltungsleiter eines Clubs in Berlin und wir haben uns kennengelernt, als ich mich dort beworben hatte. Das war im Oktober. Danach hatten wir mehr oder weniger regelmäßigen Kontakt. Wirklich nähergekommen sind wir uns Anfang des Jahres und kurz bevor ich hierhergefahren bin, haben wir beschlossen, es offiziell zu machen.“

Christine schlug die Hände vor den Mund. „Awww!“ Sie zupfte an seinem Ärmel. „Los, ich will Fotos sehen!“

„Oh, ähm, ich glaub … Ich glaub, ich hab gar kein Foto von Erik.“ Darüber war Jonas mindestens so überrascht wie seine Schwester.

„Du hast ein paar Dinge ausgelassen“, unterbrach Maria die Unterhaltung kühl.

Fragend wandte sich Jonas ihr zu. „Zum Beispiel?“

„Zum Beispiel, dass er dir am Anfang deutlich gemacht hat, nicht mehr als Sex zu wollen. Und, dass er davon erst abgerückt ist, als klar war, dass du dieses Spielchen nicht länger mitspielst. Und selbst dann hat er es noch geschafft, dich eine komplette Woche schmoren zu lassen, bis er sich gnädigerweise dazu herabgelassen h–“

„Das reicht jetzt, Maria“, unterbrach Jonas sanft. „Ich weiß, dass du das so siehst, aber damit tust du Erik unrecht. Und mir auch. Ich bin kein kleines Kind, das man vor sich selbst und dem bösen Wolf beschützen muss. Ja, da sin‘ ein paar Sachen schiefgelaufen und wir werden an uns arbeiten müssen, wenn es funktionieren soll. Das wissen wir selbst. Wir sind bereit, das zu tun, weil wir wollen, dass es funktioniert. Ich weiß auch, dass du dir nur Sorgen machst und dafür kann ich dir kaum böse sein. Aber wenn du wirklich willst, dass es mir gutgeht, dann komm zu uns nach Berlin. Gib Erik eine Chance, lern ihn kennen und wenn du ihn dann immer noch scheiße findest, reden wir nochmal drüber. Bis dahin, will ich kein böses Wort mehr über ihn hören.“

Einige Atemzüge lang herrschte überraschtes Schweigen. Am Ende war es Christine, die es brach. „Mein Brüderchen ist erwachsen geworden.“

Röte schoss in Jonas‘ Wangen. „Ich war nie anders!“

Maria sagte nichts.

Jonas sah sie an, fragte hoffungsvoll: „Also? Kommst du nach Berlin?“

Sie schüttelte den Kopf. „Jonas, ich–“

„Bitte. Nicht nur, damit du Erik kennenlernst. Einfach, weil’s scheißgut wär, dich mal wieder bei mir zu haben.“

Wieder verfiel Maria in Schweigen, aber Jonas kannte sie gut genug, um zu sehen, dass ihr Widerstand schrumpfte.

„Bitte“, wiederholte er noch einmal.

Endlich gab Maria ein geschlagenes Seufzen von sich. „Okay. Ich kann dir noch nicht versprechen, wann genau, aber ja, irgendwann komme ich nach Berl– AH!“ Maria lachte auf, als Jonas sie von den Füßen riss und im Kreis wirbelte. „Lass mich sofort runter, du überschwänglicher Riesenwelpe! Ich nehme alles zurück! Und Christine irrt sich, du bist kein bisschen erwachsener geworden!“

Nachdem er sie noch ein wenig hatte protestieren lassen, setzte Jonas sie wieder auf den Boden. „Oh, und ich hab’s nach dem Skiausflug neulich Clemens erzählt. Also, das mit Erik und mir.“

„Ehrlich?“, fragte Christine. „Wie hat er reagiert? Er kann ja manchmal schon ein unsensibler Idiot sein.“

„Da scheinen sich ja alle einig zu sein“, erwiderte Jonas grinsend. „Nee, er hat echt scheißgut reagiert. Tausendmal besser als befürchtet und wenigstens hundertmal besser als erwartet und … und ich denk, ich bin so weit, es Mum und Dad zu erzählen. Vielleicht einen Tag bevor ich wieder abhaue oder so. Dann haben wir Zeit zum Quatschen, aber wenn’s scheiße läuft, müssen wir‘s nich‘ so lang miteinander aushalten.“ Seine Hand umfasste Marias. „Und, ähm, ihr würdet mir echt helfen, wenn ihr dabei wärt. So als moralische Unterstützung und so.“

Dieses Mal war Maria diejenige, die Jonas in die Arme zog und schon bald gesellte sich auch Christine dazu. „Sag einfach wann und wir sind da“, versprach sie.

 

Nachdem Maria wieder nach München gefahren war und seine Schwestern sich in den Speicher zurückgezogen hatten, lag Jonas im Bett und nutzte die Ruhe, um Erik auf den neuesten Stand zu bringen.

 

Erik, 00:12 Uhr

Klingt, als täte dir der Urlaub zuhause richtig gut :)

 

Du, 00:13 Uhr

schon irgendwie. auch wenns zuerst nich danach aussah

 

Du, 00:13 Uhr

aber ich bin auch froh, wenn ich wieder zurückkomm

 

Du, 00:13 Uhr

auf dauer isses mir dann doch echt zu langweilig

 

Erik, 00:13 Uhr

Ein Glück.

Du würdest mir schon sehr fehlen ;)

 

Erik, 00:14 Uhr

Schon eine Ahnung, wann du ungefähr zurückkommst?

 

Du, 00:14 Uhr

mitte nächster woche. die ticktes sind schon gekauft

 

Du, 00:15 Uhr

am abend davor sag ich meinen eltern, dass ich schwul bin

 

Erik, 00:19 Uhr

Gratuliere, das ist ein großer Schritt :)

 

Du, 00:20 Uhr

danke

 

Du, 00:20 Uhr

ich sollt wohl langsam schlafen. muss morgen wieder im apfelbäumchen helfen

 

Du, 00:20 Uhr

schlaf gut. du musst ja morgen auch wieder ran

 

Erik, 00:21 Uhr

Zum Glück erst abends.

Dir auch eine gute Nacht :)

 

Zu Jonas‘ Entsetzen, war die letzte Woche seines Aufenthalts wie im Flug vergangen und ehe er es sich versah, saß er erneut zusammen mit Christine, Maria und seinen Eltern am Tisch. Seine Großmutter war vor einer Weile mit Vroni in ihr Zimmer verschwunden, nachdem letztere über Bauchschmerzen geklagt hatte. Damit war der perfekte Zeitpunkt gekommen, seinen Eltern jenes Geheimnis zu verraten, das er die vergangenen Jahre so verzweifelt vor ihnen zu verbergen versucht hatte.

Nervös schob Jonas seine letzte Erbse von einer Seite des Tellers zur anderen. Jetzt oder nie. Jetzt oder nie. Jetzt oder …

„Ach, ich habe gestern übrigens mit Tante Claudia telefoniert“, erzählte seine Mutter niemand Speziellem. „Angelika ist jetzt wirklich mit dieser Frau zusammengezogen.“

Jonas ließ seine Gabel sinken. Angelika war eine Cousine irgendeines Grades, mit der er so gut wie nie zu tun gehabt hatte, die aber, soweit er wusste, die Einzige in der Familie war, die sich jemals offen als bisexuell geoutet hatte. Unnötig zu erwähnen, dass ihre Eltern davon nicht besonders begeistert gewesen waren.

„Wirklich?“, fragte sein Vater. „Naja, ich denke, das wird sich schon wieder auflösen. Gib dem mal ein paar Monate, dann hat sich das erledigt.“

„Vermutlich“, stimmte seine Mutter zu. „Aber stell dir vor, wenn nicht! Muss schon hart sein, wenn das eigene Kind … Die sind jetzt natürlich das Thema im Dorf. Claudia ist das schon sehr unangenehm. Und Enkel kann sie sich auch erstmal abschminken.“

„Sie könnten adoptieren“, murmelte Jonas.

„Ich bitte dich!“ Sein Vater verdrehte die Augen. „Ein Kind braucht Mutter und Vater. Schlimm genug, dass inzwischen so viele Ehen auseinandergehen, da muss man wirklich nicht no–“ Donnernd krachte ein Stuhl zu Boden.

„IHR SEID UNMÖGLICH!“

Alle Augen richteten sich auf Christine. Ihr Atem ging schnell, ihre Hände waren zu Fäusten geballt, sie zitterte vor Wut. „Denkt ihr auch mal zwei Sekunden nach, bevor ihr so eine Scheiße absondert?“

„Christine!“, protestierte ihre Mutter. „Was soll denn das?“

„Was das soll?“, rief Christine außer sich. „Ich sag dir, was d–“

„Christine“, bat Jonas leise. „Beruhig dich.“

Sie stoppte, warf jedem der Anwesenden einen grimmigen Blick zu und stürmte aus dem Esszimmer.

„Was, in drei Teufels Namen, hatte das denn zu bedeuten?“, wollte Jonas‘ Vater wissen.  

Jonas warf wiederum seine Gabel auf den Teller und stand auf. „Ich werd mal nach ihr sehen.“ Als er das Zimmer verließ, hoffte er inniglich, dass niemand seinen wackligen Gang, seine tauben Finger und Beine bemerkte.

Die Speichertreppe war hochgezogen, die Klappe geschlossen. „Christine?“, rief Jonas nach oben. „Darf ich raufkommen?“

Ein Knarren, die Klappe ging auf und die verborgene Trittleiter entfaltete sich elegant, bis die unterste Sprosse knapp vor Jonas‘ Füßen den Boden berührte. Christine stand vor ihrem Bett, die Arme vor der Brust verschränkt, ihre Füße tappten ungeduldig auf den Teppich. Bei Jonas‘ Anblick wurden ihre Züge weicher. „Sorry“, nuschelte sie schuldbewusst. „Ich hätte nicht so ausflippen dürfen.“

„Schon okay. Hat mir wenigstens ‘nen Grund gegeben, da wegzukommen.“

„Ihr könnt mich nach so einer Nummer doch nicht allein bei euren Eltern zurücklassen!“, zischte Maria, die heimlich die Speichertreppe erklommen hatte. Mitfühlend sah sie zu Jonas. „Alles klar bei dir?“

„Jaah. Ja, denk schon.“ Jonas zwang ein freudloses Lächeln auf sein Gesicht. „Ich würd mal sagen, das is‘ richtig beschissen gelaufen. Fuck.“ Er fuhr sich durchs Haar, schloss für einige Sekunden die Augen. „Mädels, ich wär ganz gern ein bisschen allein. Werd ‘ne Runde laufen gehen oder so. Später komm ich wieder zu euch hoch, ja?“

Er ging, bevor er eine Antwort erhalten hatte.

 

Die kalte Luft, die Jonas entgegenschlug, war wundervoll – wie ein kühles Tuch auf einem entzündeten Mückenstich. Er hatte seine alte Kondition überraschend schnell wiedererlangt und erreichte den Waldrand ohne Mühe. Der Lichtkreis seiner Stirnleuchte tanzte über den Boden, erleuchtete gefrorene Erde, Tannennadeln und knorrige Zweige.

Jonas hatte es seinen Eltern nicht gesagt. War das schlimm? Feige? War es wirklich ein Problem, damit noch länger zu warten? Einen Monat? Ein Jahr? Den Rest eines Lebens? Seine Eltern würden sich nicht ändern. Ihre Meinung würde sich nicht ändern.

Das war jetzt egal. Hier im Wald war alles egal. Nur der nächste Schritt zählte.

 

Nach Atem ringend beugte sich Jonas nach vorne, stützte die Hände auf den Knien ab. Er hatte sich übernommen, war nicht locker gelaufen, sondern verzweifelt geflüchtet. Er sollte umkehren. Aber noch nicht. Noch nicht.

 

Aus dem Speicher hörte Jonas gedämpfte Stimmen, doch sie schienen weder Maria noch Christine zu gehören. Er lauschte, bis er sicher war, dass lediglich der Fernseher lief. Auch wenn er versprochen hatte, bald zurückzukommen, wollte er im Moment niemanden sehen. Weder seine Geschwister, noch Maria und ganz besonders nicht seine Eltern. Leise zog er sich in sein Zimmer zurück. Einen Augenblick lang fürchtete er, Vroni könnte es wieder für sich beansprucht haben, aber es war leer, das Bett so ungemacht, wie er es in der Früh verlassen hatte.

Jonas streckte sich darauf aus und ließ seinen brennenden Lungen einige Minuten Zeit, sich zu beruhigen, bevor er einen Blick auf sein Handy warf. Larissa hatte versucht, ihn anzurufen. Schon wieder. Sie hatte irgendwann in der vergangenen Woche damit angefangen und seither nicht mehr aufgehört. Jeden Tag hatte er mindestens drei verpasste Anrufe, es schien sie auch nicht zu stören, dass er sie wegdrückte, wann immer er rechtzeitig auf sein Handy sah. Er hatte keinen Nerv, mit ihr zu sprechen, aber er brachte es auch nicht über sich, sie dauerhaft zu blockieren.

Jonas‘ Finger schwebte über seiner Kontaktliste. Schließlich überwand er sich und wählte Eriks Nummer.

„Hey!“

„Hi … Stör ich dich grad?“

„Nein, gar nicht“, versicherte Erik.

„Oh, okay. Gut.“ Jonas biss sich auf die Lippe. Er hatte Eriks Stimme hören wollen, aber jetzt wusste er nicht, was er ihm erzählen sollte.

„Übermorgen habe ich meine letzte Klausur“, brach Erik das kurze Schweigen. „Und ich dachte, wir könnten danach etwas unternehmen. Zur Feier, dass ich es überstanden habe und du wieder in Berlin weilst. Du hast ja auch noch frei, oder?“

„Ich muss wieder im Café arbeiten“, antwortete Jonas tonlos. „Aber erst ab Samstag. Hab versprochen, als Ausgleich zu meinem Spontanurlaub die nächsten Wochenendschichten zu übernehmen.“

„Ah, das lässt doch ein paar Möglichkeiten offen.“ Der Optimismus in Eriks Stimme bildete einen harten Kontrast zu Jonas‘ bedrücktem Gemurmel. „Es ist natürlich ein wenig klischeebehaftet, aber ich würde wahnsinnig gerne mal wieder ins Kino. Vielleicht eine Nachmittagsvorstellung, bevor ich arbeiten muss?“

„Klingt ganz gut.“

„Wann geht denn morgen dein Bus?“

„Scheißspät. Dann kann ich vielleicht ‘n bissl pennen.“

„Hmm, so viel zu meinem Plan, dich zum Essen zu entführen.“

„Erik?“

„Mhm?“

„Ich hab’s ihnen nich‘ gesagt.“

„Okay.“

„Is‘ das alles, was du dazu zu sagen hast?“, fragte Jonas gereizt.

„Was willst du denn von mir hören?“ Erik ließ nicht erkennen, was er dachte.

„Keine Ahnung! Dass es in Ordnung is‘. Dass es nicht in Ordnung is‘. Dass ich endlich meinen feigen Arsch bewegen und es einfach hinter mich bringen soll!“

„Du weißt, dass ich dir diese Entscheidung nicht abnehmen kann“, erwiderte Erik.

„Weiß ich.“ Jonas seufzte. Frustriert über sich selbst, frustriert über die Situation. „Fuck, ich weiß!“

„Ich kann dir nur versprechen, an deiner Seite zu stehen, wenn du mich brauchst. Ganz egal, wie du dich entscheidest.“

Jonas versuchte, diesen verfluchten Kloß in seinem Hals herunterzuschlucken. „Dann … Is‘ es okay für dich, wenn ich mir damit noch Zeit lasse?“

„Natürlich ist es das.“ Kein Zögern, kein Heucheln. „Das habe ich dir schon einmal gesagt und daran ändert sich auch nichts. Mach diese Entscheidung nicht von mir, oder irgendjemand anderem abhängig.“

„Wenn ich mich nur nich‘ wie ‘n Scheißversager fühlen würd.“

„Schließ mal deine Augen.“

„Wozu?“

„Tu mir den Gefallen und mach’s einfach.“

Zweifelnd befolgte Jonas Eriks Anweisung. „Okay …“

„Jetzt stell dir vor, wer du warst, als du frisch in Berlin angekommen bist. Deine Träume, deine Pläne, deine Ziele.“

„Fuck, ich war echt scheißnaiv“, stellte Jonas fest, nachdem er einen Moment darüber nachgedacht hatte.

„Und jetzt führ dir vor Augen, wie viel du seither erreicht hast. Mit wem hast du Kontakte geknüpft? Welche Projekte hast du dir überlegt oder sogar schon umgesetzt? Was hast du Neues versucht und dabei gelernt, völlig egal, ob es erfolgreich war oder du gescheitert bist?“

Dieses Mal brauchte Jonas etwas länger für seine Antwort. „Das … is‘ gar nich‘ so wenig.“ Ein unsichtbares Gewicht bröckelte von seinen Schultern, ließ ihn zum ersten Mal seit dem abgebrochenen Abendessen wirklich durchatmen.

„Mhm, dachte ich mir.“ Erik klang zufrieden. Ob mit sich selbst oder Jonas‘ Antwort, war schwer zu sagen.

Ein Klopfen zog Jonas‘ Aufmerksamkeit auf die Tür. „Warte mal kurz.“ Lauter rief er: „Ja?“

Christine und Maria streckten vorsichtig die Köpfe in sein Zimmer. „Dürfen wir reinkommen? Vroni ist auf Christines Bett eingepennt und wir wollen sie nicht wecken.“

„Ähm … Ja. Ja, klar, kommt rein.“

Die beiden schoben sich durch die Tür. „Bist du okay?“, fragte Maria.

„Bin ich.“ Jonas war selbst überrascht, wie wahr diese Worte waren. „Wartet kurz, ich will nur schnell …“ Er hob sein Handy wieder zum Ohr. „Sorry, Maria und meine Schwester haben grad mein Zimmer gestürmt.“

Erik lachte. „Dann sollten wir wohl für heute Schluss machen.“

„Is‘ vermutlich bess–“

„Ist das am Telefon der, vom dem ich denke, dass er es ist?“, unterbrach Christine.

„Ich weiß ja nich‘, an wen du so de– CHRISTINE!“

Flugs hatte Jonas‘ Schwester ihm das Handy aus der Hand gerissen und hielt es an ihr Ohr. „Erik? … Japp, genau die.“ Sie lachte. „Davor musst du mir erklären, warum mein fotoverrückter Bruder kein einziges Bild von dir besitzt … Na, weil ich ein Beweisfoto sehen will!“

„Christine“, stöhnte Jonas, versteckte resigniert das Gesicht hinter seinen Händen und versuchte, Marias Kichern zu überhören. Aber Christine war noch nicht fertig.

„Weißt du was? Das klingt gar nicht übel. Ich glaube, das mache ich … Ja … Japp, das wird sicher lustig. Also für uns. Für Jonas eher nicht so.“ Wieder lachte sie. „Soll ich ihn mal in deinem Namen drücken? … Awww! Jederzeit!“

Ehe Jonas sich versah, fand er sich in einer rippenzermalmenden Umarmung wieder. „AU! Fuck! Is‘ ja gut!“

„Noch mal?“, fragte Christine und Jonas brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass diese Frage nicht an ihn gerichtet gewesen war, sondern sie noch immer mit Erik telefonierte. „Alles klar!“

Noch mehr zertrümmerte Knochen für Jonas. Zu seinem Leidwesen hatte Maria entschieden, sich ebenfalls an dieser Aktion zu beteiligen. Eingeklemmt zwischen zwei kichernden Frauen, das Lachen seines Freundes im Ohr, wandelte sich sein Unbehagen schnell in Geborgenheit. Er kämpfte dagegen an, aber ein Schluchzen drängte von seiner Brust über seine Lippen. Keine Trauer, vielmehr Erleichterung. Wie hatte er nur jemals denken können, keinen Platz in dieser Welt zu haben?

Sanft nahm er Christine das Handy aus der Hand. „Erik? Ich bin’s wieder.“

„Ah, und ich dachte schon, deine Schwester hätte sich in den vergangen zwei Sekunden eine böse Kehlkopfentzündung eingefangen.“

„Wir sehen uns bald, ja?“

„Ganz sicher. Sag mir einfach Bescheid, sobald du in Berlin bist.“

„Okay. Mach’s gut.“

„Du auch.“

Jonas legte auf und lehnte seinen Kopf gegen Marias.

„Er klingt nett“, sagte Christine.

„Er is‘ nett“, erwiderte Jonas.

Wieder klopfte jemand an die Tür und platzte herein, bevor Jonas etwas sagen konnte. Vorwurfsvoll starrte Vroni ihre beiden älteren Geschwister und Maria an. „Ihr seid alle hier drin und ich bin ganz allein!“ Tränchen kullerten über ihre geröteten Wangen. „Immer schließt ihr mich aus!“

„Awww, nich‘ weinen.“ Jonas streckte den Arm nach Vroni aus und zog sie an seine Brust. „Weißt du was? Morgen hole ich dich von der Schule ab und dann machen wir was zusammen, ja?“

„Nur wir beide?“, fragte Vroni schniefend.

„Nur wir beide“, versprach er. Mit der Hand, die nicht über ihr Haar strich, wischte er die Tränen von ihrer Wange.

„Versprochen?“

„Versprochen.“

„Und wird nicht gebrochen?“

„Und wird nich‘ gebrochen.“

„Okay.“ Zufrieden kuschelte sich Vroni an ihren älteren Bruder. Dann verzog sie das Gesicht. „Igitt. Du stinkst.“

„Ich war joggen“, verteidigte sich Jonas halbherzig, musste aber zugeben, dass sie recht hatte. Sofern er nicht wollte, dass über Nacht die Fliegen von der Wand fielen, sollte er vor dem Schlafengehen dringend duschen.

„Ach so!“ Christines Ausruf riss Jonas aus seiner Abendplanung. „Ich habe übrigens mit Erik besprochen, dass ich dich mal in Berlin besuche und ihn kennenlerne. Nur, damit du’s weißt.“

„Was?“

 

Kapitel 29

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Kapitel 30

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Kapitel 31

Was zuletzt geschah:

Wie immer wartet Gutes und Schlechtes in Berlin. Jonas‘ Nachbarn treiben weiter ihre Spielchen und ihn damit in Eriks Arme – ein Umstand, den beide zu nutzen wissen. Eine gemeinsame Nacht führt zu einem gemeinsamen Morgen, der eine Menge neuer Erfahrungen bereithält.

 

Kapitel 31

Du, 13:43 Uhr

hat alles geklappt?

 

Erik, 13:54 Uhr

Überraschend gut. Der Anschlusszug hatte das perfekte Timing. Wenn jetzt nichts mehr schiefgeht, bin ich in ein paar Stunden endlich wieder in Berlin. Und bei dir ;)

 

Du, 14:02 Uhr

also bleibts bei sieben?

 

Erik, 14:03 Uhr

Definitiv ;)

Ich werde pünktlich (und hungrig) vor deiner Tür stehen.

 

Du, 16:08 Uhr

ich und mein köstliches essen erwarten dich!

 

Du, 16:08 Uhr

falls ich nich gleich öffne, einfach weiterklingeln. hab etwas schlafmangel.

 

Du, 16:08 Uhr

nachbarn waren diese nacht mal wieder extranervig.

 

„Immer diese jungen Leute, bei denen das Handy schon an der Hand festgewachsen ist“, tadelte Larissa grinsend.

„Sorry, wichtiger organisatorischer Scheiß.“ Rasch ließ Jonas sein Handy in der Hosentasche verschwinden. „Wo is‘ denn jetzt diese blöde Galerie? Wir sin‘ eh schon zu spät dran.“

Stirnrunzelnd sah sich Larissa um und warf nun ihrerseits einen Blick auf ihr Handy, wohl in der Hoffnung, Google Maps könnte diese Frage beantworten. „Ich glaube … Ich glaube, wir müssen nur noch auf die andere Straßenseite.“ Sie deutete auf das sandfarbene Gebäude gegenüber.

„Dann los!“ Ungeduldig von einem Bein auf das andere hüpfend, wartete Jonas an der roten Ampel. Er stürmte los, sobald sie auf Grün sprang los.

„Pass auf!“ Larissas Stimme schien von weit her zu kommen, doch das Quietschen der Reifen war ganz nah. Ein Schlag. Etwas brach. Schmerz. Dann wurde alles dunkel.

 

Erik legte eine Hand an seine Brust und glaubte, darunter sein Herz flattern zu fühlen. Wann hatte er sich das letzte Mal so darauf gefreut, jemanden wiederzusehen? Gut, als Jonas endlich aus Bayern zurückgekommen war, hatte er sehr ähnlich empfunden. Aber davor? Das war lange her.

Fast schon nervös drückte er die Klingel und wartete auf das erlösende Summen des Türöffners, das ihn einen Schritt näher zu den ausdrucksstarken Augen und dem herzhaften Lachen bringen würde, in das er sich so Hals über Kopf verliebt hatte.

Dreißig Sekunden später überlegte er, wie lange man warten musste, bevor ein zweites Klingeln nicht mehr als unhöflich und übereilt galt. Jonas‘ Wohnung war winzig, wenn er nicht gerade im Bad beschäftigt war, würde er kaum so lange brauchen.

Erik warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Obwohl er von der Garage des Tix‘ zu Fuß gelaufen war und dann noch einmal eine Runde um den Block gedreht hatte, war er noch immer fünf Minuten zu früh. Vielleicht hatte er Jonas tatsächlich überrumpelt. Dennoch klingelte er ein weiteres Mal. Und wartete. Und wartete. Bis er sich an Jonas‘ Warnung erinnerte.

Eigentlich hatte Erik diese als Witz aufgefasst, aber wenn Jonas‘ Nachbarn ihn tatsächlich wieder die halbe Nacht wachgehalten hatten, war es nicht unwahrscheinlich, dass er sich tatsächlich noch einmal hingelegt hatte und nun tief und fest schlief. Kurzentschlossen drückte Erik die Klingel erneut. Länger und penetranter dieses Mal, aber auch das brachte nicht den ersehnten Erfolg.

Seufzend holte er sein Handy aus seiner Manteltasche und wählte Jonas‘ Nummer. Ohne ein einziges Freizeichen, sprang sofort die Mailbox an. Das war ungewöhnlich.

„Hey, ich bin’s. Erik. Ah, ich stehe vor deiner Tür, aber entweder ist deine Klingel kaputt, oder du hörst sie einfach nicht. Ich laufe jetzt mal eine Runde um den Block, damit du Zeit hast, wachzuwerden und dann versuche ich es nochmal. Bis gleich.“

Zehn Minuten später war er zurück, aber das Ergebnis blieb dasselbe. Niemand öffnete, Jonas‘ Handy war ausgeschaltet. Erik hob die Hand, um zum dritten Mal zu klingeln, ließ sie jedoch unverrichteter Dinge wieder sinken.

Was, wenn Jonas gar nicht öffnen wollte? Vielleicht hatte er genug von Erik, saß mit abgeschaltetem Handy in seiner Wohnung und hoffte, dass er endlich aufgab und verschwand?

Resolut schob Erik diesen Gedanken fort. Abgesehen davon, dass es keinen Grund gab, so etwas anzunehmen, wäre es nicht Jonas‘ Art, ihre Beziehung auf diese Weise zu beenden. Sicher lag er einfach friedlich schlafend auf seinem Bett und das Ladekabel seines Handys, das er noch schnell hatte anstecken wollen, bevor der Akku endgültig leer ging, vergessen daneben. Ein letztes Mal drückte Erik die Klingel und wartete eine angemessene Sekundenzahl, bevor er entschied, sich vorerst zurückzuziehen.

 

Du, 19:12 Uhr

Hey, du Schlafmütze ;)

Ich setze mich mal in das Café ein Stück die Straße runter und versuche nach einer Tasse Tee nochmal, dich aus deinem Dornröschenschlaf zu wecken.

Bis gleich ;)

 

So wirklich wollte der grüne Tee nicht schmecken. Nach jedem vorsichtigen Schluck wanderte Eriks Blick zu seinem Handy, das er vor sich auf den Tisch gelegt hatte, in der Hoffnung, eine neue Nachricht aufleuchten zu sehen. Aber auch nach der zweiten Tasse blieb das Display schwarz, seine Anrufe unbeantwortet und die Tür zu Jonas‘ Hausgang fest verschlossen.

 

Du, 21:18 Uhr

Entschuldige, ich konnte nicht mehr länger warten. Musste zur Arbeit. Bitte melde dich kurz bei mir, sobald du meine Nachricht liest, damit ich weiß, dass bei dir alles in Ordnung ist.

 

Ruhelos tigerte Erik in seinem Büro auf und ab. Es war nach zwei Uhr morgens und er hatte noch immer nichts von Jonas gehört. Warum hatte er nicht einfach die ganze Woche Urlaub nehmen können? Oder wenigstens heute noch? Wer arbeitete denn gleich an dem Tag weiter, an dem er eine sechsstündige Zugfahrt hinter sich gebracht hatte?

Erik seufzte. Die Antwort war klar. Er. Weil er ein schlechtes Gewissen gehabt hätte, hätte er es nicht getan. Weil er nicht daran gewöhnt war, auch mal etwas Besseres zu tun zu haben, als sich hinter Studium und Arbeit zu vergraben. Völlig unabhängig davon, hätte ein freier Tag ohnehin nichts an seiner Situation geändert. Auch dann würde Jonas nicht antworten. Auch dann gab es nichts, was er tun konnte. Er hätte lediglich mehr Zeit, sich in seine Ängste zu steigern.

Jemand klopfte kräftig gegen seine Bürotür. Gleich darauf schob sich Toms massive Gestalt überraschend elegant in den Raum. „Wollt dir nur sagen, dass uns grad ein Gast auf die Tanzfläche gekotzt hat.“

„Sehr schön“, murrte Erik verstimmt. „Hat er sonst noch Stress gemacht?“

Tom lachte. „Nee. Mona hat ihm einen Wischmopp in die Hand gedrückt und er ist grad dabei, alles brav sauberzumachen.“

„Ah, gut.“

„Das ist alles?“, fragte Tom. „Da dachte ich, ich sorg mal für ein bisschen Ablenkung bei dir und du hast nicht mal ein müdes Lächeln für die Vorstellung übrig, dass Mona ‘nen Gast mit dem Wischmopp verfolgt?“

„Entschuldige, ich bin gerade mit den Gedanken woanders.“ Erik merkte, wie verspannt er war. Rasch glättete er die Falten auf seiner Stirn, zwang seine Finger von seinen Hemdsknöpfen abzulassen und versuchte, wie der verantwortungsvolle Mitarbeiter in Führungsposition auszusehen, der er war. Er konnte es sich nicht leisten, Schwäche zu zeigen. Schon gar nicht gegenüber dem Chef der Security und Ehemann der Clubbesitzerin.

Aber Tom hatte Erik nicht nur gute fünfzehn Jahre Lebenserfahrung voraus, sondern auch eine ausgezeichnete Menschenkenntnis. Glücklicherweise besaß er daneben auch so etwas wie Taktgefühl. „Langer Tag?“

„Mhm, könnte man so sagen. Ich bin heute erst aus Stuttgart zurückgekommen.“ Erik war froh, um die Ausrede, die ihm seine Reise lieferte.

„Was hat dich denn von einer Stadt wie Berlin nach Stuttgart getrieben?“, fragte Tom, der offenbar nichts gegen einen kurzen Pausenplausch einzuwenden hatte.

„Familienbesuch“, antwortete Erik ausweichend und Tom war klug genug, nicht weiter nachzufragen.

„Heut ist übrigens echt wenig los. Wenn du dich nicht bei der letzten Getränkebestellung völlig verkalkuliert hast, oder spontan jemand tot umfällt, glaube ich kaum, dass noch ein Notfall eintritt. Das Absperren können meine Jungs und ich problemlos übernehmen. Falls du also etwas früher abhauen willst, nimmt dir das sicher keiner übel.“

Eriks Blick wanderte zu der Kostenkalkulation, die keine zehn Minuten benötigen sollte und jetzt schon seit einer Stunde auf ihre Fertigstellung wartete. „Hm. Mal sehen.“

„Na, überleg‘s dir. Ich geh dann mal wieder vor. Bis später.“

„Mhm.“

 

Am Ende war Erik bis zum Schluss geblieben und hatte danach noch beim Zusammenräumen geholfen. Alles, um nicht darüber nachdenken zu müssen, dass er auch in den frühen Morgenstunden noch nichts von Jonas gehört hatte. Jetzt saß er auf seiner Couch, zwang sich, nicht ständig sein Handy zu kontrollieren und versuchte verzweifelt, die neueste Folge einer Serie zu genießen, die ihn gerade nicht weniger interessieren könnte.

Egal, wie oft er sich vorsagte, dass seine Sorgen unbegründet waren und es sicher eine ganz einfache Erklärung für die Funkstille gab, immer wieder kehrten die Erinnerungen an die Nacht vor zwölf Jahren zurück.

Eriks anfängliche Freude, als seine Eltern nicht wie angekündigt am frühen Abend von ihrem Wochenendtrip zurückgekommen waren und er die sturmfreie Zeit noch etwas länger genießen konnte. Seine mit fortschreitender Stunde wachsende Unruhe. Die Erklärungsversuche, weshalb weder seine Mutter, noch sein Vater auf seine Anrufe reagierten. Das ungute Gefühl, als er schließlich weit nach Mitternacht schlafen gegangen war.

Der Anblick seiner leichenblassen Tante, die ihn zusammen mit zwei Polizisten und einer auf Krisenintervention spezialisierten Psychologin am nächsten Morgen aus dem Bett geklingelt hatte.

Erik sprang auf. Er konnte keine Sekunde länger stillsitzen.

 

Der Teigklops landete auf der Arbeitsfläche und erzeugte dabei das Geräusch einer platzenden Made, die mehr gefressen hatte als gut für sie gewesen war.

Erik grub die Finger in den Teig und knetete als hinge sein Leben davon ab. Er warf einen Blick auf die Uhr. Die Zeit reichte, den Teig in Ruhe gehen zu lassen und das Brot zu backen, bevor er zur Arbeit musste. Vielleicht sollte er die Gelegenheit nutzen und endlich das Rezept für den Sauerteigansatz ausprobieren, das er neulich gelesen hatte. So konnte er einen Teil der Wartezeit überbrücken, ohne untätig rumsitzen zu müssen.

Widerstrebend wanderte sein Blick von seiner Uhr weiter zu seinem Handy. Nichts. Wie erwartet. Immerhin hatte er es geschafft, beinahe acht Minuten nicht hinzusehen. Das musste ein neuer Rekord sein.

Eriks Nachrichten an Jonas blieben ungelesen, seine Anrufe wurden von der Mailbox beantwortet. Es war schwierig gewesen, sich einzureden, dass Jonas noch immer schlief, als Erik gegen sieben Uhr morgens endlich ins Bett gegangen war. Nahezu unmöglich, als drei Stunden später sein erster Blick nach dem Aufwachen seinem Handy gegolten hatte. Jetzt, am späten Nachmittag, kämpfte Erik konstant gegen die aufwallende Panik. Sein Brustkorb war zu eng und die Luft schien jeglichem Sauerstoff beraubt.

Erneut wälzte er seine Möglichkeiten, nur um zu dem Schluss zu kommen, dass diese mehr als begrenz waren. Es gab keinen Festnetzanschluss, auf dem er sein Glück hätte versuchen können und er kannte weder Jonas‘ Freunde noch Verwandte. Sämtliche Krankenhäuser Berlins durchzutelefonieren war eine Tagesaufgabe und wenn er ehrlich zu sich selbst war, ertrug er den Gedanken nicht, dass eine freundliche Stimme am anderen Ende der Leitung seine Befürchtungen bestätigte.

Und die Polizei? Würden sie nach so kurzer Zeit überhaupt ermitteln? Oder den Fall einfach zu den Akten legen, bis sich weitere Personen aus Jonas‘ Umfeld meldeten?

Wütend schmetterte Erik den Brotteig auf die Arbeitsfläche. Warum hatte er sich auf Jonas eingelassen? Wie hatte er nur so dumm sein können? Das war die Strafe dafür, dass er jemanden so nahe an sich herangelassen hatte!

Schuldgefühle lösten seinen Zorn ab. Zerfloss er gerade wirklich in Selbstmitleid, während Jonas möglicherweise in ernsten Schwierigkeiten steckte? Wenn er verletzt war. Wenn er– Die Klingel gönnte dem Brotteig eine kurze Pause von Eriks unbarmherzigen Händen.

Ungeduldig gegen den Türrahmen trommelnd, wartete Erik auf den unangemeldeten Besucher. Hatte er etwas bestellt? Nein, daran würde er sich erinnern. Zeugen Jehovas? Um diese Zeit unwahrscheinlich. Einen Augenblick lang fürchtete er, es könnte die Polizei sein. Aber das war unrealistisch – im Fall eines Unfalls würde Jonas‘ Familie informiert, nicht der Freund, von dem so gut wie niemand wusste.

Wer auch immer da zu ihm kam, er nahm sich mehr als genug Zeit dafür. Nach einer Weile hörte Erik schlurfende Schritte und angestrengte Atmung. Kurz darauf erschien ein dunkler Haarschopf am Treppenabsatz. Ein Haarschopf, der ihm nur zu bekannt war.

In seiner Eile hätte Erik beinahe die Haustür hinter sich zufallen lassen und sie beide ausgesperrt. Im letzten Augenblick kickte er seinen Hausschuh zwischen Tür und Rahmen, bevor er zu Jonas hastete, der mit hängendem Kopf versuchte die Stufen zu bewältigen.

„Fuck … Du bist … derjenige … von uns beiden … der … ‘ne neue … Wohnung … braucht.“ Kraftlos sank Jonas in Eriks ausgestreckte Arme. „Dritter Stock … ohne … verfickten Aufzug … geht echt gar … nich‘.“ Der Rucksack, den er bis eben verbissen umklammert hatte, fiel zu Boden.

Erik wollte Jonas an sich drücken, ihn festhalten und in Sicherheit wissen, besann sich angesichts dessen Zustands jedoch eines Besseren und legte lediglich eine Hand auf den Arm, der nicht in einem dicken Gips steckte. „Was ist passiert?“

 

Jonas antwortete nicht sofort, sondern holte einige Male tief Luft und konzentrierte sich auf die Nähe seines Freundes, bis das bestialische Pochen in seinem Kopf erträglicher wurde. Erik schien darum bemüht, gefasst zu wirken, aber die Finger, die sich schmerzhaft in Jonas‘ Oberarm krallten, verrieten die Scharade.

„So’n Wichser konnte Rot und Grün nich‘ auseinanderhalten und hat seine Motorhaube mit mir dekoriert“, sagte er schließlich. „Is‘ jedenfalls das, was man mir erzählt hat. Kann mich nich‘ wirklich erinnern. Nur, dass ich über die Straße wollte. Und dann war ich im Krankenhaus. Könnte auch schwören, was vom Sanka mitbekommen zu haben, aber vielleicht bild ich mir das auch bloß ein. Jedenfalls“, er deutete auf die Platzwunde an seinem Kopf, „sechs Stiche.“ Sein Finger fuhr seinen Körper hinab. „Zwei gebrochene Rippen.“ Weiter über bis zu seinem Unterarm. „Der is‘ auch durch. Natürlich der rechte, wie sollt’s auch anders sein. Außerdem isses glaub ich einfacher, die Flecken an meinem Körper zu zählen, die nich‘ blau sin‘.“ Jonas war sich nicht sicher, ob Erik ihm überhaupt zuhörte, redete aber dennoch weiter. „Die haben mich vierundzwanzig Stunden dabehalten, wegen der Gehirnerschütterung. Sorry, dass ich mich jetzt erst meld. Mein Handy hat’s nich‘ überstanden und ich bin zu verwöhnt, um noch irgendwelche Nummern auswendig zu lernen.“

Eriks hatte das Gesicht in Jonas‘ Halsbeuge gedrückt, sein Atem ging abgehackt.

Sanft streichelte Jonas mit seinem gesunden Arm über den Rücken seines Freundes. Jenes Freundes, der seine Eltern bei einem Autounfall verloren hatte. Jenes Freundes, der am ganzen Körper zitterte. Jenes Freundes, der verzweifelt bemüht war, das Schluchzen zu bekämpfen, das so eindeutig an Jonas‘ Ohr drang. „Shh. Is‘ ja gut. Mir geht’s gut. Es tut kaum weh. Nur, wenn ich liege. Oder sitze. Oder atme.“ Erik ließ nicht erkennen, ob Jonas‘ Versuch, die Stimmung etwas aufzulockern von Erfolg gekrönt gewesen war. Was vermutlich ‚Nein‘ bedeutete. „Ähm … kann ich vielleicht reinkommen? Stehen is‘ auch nich‘ so super.“

Wenigstens das schien Erik aus seiner Starre zu lösen. Rasch richtete er sich auf, drehte den Kopf zur Seite und wischte auffallend unauffällig über seine Augen. „Entschuldige. Natürlich kannst du reinkommen.“ Nach kurzem Zögern fragte er: „Bist du gleich vom Krankenhaus hierher?“

„Japp. Ich hatte schon befürchtet, dass du dir Sorgen machst. Nochmal sorry.“

„Ich bin einfach nur froh, dich zu sehen.“

Bereitwillig war Jonas Erik in die Wohnung gefolgt, blieb beim Anblick der Küche jedoch im Türrahmen stehen. Der Raum sah aus, als wäre eine Bombe darin detoniert. Überall lag Mehl verteilt, mit Teigresten bekleckerte Schüsseln, Löffel und Backformen stapelten sich in der Spüle. „Du warst … fleißig.“

„Ich war nervös“, erklärte Erik peinlich berührt. „Das sind die Überreste meiner Versuche, mich irgendwie abzulenken. Ah, völlig unabhängig davon … Lust auf frische Muffins?“

Jonas ignorierte das flaue Gefühl in seinem Magen, von dem die Ärzte gesagt hatten, dass es noch eine Weile anhalten konnte. „Vielleicht sollt ich öfter mal ‘n paar Stunden verschwinden, wenn ich zur Belohnung Muffins bekomm.“

„Untersteh dich.“

Erleichtert stellte Jonas fest, dass Erik deutlich gefasster wirkte als noch vor wenigen Minuten. „Hey, ähm, isses okay für dich, wenn ich hier bleib, bis du zur Arbeit fährst? Ich weiß, ich lad mich grad selber ein, aber die Fahrt hierher war echt anstrengend und die zu mir is‘ nochmal ‘n ganzes Stück länger. Vielleicht wenigstens, bis der scheiß Berufsverkehr halbwegs gelaufen is‘ und ich nich‘ mehr ständig Gefahr laufe, irgendwelche Ellenbogen abzubekommen?“

„Du kannst solange bleiben, wie du willst“, antwortete Erik und stellte Jonas einen Korb offensichtlich frischer und absolut köstlich duftender Muffins vor die Nase, bevor er sich wieder dem Teigklops auf seiner Arbeitsfläche widmete.

Jonas nutzte den Moment, in dem Erik nicht hinsah, um sich an den Tisch zu setzen. Er wusste, dass er das nicht schaffen würde, ohne dabei das Gesicht zu verziehen. Bewegung schmerzte noch mehr als Stillstehen und das war schon schlimm genug.

Ungeduldig wartete er, bis er schlimmste Schmerz verflogen war und er genussvoll in einen der Muffins beißen konnte. „Fuck, die sin‘ echt gut.“ Unglücklicherweise bedeuteten Kauen und Schlucken wieder Bewegung. Zu seinem Leidwesen würde Jonas es wohl bei einem Muffin belassen müssen.

„Ist Karotte mit Cheesecakefüllung und Frischkäsetopping“, erwiderte Erik. Er deckte den Teigklops ab und richtete seine Aufmerksamkeit auf Jonas. Sorgenfalten zerfurchten seine Stirn. „Wie fühlst du dich?“

Hätte es nicht so wehgetan, hätte Jonas mit den Schultern gezuckt. „Erschöpft. Irgendwie schwummrig. Mein Kopf hat wohl doch ‘n bissl was abbekommen. Die Übelkeit is‘ zum Glück ziemlich abgeklungen. Und die haben mir Schmerztabletten mitgegeben.“

„Stehen Operationen an?“

„Nee, zum Glück komm ich wohl ohne aus. Jedenfalls wenn’s jetzt nich‘ ganz beschissen läuft. Die Rippen tun echt scheißweh, sollen aber von allein heilen. Die Gehirnerschütterung auch. Beim Arm is‘ nix verschoben und der Rest sin‘ nur ‘n paar oberflächliche Schrammen und blaue Flecke. In zwei Monaten sollte ich wieder fit sein. Ich hab bloß keine Ahnung, wie ich mich bis dahin mit links rasieren soll.“

Erik strich über Jonas‘ bereits stoppeliges Kinn. „Ich finde, das steht dir ganz gut.“

„Dann lass ich’s vielleicht einfach wuchern.“ Spielerisch biss Jonas in die Finger, die sich seinen Lippen näherten. „Die Scheiße is‘ aber, dass ich die nächsten Wochen Sexverbot hab.“

„Wie bitte?“ Schockiert nahm Erik einige Schritte Abstand. „Und das sagst du mir erst jetzt? Unter diesen Umständen hätte ich dich doch nie in meine Wohnung gelassen!“

„Wenn’s nich‘ so scheißweh tät, würd ich jetzt ‘nen Muffin nach dir werfen. Okay, würd ich nich‘. Wär Verschwendung. Dafür esse ich sie einfach ganz allein auf.“

Lachen schmerzte, aber das war Jonas egal. Wichtig war nur das zarte Lächeln auf Eriks blassen Lippen.

 

„Du hättest wirklich nich‘ noch mit hoch kommen müssen. Meinen Rucksack hätte ich schon allein tragen können.“

„Vielleicht“, sagte Erik in einem Ton, der deutlich machte, dass er nicht daran glaubte. Das Dumme war, dass er damit vermutlich auch noch richtig lag. „Aber ich fühle mich wohler, wenn ich dich sicher in deiner Wohnung weiß.“

Jonas‘ Erwiderung erstarb auf seiner Zunge, als er die neuen Schmierereien auf seiner Wohnungstür entdeckte.

Auch Erik hatte sie bemerkt. Als er sprach, klang seine Stimme rau. „Mir war nicht klar, wie schlimm es wirklich ist.“

Das hätte er auch nie erfahren sollen. Immer wieder kritzelten die Nachbarn auf Jonas‘ Tür und immer wieder übersprühte er den Dreck, sobald er Zeit dazu fand. Spätestens, bevor Erik bei ihm auftauchte. Die Tür musste inzwischen fünf Zentimeter dicker sein als bei seinem Einzug.

Jonas wusste, dass diese Heimlichtuerei im Grunde sinnlos war, aber etwas in ihm weigerte sich, Erik über die wahren Ausmaße des Psychoterrors, den seine Nachbarn seit einigen Wochen veranstalteten einzuweihen. Das machte die Sache zu real. Allerdings hatte er nun offensichtlich keine andere Wahl mehr. „Bin echt froh, wenn ich hier weg bin. Wenn ich bloß mal ‘ne halbwegs bezahlbare Wohnung finden würd.“

Schweigend starrte Erik auf die Tür, die Lippen ein schmaler Strich, die Falte zwischen seinen Brauen überdeutlich. „Willst du nicht für ein paar Tage zu mir ziehen?“, fragte er unvermittelt.

„Zu dir?“, wiederholte Jonas überrascht.

„Wenigstens, bis die Rippenbrüche verheilt sind. Du kannst ja kaum die Arme heben, geschweige denn Einkäufe nach Hause tragen oder Ähnliches. Das allein ist doch schon umständlich genug. Dazu die Sache mit deinen Nachbarn. Es gefällt mir nicht, dass sich das immer weiter aufzuschaukeln scheint.“ Erik zupfte an seinem Mantelärmel. „Ah, ich weiß, dass meine Arbeitszeiten etwas unglücklich sind, aber ich könnte auf der Couch schlafen, wenn ich nach Hause komme, oder mir ein Klappbett fürs Büro besorgen.“ Er blickte auf, als Jonas eine Hand auf seine legte.

„Solang du versprichst, dass du‘s mir sagst, wenn ich dir auf’n Sack geh, komm ich gern mit zu dir. Und du musst sicher nich‘ auf der Couch pennen.“

„Magst du dann ein paar Sachen packen und ich hole dich morgen gegen Mittag ab?“

„Okay.“ Unter der gelassenen Oberfläche, war Jonas‘ Herz kurz davor, seine ohnehin schon schmerzende Brust zu sprengen.

 

Kapitel 32

Was zuletzt geschah:

Ein einziger Augenblick kann alles verändern. Sei es die Einladung zu einem Vorstellungsgespräch, ein zufälliges Treffen, oder auch ein Autounfall. Erik hat alles davon schon am eigenen Leib erfahren und Jonas nach bangen Stunden nicht heil, aber wenigstens lebendig vor sich zu sehen, lässt seinen Beschützerinstinkt Überstunden machen. Seine erste Maßnahme liegt darin, Jonas ein Dach über dem Kopf anzubieten, dass er sich nicht mit seinen aggressiven Nachbarn teilen muss.

 

Kapitel 32

Die Eingangstür klickte und gleich darauf die zur Küche. Schwerfällig, mit vielen Pausen und leisen Flüchen, wälzte sich Jonas aus dem Bett und folgte dem Blubbern des Wasserkochers. „Morgen“, nuschelte er verschlafen.

Erschrocken wirbelte Erik herum, beinahe wäre ihm die Packung mit losem Tee aus den Händen gerutscht. „Habe ich dich geweckt?“

Jonas schüttelte den Kopf. Etwas zu heftig. Er verzog das Gesicht. „Kann eh nich‘ richtig schlafen. Tut weh.“

„Immer noch so schlimm?“

Jonas nickte. Erst in der Nacht zuvor hatte er Erik gebeten, ihn einfach gleich nach der Schließung des Clubs abzuholen, da er ohnehin kein Auge zubekam. Wozu also bis zum Nachmittag warten?

„Hast du deine Schmerztabletten genommen?“

Wieder nickte Jonas. „Sitzen geht. Liegen und bewegen nich‘ wirklich. Und ich tu beides, wenn ich versuch zu schlafen.“

„Willst du dich ein bisschen zu mir auf die Couch setzen?“, bot Erik an.

„Erfahre ich jetzt, was du so nach der Arbeit treibst, bevor du ins Bett verschwindest?“

„Mhm. Und ich verspreche dir, du wirst enttäuscht sein.“ Erik goss heißes Wasser in seine Tasse.

„Teebeutel“, murmelte Jonas.

„Hm?“

„Du hast den Teebeutel vergessen.“

„Oh.“ Rasch befüllte Erik ein butterblumengelbes Tee-Ei. Der Duft nach Earl Grey breitete sich in der Küche aus. „Komm, ab ins Wohnzimmer mit dir.“

 

„WILLST DU MICH VERARSCHEN?“ Abwechselnd deutete Jonas zwischen dem Fernseher und Erik hin und her. Dass sich sein Brustkorb dabei anfühlte, als zöge jemand glühenden Draht mittendurch, nahm er in diesem Fall in Kauf.

„Nein“, erwiderte Erik schlicht.

Entsetzt starrte Jonas ihn an. „Du … du hast immer noch nich‘ alle Folgen von Lost gesehen?“

„Nein“, wiederholte Erik.

„Und jetzt … Jetzt guckst du dir jeden Scheißmorgen genau eine Folge an, bevor du ins Bett gehst?“

„Das hast du gut erkannt.“

„Niemals mehr?“

„Niemals mehr.“

„Egal wie spannend?“

„Egal wie spannend.“

Ungläubig blinzelte Jonas. „Bist du überhaupt ein Mensch? Wer hat denn bitte so ‘ne Selbstdisziplin?“

Erik zuckte mit den Achseln. „Ich mag es eben, wenn ich mich nach der Arbeit noch auf etwas freuen kann.“ Geschickt half er Jonas, das Kissen in dessen Rücken zurechtzurücken und drapierte anschließend die kuschelige Wolldecke um seine Schultern.

So eingemummelt war die Couch derzeit deutlich bequemer als das Bett und Jonas seufzte erleichtert auf, weigerte sich aber, das Thema schon fallen zu lassen. „Eine Folge pro Tag … Den Scheiß kann ich immer noch nich‘ glauben.“

„Glaub es ruhig. Aber wehe, du verrätst mir auch nur eine Szene. Dann schmeiße ich dich hochkant aus meiner Wohnung und meinem Leben.“

„Du meinst, wenn ich dir jetzt erzähl, dass Sayid–“ Unter Eriks warnenden Blick verstummte Jonas, aber das Grinsen blieb auf seinem Gesicht. Er lehnte sich gegen seinen Freund und war eingeschlafen, noch bevor die großen, weißen Lettern den Titel der Serie verkündeten.

 

„Larissa könnte mir ein altes Handy leihen, bis meins aus der Reparatur kommt.“ Jonas blickte vom Küchentisch auf und zu Erik, der damit beschäftigt war, seine Einkäufe einzuräumen. Es störte ihn, dass die ganze Arbeit an Erik hängen blieb, aber auch wenn er protestiert hatte, war ihm insgeheim doch bewusst, dass die verordnete Schonfrist tatsächlich nötig war. „Kann sie es vielleicht morgen hier vorbeibringen?“

„Natürlich.“ Erik drehte sich um. „Hast du Hunger?“

„Ich würd nich‘ ‚Nein‘ sagen.“ Unbeholfen versuchte Jonas, seine SIM-Karte aus Eriks Handy zu friemeln, aber was mit zwei gesunden Händen schon schwierig war, war mit der Linken allein nahezu unmöglich. „Fuck!“

„Lass mich dir h–“

„Ich schaff das schon!“, giftete Jonas, nur, um gleich darauf frustriert das Handy an Erik weiterzureichen. „Sorry, ich … Ich hasse das hier. Also nich‘, dass ich hier bin, sondern, dass ich zu nix fähig bin. Nich‘ mal in die Uni kann ich, weil ich es kaum schaffe, die Treppen rauf und runter zu laufen, geschweige denn neunzig Minuten auf einem dieser scheißdrecks Stühle zu hocken. Ich brauch sogar Hilfe beim An– und Ausziehen, wenn der Scheiß keine drei Stunden dauern soll!“

Erik gab Jonas die SIM-Karte zurück. „Jetzt warte doch mal ein paar Tage. In einer Woche sieht das sicher schon wieder ganz anders aus.“

„Ja, klar.“

„Wirklich“, versicherte Erik. „Du wirst nicht die vollen zwei Monate so bewegungslos sein. Jeden Tag wird es ein bisschen besser.“

„Ich hoffe, du hast recht“, murrte Jonas.

„Das hoffe ich auch.“ Als Erik Jonas‘ Seitenblick bemerkte, schmunzelte er amüsiert. „Für unser beider geistiger Gesundheit.“

„Arsch.“

„Mhm.“

„Ich wusste gar nich‘, dass du kochen kannst.“ Interessiert beobachtete Jonas Erik beim Tomatenwürfeln.

„Denkst du wirklich, ich hätte die letzten zehn Jahre von Fertigpizza gelebt?“

„Ähm ... Ja?“

Erik lachte. „Ich gestehe, dass ich lieber backe als koche, aber verhungern muss ich trotzdem nicht.“

„Was gibt’s denn?“

„Nudeln mit Tomatensoße.“ Als Erik Jonas‘ Kichern hörte, drehte er sich um. „Hey! Keine Witze, bis du probiert hast!“ Das Messer in seiner Hand blitzte gefährlich. „Auch einfaches Essen kann toll schmecken.“

„Klar doch.“ Jonas runzelte die Stirn. „Kann ich dir echt nich‘ helfen?“

„Nein“, sagte Erik bestimmt. „Aber du kannst mich nach dem Essen daran erinnern, den Zweitschlüssel von meiner Nachbarin zu holen.“

„Wozu?“

„Ah, weil du das Haus vielleicht auch mal verlassen willst, wenn ich gerade nicht da bin, um dich anschließend wieder reinzulassen?“

„Oh. Stimmt.“ Jonas‘ Wangen wurden heiß. Ein Zweitschlüssel. Erik vertraute ihm seinen Zweitschlüssel an. „Danke.“

Zur Antwort beugte sich Erik nach unten, hauchte einen Kuss auf Jonas‘ Lippen und stupste dann frech mit der Zunge dagegen. Jonas streckte sich in seine Richtung, so weit seine Verletzungen das zuließen. Erst, als das Nudelwasser vernehmlich blubberte, lösten sie sich voneinander.

„Toll“, murrte Jonas. „Jetzt hab ich Schmerzen und bin geil.“

„Und so wird das die nächsten zwei Monate auch weitergehen.“

„Hast du nich‘ grad gesagt, dass diese Scheißschmerzen bald nachlassen?“

„Naja, gut. Die Schmerzen wohl schon“, räumte Erik ein. „Der Rest …“ Er beendete seinen Satz mit einem vielsagenden Lächeln.

„Du planst jetzt aber nich‘, mich die nächsten Wochen schmoren zu lassen?“

„Doch, so ähnlich sah mein Plan in der Tat aus.“

„Arsch.“

„Das hatten wir heute schon.“

Zur Antwort streckte Jonas Erik die Zunge raus und setzte ihn anschließend auf seine innere Ignore-Liste. Träge blinzelte er in das hereinscheinende Sonnenlicht, lauschte dem Klappern des Geschirrs und entschied, die kommenden Tage einfach zu genießen, anstatt sich darüber zu ärgern, so eingeschränkt zu sein. Auf zweimonatige Enthaltsamkeit hatte er dennoch keinen Bock, darüber mussten sie definitiv nochmal reden.

Erik testete eine Nudel. Offenbar zufrieden mit dem Ergebnis, goss er das Wasser ab. „Probier mal.“

Bevor Jonas eine Chance hatte, von seinem Stuhl aufzustehen und selbst zum Herd zu gehen, wurde ihm einen Kochlöffel voll sämiger, leuchtendroter Soße vor die Nase gehalten. Vorsichtig kostete er. Fruchtig. Ein Hauch Schärfe, eine Ahnung Süße. Jede Menge Sommer und Sonne. „Das is‘ … echt scheißlecker.“

„Mhm.“

„Okay, los. Sag’s schon.“

„Ich hab‘s dir ja gleich gesagt.“ Wäre Eriks Lausbubengrinsen nicht so unwiderstehlich gewesen, Jonas hätte auf seine gebrochenen Rippen geschissen und diesem arroganten Arsch mit Wucht gegens Schienbein getreten. So begnügte er sich mit einem grimmigen Grummeln und wartete darauf, dass ein gut gefüllter Teller in seine Reichweite gelangte. Wenigstens hatte Erik daran gedacht, Nudeln zu kaufen, die Jonas halbwegs würdevoll mit nur einer Hand auf seine Gabel schaufeln konnte.

„Ich hab dich noch gar nicht gefragt, wie’s in Stuttgart war.“ Jonas bereute die Worte in der Sekunde, in der er sie ausgesprochen hatte. Wie sollte so ein Grabbesuch schon sein? Hauptsache, er hatte es einmal mehr geschafft, den Finger auf offene Wunden zu legen.

„Nicht viel anders als in den Jahren davor“, erwiderte Erik. Er schien sich weit weniger an der Frage zu stören als Jonas. „Abgesehen davon, dass ich nicht bei meiner Tante war. Was …“, er neigte den Kopf, „eigentlich weiß ich nicht, ob das jetzt gut oder schlecht war. Es war einfach okay, denke ich. Ich soll dir übrigens schöne Grüße von Drago und Marco ausrichten.“

„Oh, danke. Sag ihnen auch schöne Grüße, falls du demnächst mal mit ihnen sprichst.“

„Mach ich. Soll ich Marco auch gleich in deinem Namen dafür danken, dass er mir beigebracht hat, Tomatensoße zu kochen?“

„Das is‘ sein Verdienst?“, fragte Jonas.

„Mhm. Wenn er sich nicht erbarmt h–“ Erik stockte. „Tut mir leid. Ist es unangenehm für dich, wenn ich über unsere Vergangenheit spreche?“

Verdutzt schluckte Jonas den aktuellen Bissen Nudeln herunter. „Ähm, nee. Eigentlich gar nich‘.“

„Sicher?“, hakte Erik nach.

Obwohl seine Antwort bereits feststand, tat Jonas Erik den Gefallen und horchte noch einmal gründlich in sich hinein. „Ganz sicher. Ich mein, wär es nich‘ viel komischer, wenn du mir nich‘ von ihm erzählst? Als hättest du was zu verbergen? Und außerdem … Ich vertrau dir. Ich kann mir einfach nich‘ vorstellen, dass du dich auf mich eingelassen hättest, wenn du eigentlich noch Gefühle für jemand ganz anderen hast.“ Jonas zuckte mit den Schultern und bereute es sofort. Als der Schmerz abgeflaut war, fuhr er fort: „Vielleicht bin ich auch gnadenlos naiv, du ein Arsch und am Ende geht alles ganz fürchterlich zum Teufel, aber darauf lass ich’s wohl einfach ankommen.“

Schweigend lauschte Erik Jonas‘ kleiner Ansprache und am Ende zeichnete sich ein schmales Lächeln auf seinen Lippen ab.

„Was?“, fragte Jonas misstrauisch.

„Nichts“, antwortete Erik kopfschüttelnd. Er stand auf. „Ich hole mal den Ersatzschlüssel.“

Als Erik wenige Minuten später zurückkehrte, hatte Jonas das Gefühl, dass da mehr in ihm vorging, als er preiszugeben bereit war noch immer nicht abgeschüttelt, aber noch zu keiner Entscheidung gefunden, ob er ihn darauf ansprechen sollte. Wofür er sich entschieden hatte, war eine zweite Portion Nudeln.

„Sie scheint gerade nicht da zu sein“, sagte Erik. „Ich lasse ihr einen Zettel im Briefkasten, wenn ich gehe, dann kann sie dir den Schlüssel später vorbeibringen.“

„Okay.“

Eriks Blick fiel auf Jonas‘ vollen Teller. „Hättest du gewartet, hätte ich für dich nachgefüllt.“

Jonas konnte sich ein Augenrollen nicht verkneifen.

Eine Reaktion, die Erik nicht entging. „Ich bin gerade ziemlich überfürsorglich, oder?“

„Japp.“

„Tut mir leid.“

„Schon gut.“ Im Grunde konnte Jonas Erik das kaum übelnehmen. Sogar er selbst war erschrocken, als er sich an diesem Morgen zum ersten Mal richtig im Spiegel betrachtet hatte. Die linke Hälfte seines Gesichts war aufgeschrammt und geschwollen, seine Haut entweder käsebleich oder schwarzblau verfärbt. Der Gips an seinem Unterarm war monströs und auch, wenn sich Jonas bemühte aufrecht zu stehen, stimmte irgendetwas mit seiner Körperhaltung nicht.  

Wieder besänftigt, bedeutete er Erik, näher zu kommen, küsste seine Stirn, seine Wangen, seine Lippen. „Ich weiß ja, dass du dir bloß Sorgen machst. Und ich sag dir dann schon, wenn du nervst.“ Damit zauberte er wieder dieses kleine Lächeln auf Eriks Gesicht. Nicht wirklich glücklich, aber es war ein Anfang.

 

„Also, ich gehe dann.“

Jonas blickte von seinem Buch auf. Nicht, dass er wirklich darin gelesen hätte. Ihm war noch immer schwummrig und sobald er sich zu lange auf die Buchstaben konzentrierte, meldete sich diese verdammte Übelkeit wieder. Dasselbe galt blöderweise auch, wenn er im Internet surfte oder fernsah, also waren seine Beschäftigungsmöglichkeiten begrenzt.

Erik stand im Türrahmen, trug Hemd, Weste und Kontaktlinsen als Symbole seines anderen Ichs. Eines Ichs, das – mehr noch sich selbst als anderen – jeden Tag aufs Neue beweisen musste, dass er in seinem Beruf bestehen konnte. Dass er abgeklärt war und sich durch nichts aus der Ruhe bringen ließ. Keine Schwächen hatte, schon gar keine, die für andere sichtbar waren.

Jonas dachte darüber nach, wie sehr sich seine Perspektive in den vergangenen Monaten verschoben hatte. Anfänglich hatte er sich nach genau diesem kühlen, dominanten Mann verzehrt, bis hin zu echter Enttäuschung, als ihm das erste Mal bewusst geworden war, dass der in dieser Form gar nicht existierte. Dass niemand Jonas an der Hand nehmen und durchs Leben führen würde, frei von eigenen Entscheidungen, frei von eigenen Fehlern.

Jetzt wartete Jonas nur darauf, dass Erik nach Hause kam, seinen Panzer aus Perfektion ablegte und sich an ihn schmiegte.

„Jonas?“, fragte Erik, augenscheinlich von seinem Schweigen irritiert. „Ist alles in Ordnung?“

„Oh, ähm, ja.“ Jonas lächelte verlegen. „Sorry, bin bloß abgeschweift. Dann isses wohl Zeit, dir gute Nacht zu wünschen. Um“, er warf einen Blick auf Uhr des alten DVD-Players, „kurz nach acht. Daran muss ich mich noch gewöhnen.“

„Wahrscheinlich wecke ich dich ohnehin wieder versehentlich, wenn ich nach Hause komme.“

„Ich glaub, das findest du schlimmer als ich. Außerdem hab ich ja jetzt mein Kissennest. Nich‘mal Babykätzchen und Hundewelpen könnten kuscheliger sein.“ Mit Eriks Hilfe hatte Jonas seine Seite des Bettes mit genug Kissen und Decken ausstaffiert, um die Nacht eher sitzend als liegend verbringen zu können und damit seine Chancen auf etwas Schlaf erhöht. „Und wenn’s so auch nich‘ klappt, weiß ich auch nich‘ weiter. Dann muss ich wohl einfach hoffen, dass meine Rippen heilen, bevor ich an Schlafmangel krepiere.“

„So weit wird es hoffentlich nicht kommen.“ Erik drückte Jonas einen Abschiedskuss auf die Lippen. „Und nicht vergessen: Falls es klingelt, ist das vermutlich meine Nachbarin wegen des Schlüssels.“

„Okay.“ Unruhig verlagerte Jonas sein Gewicht. „Kannst du … kannst du meine Lederjacke mitnehmen, wenn du gehst?“

„Wozu?“

„Um sie wegzuschmeißen. Ich selbst bring’s einfach nich‘ übers Herz, aber anziehen kann ich sie halt auch nich‘ mehr.“ Dank seiner lückenhaften Erinnerung wusste Jonas nicht sicher, was mit der Jacke passiert war, aber abgesehen von einigen Abschürfungen im Leder, zog sich ein langer Riss durch den rechten Ärmel. Er musste der Wahrheit ins Auge sehen: Das Ding war Schrott.

„Meine Mutter mag Männer in Lederjacken nich‘“, plapperte er vor sich hin, ohne sich selbst wirklich zuzuhören. „Deshalb hat sie sich immer geweigert, mir eine zu kaufen. Ich weiß gar nich‘ mehr, an wie vielen Geburtstagen und Heiligabenden ich enttäuscht auf mein Geschenk geguckt hab, weil nich‘ das drin war, was ich eigentlich wollt. Also hab ich über ein Jahr lang gespart, um sie mir selbst kaufen zu können. Scheiße, das klingt wahrscheinlich völlig lächerlich, aber ich war so stolz drauf. Irgendwie war das eins der ersten Dinge, die ich mir so richtig selbst erarbeitet hatte. Ich mein, mein Abi is‘ ‘n Witz. Grad, dass ich überhaupt bestanden hab und ohne Maria wär das sicher nix geworden. Und sonst? Gab’s auch nich‘ viel. Aber jeden Monat den Großteil vom Taschengeld zurückzulegen … Sonderschichten im Apfelbäumchen zu schieben, sobald ich alt genug dafür war … So lange, bis ich endlich hatte, was ich wollte … Ich hab mich irgendwie erwachsen dabei gefühlt. Verantwortungsbewusst.“

„Verstehe“, sagte Erik langsam. „Ich nehme sie mit.“

„Danke.“ Jonas fühlte nicht, was er sagte.

 

Die Klingel riss Jonas aus seiner eher angestrengten Lektüre der Angewandten Mikroästhetik.

„Verfickte scheißdrecks …!“ Unflätig fluchend kämpfte er sich von seinem bequemen Platz auf der Couch nach oben und schlurfte zur Tür. Es klingelte ein weiteres Mal. „Is‘ ja gut“, zischte er. „Lasst doch dem Invaliden ‘n bisschen Zeit.“

Eine Spur ruppiger als geplant riss er die Eingangstür auf und wurde dafür prompt mit einem stechenden Schmerz belohnt, der ihm einmal durch Mark und Bein fuhr und sämtliche Luft aus seinem Körper trieb. „Fuck!“

„Mensch Jung, watt hast du denn anjestellt?“

Mit zusammengebissenen Zähnen hob Jonas den Kopf. Vor ihm stand die alte Dame, deren Tüten er vor ein paar Wochen in den zweiten Stock getragen hatte und musterte besorgt sein zerschrammtes Gesicht.

„Autounfall“, presste er hervor.

„Bist ja janz blass um de Nase!“, rief sie alarmiert.

„Geht gleich wieder“, versicherte er und atmete einige Male durch. Nicht zu tief, da sich das anfühlte, als sprengte er seinen eigenen Brustkorb, aber ausreichend, um seinen Herzschlag zu beruhigen. „‘Tschuldigung, falls ich Sie erschreckt habe.“

„Ach, Jung. Dett braucht schon watt mehr.“ Sie streckte ihre kleine, faltige Hand aus und öffnete sie. Darin lag ein schlichter Edelstahlschlüssel, identisch zu dem, der an Eriks Schlüsselbund hing. „Ick nehm an, der is für dich jedacht.“

„Isser. Danke.“ Unschlüssig drehte Jonas den Schlüssel in den Händen. Sollte er die Nachbarin hereinbitten? Es schien höflich, das zumindest anzubieten, aber das war immer noch Eriks Wohnung.

„Bleibste länger?“, fragte sie.

„Bloß ein paar Tage. Bis ich mich ‘n bissl besser bewegen kann.“

„Dett is awa schade. Dett Haus braucht mehr junges Jemüse. Janz besonders so nettes.“

„Ich will Eriks Gastfreundschaft nich‘ überstrapazieren“, erwiderte Jonas ausweichend.

Die alte Dame lachte. „Na, da würd ick mir an deener Stelle mal keene Jedanken machen.“

So lächerlich es war, die Überzeugung in ihrer Stimme ließ Jonas‘ Herz hüpfen.

 

Kapitel 33

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Kapitel 34

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Kapitel 35

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Kapitel 36

Was zuletzt geschah:

Eriks und Jonas‘ Beziehung wächst und gedeiht, aber wie bei jedem zarten Pflänzchen besteht ihr Leben nicht nur aus Sonnenschein. Manchmal stürmt und regnet es. Jonas lässt sich davon aber nicht – okay kaum – verunsichern und schafft es, einen gemeinsamen Tag zu einem wesentlich besseren Ende zu bringen, als der Anfang versprochen hatte.

 

Kapitel 36

Panisch schreckte Jonas hoch. „Ich hab meine Zahnbürste vergessen!“

„Kaufen wir, wenn wir in Stuttgart angekommen sind.“

Eriks ruhige Stimme und das rhythmische Tuckern des Zugs lullten Jonas ein und verlockten ihn, den Kopf an die Schulter seines Freunds zu lehnen. Nur die Anwesenheit der anderen Fahrgäste hielt ihn davon ab. Und eine jähe Erkenntnis. „Scheiße, mein Ladekabel liegt auch noch daheim!“

„Du kannst meins mitbenutzen.“

„Sorry, ich bin echt ‘n Chaot.“

„Du bist süß“, flüsterte Erik unhörbar für ihre nächsten Sitznachbarn.

„Wie lang hab ich überhaupt gepennt?“

Erik warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Nicht lange. Vielleicht eine Stunde. Du hast also noch gute vier vor dir.“

„Bist du nich‘ müde? Du warst doch arbeiten.“

„Mhm. So langsam merk ich das auch.“

Erik war natürlich nicht pünktlich aus dem Tix gekommen und selbstverständlich hatte sich dann auch noch die Suche nach einem Taxi beeindruckend schwierig gestaltet, insbesondere, wenn man bedachte, dass der nächtliche Berliner Straßenverkehr üblicherweise aus nichts anderem zu bestehen schien. Bis sie endlich erschöpft in ihre Sitze hatten sinken können, war einiges an Rennerei, Gefluche und Koffergezerre vorangegangen. Jonas konnte nur hoffen, der restliche Kurzurlaub würde nicht dem Bespiel dieses hektischen Anfangs folgen.

Nach seinem kurzen Nickerchen fühlte er sich deutlich fitter – im Gegensatz zu Erik hatte er sich allerdings schon vor ihrem Aufbruch eine Mütze Schlaf gegönnt – und war bereit, in den Tag zu starten. Neugierig spähte er aus dem Fenster. Sonnenstrahlen krochen über das flache Land, spielten die Vorboten eines heißen Sommertags. „Was is‘ denn jetzt eigentlich unser Plan für die nächsten Tage?“

„Jetzt sehen wir erst mal zu, dass wir heil in Stuttgart ankommen“, antwortete Erik. „Zum Glück müssen wir nicht umsteigen, also sollten wir, wenn es keine Verspätung gibt gegen Mittag im Hotel einchecken können. Dann haben wir den restlichen Freitag für uns, morgen holt uns Marco irgendwann am frühen Nachmittag ab, am Sonntag ist das Abendessen mit meiner Tante und der restlichen Familie geplant und am Montag geht es so pünktlich zurück, dass du noch rechtzeitig in dein Seminar kommst und ich in meine Vorlesung.“ Erik hatte die einzelnen Tage an seinen Fingern abgezählt und Jonas seufzte bei dem vollen Programm.

„Ich glaub, danach brauch ich erstmal Urlaub.“

„Ich auch.“ Tatsächlich hatte Erik alles andere als glücklich gewirkt, als er nach einem kurzen Telefonat von den Essensplänen seiner Tante berichtet hatte und auch jetzt sah er aus, als würde er sich gerne vor diesem speziellen Termin drücken. Jonas musste allerdings zugeben, dass er mehr als gespannt war, Eriks Familie kennenzulernen.

Dieser gähnte herzhaft und schloss die Augen. „Ich werde mal versuchen, ein wenig zu schlafen.“

Jonas entschied, die Fahrtzeit mit einem Buch zu überbrücken, bedauerte aber noch einmal, nicht den Mut aufzubringen, sich dabei an Erik zu kuscheln.

 

Eine frische Brise bauschte die babyblauen Vorhänge, fegte über das mit geblümter Wäsche bezogene Doppelbett hinweg und zerzauste Jonas‘ Haar. An der Wand gegenüber hing ein Flachbildfernseher, eine schlichte Tür neben dem Eingang führte in ein weißgefliestes Badezimmer mit Toilette und Duschkabine.

All das nahm Jonas nur am Rande wahr, bevor er sich Gesicht voraus in die Laken fallen ließ. Die Matratze war überraschend bequem, der Rahmen knarzte allerdings hörbar unter jeder Bewegung.

Liebevoll strich Erik über Jonas‘ verspannten Rücken. „Müde?“

„‘N bissl.“ Er drehte den Kopf, um Erik anzusehen. „Aber das Hotel is‘ echt nett. Bist du immer hier?“

„Mhm. Es liegt zentral, der Preis stimmt und das Frühstücksbuffet ist himmlisch.“

„Weil du grad vom Preis sprichst“, murmelte Jonas. „Wie viel …“

„Das klären wir, wenn wir wieder zurück sind, ja? Dann rechnen wir alles zusammen und sehen mal, wie wir es aufteilen.“

Zähneknirschend gab Jonas nach. „Okay. Dann aber wirklich!“ Weder wollte er sich von Erik aushalten lassen, noch den Urlaub mit ellenlangen Diskussionen über Geld vermiesen. „Was treiben wir denn heute noch?“

„Ah, was du willst. Stuttgart ist nicht Berlin, aber es gibt trotzdem genug Möglichkeiten, sich die Zeit zu vertreiben. Davor würde ich mich allerdings gerne noch ein bisschen hinlegen.“

„Ich mich schon auch. So lang im Zug sitzen is‘ echt scheißanstrengend. Freu mich schon wieder auf die Fahrt zu meinen Eltern.“

„Hast du dir inzwischen überlegt, wann du fahren willst?“ Erik schlüpfte aus Schuhen, Hemd und Hose und gesellte sich zu Jonas aufs Bett.

Dieser rutschte etwa so widerwillig zur Seite, wie er über den Besuch bei seinen Eltern nachdachte. „Bisher sieht der Plan vor, dass Christine und Maria Mitte August nach Berlin kommen und etwa ‘ne Woche bleiben. Wir feiern unseren Geburtstag und dann fahr ich zusammen mit den beiden zurück und bleib ‘n paar Tage. Maximal zwei Wochen, denk ich, dann reicht’s mir wieder. Ich will in den Semesterferien ja auch ‘n bissl Zeit mit dir verbringen. Ach ja und irgendwo dazwischen muss ich auch arbeiten und meine Urlaubskasse wieder auffüllen. Hab eh Glück, dass meine Chefs mich meine Schichten so flexibel einteilen lassen.“

Zur Antwort brummte Erik etwas Unverständliches. Er hatte die Augen bereits geschlossen und Jonas war sich nicht sicher, wie viel er von seinen Ausführungen überhaupt mitbekommen hatte.

 

Ein schrilles Summen riss Jonas aus seinen Träumen. „Du hast nich‘ wirklich deinen Scheißwecker gestellt?“ Missmutig kickte er seinem Freund gegen das Schienbein, allerdings so schwach, dass der Tritt eher einem sanften Streicheln gleichkam.

„Ich wollte nicht den ganzen Tag verschlafen“, nuschelte Erik und quälte sich aus dem Bett, um den Alarm seines auf dem Fensterbrett platzierten Handys abzustellen. „Für den Kurzurlaub hätte ich ganz gerne so etwas Ähnliches wie einen alltagstauglichen Schlafrhythmus.“

Grummelnd erhob sich auch Jonas. Nachdem sich der Schleier des Schlafs ein wenig gelüftet hatte, informierte sein Körper ihn über zwei konträre, aber recht dringende Bedürfnisse. Er musste zur Toilette – und er stand kurz vorm Verhungern.

„Wie spät isses eigentlich?“, fragte er, als er aus dem Bad zurückkehrte.

„Kurz nach zwei. Schon eine Idee, was du machen willst?“

„Japp.“ Die hatte Jonas bereits, seit ihr Kurztrip zum ersten Mal konkrete Züge angenommen hatte. „Ich will ‘ne Stadtführung. Aber nich‘ son Touristenscheiß, sondern Plätze, die für dich irgend ‘ne Bedeutung haben. Deine Grundschule, dein Lieblingsspielplatz, son Kram halt.“

„Ah, lass mich mal überlegen, was sich da anbietet …“

„Idealerweise fangen wir mit irgendwas an, wo du gern gegessen hast. Ich bin echt scheißhungrig.“

„Mhm, dann hätte ich eine Idee.“

Nach einer – dank Erik nicht ganz so kurzen – Dusche und zwei Busfahrten, fand sich Jonas in einer ihm völlig fremden Straße, innerhalb einer ihm völlig fremden Stadt wieder. Glücklicherweise hatte er einen kompetenten und ausgesprochen gut gelaunten Reiseführer an seiner Seite.

Interessiert musterte Jonas die unauffällig gestrichenen Mehrfamilienhäuser, deren Erdgeschosse von schnuckeligen Geschäften besetzt waren und die mit Bäumen bepflanzten Grünstreifen am Straßenrand, die davon zeugten, dass es sich hier um eine beliebte Gassirunde handelte. „Hast du hier gewohnt?“

„Nein, nein, das nicht. Aber ich war früher oft in der Gegend. Genaugenommen dort.“ Erik deutete auf ein Café mit breiter Fensterfront auf der anderen Straßenseite. „Im Nebenraum findet ein Jugendtreff statt, in dem ich mich oft mit Marco getroffen habe. Außerdem gibt es dort die wohl besten Sandwiches in ganz Stuttgart.“

Jonas betrachtete die farbenfrohen Buchstaben auf dem schneeweißen Schild, die den Laden als ‚Buntes Tässchen‘ auswiesen. Neben der Eingangstür flatterte eine Regenbogenfahne. „Wann warst du das letzte Mal hier?“

„Ah, erst im Mai“, antwortete Erik. „Ich schaue eigentlich jedes Jahr vorbei. Marco ist mit den Besitzern befreundet, also habe ich sie natürlich auch kennengelernt. Die beiden waren irgendwie immer Vorbilder für mich.“

„Gehen wir rein?“

„Wenn du willst.“

„Klar!“ Misstrauisch beäugte Jonas den Verkehr, bevor er die Straße überquerte. Nicht einfach auf Ampeln zu vertrauen war eine Lektion, die ihm sein Unfall ausgesprochen gründlich eingetrichtert hatte.

Drei Glöckchen bimmelten, sobald er durch die mit einem Keil offengehaltene Tür schritt und noch einmal, als Erik kurz nach ihm folgte. Der Raum war im Vergleich zur Sommerhitze angenehm kühl und die Theke direkt gegenüber dem Eingang zog sofort Jonas‘ Aufmerksamkeit auf sich. Sie war bestückt mit Kuchen, Kleingebäck, belegten Brötchen, Bagels, Panini und einer ganzen Menge mehr. Wenn das Essen so schmeckte, wie es aussah, hatte Erik nicht übertrieben.

Auf hellem Laminatboden verteilten sich in Pastelltönen gehaltene Stühle und Sitzsäcke, anstelle von Blumen standen Kräuterbouquets, die ihren würzigen Duft verbreiteten auf den Tischen. Eine geschlossene Holztür mit Sichtfenster führte in einen Nebenraum, aus dem lautes Gelächter schallte. Darüber prangte in knallbunten, handgemalten Lettern ‚JUGENDTREFF – Jeder ist willkommen!‘.

Sanft schob Erik Jonas zur Theke, hinter der ein kahlköpfiger Mann mittleren Alters Stellung bezogen hatte. Ein goldener Ring funkelte in seinem rechten Ohrläppchen und sein rosafarbenes Hemd spannte ein wenig über seinem Wohlstandsbauch. Als sich Jonas näherte, blickte er auf und schenkte ihm ein strahlendes Lächeln. „Na, was darf es denn–“ Sein Blick traf Erik und sein Lächeln wurde noch breiter. „Das ist ja eine Überraschung! Dich hatte ich so schnell nicht mehr hier erwartet.“ Er zog Erik in eine Umarmung, so weit es die Theke zwischen ihnen zuließ. „Du hast uns jemanden mitgebracht?“

„Mhm, das ist Jonas. Jonas, das ist Hugo, einer der Besitzer des Tässchens.“

„Freut mich.“ Ein Ehering presste sich kühl gegen Jonas‘ Haut, als er Hugos Hand schüttelte. „Ich find eure Einrichtung übrigens super! So fröhlich.“

Obwohl er abwinkte, wirkte Hugo sichtlich geschmeichelt. „Und? Was bringt uns diese überraschende Ehre?“

„Marco und Drago haben zur Hausbesichtigung geladen“, erklärte Erik. „Also dachten wir, wir machen einfach einen Wochenendurlaub daraus und ich zeige Jonas mal die Stadt, in der ich aufgewachsen bin. Da gehört das Tässchen natürlich dazu.“

„Wann seid ihr angekommen?“

„Vor ein paar Stunden. Wir wollten einen möglichst frühen Zug nehmen, damit wir noch ein wenig was vom Tag haben.“ Während seiner Antwort hatte Erik das Tagesangebot gemustert. Das war auch Hugo nicht entgangen.

„Ach herrje, ihr müsst ja fast verhungert sein, wenn ihr den halben Tag im Zug gesessen habt. Was darf ich euch denn bringen?“

„Ich … kann mich nich‘ entscheiden“, murmelte Jonas. „Das sieht alles so super aus.“

„Soll ich euch einfach ein paar Kleinigkeiten zusammenstellen?“, bot Hugo an.

„Au ja!“ Verlegen rieb Jonas über seine Wangen und gab sich große Mühe, Eriks Kichern über seinen kleinen Freudenschrei zu überhören. In Zimmerlautstärke fügte er hinzu: „Das, äh, klingt klasse.“

Hugo lächelte breit. „Na, dann sucht euch mal ein schönes Plätzchen und ich bringe euch alles an den Tisch. Eine Tasse Earl Grey für dich, Erik?“

„Mhm, danke.“

„Und du?“, wandte sich Hugo an Jonas.

„Ähm … Cola?“

„Isst du Fleisch?“

Jonas nickte.

„Irgendwas, das du dafür nicht magst?“

„Nee, ich bin unkompliziert.“

„Alles klar, Jungs, setzt euch, ich bring euch gleich was rüber.“

Hugos Aufforderung folgend, suchten sich Erik und Jonas einen Fensterplatz ein Stück entfernt von den anderen Gästen. Die hereinfallenden Sonnenstrahlen wärmten ihre Haut.

„Wie lange kennt ihr euch schon?“, fragte Jonas.

„Hugo und ich? Fast zehn Jahre.“

Der Lärm aus dem Nebenzimmer wurde lauter. Als Jonas den Grund dafür suchte, bemerkte er einen großen, sportlichen Mann in Hugos Alter, der soeben die Tür zum Jugendtreff mit der Hacke zuschlug. Der Mann schlenderte zur Theke, lehnte sich dagegen und drückte Hugo einen Kuss auf die Lippen. Dieser machte ihn wiederum mit einem Fingerzeig auf die beiden Neuankömmlinge aufmerksam und begleitete ihn – mitsamt Getränken und einer Etagere – zu ihrem Tisch.

„Zwei Besuche in einem Jahr. Jetzt übertreibst du aber“, begrüßte der Mann Erik mit einem verschmitzten Zwinkern. Auch an seiner Hand glänzte ein Ehering.

Erik schmunzelte. „Bedank dich bei Marco und Drago.“

„Oh, das werde ich.“

„Spätestens, wenn wir uns dann bald zum dritten Mal sehen“, warf Hugo ein.

„Zum dritten Mal?“

„Du, äh, weiß das noch nicht?“ Plötzlich wirkte Hugo unangenehm berührt. Sein Mann rollte unverhohlen mit den Augen.

„Ich weiß was noch nicht?“, hakte Erik nach und zog eine Braue hoch, wie er es auch bei Jonas tat, wenn sich dieser erdreistete, eine unbefriedigende Antwort zu geben.

„Och, schon gut. Das, äh, erfährst du noch früh genug.“

Offensichtlich hatte Hugos Mann entschieden, genug von der Diskussion gehört zu haben und wandte sich an Jonas. „Hi. Ich bin übrigens Manni, Hugos Mann. Was ich gelegentlich bereue, wenn er seine große Klappe mal wieder nicht halten kann.“ Dafür erntete er einen Stoß in die Rippen und ein missgelauntes ‚Pah!‘, das sich rasch in Gelächter wandelte.

„Ach, ich bin immer ganz froh, wenn ich nich‘ der einzige bin, der nich‘ weiß, wann er besser den Mund halten sollte“, sagte Jonas.

„Siehst du?“ Anklagend deutete Hugo auf seinen Mann. „Er versteht mich!“ Mit einem überraschend charmanten Lächeln richtete er seine Aufmerksamkeit auf Jonas. „Jetzt, da wir festgestellt haben, wie ähnlich wir uns sind, sollten wir ernsthaft überlegen, ob es nicht einfach das Beste für alle Beteiligten wäre, wenn wir zusammen durchbrennen und diese beiden Miesepeter hier zurücklassen. Falls du Eriks Gefühle schonen willst, kann ich auch einfach vorgeben, dich entführt zu haben.“

„Oh, ähm …“ Fieberhaft suchte Jonas nach einer witzigen Erwiderung, sah sich ob Hugos Direktheit aber ziemlich überfordert.

Am Ende war es Erik, der ihm eine Antwort ersparte, indem er leise aber deutlich sagte: „Trau dich, und sieh zu, wie weit du kommst, Hugo.“

Jonas hoffte inständig, Eriks angefressenen Gesichtsausdruck nur falsch zu interpretieren, aber es war Hugos zufriedenes Grinsen, das ihn wirklich irritierte. Bis er begriff, dass sie ihm offensichtlich gerade eine Antwort auf die ungestellte Frage nach ihrem Beziehungsstatus geliefert hatten. Jetzt bemerkte er auch das amüsierte Zucken um Eriks Mundwinkel.

Also entschied er, das Spiel mitzuspielen. „Erik, Schatz, du kannst mir leider nicht das aufregende Leben eines Café-Besitzers bieten.“

„Ich kann mich ändern!“, versicherte Erik eindringlich.

„Tut mir leid, mein Lieber …“ Hugo schüttelte den Kopf. „Ich fürchte, diese Runde geht an mich.“

Verletzt verzog Erik den Mund. „Seit wann bin eigentlich ich nicht mehr deine Nummer eins?“

„Oh, Erik!“, rief Hugo, laut genug, damit auch die restlichen Gäste auf sie aufmerksam wurden. „Natürlich bist du meine Nummer eins! Aber ich muss mich doch bei dem Neuling ins Zeug legen. Du gehörst mir ja schon lange!“

Erik presste seine Hände an die Brust. „Deine poetischen Worte schaffen es immer wieder, mein Herz zu gewinnen.“

Jonas begnügte sich damit, die für sie bereitgestellten Köstlichkeiten zu inspizieren – Scones mit Clotted Cream, Marmelade, Honig, je ein Croissant, Fingersandwiches mit verschiedenen Belägen sowie frisches Obst stapelten sich vor ihm – und schnappte sich das Gurkensandwich, das viel zu köstlich aussah, um es noch länger liegen zu lassen. Kauend verfolgte er diese Karikatur eines Flirts, die Erik und Hugo gerade auf ihren komödiantischen Höhepunkt trieben. Es war schön, Erik mal so ausgelassen zu erleben.  

„Ich fürchte, wir verschrecken gerade den armen Jonas“, sagte Manni unvermittelt.

Offenbar war er nicht so unbeobachtet geblieben, wie er angenommen hatte, aber er schüttelte nur lachend den Kopf. „Nee, ich weiß doch, dass niemand mir das Wasser reichen kann.“

„Da hast du allerdings recht.“ Unter dem Tisch fand Eriks Fuß Jonas‘ Unterschenkel und strich zart darüber.

„Naja, ich sollte wohl ohnehin mal wieder nach nebenan schauen, bevor die Kids auf dumme Ideen kommen. Wir sehen uns später.“ Manni winkte noch einmal und verschwand in den Nebenraum. Hugo blieb dagegen noch bei ihnen stehen.

„Wie lange gibt‘s das Café eigentlich schon?“, fragte Jonas ihn, nachdem er einen etwas zu gut gemeinten Bissen heruntergewürgt hatte.

„Über ein Vierteljahrhundert.“ Stolz lag in Hugos Stimme und seine Brust schien anzuschwellen.

„Oh, das is‘ echt schei–schon ziemlich lang. Habt ihr es gemeinsam aufgemacht? Du und Manni, meine ich.“

Hugo schüttelte den Kopf. „Das kann man so eigentlich nicht sagen. Wir haben uns während unserer Kochausbildung kennengelernt, aber anders als ich, war Manni nie wirklich glücklich damit. Also hat er sein Abi nachgeholt, Sozialpädagogik studiert und einige Jahre in der Betreuung suchtkranker Jugendlicher gearbeitet. War ein knochenharter Job und hat ihn ganz schön mitgenommen. Währenddessen habe ich irgendwann entschieden, mich an einem eigenen Café zu versuchen und als das gut genug lief, hat er gekündigt und ist miteingestiegen.“

„Dann war der Jugendtreff gar nicht von Anfang an geplant?“, fragte Jonas weiter. Irgendetwas an Manni und Hugo faszinierte ihn. Sie hatten es geschafft, ihre offene, humorvolle Art auf ihr Café zu übertragen. „Ähm, sorry, wenn ich dir grad ‘n Loch in den Bauch frag.“

„Nonsens.“ Hugo winkte ab. „Ich bin ja richtig geschmeichelt, dass sich mal jemand gebührend für mein Leben interessiert.“ Ein wenig ernsthafter fuhr er fort: „Der Jugendtreff ist, sagen wir mal, historisch gewachsen. Im Nachhinein bin ich mir selbst nicht so ganz sicher, wie das passiert ist. Wie gesagt, Manni ist in erster Linie Sozialpädagoge und erst danach Koch, aber auch, wenn das Café ursprünglich meine Idee war, hat er mich unterstützt und mitgeholfen wann immer er konnte. Himmel, ich erinnerte mich an Monate, in denen wir jeden Tag zwölf Stunden hier standen und am Ende trotzdem rote Zahlen geschrieben haben. Heute könnte ich das nicht mehr, aber damals …“ Hugo schüttelte den Kopf, ein nostalgisches Lächeln auf den Lippen. „Jedenfalls ist Manni irgendwann eine Gruppe Kinder aufgefallen, die dort“, er deutete auf die gegenüberliegende Ecke des Raums, „ihre Hausaufgaben gemacht haben und nicht weitergekommen sind. Er hat angeboten zu helfen. Sie kamen wieder. Irgendwann sind es mehr geworden und am Ende hatten wir hier sowas wie eine inoffizielle Nachmittagsbetreuung. Das war die eine Seite. Die andere war wohl, dass Manni und ich immer offen zu unserer Beziehung gestanden sind. Das war zwar in den Neunzigern nicht mehr wirklich verpönt, aber zumindest hier in der Gegend eher ungewöhnlich. Irgendwann kurz vor Ladenschluss fragte uns ein Junge, der sicher schon seit einem halben Jahr regelmäßig ins Tässchen kam, ob er mit uns sprechen könnte. Kaum waren die anderen Gäste weg, hat er uns sein Herz ausgeschüttet.“

Auch bei dieser Erinnerung lächelte Hugo, doch Schwermut lag darin. „Uns war das damals gar nicht so bewusst, aber für dieses Kind und viele, die danach kamen, waren wir die ersten offen lebenden Homosexuellen, mit denen sie in Kontakt gekommen sind. Ohne es irgendwie geplant zu haben, sind wir damit zu einem Anlaufpunkt für jeden geworden, der sich nicht als eindeutig heterosexuell identifizieren konnte. Manchmal für Fragen und Ratschläge, oft auch nur, um ihnen einen sicheren Raum zu bieten. Mit den Jahren hat sich das ausgeweitet, inzwischen arbeiten wir auch mit der Stadt und anderen Verbänden zusammen, realisieren Projekte, beschäftigen noch mindestens einen weiteren Sozialarbeiter … Aber angefangen hat alles mit einer Gruppe Kids und einer Dreisatzaufgabe.“

„Es is‘ echt der Wahnsinn, was ihr daraus gemacht habt.“ Noch immer rang das Lachen aus dem Nebenraum in Jonas‘ Ohren, sah er die Gruppe Jungen und Mädchen vor sich, die das Café betreten und sich sofort nach nebenan verzogen hatte. Keiner von ihnen dürfte älter als dreizehn gewesen sein.

„Na, wir hatten ja auch ein paar Jahre Zeit“, erwiderte Hugo bescheiden.

Jonas rechnete nach. „Wenn es das Café schon so lange gibt und Manni und du euch sogar davor schon kanntet, dann … Wie lange seid ihr schon zusammen?“

„Sechsunddreißig Jahre“, antwortete Hugo breit lächelnd. „Zwei Drittel meines Lebens. Himmel, ich bin sowas von alt.“

Allmählich begriff Jonas, warum Erik die beiden als Vorbilder betrachtete.

„Was ist mit euch?“, fragte nun seinerseits Hugo. „Seit wann geht das schon?“

„Ah, seit Ende Februar“, antwortete Erik.

„Also war das im Mai schon aktuell?“ Hugo betrachtete ihn mit gespieltem Entsetzen. „Und sowas erzählst du uns nicht?“

„Das war meine Schuld“, warf Jonas leise ein. „Ich wollte damals nich‘, dass irgendwer … Ich mein … ich bin nich‘ …“ Eriks Fuß, der erneut sanft über sein Bein strich, ließ ihn von seinen Händen aufblicken, das liebevolle Lächeln nahm ihm eine unsichtbare Last von den Schultern.

„Ach so“, erwiderte Hugo schlicht. Er deutete auf Jonas leeres Glas. „Willst du noch was?“

Jonas nickte, froh, keine Nachfragen beantworten zu müssen. „Danke.“

Erik beugte sich näher zu ihm. „Niemand verurteilt dich.“

„Doch. Ich selbst zum Beispiel.“

„Zu Unrecht. Du bist gerade mal zwanzig, das ist noch verflucht jung, um von sich zu erwarten, sich selbst zu kennen, zu akzeptieren und das auch noch in die Welt zu tragen.“

„Du konntest es“, widersprach Jonas.

„Ich hatte ganz andere Startbedingungen.“

„Marco–“

„Ist ein Fall für sich“, würgte Erik ihn ab. „Du bist nicht Marco und das musst du auch nicht sein. Dein Weg ist genauso gut.“

Jonas seufzte. „Ich stand mal vor einer ähnlichen Einrichtung wie hier. Bin extra allein mit dem Zug nach München gefahren, weil ich“, er suchte nach den richtigen Worten, „Anschluss gesucht habe, schätze ich. Oder Verständnis. Keine Ahnung, den ganzen Scheiß halt. Am Ende stand ich davor und hab mich nich‘ reingetraut. Hab mich … ich weiß auch nich‘ … nich‘ zugehörig gefühlt. Wie ein Betrüger, der gar nich‘ wirklich … Nich‘ wirklich … Ach, was weiß ich. Ich kann’s dir nich‘ mal jetzt wirklich erklären. Bin dann jedenfalls wieder gefahren, ohne einen Fuß reingesetzt zu haben. Hat nich’ grad geholfen, mein Selbstbewusstsein zu heben.“ Er lächelte schief. „Wenn es da auch nur ansatzweise so war wie hier, hab ich echt scheißviel verpasst.“

„Oder einfach scheißviel nachzuholen.“ Zwinkernd stellte Hugo das volle Colaglas vor Jonas ab, verschwand aber, bevor dieser etwas darauf erwidern konnte.

Nach einem üppigen Essen und dem Versprechen, vor ihrer Abreise noch einmal wiederzukommen – ein Versprechen, das Jonas sehr gerne gab – fanden er und Erik sich in der milden Abendsonne wieder.

„Also?“, fragte Jonas. „Was steht als nächstes an?“

„Ich könnte dir das Haus zeigen, in dem ich aufwachsen bin“, schlug Erik vor. „In der Nähe gibt es auch einen schönen Park.“ Er strich über seinen Bauch. „Ich glaube, mir täte ein Spaziergang ganz gut.“

 

 

Kapitel 37

Was zuletzt geschah:

Jonas‘ und Eriks Kurzurlaub in Stuttgart beginnt stressig. Zum Glück kennt Erik die eine oder andere zur Entspannung geeignete Ecke und so kommt Jonas nicht nur in den Genuss eines ausgesprochen lecken Nachmittagssnacks, sondern auch Hugos und Mannis Bekanntschaft zu machen. Gerührt von ihrer herzlichen Art, ihn in Eriks Leben willkommen zu heißen und von ihrer Lebensgeschichte beeindruckt, ist er noch fester entschlossen, die Tage in Stuttgart zu nutzen, so viel wie möglich über Erik zu erfahren.

 

Kapitel 37

Schatten zogen sich über die gepflasterte Straße, das Rascheln der Blätter im Abendwind streichelte Jonas‘ Sinne. Erik hatte ihn an den Stadtrand geführt; schnuckelige Gässchen und Einfamilienhäuser versteckten sich hinter einer zubetonierten Hauptstraße. Vor einem mit wildem Wein überwucherten Zaun blieben sie stehen.

„Das ist das Haus, in dem ich aufgewachsen bin.“

Jonas versuchte abzuschätzen, ob Erik lieber nicht über das Thema sprechen wollte, doch abgesehen von einer gewissen Melancholie in seiner Stimme, schien er entspannt. „Und wer wohnt jetzt da?“

„Ah, das weiß ich auch nicht. Meine Tante und mein Onkel haben nach dem Unfall meiner Eltern entschieden, es zu verkaufen.“ Erik lächelte freudlos. „Damals habe ich mich deshalb fürchterlich verraten gefühlt. Meine Eltern waren tot und das Haus, in dem ich aufgewachsen bin, sollte irgendwelchen fremden Leuten überlassen werden. Aus heutiger Sicht verstehe ich sie schon. Der Kredit war noch nicht abbezahlt, zuverlässige Mieter zu finden ist stressig und es gab ja auch noch die beiden Wohnungen–“ Erik stockte, als er Jonas‘ Blick bemerkte. Verlegen strich er über sein hochgebundenes Haar und zog den Haargummi fester. „Meine Eltern waren beide beruflich ziemlich ehrgeizig und haben finanziell vorgesorgt, falls etwas mit ihnen passiert. Ich bin also–“

„Christian Grey“, vervollständigte Jonas seinen Satz und Erik lachte.

„Ah, dafür reicht es dann doch nicht ganz. Nur finanziell ganz gut abgesichert.“ Seine Fingerspitzen fuhren über den rauen Putz der Grundstücksumgrenzung. „Ein paar Wochen vor ihrem Unfall bin ich mit meinen Eltern im Garten gesessen. Muss einer der ersten Abende in dem Jahr gewesen sein, an dem es halbwegs warm genug dafür war. Wir haben Kuchen gegessen, eine der alten Schallplatten meines Vaters angehört und gequatscht. Und ich dachte … Ich dachte, das sei das perfekte Leben. Dass das genau das Leben ist, das ich auch mal mit meiner Familie und meinen Kindern führen will.“ Ein Schatten huschte über Eriks Züge, aber bevor sich Jonas sicher sein konnte, was dieser bedeutete, setzte sich Erik wieder in Bewegung und lief die Straße entlang. „In diesem Moment ist mir zum ersten Mal klargeworden, dass ich nie eigene Kinder haben werde. Das war“, er zögerte, strich über seine Unterarme, „überraschend schmerzhaft.“

„Du willst Kinder?“ Seine Verblüffung ließ Jonas kurzfristig jedes Taktgefühl vergessen. Natürlich war ihm aufgefallen, dass Erik zu den Menschen gehörte, die neugierigen Kindern zuwinkten, wenn sich ihre Blicke trafen, im Supermarkt Grimassen schnitten und sich über das vergnügte Lachen freuten, oder auch mal zehn Minuten Verspätung in Kauf nahmen, um sich mit dem Nachbarskind zu unterhalten. Er hatte nur nie besonders viel in dieses Verhalten hineininterpretiert.

„Ich wollte Kinder, so lange ich denken kann.“

Inzwischen musste sich Jonas beeilen, um mit Erik Schritt zu halten. Er stellte die erste Frage, die ihm einfiel: „Was ist mit Adoption?“

Erik hob eine Braue. „Als alleinstehender Schwuler?“

„Jaah, okay“, räumte Jonas ein. „Aber du bist ja nich‘ mehr allein. Ähm, ich mein, ich weiß noch nich‘ so ganz, wie ich dazu stehen soll. Das kommt grad etwas überraschend, aber–“

„Spielen wir es trotzdem mal durch“, unterbrach Erik ihn nicht allzu sanft. „Angenommen ich – wir“, verbesserte er sich, „heiraten und du wolltest ebenfalls ein Kind adoptieren. Wie hoch stehen die Chancen? Selbst unter der Voraussetzung, dass Vermittlungsstellen keinerlei Vorurteile gegenüber Homosexuellen haben, alleine meine Arbeitszeiten lassen sich nicht mit einem Kind vereinbaren. Und“, er seufzte, „meine Vorgeschichte auch nicht unbedingt. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich wirklich belastbar genug für ein Kind bin, oder der Wunsch danach einfach nur meine Urteilsfähigkeit trübt. Am Ende ist es doch so: Selbst, wenn ich ein Kind adoptieren dürfte, müsste ich mich permanent fragen, ob ich dieses Kind um eine Zukunft mit Menschen bringe, die viel besser dafür sorgen könnten als ich.“

„Erik!“, rief Jonas. „Du machst dich schon wieder tausendmal schlechter als du bist!“

„Vielleicht. Aber das kannst du mir noch so oft sagen, diese Gedanken sind trotzdem da. In den letzten Jahren bin ich zu dem Schluss gekommen, dass Adoption einfach nicht der richtige Weg für mich ist. Für andere mag sie eine wunderbare Lösung sein, aber für mich …“ Wieder dieses ergebene Seufzen. „Ich werde einfach lernen müssen, damit umzugehen, keine eigenen Kinder zu haben. Ah, und eigentlich erzähle ich das auch nur, weil ich …“ Er pausierte, suchte nach den richtigen Worten. „Weißt du, ich hatte nie wirklich Schwierigkeiten damit, zu akzeptieren, dass ich schwul bin. Die Menschen, die mir wichtig waren haben mich immer unterstützt und auch, wenn es mal die eine oder andere blöde Reaktion gab, habe mich deshalb nie geschämt. Aber das heißt nicht, dass ich nicht dennoch manchmal damit gehadert habe.“

„Oh.“ Mit diesem Geständnis hatte Jonas tatsächlich nicht gerechnet. „Das war mir nich‘ klar.“

„Deshalb erzähle ich es dir ja jetzt.“

Es mochte gemein sein, aber Eriks Geständnis floss wie Balsam über Jonas‘ wunde Stellen. Larissas Anschuldigungen hatten ihn damals schwer getroffen und auch, wenn sich ihre Beziehung inzwischen wieder normalisiert hatte, hallten ihre Worte noch häufig in ihm nach. Manchmal hatte er tatsächlich das Gefühl, ‚die Sache‘, was auch immer diese konkret sein mochte zu verraten, wenn er nicht zu jederzeit offen und stolz zu sich stand.

Jonas griff nach Eriks Hand, drückte sie zart und genoss Eriks Lächeln, das erschien, wann immer er ihm seine Zuneigung so öffentlich zeigte.

„Wollen wir weiter zum Park?“, fragte Erik.

„Japp, wollen wir!“

 

„Siehst du den Baum da?“ Erik deutete auf einen knorrigen Stamm am Rande einer Wiese, die von kreischenden Kindern zum Fußballspielen genutzt wurde.

„Japp.“

„Als ich noch jünger war, bin ich oft daran hochgeklettert. Einmal war ich höher als jemals zuvor und während ich meinem Vater gewinkt habe, damit er sich ansieht, wie toll ich das gemacht habe, bin ich abgerutscht, runtergefallen und habe mir das Bein gebrochen.“

„Aww, du Armer“, gurrte Jonas halb mitleidig, halb hämisch.

„Und im selben Jahr, mein Gips war gerade ein paar Monate ab, bin ich mit ein paar Freunden den Hügel dahinter runtergerodelt, gegen just diesen Baum geknallt und habe mir das andere Bein gebrochen.“

Jonas‘ Lachanfall schreckte ein paar Eltern auf, die friedlich ihre Kinderwägen durch die letzten Sonnenstrahlen schoben. „Scheiße, und ich dacht, ich wär ‘n Tollpatsch! Was hast du dir sonst noch so gebrochen?“

„Ah, nichts mehr, meine restlichen Knochen sind zum Glück heil geblieben. Aber ich bin im Urlaub mal auf einen Seeigel getreten, zwei Tage später gegen eine Qualle geschwommen und habe mir, gleich am nächsten Tag, die Haut vom Rücken geschabt, weil mich die Strömung blöd erwischt und gegen einen Felsen getrieben hat. Hat geblutet wie verrückt. Hätte es in der Gegend Haie gegeben, ich wäre in Sekunden umzingelt gewesen.“

Jonas grinste. „Hiermit gelobe ich feierlich, dich ab jetzt in Watte zu packen. Und ich mein nich‘ das metaphorische Zeug, sondern ganz wortwörtliche Watte, die ich rund um dich pappen werde.“ Er breitete die Arme aus. „Weiße Wölkchen, rund und flauschig und mindestens so groß wie’n Fass aufm Oktoberfest.“ Erst als er keine Antwort erhielt, bemerkte er, dass er alleine weitergelaufen war. Fragend drehte er sich zu Erik, doch dieser schien durch ihn hindurch zu starren. Als Jonas seinem Blick folgte, entdeckte er eine um einen Holzkohlegrill verteilte Menschengruppe, die aß, trank und sich amüsierte. Jonas sah genauer hin, konnte jedoch nichts Auffälliges ausmachen. Zwei Frauen und drei Männer hatten es sich gemütlich gemacht, alle irgendwo zwischen dreißig und vierzig Jahre alt, sommerlich gekleidet, weder besonders attraktiv noch hässlich.

Jonas zupfte an Eriks hochgerolltem Hemdsärmel. „Alles okay?“

Erik blinzelte, als wäre er aus einem Traum aufgewacht. „Entschuldige, ich …“ Offensichtlich wusste er nicht, was er sagen sollte und verstummte.

„Das da vorn is‘ ‘n Eisstand, oder?“ Jonas deutete auf den mobilen Laden, der ein gutes Stück von dem Grüppchen entfernt stand.

„Sieht so aus.“

„Isser gut?“

„Weiß ich nicht.“

„Dann testen wir das jetzt!“ Ohne Erik die Chance auf Protest zu lassen, zog Jonas ihn hinter sich her und bestellte. Zitrone und Erdbeere für ihn selbst, zweimal dunkle Schokolade für Erik, der mit jedem Milliliter Eis, der von der Waffel in seinen Magen wanderte etwas weniger weggetreten wirkte.

Jonas leckte einen letzten Rest kalte Creme von seinen Fingern. Zu gerne hätte er sich bei Erik eingehakt, doch trotz der hereinbrechenden Dunkelheit war der Park noch gut frequentiert und sein Wagemut für diesen Tag aufgebraucht. „Ich bin echt scheißerledigt. Wollen wir uns noch irgendwo mit ungesundem Kram eindecken und dann ins Hotel verschwinden?“

„Können wir machen.“  

Den Weg ins Hotel legten sie größtenteils schweigend zurück. Erik antwortete zwar auf Jonas‘ Fragen und lachte über seine blöden Witze, war mit den Gedanken jedoch offensichtlich nicht wirklich bei ihm. Auch die Zweisamkeit ihres Hotelzimmers brachte keine Änderung.

Jonas reihte ihre Einkäufe auf dem bedruckten Bettlaken auf, um eine bessere Einschätzung treffen zu können, welchen der vielen Schokoriegel, die sie gekauft hatten er zuerst essen wollte. Schnell hatte er einen Favoriten gefunden. Auf dem Schoko-Karamell-Mix kauend, wandte er sich zu Erik, der neben ihm lag, den Kopf gegen die Rückwand des Betts gelehnt, die Augen geschlossen.

„Erzählst du mir, was vorhin los war?“

„Ist es in Ordnung, wenn ich es nicht tue?“

Jonas unterdrückte ein Seufzen. „Ja. Ja, natürlich is‘ das auch okay.“

Erik griff nach der Packung M&Ms, spielte damit, ohne sie zu öffnen. „Das vorhin war mein Ex-Freund.“

„Marc–oh. Oh! Dein Ex-Ex?“

„Mhm.“

„Welcher?“

„Der im Jackett.“

Jonas fluchte innerlich. Weshalb hatte er sich die Leute nicht genauer angesehen? Er konnte sich nicht einmal daran erinnern, dass einer von ihnen ein Jackett getragen hatte.

„Die ganze Zeit habe ich gebetet, dass er nicht zu uns herübersieht“, gestand Erik. „Ich weiß nicht, was schlimmer gewesen wäre. Von ihm erkannt zu werden, oder zu merken, dass ich nach all den Jahren nur ein Fremder bin, der keine Erinnerung wert ist.“

„Kann ich dich fragen, was damals zwischen euch passiert ist? Das heißt“, fügte Jonas schnell hinzu, „du musst das natürlich nich‘ erzählen, aber … manchmal glaub ich, dass es mir helfen würd, dem einen oder anderen Fettnäpfen auszuweichen.“

„Wahrscheinlich hast du recht.“ Erik quittierte Jonas‘ überraschten Gesichtsausdruck mit einem humorlosen Lächeln. „Es bringt ja doch nichts, wenn ich so ein Geheimnis daraus mache. Ich will gar nicht wissen, was du dir inzwischen alles ausgemalt hast.

„Oh, ähm eigentlich hab ich mich eher bemüht, gar nix darüber zu denken, weil ich keine voreiligen Schlüsse ziehen wollte.“ Was natürlich nur bedingt funktioniert hatte.

„Das ehrt dich. Willst du es trotzdem hören?“ Erik setzte sich gerade auf. „Ich versuche, mich kurzzufassen, aber ich fürchte, wenn ich einmal damit anfange, wird das länger dauern.“

„Wir haben alle Zeit der Welt. Ich mein, irgendwann bevor unsere Klausuren losgehen sollten wir wieder nach Hause fahren, aber sonst …“

Der Hauch eines echten Lächelns huschte über Eriks Gesicht. „So lange wird es dann hoffentlich doch nicht dauern. Mal sehen … Wo fange ich an? Ah, vielleicht so. Wir haben uns über einen Chat kennengelernt. Ja, ich weiß, das ist ein ziemliches Klischee, aber ich kann es nicht ändern.“

Jonas schloss seinen Mund wieder und Erik fuhr fort.

„Ich war fünfzehn, meine Hormone im Chaosmodus und es war schön, mich mit jemanden austauschen zu können, der erfahrener war als ich und mit dem ich einen unschuldigen, sicheren Flirt übers Internet genießen konnte. Damals hatte ich nicht die Intention, mich wirklich mit ihm zu treffen.“

„War das vor“, Jonas überwand sich, es laut auszusprechen, „dem Unfall deiner Eltern?“

„Kurz davor, ja. Und als sie starben …“ Erik brach ab, zupfte an der Packung M&Ms, bis eine Ecke einriss. „Ich war einsam. Sehr einsam. Es war nicht so, dass ich keine Freunde gehabt hätte, aber keine dieser Freundschaften war eng genug, damit ich mich jemandem hätte öffnen können oder wollen. Natürlich war ich in der Zeit auch nicht gerade der unterhaltsamste Begleiter und nach und nach haben meine Freunde angefangen mich von ihren Unternehmungen auszuschließen. Oder vielleicht habe ich mich auch selbst ausgeschlossen. Dazu kam die ganze Sache mit meiner Tante und ihrem Teil der Familie. Anfänglich habe ich ja in ihrer Wohnung gelebt, mich dort aber immer fremd gefühlt. Das ging eine Weile so, ein paar Wochen, glaube ich und irgendwann … Irgendwann habe ich den Chat mit meinem Ex wieder aufgenommen und in ihm jemanden gefunden, der mir zuhört hat.“

„Und dann hast du dich mit ihm getroffen?“

Erik schüttelte den Kopf. „Eigentlich wollte ich das nicht. Aber anders als Zuhause, hatte ich kein Zimmer mehr für mich selbst, sondern musste es mit meinem Cousin teilen – oder er sein Zimmer mit mir, ums genau zu nehmen – und es ist schwierig, sein Herz auszuschütten, wenn man ständig fürchtet, jemand könnte zur Tür reinplatzen.“

Jonas schnaubte. „Das kenn ich. Meine Eltern sin‘ beide nich‘ sonderlich technikaffin. Wir hatten bloß ‘nen Familien-Pc und der stand im Wohnzimmer. Anklopfen gelernt hat meine Mum auch erst nach einem peinlichen Vorfall, der glücklicherweise Christine passiert is‘ und nich‘ mir. Scheiße, meinen ersten Porno hab ich mit siebzehn auf meinem ersten Smartphone geguckt. Im Bad, weil das der einzige Raum im Haus is‘, den man absperren kann. Ich mein, es ging natürlich schon davor der eine oder andere Clip unter meinen Freunden rum, aber die waren halt alle, ähm, nich‘ so ganz mein Geschmack.“

„Zu viele Frauen?“, fragte Erik amüsiert.

„Viel zu viele. Und, ähm, ich nehm mal an, dass du darauf hinauswillst, dass du dich zu ‘nem Treffen hast breitschlagen lassen.“

„Mhm. Nachdem wir eine Woche versucht hatten, in Ruhe zu chatten und es einfach nicht klappen wollte, habe ich seinem Drängen nachgegeben und mich mit ihm in einem Bistro getroffen. Es war nett. Er hat unsere Getränke gezahlt, mir jede Menge Fragen gestellt und Komplimente gemacht, das komplette Date-Paket eben. Irgendwann hat er gefragt, ob wir nicht zu ihm wollen, weg von den neugierigen Ohren um uns herum.“

„So fangen miese Horrorfilme an“, kommentierte Jonas trocken und hätte sich gleich darauf am liebsten für seine Taktlosigkeit geohrfeigt. „Sorry. Ich wollt dich nich‘ unterbrechen.“

„Unterbrich so viel du willst. Macht das Erzählen ein wenig einfacher. Und ja, ich war dumm und naiv. Geschmeichelt, dass jemand, der ein paar Jahre älter war, ein Erwachsener – zumindest für mein damaliges Empfinden – sich für mich interessierte. Also bin ich mit. Wir haben uns unterhalten. Uns geküsst.“ Er seufzte. „Das war mein erster Kuss und ich würde lügen, wenn ich sagen würde, dass es nicht schön war. Wir hatten nicht viel Zeit bis ich wegmusste und haben uns gleich für den nächsten Tag verabredet. Bei ihm. Dieses Mal wollte er es nicht bei ein paar unschuldigen Küssen lassen und … ich war neugierig. Anfangs hat es sich schön angefühlt und als es das irgendwann nicht mehr tat, wusste ich nicht, wie ich ihn stoppen sollte, ohne seine Gefühle zu verletzen.“ Erik verstummte. Er setzte sich auf und drehte den Kopf zur Tür, weg von Jonas. „Wie gesagt, ich war naiv und verflucht einsam. Ich war bereit, Dinge zu tun, die ich eigentlich nicht wollte, weil ich die Aufmerksamkeit mochte, die er mir geschenkt hat. Dass nur dann nette Worte kamen, wenn ich ihm seine Wünsche erfüllt habe, ist mir erst viel später aufgefallen. Und als er mich ganz offiziell seinen Freunden vorgestellt hat, war ich so unglaublich“, Eriks Finger verschränkten sich ineinander, seine Knöchel traten weiß hervor, „glücklich. Weil er so offen zu uns stand. Meine Eltern hatten mir immer beigebracht, dass Homosexualität normal und in Ordnung ist, aber das bedeutet nicht, dass mir nicht bewusst war, eine Minderheit zu sein. Oder, dass es genug Menschen gibt, die es – uns – mich – ekelhaft finden. Es war einfach schön zu sehen, dass ihm egal war, was andere darüber dachten. Dass er zu mir stand. Mir ist nicht einmal aufgefallen, dass er sich nur mit mir getroffen hat, wenn er gerade Lust darauf hatte. Er hat bestimmt, wann, wo und mit wem wir uns treffen. Was wir tun. Aber selbst, wenn es mir aufgefallen wäre, wäre es mir vermutlich egal gewesen. Ich habe die Zeit mit ihm und diesen vermeintlichen Freunden genossen. Wie streng seine Regeln waren und wie oft ich mich ihm unterworfen habe, aus Angst vor seiner Reaktion, wenn ich es nicht tue … Es hat eine Menge Gespräche mit meiner Therapeutin gebraucht, um das alles rauszuarbeiten und viele Jahre, bis ich mich anderen gegenüber wieder halbwegs öffnen konnte. Gerade auch in körperlicher Hinsicht.“

„Hat dich der Typ …“

„Vergewaltigt?“, sprach Erik aus, was Jonas nicht konnte. Er schüttelte den Kopf. „Nein. Nein, das hat er nicht. Aber er hat mich manipuliert. Bis heute kann ich nicht sagen, ob er sich darüber im Klaren war und mich bewusst als leichtes Opfer ausgesucht hat, oder ob das einfach seine Art ist.“ Ruhelos zerknüllte Erik die M&M-Packung, stoppte erst, als Jonas seine Hand nahm. Er lächelte freudlos. „Es ist übrigens nicht so, dass ich dir das verschweigen wollte. Es ist nur schwierig für mich, darüber zu reden, weil ich mir im Nachhinein so unglaublich dumm vorkomme.“

„Du warst nich‘ dumm“, widersprach Jonas. „Widerliche Ärsche sind oft gut darin, zu verbergen, wie widerlich sie sind. Also, die metaphorischen Ärsche jedenfalls, bei den physischen wird’s schwieriger. Scheiße, ich bin fünf Jahre älter als du damals und noch vor ‘nem Jahr wär ich mit Sicherheit auf genau so ‘nen Typen reingefallen, wenn ich einen getroffen hätte. Aber ich hatte Glück. Ich hab jemanden kennengelernt, der mir gezeigt hat, wie ‘ne gute Beziehung eigentlich laufen sollt, egal, ob sie nur sexuell oder mehr is‘.“

Überrascht musterte Erik Jonas. Mehrfach setzte er zum Sprechen an, brach aber immer wieder ab.

Jonas schwieg, gab ihm die Zeit, die er brauchte.

Es dauerte fast fünf Minuten, bis Erik das nächste Mal den Mund öffnete. „Er hatte das Talent, mir ein schlechtes Gewissen zu machen“, flüsterte er. „Hat meine Gefühle für ihn ausgenutzt, mich gefragt, wieso ich Dieses und Jenes nicht tun wolle, wenn ich gleichzeitig behaupte, dass er mir wichtig sei. Warum ich immer alles kompliziert machen würde, anstatt ihm einfach mal was Gutes zu tun. Und wenn das nicht gereicht hat, um mich spuren zu lassen, hat er mir vorgeworfen, ihn nicht zu lieben und mit anderen zu vögeln.“ Erik verzog das Gesicht. „Das Paradoxe ist, je schlimmer er mich niedergemacht hat, umso mehr habe ich versucht, seine Gunst zu gewinnen. Irgendwann ist mir dann aufgefallen, dass es einfacher wurde, mit ihm umzugehen, wenn ich davor etwas getrunken hatte. Ich war lockerer, eben ein wenig betäubt und ihm schien das zu gefallen. Also trank ich.“

Die Erkenntnis traf Jonas wie ein Schlag. „Trinkst du deshalb nichts mehr? Bist du …? Ich meine …“

„Inzwischen mag ich das Gefühl einfach nicht“, antwortete Erik geduldig. „Aber diese Erfahrungen sind tatsächlich ein Grund, warum ich vorsichtig mit Suchtmitteln umgehe. Damals ist es nicht beim Alkohol geblieben. Der hat mich zwar entspannt, aber ich musste tonnenweise Kaugummi kauen, bevor ich nach Hause konnte, damit niemand etwas bemerkt. Also habe ich nach einer Weile angefangen mit anderen Substanzen zu experimentieren.“

Jonas brauchte ein paar Sekunden, um seine Stimme wiederzufinden. „Was hast du alles … ausprobiert?“

Erik zuckte mit den Schultern. „Das gängige Partyzeugs, hauptsächlich. Letztlich hatte ich Glück im Unglück und die ganze Geschichte ist explodiert, bevor ich mir ein ernsthaftes Drogenproblem eingehandelt hatte. Ein paar Monate länger und ich wäre garantiert mit härteren Sachen in Kontakt gekommen. Dank meines Ex hatte ich die richtigen Kontakte dafür.“

Zum ersten Mal fiel Jonas auf, dass Erik noch nie den Namen seines Exfreunds erwähnt hatte, entschied aber, nicht nachzuhaken. Stattdessen stellte er eine andere Frage: „Wie lange ging das zwischen euch?“

„Ah, lass mich überlegen. Meine Eltern sind im Mai gestorben, dann müssen wir uns so im Juni das erste Mal getroffen haben und vorbei war es Ende September. Also etwa vier Monate.“

„Ziemlich viel Scheiß in ziemlich kurzer Zeit.“

„So könnte man es ausdrücken.“

„Warum habt ihr euch getrennt? Äh, abgesehen von dem Offensichtlichen, mein ich, aber … Ich schätze, so einfach war die Sache nich‘.“

Erik lächelte bitter. „Ich würde dir jetzt gerne erzählen, dass mir klargeworden ist, an was für einen Idioten ich da geraten bin und es beendet habe, aber ganz so ist es nicht gelaufen. Je mehr ich mich auf meinen Ex eingelassen habe, umso mehr Stress gab es mit meiner Tante und meinem Onkel. Ich bin zu spät nach Hause gekommen, habe mich nicht an Verabredungen gehalten, war betrunken oder high. Als die Sommerferien vorbei waren, habe ich angefangen, die Schule zu schwänzen. Anfangs war mein Umfeld nachsichtig, immerhin war ich der Junge mit den toten Eltern, aber irgendwann ist selbst meiner Tante der Geduldsfaden gerissen, zumal mein Cousin sich ständig beschwert hat, dass sie mit zweierlei Maß messen würde. Was ja auch stimmte. Das Dumme war, je mehr Stress ich zuhause hatte, umso mehr habe ich Schutz bei meinem Ex gesucht. Je mehr Zeit ich bei meinem Ex verbracht habe, umso mehr Stress gab es zuhause. Ein Teufelskreis. Eines Abends ist es dann eskaliert. Mein Cousin und ich waren in seinem Zimmer und fingen wegen irgendetwas, ich weiß noch nicht einmal mehr was, einen Streit an, der ziemlich böse hochgekocht ist. Ich schätze, wir waren beide frustriert und haben es aneinander ausgelassen.“ Erik schien zu zögern, den nächsten Teil zu erzählen. „Irgendwann schrie er …“ Wieder ein Zögern. „Sagen wir, er hat mich darauf aufmerksam gemacht, sich nicht wohl damit zu fühlen, sein Zimmer mit jemanden zu teilen, der auf Männer steht.“

Rasch schluckte Jonas den Kommentar, der ihm auf der Zunge lag herunter. Die Geschichte war mehr als zehn Jahre vergangen und so, wie er Erik kannte, hatte dieser seinem Cousin schon lange verziehen. Er wollte lieber kein böses Wort über jemanden verlieren, zu dem Erik inzwischen möglicherweise ein gutes Verhältnis aufgebaut hatte.

„Heute kann ich verstehen, was ihn dazu getrieben hat“, erklärte Erik. „Aber damals … In erster Linie habe ich mich wohl hilflos gefühlt. Mit einem Satz hatte mein Cousin alle meine Ängste bestätigt. Ich wollte einfach nur weg. Also habe ich ein paar meiner Sachen gepackt und bin abgehauen. Ich war fest entschlossen, nie wieder in eine Wohnung zurückzukehren, in der in offensichtlich nicht willkommen war.“ Er holte Luft. „Natürlich hatte ich keinen Gedanken daran verschwendet, wohin ich eigentlich wollte. Also bin ich zu meinem Ex, obwohl der davor oft genug klargemacht hatte, dass er derjenige ist, der sich meldet und ich mich an den Tagen, an denen er keine Zeit für mich hat mit mir selbst beschäftigen sollte. Aber ich dachte … Ich dachte, das wäre eine Ausnahme. Also habe ich einfach sturmgeklingelt, bis er entnervt die Tür aufgerissen hat.“ Wieder machte Erik eine Pause. „Mit einer halbnackten Frau an seiner Seite.“

„Arschloch.“ Dieses Mal konnte Jonas sagen, was er dachte.

„Ich bin nicht stolz darauf, aber ich denke, wenn er es darauf angelegt hätte alles zu leugnen, hätte ich es ihm sogar abgekauft. Oder wenigstens versucht, mir selbst vorzumachen, es zu glauben. Hat er aber nicht. Wir stritten. Er hat mich angeblafft, was ich bei ihm wolle und ich habe ihn gefragt, was die Frau in seiner Wohnung zu suchen hat . Seine Antwort war … nicht übermäßig freundlich.“ Bei Jonas‘ fragendem Blick seufzte Erik. „Im Prinzip hat er mir erklärt, dass es meine eigene Schuld ist, wenn er sich woanders umsieht, weil ich mich im Bett wie ein toter Fisch aufführe.“

„Arschloch“, wiederholte Jonas tonlos, aber es reichte, um Erik ein schwaches Lächeln zu entlocken.

„Danach bin ich stundenlang ziellos durch die Stadt geirrt, bis mich irgendwann die Polizei aufgesammelt und zurück zu meiner Tante gebracht hat.“

„Konntest du nich‘ irgendwo anders hin?“, fragte Jonas, aber Erik schüttelte den Kopf.

„Zu dem Zeitpunkt hatte ich einfach nicht mehr die Kraft für solche Diskussionen. Dieser ganze Vorfall war …“ Er stockte, seine Lippen bewegten sich stumm auf der Suche nach den richtigen Worten. „Damals hat es sich angefühlt, als hätte der Tod meiner Eltern einen tiefen Krater aufgerissen und ich bin so lange wie möglich an seinem Rand entlangbalanciert. Meine Strategie, einen Sturz zu verhindern war nicht besonders gesund und vermutlich habe ich den Krater in Wahrheit einfach noch tiefer gegraben, aber für eine Weile hat sie funktioniert. Der Abend, an dem ich weggelaufen bin war dann allerdings wie ein letzter Stoß. Ich fiel und fiel und kam alleine nicht mehr raus. Im Grunde weißt du schon, wie es danach weiterging.“ Eriks Finger zeichneten die weißen Narben auf seiner goldenen Haut nach. „Ich nehme mal eben meine Kontaktlinsen raus.“ Bevor Jonas etwas erwidern konnte, war Erik im Bad verschwunden. Als er zurückkam, waren sein Gesicht und seine Hände mit Wasser benetzt und seine Augen wirkten gerötet. Bereitwillig sank er in Jonas‘ ausgestreckte Arme. „Das war ganz schön viel auf einmal, hm?“

„‘N bissl“, ab Jonas zu. „Aber es is‘ gut, dass du’s erzählt hast, find ich.“ Tatsächlich glaubte er, Erik jetzt besser verstehen zu können. Seine Art, Grenzen früh zu kommunizieren und jeden Versuch, sie zu übertreten rigoros zu bestrafen. Zum ersten Mal verstand er auch wirklich, woher die Reaktion bei ihrem verpatzten One-Night-Stand gekommen war. Jonas hatte sich ihm so angeboten, wie Erik sich damals seinem Ex-Freund. Ängstlich, im Grunde unwillig, aber in der Hoffnung, es irgendwie zu überstehen und dafür ein wenig Anerkennung und Zuneigung von seinem Gegenüber zu erhalten. Hatte Erik das nicht sogar wortwörtlich gesagt? Dass Jonas ihn in diesem Moment an jemand anderen erinnert hatte? Bisher war ihm nur nicht klar gewesen, dass er dabei von sich selbst gesprochen hatte. Laut sagte Jonas: „Is‘ ja doch ein ziemlich wichtiger Teil deiner Vergangenheit.“

„Glücklicherweise der düsterste. Ab da ging es bergauf. Naja, jedenfalls im Großen und Ganzen. Natürlich war danach nicht plötzlich alles wieder gut, aber wenigstens war ich nach diesem Abend meinen Ex los. Jedenfalls fast.“

„Warum nur fast?“, hakte Jonas nach. „Hat er dir nachgestellt?“ Kein Wunder, dass Erik bei seinem Anblick so empfindlich reagiert hatte.

„Nein, nicht wirklich. Eine Weile dachte ich das, aber …“ Erik zuckte mit den Schultern. „Er hat mich eher indirekt verfolgt.“

„Inwiefern?“

„Ah, dass die Frau, die ich an diesem Abend bei ihm gesehen habe, vermutlich nicht die Einzige war, mit der er mich in unserer Zeit betrogen hat, muss ich, denke ich, kaum extra erwähnen?“

„Ähm, nee. Das würd mich doch wundern.“

„Dann brauche ich jetzt nur noch zu gestehen, dumm genug gewesen zu sein, auf Kondome verzichtet zu haben.“

„Und?“ Der Groschen fiel. „Oh! Du dachtest …“

„Kurz nach unserer Trennung bin ich krank geworden“, erzählte Erik. „Müdigkeit, Kopfschmerzen, Gewichtsverlust, klassische Grippesymptome. Im Nachhinein nicht verwunderlich. Ich war depressiv, habe zu wenig gegessen und mich zuhause eingegraben, aber damals war das für mich nicht so offensichtlich. Als es einfach nicht besser werden wollte, hat meine Tante mich zum Arzt geschleift. Mir wurde Blut abgenommen und … Du kannst dir vielleicht vorstellen, wie verängstigt ich war, wenn ich bereit war, vor Ärztin und Helferin zuzugeben, mich auf HIV testen zu müssen, weil ich wiederholt ungeschützten Sex mit einem Typen hatte, der fröhlich fremdvögelte.“

Jonas dachte daran, wie viel Überwindung es ihn gekostet hatte, einen Test bei seinem Arzt anzusprechen, und das, obwohl sein Risiko mehr als überschaubar gewesen war. „Ich glaub, ich hab ‘ne Ahnung.“

„Zum Glück bin ich nochmal mit dem Schrecken davongekommen, aber die Zeit, bis die Ergebnisse feststanden möchte ich nie wieder durchleben.“

Was wiederum Eriks strikte Kondomregeln erklärte. Nach und nach fügten sich die Puzzleteile zusammen.

„Ich dachte wirklich, ich hätte damit abgeschlossen“, sagte er bitter. „Aber ihn heute zu sehen … Dass dieser Mensch offenbar immer noch solche Macht über mich hat, ist ziemlich unangenehm.“

„Ich glaub, du bist da schon wieder viel zu streng mit dir. Is‘ doch völlig normal, dass einen sowas aufwühlen kann, aber das gibt dem Arsch doch noch lang keine Macht über dich.“ Als Erik nicht antwortete, presste Jonas ihn enger an sich. „Vor ein paar Monaten, als ich bei meinen Eltern und richtig beschissen drauf war, hast du gesagt, ich soll meine Augen schließen und an alles denken, was ich seit meinem Umzug nach Berlin erreicht hab.“ Seine Lippen strichen über Eriks Schläfen. „Und du machst jetzt genau das gleiche. Schließ die Augen und erinnere dich mal daran, was du seit der Trennung von deinem Ex alles geleistet hat.“ Nach einer Weile fragte er: „Und? Ich wette, das is‘ gar nich‘ so übel.“

Erik sah zu Jonas auf. Die schmale Falte zwischen seinen Brauen zeigte sich, aber da war auch der Hauch eines Lächelns. „Mhm, stimmt.“

„Na, siehst du?“ Jonas löste Eriks Haargummi und kämmte mit den Fingern durch die langen Strähnen, bis Eriks Atemzüge gleichmäßig geworden waren und sein Körper schwer halb auf dem Bett und halb auf Jonas lag. Darauf bedacht, Erik nicht zu wecken, streckte er sich zur Seite und löschte das Licht.

 

Kapitel 38

Was zuletzt geschah:

Der erste Tag in Stuttgart bringt Höhen und Tiefen. Erik erfüllt Jonas‘ Wunsch und zeigt ihm ‚seine‘ Stadt, angefangen mit dem Bunten Tässchen und dessen Besitzern, fortgesetzt mit einer Führung zu seinem ehemaligen Elternhaus. Dachte Jonas schon, Erik hätte ihm dort einen Teil seines Ichs offenbart, das er bisher verborgen gehalten hatte, legt der anschließende Abstecher in den Park nochmal eine ordentliche Schippe Emotionen obenauf.

 

Kapitel 38

Entfernter Verkehrslärm und nahes Kindergeschrei drangen durch das geöffnete Fenster, Eriks Haar kitzelte Jonas‘ Nase, der Duft nach Sonne, Holz und frischem Weichspüler umhüllte ihn. Sie hatten sich irgendwann vormittags aus dem Bett gequält, nur, um nach einem reichhaltigen Frühstück sofort wieder in die weichen Kissen zu sinken.

„Wann holt Marco uns ab?“, nuschelte Jonas verschlafen.

„In etwa einer Stunde.“

„Fuck, ich wollt noch duschen.“ Schwerfällig versuchte er, sich aus dem Bett zu rollen, aber Erik hielt ihn zurück, hauchte zarte Küsse auf seinen Nacken.

Jonas lachte. „Womit hab ich denn die viele Aufmerksamkeit heute verdient?“

„Fürs Dasein und Zuhören“, antwortete Erik schlicht. „Ganz besonders für gestern. Ich habe da einiges bei dir abgeladen und du hast einfach nur zugehört. Das tat ziemlich gut.“

Perplex drehte sich Jonas um. Sie hatten die Nacht eng umschlungen verbracht und auch nach dem Aufstehen war Erik ihm kaum von der Seite gewichen, hatte aber bisher eisern über den vergangenen Abend geschwiegen. Daher wählte Jonas seine nächsten Worte mit Bedacht. „Das is‘ doch echt selbstverständlich, oder nich‘? Ich mein, wenn du mir jetzt erzählt hättest, dass du ‘nen illegalen Welpenhändlerring führst, heimlich Speed an altersschwache Omis vertickst, oder Superman cooler als Batman findest, wüsste ich nich‘ wie ich reagiert hätte, aber das tust du ja alles nich‘.“

„Also, eigentlich mag ich Superman lieber als Batman.“ Jonas‘ entsetzter Blick ließ Erik auflachen. „Na gut, nicht wirklich.“

Erleichtert wischte sich Jonas über die Stirn. „Echt, ich glaub, dann hätte ich schlussmachen müssen.“ Er hüpfte aus dem Bett, streckte die Hand nach Erik aus. „Lass uns voll ökologisch Wasser sparen und zusammen duschen!“

 

Marco eilte durch die Hotellobby auf Jonas und Erik zu. „Scusate, ich bin zu spät. Hat ewig gedauert, einen Parkplatz zu finden.“ Beim Anblick der beiden schmunzelte er. „Aber ich glaube, ihr wart ganz froh um die zusätzlichen Minuten.“

Verlegen fuhr sich Jonas durch seine noch feuchten Haare und betete, dass Marco den tomatenroten Schleier, der sich mit Sicherheit gerade über seine Wangen legte nicht bemerkte. Glücklicherweise ritt Marco nicht weiter darauf herum, sondern zog erst Erik und anschließend Jonas in eine herzliche Umarmung.

„Ich bin echt gespannt, was ihr vom Haus haltet“, rief er über die Schulter hinweg, auf dem Weg zu seinem Auto, einem silbernen Minivan mit schlichtem, in Erdtönen gehaltenem Firmenlogo.

Jonas deutete darauf. „Du hast ‘ne eigene Firma?“

„Fünf Jahre schon.“ Und Marco war sichtlich stolz darauf. „Der Anfang war ein wenig holprig, aber inzwischen läuft sie ziemlich stabil. Stabil genug jedenfalls, um einen Bankfuzzi zu überzeugen, uns einen Kredit für ein Haus zu geben. Für eines in der Stadt hat es dann aber doch nicht ganz gereicht, also müssen wir ein Stück fahren.“

Zusammen mit Erik machte es sich Jonas im geräumigen Rückraum des Wagens bequem und war binnen Minuten so in ein Gespräch mit Marco über das Für und Wider eines Gartenteichs versunken, dass die Zeit zwischen ihren Händen zerrann und Marco beinahe an seinem eigenen Haus vorbeigefahren wäre.

Nachdem sie ausgestiegen waren, breitete dieser die Arme aus. „Da wären wir! Ich präsentiere unseren steingewordenen Schuldenberg!“

Harte Kanten, klare Konturen, bodentiefe Fensterfronten. Der Schnitt des Hauses war eindeutig im modernen Stil gehalten, doch Natursteine und Holz, das in der Sonne karmesinrot schimmerte gaben ihm einen klassischen, nahezu ländlichen Anstrich. Jonas konnte es gar nicht erwarten, zu sehen, ob sich dieser Kontrast im Inneren fortsetzte und prompt entfuhr ihm ein, „Oh, wow!“, als Marco die Tür aufgesperrte und seine beiden Gäste eintreten ließ.

„Das ist die Reaktion, auf die ich gehofft hatte!“

Neugierig sah ich Jonas um. Erik hatte mit seiner Vermutung, Marcos Definition von ‚bezugsfertig‘ würde sich von der der meisten Menschen unterscheiden nicht ganz falsch gelegen. Im Eingangsbereich stapelten sich Bretter und ausgehend von dem, was Jonas durch einen steinernen Torbogen am anderen Ende des geräumigen Wohnzimmers erkennen konnte, hatte man mit der Kücheninstallation noch nicht einmal begonnen. Lediglich ein einsamer Kühlschrank summte im Eck, daneben stand ein schlichter Gaskocher.

Dem Wohnbereich mangelte es ebenfalls eindeutig an Möbeln, davon abgesehen schienen die Arbeiten daran jedoch weitestgehend abgeschlossen zu sein. Schlichte Natursteinplatten bedeckten den Boden, ein Kachelofen verlieh dem Raum trotz seines modernen Designs urige Gemütlichkeit.

„Sieht schick aus, was?“

„Total!“ Jonas‘ Finger strichen über das mit feinen Schnitzereien versehene Treppengeländer, das seiner laienhaften Einschätzung nach aus demselben rotstichigen Holz gearbeitet war wie das der Außenwand. „Von dir?“, fragte er Marco.

„Sí! So ziemlich alle Holzarbeiten, die du hier siehst und einen Gutteil der Möbel, die du noch nicht siehst, weil sie noch nicht fertig sind, sind von mir. Wenn es nach mir gegangen wäre, wären es allerdings ein paar Steine weniger geworden.“

„In diesem Fall hättest du alleine in deinem kleinen Puppenhaus leben dürfen.“ Obwohl Jonas ihn erst einmal gehört hatte, war Dragos weicher Akzent unverkennbar. Von den dreien unbemerkt, hatte er sich durch die Terrassentür ins Wohnzimmer geschlichen und lehnte nun entspannt an der Wand.

„Pff“, schnaubte Marco. „Mister Modern hier bevorzugt natürlich Glas und Stein. Und gottbewahre, bloß kein Schnörkel zu viel!“

Taub für die Beschwerden seines Freunds, reichte Drago Erik und Jonas die Hand. „Schön, euch wiederzusehen.“

„Aber grad das macht doch den Charme aus, oder?“, fragte Jonas nach der Begrüßung. „Ich mein, die Art, wie ihr moderne und klassische Komponenten miteinander verschmelzen lasst? Die Kontraste herausarbeitet und sie zu etwas ganz Eigenem verbindet?“ Überrascht japste er auf, als Marco besitzergreifend die Arme um ihn legte.

„Tut mir leid Erik, der gehört jetzt zu uns. Wir werden eine schnuckelige polyamore Künstler-Homo-Kommune gründen.“

Nach einem kurzen Blick auf Erik, der eine Braue hochzog, aber keine Anstalten machte einzugreifen, sagte Jonas: „Dein Angebot ehrt mich und so, aber ich fürchte, es gibt da schon ‘ne Warteliste.“

„Ach, verdammt.“ Marco seufzte enttäuscht, ließ aber nicht von Jonas ab. „Ihr wart schon bei Manni und Hugo, oder?“

„Gestern“, bestätigte Erik.

„Ist schwer, mit den beiden mitzuhalten. Aber!“, rief er und drückte Jonas noch ein wenig fester an sich, „Wie wär’s, wenn ich dir noch die anderen Zimmer zeige? Und meine improvisierte Werkstatt in der Garage? Das kann dich vielleicht überzeugen, doch lieber zu uns zu kommen.“

„Ich weiß ja nich‘, ich weiß ja nich‘.“ Gespielt nachdenklich neigte Jonas den Kopf und hoffte, dass niemand seine glühenden Wangen bemerkte. „Naja, du kannst es ja wenigstens mal versuchen.“

„Ha! Glaub mir, du wirst nie wieder von hier wegwollen!“

„Und ich nehme an, du erwartest, dass ich mich derweil alleine um den Grill kümmere?“ Drago hatte die Hände locker in den Hosentaschen vergraben, aber der Blick, mit dem er seinen Freund musterte sagte etwas anderes. Da wütete ein Sturm hinter seinen blassen Augen.

„Oh, tesorino“, gurrte Marco sichtlich erfreut, als sich Dragos Miene bei diesem Kosenamen noch weiter verdunkelte. „Du kannst das doch sooo gut. Da brauchst du meine Hilfe doch gar nicht.“

Kommentarlos wandte sich Drago ab, aber Jonas glaubte, ihn ‚Du bekommst heute höchstens Grillkohle‘ murmeln zu hören.

„Kommt ihr?“, fragte Marco Jonas und Erik, doch letzterer schüttelte den Kopf.

„Ich denke, ich helfe mal Drago. Ich habe ja doch keinen Blick für Architektur. Da warte ich lieber, bis ihr alles fertig eingerichtet habt.“

„Pff, Banausen.“ Marco widmete seine Aufmerksamkeit wieder Jonas. „Du musst dich meiner kleinen Privatführung natürlich nicht anschließen, wenn du lieber zu deinem Liebsten willst.“

„Wenn du mich weiter so umklammert hältst, muss ich ja doch.“ Zur Betonung klopfte Jonas auf Marcos Finger, die sich noch immer in seine Schultern gruben.

„Ups, sorry.“ Rasch trat Marco einen Schritt zurück. „So, jetzt hast du freie Wahl!“

„Dann auf auf. Ich bin echt scheißneugierig auf den Rest.“

Fasziniert ließ sich Jonas durchs Haus führen. Es war nicht besonders groß, für zwei Personen jedoch völlig ausreichend. Als er in der Mitte des als Gästezimmer geplanten, derzeit allerdings noch leeren Raums stand, erinnerte er sich an sein Gespräch mit Erik vom Vortag. „Habt ihr eigentlich mal über Kinder nachgedacht?“

Marco blinzelte, offenbar überrascht von der spontanen Frage.

„Ähm, sorry, ich weiß, dass das irgendwie persönlich is‘ …“

„Passt schon.“ Marco winkte ab. „Ich bin nicht gerade der verschlossene Typ. Übrigens, scusa, falls ich dir vorhin zu nahe gekommen bin. Ich denke manchmal nicht drüber nach, dass nicht jeder ein Fan von Körperkontakt ist. Schieb mich also ruhig weg, wenn du dich nicht wohl fühlst.“

„Oh. Ähm, nee, das is‘ echt kein Ding“, versicherte Jonas. „Ich bin eigentlich auch so. Is‘ nur ungewohnt, Männern so nah zu kommen, nachdem ich mich jahrelang drum bemüht hab, bloß keinen Verdacht aufkommen zu lassen, dass mir das gefallen könnt. Äh, nich‘, dass ich das jetzt irgendwie sexuell anregend fand!“, fügte er hastig hinzu. Moment, war es unhöflich, das so zu formulieren? Oder komisch, überhaupt daran zu denken? „Äh, ich meinte … Also … Ähm … Ach fuck, du weißt hoffentlich was ich mein!“

Marco lachte schallend. „Jetzt zerstör meine Hoffnungen doch nicht gleich wieder! Nein, natürlich weiß ich was du meinst. Ich wollte nur sichergehen, dass du dich wegen mir nicht unwohl fühlst. Obwohl ich stark vermute, dass Erik sich dann heldenhaft zwischen uns geworfen hätte. Er soll bloß nicht glauben, dass mir sein wachsamer Blick nicht aufgefallen wäre.“

Jonas lachte ebenfalls, realisierte gleich darauf jedoch, dass Marco gerade geschickt von seiner ursprünglichen Frage abgelenkt hatte.

„Wir haben darüber nachgedacht. Über Kinder, meine ich“, sagte Marco unvermittelt, als hätte er Jonas‘ Gedanken gelesen. „Aber ich kann nicht behaupten, dass wir zu einer Entscheidung gekommen wären.“ Seufzend lehnte er sich gegen den Türrahmen und verschränkte die Arme vor der Brust. Er ließ den Blick durch das Zimmer schweifen und Jonas glaubte, eine gewisse Sehnsucht in seinem Blick zu erkennen. „Ich mag Kinder und könnte mir schon vorstellen, eigene zu haben. Drago zieht aber so gar nicht in diese Richtung und, ehrlich gesagt, im Moment haben wir auch überhaupt keine Kapazitäten dafür. Wir arbeiten beide viel, dazu das Haus … Also werde ich mich vorerst mit meinen Ehrenämtern im Jugendtreff und als Aushilfstrainer für die Kids im Boxverein zufriedengeben. Irgendwann in der Zukunft würde ich aber trotzdem gerne ein Pflegekind aufnehmen. Vorausgesetzt natürlich, Drago kann sich bis dahin für die Idee erwärmen und das ist … Nun ja, mal sehen, was die Zukunft bringt.“ Marco lächelte schief. „Das war jetzt eine ziemlich unbefriedigende Antwort für dich, was?“

„Nee, eigentlich war sie ziemlich gut. Muss nur drüber nachdenken“, erwiderte Jonas wahrheitsgemäß. „Bisher hab ich mich nich‘ wirklich mit dem Thema auseinandergesetzt.“

Marco lachte. „Ich hatte vergessen, dass du noch so ein Küken bist. Was für mich schon ganz konkret ist, ist für dich vermutlich noch sehr weit weg.“

„Irgendwie schon“, gab Jonas zu. „Aber für Erik isses näher.“

Mit einem Schlag verschwand der Schalk aus Marcos Zügen. „Da hast du wohl recht“, sagte er sanft. „Das ist aber etwas, worüber er sich mehr Gedanken machen sollte als du.“

„Kann sein.“ Jonas musste sich eingestehen, dass ihn die Wendung, die ihr Gespräch genommen hatte verunsicherte. Gleich bei ihrem zweiten Aufeinandertreffen in so tiefe Gewässer zu waten kam etwas überraschend.

Marco nickte in Richtung Tür. „Schließen wir uns den anderen an? Wenn ich Drago noch länger allein am Grill stehen lasse, serviert er mir am Ende bestimmt ein Stück Kohle.“

 

Sommerhitze lag über dem Garten, der Geruch nach Gegrilltem umwehte Jonas‘ Nase und erinnerte ihn daran, dass das Frühstück doch schon eine Weile zurücklag. Erik und Drago standen vor einem schlichten Holzkohlegrill, zu sehr in ihr Gespräch vertieft, um die Ankunft beiden anderen zu bemerken.  

Das änderte sich, als sich Marco von hinten anschlich und Drago einen Klaps auf den Hintern verpasste. Für Jonas‘ Augen hatte es nicht nach einem harten Schlag ausgesehen, doch Drago machte einen Satz in die Luft, wirbelte herum und bedachte Marco mit einem Blick, der Jonas schleunigst den Rückzug hätte antreten lassen. Marco war da offensichtlich dickfelliger, hatte nur ein amüsiertes Lächeln für die Reaktion seines Freundes übrig und drückte ihm einen Kuss auf die Lippen. Da sich Drago weigerte, ihm entgegenzukommen, musste er sich dafür auf die Zehenspitzen stellen.

„Wie sieht’s aus?“, erkundigte er sich.

„Wenn du dich dazu herablässt, den Tisch zu decken, können wir essen“, antwortete Drago kühl.

„Ich helfe dir“, bot Jonas an, doch bevor er einen Schritt auf das Haus zumachen konnte, schlangen sich zwei Arme um seine Taille und warmer Atem strich über sein Ohr. „Du bleibst bei mir“, raunte Erik. „Ihr wart lange genug weg.“

„Ihr könntet mir auch einfach beide helfen“, rief Marco ihnen von der Tür aus zu.

„Oder du behandelst sie wie die Gäste, die sie sind und stellst endlich die Gartenstühle raus!“, gab Drago zurück.

Jonas unterdrückte die Erinnerung an einen seiner ehemaligen Lehrer, bei dem nicht einmal die aufmüpfigsten Schüler – und er rechnete sich selbst zu dieser Gruppe – den Wagemut gefunden hatten zu widersprechen. Gleichermaßen ergeben verschwand nun auch Marco im Haus, um kurz darauf mit vier übereinandergestapelten Liegestühlen zurückzukehren. Sobald diese platziert waren holte er einen mit Tellern, Besteck sowie Servietten gefüllten Karton und machte sich daran, den Biertisch, der bereits im Garten aufgestellt war zu decken.

Erik und Jonas konnten es sich nicht verkneifen, ihn von ihren bequemen Stühlen aus anzufeuern. Die zu Fluggeschossen umfunktionierten Küchenutensilien, denen sie nur mit Mühe und Not auswichen, überzeugten sie jedoch rasch davon, ihre Aufmerksamkeit auf andere Dinge zu richten.

Drago hatte ihnen wieder den Rücken zugewandt und kümmerte sich um das Grillgut. Abwesend hob er sein Shirt an, um sich mit dem Stoff Luft zuzufächeln und enthüllte dabei den definiertesten Körper, den Jonas außerhalb von Filmen und einschlägigen Publikationen je gesehen hatte. Möglichst unauffällig ließ er seinen Blick über Schultern, Rücken und Taille wandern.

Am Hosenbund angekommen stockte er. Blinzelte. Blinzelte erneut, aber das Bild blieb unverändert. Über Dragos Hose blitzten rote Striemen hervor, gleichmäßig über seine sonst so blasse Haut verteilt. Sie sahen beinahe aus wie … Hitze wallte in Jonas auf und er konzentrierte sich eilig auf seine in seinem Schoß gefalteten Hände, schaffte es aber nicht, sich auf andere Gedanken zu bringen. Jetzt würde er doch lieber an seinen Lehrer erinnert werden und nicht an einen der letzten Pornos, die er sich kurz vor der Abfahrt zu Gemüte geführt hatte.

Sichtlich belustigt musterte Erik sein gerötetes Gesicht. „Geht’s dir gut?“

„Ähm … ähm …“, stammelte Jonas.

Dragos Stimme rettete ihn. „Der erste Schwung ist fertig. Reicht mir mal jemand die Servierplatte?“

Jonas sprang auf, schnappte sich die Edelstahlplatte, die Marco zuvor auf dem Tisch abgestellt hatte und stiefelte damit zu Drago, in der Hoffnung, dieser würde die Schweißperlen auf seiner Stirn und die Rötung seiner Wangen auf die Hitze schieben. Falls dem nicht so war, ließ er es sich jedenfalls nichts anmerken. Stück für Stück lud er verschieden marinierte Fleischstücke, in Zucchinischeiben eingewickelten Grillkäse, gefüllte Champignons und mit Alufolie umhüllte Schafskäse-Tomaten-Basilikum-Päckchen auf das Tablett, bis der letzte Millimeter bedeckt war.

Erik und Marco hatten die Zeit genutzt, die Liegestühle um den Tisch zu verteilen, eine Kühlkiste mit Getränken anzuschleppen und frisches Brot sowie Salate bereitzustellen. Lachend rangelten sie um den großen Sonnenschirm, dessen Schatten die Sonne bändigen sollte, aber nicht ausreichte, um alle Plätze abzudecken.

„Ich bin älter als du! Meine Haut braucht mehr Schutz!“, argumentierte Marco.

„Dafür hast du einen von Natur aus dunkleren Teint. Ich bin schon allein rein genetisch gefährdeter.“ Vage deutete Erik auf seine Sommersprossen, die sich wie angekündigt von seinen Schultern ausgebreitet hatten und jetzt auch Oberarme, Nasenrücken und Wangenknochen sprenkelten. Er selbst war davon nicht übermäßig begeistert, doch Jonas wurde nicht müde, ihm zu sagen, wie niedlich er damit aussah. Möglicherweise war das einer der Gründe für Eriks mangelnde Begeisterung.

„Ich habe noch einen zweiten Schirm besorgt.“

Verdutzt sah Marco zu Drago. „Wann?“

„Gestern. Nachdem du meinen diesbezüglichen Vorschlag mit einem ‚Ja, klar, machen wir‘ abgetan hattest.“

In seiner Überraschung ließ Marco lange genug locker, damit Erik ihm den Schirm aus der Hand winden und triumphierend an seiner und Jonas‘ Seite des Tisches platzieren konnte.

Jonas lehnte sich zu ihm und küsste seine Wange. „Mein Held.“

Nach ein wenig weiterem Hin und Her und ein paar Diskussionen zwischen Marco und Drago, saßen sie endlich um den Tisch verteilt – dank zweier Schirme im erträglichen Schatten – und leerten ihre Teller.

„Euch ist schon klar, dass ihr doppelt so viele Leute hättet einladen können und es immer noch zu viel gewesen wäre?“ Erik gestikulierte zu den Bergen an Lebensmitteln. Die Salatschüssel war halbvoll, der Nudelsalat kaum angetastet und der Boden des Brotkorbs nicht einmal zu erahnen.

„Solange wir keine Küche haben, sind alle Reste, die man sich schnell aus dem Kühlschrank holen kann willkommen“, erwiderte Drago.

Marco schnaubte. „Damit will er sagen, dass er sich freut, die Kochpausen auch noch streichen und stattdessen durcharbeiten zu können.“

„Ich kenne jemanden, der sehr froh sein wird, im Winter eine funktionierende Heizung im Haus zu haben.“

„Pff.“ Unbeeindruckt lehnte sich Marco in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Hände hinter seinem Kopf. „Die ist doch schon lange installiert“

„Jonas, erinnere ich mich richtig, dass du Kunst studierst?“ Offenbar hatte Drago entschieden, seinen Freund vorerst zu ignorieren.

„Oh, ähm, nich‘ ganz“, antwortete Jonas. „Der Studiengang nennt sich Visuelle Kommunikation.“

„Klingt interessant.“ Überraschenderweise schien Drago das ernst zu meinen. Seine blassen Augen waren fest auf Jonas gerichtet, aber weit weniger einschüchternd als er sie zu anderen Gelegenheiten empfunden hatte. „Wie bist du darauf gekommen?“

„Äh, naja. Irgendwie war’s ‘n bissl ‘ne Verlegenheitswahl. Ich hatte mich für ‘n paar andere Studiengänge beworben, hauptsächlich Fotografie, wurd aber nich‘ genommen. Berlin war meine einzige Zusage. Fand ich erst schade, aber inzwischen bin ich ganz froh. Ich mag die Stadt und das Studium is‘ echt vielseitig.“

„Weißt du schon, in welche Richtung es danach gehen soll?“, fragte Marco, der sich nach einem kurzen Moment des Schmollens wieder gefangen hatte.

„Nee, noch nich‘ wirklich.“ Es war eine nette Abwechslung, auf echtes Interesse zu stoßen und nicht nur gefragt zu werden, ob er schon seinen Taxischein gemacht hatte. „Eigentlich hatte ich immer gehofft, als Fotograf fußfassen zu können, hatte aber keine Ahnung, wie das konkret aussehen sollte. Inzwischen denk ich aber, dass ich auch nich‘ traurig bin, wenn das nich‘ klappt und bloß ein Hobby bleibt. Für einen Kurs war ich dieses Semester in einigen Galerien, einmal auch auf einer Vernissage und ich fand’s total faszinierend, wie die Künstler präsentiert wurden. Irgendwie fänd ich’s spannend, talentierten Leuten eine anständige Plattform bieten und sie ins richtige Licht rücken zu können.“ Er lächelte verlegen. „Aber das sin‘ halt so Sachen, die man nach nich‘ mal ‘nem Jahr Studium so labert. Am Ende kommt ja doch alles ganz anders.“

Marco schielte zu Drago. „Erinnerst du dich noch an die Panik, die du im letzten Semester geschoben hast?“

„Nein“, erwiderte Drago kühl.

„‚Oh, Marco‘“, äffte dieser seinen Freund nach. „‚Was, wenn sie mich nicht gut genug finden? Ich werde nie einen Job bekommen! Was soll ich nur mit meinem Leben anfangen?‘

„Ich weiß nicht, wovon du redest.“ Drago wirkte alles andere als begeistert, so bloßgestellt zu werden, weshalb Jonas Marco abkaufte, dass die Geschichte so oder so ähnlich gelaufen war. „Zudem hatte ich zu diesem Zeitpunkt schon einen Job“

„Den du gehasst hast“, kommentierte Marco ungerührt.

Drago rollte mit den Augen, konnte sich aber nur schwer ein Lächeln verkneifen. „Stimmt.“

„Was machst du jetzt?“, fragte Jonas.

„Ich habe ein paar Jahre als angestellter Architekt gearbeitet, aber wie Marco gerade so nett breitgetreten hat, war ich damit nicht wirklich glücklich. Vor etwa drei Jahren habe ich mich dann mit einer ehemaligen Kommilitonin zusammengeschlossen und ein eigenes Architekturbüro gegründet. Sie hat noch zwei Freunde aus anderen Fachrichtungen dazu geholt und ich“, er schielte zu Marco, „konnte auch ein paar nützliche Kontakte beisteuern.“

„Weil du in Wahrheit nie genug von mir bekommst.“ Marco schenkte ihm einen verführerischen Augenaufschlag. „Auch, wenn du es nicht zugibst.“

„Tue ich nicht?“ Etwas an Dragos Ton sagte Jonas, dass unter der humorvollen Leichtigkeit alter Streit schwelte. „Dann hätte ich ja wohl kaum–“ Er verstummte, die Lippen zu einem schmalen Strich gepresst.

„Ha! Erwischt!“ Triumphierend deutete Marco auf seinen Freund. „Hatte ich nicht gesagt, dass du derjenige sein wirst, der sich verplappert?“ Nun hatte Jonas endgültig keine Ahnung mehr, was vor sich ging, aber er entschied, Marcos Grinsen als gutes Zeichen zu werten.

„Macht es euch etwas aus, uns einzuweihen?“ Erik zog eine Braue hoch und nicht zum ersten Mal bemerkte Jonas gewisse Parallelen zu Drago. Beide verstanden es ausgezeichnet, sich mit einer Aura kühler Unantastbarkeit zu umhüllen.

Drago wechselte einen Blick mit Marco, woraufhin letzterer mit den Schultern zuckte. „Schätze, es ist Zeit, die Katze aus dem Sack zu lassen.“ Nach einem knappen Nicken von Drago, fuhr er fort: „Nachdem sich unsere Regierung nach dreißig Jahren Debatte dazu durchringen konnte, anzuerkennen, dass Homosexuelle auch sowas wie Menschen sind und eventuell ebenfalls heiraten dürfen sollten …“ Er holte Luft. „Werden wir genau das tun!“

Dass vier Leute – von denen zwei eher stille Typen waren – in ihrem Versuch, sich zu umarmen und Glückwünsche auszusprechen so einen Krach machen konnten, beeindruckte Jonas nachhaltig. Als wieder etwas Ruhe eingekehrt war, wandte sich Marco an ihn und Erik. „Wir haben noch keinen genauen Termin, aber wenn wir es irgendwie hinbekommen, wollen wir noch dieses Jahr heiraten. Im späten Herbst, idealerweise, auch wenn wir dafür vermutlich vor dem Standesamt campieren müssen, weil wir sicher nicht die Einzigen sind, die auf diese Idee kommen. Aber wir hoffen mal, dass es klappt. Denkt ihr, ihr schafft es, dieses Jahr nochmal nach Stuttgart zu kommen?“

„Natürlich!“, versprach Erik sofort. „Ah, also ich habe jedenfalls Zeit.“

Erwartungsvoll blickten beide zu Jonas, der sich beeilte, ein ‚Ich auch‘, zusammenzustammeln. „Und, ähm, vielen Dank für die Einladung.“ So ganz konnte er noch immer nicht glauben, wie herzlich er von Eriks Freunden und insbesondere von Marco aufgenommen worden war. Egal, ob Manni und Hugo, oder Marco und Drago, sie alle gaben ihm das Gefühl, er selbst sein zu dürfen. Oder einen Teil seiner Maske aufzubehalten, wenn er sich damit wohler fühlte.

„Wir freuen uns, wenn ihr kommt.“ Für einen kurzen Augenblick bröckelte Dragos eiserne Selbstbeherrschung und er lehnte sich mit einem zarten Lächeln gegen seinen Verlobten.

„Damit dürfte auch geklärt sein, was das Geheimnis war, das Hugo uns fast vorab verraten hätte“, sagte Erik.

Marco schüttelte den Kopf. „Meine Güte, wenn ich geahnt hätte, dass die beiden nichts für sich behalten können, hätten wir es ihnen nicht als Erste erzählt.“

Er und Erik lachten, Jonas konnte ich dagegen gerade noch die Frage verkneifen, ob nicht traditionell zuerst die Eltern von einer Heirat erfuhren. Zu lebhaft erinnerte er sich an sein Gespräch mit Marco, in dem er erfahren hatte, dass dieser nach seinem Comingout vor die Tür gesetzt worden war. Dennoch hätte er gerne gewusst, ob Marcos Eltern überhaupt von der Hochzeit wussten, aber von sich aus würde er dieses Thema ganz sicher nicht auf den Tisch bringen. Stattdessen verfolgte er stumm die Aufzählung der bisherigen Gästeliste.

„Giulia hat auch schon fest versprochen zu kommen“, sagte Marco und zeigte dabei ein Strahlen, das Jonas rätseln ließ, um wen es sich wohl handelte.

„Giulia ist Marcos Schwester.“ Wie so oft bewies Erik mit dieser geflüsterten Erklärung seine feinen Antennen für Dinge, die Jonas beschäftigten.

„Ob Giovanni und die Kleinen mitfahren, wissen wir noch nicht“, fuhr Marco fort. „Ist ja doch ein ordentliches Stück von der Toskana hierher. Aber zumindest Giulia wird ganz sicher da sein.“

Irgendwann wandte sich die Diskussion wieder anderen Themen zu und am Ende schaffte Marco es, Erik zu überzeugen, doch noch eine kleine Hausführung mitzumachen, woraufhin Jonas allein mit Drago zurückblieb. Unruhig trommelte er mit den Fingern auf den Tisch. Während Marco laut und offenherzig war, war Drago still und reserviert. Er hatte sich Jonas gegenüber immer freundlich verhalten, aber Jonas hatte nicht die geringste Ahnung, was er wirklich über ihn dachte. „Ähm, habt ihr euch schon überlegt, was ihr mit dem Garten machen wollt?“, fragte er schüchtern.

Drago lehnte sich zurück und ließ seinen Blick über den schlammigen, vom Hausbau aufgewühlten Boden schweifen. „Dieses Jahr vermutlich noch gar nichts“, antwortete er schließlich. „Erstmal ist das Haus dran und ich bezweifle, dass wir rechtzeitig fertig werden, um uns vor Wintereinbruch noch mit dem Garten auseinanderzusetzen.“

„Marco meinte, ihr wollt vielleicht einen Teich anlegen.“

Marco würde gerne einen Teich anlegen.“ Verschlagen lächelnd fügte Drago hinzu: „Vielleicht lasse ich ihn.“

„Kommst du eigentlich aus Stuttgart?“ Ausgehend von Dragos Akzent war er wahrscheinlich nicht in Deutschland geboren, aber die Frage ‚Woher kommst du eigentlich?‘ klang schrecklich unhöflich in Jonas‘ Ohren.

„Nein.“ Nach ein paar Sekunden erbarmte sich Drago und führte seine knappe Antwort ein wenig weiter aus. „Meine Familie hat deutsche Vorfahren und ein Onkel von mir lebt seit dreißig Jahren hier, aber ich bin im Kosovo geboren. Serbische Seite. Als die Unruhen immer schlimmer wurden und nicht mehr auszuschließen war, dass ein Krieg auch uns betreffen würde, ist meine Mutter mit uns hierher geflohen.“

Kurz fragte sich Jonas, ob Dragos Vater sie begleitet hatte, aber er fürchtete, die Antwort bereits zu kennen. „Und anschließend seid ihr hiergeblieben?“

„Nur bis Kriegsende, danach mussten wir wieder zurück. Aber ich habe den Kontakt zu meinem Onkel und einem ehemaligen Mitschüler aufrechterhalten. Das hat meinen Deutschkenntnissen ganz gut getan und dank des Gelds, das mein Onkel regelmäßig an uns geschickt hat, hatte ich die Möglichkeit, einen höheren Schulabschluss zu erreichen.“ Er starrte auf einen Punkt am anderen Ende des Gartens. „Als ältester Sohn einer großen Familie ohne Vater war das ziemlicher Luxus. Normalerweise hätte ich mir wohl einen Job suchen müssen, sobald meine Schulpflicht erfüllt war, stattdessen habe ich mein Abitur gemacht und einen Studienplatz in Deutschland ergattert. Der formale Aufwand war nicht ohne, aber dafür verdiene ich hier genug, um meiner Familie finanziell unter die Arme zu greifen.“

Jonas bezweifelte, Drago zuvor schonmal so lange am Stück reden gehört zu haben. „Aber vom Rest deiner Familie ist niemand hierhergezogen?“, hakte er nach.

„Nein.“

„Vermisst du sie?“ Dragos Mundwinkel zuckten nach unten und Jonas fürchtete, mit beeindruckender Präzision ins Fettnäpfchen getreten zu sein. Trotzdem hörte er sich sagen: „Ich mein, ich bin ja bloß von Bayern nach Berlin gezogen, aber das fand ich schon scheißschwer, dabei könnt ich innerhalb eines Tages bei ihnen sein. Manchmal isses einfach, als würden wir in verschiedenen Welten leben.“

„Das Gefühl kenne ich.“

„Kommen sie zur Hochzeit?“

„Sie wissen nicht, dass ich heirate.“

„Oh. Ähm …“ Jonas hatte nicht die geringste Ahnung, was er darauf erwidern sollte.

„Meine Familie weiß nicht einmal, dass Marco existiert“, fuhr Drago fort. Sein Tonfall hatte eine bittere Note angenommen. „Ich hatte nie geplant, meine sexuelle Neigung öffentlich zu machen. Noch weniger, eine Beziehung einzugehen, geschweige denn zu heiraten.“ Ein freudloses Lächeln huschte über seine Lippen und war schnell verschwunden. „Mein Aufenthalt in Deutschland ist deutlich anders gelaufen, als ich vor dreizehn Jahren geplant hatte.“

„Und du hast nich‘ vor, es ihnen doch noch zu erzählen?“ Jonas versuchte, sich vorsichtig an das Thema heranzutasten. Drago war der Erste, mit dem er sprach, der sich bewusst entschieden hatte, seine Homosexualität vor seiner Familie zu verheimlichen.

„Nein“, antwortete Drago. „Sie würden es nicht verstehen. Meine Mutter ist streng gläubig und die damit verbundenen Überzeugungen sind wichtig für sie. Ich weiß, dass sie trotzdem versuchen würde, mich zu lieben, aber das ist ein Gewissenkonflikt, den ich ihr nicht antun möchte.“  

„Hast du keine Angst, es irgendwann zu bereuen?“ Diese Frage stellte Jonas sich, wann immer ein weiterer Tag vorüberzogen war, an dem er Stillschweigen bewahrt hatte. Die Vorstellung, seine Familie könnte mit ihm brechen war unerträglich, doch sie weiterhin anzulügen wurde ebenfalls zunehmend zur Belastung.

„Ich bereue es.“ Dragos Stimme war fest, sein Blick durchdringend. „Ich bereue es, wenn meine Mutter mich fragt, ob es mir gut geht und ich ihr nicht erzählen kann, weshalb. Ich bereue es, wenn ich ihr ins Gesicht lügen muss, um mich nicht zu verraten. Ich bereue es, wenn Marco zu überspielen versucht, wie sehr es ihn verletzt, von mir verleugnet zu werden. Ich hatte die Wahl zwischen zwei Übeln und habe mich für eines davon entschieden, weil ich musste. Das macht es nicht zu einer guten Entscheidung.“ Seine Züge wurden weicher. „Ich sage das deshalb so deutlich, weil das kein Weg ist, den ich anderen empfehlen würde. Es ist lediglich der geringfügig Erträglichere für mich.“ Deutlich leiser merkte er an: „Und es ist der, den ich notfalls ändern kann. Ich habe noch immer die Option, es doch zu erzählen, aber wenn es einmal raus ist, kann ich es nicht zurücknehmen.“

Dragos Worte hallten in Jonas‘ Kopf nach. Eine Weile verfolgten sie schweigend das Flattern eines Zitronenfalters, der sich in den Garten verirrt hatte. „Was ist mit deinem Onkel?“, fragte Jonas schließlich. „Wenn ich das richtig verstanden habe, lebt er doch hier in der Stadt, oder?“

„Ja.“ Dragos Lippen wurden schmal. „Er weiß es. Nicht direkt von mir, aber … er weiß es. Wir haben seither keinen Kontakt.“

Jonas hätte gerne weiter nachgefragt, aber etwas in Dragos Mimik sagte ihm, dass er kurz davorstand, eine sorgsam gehütete Grenze zu überschreiten.

„IHR WOHNT ZUSAMMEN?“, schallte Marcos schockierte Stimme bis in den Garten und ließ die beiden Männer auf ihren Stühlen zusammenzucken.

Drago musterte Jonas und mit jeder verstreichenden Sekunde, wandelte sich sein Missmut in Belustigung. „Ist das so?“

Jonas spürte das Blut in seine Wangen schießen. „Ähm, jaah. Hat sich so ergeben.“

„DRAGO!“ Marco platzte in den Garten, deutete zwischen Jonas und einem nachsichtig lächelnden Erik hin und her. „Die sind zusammengezogen! Und erzählen das mal so nebenbei! Als wär’s nicht wichtig!“

„Weiß ich“, erwiderte Drago.

„Du wusstest das?“

„Marco, dank dir weiß es die ganze Nachbarschaft“, warf Erik ein.

„Gut! Das wird auch Zeit. Ich könnt sowas doch nicht monatelang verheimlichen!“ Marco machte Anstalten sich wieder an seinen Platz setzen, blieb jedoch abrupt neben Drago stehen. Mit gerunzelter Stirn beugte er sich zu ihm herunter und flüsterte etwas in sein Ohr, das dieser mit einem knappen Kopfschütteln beantwortete.

Marcos Erwiderung war zu leise, als dass Jonas sie hätte verstehen können, aber die Eisschicht, mit der sich Drago umgab schmolz dahin. Mit geschlossenen Augen schmiegte er sich gegen Marco und zum ersten Mal hatte Jonas eine Vorstellung, wie die Beziehung der beiden jenseits neugieriger Augen aussah. Wie hart es für Drago sein musste, seine Liebe zu Marco vor seiner Familie zu verschweigen. Drago hatte recht. Das war kein Weg, den Jonas gehen wollte.

 

Die Schatten wurden länger und der Wind kühler, aber die Stimmung war so ausgelassen, dass bereits der neue Tag angebrochen war, als Jonas und Erik endlich die Tür ihres Hotelzimmers hinter sich zuzogen. Jonas schwankte zwischen Erschöpfung und Ruhelosigkeit und konnte sich nicht vorstellen, jetzt schon ins Bett zu fallen. Zu viele Gedanken spukten durch seinen Kopf. „Gehen wir noch spazieren?“

Erik zog eine Augenbraue hoch. „Wir waren den ganzen Tag an der frischen Luft und kaum sind wir mal im Warmen, willst du gleich wieder raus?“

„Äh, ja. Bitte?“

Erik hatte erwartungsgemäß schnell nachgegeben und nur wenige Minuten später schlenderten sie durch die verlassenen Straßen Stuttgarts. Die Bewegung tat gut, half Jonas aber nicht, die vielen Eindrücke, die er gesammelt hatte, zu sortieren.

„Ist alles in Ordnung?“, erkundigte sich Erik, nachdem sie eine Weile schweigend nebeneinanderher gelaufen waren. „Du bist so still.“

„Jaah. Ja, alles okay. Muss nur über ein paar Dinge nachdenken.“

„Erzählst du mir, über welche?“

„Ähm …“ Jonas zögerte, dachte an Erik und Marco, die miteinander gelacht und rumgeblödelt hatten. Das war eine Seite, die er eher selten an Erik zu sehen bekam und bisher hatte es in seinem Beisein niemand außer ihm selbst geschafft, sie auf diese Weise hervorzulocken. „Warum … Warum haben du und Marco euch getrennt? Ich mein, es is‘ offensichtlich, dass ihr euch mögt und ich … Ich …“ Hilflos zuckte er mit den Schultern. „Warum?“

„Ah, eine etwas einfachere Frage zum Einstieg ist dir nicht eingefallen?“, fragte Erik belustigt, wurde gleich darauf jedoch hellhörig. „Haben wir dich ausgeschlossen?“

„Nee, nee. Darum geht’s nich‘. Es is‘ nur …“ Jonas suchte nach den richtigen Worten. Er wollte Erik keine Vorwürfe machen, aber da nagte etwas an ihm, das er selbst nicht wirklich verstand und von dem er nicht wusste, wie er es artikulieren sollte. „Ich hab noch nie ‘ne Beziehung beendet und kann ich mir einfach nich‘ vorstellen, wie Etwas, das in einem Moment noch wundervoll war, im nächsten in Scherben liegen kann.“

Aufmerksam musterte Erik Jonas, schien nach einem Hinweis darauf zu suchen, dass er etwas verbarg. Schließlich seufzte er. „Unsere Beziehung war nie einfach. Was, wenn ich ehrlich bin, zu großen Teilen an mir lag. Wir haben uns etwa zwei Jahre nachdem ich meine Therapie angefangen hatte kennengelernt und auch, wenn ich bis dahin einige Fortschritte gemacht hatte, war ich weit davon entfernt, stabil zu sein. Das hat gerade in der Anfangszeit ziemlich an uns beiden gezehrt. Und später … Ich weiß, dass das abgedroschen klingt, aber letztlich waren wir einfach zu verschieden. Vieles waren Kleinigkeiten, über die man bei einer Freundschaft problemlos hinwegsehen kann, die aber wichtig werden, wenn man zusammenlebt. Eine gemeinsame Zukunft plant.“

„Also hat es sich eher über eine längere Zeit hinweg angekündigt?“

Erik antwortete nicht gleich, spielte gedankenverloren mit dem Knopf seines Hemdärmels. „Im Nachhinein betrachtet schon. Ich glaube, am Ende waren wir beide nicht mehr glücklich miteinander, aber damals wollte ich das nicht sehen. Ich hatte zu viel Angst davor, wieder allein zu sein. Irgendwann hat es endlich Klick gemacht und danach konnten wir neu anfangen und die Freundschaft aufbauen, die wir heute haben.“

„Und für Drago war das in Ordnung?“

Misstrauen flackerte über Eriks Züge. „Geht es dir wirklich um Drago, oder versuchst du mir durch die Blume zu sagen, dass du dich unwohl fühlst?“

„Nein!“, protestierte Jonas sofort und spürte selbst, wie unglaubwürdig er damit klang. Er zwang sich ruhiger zu sprechen. „Das ist es nich‘. Nich‘ wirklich, jedenfalls. Ich versuch nur … Ich weiß auch nich‘. Da gibt’s einfach ‘n paar Sachen, über die ich bisher noch nich‘ wirklich nachgedacht hab und die jetzt alle plötzlich irgendwie wichtig zu sein scheinen.“ Nach einem Kontrollblick, ob sie die Straße für sich hatten, küsste er Eriks Wange. „Ich glaub nich‘, dass du planst, mich mit Marco zu bescheißen, falls du das denkst. Ihr hättet echt genug Zeit gehabt, nochmal was miteinander anzufangen. Ich dachte bloß grad, dass das damals, als Marco und Drago frisch zusammengekommen sind noch anders gewesen sein muss. Das hätte mich dann an Dragos Stelle wahrscheinlich doch irgendwie nervös gemacht.“

„Mich auch“, gab Erik zu. „Ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht, wie Drago zu Marcos Freundschaft mit mir steht. Er ist nicht gerade der Typ, der seine Gefühle an die große Glocke hängt.“

Jonas lachte. „Das is‘ allerdings echt wahr!“ Gerade deshalb rechnete Jonas ihm die Ehrlichkeit bei ihrem Gespräch am Nachmittag hoch an. Er atmete tief durch und stellte die Frage, die ihn schon lange vor diesem Tag beschäftigt hatte. „Liebst du Marco noch?“

Erik blieb stehen und öffnete den Mund zu einer Antwort, aber Jonas kam ihm zuvor. „Ähm, ich weiß, dass das ‘ne ziemlich aufgeladene Frage is‘ und ich stell sie nich‘, weil ich Angst hab, dass du mich mit ihm betrügst oder so. Ich bin nich‘ eifersüchtig. Nich‘ wirklich. Es is‘ nur … Ich versuch zu verstehen, was ihr mal hattet und wie es sich entwickelt hat und … warum es vorbei is‘.“ In Wahrheit versuchte er herauszufinden, ob seine Beziehung mit Erik einen ähnlichen Weg gehen würde. Diese Frage laut zu stellen brachte er jedoch nicht über sich.

„Ich liebe Marco heute mehr als damals.“ Es waren weniger die Worte selbst, die Jonas überraschten, als das fehlende Zögern in Eriks Antwort. Er verbiss sich jeden Einwand und ließ Erik weitersprechen. „Wie gesagt, rückblickend glaube ich, dass wir nie wirklich füreinander geschaffen waren. Selbst, wenn die Umstände anders – einfacher – gewesen wären, wäre es irgendwann zu unserer Trennung gekommen. Da gab es eine Menge Spannungen, ausgesprochene und unausgesprochene, die unsere Beziehung immer weiter belastet haben. Nachdem es vorbei war, konnten wir endlich reinen Tisch machen und eine solide Freundschaft auf neuem Boden aufbauen. Also ja, ich liebe ihn. Aber auf eine völlig andere Weise als damals.“ Erik setzte zu einem neuen Satz an, blieb nach einem kleinen Seufzen jedoch stumm. Zum ersten Mal seit langem, fühlte sich das Schweigen zwischen ihnen unangenehm an.

„Tut mir leid, dass ich so blöd gefragt hab“, murmelte Jonas nach einigen Minuten Stille. „Ich weiß auch nich‘, warum ich mich da so dran festbeiße.“

„Es ist in Ordnung, wenn du fragst“, erwiderte Erik leise. „Es ist nur …“ Wieder seufzte er, wirkte unglücklich. „Irgendwie sitze ich gerade zwischen den Stühlen. Ich will dich nicht verletzen, wirklich nicht, aber die Freundschaft mit Marco ist mir wichtig. Sie ist eine der wenigen, wirklich engen Bindungen die ich habe und ich könnte sie niemals aufgeben. Nicht einmal für dich.“

Jetzt war es an Jonas, zu seufzen. „Das will ich doch auch gar nich‘! Es is‘ echt okay für mich, dass ihr befreundet seid. Ich hab nur … Fuck, ich weiß auch nich‘ …“ Schließlich platzte er heraus: „Ich hab einfach Angst, dass du eines Tages aufwachst und merkst, dass es zwischen uns genauso wenig passt, wie zwischen dir und Marco!“

Das ist es, worüber du dir Sorgen machst?“, fragte Erik perplex.

„Du dir denn nich‘?“, entgegnete Jonas, enttäuscht über Eriks Verständnislosigkeit. „Machst du dir überhaupt keine Gedanken, wie’s mit uns weitergehen könnt? Mein Studium dauert nich‘ ewig, genauso wenig wie deins. Was dann? Bleiben wir danach in Berlin? Ich hab keine Ahnung, ob ich auf Dauer so weit von meiner Familie weg leben möchte! Und was is‘ mit dir? Willst du nich‘ zurück nach Stuttgart? Immerhin sin‘ hier deine Wurzeln. Ich hab dich im letzten halben Jahr nich‘ so oft lachen gesehen wie in den zwei Tagen, die wir jetzt hier sin‘. Und was, wenn du doch irgendwann ein Kind willst? Es wenigstens versuchen möchtest? Wann? Ich bin gradmal zwanzig! Ja, ja, ich weiß, das sin‘ nich‘ mal sieben Jahre Unterschied zu dir, aber fuck, sieben Jahre! Das is‘ ‘n Drittel meines Lebens! Das is‘ verfickt viel Unterschied, wenn du mich fragst! Und was, wenn ich’s nie auf die Reihe krieg, meinen Eltern von uns zu erzählen? Kannst du das ertragen? Niemals so wirklich, so ganz offiziell, mit mir zusammen zu sein? Oder … Oder wenn ich immer bloß irgendwelche beschissenen Aushilfsjobs bekomme und ‘nem Traum hinterher jag, der sich nie erfüllen wird? Du bist finanziell gut aufgestellt, hast Vermögen und ‘nen Job. Ich hab nix davon! Höchstens die Wirtschaft meiner Eltern, in die ich notfalls einsteigen könnt. Was bedeuten würd, dass ich in dem verfickten, homophoben Scheißdorf leben müsst, in dem ich aufgewachsen bin!“ Eriks Arme, die sich um Jonas‘ bebenden Körper schlangen, stoppten schließlich die Tirade, in die er sich gesteigert hatte, schafften es jedoch nicht, seine Sorgen wegzuwischen. „Denkst du wirklich nie über all diese Dinge nach?“

„Natürlich tue ich das“, erwiderte Erik ruhig.

„Hast du keine Angst, dass alles zum Teufel geht?“

„Doch.“

„Wie kannst du dann so gelassen bleiben?“, fragte Jonas verzweifelt.

„Was ändert sich, wenn ich es nicht tue?“

Jonas stockte. „Vermutlich nix“, gab er leise zu.

„Mhm. Ich laufe höchstens Gefahr, etwas Tolles kaputtzudenken. Und glaub mir, ich weiß, dass ich dazu neige.“ Zärtlich strich Erik über Jonas‘ Haar. „Das bedeutet aber nicht, dass mir diese Dinge egal sind. Jonas, ich …“ Er zögerte. „Ich finde es scheußlich, meine Beziehungen miteinander zu vergleichen, aber das, was ich mit dir habe fühlt sich völlig anders an als die Geschichte mit Marco damals. Leichter. Natürlicher. Die Konflikte, die du gerade angesprochen hast kommen alle von außen und ich glaube, für jeden einzelnen ließe sich eine Lösung finden. Du willst in Berlin bleiben? Ist in Ordnung für mich, ich mag Berlin. Du willst in die Nähe deiner Eltern? Ich bin ein Stadtkind, aber das Landleben hat bestimmt auch seine schönen Seiten. Stuttgart wird immer irgendwie meine Heimat sein, aber es reicht mir, ein paar Mal im Jahr herfahren zu können, ich muss nicht hier leben. Also ja, natürlich gibt es Konfliktpotenzial bei uns. Gibt es in jeder Beziehung. Und natürlich kann ich dir nicht versprechen, dass das zwischen uns niemals enden wird, wir niemals an einen Punkt kommen werden, an dem es einfach nicht weitergeht. Ich kann dir nur versprechen, jeden einzelnen Tag für diese Beziehung zu kämpfen. Weil sie es mir Wert ist. Weil du es mir wert bist.“ Erik schnaubte. „So, damit ist mein Wort zum Sonntag dann auch beendet.“

Der Hauch eines Lachens kämpfte sich aus Jonas‘ zugeschnürter Kehle. „War aber ‘n guter Vortrag. Besser als so mancher Sermon, den ich in der Kirche über mich ergehen lassen musste.“ Sein Lächeln verblasste. „Sorry für meinen Ausbruch grad eben. Mir war gar nich‘ klar, was sich da so angestaut hatte. Ich glaub, ich musste bloß hören, dass wir uns nich‘ einfach nur hoffnungslos naiv auf was eingelassen haben, das nie die Chance hatte, länger zu bestehen.“

„Ah, ich versichere dir, dass ich absolut unfähig dazu bin, mich hoffnungslos naiv auf irgendetwas einzulassen.“

„Jaah, das is‘ mir auch schon aufgefallen. Ich musst’s wohl bloß nochmal direkt hören.“ Er drückte Erik fest an sich, bevor er sich aus der Umarmung löste. „Drehen wir wieder um?“

„Sind denn alle Fragen geklärt?“

„Nee, aber besser wird’s heut nimmer.“

„Dann muss ich mich damit wohl vorerst zufriedengeben.“

Zurück im Hotel, das Quietschen des Bettgestells im Ohr, den Geschmack seiner Zahnpasta noch im Mund, schmiegte sich Jonas an Erik, inhalierte den Duft seiner sonnengeküssten Haut und dachte an den Tag, den sie miteinander verbracht hatten. Die vielen Gespräche, das gute Essen, die Hitze. Plötzlich hatte er wieder Drago vor Augen, der sein Shirt hochzog; sah die roten Striemen, die sich deutlich von dessen blassen Körper abhoben. „Ähm, eine Frage habe ich dann doch noch“, flüsterte Jonas.

„Ja?“, fragte Erik misstrauisch. „Welche denn?“

„Wollen wir mal wieder … Ich mein … Ähm …“ Scheiße, da hatten Erik und er in den vergangenen Monaten so verflucht viel mit dem Körper des anderen angestellt und trotzdem war Jonas noch immer kaum dazu fähig, darüber zu sprechen. „Ähm, ich mein, ganz am Anfang, so bei den ersten Treffen, da haben wir doch … Also …“

„Ah, warum nur glaube ich zu wissen, worauf du hinauswillst?“ Erik legte einen Finger an Jonas‘ Kinn und ermunterte ihn, ihn anzusehen. Sein Daumen wanderte höher, strich über Jonas‘ Lippen, verharrte dort, bis er den zarten Kuss fühlte. Die wortlose Bestätigung. Ein Signal, das sie vor Urzeiten miteinander vereinbart hatten. „Lass uns damit warten, bis wir wieder in Berlin, in unseren eigenen vier Wänden sind, ja?“

„Okay“, nuschelte Jonas ein wenig enttäuscht.

Eriks dunkles Lachen stellte die Härchen in seinem Nacken auf. „Guck nicht so traurig. Ich verspreche dir, es wiedergutzumachen.“ Er beugte sich zu ihm und raunte: „Wirklich gut.“

 

Kapitel 39

Was zuletzt geschah:

Jonas‘ Wochenende in Stuttgart bleibt spannend. Marcos und Dragos Zukunftspläne werfen die Frage nach seinen eigenen auf – und damit zwangsweise auch Eriks. Vieles liegt noch im Nebel, so manches muss ausgehandelt werden, aber etwas ist bereits ganz klar: Jonas‘ Besuch bei Eriks verbleibender Familie steht vor der Tür.

 

Kapitel 39

„Scheiße, ich hätte auf das zweite Sandwich verzichten sollen. Bin immer noch total vollgefressen.“ Theatralisch seufzend rieb Jonas über seinen gewölbten Bauch, schaffte es aber nicht, Eriks Aufmerksamkeit zu erregen. „Hey!“

Erik schreckte aus seiner Starre und lächelte gequält. „Entschuldige, hast du gerade was gesagt?“

„Schon gut, war nich‘ wichtig.“  

Der Sonntag hätte kaum schöner beginnen können. Das Wetter war ihnen noch immer hold und der strahlende Sonnenschein ausgesprochen hilfsbereit, sie ungewohnt früh aus den Federn zu treiben. Erik hatte sich nach dem Frühstück klaglos durch das Stuttgarter Kunstmuseum schleifen lassen, beim Mittagessen im Tässchen Jonas‘ Monolog über das gerade Gesehene gelauscht und kein Wort der Kritik verlauten lassen, als Jonas anschließend zu tief in sein frisch erstandenes Buch über die Geschichte der Fotografie versunken war, um noch irgendetwas um ihn herum zu bemerken.

Selbst die unterdurchschnittliche Komödie – der einzige Film, der nachmittags in dem Kino lief, das Erik in seiner Kindheit mit seinen Eltern besucht hatte – war erträglich gewesen. Hauptsächlich, weil sie sich in die letzte Reihe verzogen und ab da nicht mehr viel davon mitbekommen hatten. Doch mit jeder Minute, die das Abendessen bei seiner Tante näher rückte, wurde Erik stiller.

Jetzt standen sie im Hotelzimmer, quasi aufbruchbereit und musterten sich gegenseitig, als warteten sie darauf, dass der jeweils andere zuerst einen guten Grund fand nicht hinzugehen. „Wir könnten sagen, dass ich mir den Magen verdorben hab“, schlug Jonas vor, in der Hoffnung, Eriks Stimmung ein wenig aufzuheitern. Erfolglos allerdings; Erik sah genauso düster drein wie zehn Sekunden zuvor. „Okay, dann nich‘. Ich bin eh nich‘ besonders scharf drauf, dass Leute, die ich nich‘ kenn sich vorstellen, ich würd grad aufm Pott hocken und mir die Seele ausm Leib scheißen. Aber ganz ehrlich? Wenn du lieber nich‘ hinwillst, is‘ das doch völlig in Ordnung. Dann sagen wir eben ab. Und du kannst es ruhig auf mich schieben! Notfalls halt doch mit der Durchfallsache.“

Kein Lacher, aber Erik wirkte, als würde er Jonas‘ Angebot ernsthaft erwägen. Gleich darauf schüttelte er jedoch den Kopf. „Das wäre nicht fair. Meine Tante hat sich sicher Mühe gegeben und groß aufgekocht.“ Er seufzte. „Außerdem zementiert das vermutlich nur das falsche Bild, das du von ihr und ihrer Familie hast. Das sind nette Menschen, ich steigere mich nur gerade viel zu sehr in die Sache rein.“

„Wenn du das sagst … Mein Angebot steht trotzdem. Notfalls auch, wenn wir schon da sin‘ und wieder wegwollen. Was glaubst du, wie schnell die uns vor die Tür setzen, wenn sie Angst haben müssen, dass sich ihnen auf den Teppich kotz?“

Endlich zeigte Erik ein schmales Lächeln. „Ich werde es im Hinterkopf behalten.“ Er verschwand ins Bad, machte sich aber nicht die Mühe, die Tür zu schließen. Jonas beobachtete, wie er den Kragen seines Hemds richtete, die nicht vorhandenen Falten darauf glattstrich, seine Haare öffnete und noch einmal ordentlich zu einem Knoten band.

„Herrscht heute Dresscode? So langsam fühl ich mich nämlich etwas schäbig angezogen.“  

Erik ließ die Hände sinken, die Reflexion seiner Augen fand Jonas‘. „Du hast recht, ich übertreibe. Entschuldige.“ Er atmete durch. „Lass uns einfach aufbrechen, ja?“

 

Die U-Bahn zuckelte durch den Tunnel, aber auch meterdicke Felswände waren nicht in der Lage, die schwüle Luft zu kühlen.

„Okay, jetzt mal ganz ehrlich“, sagte Jonas, nachdem er das Schweigen satt hatte. „Was hab ich von dem Abend zu erwarten? Muss ich mich auf ein Verhör gefasst machen? Oder darauf, dass sich deine Tante die Menschenmaske abreißt und versucht, mich mit ihren gigantischen Mandibeln zu zermalmen?“

Dieses Mal lachte Erik wirklich. „Ja. Aber keine Sorge, davor betäubt sie dich mit ihrem Giftstachel. Auf die Art spürst du fast nichts.“ Er musste sich sichtlich zwingen, wieder ernster zu werden. „Ah, lass mich mal überlegen, wie ich unsere Dynamik beschreibe, damit du weißt, worauf du vorbereitet sein solltest.“ Er neigte den Kopf und dachte über seine nächsten Worte nach. „Meine Tante ist die jüngere Schwester meiner Mutter. Deutlich jünger. Fast sechzehn Jahre.“

Jonas stieß einen Pfiff aus. „Und ich dacht, meine Schwester Vroni wär ‘n Nesthäkchen.“

„Ich weiß nicht, ob es am Altersunterschied lag, oder sie einfach generell verschiedene Persönlichkeiten waren, aber ich habe meine Tante und meine Mutter immer als sehr gegensätzlich empfunden. Meine Mutter war beruflich ehrgeizig und hat sich spät für eine Familie entschieden, meine Tante hat dagegen schon sehr früh geheiratet und das erste Kind bekommen. Deshalb sind mein Cousin und ich auch fast gleichalt. Meine Cousine kam dann erst einige Jahre später, gerüchteweise, um die kriselnde Ehe zu retten, aber ich war damals zu jung, um das wirklich mitzubekommen. Persönlich denke ich, dass meine Tante …“ Er verstummte, runzelte die Stirn und schüttelte anschließend den Kopf. „Nein, weißt du was, ich glaube, ich fühle mich wohler, wenn ich dir nicht so viel erzähle.

„Warum?“ Jonas hatte sich bemüht, die Kränkung aus seiner Stimme herauszuhalten, war jedoch gescheitert.

„Weil unser Verhältnis schwierig ist und ich nicht Gefahr laufen will, dir ein ungerechtfertigt negatives Bild zu vermitteln.“

Jonas seufzte, nahm Eriks Entscheidung jedoch hin. Die Fahrt schien sich ewig zu ziehen und er war gespannter denn je auf dieses Abendessen.

 

Das Viertel, in dem sie schließlich ausstiegen war durchaus ansehnlich. Erdfarbene Altbauten reihten sich aneinander, die Straßen waren sauber, immer wieder durchbrachen Bäume und Wiesenstreifen den tristen Asphalt. Erik drückte die Klingel neben einer glänzenden Messingplatte mit dem Schriftzug ‚Reichardt‘, kurz darauf ertönte der Summer. Sie hatten gerade die ersten Stufen überwunden, als er abrupt stehen blieb und der Hitze zum Trotz die Ärmel seines Hemds nach unten krempelte. Jonas bedachte er dabei mit einem Blick, der eindeutig ‚nimm es einfach hin‘ ausdrückte.

„Fast pünktlich“, begrüßte sie eine Frau in den Vierzigern an der Tür. Ihr blondes Haar war sorgfältig hochgesteckt, filigraner Goldschmuck an Ohren und Hals akzentuierte ihr dunkelblaues Kleid. Sie war attraktiv, aber ihr Lächeln hatte etwas Künstliches an sich, das Jonas nicht genau benennen konnte. Er verkniff sich den Hinweis, dass seine recht zuverlässige Handyuhr lediglich zwei Minuten Verspätung anzeigte.

Erik reagierte dagegen gewohnt diplomatisch. „Entschuldige. Unsere Bahn stand eine Weile im Tunnel.“ Er legte eine Hand auf Jonas‘ Schulter, drückte sie sanft. „Das ist Jonas. Mein Freund.“

Bei diesen Worten machte Jonas‘ Herz einen Hüpfer und ein breites Lächeln stahl sich auf sein Gesicht. Er reichte Eriks Tante die Hand. „Freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Frau Reichardt.“

„Guten Abend. Freut mich ebenfalls.“

Jonas wartete einen Augenblick, aber Eriks Tante machte keine Anstalten, ihm das ‚Du‘ anzubieten. Stattdessen ließ sie sie in die Wohnung eintreten und führte sie durch den reichlich dekorierten Eingangsbereich bis ins Wohnzimmer, dessen linke Hälfte von einem penibel gedeckten Esstisch eingenommen wurde. Davor warteten bereits ein großgewachsener, dunkelhaariger Mann in Anzug und Krawatte sowie eine zierliche Frau in Jonas‘ Alter, deren Haar im selben Honigblond schimmerte wie Eriks und das seiner Tante.

„Erik“, begrüßte der Mann ihn steif.

„Hallo, Frank. Darf ich dir Jonas vorstellen? Jonas, das ist mein Onkel Frank.“ Die Art, wie Erik den Vornamen seines Onkels betonte, verriet Jonas, dass er ganz und gar nicht begeistert von dem Verhalten seiner Tante gewesen war und tatsächlich bildeten sich rote Flecken auf ihrem Hals und Dekolletee. Sie räusperte sich und als sie die Hand vom Mund nahm, zierte ein Lächeln ihre Lippen, das beinahe echt wirkte. „Ich bin übrigens Susanne. Das ging vorhin wohl etwas unter.“ Sie wandte sich an Erik. „Ihr könnt euch schon setzen. Tobias kommt später.“

Jonas brauchte einen Augenblick, um den Namen mit dem passenden Verwandtschaftsgrad zu verbinden. Eriks Cousin, das war es. Allmählich glaubte er, im Rahmen dieses Kurzurlaubs mehr neue Namen gelernt zu haben, als Englischvokabeln während seiner gesamten Schulzeit.

Eriks Cousine, jedenfalls nahm Jonas an, dass es sich bei der jungen Frau vor ihm um diese handelte, versuchte derweil vergeblich, dessen Aufmerksamkeit zu erlangen, ohne dabei ihre Eltern zur Seite zu drängen. Nach einem unauffälligen Rippenstoß von Jonas, bemerkte auch Erik ihre Bemühungen. Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft zeigte er ein ehrliches Lächeln. „Ah, jetzt bist aber du mal an der Reihe.“ Er schloss die junge Frau in seine Arme. „Schön, dich wiederzusehen.“ Die Hand noch auf ihrer Schulter, drehte er sich zu Jonas. „Jonas, das ist Sophia, meine Cousine. Sophia, das ist Jonas.“

„Hallo“, begrüßte sie ihn schüchtern.

„Hi!“ Nach ein wenig Hin und Her schafften sie es, sich ebenfalls kurz zu umarmen.

Verschwörerisch beugte sich Erik zu ihr. „Was treibt denn Tobias, damit ihm erlaubt wurde, die magische Zeit fürs Abendessen zu überschreiten?“

„Keine Ahnung“, antwortete sie flüsternd. „Er hätte schon längst hier sein sollen.“

Bevor sie noch länger betreten im Raum rumstehen konnten, bugsierte Erik Jonas zu dem prunkvollen Esstisch. Sophia nahm ihnen gegenüber Platz, ihr Vater am Kopfende, Eriks Tante zog sich für ‚letzte Vorbereitungen‘ in die Küche zurück.

„Ähm, ihr habt eine wirklich schöne Wohnung“, versuchte Jonas ein Gespräch in Gang zu bringen. „Die Stuckarbeiten sind umwerfend. Geben dem Raum was richtig Edles.“

„Heutzutage bevorzugen viele Neubauwohnungen, weil sie denken, das Preis-Leistungs-Verhältnis sei besser“, antwortete Eriks Onkel. Seine Stimme war gleichmäßig und eigenartig glatt. „Selbstverständlich sind echte Altbauwohnungen wie diese hier pflegeaufwändiger, aber ich bin der Meinung, dass man sich nicht davor scheuen sollte, Geld in ein wenig Klasse zu investieren.“

Hatte Sophia gerade mit den Augen gerollt? Eriks Versuch, ein Lächeln zu unterdrücken sprach dafür und nun hatte auch Jonas Schwierigkeiten ernst zu bleiben. Die Eingangstür, die sich geräuschvoll öffnete und schloss rettete ihn.

„Wurde ja auch Zeit“, murmelte Eriks Onkel.

„Jo, ihr seid ja schon alle hier.“ Der Neuankömmling – Eriks Cousin Tobias – musste etwa in Eriks Alter sein, davon abgesehen waren ihre Gemeinsamkeiten jedoch überschaubar. Er war kleiner, hatte das dunkle Haar seines Vaters geerbt und die halb aus dem engen Shirt platzenden Oberarme sprachen von langen Stunden im Fitnessstudio. Nach einem kurzen Nicken zu Jonas und Erik ließ er sich auf den Stuhl neben seiner Schwester fallen. „Was gibt’s Neues aus der Hauptstadt?“

Sein Vater zeigte sich wenig begeistert von diesem nonchalanten Gesprächseinstieg. „Verrate uns doch bitte zuvor, wo du so lange gesteckt hast.“

„Ist doch unwichtig“, erwiderte Tobias achselzuckend. „Ihr habt ja noch nicht mal mit dem Essen angefangen.“

Eriks Onkel setzte zu einer Erwiderung an, doch dann huschte sein Blick zu seinen Gästen. „Wir klären das später.“

„Tu, was du nicht lassen kannst.“ Tobias lächelte, aber es lag kein Humor darin.

Die nächste halbe Stunde verlief mehr als schleppend. Eriks Tante Susanne servierte das Essen und wurde dabei nicht müde zu betonen, wie viel Mühe sie sich gegeben hatte, extra für Erik ein vegetarisches Menü zusammenzustellen. Darauffolgend war eine ganze Weile lediglich das Klappern des Geschirrs zu vernehmen.

Zwischen Hauptgang und Nachspeise tupfte Susanne ihre Mundwinkel ab, faltete ihre Serviette anschließend sauber über dem Schoß zusammen und blickte erwartungsvoll in die Runde. „Hat Sophia ihre großartigen Neuigkeiten schon erzählt?“

„Welche?“ Neugierig musterte Erik seine Cousine, die sehr darum bemüht schien mit ihrem Stuhl zu verschmelzen.

Seine Tante nahm ihr die Antwort ab. „Sie hat ihr Abi mit 1,2 bestanden. Ist das nicht fantastisch?“

„Ist es“, bestätigte Erik. „Nochmal Glückwunsch, Sophia.“

„Ja, Glückwunsch“, fiel Jonas mit ein. „Is‘n verfi-flucht gutes Gefühl, den Schei-Schwachsinn endlich hinter sich zu haben, nich‘ wahr?“

„Danke.“ Sophia strich sich eine lose Haarsträhne hinter die Ohren, offenbar unschlüssig, was sie sonst gerade mit ihren Händen anstellen sollte. Eine Geste, die Jonas erschreckend vertraut war. „Ist wirklich schön, sich mal ein paar Wochen keine Gedanken um Zensuren machen zu müssen. Aber ich hatte Erik schon davon erzählt.“

„Auch davon, wie gut dein Ergebnis ist?“, wollte ihr Vater wissen. „Du stellst dein Licht immer unter den Scheffel und wunderst dich dann, wenn andere dich nicht ernst nehmen. Wenn du während des Studiums Praktika in angesehenen Unternehmen absolvieren möchtest, musst du daran dringend arbeiten. Vom Berufseinstieg wollen wir noch gar nicht reden.“

„Ich weiß, Papa.“

Frank nickte, zufrieden über seine kleine Ansprache und Sophias Reaktion darauf. Er wandte sich an Erik. „Was hattest du doch gleich für einen Schnitt?“

„Ah, ist das wichtig?“, fragte Erik abwehrend. „Das ist doch fast zehn Jahre her. Wir sollten uns lieber für Sophia freuen. Mit so einem Ergebnis dürfte ihrem Traum vom Psychologiestudium nichts im Weg stehen.“

„Ich finde, da hast du absolut recht.“ Eriks Tante hob ihr Glas. „Lasst uns darauf anstoßen!“

Doch Eriks Onkel schien noch nicht bereit, das Thema fallenzulassen. „1,3 war es, nicht wahr?“

„Ich finde wirklich nicht, dass–“, begann Erik, wurde jedoch erneut unterbrochen, dieses Mal von seinem Cousin.

„1,1, Vater. Erik hatte einen Schnitt von 1,1. Da kann nicht mal dein Goldstück mithalten, was?“ Jonas hatte das Gefühl, Tobias genoss den verblüfften Gesichtsausdruck seines Vaters, der sich langsam zu schlecht unterdrücktem Zorn wandelte.

Keine Sekunde später hatte Frank seine Emotionen wieder im Griff. „Nun, wie Erik bereits sagte, ist sein Abschluss fast zehn Jahre her und wir wissen alle, dass die Ansprüche seither nicht gesunken sind.“

„Wir haben‘s kapiert!“, fuhr Tobias erneut dazwischen. „Sophia ist aus Inflationsgründen die Beste, Erik kommt knapp dahinter und mich kehren wir lieber komplett unter den Teppich, weil ich nicht zum Angeben tauge. Nicht, dass unser Gast noch erfährt, dass ich in der siebten Klasse sogar mal sitzengeblieben bin.“

„Dem Gast is‘ das in der Achten passiert“, erwiderte Jonas und hoffte inständig, die zu kippen drohende Stimmung retten zu können. „Er hat übrigens auch ‘ne Schwester, die unter den Top Ten ihres Jahrgangs war. Genauso wie seine beste Freundin, während er selbst in die Kategorie ‚Gott sei Dank, jetzt haben andere das Problem‘ fiel.“

Tobias lächelte schief. „Ist kacke, was?“ Zum ersten Mal seit Beginn des Abends troff kein Spott aus jeder Silbe.

„Japp. Aber meine jüngste Schwester is‘ erst in der Grundschule. Es besteht also noch Hoffnung, dass sie viel enttäuschender wird als ich.“

„Ich drücke die Daumen.“ Ein paar schweigsame Atemzüge verstrichen, dann prosteten sich die beiden jungen Männer grinsend zu.

„Wie läuft es mit der Arbeit?“ Eriks Tante schien endgültig genug vom Thema Abitur zu haben, bestand nicht einmal auf den zuvor angesprochenen Toast auf Sophias Abschluss.

„Ganz gut“, antwortete Erik zurückhaltend. „Zusammen mit dem Studium kann es schonmal stressig werden, gerade jetzt, wenn die Klausuren näherkommen.“

Ehrliche Sorge huschte über Susannes Gesicht und zum ersten Mal empfand Jonas so etwas wie Sympathie für sie. „Mach doch ein wenig langsamer“, schlug sie vor. „Es ist doch sicher kein Problem, wenn du ein oder zwei Semester länger brauchst.“ Ihr Blick glitt zu Eriks Unterarmen. Flüchtig, aber nicht unauffällig genug, damit ihm die Bewegung entging. Er zupfte seine Hemdsärmel zurecht und sagte: „Ah, so schlimm ist es wirklich nicht.“

Damit war auch dieses Thema abgehandelt.

 

Der Rest des Essens erwies sich als sozialer Drahtseilakt, in dem insbesondere Eriks Onkel permanent betonte, wie grandios das Leben seiner Familie war, während Tobias regelmäßig giftig dazwischenfunkte und Sophia kaum mehr als zwei zusammenhängende Sätze über die Lippen brachte. Eriks Tante warf diesem hingegen immer wieder Blicke zu, als fürchtete sie, er könnte noch am Tisch einen Rückfall erleiden und zum nächstbesten Buttermesser greifen, weshalb Erik selbst redlich bemüht war, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Und mittendrin saß Jonas, ohne die geringste Ahnung, wie er sich verhalten sollte. Allmählich begriff er, weshalb Erik diese Termine mied.

Nach einer gefühlten Ewigkeit war endlich das Dessert verputzt und Jonas entschuldigte sich, um kurz auf die Toilette zu verschwinden. Als er zurückkam, rannte er direkt in Tobias‘ Arme. „Sorry.“

Tobias schnaubte und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Hab dich übrigens noch gar nicht in der Familie willkommen geheißen. Freust du dich, in unseren erlauchten Kreis aufgenommen worden zu sein?“

„Ähm …“

„Ja, ich wüsste auch nicht, wie ich höflich auf diese Frage antworten sollte. Willst du ein Bier? Bringt dir noch mal wenigstens dreißig Sekunden, bevor du zurück ins Wohnzimmer musst.“

„Ähm, okay.“ Erik würde schon eine Weile ohne ihn auskommen und er selbst konnte durchaus eine Gelegenheit zum Durchatmen gebrauchen. Ganz davon abgesehen verspürte er ein gewisses Bedürfnis nach Alkohol. Seine offenbar eher proletarischen Geschmacksnerven hatten Probleme, den obligatorisch zum Essen gereichten Wein zu genießen und Wasser bevorzugt.

Tobias zog zwei Flaschen aus dem Kühlschrank und durchwühlte die Küchenschränke nach Gläsern. „Wie lange kennt ihr euch eigentlich schon?“, fragte er ohne aufzublicken. „Du und Erik, meine ich.“

„Oh, ähm, seit letzten Oktober, ungefähr. Aber zusammen sin‘ wir erst seit Februar.“ ‚Zusammen‘, ‚Beziehung‘, ‚Paar‘. Noch immer fühlte es sich seltsam für Jonas an, diese Worte laut auszusprechen.

„Cool, cool.“ Tobias sah aus als wollte er noch mehr sagen, trank stattdessen jedoch einen Schluck direkt aus der Flasche.

„Wir sollten wohl wieder ins Wohnzimmer zurück“, schlug Jonas vor, nachdem ihm sein frisch eingegossenes Glas in die Hand gedrückt worden war.

„Sollten wir wohl.“ Allerdings machte Tobias keine Anstalten, sich zu bewegen und Jonas stellte fest, dass auch seine Füße lieber noch etwas länger an Ort und Stelle verweilten. „Wie ist Berlin denn so?“

„Etwas anders als das bayerische Dorf, in dem ich aufgewachsen bin.“

„Kann ich mir vorstellen. Und Erik? Gefällt es ihm dort?“ Bevor Jonas darauf antworten konnte, fügte Tobias leiser hinzu: „Geht es ihm gut?“

Plötzlich glaubte Jonas zu verstehen, weshalb Tobias das Gespräch mit ihm suchte. Eines der wenigen ehrlichen Lächeln dieses Abends schlich sich auf sein Gesicht. „Soweit ich das beurteilen kann, und ich behaupte jetzt einfach mal, dass ich’s kann, ist Erik grad ziemlich zufrieden.“

„Gut. Das ist … gut.“

„Hier versteckt ihr euch.“

„Wenn man vom Teufel spricht …“ Jonas und Tobias drehten sich zu Erik, der im Türrahmen stand, eine Braue nach oben gezogen, als versuchte er abzuschätzen, ob etwas vor sich ging, das ihm nicht gefiel. Er und Tobias wechselten einen langen Blick, aber niemand sagte ein Wort.

„Ich hab mir ein Bier erschnorrt“, ging Jonas dazwischen. Zum Beweis hob er sein Glas.

Ein weiterer blonder Schopf erschien im Türrahmen, Sophia zupfte an Eriks Hemd. „Kann ich mal mit dir sprechen?“

Verdutzt drehte sich Erik zu ihr. „Natürlich. Hier?“

Misstrauisch beäugte sie ihren Bruder, nickte dann aber. „Ist genauso gut wie anderswo.“ Mit einer Hand in seinem Rücken, schob sie Erik ganz in die Küche und schloss die Tür hinter sich. „Ich ziehe nach Berlin.“

„Fürs Studium?“ Erik hatte seine Überraschung erstaunlich schnell unter Kontrolle bekommen, ganz im Gegensatz zu Tobias, wie Jonas nach einem raschen Seitenblick feststellte.

Wieder nickte Sophia.

„Wissen unsere Eltern schon davon?“, fragte Tobias

„Nein, ich …“ Sophia spielte mit ihrem zum Zopf geflochtenen Haar und Jonas fragte sich zum wiederholten Mal, ob er gerade einen Blick auf den zehn Jahre jüngeren Erik erhaschte. „Ich hätte gerne alles in trockenen Tüchern, bevor ich es ihnen erzähle.“

Tobias gab ein Geräusch zwischen Schnauben und Lachen von sich, verstummte jedoch, als Erik ihn kühl von oben bis unten musterte.

„Ich will einfach nicht, dass sie sich zu sehr einmischen“, verteidigte Sophia ihre Entscheidung ungewohnt laut. Was in ihrem Fall bedeutete, ihre Stimme von einem Flüstern auf Zimmerlautstärke zu erhöhen.

„Wie kann ich dir helfen?“, fragte Erik mit derselben zuversichtlichen Gelassenheit, mit der er schon Jonas oft genug über diverse Unsicherheiten hinweggeholfen hatte.

„Ich brauche eine Wohnung.“

„Das wird aber echt scheißschwer, wenn deine Eltern nix davon wissen sollen.“ Jonas schluckte, zwang sich aber, seine Gedanken weiter auszuführen, nachdem er schon seine Klappe nicht hatte halten können. „Ohne Bürgen geht da normalerweise nix als Student. Ich hab das erst letztes Jahr mitgemacht und es nervt echt tierisch.“

„Wie willst du das überhaupt bezahlen, ohne, dass sie davon erfahren?“, fragte Tobias. „Du bekommst ja noch nicht einmal BAföG. Jedenfalls dann, wenn es stimmt, was unser allerliebster Vater so von seinen Finanzen behauptet. Also müssen sie dir den Unterhalt direkt zahlen.“

Unruhig trat Sophia von einem Fuß auf den anderen, zwirbelte ihr Haar. „Ich könnte mir ein paar WGs ansehen. Hatte schon Mail-Kontakt mit einigen, aber die wollen mich natürlich persönlich kennenlernen. Ich dachte mir, dass ich Mama und Vater danach davon erzähle, wenn ich weiß, ob ich überhaupt Chancen auf ein Zimmer habe.“ Schüchtern sah sie zu Erik. „Aber ich kenne mich in Berlin nicht aus und, ah, die Übernachtungskosten …“

Als Erik begriff, worauf sie hinauswollte, wandte er sich unauffällig zu Jonas, der ihm ein Daumenhoch gab.

„Du kannst gerne ein paar Tage bei uns unterkommen“, bot er daraufhin an.

„Ich will mich aber nicht aufdrängen.“

„Tust du nicht“, versicherte er. „Aber ich würde mich wohler fühlen, wenn wir das davor mit Susanne und Frank besprechen. Ich will sowas eigentlich nicht hinter ihrem Rücken ausmachen und für dich ist es doch auch angenehmer, wenn du von vornherein offen beantworten kannst, wie du die Miete finanzieren willst.“

„Was, wenn sie ‚Nein‘ sagen?“, fragte Sophia zweifelnd.

„Dann verwandeln wir es in ein ‚Ja‘. Unter der Bedingung, dass sie alle Entscheidungen dir überlassen.“

Sophia hob eine Braue. „Du denkst wirklich, dass sie sich auf so einen Deal einlassen?“

„Du bist volljährig und kannst deine eigenen Entscheidungen treffen“, antwortete Erik schulterzuckend. „Das ändert aber nichts an ihrer Unterhaltspflicht dir gegenüber. Falls sie die ganze Sache in die Länge ziehen wollen, springe ich so lange als Bürge für die Wohnung ein. Dann kannst du dir zumindest da schonmal eine Zusage sichern. Spätestens dann werden sie bestimmt einlenken.“

„Das würdest du tun?“

„Für dich? Natürlich.“

Sophia fiel Erik in die Arme. „Danke!“

„Na komm, jetzt versuchen wir erstmal, das ganze friedlich zu lösen. Und wenn ich ‚Jetzt‘ sage, meine ich auch jetzt.“ Sanft schob er Sophia aus der Küche. „Kurz und hoffentlich schmerzlos. Wie Pflasterabreißen.“

Geschlagen ließ sie sich von Erik zurück ins Wohnzimmer führen. Die beiden anderen folgten ihnen nach ein paar Sekunden. „Ein Glück, dass der Cousin einspringt, wenn der eigene Bruder schon nichts auf die Reihe bekommt“, nuschelte Tobias im Vorbeigehen zu sich selbst, aber Jonas verstand ihn trotzdem.

Nach seinem dramatischen Aufbau lief das eigentliche Gespräch überraschend ereignislos. Ihren Befürchtungen entgegen, stimmten Sophias Eltern sofort zu, sie bei ihrer Studienentscheidung zu unterstützen, allerdings konnte ihre Mutter es nicht lassen, Erik das Versprechen abzuringen, ein Auge auf sie zu haben. Da der Redefluss so rasch abebbte wie er aufgeflammt war, nutzten Erik und Jonas die Gelegenheit, sich für das Essen zu bedanken und das Weite zu suchen. Die Fahrt zurück ins Hotel verlief schweigend, beide waren mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt.

 

Jonas saß auf dem knarzenden Hotelbett und beobachtete Erik, der sich für die Nacht fertigmachte. „Lass mich mal.“ Sanft nahm er ihm die Haarbürste aus der Hand und fuhr damit durch den dichten, blonden Schopf. Das kehlige Brummen, das er dafür erntete, rang ihm ein Lächeln ab. Es klang beinahe wie Schnurren.

Mit geschickten Fingern flocht Jonas einen Zopf, dessen Ähnlichkeit mit Sophias ihn an den frisch vergangenen Abend erinnerte. Sein Piercing klickte leise gegen seine Zähne, als er sich auf die Lippe biss. „Sag mal … haben du und dein Cousin, ähm, Tobias, eigentlich jemals über die Sache zwischen euch gesprochen? Also den Streit? Das, was er da gesagt hat?“

„Nicht wirklich“, erwiderte Erik nach einigen Sekunden. „Wir sind uns eine Weile aus dem Weg gegangen und haben danach so getan, als wäre das nie passiert.“ Er drehte dem Kopf, um Jonas anzusehen. „Warum fragst du? Ist irgendetwas passiert?“

„Nee, nee. Das nich‘. Ich hatte bloß das Gefühl, dass, ähm …“ Jonas seufzte. „Ich glaub, er weiß nich‘ so recht, wie er mit dir umgehen soll. Ihr schleicht irgendwie so umeinander rum.“

„Das war nie wirklich anders.“

„Jaah, ja, vielleicht. Ich behaupte nich‘, nach bloß einem Abend mehr zu wissen als du, aber … Is‘ dir nich‘ aufgefallen, dass er allen gegenüber teilweise richtig unverschämt war, nur dir nich‘? Und zu mir war er auch echt nett. Er hat richtiggehend Kontakt gesucht, jedenfalls hat sich’s so angefühlt. Hat sich sogar erkundigt, ob’s dir gut geht. Ich glaub … Ich glaub, er würd’s gern wiedergutmachen und weiß nich‘ wie.“ Als Erik nicht antwortete, ließ Jonas von seinen Haaren ab, legte die Bürste zur Seite und widmete sich stattdessen seinen Schultern. Mit kreisenden Bewegungen massierte er die Verspannungen aus den Muskeln. „Ich mein, ich kann auch verstehen, wenn du noch sauer deshalb bist. Is‘ dein gutes Recht, war ‘ne Scheißaktion von ihm.“

„Ich bin nicht sauer“, erwiderte Erik. „War ich nie. Verletzt. Traurig, vielleicht. Aber nie wirklich wütend, weil ich durchaus verstehe, wo das herkam.“ Er küsste Jonas‘ Wange. „Aber ich habe tatsächlich nie darüber nachgedacht, wie es Tobias mit der ganzen Sache geht. Manchmal ist es sehr leicht zu übersehen, dass er nicht mehr der störrische Teenager von damals ist, sondern sich weiterentwickelt hat. Wahrscheinlich sollte ich wirklich mal in Ruhe mit ihm sprechen. Nur heute will ich eigentlich nicht mehr über meine Familie nachdenken.“ Eriks Lippen wanderten zu Jonas‘ Hals, seine Zunge kitzelte die empfindsame Stelle knapp unterhalb des Ohrläppchens. „Lass uns ins Bett gehen. Oder sowas ähnliches.“

 

Kapitel 40

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Kapitel 41

Was zuletzt geschah:

Alles hat ein Ende und so verlassen Erik und Jonas Stuttgart nach drei gleichermaßen schönen wie anstrengenden Tagen. Die Zeit dort hat ihnen eine Menge Anlässe gegeben über ihre Beziehung nachzudenken, aber sie finden nicht nur einen guten Weg, sich davon abzulenken, sondern sind sich auch überraschend einig, an welchem Punkt sie gerade stehen und wohin ihre gemeinsame Reise gehen soll.

 

Kapitel 41

Hektisch griff Jonas nach seinen Schlüsseln, wandte sich aber an Erik, bevor er die Haustür öffnete. „Okay, ich wiederhol’s ein letztes Mal, damit wir uns auch wirklich einig sin‘ und nich‘ irgendein Scheiß passiert: Ich hol jetzt Maria, Christine und Nick vom Bahnhof ab, begleite sie zum Hotel, damit sie sich erst mal ausruhen können und komm wieder in die Wohnung.“

„Soweit richtig.“

„Du gabelst in der Zeit deine Cousine auf und bringst sie direkt hierher.“

„Mhm.“

„Wenn sich alle ein wenig eingelebt haben, sammeln wir die drei anderen ein und gehen essen. Du verschwindest irgendwann in die Arbeit, der Rest lässt den Abend ausklingen und ich sorg dafür, dass Sophia wieder heil hierher kommt.“

„Das ist die Idee, ja.“

„Okay.“ Jonas schnaubte. „Dass die aber auch wirklich alle in derselben Woche auftauchen müssen. Als ob der August nicht lange genug dauern würde.“

Erik hob eine Braue.

„Jaah! Ich weiß! Es sin‘ meine Freunde, die sich eingebildet haben unbedingt zu dritt hierher fahren zu wollen!“

„Ich habe kein Wort gesagt.“

„Tu nich‘ s–“ Jonas‘ Antwort wurde vom Vibrieren seines Handys unterbrochen. Beim Anblick des Displays entkam ihm ein Geräusch zwischen Lachen und Würgen.

Eriks spöttischer Ausdruck verwandelte sich in Sorge. „Was ist los?“

„Hab ‘ne Nachricht von Clemens. Du weißt schon, mein ehemaliger Nachbar.“

„Weiß ich. Was will er?“

Vielleicht bildete sich Jonas das nur ein, aber seit er Erik von seiner Schwärmerei für Clemens und ihrer neuerlichen Versöhnung erzählt hatte, glaubte er, eine gewisse Eifersucht durchzuhören, wann immer dessen Name fiel. Ob das wirklich so war, würde er vermutlich bald herausfinden. „Der blöde Arsch hat echt beschlossen, nach Berlin zu kommen. Dieses Wochenende. Also heute. Fuck! Das darf doch nich‘ wahr sein!“

„Und?“

Und? Das heißt, dass ich jetzt noch jemanden hab, um den ich mich kümmern muss! Jemanden, der garantiert von mir erwartet, durchs Berliner Nachtleben geführt zu werden. Was ja nich‘ weiter schlimm is‘, aber so langsam weiß ich echt nimmer, wann ich eigentlich noch schlafen soll!“

„Lass es doch einfach bleiben. Er hatte genug Vorlauf, um sich anzukündigen. Sein Pech, wenn er das nicht für nötig befunden hat. Dann hast du diese Woche eben keine Zeit für ihn.“ Diese Erwiderung war für Erik so untypisch, dass sie eine ziemlich klare Antwort auf Jonas‘ Vermutung lieferte. Offensichtlich gefiel ihm der Gedanke an ein Treffen zwischen ihm und Clemens nicht im Geringsten.

Unbegründete Eifersucht war nicht gerade geeignet, Jonas‘ ohnehin schon belastete Nerven zu entspannen. „Is‘ das dein verfickter Ernst?“, fragte er. „Wir haben unsere Scheißfreundschaft gerade so gekittet, das setz ich garantiert nich‘ aufs Spiel, indem ich ihn ignoriere, wenn er extra nach Berlin kommt! Scheiße, erwartest du grad echt von mir, mich zwischen meinen Freunden zu entscheiden?“

Hätte Jonas Erik ohne Vorwarnung ins Gesicht gespuckt, er hätte kaum verletzter aussehen können. „Ich erwarte gar nichts von dir.“

„Dann is‘ das ja geklärt“, giftete Jonas. „Ich muss endlich los, bin eh schon verfickt spät dran!“ Die Türklinke bereits in der Hand, hielt er inne. Was war da gerade passiert? Ja, Eriks Reaktion war vielleicht nicht die Beste gewesen, andererseits hatte Jonas es nie für nötig befunden, ihm seine Ängste bezüglich Clemens zu nehmen. Jetzt einfach aus der Wohnung zu stürmen, würde die Sache garantiert nicht besser machen. Er atmete einmal tief durch und warf einen Blick über die Schulter. Erik stand im Gang – die Hände tief in die Hosentaschen vergraben, starrte er auf seine eigenen Füße.

Jonas unterdrückte ein Seufzen und überwand die wenigen Schritte, die sie trennten. Mit einer Hand an Eriks Wange, zwang er diesen, ihn anzusehen. „Sorry, ich wollt dich grad nich‘ so anpampen. Bin bloß gestresst. Wir sehen uns später, ja?“

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Erik es schaffte, sich ein Lächeln aufs Gesicht zu zwingen. „Ja.“

Gerne hätte Jonas noch mehr gesagt, aber es war keine Lüge, dass er schon viel zu spät dran war. Im Moment war einfach nicht die Zeit für ein klärendes Gespräch. Der Kuss, den er auf Eriks Lippen hauchte musste vorerst reichen. Mit mulmigen Gefühl machte er sich auf den Weg zum Bahnhof. Noch viel beschissener hätte das Wochenende kaum starten können.

 

Selbstverständlich war der Tag, an dem Jonas den Bahnhof gehetzt und verspätet erreichte auch der Tag, an dem die Bahn ausnahmsweise pünktlich war. „Sorry!“, rief er den drei am Bahnsteig wartenden Gestalten zu.  

Christine zog ihr Handy aus der Handtasche. „Okay, das waren dreiundzwanzig Minuten. Wer war am nächsten dran?“

„Ich hatte fünfundzwanzig getippt“, erwiderte Maria.

„Dann schulden wir dir wohl ein Bier.“

„Hey!“ Jonas zog eine Schnute. „Es is‘ eine Sache, still zu akzeptieren, dass ich’s nich‘ mit Pünktlichkeit hab; darauf zu wetten is‘ einfach fies!“

„Aww, armes Brüderchen! Komm her zu–“ Christine ließ ihre ausgestreckten Arme wieder sinken, betrachtete ihn stattdessen eingehend. „Hm.“

„Was?“

„Du … siehst anders aus. Und damit meine ich nicht bloß das Piercing und diese Narbe, die übrigens echt gruselig ist.“

Automatisch fuhr Jonas‘ Hand zu seiner Stirn, strich über raue Erhebung knapp unterhalb seines Haaransatzes. Die Platzwunde, die er von seinem Unfall davongetragen hatte war zwar gut verheilt, aber noch immer gerötet und deutlich sichtbar. „Herzlichen Dank“, brummte er. „Ich weiß auch, dass ich damit nich‘ grad ‘nen Schönheitspreis gewinn, aber–“

„So meinte ich das doch gar nicht!“, unterbrach Christine seine Selbstzweifel unwirsch. „Aber wenn ich mir die Narbe so anschaue, dann war dein Unfall um einiges heftiger als du uns gegenüber zugegeben hast.“

„Najaaa“, druckste Jonas. „So schlimm war’s echt nich‘. Und jetzt is‘ ja auch schon alles verheilt, also gibt’s keinen Grund, da noch lange drüber nachzudenken!“ Er drängte sich an seiner Schwester vorbei, um Maria in die Arme zu schließen. „Du hast mir gefehlt!“

Doch auch sie entzog sich der Begrüßung, ihr Blick nicht weniger kritisch als der seiner Schwester. „Du siehst wirklich anders aus.“

„Jetzt fang du nich‘ auch noch an …“

„Ich werde dir nicht erzählen, wie anders du aussiehst“, versprach Nick, der brav im Hintergrund gewartet hatte. „Was allerdings ehrlicherweise daran liegt, dass wir uns erst einmal gesehen haben.“

„Und genau deshalb hab ich dich von allen am meisten vermisst!“ Grinsend schüttelte Jonas Nicks ausgestreckte Hand. „Nee, ernsthaft, is‘ klasse, dass du mitgekommen bist.“

„Wir müssen ja die Zeit nutzen, die Christine noch im Lande verweilt.“ Nicks sanftes Lächeln konnte nicht über die Niedergeschlagenheit hinwegtäuschen, die einen Schatten über seine Mimik warf.

„Es ist doch nur ein Jahr“, murmelte Christine abwehrend. „Und wenn es finanziell drin ist, komme ich zwischendrin doch auch mal nach Hause.“

„Die meiste Zeit sitzt du trotzdem am anderen Ende er Welt.“

Jonas entschied, einzuschreiten, bevor Christines bevorstehendes Jahr in Australien zu einem Streitpunkt wurde, der sich die gesamte Woche durch die Gruppe zog. „Na kommt, ich geleite euch Landeier mal durch die große, böse Stadt, damit ihr im Hotel ‘n bissl Schlaf nachholen könnt. Zufällig weiß ich aus Erfahrung, wie scheißanstrengend die Zugfahrt hierher sein kann und ich hab keinen Bock, dass ihr mich heut Abend schon zu ‘ner Zeit sitzen lasst, zu der sogar Kleinkinder noch wach sin‘.“

„Warum ist Erik eigentlich nicht mitgekommen?“, fragte Maria beiläufig. „Immerhin sind wir auch hier, weil wir ihn mal kennenlernen wollten.“

Jonas schluckte die erste bissige Erwiderung, die ihm in den Sinn kam und antwortete stattdessen: „Er is‘ noch zuhause und improvisiert ein Gästezimmer für seine Cousine. Sie sucht grad ‘ne WG in Berlin und wohnt die Woche über bei uns.“

„Wieso ‚bei uns‘?“

„Hä?“

„Du hast gerade gesagt, seine Cousine würde ‚bei euch‘ wohnen. Wieso ‚euch‘ und nicht ‚ihm‘?“

„Oh. Ähm … Das hab ich wohl vergessen zu erwähnen.“ Nervös fuhr Jonas mit der Zunge über sein Lippenpiercing. „Wir, ähm, also … So irgendwie sin‘ wir vielleicht ‘n bissl zusammengezogen.“

„Was?“ Zwei entsetzte Stimmen aus weit aufgerissenen Mündern, lediglich Nick übte sich in vornehmer Zurückhaltung.

„Naja, ich bin doch eh nich‘ wirklich mit den Nachbarn zurechtgekommen.“ Jonas musste auf seine Formulierung achten, denn auch diese Situation hatte er seiner Familie gegenüber heruntergespielt. „Also hätte ich mir früher oder später eh ‘ne neue Wohnung suchen müssen und dann kam der Unfall, und, ähm, Erik hat angeboten, dass ich erst mal bei ihm bleiben könnte, bis es mir wieder etwas besser geht. Das hat dann richtig gut funktioniert, also dachten wir uns, dass wir’s ja auch gleich richtig durchziehen könnten. Was bisher echt scheißgut klappt!“

„Du hast deine alte Wohnung aber schon noch, oder?“, wollte Maria sofort wissen.

„Jaah, ja, die hab ich noch.“ Von ihr abgewandt murmelte er: „Bis zum Ende des Monats.“

„Jonas! Du kannst doch nicht nach nur ein paar Monaten deine Wohnung aufgeben! Was, wenn es nicht klappt?“

„Also ich finde das irgendwie romantisch.“

Stumm dankte Jonas seiner Schwester für die Unterstützung. „Ich weiß, dass es ‘n gewisses Risiko is‘“, räumte er ein. „Aber ich glaub, das isses wert. Manchmal muss man halt mutig sein.“

Maria verkniff sich jeden weiteren Kommentar, doch ihr Gesichtsausdruck machte auch so deutlich, was sie von seiner Entscheidung hielt, bis Jonas aller Wiedersehensfreude zum Trotz erleichtert war, als er das Grüppchen am Hotel abgesetzt und vorerst sich selbst überlassen hatte. Dass Maria ihm das Gefühl vermittelte, seinen Lebensstil einer gründlichen Prüfung auf Angemessenheit zu unterziehen, schmeckte ihm überhaupt nicht. Noch wollte er deshalb kein Fass aufmachen, aber die komplette Woche würde er diese Attitüde nicht ertragen.

Er sperrte die Wohnung auf und lauschte, hörte aber nichts. „Hallo-o? Jemand zuhause?“ Stille. Erik war wohl schon unterwegs, um Sophia vom Bahnhof abzuholen. Verschwitzt und überraschend erschöpft, nutzte Jonas die Gelegenheit und entledigte sich seiner Klamotten gleich im Schlafzimmer, bevor er die Dusche aufsuchte. Auf halbem Weg stoppte er, lief zurück zu dem großen Kleiderschrank, der inzwischen ebenso mit seinen wie mit Eriks Klamotten befüllt war und drehte eine der Türen um die eigene Achse, bis die mit einem mannshohen Spiegel überzogene Seite nach außen zeigte. Kritisch beäugte Jonas seinen nackten Körper. Hatte er sich wirklich so verändert?

Mit viel Wohlwollen konnte man bemerken, dass er sein Sportpensum ein wenig erhöht hatte. Einmal hatte er sich sogar an Eriks täglichen Yogaübungen beteiligt, nachdem er zum zweiten Mal kichernd umgefallen war jedoch entschieden, dass das einfach nicht sein Sport war. Seltsamerweise hatte auch Erik danach nie wieder vorgeschlagen, es doch mal zu versuchen und so begnügte sich Jonas inzwischen damit, im Türrahmen zu stehen und seinen Freund bei dessen Verrenkungen ausgiebig zu bespannen.

Dennoch hatten die regelmäßigen Wettschwimmen am See, Jonas‘ einsame Joggingrunden durch die Berliner Straßen und gelegentliche Basketballspiele mit ein paar Kommilitonen den Hauch einer Spur hinterlassen. Davon abgesehen war sein Körper jedoch so knochig wie immer, mit dünnen Armen und ungelenk aussehenden Storchenbeinchen. Oder? Wenn er sich etwas zur Seite neigte wirkte sein Po gleich viel–

Schwungvoll flog die Schlafzimmertür auf. Die Hände schützend vor seinen Intimbereich gepresst, starrte Jonas auf den unerwarteten Besucher. Erik guckte wiederum ebenso verdutzt zurück. „Ich bin allein“, sagte er schließlich. „War nur kurz einkaufen.“

„Oh. Okay.“ Jonas ließ die Hände sinken, sich seiner Nacktheit nur allzu bewusst.

„Und was treibst du so?“ Eine hochgezogene Augenbraue, ein wenig Argwohn in der Stimme.

„Ich wollte duschen!“, rechtfertigte Jonas sein Adamskostüm. „Es is‘ scheißheiß draußen!“

„Mhm.“

„Wirklich!“

„Mhm.“

Anstatt weiter zu streiten, widmete Jonas seine Aufmerksamkeit erneut seinem Spiegelbild. „Hab ich mich verändert?“

„Inwiefern?“

„Weiß ich auch nich‘ so genau … Aber Christine und Maria haben’s beide behauptet.“

„Hmm, lass mal sehen.“ Erik trat hinter Jonas, legte die Fingerspitzen an seine Schultern. „Du bist braungebrannt.“

„Das bin ich im Sommer immer. Geht schnell bei mir.“

„Deine Frisur ist ein wenig anders. Wilder.“ Sanft fuhr Erik durch die dichten Strähnen, die einen deutlichen Kontrast zu den kurzrasierten Seiten bildeten.

„Das allein kann’s auch kaum sein.“

„Du piekst, wenn ich dich küsse.“

„Weil du’s geil findest“, brummte Jonas, schmunzelte aber. Nachdem Erik zum sicher zwanzigsten Mal nach dem Aufwachen scheinbar beiläufig erwähnt hatte, wie heiß er Jonas mit ein paar Bartstoppeln fand, hatte dieser beschlossen, sie eben stehenzulassen. „Das Piercing isses auch nich‘, meinte Christine. Oder die Narbe.“

„Hmm, in Ordnung. Dann …“ Eriks Hände wanderten über Jonas‘ Nacken zwischen seine Schulterblätter, folgten dem Schwung seiner Wirbelsäule.

Überrascht quietschte Jonas auf, als ihm in den Hintern gekniffen wurde. „Hey!“

„Du stehst aufrechter.“

„Was?“

„Als wir uns kennengelernt haben, hast du mich oft angesehen wie ein Welpe, der sich nicht sicher ist, ob es gleich Lob oder Schläge hagelt. Versteh mich nicht falsch, das kann in der richtigen Situation wahnsinnig sexy sein, aber zumindest im Alltag gibst du dich jetzt anders.“

„Is‘ das wirklich so ein Unterschied?“

„Ja. Und zwar einer, der dir steht.“ Verlangend strichen Eriks Hände über Jonas‘ Seiten, seine Hüften, seinen Bauch.

„Wie viel Zeit hast du noch, bevor du Sophia abholen musst?“

Erik seufzte. „Nicht genug.“

Jonas drehte den Kopf, sah ihm in die Augen. „Is‘ zwischen uns wieder alles gut?“ Der fragende Ausdruck, mit dem Erik ihn bedachte, sprach dafür, dass ihre Auseinandersetzung für ihn schon wieder vergessen war. „Wegen Clemens …?“, gab Jonas vorsichtig das Stichwort.

„Ah. Ja. Ja, natürlich ist alles in Ordnung. Von meiner Seite aus zumindest.“

„Okay.“ So ganz wollte Jonas dem Frieden nicht trauen, aber wenn sie keine Zeit hatten, die frisch bezogenen Laken einzuweihen, dann erst recht nicht, um dieses Thema nochmal auf den Tisch zu bringen. Bei der Gelegenheit fiel ihm allerdings noch etwas anderes ein. „Ähm, bloß ein Vorschlag, aber wenn Sophia hierherkommt, wär’s vielleicht nich‘ schlecht, naja, ähm, die anderen Räume von Gleitmittel und Kondomen zu befreien? In der Küchenschublade is‘ noch was, das im Wohnzimmer is‘ eher unauffällig, aber die Schublade im Büro vielleicht, wenn sie da schon schläft?“

Mit jedem Wort hatten sich Eriks Ohren ein wenig dunkler gefärbt. „Ah, shit, du hast recht. Kannst du das übernehmen? Ich muss allmählich los.“

„Klar, kein Problem.“

„Danke.“

Eriks Lippen, die zunächst weich und liebevoll gewesen waren, wurden fordernder, ungeduldig schoss seine Zunge zwischen ihnen hervor, gab erst nach, als Jonas sie willig in seinen Mund ließ. „Wenn du mich jetzt nich‘ sofort loslässt und abhaust“, schnaufte Jonas kurz darauf, „musst du Sophia erklären, warum du mindestens eine Stunde zu spät kommst und ich glaub, ‚Mein Freund hat mich ans Bett gefesselt und halbtot geritten‘ kommt dabei nich‘ so gut an.“

„Verstanden.“ Noch ein Kuss, dieses Mal auf die Stirn und voller Zuneigung. „Bis später.“

Schwermütig seufzend sah Jonas seinem Freund nach. Mit Christine, Maria, Nick und Clemens in Berlin und Eriks Cousine sogar in der Wohnung, konnte das kaum das letzte Mal gewesen sein, dass sie um einen netten Nachmittagsquickie gebracht wurden.

 

 

Kapitel 42

Was zuletzt geschah:

Stress! Alle wollen nach Berlin und das am besten gleichzeitig. Jonas freut sich auf seine Freunde, aber dass sich nun auch noch Clemens angekündigt hat bringt ungeahnte Komplikationen, nicht nur für Jonas‘ Wochenendplanung, sondern auch seine Beziehung. Dummerweise bleibt weder Zeit, die Wogen durch ein Gespräch noch mittels einer etwas körperlicheren Art der Kommunikation zu glätten und so kann er nur hoffen, die kommenden Tage irgendwie ohne größere Schäden zu überstehen.

 

Kapitel 42

Gedankenverloren beobachtete Jonas Erik, der nun um dritten Mal ein und denselben Hemdknopf öffnete und schloss, weil ihm irgendetwas daran nicht passte.

„Das sin‘ meine besten Freunde. Die werden dich nich‘ fressen.“

Ertappt ließ Erik die Hände sinken, aber der Blick, den er Jonas über den Spiegel zuwarf wirkte nicht im Geringsten ermutigt. „Du hast es gerade selbst gesagt. Das sind deine besten Freunde. Natürlich bin ich da nervös.“

„Jaah, versteh ich ja. Aber ehrlich, du könntest da nackt antanzen und … okay, Maria fänd’s beschissen, aber Maria findet am Anfang alles beschissen. Aber ehrlich, es is‘ absolut unmöglich, dass sie dich nich‘ mögen. Du hast doch sogar schon mit Christine gequatscht, ihr kennt euch also eigentlich sogar schon.“ Jonas schloss Erik in die Arme, fühlte das ruhelose Zucken seiner Muskeln, wie das einer Antilopenherde, die ein Löwenrudel wittert. „Lass uns einfach Spaß haben, ja? Meine Freunde sin‘ hier, Sophia is‘ hier, wir sin‘ hier. Die Voraussetzungen für ‘nen klasse Abend sind quasi perfekt.“

„Du hast ja recht.“ Dennoch seufzte Erik, folgte mit den Fingerspitzen dem Saum seiner Hemdsärmel.

Jonas überlegte, ihm zu versichern, sie ruhig hochkrempeln zu können, entschied jedoch gleich darauf, dass das nicht seine Angelegenheit war. Das Letzte, was er wollte, war noch mehr Druck auf Erik auszuüben. „Na komm. Packen wir’s.“

Sophia wartete in der Küche, die Hände im Schoß gefaltet, ihr geflochtenes Haar in der Nachmittagssonne glänzend, doch die Ruhe täuschte offensichtlich. Die Stelle ihrer Lippe, die dem beständigen Druck ihrer Zähne ausgesetzt war, war rot und geschwollen. „Seid ihr sicher, dass ihr mich dabeihaben wollt?“

Erwartungsgemäß erschien die schmale Falte zwischen Eriks Brauen. „Selbstverständlich wollen wir das. Was bringt dich auf den Gedanken, dass das nicht so ist?“

Zur Antwort zuckte Sophia mit den Schultern. „Ich will nur nicht stören. Jonas hat seine Freunde doch schon ewig nicht mehr gesehen. Ist es nicht schräg, wenn da jemand völlig fremdes dabeisitzt?“

Jonas musste nicht auf Eriks auffordernden Blick warten, um zu wissen, dass nun er an der Reihe war, Sophias Sorgen zu zerstreuen. „Nee, da brauchst du dir ja mal echt gar keine Gedanken zu machen. Die kommen alle aus ‘nem winzigen Dorf und sind froh, mal Leute kennenzulernen, mit denen sie nich‘ verwandt sind.“ Das erhoffte Lächeln fiel gequälter aus als ihm lieb war. „Ernsthaft jetzt, wir sind sicher keine geschlossene Gesellschaft. Wär cool, wenn du mitkommst.“ Auf gut Glück ergänzte er: „Meine Schwester denkt übrigens drüber nach nächstes Jahr Psychologie zu studieren. Die freut sich bestimmt, wenn sie jemanden hat, mit dem sie drüber quatschen kann.“

Wenigstens das zeigte Wirkung. Kaum merklich straffte Sophia ihre Schultern. „Dann müsst ihr aber noch zwei Minuten warten, ich muss total dringend pinkeln!“

Sobald sie außer Hörweite war, lehnte sich Erik zu Jonas. „Hm, irgendwie höre ich heute zum ersten Mal von Christines Interesse an Psychologie.“

Jetzt war es an Jonas, mit den Schultern zu zucken. „Nachdem sie inzwischen ungefähr alles mal studieren wollte, is‘ das sicher auch dabei.“

 

Jonas tat sein Bestes, gegen die aufsteigende Nervosität anzukämpfen. Es genügte, dass seine beiden Begleiter aussahen als ob sie lieber woanders wären, da musste er sich nicht noch anschließen, zumal es keinerlei Grund dafür gab. Naja, fast keinen. Christine und Nick würden Erik zweifellos in ihrem Kreis willkommen heißen, aber Maria war eine andere Geschichte. Bei ihr konnte Jonas nur auf einen letzten Rest Manieren hoffen, der sie von einem Kreuzverhör abhielt.

Letztlich musste er sich aber eingestehen, dass das nicht der einzige, vermutlich nicht einmal der Hauptgrund für seine Aufregung war. In wenigen Minuten würden seine besten Freunde Erik kennenlernen. Seinen Partner. Einen Mann.

Es war eine Sache gewesen, mit ihnen über seine Homosexualität zu sprechen und schwer genug noch dazu. Zuzugeben, eine gleichgeschlechtliche Beziehung zu führen eine andere und ihnen den Mann an seiner Seite offiziell vorzustellen noch einmal eine dritte. Irgendwie machte es die Sache plötzlich erschreckend greifbar; ihre Beziehung existierte dann nicht länger ausschließlich in seiner kleinen Berliner Parallelwelt, sondern schwappte in die Realität seiner Freunde und Familie.

All diese Zweifel verpufften, als er das kleine Grüppchen vor dem Restaurant entdeckte. Einem nach dem anderen fiel er in die Arme, genoss die Wärme und Geborgenheit, das Kitzeln von Marias Locken, Christines knochenbrechenden Enthusiasmus. Nachdem er diesen Teil seiner Heimat ausreichend gewürdigt hatte, drehte er sich um und lenkte die Aufmerksamkeit auf seine Begleiter. „Darf ich euch Sophia vorstellen? Und das“, beherzt schob er seinen Freund ein Stück nach vorne, „is‘ Erik.“

Hände wurden geschüttelt, Christine und Erik ließen sich sogar zu einer Umarmung hinreißen. Letzterer zeigte während der gesamten Prozedur jenes charmante Lächeln, das Herzen zu pulsierenden Klumpen schmolz und perfekt über die darunterliegende Unsicherheit hinwegtäuschte. „Gehen wir rein, bevor sie unseren Tisch weggeben.“

Wohlwissend, wo ihre jeweiligen Stärken und Schwächen lagen, hatte Jonas Erik den Großteil der Organisation überlassen. Pflichtschuldig hatte dieser ein Restaurant ausgesucht, das sowohl vom Hotel als auch ihrer Wohnung aus einfach zu erreichen war und auf seinen Namen einen hübschen Tisch am Fenster reserviert – abgeschieden genug, um sich in Ruhe unterhalten zu können, aber nicht so abseits, dass man Gefahr lief, von den Servicekräften übersehen zu werden.

„Ich verhungere gleich“, jammerte Christine. „Gott, hoffentlich haben die hier mehr vegetarische Gerichte zur Auswahl als ‚Salat mit Putenbrust ohne Putenbrust‘ und Desserts.“

„Haben sie“, versprach Erik.

„Warst du schon mal hier?“

„So vor zwei Jahren regelmäßig.“

Jonas sah sich um. Das Restaurant war nicht besonders groß und unauffällig eingerichtet. Kantig geschnittene Tische aus dunklem Holz verteilten sich im ganzen Raum, gegenüber der Eingangstür wartete ein kleiner Barbereich, der dazu einlud, das Essen nahtlos in einen Cocktailabend übergehen zu lassen. „Warum waren wir noch nie hier?“, fragte er.

„Ah, ich schätze, das hat sich einfach nicht ergeben? Ich kenne das Lokal auch nur, weil sich eine meiner Lerngruppen in der Nähe getroffen hat und wir danach oft hierher weitergezogen sind. Ist das erste Mal, dass ich wieder da bin, seit sich die Gruppe aufgelöst hat.“

„Du hast einen Bachelor in BWL, richtig?“ Dafür, dass Maria regelmäßig über Menschen schimpfte, die ihre Vorurteile pflegten, ohne sie gelegentlich zu hinterfragen, brachte sie Wirtschaftswissenschaftlern eine erschreckend pauschale Verachtung entgegen.

„Das stimmt“, erwiderte Erik ruhig.

„Und machst das jetzt auch im Master?“

„Mhm.“

„In Teilzeit.“

„Mhm.“

„Während du Vollzeit arbeitest.“

„Mhm.“

„Hast du da überhaupt noch Zeit für was anderes? Eine Beziehung zum Beispiel?“

Hätte Maria nicht am anderen Ende des Tisches gesessen, Jonas hätte sie getreten. So fürchtete er, die ahnungslose Sophia zu treffen, die schüchtern erste Kontakte mit Nick und Christine knüpfte.

„Es ist schwierig“, antwortete Erik erstaunlich ehrlich. Sein Blick wanderte zu Jonas, transportierte eine eigenartige Mischung aus Bitterkeit und Hoffnung. „Deshalb werde ich auch ein wenig länger studieren als ursprünglich geplant.“

„Was?“

Jonas‘ Überraschung entlockte Erik ein Lächeln. „Eigentlich wollte ich dir das erst zum neuen Semester erzählen, aber ja, ab September werde ich ein paar Veranstaltungen weniger belegen. Die Entscheidung war überfällig. Im Moment jongliere ich zwischen allen Verpflichtungen und jede einzelne kommt zu kurz. Du kommst zu kurz. Also muss ich das ändern.“

Jonas dachte an Eriks gerade erst zurückliegende Prüfungen. Daran, wie er sich in den zwei Wochen davor – sie waren frisch von ihrem Stuttgart-Trip zurückgekommen – stundenlang im Büro verbarrikadiert hatte und nur herausgekommen war, um Arbeiten zu gehen. Er hatte sich redlich Mühe gegeben, seine mehr als unterirdische Laune nicht an Jonas auszulassen, aber dieser war damals dennoch nur auf Zehenspitzen durch die Wohnung gehuscht. So egoistisch es sein mochte, Jonas war froh über Eriks Entscheidung, ein wenig kürzer zu treten. Unter dem Tisch tastete er nach seiner Hand. Sie war kalt, aber ihre verkrampften Finger entspannten sich rasch unter der Berührung.

„Wenn du so viel zu tun hast, ist es sicher praktisch, jetzt jemanden in der Wohnung zu haben, der gerne kocht und halbwegs Ordnung halten kann.“

Mit aller Mühe schluckte Jonas eine scharfe Zurechtweisung herunter. Diese Bemerkung war so sehr an den Haaren herbeigezogen, dass sich das dahinterliegende Motiv klar und deutlich zeigte. Maria versuchte, Erik aus der Reserve zu locken und Zorn würde sie nur bestätigen. Das verlangte nach einer anderen Taktik.

Jonas spitze die Lippen, in der besten Imitation eines Schmollmunds, zu der er fähig war „Aber Maria … Zum Ausgleich kauft Erik mir doch sooo viele schöne Sachen! Weißt du, ich dacht, ich könnt auch einfach mein Studium schmeißen und lieber an meinen Hausmannqualitäten arbeiten. Mich um mein Äußeres kümmern, dafür sorgen, dass immer genug kaltes Bier im Kühlschrank is‘, solche Sachen halt.“

Die Falte zwischen Marias Brauen erschien, dieselbe, die auch Erik zeigte, wenn ihn etwas störte. Im Gegensatz zu ihrer, blieb seine Stirn allerdings unbewegt, seine mit Jonas‘ verschlungenen Finger locker. Das aalglatte Lächeln, das unvermittelt auf sein Gesicht trat wollte Jonas allerdings nicht so recht gefallen.  

Verschwörerisch beugte sich Erik über den Tisch zu Maria. „Du hast da schon recht“, raunte er in seinem weichen Timbre, das Jonas auch nach Monaten noch Gänsehaut bescherte. Geschmeidiger Samt über hartem Fels. „Es ist umwerfend, den Kleinen als persönliche Haushaltshilfe in der Wohnung zu halten. Am Anfang musste ich ihn natürlich ein wenig erziehen und an seiner Disziplin müssen wir auch noch etwas feilen, aber das Hausmädchenkostüm sieht an ihm einfach so umwerfend aus, das macht alle anderen Defizite beinahe völlig wett.“

Erik!“ Jonas‘ entgeisterter Aufschrei ging im Gelächter seiner Schwester unter. „Hättest du nich‘ wenigstens bis zum Nachtisch warten können, bevor du sowas verrätst?“

„Entschuldige.“ Erik sah nicht im Geringsten aus als täte es ihm leid. „Ich wollte Marias Fragen nur so ehrlich wie möglich beantworten.“

„Also ich glaube dir die ja Geschichte erst, wenn ich das Kostüm sehe“. Christines Worte wurden immer wieder von ihrem eigenen Kichern unterbrochen. „Vorzugsweise, während Jonas es trägt.“

Dieser brachte seine Scham ausreichend unter Kontrolle, um unbeeindruckt mit der Schulter zu zucken. „Sorry, den Anblick gibt’s bloß im Tausch gegen Kost und Logis.“ Er wandte sich an Erik. „Aber das ‚Kleiner‘ verbitte ich mir. So viel Respekt muss dann doch sein!“

„Obwohl es wahr ist?“ Mit Daumen und Zeigefinger deutete Erik die fünf Zentimeter an, die die beiden voneinander trennten. Sein Lächeln wandelte sich vom berechnenden Zähnefletschen eines Finanzhais zu diesem spitzbübischen Schuljungengrinsen, das Jonas inzwischen so gut kannte.

„Gott, ich hoffe wirklich, ihr redet über eure Körpergröße. Andernfalls erfahre ich gerade mehr über meinen Cousin, als ich jemals wissen wollte.“ Sophia verbarg ihr gerötetes Gesicht hinter ihren Händen, aber es war offensichtlich, dass sie sich ausgezeichnet amüsierte.

„Ich schließe mich dem Wunsch nach einem Themenwechsel an.“

Für diesen Affront erntete Nick einen Ellenbogenstoß von Christine. „Also ich finde das alles sehr spannend!“

Als hätte er ihrem Gespräch gelauscht, nutzte der schnuckelige Kellner, der sie schon zum Tisch geführt hatte die kurze Pause, um ihre Bestellungen aufzunehmen. Ein Vorhaben, das sich ein wenig zog, weil bisher keiner die Muße gefunden hatte, einen Blick in die Karte zu werfen.

„Und?“, erkundigte sich Erik bei Christine, nachdem alle es irgendwie geschafft hatten, ein Gericht zu wählen. „Genug Auswahl?“

„Absolut. Wenn das hier überall so ist, mach ich’s meinem Bruderherz nach und zieh zum Studium auch hierher.“

„Von Australien nach Berlin. Da habe ich mir ja eine echte Weltenbummlerin gesucht.“

Jonas konnte nicht genau abschätzen, wie viel Frust sich hinter Nicks Worten verbarg, aber Christine schien keinen Grund zu sehen, sie übermäßig ernst zu nehmen.

„Pff, dich nehme ich dann natürlich mit.“

Nick öffnete den Mund für eine Erwiderung, entschied sich aber auf halbem Weg für ein Lächeln, das seine Augen nicht erreichte.

Fieberhaft suchte Jonas nach einem neuen Thema. Letztendlich kam ihm Maria zuvor. Noch immer war ich Blick unbarmherzig auf Erik gerichtet, der das gelassen erwiderte. „Jonas hat erzählt, du hast eine Drei-Zimmer-Wohnung. Ganz schön groß für einen allein. Schon vorher mal mit jemandem zusammengewohnt?“

An dieser Stelle zögerte Erik und für Jonas war der Punkt erreicht, an dem er einschreiten würde, wenn Maria weiterbohrte. Vermutlich spukte die Wohngruppe, in die Erik nach dem Tod seiner Eltern gezogen war in dessen Kopf herum und das war ganz sicher nichts, das er einer Beichte gleich vor Maria ausbreiten musste. Aber Jonas war zu langsam und Erik antwortete, bevor er ihm zur Seite springen konnte. „Ein paar Monate in einer WG.“

„In Berlin?“

„Nein. Stuttgart.“

„WG. Keine Partnerschaft?“

„Nein.“

„Also hast du noch nie mit einem Partner zusammengelebt?“

„Nein.“

„Hattest du überhaupt schon mal eine feste Beziehung?“

„Ist lange her, aber ja. Wir sind bis heute befreundet.“

Jonas konnte Erik kaum verdenken, dass er die Monate mit seinem ersten Freund – so man diesen denn überhaupt so nennen wollte – unter den Tisch fallen ließ.

„Warum ist es auseinandergegangen?“

„Maria“, knurrte Jonas zwischen zusammengebissenen Zähnen. „Das reicht jetzt wirklich. Wir sind hier doch nich‘ bei Gericht. Was denkst du, w–“ Überrascht blickte er zu Erik, als dieser seine Hand drückte.

Erste Spuren der Furche zwischen seinen Brauen zeigten sich, aber auf seinen Lippen lag noch immer ein geduldiges Lächeln. „Verschiedene Gründe.“ Zunächst sah er aus, als wollte er noch mehr sagen, trank stattdessen jedoch einen Schluck seines Eistees.

Jonas ahnte weshalb. Nach allem, was Erik ihm erzählt hatte, hatte es zwischen ihm und Marco zwar bereits zuvor gekriselt, aber letztlich war es der Umzug nach Berlin gewesen, der ihrer Beziehung den Todesstoß versetzt hatte. Hinsichtlich Christines und Nicks derzeitiger Situation, war es vermutlich nicht die beste Idee, jetzt von einer gescheiterten Fernbeziehung zu erzählen. Mal abgesehen davon, dass das generell nicht unbedingt ein Thema war, über das man gerne mit Menschen sprach, die man eben erst kennengelernt hatte.

Glücklicherweise schien auch Maria zu erkennen, dass sie kurz davor stand, eine sehr feine Grenze zu überschreiten. Sie atmete hörbar aus, blieb ab da jedoch still.

Ein wenig enttäuscht blickte Jonas in die Runde. So viele tolle Menschen waren an diesem Tisch versammelt und dennoch war die Stimmung gedrückt. Erstickt von unausgesprochenen Konflikten und Ängsten; sei es zwischen Christine und Nick, Erik und Maria oder ihr und ihm selbst. Mittendrin saß Sophia und hatte offensichtlich nicht die geringste Ahnung, wie sie sich verhalten sollte.

Dieses Mal war es Erik, der Maria ansprach. „Mir wird gerade klar, dass Jonas mir nie erzählt hat, wie ihr euch überhaupt kennengelernt habt.“ Was nicht ganz stimmte. Entweder, der Mann hatte ein Gedächtnis wie ein Sieb, oder er wollte einfach nur das Thema wechseln.

„Schule.“ Das war selbst für Marias Verhältnisse wortkarg.

Eigentlich“, sagte Christine in einem Versuch, die Situation zu retten, „war Maria ja zuerst meine Freundin, bevor mein werter Bruder sie mir weggeschnappt hat.“

„Kann ich nix für, dass ich so viel mehr zu bieten hab.“

Christine streckte ihm die Zunge raus. „Du meinst, dass du mehr Nachhilfebedarf hattest.“

„Okay, ja, das auch“, räumte Jonas ein. „Nee, aber Christine hat schon recht, eigentlich hab ich Maria durch sie kennengelernt. Jedenfalls so ‘n bisschen. Sie war halt ‘n paar Mal bei uns zuhause, während ich auch da war. Wir hatten bis dahin aber nie viel miteinander zu tun. Immerhin war ich schon richtig erwachsen und ihr bloß kleine Kinder.“

„Gott, ja, jetzt erinnere ich mich wieder, wie kacke du als Kind zu mir warst.“

„Teenager“, verbesserte Jonas mit erhobenem Zeigefinger. „Ich war ein voll erwachsener Teenager.“

Christine verdrehte die Augen. „Ja, klar doch.“ 

„Jedenfalls musste ich ja die achte Klasse wiederholen und jetzt rate, mit wem sie mich zusammengesteckt haben?“

„Ich habe eine Vermutung“, erwiderte Erik und sogar Maria konnte nichts gegen das Lächeln unternehmen, das sich auf ihr Gesicht stahl.

„Jonas hat sich einfach neben mich gesetzt“, erzählte sie. „Er hat es nicht einmal für nötig befunden, zu fragen, ob das in Ordnung für mich ist.“

„Du hättest schon was gesagt, wenn’s so gewesen wär.“

„Ich habe etwas gesagt.“

„Japp und das war echt unhöflich.“

„Offenbar nicht unhöflich genug“, motzte Maria, aber der Ton, den sie dabei anschlug klang völlig anders als noch wenige Minuten zuvor.

„Naja, am Ende hast sogar du eingesehen, dass wir ‘n ziemlich geiles Team abgeben.“

„Zähneknirschend.“ Maria seufzte. „Was plant ihr jetzt eigentlich für euren Geburtstag?“

Das frage ich mich allerdings auch.“ Christine warf einen Seitenblick zu Jonas. „Bisher war mein Bruderherz immer viel zu cool, um mit seiner kleinen Schwester zu feiern und kaum springt er mal über seinen Schatten, schweigt er sich über die Details aus.“

„Weil ich noch keine hab“, erwiderte Jonas schlicht. „Dacht, wir könnten was essen gehen und danach in irgend‘nen Club. Sowas halt.“

Sowas halt?“, fragte Sophia, zur Überraschung aller, laut und entsetzt. „Du bist in Berlin und das Beste, was dir einfällt ist ‚Essen und Club und sowas halt‘?“

Jonas grinste. „Ich lass gern wen anders die Planung übernehmen.“

Erstaunlicherweise war es Nick, der auf dieses Angebot ansprang. „Abgemacht. Du und Christine überlasst einfach alles uns. Ohne Wenn und Aber.“

Nach einem stummen Blickwechsel nickten die Geschwister unisono. „Einverstanden.“

Ab da verlief das Essen in ruhigeren Bahnen. Die Themen wurden lockerer, die Gesichter entspannter und das Gelächter mehrte sich, bis Erik mit einem Blick auf die Uhr aufstand. „Ich fürchte, ich muss mich auf den Weg in die Arbeit machen.“

„Schon?“, fragte Nick enttäuscht. Er und Erik hatten sich – und Jonas konnte nicht fassen, dass das an einem öffentlichen Ort stattgefunden hatte – ausführlich über ihre, angeblich ehemalige, Pokémonkartensammlung unterhalten.

„Leider, ja. Aber wir sehen uns ja sicher bald wieder.“

Nacheinander schloss jeder Erik zum Abschied in die Arme, lediglich Maria reichte ihm kühl die Hand.

„Bis später“, flüsterte Jonas, wollte seinen Freund so sehr küssen, traute sich im vollen Restaurant jedoch nicht.

„Habt noch einen schönen Abend.“ Mit einem letzten Winken in ihre Richtung, verschwand Erik ins Freie.

 

Gesellige Runden sind wie Dominosteine. Ihre Mitglieder stehen aufrecht, bis der erste kippt.

Kurz nachdem Erik gegangen war, verkündete Maria, dass sie zurück ins Hotel wolle, Nick und Christine schlossen sich ihr gähnend an und am Ende standen Jonas und Sophia nicht einmal eine Stunde nach Eriks Abschied in ihrer Wohnung.

„Willst du ‘nen Film gucken, oder so?“, bot er an, unsicher, wie er mit seinem Gast umgehen sollte.

„Danke, aber ich glaube, ich werde mich auch ein wenig hinlegen. War ein langer Tag.“

„Versteh ich. Dann sehen wir uns wohl morgen. Brauchst du noch was?“

Sophia schüttelte den Kopf, überlegte einen Augenblick und schüttelte ihn dann nochmal. „Ich denke, ich habe alles. Gute Nacht.“

„Nacht.“

Unruhig rutschte Jonas auf der Couch herum. Nichts, was Netflix zu bieten hatte lachte ihn an, die Gedanken in seinem Kopf wirbelten umher, nahmen ihm jede Konzentration. Seufzend stand er wieder auf, schlüpfte in seine Sportklamotten und schrieb eine kurze Nachricht an Sophia auf die Kreidetafel in der Küche, damit sie wusste, wo er steckte.

Die Luft war drückend, der fahle Mond versteckte sich hinter in der Dunkelheit kaum auszumachenden Wolkenbergen. Keine idealen Bedingungen, dennoch war Jonas gut eine Stunde unterwegs, bevor er das Gefühl hatte, wieder halbwegs klar denken zu können. Sein Körper klagte, aber sein Geist war erleichtert. Um gleichmäßige Atmung bemüht, schlich er sich an der Bürotür vorbei, hinter der Sophia vermutlich die Anstrengungen des Tages wegschlief, schloss leise die Schlafzimmertür hinter sich und warf einen Blick auf sein Handy.

 

Clemens, 22:03 Uhr

hey!!!!!

 

Clemens, 22:04 Uhr

kumpels und ich gehen jetzt berlin unsicher machen!!!!

 

Clemens, 22:05 Uhr

kommst du mit?????

 

Clemens, 22:44 Uhr

komm schon!!!! is voll geil hier!!!!

 

Ein zartes Lächeln stahl sich auf Jonas‘ Gesicht. Es tat gut zu wissen, dass Clemens weiterhin Zeit mit ihm verbringen wollte. Es tat gut, keine Angst mehr haben zu müssen, dass er herausfinden könnte, was wirklich in Jonas vorging. Es tat gut, nicht länger fürchten zu müssen, für seine Gefühle verdammt zu werden. Wenn da nur nicht …

Die Antwort schon halb getippt, löschte Jonas sie wieder und wählte stattdessen Eriks Nummer. Zu seiner Überraschung, ging dieser schon nach dem zweiten Klingeln ran. „Hey.“

„Hi! Langweilst du dich in der Arbeit?“

„Geht so. Ich habe eher zufällig auf mein Handy gesehen.“

„Klar, red dir das ruhig ein. Eigentlich wissen wir beide, dass du mich vermisst.“

„Das auch. Ist zuhause alles in Ordnung?“

„Japp, alles super. Sophia schläft. Oder is‘ zumindest in ihrem Zimmer verschwunden. Ich bin grad vom Joggen zurück.“

„Dann vermisst du mich wohl noch etwas mehr als ich dich, wenn du mich extra anrufst“, erwiderte Erik und Jonas schwor, ein süffisantes Grinsen herauszuhören.

„Ähm, ja, natürlich. Das auch. Aber eigentlich … Also …“

„Ja?“

„Clemens is‘ mit seinen Freunden unterwegs und hat gefragt, ob ich nich‘ auch dazukommen will und, ähm, ich hätte eigentlich schon echt Bock drauf.“

Ein minimales Zögern. Dann: „Was hält dich auf?“

„Is‘ das okay für dich?“, hakte Jonas nach.

„Du musst mich doch nicht fragen, ob du mit deinen Freunden weggehen kannst.“

„Ja, das weiß ich auch.“ Ungeduldig lief Jonas im Schlafzimmer auf und ab, bemüht, leise zu sprechen. „Aber, ähm, ich hatte irgendwie das Gefühl, dass du ‘n bissl angespannt bist, wann immer ich Clemens erwähn, deshalb wollt ich das einfach vorab mit dir klären.“

Erik seufzte, im Hintergrund knarzte ein Stuhl und eine Tür schloss sich. „Das ist sehr lieb von dir, aber wirklich nicht nötig. Geh mit und hab einen schönen Abend.“

„Ja, aber wie soll ich bitte einen schönen Abend haben, wenn ich mich dauernd frag, ob das jetzt wirklich okay für dich is‘?“

„Es ist in Ordnung!“ Das Lächeln war lange aus Eriks Stimme verschwunden und auch das bemühte Verständnis flackerte allmählich. „Ich … In Ordnung, ja, ich fühle mich unwohl bei dem Gedanken, dass du etwas mit Clemens unternimmst.“

Da war es. Endlich lagen die Karten auf dem Tisch. „Warum?“

„Weil ich …“, der nächste Teil des Satzes kam so leise und schnell, dass Jonas ihn nicht verstanden hätte, hätte er dessen Inhalt nicht ohnehin schon erahnt, „eifersüchtig bin.“

„Du weißt aber schon, dass Clemens so hetero is‘, wie man irgendwie sein kann, oder? Ich weiß wovon ich red, immerhin hab ich Jahre drauf verschwendet, nach Signalen zu suchen, dass das nich‘ so is‘.“ Jonas wurde klar, dass diese Aussage bei seinem Versuch, Erik zu beruhigen vielleicht ein wenig kontraproduktiv war. „Und selbst diese Phase ist lange vorbei. Sogar, wenn er sich plötzlich umentschieden hätte und mir seine ewige Liebe gestehen würd, würd ich nich‘ drauf eingehen.“

„Das macht für mich aber keinen Unterschied.“ Wieder seufzte Erik. „Das ist nichts Rationales, verstehst du? Du könntest dich neunundneunzig Prozent des Tages in unserer Wohnung einsperren und mein Gehirn würde trotzdem Wege finden, mir die hässlichsten Szenarien vorzuspielen.“

„Oh.“

„Das ist nicht deine Schuld!“, beschwor Erik. „Bitte glaub mir, wenn ich dir das sage. Du hast nichts falsch gemacht, mir nie einen Grund für diese Eifersucht gegeben. Ich neige einfach zu Verlustängsten. Aber das ist mein Problem, nicht deins und ich bin auch derjenige, der lernen muss, damit umzugehen. Nicht du. Also bitte, triff dich mit deinen Freunden und hab ein bisschen Spaß, ja?“

„Sicher?“

„Absolut!“

Jonas biss sich auf die Lippe, das Piercing klickte gegen seine Zähne. „Okay. Ich lass es auch nich‘ zu spät werden.“

„Komm nach Hause, wann immer du möchtest.“

„Nee, das passt schon. Hatte ja auch ‘nen langen Tag, aber so ein oder zwei Bier wären schon nett. Bin aber bestimmt zurück, bevor du nach Hause kommst!“

„Dann sehen wir uns später.“

„Japp! Und Erik … Ich liebe dich.“

„Ich liebe dich auch.“ Das Lächeln war in Eriks Stimme zurückgekehrt.

Kapitel 43

Was zuletzt geschah:

Jonas‘ bayerisches Sozialleben hat beschlossen nach Berlin zu kommen und eigentlich sollte ihn das glücklich machen. Eigentlich. Dummerweise kollidieren einige der Elemente wiederholt und schwerwiegend miteinander. Nick und Christine stehen am Rande einer handfesten Beziehungskrise, Maria gibt sich alle Mühe Erik ans Bein zu pinkeln und Clemens‘ Wunsch nach einem spätabendlichen Saufgelage trägt ebenfalls nicht unbedingt zur Entspannung der Lage bei. Dennoch sagt Jonas zu.

 

Kapitel 43

Jonas blinzelte, versuchte, seine Augen an das gedimmte Licht zu gewöhnen. Die Bar war größer als er angenommen hatte, der Lärmpegel beträchtlich. Menschen brüllten sich lallende Halbsätze zu, Gläser klirrten, Füße scharrten und irgendwo inmitten dieses Chaos saßen Clemens und seine Freunde.

Suchend ließ Jonas seinen Blick schweifen, war kurz davor, sein Handy zu zücken und anzurufen, als er den wilden Haarschopf erspähte, nach dem er Ausschau gehalten hatte. Er drängte sich an den besetzten Tischen vorbei und schaffte es dabei sogar, einen kleinen Abstecher zur Bar zu machen, um sich ein Bier zu organisieren, bevor er sich der kleinen Gruppe näherte. „Hier versteckt ihr euch.“

„Jonas!“ Begeistert breitete Clemens die Arme aus. Das halbleere Glas, das vor ihm stand war definitiv nicht sein erstes.

Jonas grinste. „Hi. Lange nich‘ gesehen.“

„Leute, das“, Clemens deutete auf ihn, „ist Jonas. Der Junge, der mit vierzehn den Kopf hingehalten und einen Monat Stubenarrest kassiert hat, obwohl ich derjenige war, der seinen Alten das Bier aus dem Kühlschrank gemopst hatte.“

„Ein echter Held!“, rief einer von Clemens‘ Freunden.

„Setz dich“, sagte ein anderer. Er rutschte ein Stück näher an seinen Nebenmann, um Platz für Jonas zu machen. „Ich bin übrigens Dimitrij, Dimi reicht aber.“ Dimi hatte das klassisch pausbäckige Gesicht eines Jungen von nebenan, der beim Kauf von Alkohol und Kippen vermutlich bis weit in seine Zwanziger seinen Ausweis würde zücken müssen. Jonas erfuhr, dass er Soziale Arbeit studierte und Clemens aus dem Wohnheim kannte. Andreas, ein Mann Mitte zwanzig mit schmalen Schultern und breitem Lächeln und Christoph, der das genaue Gegenteil zu sein schien studierten zusammen mit Clemens Sportwissenschaft. Der Alkohol half, anfängliche Hemmungen abzubauen und bald war Jonas ein ganz natürlicher Teil der Gruppe.

„So“, verschwörerisch beugte sich Christoph vor, „Jonas als fast Einheimischer hier weiß doch bestimmt, wo man um die Zeit die schärfsten Mädels aufreißen kann.“

Japp, scharfe Mädels waren definitiv Jonas‘ Fachgebiet. Das war ja wirklich ein exzellenter Start in den Abend. „Ähm, naja, ich kenn natürlich schon ‘n paar Clubs hier, aber die hab ich eher wegen der Musik ausgesucht, nich‘ wegen der Mädels. Also fremder. Die Mädels, mit denen ich da war hatten schon Mitspracherecht.“ Wie sein Leben jetzt wohl aussähe, wenn Larissa ihn damals nicht ins Tix geschliffen hätte?

Christoph winkte ab. „Irgendein Club ist gut genug, solange man da echte Frauen trifft und nicht“, sein Blick ging zu Clemens, „Zwei-Meter-Transen mit Adamsapfel, Fake-Möpsen und abgeklebtem Schwanz zwischen den Beinen.“

„Ja, ja, tut mir leid“, murrte Clemens. „Konnte ich ja nicht wissen, was das für ein Laden ist. Die Musik war gut. Und dass erstmal mehr Typen als Frauen da sind, ist jetzt auch nicht so ungewöhnlich.“

Dimi brach in Gelächter aus. „Also ich fand das eine spannende Erfahrung. Eigentlich schade, dass ihr so schnell abhauen wolltet, ich hätte die angekündigte Drag-Show schon gerne noch gesehen.“

„Ich sag’s dir, wenn mir einer von diesen Hinterladern an den Arsch gegangen wär–“

„Jetzt ist aber gut!“, unterbrach Clemens Christoph. Sein Blick huschte zu Jonas, der hin und hergerissen war, ob er Lachen oder einfach gehen sollte.

„Was?“, fragte Christoph und grinste. „Wärst du etwa auch gern noch dageblieben? Mal eine neue Erfahrung machen, solange du hier bist? Zum Glück teilen du und Dimi euch eh ein Zimmer. Dann hab ich meine Ruhe und kann euch beglückwünschen, wenn ihr morgen früh plötzlich komisch lau–AU! Spinnst du?“ Zornig funkelte er Clemens an. „Warum zur Hölle trittst du mich?“

„Weil du aufhören sollst, so ’ne Scheiße zu labern!“, zischte Clemens zur Antwort.

„Wieso regst du dich da bitte so drüber auf? Bist du etwa wirklich ‘n Homo?“

„Nein, aber …“ Clemens verstummte, offensichtlich unsicher, was er noch sagen sollte, ohne Jonas zu verraten.

Dieser zwang sich, seine zu Fäusten geballten Hände zu entspannen. Trotz des Zitterns, das seinen Körper erfasst hatte, gab er sich größte Mühe nach Außen so gelassen wie möglich zu wirken. Nach einem tiefen Atemzug sagte er: „Clemens is‘ nich schwul. Aber ich.“

Vier Augenpaare richteten sich auf ihn, vier Münder öffneten sich, aber aus keinem kam ein Ton.

Jonas lächelte schief, breitete die Arme aus, knickte die Handgelenke ab und näselte: „Überraschung!

Andreas stand auf. „Darauf ‘ne Runde Schnaps.“

Auch Christoph fand seine Stimme wieder. „Alter, du weißt, dass das nicht so gemeint war.“

„Schon gut“, erwiderte Jonas achselzuckend. Er hatte keine Lust auf Streit.

Überraschenderweise war es Dimi, der nicht bereit schien, das Thema nicht so schnell fallenzulassen. „Meiner Erfahrung nach“, sagte er an Christoph gewandt, „ist es in den meisten Fällen sehr wohl ‚so‘ gemeint. Mal abgesehen davon, dass man so einen Mist auch einfach generell für sich behalten kann. Oder mal fünf Minuten das Hirn anschalten und sich fragen, wie man überhaupt dazu kommt, so zu denken.“

„Fängst du jetzt wieder mit deiner political correctness Scheiße an?“

„Ja. Zumindest dann, wenn du ein Grundmaß an Respekt als ‚Scheiße‘ bezeichnen möchtest.“

„Ach, Leute, muss das jetzt echt sein?“ Hilflos blickte Clemens in die Runde und Jonas entschied, ihm beizuspringen. Er neigte sich zu Christoph. „Sagen wir einfach, du schuldest mir zwei Bier, dann sind wir quitt.“

Christoph wirkte wenig begeistert von dem Vorschlag, aber mindestens genauso unwillig, sich weiter zum Buhmann zu machen. „Deal.“

„Ich erweitere diese Regel mal, weil ich dich kenne“, sagte Dimi. „Jeder weitere blöde Spruch kostet dich eine Runde Shots für alle.“

„Spinnst du?“

„Find ich fair“, erklärte Jonas grinsend.

„Ich auch“, stimmte Clemens zu.

„Was kostet Shots für alle?“ Andreas stellte ein Tablett ebendieser in die Mitte des Tischs.

„Scheiße labern“, antwortete Jonas.

„Ach so. Definitiv eine Regel, die wir schon früher hätten einführen sollen.“ Er stürzte seinen Jägermeister herunter und zog ein flaches, silbernes Etui aus seiner Jackentasche. „So, Gentlemen. Irgendwer Lust auf Zigarillos?“

Einstimmig murmelnd leerte auch der Rest seine Gläser, stand auf und verabschiedete sich innerlich von dieser Bar. Die Chancen, den Tisch bei ihrer Rückkehr noch immer leer vorzufinden waren minimal.

Andreas ließ das Etui rumgehen und einer nach dem anderen entzündete eines der nach Tabak und Vanille duftenden Stäbchen. Grauweißer Rauch stieg in die Nachtluft, waberte in sanften Wellen vor den erleuchteten Schaufenstern. Gerade noch so konnte sich Jonas ein klägliches Husten verkneifen.

„Noch mal sorry wegen eben“, flüsterte Clemens ihm zu, während die drei anderen sich um Dimis Handy versammelten, um herauszufinden, wohin sie als nächstes ziehen wollten.

„Kein Ding.“ Jonas winkte ab. „Waren doch bloß ‘n paar blöde Sprüche.“ Jetzt musste er das nur noch selbst glauben.

„Warum bist du eigentlich alleine hier?“

„Mit wem hätte ich denn kommen sollen?“

„Na deinem …“ Clemens stockte und der Knoten in Jonas‘ Magen zog sich zu. Trotz aller vorgegebenen Akzeptanz hatte Clemens augenscheinlich Schwierigkeiten damit, laut auszusprechen, in welchem Verhältnis Jonas zu Erik stand. Hilflos wedelte Clemens mit der Hand. „Sorry, ich hab seinen Namen vergessen. Dein Freund halt. Wie hieß er nochmal?“

In seiner Überraschung saugte Jonas zu viel Rauch ein und erlitt nun doch den befürchteten Hustenanfall. Da hatte er sich ja mal gründlich in Clemens getäuscht. Schon wieder. Er hob die Hand zum Mund, um ein verlegenes, aber glückliches Lächeln zu verbergen. „Erik. Und er muss arbeiten.“

„Samstagsdienst? Eklig, am Wochenende früh aufstehen zu müssen.“

„Nee, ich meinte, er muss jetzt arbeiten.“

„Was macht er denn, dass er Freitagnacht in der Arbeit hockt?“

„Er is‘ Verwalter von ‘nem Club hier in Berlin.“

„JONAS STAGINSKY!“ Clemens‘ Protestschrei war laut genug, damit nun die ganze Straße Jonas‘ Namen kannte. Die Köpfe der drei anderen wandten sich ihnen zu. „Dein Freund arbeitet in einem Berliner Nachtclub und du hältst es nicht für nötig, uns das zu erzählen?“

„Wie jetzt, Nachtclub?“, wollte nun auch Christoph wissen. „Heißt das, wir kommen da gratis rein? Vielleicht sogar mit Freidrinks?“

„Nee, heißt es nich‘“, brummte Jonas. „Genau deshalb erzähl ich das nich‘ mehr. Erik will da in Ruhe arbeiten und nich‘ die Kumpel seines Freundes durchfüttern, äh, tränken.“ In Wahrheit hatte Jonas keine Ahnung, wie Erik zu dem Thema stand, aber er würde garantiert nicht anfangen, dessen Gutmütigkeit auszunutzen, damit seine Freunde sich ein wenig günstiger besaufen konnten.

„Ja, aber–“

„Keine Diskussion“, schnitt Jonas Clemens das Wort ab, der daraufhin schmollte wie ein Kleinkind, dem man das Lieblingseis verwehrte.

„Aber ich lern ihn schon mal kennen, oder?“, fragte er kritisch.

Jonas‘ Herz setzte einen Schlag aus und er war sich nicht sicher, weshalb. „Ähm … Wie lang seid ihr denn noch in Berlin? Bloß das Wochenende?“

„Die ganze Woche.“

„Oh, okay. Du weißt, dass Christine auch hier is‘, oder? Wir feiern unseren Geburtstag, da seid ihr natürlich auch eingeladen, wenn ihr vorbeikommen wollt. Ich hab zwar nich‘ die geringste Ahnung, was eigentlich geplant is‘, aber … wenn du dir den Tag freihältst, lernst du zumindest Erik kennen.“

Clemens grinste, bis sich seine Grübchen zeigten. „Abgemacht.“

Jetzt musste Jonas das nur noch Erik beibringen. Aber zur Hölle, das war sein Geburtstag, da konnte er ja wohl einladen, wen er wollte. Okay, Christine würde ein Veto einlegen dürfen, aber sie war mit Clemens immer gut zurechtgekommen. Was, wie Jonas zu seiner Schande gestehen musste, damals heftige Eifersuchtsattacken bei ihm ausgelöst hatte und einer der Gründe für sein gelegentlich recht ekliges Verhalten ihr gegenüber gewesen war.

„Sag mal, Jonas …“ Unbemerkt hatte sich Christoph neben ihn gesellt, den Zigarillo lässig in einem Mundwinkel hängend. „Wie ist es eigentlich so, einen Schwanz zu lutschen?“

Jonas hörte Clemens neben sich nach Luft schnappen und Dimis Stimme, achtete jedoch nicht auf die Worte. Stattdessen fixierte er Christophs im künstlichen Licht funkelnde Augen. Langsam führte er sein Zigarillo zu seinen Lippen, sog er den beißenden Rauch in sich, dem nichts vom aromatischen Vanilleduft geblieben war und hielt ihn einige Sekunden im Mund, bevor er ihn mit einem einzigen, kräftigen Stoß in die Nacht entließ. Seine Hände wanderten zu seinem Gürtel, blieben locker auf der Schnalle liegen, spielten mit dem Verschluss. „Knie dich hin und find’s aus.“

Lange war abgesehen von den üblichen Geräuschen einer Großstadtnacht nur Jonas‘ Atem und der seiner vier Begleiter zu hören. Schließlich brach Christoph in Gelächter aus. „Danke, Mann, aber so genau wollte ich’s dann doch nicht wissen!“ Er schlang einen Arm um Jonas‘ Schultern. „Hauen wir hier ab! Und ja, ich weiß, ich schuld dir ‘nen Drink! Kriegst sogar zwei!“

 

Schlüssel. Schloss. Schlüssel ins Schloss. Schwierig. Noch mal. Okay, passt. Drehen. Psst! Leise! Sophia schläft!

Schuhe ausziehen. Gut. Nicht umfallen. Gut. Leise den Gang runter. Rechte Tür. Schlafzimmer. Ausziehen. Schlafen. Bett. Endlich Bett. Warmer Körper. Kuscheln.

„Da bist du ja.“

Eriks verschlafene Stimme durchdrang den Nebel in Jonas‘ Kopf. Er seufzte wohlig und schmiegte sich noch näher an die Wärmequelle.

„War’s schön?“

„Mhm.“ Nackter Körper – Heiß. Haut – Zart. Muskeln – Sehnig. Schwanz – Hart. „Fick mich, Erik.“

Jonas konnte Eriks Gesicht nicht sehen, aber er glaubte, das Schmunzeln zu hören, als dieser sagte: „Vielleicht, wenn du nicht mehr wie eine abgefackelte Destillerie riechst.“

„Aber ich bin jesss geil“, nuschelte Jonas in sein Ohr, die Silben zogen sich und ein bisher unterdrücktes Lispeln trat hervor.

„Das bist du morgen bestimmt auch noch.“

Jonas brummte enttäuscht, drückte sein Gesicht zwischen Eriks Schulterblätter. „Tut mir leid … Tut mir leid, dass Maria heut so eklig zu dir war. Hät was sag‘n soll‘n.“

„Nein, hättest du nicht.“ Erik drehte sich zu Jonas und schloss ihn in die Arme. „Sie will dich nur beschützen. Damit komme ich schon klar. Ich habe ja eine ganze Woche Zeit, sie davon zu überzeugen, dass ich dich nicht ins Unglück stürze.“

„Hmm … Machst du‘s mir wenigstens mit der Hand?“

Unterdrücktes Lachen, das gegen Jonas‘ Haut vibrierte. „Lass mich doch noch ein bisschen schlafen.“

„Dann mach ich‘s mir eb‘n selbst!“ Auffordernd patschte Jonas gegen Eriks Wange. „Aber du musch … du musst mir dabei zuschau‘n!“

„Natürlich.“ Ein schlecht überspieltes Gähnen. „Ich bin hellwach und aufmerksam.“

Genussvoll rieb Jonas über seine erwachende Erektion, räkelte sich in den Laken, schloss die Augen. Er war eingeschlafen, bevor Eriks Lachen verklungen war.

 

Desorientiert wälzte sich Jonas zur Seite. Wo war er? Wie spät war es? War Trump wirklich Präsident der USA? Nach und nach rasteten die Erinnerungen an den richtigen Stellen ein. Zuhause. Keine Ahnung. Urgh. Ein dumpfer Schmerz, der gegen seine Schläfen pochte zeugte von den Eskapaden der vergangenen Nacht. Jonas‘ Magen stand kurz vor einer ausgewachsenen Rebellion.

Stöhnend kämpfte er sich in eine sitzende Position. Sein Plan, nur ein paar Bier mit den Jungs zu zischen und noch vor Erik zuhause zu sein war ja mal gründlich in die Hose gegangen. Wann hatte er beschlossen, den Abend für beendet zu erklären und nach Hause zu wanken? Ach ja, als die anderen in Richtung eines Stripclubs gesteuert waren. Da musste es schon nach sechs gewesen sein.

Mit unsicheren Schritten – ein Seitenblick verriet ihm, dass Erik den Mülleimer in weiser Voraussicht von seiner auf Jonas‘ Seite des Bettes verfrachtet hatte – stolperte er ins Bad. Die Dusche klärte seinen vernebelten Kopf, der minzige Zahnpastageschmack half ein wenig gegen die Übelkeit und eine Menge gegen das diffuse Ekelgefühl, das nach einer durchzechten Nacht regelmäßig Besitz von ihm ergriff.

Jonas stand länger unter der Dusche als nötig gewesen wäre, aber er fand nicht den Mut, Erik gegenüberzutreten. Ob er enttäuscht von ihm war? Verärgert? Mit zusammengebissenen Zähnen drehte er das Wasser ab, seine Fingerkuppen waren bereits faltig und weich.

Als er sich endlich durchringen konnte die Badezimmertür zu öffnen, schlug ihm ein intensiver Duft entgegen. Vertraut, aber schwer zuzuordnen. Das Einzige, das Jonas mit Sicherheit wusste, war, dass es sich um Essen handelte. Deftiges Essen. Genau das, was sein verkaterter Magen brauchte, auch, wenn der das noch nicht so ganz einsah und sich unruhig grummelnd zu Wort meldete.

„Speck?“, fragte Jonas entsetzt, nachdem er vorsichtig ums Eck gelinst hatte. In den Monaten, in denen sie jetzt zusammenlebten, hatte er weitestgehend Eriks vegetarische Ernährung übernommen, hauptsächlich, weil er zu faul war, etwas anderes nur für sich selbst zu kochen. Erik hatte zwar kein Problem damit, wenn Jonas Fleisch aß, dass er es für ihn zubereitete war bisher allerdings noch nicht vorgekommen.

Bei Jonas‘ Worten drehte er sich um, ohne die Pfanne aus den Augen zu lassen, in der sich blasse Streifen in köstlich knuspriges Frühstück verwandelten. „Guten Morgen.“ Er deutete zum Küchentisch. „Setz dich. Was macht das neue Haustier?“

„Richtet sich allmählich häuslich ein und sucht nach ‘nem Scheißkratzbaum“, murmelte Jonas, rieb über seine pochenden Schläfen und ließ sich auf den Stuhl mit Blick zum Fenster sinken. Auf dem Tisch waren bereits ein großes Glas frischer Saft und eine Kopfschmerztablette bereitgestellt. Ohne lange darüber nachzudenken, spülte Jonas die kleine, weiße Tablette mit einem Schluck Saft herunter. „Scheiße, Erik, ich liebe dich.“

„Weiß ich doch.“

„Sorry für heut Nacht. Fürs Zuspätkommen, betrunken sein, dich nerven. Oh fuck, und bitte sag mir, dass ich den Teil mit ‚bitte fick mich‘ einfach bloß geträumt hab.“

„Dann hatten wir denselben Traum.“

Jonas vergrub das Gesicht in den Händen. Eriks Lachen und die Finger, die liebevoll durch sein Haar wuschelten, ließen ihn wieder aufblicken.

„Jonas, ich arbeite in einem Nachtclub. Du bist nicht der erste Betrunkene, mit dem ich zu tun hatte und glaub mir, wenn die alle so niedlich wären wie du, wäre mein und vor allem Toms Job deutlich leichter.“

„Niedlich?“

„Niedlich“, bestätigte Erik und beugte sich für einen Kuss nach vorne.

„Bist du nich‘ sauer, dass es so spät geworden is‘?“

„Nein.“

„Aber ich hatte dir was andres versprochen …“

„Pläne ändern sich“, erwiderte Erik mit einer Gelassenheit, die Jonas allmählich misstrauisch werden ließ.

„Und dass ich ausgerechnet mit Clemens unterwegs war …? Kein Problem?“

„Nein.“ Seufzend wendete Erik den Speck. „Erinnerst du dich noch daran, dass du mir geschrieben hast?“

„Ähm … gestern?“

„Ja, Jonas, gestern.“

„Oh. Ähm … Nich‘ wirklich“, gab er zu und erntete dafür ein geduldiges Lächeln.

„Hast du aber. Du hast mir geschrieben, dass es später wird. Und dir das leid tut. Und du hast mir Fotos geschickt. Ich glaube, ich weiß besser, was du gestern so getrieben hast, als du selbst.“

„Das … ähm … das könnt schon sein.“

„An die Sprachnachrichten erinnerst du dich dann wahrscheinlich auch nicht?“

Sprachnachrichten?

Zum Beweis hielt Erik Jonas sein Handy vor die Nase und tatsächlich war ihr gemeinsamer Chat gepflastert von Fotos und Nachrichten, die zunehmend – mutmaßlich korrelierend zum Anstieg der Rechtschreibfehlerquote – von Sprachmitteilungen ersetzt wurden. „Oh Gott. Oh verfickte … was hab ich dir alles geschickt?“

„Ah, so einiges.“ Erik genoss es sichtlich, Jonas leiden zu sehen. Wie einen Köder hielt er das Handy knapp außerhalb seiner Reichweite. „Vielleicht lasse ich dich in zehn Jahren mal reinhören.“

Erik!

Dieser lachte, wurde gleich darauf jedoch ernst. „Falls du dir Sorgen machst, dass ich sauer auf dich bin – oder dir sogar unterstelle, fremdgegangen zu sein – dann darfst du das ganz schnell vergessen. Ich hatte dir gestern schon gesagt, dass diese Ängste mein Problem sind und nicht deins.“

„Schon, aber … dafür hatte ich dir eigentlich versprochen noch vor dir zuhause zu sein.“

„Und als sich abgezeichnet hat, dass das nicht so ist, hast du dir redlich Mühe gegeben, mich über alles auf dem Laufenden zu halten. Was zuckersüß, aber unnötig war.“ Erik wedelte mit der Hand, in der er sein Handy hielt. „Auch das hatte ich dir gestern schon gesagt, aber ich wiederhole es gerne nochmal: Du hast mir nie einen Grund geliefert, dir zu misstrauen. Nicht in den Monaten, die wir jetzt fest zusammen sind und auch gestern nicht.“

Jonas wusste nicht, was er dazu sagen sollte und entschied, sich vorerst einfach zu freuen, dass Erik die Sache so locker sah. „Okay.“

„Gut. Katerfrühstück?“

„Oh, ja, bitte!“ Gierig streckte Jonas die Hände nach dem gefüllten Teller aus. Auch, wenn er sich gerade nicht wirklich nach Essen fühlte, wusste er, dass es ihm danach besser gehen würde. Speck, Spiegeleier, Toast mit Butter und Schnittlauch, ein wenig frisches Obst. Der perfekte Start in den Tag.

„Woher hast du den Speck?“, fragte Jonas kauend. Er hatte ihn ganz sicher nicht gekauft.

Erik zog die Pfanne von der heißen Platte und setzte sich neben ihn. „Da darfst du dich bei Sophia bedanken. Die hat vorhin nämlich entgeistert festgestellt, dass kein Kaffee im Haus ist und mich losgeschickt, um welchen zu besorgen. Bei der Gelegenheit habe ich auch gleich noch ein paar andere Sachen eingekauft. Ich dachte mir, du könntest ein ordentliches Frühstück vertragen.“

„Kann ich. Danke. Noch mal.“ Jonas sah sich um, lauschte in die sonst stille Wohnung. „Wo steckt Sophia eigentlich?“

„Die hat heute schon die erste Besichtigung.“

„Oh, okay.“ Abwägend musterte er Erik. „Also haben wir die Wohnung eine Weile für uns?“

„Mhm.“ Erik warf einen Blick auf seine Uhr. „Ich würde vermuten, noch mindestens eine Stunde.“

Die Zeit im Hinterkopf, schlang Jonas sein Frühstück herunter, gab seinem Magen einen Augenblick, sich zu beruhigen und zerrte einen lachenden und nur halbherzig protestierenden Erik ins Schlafzimmer.

Körper rieb sich an Körper, Hände erforschten samtige Haut. Aus liebevollem Flüstern wurde kehliges Stöhnen und anfangs zärtliche Küsse verwandelten sich in ausgehungertes Schnappen.

Verschwitzt und klebrig lehnte Jonas an Erik, Spuren ihrer beiden Höhepunkte überzogen seinen Bauch. „Fuck, war das nötig.“

Erik antwortete nicht sofort, doch sein Herz hämmerte wie verrückt und seine Finger krallten sich schmerzhaft fest in Jonas‘ Schultern. Mit rauer Stimme flüsterte er: „Ich liebe dich.“

Jonas schloss die Augen. „Ich dich auch.“

Kapitel 44

Was zuletzt geschah:

Jonas‘ Abend mit Clemens beginnt und endet anders als erwartet. Ist Jonas dank der Homophobie, die ihm entgegenschlägt zunächst versucht, gleich wieder zu gehen, taumelt er letztlich Stunden später betrunken und zufrieden in Eriks Arme. Zum Glück nimmt dieser den Vorfall mit Humor und so kann sich Jonas gänzlich auf seinen anstehenden Geburtstag konzentrieren.  

 

Kapitel 44

Clemens, 15:46 Uhr

Hilfe!!!

Hab mich aus dem Hotel ausgesperrt!! Und ich erreiche Dimi nicht!! Leiste mir Gesellschaft!!

 

Du, 15:53 Uhr

dein ernst?

 

Clemens, 15:53 Uhr

JA!!!!!

 

„Ähm, Erik?“

„Hm?“ Erik hob den Kopf, der bis eben bequem in Jonas‘ Schoß geruht hatte. „Was ist?“

„Ähm, ich glaub, ich muss nochmal los. Clemens hat sich ausgesperrt und weiß jetzt nich‘, was er anstellen soll, bis wir uns im Restaurant treffen.“

„Und?“

„Ich, ähm … Ich soll ihm ‘n bissl Gesellschaft leisten, um die Zeit zu vertreiben.“

„Ah. Also treffen wir uns direkt im Restaurant?“

Jonas hatte mit mehr Widerspruch gerechnet und war erleichtert, sich geirrt zu haben. „Japp. Aber dafür musst du mir endlich die Adresse verraten.“ Alles, was er und Christine von ihren Freunden bezüglich ihrer Geburtstagfeier erfahren hatten, war, dass sie mit einem Essen im Restaurant beginnen sollte. Welches und was danach anstand war für beide ein Rätsel.

„Werde ich. So eine Stunde vorher.“

„Ihr macht’s aber auch echt scheißspannend.“ Grummelnd schob Jonas seinen Freund von sich und stand auf. „Dann bis später.“ Schon halb aus dem Wohnzimmer, drehte er nochmal um und drückte einen langen Kuss auf Eriks Lippen, dessen Nachklang ihn auf seinem Weg zu Clemens begleitete.

 

Auf der Parkbank lümmelnd ließ Clemens seinen nur noch halb von seinem Shirt bedeckten Bauch von der Nachmittagssonne bescheinen. Nach einem Seitenblick auf Jonas‘ Handy fragte er: „Immer noch nichts?“

„Nee.“

„Dimi hat sich auch noch nicht gemeldet.“

Noch einmal sah Jonas auf sein Handy, aber das Display blieb leer. Wenn sich Erik nicht bald mit einer Adresse bei ihm meldete, würde er anrufen. Am Ende hatten sie eines der beiden Geburtstagskinder vergessen.

Ruckartig setzte sich Clemens auf. „Ich hab ‘ne Idee! Warum fahren wir nicht einfach zu dir? Dann sehe ich mal wie du so wohnst und lern deinen Freund kennen, bevor das allgemeine Partygetöse losgeht.“

„Oh, ähm … Naja, ich denk, das wär schon ‘ne Möglichkeit. Sofern’s von der Zeit her aufgeht. Ich ruf mal Erik an, der weiß ja grad mehr als ich.“ Der letzte Teil war eher das grimmige Gemurmel eines alten, mit der aktuellen Weltlage unzufriedenen Mannes.

„Ein wenig wirst du dich noch gedulden müssen“, begrüßte Erik ihn am anderen Ende der Leitung. „Ich sagte ja, eine Stunde vorher.“

„Ja, ja, is‘ ja gut. Ähm, sag mal … Clemens und mir gehen so langsam die Ideen aus, was wir noch treiben könnten. Hast du was dagegen, wenn wir einfach zu uns kommen, bevor wir losmüssen?“

„Ah, grundsätzlich natürlich nicht. Aber ich muss noch ein paar Anrufe für das Tix erledigen und mich um ein wenig Papierkram kümmern. Lass mal sehen.“ Im Hintergrund raschelte etwas, anschließend herrschte Stille, die sich lange genug zog, um Jonas an seinem Vorhaben zweifeln zu lassen. Erik hatte die Nachricht, dass Clemens zur Geburtstagsfeier kommen würde recht stoisch aufgenommen – von Neugierde oder gar Freude konnte nicht die Rede sein, aber derzeit gab sich Jonas mit Brotkrumen zufrieden. Nun würde das erste Aufeinandertreffen allerdings nicht im geschützten Rahmen eines vollen Restaurants stattfinden, in dem sich genug andere Freunde und Bekannte als Puffer herumtrieben, sondern innerhalb ihrer eigenen vier Wände. Allein. Bei genauerer Betrachtung war das ein außerordentlich beschissener Plan.

„Jonas?“, meldete sich Erik wieder. „Das sollte zeitlich gut aufgehen. Kommt ruhig vorbei.“

Die Fahrt zur Wohnung verlief unspektakulär, auch, wenn Jonas das Gefühl hatte, Clemens blickte auffallend oft zwischen ihm und seinem Handy hin und her. Das ging so weit, dass das Gerät erst in der Hosentasche verschwand, als sie bereits die Stufen zum dritten Stock erklommen.

„So, da wären w–“ Jonas stoppte mitten im Satz, den Schlüssel in einer, die Türklinke in der anderen Hand. Der Eingang war von bunten Lichterketten erleuchtet, die sich über die Wand, bis in Küche und Wohnzimmer schlängelten. Aus Letzterem tönte gedämpftes Gemurmel und plötzlich erschien Eriks Kopf im Türrahmen, mit einem Grinsen, das von einem Ohr zum anderen reichte. Sanft stupste Clemens Jonas vorwärts. „Auf geht’s, Geburtstagskind.“

Jonas wirbelte herum, blickte in das mindestens ebenso breite Grinsen seines Kindheitsfreunds. „Ihr Mistsäcke! Ihr habt das geplant!“

„Schnellchecker.“

Im Wohnzimmer begrüßten Sophia, Larissa, Esther und Kemal Jonas stürmisch. Ein beeindruckender Geschenkestapel bedeckte den niedrigen Couchtisch, die geöffnete Balkontür ließ eine sanfte Brise ins Innere und zur Hollywoodschaukel hatten sich ein paar Stühle sowie ein kleiner Tisch gesellt. Überall hingen farbenfrohe Luftschlangen und mit Helium gefüllte Ballons schwebten knapp unterhalb der Zimmerdecke. Auf seine grauenhaft kitschige Art sah der Raum absolut fantastisch aus.

Jemand klingelte an der Tür und Erik verließ Jonas‘ Seite lange genug, um Andreas und Dimi in Empfang zu nehmen. Nacheinander stellte Jonas seine Freunde einander vor, bis nur noch Erik und Clemens übrigblieben.

„So, ähm … Erik, das ist Clemens. Clemens, das ist mein Freund Erik. Ihr, äh, habt wahrscheinlich schon das eine oder andere voneinander gehört.“

„Nur die guten Sachen, nehme ich an.“ Clemens grinste breit. „Freut mich, dich kennenzulernen, Mann.“

„Ebenfalls.“ Erik ergriff Clemens‘ ausgestreckte Hand, aber sein Lächeln fiel deutlich kühler aus. Ein paar unangenehme Sekunden, in denen sich die beiden abwägend musterten verstrichen.

„Ähm …“ Denk nach, Jonas, denk nach! „Ich schätz mal, Christine weiß auch noch von nix?“

„Nicht, wenn Maria und Nick ihre Sache gut gemacht haben“, erwiderte Erik. „Sie sollten eigentlich jeden Moment hier sein.“

„Wo steckt eigentlich Christoph?“ Clemens hatte sich bemüht, leise mit seinen zwei Begleitern zu sprechen, doch Jonas stand nah genug bei ihnen, um die Frage zu hören.

Andreas und Dimi wechselten einen Blick. „Der fühlt sich nicht so wohl.“

Trotz Dimis vorsichtig gewählter Worte, die auch eine einfache Magenverstimmung suggerieren konnten, war Jonas klar, was er eigentlich meinte. Christoph fühlte sich nicht wohl in Jonas‘ Nähe. In Eriks Nähe. In ihrer Wohnung. Was unter Alkoholeinfluss ein erträglicher Scherz gewesen war, war nüchtern nochmal etwas völlig anderes.

Clemens schnaubte. „Gut. Ich hatte von seiner großen Fresse eh allmählich die Schnauze voll.“

„Ich wollte wirklich keinen Keil zwischen euch treiben“, murmelte Jonas betreten.

„Oh, glaub mir, das hat der Kerl ganz von selbst geschafft“, entgegnete Clemens verächtlich. „Manche Leute braucht man einfach nicht in seinem Leben.“

„Aber–“

Jonas“, schnitt Clemens ihm das Wort ab. „Wenn du auch nur eine Sekunde denkst, ich wollte jemanden in meinem Freundeskreis haben, der so ‘ne Scheiße absondert und noch dazu ein Problem mit meinem besten Kumpel hat, dann kennst du mich wesentlich schlechter als ich bisher angenommen hatte.“

„Oh. Okay. Danke.“ Jonas fühlte sich schuldig, weil ihn Clemens Bereitschaft ihn zu verteidigen so glücklich machte, andererseits konnte er nichts gegen das Lächeln unternehmen, das an seinen Mundwinkeln zupfte. Wenn jetzt noch dieses verflixte Stechen in seiner Brust verschwinden würde, wäre alles gut.

Haltsuchend lehnte er sich in Eriks Richtung. Ihre Handrücken streiften sich, eine unschuldige Berührung, die ein Prickeln über seine Haut sandte, doch die Klingel läutete ein weiteres Mal und stahl Eriks Wärme, als dieser davoneilte, um den Summer zu betätigen.

„Ihr spinnt ja!“, rief Christine wenige Sekunden später ins dekorierte Wohnzimmer. „Oder sieht das hier einfach immer so aus?“

„Nee.“ Jonas schüttelte den Kopf. „Normalerweise sind hier mehr Regenbögen und Einhörner. Und ein Darkroom.“

„Wann habt ihr das geplant?“, wollte sie wissen, ohne auf Jonas‘ schlechten Scherz einzugehen. „Wie habt ihr das geplant?“

„Marias Idee“, antwortete Erik und Jonas‘ Herz machte einen kleinen Satz. Hatten sie sich versöhnt? „Sie hat mich über meine Firmenmail kontaktiert und gefragt, ob wir die Party hier starten können.“

„Und, ob er die Nummern deiner Freunde aus der Uni hat“, ergänzte Maria.

Verwundert drehte sich Jonas zu Erik. „Aber die hast du doch gar nicht.“

„Doch, meine.“ Larissa hob die Hand, als wüsste sie als Einzige die Antwort auf eine schwierige Klausurfrage. „Von deinem Unfall noch. Da hast du doch manchmal Eriks Handy benutzt, solange deines noch in Reparatur war.“

„Dass mein Besuch in Berlin ausgerechnet auf diese Woche gefallen ist, ist übrigens vielleicht nicht ganz so zufällig, wie du dachtest“, mischte sich Clemens ein. „Das war auch Marias Idee. Hab einen richtigen Schreck gekriegt, als sie sich plötzlich dazu herabgelassen hat, meine Existenz im Wohnheim anzuerkennen.“

Maria verzog den Mund, blieb aber still. So ganz unzufrieden sah sie ohnehin nicht aus.

Erik wandte sich an Christine. „So, und nachdem der heutige Ehrengast angekommen ist, sollten wir langsam starten, oder?“

„Hey!“, motzte Jonas. „Was is‘ mit mir?“

„Du bist in ein paar Stunden dran“, erwiderte Erik mit einem verschmitzten Lächeln, das nochmal eine ganze Ecke breiter wurde, als Jonas ihm schmollend die Zunge rausstreckte.

Gleich darauf zog Jonas seine Schwester in die Arme. „Alles Gute, du Pestbeule.“ Einer nach dem anderen schloss sich den Glückwünschen an. Bis Christine sämtliche Umarmungen abgearbeitet hatte, war ihr Gesicht gerötet und ein feiner Schweißfilm glänzte auf ihrer Stirn.

Erik deutete Richtung Tür. „Wer mir in die Küche folgt, hat Chancen auf Sekt zum Anstoßen.“ Gemessen an der Geschwindigkeit, mit der sich das Volk vorwärtsbewegte, musste es kurz vorm Verdursten stehen.  

So langsam dämmerte Jonas, wie viel Mühe in der Partyplanung steckte. Auch in der Küche stand die Balkontür sperrangelweit geöffnet und der Grill, den er und Erik vor einer Weile gekauft aber noch nicht eingeweiht hatten hatte seinen Weg nach draußen gefunden. Der Raum selbst platzte vor selbstgemachten Köstlichkeiten.

Zwei Schalen Bowle, fruchtig pink und exotisch grün, mit oder ohne Alkohol, Spieße mit Grillkäse und Zucchini, Garnelen und Tomaten, Hühnchen und Paprika, knuspriges Brot, mit Obst belegter Blechkuchen, eine beeindruckende Torte, von der Jonas sich fragte, wie Erik sie ohne sein Wissen hatte backen können, Salate und andere Beilagen bedeckten jede freie Fläche. Damit war für alle Wünsche mehr als gründlich gesorgt.

„Es hat echt Vorteile, jetzt noch einen Vegetarier in der Familie zu haben.“ Lobend klopfte Christine Erik, dessen Gesicht beim Wort ‚Familie‘ aufleuchtete auf die Schulter.

„Weniger reden, mehr trinken!“ Mit seinem gewohnten Sunnyboygrinsen verteilte Clemens die bereitstehenden Gläser. Die versammelte Meute kam seiner Aufforderung nur zu gerne nach; johlend stieß sie auf Christine an, stattete sich mit Essen aus und verteilte sich bald darauf lachend, quatschend und kauend in der ganzen Wohnung.

„Soll ich dich mal ablösen?“, fragte Jonas Erik, der den Grill bewachte, darum bemüht, jeden Wunsch nach Essen und Getränken zu erfüllen.

„Quatsch. Das ist deine Party.“

„Noch isses strenggenommen Christines Party. Meine wird’s erst um Mitternacht.“

„Ah, wenn das so ist, gebe ich die Grillzange natürlich gerne weiter.“ Trotz Eriks Worten, musste Jonas sie ihm praktisch aus der Hand reißen.

„Hast du überhaupt schon was gegessen?“

„Ich gedenke, das jetzt nachzuholen.“ Die Berge an Lebensmitteln, mit denen Erik seinen Teller belud, sprachen dafür, dass Jonas gerade rechtzeitig erschienen war, um seinen Freund vor einem grausigen Hungertod zu bewahren.

„Ihr habt euch echt scheißviel Mühe gemacht. Danke.“

„Gefällt es dir denn?“, fragte Erik zwischen zwei Bissen. „Wir waren uns nicht sicher, ob ihr nicht doch lieber in irgendeinen Club wolltet. Ehrlich gesagt fürchte ich, dass Maria, Nick und ich etwas aus den Augen verloren haben, was dir und Christine gefällt. Das hier ist vielleicht eher unsere Traumfeier als eure.“

„Nee.“ Jonas winkte ab. „Das is‘ schon echt gut so. In Clubs kann ich an jedem anderen Abend gehen und Christine steht da eh nich‘ besonders drauf.“ Er küsste Eriks Wange. „Habt ihr gut gemacht.“ Betont beiläufig fragte er: „Wie läuft’s eigentlich zwischen dir und Maria?“

Erik gab sich Mühe, aber er konnte das Zucken, das durch seine Züge ging nicht völlig überspielen. „Besser, hoffe ich. Nicht perfekt, aber das ist schon in Ordnung so.“

„Nee, isses nich‘. Ich lieb sie ja eigentlich für ihre misanthropischen Tendenzen, aber bloß, weil sie sich einbildet, dich gründlich durchleuchten zu müssen, darf sie dich nich‘ wie den letzten Dreck behandeln. Ich bequatsch das nachher nochmal mit ihr.“

Fett zischte auf heißen Kohlen und der Duft nach Gegrilltem, der den nächsten Schwung Gäste in die Küche lockte beendete Jonas‘ und Eriks Gespräch vorzeitig.

„Ich übernehme wieder“, bot Erik an. „Kümmere dich ruhig um die anderen Gäste, mich siehst du noch oft genug.“

„Pff, sag doch einfach, dass ich dir auf die Nerven geh.“

„Du gehst mir auf die Nerven“, erwiderte Erik ungerührt, zwinkerte Jonas aber gleich darauf verschmitzt zu. „Jetzt geh, bevor du mich weiter ablenkst und ich das Essen anbrennen lasse.“

Leise murrend verschwand Jonas aus der Küche und streifte durch den Rest der Wohnung, den Blick aufmerksam auf seine Gäste gerichtet. Überall standen kleine Grüppchen, die sich unterhielten; niemand schien ausgeschlossen zu sein, oder sich unwohl zu fühlen. Sogar Sophia, die anfangs schüchtern an Eriks Seite geklebt hatte, hatte sich von Dimi auf die Wohnzimmercouch entführen lassen, die sie nun zusammen mit Clemens und Larissa belegten.

„… und dann haben die mich gefragt, ob ich einen Mopp besitze“, gab sie gerade die Geschichte ihrer bisher seltsamsten WG-Begegnung zum Besten.

„Warte!“, unterbrach Larissa. „Wohnen die zufällig über so ‘nem Pizzaservice? Diese winzige Dachbodenbude, in deren Zimmer gerade so ein Bett passt?“

„Genau die!“

Larissa brach in Gelächter aus. „Oh Gott, bei denen habe ich mich letztes Jahr auch vorgestellt. Grauenhaft! Einer von denen wollte mir dann auch gleich eine Lebensversicherung andrehen, denn–“

„–man weiß ja nie, was kommt!“, vervollständigte Sophia den Satz und fiel in Larissas Lachen ein.

„Ich bin mir ja echt schlau vorgekommen, weil ich dachte, ich erspar mir den ganzen Wahnsinn und zieh einfach ins Wohnheim, aber ey, was da los ist …“ Clemens berichtete von einem Ereignis, das Streichhölzer, Unterwäsche, viel zu viel Alkohol und einen Hamster beinhaltete.

Die vier waren so in ihr Gespräch vertieft, dass es Jonas nicht wagte, sie zu unterbrechen. Also lauschte er gerade lange genug, um sicherzugehen, dass der Hamster heil aus der Sache herausgekommen war und ließ sich anschließend neben seine Schwester auf die Hollywoodschaukel auf dem Balkon fallen. Eine Weile sagte keiner von ihnen ein Wort, Christine starrte lediglich gedankenversunken über die Balkonbrüstung in die Nacht.

Die Blumen, die Erik auf Jonas‘ Drängen hin in die Töpfe am Rand gepflanzt hatte zogen die örtliche Fauna an und bildeten einen angenehmen Kontrast zu Berliner Beton und Neonlicht. Nächstes Jahr war der Balkon zur Küche an der Reihe. Tomaten und frische Kräuter standen schon fest auf Jonas‘ Liste; sofern danach noch Platz und Sonne übrig waren, würden sich Erdbeeren, Chilis und Gurken dazugesellen.

„Wo ist Nick?“, fragte er Christine, nachdem ihm ihr Schweigen zu laut geworden war.

„Wollte mir Nudelsalat mitbringen. Ist aber schon recht lang weg.“

„Hat sich sicher mit jemanden verquatscht.“

„Hm.“

„Wie, ähm, wie läuft’s denn zwischen euch beiden? Ich mein, mit deinem Jahr in Australien und so … Das bringt sicher ‘n bissl Spannung rein, oder?“

„Ein bisschen?“ Christine lachte tonlos. „Ein bisschen viel für meinen Geschmack. Ehrlich, ich bin mir manchmal nicht sicher, ob das mit uns noch Sinn hat. Es … Es ist schwierig. Ich liebe ihn, aber ich weiß nicht, ob wir füreinander gemacht sind.“

„Habt ihr mal darüber gesprochen? So richtig offen und ehrlich?“

Christine schüttelte den Kopf. „Nicht direkt. Würde doch auch nichts bringen, oder? Wir sind gerade beide in einer Phase, in der sich viel für uns ändert, versuchen aber krampfhaft, zwischen uns alles beim Alten zu lassen. Das klappt einfach nicht.“ Sehnsuchtsvoll blickte sie zum dekorierten Wohnzimmer. „Aber wenn ich sehe, was du und Erik euch aufgebaut habt und wie ihr miteinander umgeht, dann denke ich mir, dass ich das auch will. Dass Nick und ich etwas Wunderbares haben und ich lieber darum kämpfen sollte, anstatt einfach das Handtuch zu werfen.“

„Vielleicht tut euch die Entfernung durch dein Jahr in Australien ganz gut.“

Oh, bitte! Wann hat sowas einer kriselnden Beziehung je geholfen?“

„Ich sag ja auch nich‘, dass es eurer Beziehung gut täte“, erwiderte Jonas sanft. „Sondern euch. Jedem für sich genommen. Damit ihr mal Zeit habt, was für euch selbst zu tun. Und dann, wenn du wieder da bist, seht ihr ja, wo ihr steht, wo ihr hinwollt und welchen Platz der jeweils andere in euren Plänen hat.“

„Vielleicht.“ Christine klang wenig überzeugt. „Ich will trotzdem das, was du und Erik haben.“

„Du meinst eine Beziehung, von der nich‘ mal die eigenen Eltern wissen?“

„Ja, okay, vielleicht nicht gerade den Teil.“

„Es is‘ echt ‘n total beschissenes Gefühl, sie so auszuschließen. Ich mein, fuck, Erik und ich leben zusammen, sin‘ dabei, uns ‘ne Zukunft aufzubauen und Mum und Dad glauben wahrscheinlich immer noch, dass ich Maria hinterherwein. Das is‘ nich‘ fair. Ihnen gegenüber nich‘ und schon gar nich‘ gegenüber Erik. Er hat’s nich‘ verdient, ein beschissenes Geheimnis zu sein, das ich lieber unter den Tisch kehren würd.“

„Brüderchen, ich will ja dein Selbstbild nicht zerstören, aber für jeden hier ist ziemlich offensichtlich, wie ihr zueinander steht.“

Jonas lächelte freudlos. „Du weißt, was ich mein. Hier in Berlin klappt das, aber ich bin zu feig, Mum und Dad in den erlauchten Kreis der Mitwissenden aufzunehmen.“

„Vielleicht ist das erstmal besser so.“

Jonas betrachtete seine Schwester aus dem Augenwinkel. „Was meinst du?“

„Ich meine, dass du froh sein kannst, die letzten Monate nicht daheim gewesen zu sein. Als das mit der Ehe für Alle so hochgekocht ist, meine Fresse, da wäre ich am liebsten auch ausgezogen. Ich glaube, wir haben noch nie so viel gestritten wie in dem Monat.“

„Im Prinzip sagst du mir also, dass ich’s ihnen weiter verheimlichen soll?“ Jonas war sich nicht sicher, was er davon halten sollte. Ein Teil von ihm war erleichtert, dass Christine ihm Absolution erteilte, ein anderer – der, der auf Unterstützung gehofft hatte – schrie störrisch auf.

Sie schüttelte den Kopf. „Ich sage nur, dass du nicht mit allzu viel Verständnis rechnen solltest. So schlimm das jetzt klingt, ich bezweifle auch keine Sekunde, dass die beiden dich wirklich lieben und sich das nicht ändern wird, aber in ihrem Herzen sind sie nun mal altbackene Konservative.“

Jonas stieß einen tiefen Seufzer aus, der in seinem Inneren nachhallte. „Ich weiß.“

„Sorry.“

„Schon gut. Sagst ja bloß die Wahrheit.“

Jetzt war es an Christine zu seufzen. „Ich geh mal gucken, wo Nick mit meinem Nudelsalat bleibt.“ Die Schaukel knarzte leise, als sich Christine erhob, der sanfte Schwung lullte Jonas wie ein Wiegenlied ein.

„Okay, ich mag ihn.“

Überrascht blickte Jonas zu Maria. „Hab ich dir doch gleich gesagt.“

„Ja, ja.“ Die Arme in die Hüften gestemmt, sah sie aus, als wollte sie ihn für diese Erkenntnis schimpfen. „Ich habe mich ehrlich darum bemüht, kritisch zu sein, mich nicht von seinem Charme einwickeln zu lassen und ihn auf Herz und Nieren zu prüfen, aber ich komme zu dem Schluss, dass er wirklich in Ordnung zu sein scheint.“

„Dann kannst du dich ja jetzt bei ihm dafür entschuldigen, wie beschissen du dich aufgeführt hast.“

„Gerade passiert.“ Maria kuschelte sich an Jonas‘ Seite und versetzte der Schaukel neuen Schwung. „Ich weiß auch, dass ich es ein wenig übertrieben habe.“ Nach einer kurzen Pause fügte sie hinzu: „Okay, ziemlich übertrieben. Die Wahrheit ist, dass ich wohl eifersüchtig war. Wir sehen uns kaum noch und ich habe das Gefühl, du kommst mit deinen Problemen eher zu ihm als zu mir. Außer natürlich, du hast ein Problem mit ihm. Das durfte ich mir ja wirklich lange genug anhören.“

Jonas wollte widersprechen, musste aber einsehen, dass Maria nicht unrecht hatte. Er hatte sie in den letzten Monaten wirklich vernachlässigt und ihre Telefonate davor hauptsächlich genutzt, um über seine wacklige Beziehung mit Erik zu klagen. „Hast recht. Sorry. Wie wär’s, wenn wir uns diese Woche einen Tag nur für uns reservieren? Und wenn ich mit euch nach Bayern komm, auch.“

„Klingt gut.“ Das war vermutlich das ehrlichste Lächeln, das Jonas seit Marias Ankunft in Berlin von ihr zu Gesicht bekommen hatte. „Aber glaub nicht, dass mich zwei läppische Tage vollends befriedigen. Du musst an deiner Kommunikation arbeiten.“

„Is‘ notiert. Wie läuft eigentlich dein Studium?“ Und da war das Lächeln auch schon wieder weg.

„Könnte besser laufen, könnte schlechter laufen“, antwortete Maria unwillig. „Ich finde Mathe immer noch megaspannend und die Klausuren liefen ganz gut, aber der Stress davor …Und irgendwie sehe ich darin keine Zukunft für mich. Ich glaube, ich will doch lieber anwendungsorientiert arbeiten.“

„Vielleicht solltest du dann wirklich über einen Wechsel nachdenken?“ Das war nicht das erste Mal, dass sie über dieses Thema diskutierten und eigentlich wusste Jonas, wie Maria dazu stand. Daher schob er rasch hinterher: „Ich mein, niemand hier bezweifelt, dass du ’n kleines Mathegenie bist und das Studium schaffen würdest, wenn du wolltest. Aber wenn‘s dich nich‘ glücklich macht …“ Er zuckte mit den Schultern. „Vielleicht täte dir ‘n Neuanfang ganz gut. Das Angebot, zu mir nach Berlin zu kommen steht noch.“

„Ich denke drüber nach, es anzunehmen.“

Jonas blinzelte. „Echt jetzt?“

„Echt jetzt. Wenn ich sowieso das Fach wechsle, dann kann ich auch gleich in eine andere Stadt ziehen“

„Was is‘ mit deinen Eltern?“

„Die werden sich daran gewöhnen müssen“, antwortete Maria knapp. Vermutlich war das etwas, worüber sie noch nicht nachdenken wollte. Oder – und das war in ihrem Fall wahrscheinlicher – etwas, das sie bereits bis zum Erbrechen durchgekaut hatte.

„Wenn du Hilfe mit irgendetwas brauchst“, sagte Jonas, „dann bin ich immer–“

„–für mich da. Ich weiß.“ Maria lehnte ihren Kopf gegen seine Schulter. „Danke.“

Bald wechselten die beiden zu oberflächlicheren Themen, witzelten, lachten und binnen kürzester Zeit war ihre alte Chemie wiederhergestellt, die dünnen Risse ihrer Freundschaft gekittet. Irgendwann drängte sich Christine – auffallend allein – zwischen sie und Jonas wanderte weiter zu Clemens und Larissa, bis Ersterer ihm mit einem dezenten Stoß in die Rippen zu verstehen gab, doch bitte das Feld zu räumen.

Wie bei jeder guten Party endete Jonas in der Küche. Würde es jemand merken, wenn er ein Stück von der Torte mopste, bevor sie offiziell angeschnitten wurde? Erik, der sich keine zwei Meter von Jonas entfernt den Grill hütete erhöhte dieses Risiko jedenfalls beträchtlich, weshalb sich Jonas mit einer Traube aus den traurigen Resten der alkoholhaltigen Bowle begnügte. „Stehst du immer noch hier oder schon wieder?“

„Schon wieder. Dauert aber noch, bis die Grillkohle durchgeheizt ist.“

„Dann komme ich ja gerade rechtzeitig!“, rief Christine in die Küche. „Geschenkezeit!“

„Schon?“ Perplex warf Jonas einen Blick auf die Küchenuhr. Seine Schwester hatte recht, es war kurz vor Mitternacht, aka ‚Geschenkezeit‘. Resolut packte er Erik am Kragen und schleifte ihn mit sich ins Wohnzimmer.

„Ich zuerst!“ Ohne Jonas die Chance auf Widerspruch zu geben, schnappte sich Christine das erste Päckchen. „Oh, warte, da stehen unsere beiden Namen drauf. Wer war denn da so faul?“

„Ich“, erwiderte Maria schlicht.

„Dann mach ich erst alle anderen auf und das heben wir uns als Zwischenstück auf, bevor dann Jonas allein dran ist.“ Umsichtig legte Christine das nicht gerade kleine Paket zur Seite.

Offensichtlich hatten Nick und Maria bereits vorab Geschenke von Freunden gesammelt, die nicht mit nach Berlin hatten kommen können, sodass der Stapel beträchtlich und Christine binnen kürzester Zeit von knisterndem Geschenkpapier umgeben war. Es war jedoch das Letzte, Nicks, das sie innehalten ließ. Ein filigran gearbeitetes Silbermedaillon, in dessen Innerem ein Foto der beiden steckte, baumelte von ihren Fingern.

„Das ist …“ Wütend blinzelte sie gegen erste Tränen in ihren Augen, bevor sie sich an Nick wandte. „Legst du es mir um?“

Dieser hörte auf nervös von einem Fuß auf den anderen zu tippeln und kam ihrer Bitte nach, doch ein Rest Verunsicherung blieb auf seinem schmalen Gesicht.

Jonas, der seine Schwester nun schon ein paar Jahre länger kannte, wusste allerdings, dass das ein Volltreffer gewesen war und die Zärtlichkeit, die in Christines Berührung lag, als sie mit den Fingern die filigrane Gravur des Anhängers erkundete bestätigte seine Vermutung. Ihre Stimme war noch immer etwas brüchig, als sie sagte: „Okay, damit bleibt nur noch Marias Geschenk. Nachdem es für uns beide ist, würde ich sagen, jeder von uns reißt eine Hälfte auf.“

Die Zusammenarbeit der Geschwister enthüllte ein altmodisches, in Leder gebundenes Fotoalbum. Andächtig glitten Jonas‘ Fingerspitzen über das edle Material, so, wie Christines zuvor über Nicks Medaillon.

„Wahrscheinlich sollte ich den Hintergedanken dazu erklären“, sagte Maria. Die Aussicht, vor versammelter Mannschaft sprechen zu müssen, trieb Röte in ihre Wangen. „Christine verschwindet bald nach Australien und Jonas hockt die nächsten Jahre in Berlin. Wer weiß, wohin es Nick nach dem Ende seiner Ausbildung verschlägt und ich selbst weiß auch noch nicht so genau, was ich in Zukunft mache. Fest steht nur, dass es unsere kleine Clique so nicht mehr geben wird. Und so nett moderne Medien auch sind, wünsche ich mir manchmal etwas Handfesteres. Also dachte ich, wir nutzen dieses Album. Jeder klebt Fotos ein, schreibt ein paar Zeilen, was er gerade so treibt und schickt es dann an den nächsten. Wenn es voll ist, haben wir eine einzigartige Erinnerung.“

Bevor irgendjemand reagieren konnte, rief Jonas ‚Meins, meins, meins!‘ und verstaute das Album auf dem höchsten Regal des Wohnzimmers, sicher vor Marias und Christines kurzen Ärmchen. „Ihr könnt es haben, wenn ich damit fertig bin.“

„Jetzt fühle ich mich unkreativ.“ Murrend drückte Clemens Jonas sein Geschenk in die Hand, billiger Whiskey und eine Packung Kippen.

„Hey! Kein Wort gegen geliebte Traditionen!“ Natürlich war das Zeug aufregender gewesen, als die beiden noch zu jung gewesen waren, um es legal zu erwerben, aber ihre Volljährigkeit hatte ihm seinen Charme nicht genommen.

Instinktiv zog Jonas Clemens an sich, stockte jedoch, als ihm klar wurde, dass er diesen damit möglicherweise in eine unangenehme Situation brachte. Umarmungen waren immer ein Teil ihrer Freundschaft gewesen – jedenfalls, bis sich Jonas zurückgezogen hatte – doch damals hatte Clemens keine Ahnung von Jonas‘ Homosexualität gehabt. Wer wusste schon, ob er den Körperkontakt auch jetzt noch so locker sah.

Umso überraschter reagierte Jonas, als Clemens die Umarmung nicht nur über sich ergehen ließ, sondern erwiderte. „Lass uns nicht wieder so weit auseinanderdriften, okay Mann?“ Jonas konnte nur vage Zustimmung murmeln.

In seiner Erleichterung brauchte er einige Sekunden, um Eriks Blick zu bemerken, nachdem Clemens ihn aus seinen Armen entlassen hatte. Erik hielt seine Mimik sorgfältig neutral, doch seine linke Hand öffnete und schloss sich wiederholt. Das änderte sich, als er realisierte, dass Jonas ihn beobachtete, aber das gequälte Lächeln, das er daraufhin zeigte war beinahe noch schlimmer.

Jonas hatte keine Gelegenheit, ihn kurz zur Seite zu nehmen; dafür warteten zu viele seiner Freunde darauf, ihre Geschenke zu überreichen. Larissa, Esther und Kemal hatten zusammengelegt und ihm ein Shirt organisiert, auf dem Klaus Kinski jemanden anwies die Schnauze zu halten, ‚damit du hörst, was ich sage‘. Vermutlich hatte Jonas ihnen ein Ausraster-Video zu viel gezeigt.

Erik hob sein Geschenk bis zum Ende auf und als Jonas es entgegennahm, streiften sich ihre Hände gerade lange genug, um diesen wohligen Schauer auszulösen, der ihn seit ihrer ersten Begegnung begleitete. Die letzten Spuren der Eifersucht waren aus Eriks Gesicht verschwunden, sein Lächeln ehrlich mit einem Hauch von Vorfreude, der Jonas gleichermaßen neugierig wie misstrauisch machte.

Das Päckchen hatte ein ähnliches Format wie Marias Fotoalbum, war jedoch weich und nachgiebig. Noch mehr Klamotten? Ungeduldig riss Jonas das schlichte, blaue Papier herunter. Der letzte Fetzen war noch nicht auf den Boden gesunken, da wusste er schon, was er vor sich hatte. Eine neue Lederjacke.

„Ich dachte, die könntest du brauchen, wenn es wieder kälter wird.“

Stumm nickte Jonas, Nostalgie verwandelte seine Zunge zu Asche. Er freute sich über die Jacke und noch bevor er sie auseinandergefaltet hatte war ihm klar, dass sie seinen Geschmack traf, aber sie erinnerte ihn auch an seine alte. Die, die er von seinem eigenen Geld gekauft hatte. Die, die ihn durch fast alle wichtigen Lebensentscheidungen belgeitet hatte. Die, die den Unfall nicht überstanden hatte.

Jonas musste Erik lassen, dass er eine wirklich gute Wahl getroffen hatte. Die neue Jacke glich der alten frappierend. Das dunkle Leder, so butterzart, als hätte er sie bereits seit Jahren getragen, der hochklappbare Kragen, die schrägen Reißverschlüsse, der Knopf, in den er seine Initialen gekratzt hatte. Der Knopf. Mit seinen Initialen. Jonas‘ Augen wurden groß. „Erik … Is‘ das meine?“

„Ich konnte sie nicht einfach wegschmeißen, also habe ich mal bei einem Spezialisten angefragt, ob man den Schaden reparieren könnte. Und sie konnte.“

Die Luft entwich hörbar aus Eriks Lungen, als Jonas in seine Arme hüpfte und ihn mit aller Kraft an sich presste. „Danke. Danke, danke, danke. Danke.“ Jedem ‚Danke‘ folgte ein Kuss. Eris Stirn, Eriks Wangen, Eriks Lippen – nichts war sicher vor Jonas‘ überschwänglicher Freude.

„Ich glaube, wir haben verloren“, raunte Clemens einer kichernden Maria zu und Jonas war sich ziemlich sicher, aus dem Augenwinkel gesehen zu haben, dass seine Schwester schamlos Fotos schoss. Es konnte ihm egaler nicht sein.

Ohne von Erik abzulassen, flüsterte er ‚Ich liebe dich‘ in sein Ohr.

Ebenso leiser erhielt er die Antwort: „Ich weiß. Ich dich auch.“

 

Morgenröte überzog den Himmel, bis sich mit Christine, Nick und Maria die letzten Gäste verabschiedeten. Esther und Kemal waren erwartungsgemäß früh aufgebrochen und Larissa hatte sich mit Andi und Clemens zwei willige Bodyguards für den Heimweg organisiert. Ausgehend von dem, was Jonas zuvor beobachtet hatte, würde Clemens diese Aufgabe freudig bis zum nächsten Morgen ausfüllen. Dimi musste schon früher und ohne Verabschiedung in die Freiheit entschlüpft sein, zumindest wusste niemand, wo er steckte.

„Scheiße, ich glaub, ich muss drei Jahre schlafen, um das wieder reinzuholen“, brummte Jonas in sein Kissen. Er fühlte die Bewegung der Matratze, als sich Erik neben ihn legte.  

„Hmm, also kein Sex?“

„Nich‘, wenn du erwartest, dass ich dabei wach bin.“

„Ah, das ist in Ordnung. Hauptsache, du hältst still.“ Lachend fing Erik Jonas‘ schwächlich nach ihm schlagende Hand ab. „Na gut, ich bluffe nur. Kuscheln reicht.“

Klaglos ließ sich Jonas in Eriks Arme ziehen, was er allerdings gleich darauf fühlte, sprach dafür, dass Erik keineswegs ‚nur geblufft‘ hatte. „Sicher, dass Kuscheln genügt?“, fragte er belustigt.

„Nein“, erwiderte Erik schlicht. „Aber wenn ich an den Geschirrstapel in der Küche denke, sollte ich wohl so viel Schlaf wie möglich sammeln.“

„Ich helf dir dann morgen“, nuschelte Jonas.

„Nein, tust du nicht. Geburtstagskinder müssen nicht abspülen.“

„Aber–“

„Nein.“

Jonas schnaubte. „Okay, Daddy.“

Ein Moment der Stille. „In Ordnung. Du hast ab jetzt Pornoverbot.“

„Aber Dadd-iih!“ Missmutig rieb Jonas über die schmerzende Stelle an seinem Oberschenkel, in die sich bis eben Eriks Finger gebohrt hatten. „Böser Daddy!“ Er keuchte, als sich Eriks Arme um ihn schlangen, ihn fest gegen den nackten Körper hinter ihm pressten.

„Ich merke, du brauchst etwas mehr Disziplin.“ Das heisere Flüstern stellte die Härchen in Jonas‘ Nacken auf.

„Vielleicht.“

„Das mit den Pornos war übrigens mein voller Ernst. Die sind erstmal gestrichen. Ah, genaugenommen denke ich, dass wir das ein wenig erweitern sollten. Ab sofort lässt du deine Finger schön über der Bettdecke.“

„Was?“

„Das hilft dir vielleicht, wieder einen kühlen Kopf zu bekommen. Sagen wir bis“, Erik tat als müsste er überlegen, „du wieder von deinen Eltern zurückkommst.“

Was?“ Jonas‘ Entsetzen wirkte sich negativ auf seine Eloquenz aus. „Ich bin zwei Wochen da!“

„Mhm. Sollte machbar sein, oder?“

„Aber … Aber …“

„Ja?“

„Ich darf also nich‘ …?“

„Nein.“

„So gar nich‘?“

„So gar nicht.“

„Fuck!“

„Aber!“ Eriks Hände, die über Jonas‘ Körper glitten ersetzten Müdigkeit durch Lust. „Wenn du brav bist und dich an die Abmachung hältst, wartet am Ende der zwei Wochen eine Belohnung auf dich.“

„Dir is‘ schon klar, dass ich theoretisch zwölfmal täglich wichsen könnt und einfach behaupten, ich hätt’s nich‘ getan? Woher willst du das wissen?“

„Glaub mir, ich weiß das.“

Grummelnd vergrub Jonas das Gesicht in den Kissen, dachte nach. „Okay. Ich mach’s.“

„Braver Junge.“

„Dann nimm jetzt aber auch deine Bratzen weg! Sonst kann ich garantiert nich‘ schlafen!“

„Also doch vögeln?“

„Nein!“

Lachend versetzte Erik seine Hände an etwas unverfänglichere Stellen und Jonas atmete einige Male tief durch. Allmählich kehrte die Schwere in seinen Körper zurück. „Wo is‘ eigentlich Sophia hinverschwunden?“, fragte er „Ich hab gar nich‘ ‚Gute Nacht‘ gesagt.“ Er war eingeschlafen, bevor er eine Antwort erhalten hatte.

 

„Morgen!“, flötete Sophia in die Küche, schnappte sich zwei Tassen und begann, frischen Kaffee aufzubrühen. Notgedrungen per Hand, da Erik und Jonas keine Kaffeemaschine besaßen.

„Guten Morgen“, erwiderte Erik ihren Gruß zwischen zwei Bissen Marmeladenbrot. „Frühstückt ihr mit uns?“

Seit Dimi am Morgen nach der Party verlegen aus Sophias Zimmer geschlichen war, hatte er mehr Zeit in Jonas‘ und Eriks Wohnung verbracht als bei den Freunden, mit denen er nach Berlin gekommen war. Vermutlich war es ganz gut gewesen, dass Jonas vergessen hatte, die Kondome aus der Schreibtischschublade zu räumen.

„Ah, ich denke schon“, beantwortete Sophia Eriks Frage. „Wir haben noch genug Zeit, oder?“

Jonas warf einen Blick auf die Küchenuhr. „Japp, mehr als genug.“ Maria, Clemens, Dimi und die anderen würden allesamt denselben Zug nach München nehmen und auch er selbst war mit von der Partie. Jonas wusste nicht, ob er sich darauf freute. Er vermisste seine Eltern, doch seine Geheimnisse warfen immer längere Schatten auf ihre Beziehung und er fragte sich, wann sein sorgfältig aufgebautes Kartenhaus zusammenbrechen würde.

 

 

Kapitel 45

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Kapitel 46

Was zuletzt geschah:

Erik heißt Jonas nach dessen Bayernbesuch gebührend willkommen. Teil ihres Wiedersehens ist ein Handel, den Jonas gerne annimmt – Halsband gegen Freiheit. Für ein paar Stunden legt Jonas jede Verantwortung in Eriks Hände. In Hände, die selbst dann umsichtig sind, wenn sie grob werden. In Hände, die zu dem Mann gehören, der ihn liebt. Zu dem Mann, der Jonas liebt. Der Zauber gipfelt in zwei Höhepunkten und endet erst, als sich Jonas an den anstehenden Besuch seiner Eltern erinnert.

 

Kapitel 46

„Jonas? Jonas!“

Erschrocken blickte dieser auf und direkt in Eriks Augen, die ihn mit einer eigentümlichen Mischung aus Sorge und Belustigung musterten, als wäre er sich nicht sicher, ob diese geistige Abwesenheit noch witzig oder schon kritisch war.

„Sorry. Was hast du gesagt?“

„Ich habe die Couch im Büro ausgezogen und Bettzeug bereitgelegt, falls deine Eltern sich nach der langen Fahrt etwas ausruhen wollen.“

„Oh. Okay. Danke.“

„Kann ich sonst noch etwas tun?“

Langsam schüttelte Jonas den Kopf. „Nee. Sei … Sei einfach da, wenn wir zurückkommen.“

„Natürlich.“

Jonas‘ Plan sah vor, sich mit seinen Eltern in einem kleinen Restaurant am Stadtrand zu treffen, sie zu füttern und danach zu einem Spaziergang einzuladen. Bis er ihnen die neue Wohnung zeigte, hatten Sonne, Essen und Bewegung hoffentlich ihre Wirkung entfaltet und die beiden in ausreichend gute Stimmung versetzt, um größere Katastrophen zu verhindern. Wie üblich hatte der Plan besser geklungen, als er noch nicht kurz vor der Umsetzung stand.

„Ich sollt dann wohl langsam mal los, wenn ich die Bahn erwischen will. Bis nachher.“

„Warte!“

Fragend drehte sich Jonas zu Erik, der wortlos auf seine Lippen deutete. Mit einem schmalen Lächeln hauchte Jonas einen Kuss darauf. Nichts konnte ihn wirklich erschüttern, solange Erik an seiner Seite blieb.

 

„Eine Viertelstunde!“ Aufgebracht wedelte Jonas‘ Vater mit der Speisekarte, die man ihm gerade gereicht hatte.

Entgegen Jonas‘ Hoffnung, konnten sich seine Eltern nicht besonders für das Lokal begeistern, in das er sie gelotst hatte. Sie waren blind für die kunstvollen Malereien an den Wänden und taub für das Brummen der Hummeln, die das Blumenmeer auf der Terrasse anlockte. Auch die kühle Brise und das zwischen den Tischen umherwuselnde Personal besänftigten sie nicht.

„Wir haben eine Viertelstunde nach einem verfluchten Parkplatz gesucht!“, wiederholte Jonas‘ Vater, nachdem die erwünschte Reaktion seitens seines Sohnes ausgeblieben war. „Und der Gestank in dieser Stadt! Grauenhaft! Kein Wunder, dass die Leute an Lungenkrebs verrecken! Aber Hauptsache, das Rauchen in Kneipen wird verboten!“

„Papa, ich hab euch doch gesagt, dass das Restaurant einen Kundenparkplatz direkt ums Eck hat, ihr hättet nich‘ irgendwo in ‘ner Gasse parken müssen. Und anders als in Bayern, darf man hier in Berlin in vielen Kneipen noch rauchen.“

Dafür hatte sein Vater nur ein entnervtes Schnauben übrig.

„Jonas, Spatz“, schaltete sich seine Mutter ein. „Was kannst du denn empfehlen? Ich weiß ja gar nicht, was ich nehmen soll.“

„Was du willst“, antwortete Jonas achselzuckend. „Es is‘ ‘n Italiener, also bieten sich wohl Pasta oder Pizza an.“

„Warst du etwa noch nie hier?“, fragte sie kritisch.

„Doch, vor ein paar Wochen.“ Mit Erik. „Aber das heißt ja nich‘, dass ich die ganze Karte kenn.“

„Was hast du denn gegessen, als du das letzte Mal da warst?“

„Ähm, die Spaghetti alla Carbonara, glaub ich.“

„Waren die gut?“

„Nee, Mama, die waren total beschissen. So beschissen, dass ich nich‘ allein leiden wollt und euch deshalb hierhergeschleppt hab.“

„Jonas, pass auf, wie du mit deiner Mutter sprichst“, mahnte sein Vater. „Sie hat dir nur eine Frage gestellt.“

Jonas seufzte. „Okay, ja. Sorry. Die Spaghetti waren gut. Die Pizza auch.“

„Was für eine Pizza war es denn?“

„Mama!“

„Darf ich vielleicht unsere Tagesgerichte empfehlen?“ Jonas dankte der Servicekraft auf Knien für ihr Timing, aber auch sie konnte keine Wunder wirken.

Das Essen zog sich. Jonas‘ Vater schimpfte über den Verkehr und die anderen Autofahrer, seine Mutter über das Wetter, die Nachbarn und den Rest der Welt. Jonas selbst stellte ebenfalls nicht unbedingt den galantesten Gastgeber dar, war ungewöhnlich wortkarg und musste oftmals mehrfach angesprochen werden, bevor er reagierte. Er war sogar zu abgelenkt, um den besorgten Blick zu bemerken, den seine Eltern wechselten, als sie im nahen Park spazieren gingen.

„Ist bei dir alles in Ordnung, Spatz?“, fragte seine Mutter vorsichtig.

„Was?“ Aus seinen Grübeleien gerissen, hob Jonas den Kopf. „Oh, ähm, ja. Klar is‘ alles in Ordnung.“

„Sicher?“ Dieses Mal sah Jonas den Blick, den seine Mutter ihrem Mann zuwarf. „Du wirkst ein wenig abwesend.“

„Nee, passt schon. War bloß … Ich musste bloß über was nachdenken.“ Darüber, dass ich euch schon vor einer halben Stunde sagen wollte, dass ich schwul bin und mit meinem Freund zusammenlebe. Und wenn schon nicht im Restaurant, spätestens jetzt der Zeitpunkt gekommen wäre, endlich reinen Tisch zu machen. Aber seine Kehle war ausgedörrt und seine Stimme wollte nicht richtig funktionieren.

„Hat es etwas damit zu tun, warum du uns hierher eingeladen hast? Spatz, möchtest du uns vielleicht etwas sagen?“

Ja! Jonas musterte seine Mutter, stellte sich vor, einfach mit der Sprache herauszurücken, kurz und schmerzhaft, wie das Abreißen eines Pflasters. Doch am Ende schüttelte er nur den Kopf. „Is‘ grad nich‘ wichtig.“

„Du weißt, dass du uns alles sagen kannst.“

„Jaah …“ Wenn er das doch nur wirklich wüsste.

Seine Mutter ließ nicht locker. „Wir sind immer für dich da und unterstützen dich.“

„Ich weiß.“ Bitte sagt die Wahrheit. Bitte meint das ernst.

„Falls du also ein Drogenproblem hast …“

Perplex blinzelte Jonas. „Drogen?“ Dieser Verdacht war so abstrus, dass ein angespanntes Lachen aus seiner Brust explodierte. „Wie kommt ihr denn auf den Schei–Schmarrn?“

„Du bist launisch, hast im Restaurant kaum was gegessen, meldest dich nur noch sporadisch bei uns“, zählte seine Mutter auf, „bist spontan umgezogen, zu einem Mann, den wir nicht kennen. Dazu diese grässlichen Piercings und Tätowierungen … Du musst doch verstehen, was das für einen Eindruck bei uns hinterlässt.“

„Es hat wirklich nichts mit Drogen zu tun“, erwiderte Jonas, darum bemüht, seine Laune nicht noch tiefer sinken zu lassen. Das alles war eine grauenhafte Idee gewesen. „Ich bin bloß scheißnervös, weil ich versuch, euren Besuch hier schön zu gestalten und ihr bloß am Meckern seid. Ich glaub aber, solang wir in Berlin sin‘, kann ich euch eh nix recht machen.“

„Oh, Spatz!“, rief seine Mutter. „Das ist doch überhaupt nicht wahr! Wir sind froh, dass du uns eingeladen hast!“ Zufällig streifte ihr Fuß das Bein ihres Manns. Hart. „Nicht wahr?“

„Ja. Ja, natürlich sind wir das.“

Sollte Jonas seine Schauspielfähigkeiten von seinem Vater geerbt haben, wunderte es ihn nicht, dass die meisten seiner Lügen schnell durchschaut wurden. „Ich glaub, es is‘ besser, wenn wir den Spaziergang abkürzen und gleich zu mir fahren.“

Auf dem Rücksitz des Autos seiner Eltern schrieb Jonas eine kurze Nachricht an Erik, um ihn vorzuwarnen, dass sie in weniger als einer halben Stunde vor der Tür stehen würden. Seine Gedanken rasten. Die Stimmung war im Keller und er hatte keine Ahnung, wie er sie heben sollte, bevor er die Bombe platzen ließ. Zum ersten Mal betete er für einen heftigen Stau, einfach, um noch etwas Zeit zu gewinnen.

Die Straßen waren ungewohnt frei.

 

„Kommt rein.“ Jonas hielt seinen Eltern die Wohnungstür auf. Aus der Küche hörte er bereits das Klappern von Geschirr und ein Blick um die Ecke bestätigte, dass Erik damit beschäftigt war den Tisch zu decken.

Seit die Staginskys sich angekündigt hatten, bemühte sich Erik mehr denn je Jonas eine starke Schulter zu bieten, aber inzwischen sickerte die Nervosität auch aus seinen Poren. Sein dunkelblaues Hemd war makellos, keine Strähne seiner zu einem Knoten gebundenen Haare, die nicht an genau der Stelle lag, an der sie liegen sollte. Sogar die beiden winzigen Silberstecker in seinem linken Ohr blitzten frisch poliert.

Dazu der sorgfältig gedeckte Tisch, in dessen Zentrum die Biskuitrolle thronte, die er am Vortag leise fluchend und mit einem selbst für seine Verhältnisse extremen Perfektionsanspruch zubereitet hatte. Das charmante Lächeln, das er aufsetzte, als Jonas seine Eltern in die Küche scheuchte war die letzte Bestätigung.

„Erik, das sin‘ meine Eltern. Mama, Papa, das is‘ Erik. Mein … Mitbewohner.“ Im Auto hatte Jonas den Plan gefasst, Erik ganz nonchalant als seinen Freund vorzustellen und weitere Erklärungen zu liefern, sollten seine Eltern nachhaken. Sollten sie das nicht tun, hätte er eben zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal deutlicher werden müssen. Doch er konnte nicht. Er konnte es ihnen einfach nicht sagen. Nicht heute. Nicht so.

Subtil schüttelte er den Kopf, ein Zeichen, das er zuvor mit Erik verabredet hatte, um diesem zu signalisieren, ob er sich bereits im Restaurant geoutet hatte. Was ganz offensichtlich nicht der Fall war. Im Moment sehnte er sich nur danach, seine Eltern zu verabschieden, in Eriks Arme zu sinken und diesen vermaledeiten Tag zu vergessen. Womit Jonas allerdings nicht gerechnet hatte, war die tiefe Enttäuschung, die sich auf Eriks Gesicht abzeichnete, bevor er sie durch ein künstliches Lächeln ersetzen konnte.

Gleich darauf streckte er Jonas‘ Eltern zur Begrüßung die Hand entgegen. „Es freut mich sehr, Sie endlich mal persönlich kennenzulernen. Jonas hat schon viel erzählt. Nur Gutes, versteht sich.“ An ihn gewandt sagte er: „Der Kaffee läuft gerade durch. Dauert noch ein paar Minuten.“

„Okay, ähm, ich … kann euch solange ja die Wohnung zeigen.“ Mit geringfügig zu viel Nachdruck schob Jonas seine Eltern zurück in den Gang, froh Eriks Blick vorerst zu entgehen. „Da is‘ die Gästetoilette, da das große Bad und das hier is‘ das Wohnzimmer.“

„Sehr hübsch eingerichtet“, sagte seine Mutter höflich.

Jonas deutete auf zwei Mosaike, die zusammen mit der Collage aus seiner alten Wohnung den größten Teil der Wohnzimmerwand in Anspruch nahmen. Erik hatte extra zwei seiner Bücherregale ins Büro verfrachtet, um Platz dafür zu schaffen. „Das war eins meiner Uniprojekte.“ Er fühlte Röte in seine Wangen schießen, redete aber weiter. „Ähm, der Schmetterling sieht auf den ersten Blick hübsch aus, aber wenn man näher hingeht, erkennt man, dass die einzelnen Bilder ziemlich triste und teilweise recht eklige Motive zeigen. Das Zweite is‘ das genaue Gegenteil. Auf den ersten Blick scheißehässlich, aber eigentlich setzt es sich aus bildschönen Details zusammen. Die einzelnen Fotos hab ich übrigens hier in Berlin geschossen.“

„Das ist nett, Spatz“, kommentierte seine Mutter. „Hast du eine gute Note dafür bekommen?“

„Ich kann nich‘ meckern“, erwiderte Jonas, überraschend enttäuscht über die gemäßigte Reaktion seiner Eltern, obwohl er nichts anderes hätte erwarten sollen. Es war ja nicht so, als hätten sie jemals mehr Enthusiasmus für seine Kunst gezeigt. Nein, das war unfair. Sie hatten ihn immer unterstützt, es war eher das Verständnis, das ihnen fehlte und das konnten sie schlecht einfach aus dem Ärmel zaubern.

„Und wo ist dein Zimmer?“ Diese eigentlich unschuldige Frage seines Vaters ließ Jonas in Schweiß ausbrechen. Natürlich wollten sie sein Zimmer sehen, daran hätte er früher denken müssen. Sollte er ihnen das Schlafzimmer zeigen? Das hatte wenig genug mit seiner alten Wohnung zu tun. Oder vielleicht das Büro? Immerhin hatte Erik das kleine Sofa darin ausgezogen, aber ihnen zu erklären, weshalb er sein Bett weggegeben und es durch eine einfache Schlafcouch ersetzt hatte, würde trotzdem schwierig werden. Mal ganz davon abgesehen, dass das Zimmer sehr eindeutig nicht als Wohnraum gedacht war und die Aktenberge und Betriebswirtschaftsbücher darin definitiv nicht ihm gehörten.

Unsicher deutete Jonas auf die Tür gegenüber des Wohnzimmers. „Da.“

Natürlich stürmte seine Mutter gleich darauf zu, ohne zu fragen, ob es in Ordnung war, einen Blick hineinzuwerfen. „Das sieht aber anders aus!“, rief sie. „Was ist denn mit deinen Sachen passiert?“

Jonas folgte ihnen, musterte das große Bett und den edlen Wandschrank. Marcos Meisterstück, wie er inzwischen wusste. „Ähm, ich …“

„Jonas hat netterweise ein paar Sachen von mir übernommen.“ Unbemerkt hatte sich Erik an seine Seite gesellt. „Und dafür einige von seinen eigenen in seiner alten Wohnung zurückgelassen. Das hat den Umzug enorm erleichtert.“

„Verstehe.“ Schwer zu sagen, was Jonas‘ Vater darüber dachte. „Wie ist es überhaupt dazu gekommen, dass Sie und mein Sohn zusammengezogen sind?“ Dieses Mal war das Misstrauen offensichtlich.

„Oh, ähm, das …“ Jonas warf einen hilfesuchenden Blick zu Erik.

„Das war eher Zufall“, log dieser, ohne mit der Wimper zu zucken. „Ich habe die Wohnung letztes Jahr über eine Bekannte vermittelt bekommen. Eigentlich zu groß für mich, aber Lage und Miete waren zu gut, um abzulehnen.“ Wenigstens dieser Teil entsprach der Wahrheit. „Danach wollte ich mir eigentlich einen Mitbewohner suchen, aber irgendwie hat es sich nie ergeben und als Jonas vor ein paar Monaten erwähnt hat, dass er vielleicht näher an die Uni ziehen möchte“, Erik wahrte sogar das Geheimnis über Jonas‘ Nachbarn, deren aggressives Verhalten er gegenüber seiner Familie deutlich heruntergespielt hatte, „da dachte ich, dass wir ja mal versuchen könnten, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.“

„Und wie haben Sie sich kennengelernt?“, bohrte sein Vater weiter.

Da er in diesem Fall bei der Wahrheit bleiben durfte, ergriff nun Jonas das Wort. „Ich hab mich in dem Club beworben, in dem Erik arbeitet. Das hatte ich euch aber doch schon erzählt.“

„Verstehe.“ Mit einem letzten kritischen Blick auf ‚Jonas‘‘ Zimmer, wandte sich sein Vater ab. „Ich glaube, ich habe da vorhin was von Kaffee und Kuchen gehört.“

„Oh. Ja. Ähm, in der Küche.“

„Ich werde dann mal gehen.“

„Was?“ Überrascht drehte sich Jonas zu Erik. Das war so nicht abgemacht gewesen.

„Ich wollte noch zum Sport und fahre von dort aus gleich weiter in die Arbeit. Wir sehen uns also erst morgen wieder.“ Eriks Ton ließ keine Diskussionen zu. Wieder reichte er Jonas‘ Eltern die Hand. „Hat mich sehr gefreut.“

„Mich ebenfalls.“ Das Lächeln, das Jonas‘ Mutter zeigte, flackerte fast unmerklich.

„Dann … bis morgen“, murmelte Jonas überrumpelt und enttäuscht. Schweigend servierte er seinen Eltern den Kaffee und aß mehr Kuchen als schmeckte, einfach, um nicht reden zu müssen.

„Dein Mitbewohner scheint nett zu sein“, sagte seine Mutter während ihrer zweiten Tasse Kaffee. „Aber bist du sicher, dass er nicht … andersrum … ist?“

Jonas hätte sich beinahe an seinem Kuchenstück verschluckt. „Wie kommst du denn darauf?“

„Ist eben so ein Gefühl. Die langen Haare, die fesche Kleidung. Seine Fingernägel sind ordentlicher manikürt als meine eigenen.“ Für Letzteres war Jonas nahezu jede Nacht sehr dankbar. „Er ist wahnsinnig höflich und welcher Mann backt schon Biskuitrolle für die Eltern seines Mitbewohners?“

„Papa kocht jeden Tag, isser deswegen jetzt gleich schwul?“

„Das ist etwas anderes. Dein Vater ernährt damit seine Familie. Außerdem diese Ohrringe … Ich weiß ja nicht Jonas, vielleicht solltest du das im Auge behalten.“

„Warum sollte ich?“, fragte Jonas bissig. „Selbst wenn’s so wäre, wär das wirklich wichtig?“

„Hast du dich nie gefragt, weshalb er dich so günstig bei sich wohnen lässt?“

„Weil er nett is‘? Weil wir gut miteinander klarkommen? Weil’s für ihn immer noch günstiger is‘, als für die komplette Wohnung allein aufzukommen?“

„Bist du sicher, dass er nicht irgendwann mal eine Gegenleistung von dir erwartet?“

„Du meinst sowas wie Miete? Doch, doch, ich glaub, darüber hatten wir mal gesprochen.“ Jonas‘ Schläfen pochten, Blut rauschte in seinen Ohren. Seine Mutter wollte etwas erwidern, doch er würgte sie noch vor der zweiten Silbe ab. „Ach so, und einmal im Monat muss ich ihm den Schwanz blasen, aber er duscht davor, also is‘ das nich‘ so schlimm.“

„Jonas!“ Die Kaffeetasse seines Vaters klirrte unter der Wucht, mit der er sie auf den Tisch knallte. „Das ist kein Thema für den Esstisch. Das ist überhaupt kein Thema!“

„Ich hab ja wohl nich‘ damit angefangen!“, rief Jonas zornig. „Mama hat mich gefragt, ob ich Erik regelmäßig den Arsch hinhalte!“

Jonas!

„Und selbst wenn ich’s tät, wär das echt so‘n Problem? Könntet ihr euch mal nur für ‘ne verfickte Se–“

„JONAS!“ Die donnernde Stimme seines Vaters ließ ihn verstummen. „So sprichst du nicht mit deiner Mutter! Was ist denn heute los mit dir?“

Wütend biss sich Jonas auf die Zunge, kämpfte gegen die Tränen in seinen Augenwinkeln. So hatte er sich diesen Tag nicht vorgestellt. Anscheinend war er eine echte Enttäuschung für die Menschen, die er liebte. Für seine Eltern. Für Erik.

„Ich denke, wir sollten uns allmählich auf den Weg machen.“ Der Blick seiner Mutter war steif auf einen Punkt hinter ihm gerichtet. „Ich will nicht im Dunkeln fahren.“

Jonas nickte nur, hatte keine Kraft mehr für Diskussionen. „Wie weit habt ihr’s denn noch?“

„Nochmal gute zweihundert Kilometer“, antwortete sein Vater, als hätten sie sich vor dieser Frage ganz normal unterhalten.

„Dann solltet ihr wohl wirklich los.“

Küchenstühle scharrten über den Boden und Jonas führte seine Eltern das kurze Stück zur Haustür. „Soll ich euch noch zum Auto begleiten?“

„Das ist wirklich nicht nötig“, wehrte seine Mutter ab. „Wir stehen ja nicht weit weg.“ Ihr Lächeln war dünn und ihre Augen glasig, aber sie zog Jonas mit der gewohnten Kraft in ihre Arme. „Danke für die Einladung, Spatz. Es war schön, dich schon so bald wiederzusehen.“

Jonas wollte sein Gesicht gegen ihre Schulter drücken, den vertrauten Duft einatmen und ihren Streit einfach vergessen, aber er war ihr schon vor Jahren über den Kopf gewachsen. So kitzelte höchstens ihr Haar seine Nasenspitze und selbst dafür musste er sich herunterbeugen.

Auch von seinem Vater verabschiedete er sich mit einer Umarmung, fühlte die Geborgenheit, die dieser ihm seit seiner Geburt gespendet hatte. Warum nur zerrissen die beiden Menschen, die er über alles liebte sein Herz in winzige Fetzen?

Die Wohnungstürtür fiel ins Schloss und die Stille war ohrenbetäubend. Jonas wusste nicht, was er mit seinem freien Abend anstellen sollte, sah immer wieder auf sein Handy und hoffte auf eine Nachricht.

 

Du, 18:17 Uhr

meine eltern sind wieder unterwegs.

 

Du, 18:32 Uhr

kommst du vor der arbeit wirklich nich nochmal nach hause?

 

Du, 20:23 Uhr

wohl nich. is okay, wir sehen uns ja morgen

 

Du, 20:24 Uhr

und tut mir echt leid, wie das gelaufen is. ich hab einfach die nerven verloren

 

Du, 20:25 Uhr

danke, dass du mitgespielt hast. ich weiß, dass das schwer für dich war.

 

Du, 22:03 Uhr

Erik? meld dich doch mal wenigstens kurz!

 

Erik, 00:38 Uhr

Entschuldige, ist gerade stressig. Wir reden morgen.

 

Das war nicht gut. Das war überhaupt nicht gut. Wenn Erik sich zurückzog, war das immer ein Zeichen dafür, dass er mit etwas haderte. Jonas‘ Entscheidung, ihre Beziehung weiter vor seinen Eltern zu verheimlichen musste ihn ernsthaft verletzt haben. Wie sollte Jonas das wiedergutmachen? Ging das überhaupt? Was, wenn das der letzte Tropfen gewesen war? Wenn Erik entschieden hatte, diese Beziehung so nicht fortführen zu können?

 

Die Wohnungstür öffnete und schloss sich, gedämpfte Schritte erklangen, der Wasserkocher blubberte. Sanftes Plätschern, als heißes Wasser in die Thermoskanne umgeschüttet wurde. Wieder Schritte. Das Licht im Wohnzimmer leuchtete auf. „Jonas?“ Verdutzt blieb Erik im Türrahmen stehen. „Warum bist du nicht im Bett?“

„Konnte nich‘ schlafen.“ Die Knie an die Brust gezogen, starrte Jonas auf seine nackten Zehen. Schließlich blickte er wieder zu Erik. „Lass mich nich‘ bis morgen warten, sag einfach, was du zu sagen hast! Dass … Dass das hier keinen Sinn mehr hat, wenn ich dich vor meinen eigenen Eltern verleugne! Dass wir dann auch gleich Schlu–“, sein eigenes Schluchzen unterbrach ihn, „Schluss machen können!“

Mit wenigen Schritten überwand Erik die Distanz zwischen ihnen und schloss Jonas in seine Arme. „Sag doch sowas nicht.“

„Ich versuch bloß, dir den ätzenden Teil abzunehmen.“ Jonas wagte es nicht, in die trügerische Sicherheit der Umarmung zu schmelzen, völlig egal, wie sehr er sich danach sehnte.

Zur Antwort seufzte Erik, schob ihn ein Stück von sich, um ihm in die Augen sehen zu können. „Ich hatte ganz sicher nicht vor, mit dir schlusszumachen. Wie kommst du denn auf so einen Quatsch?“

„Ich hab dein Gesicht gesehen, als ich dich als meinen Mitbewohner bezeichnet hab. Dann bist du abgehauen und hast dich den ganzen Abend ‘nen Scheiß um meine Nachrichten gekümmert. Fuck, was soll ich denn da deiner Meinung nach denken?“

„Jonas, nein! Das war nicht … Ich wollte nicht … Ah, Himmel!“ Erik vergrub das Gesicht in den Händen. „Ich will mich ganz sicher nicht von dir trennen! Ich war nur …“ Er schüttelte den Kopf, ohne die Hände herunterzunehmen. „Ich war nur selbst so überrascht, wie sehr mich deine Entscheidung mitgenommen hat. Deshalb habe ich mich vorerst zurückgezogen. Aus Angst, dir andernfalls ungerechtfertigte Vorwürfe zu machen, oder dir am Ende sogar das Gefühl geben, dass du etwas falsch gemacht hast.“

„Aber das hab ich doch, offensichtlich!“

„Himmel, Jonas. Nein! Nein, du hast absolut nichts falsch gemacht!“ Endlich nahm Erik die Hände herunter und versuchte sich einem recht schief geratenen Lächeln. „Aber ich merke, dass mein Plan, dir keine unnötigen Sorgen zu bereiten ganz ausgezeichnet funktioniert hat. Tut mir leid.“

„Dann bist du nich‘ sauer?“

„Natürlich nicht!“

„Oder enttäuscht?“

Erik nahm sich einen Augenblick Zeit, bevor er langsam den Kopf schüttelte. „Ich will nicht lügen. Natürlich wünsche ich mir manchmal, dass es einfacher wäre. Aber das wünsche ich mir bei vielen Dingen. Ich wünsche mir, dass wir unsere Zuneigung öffentlich zeigen können, ohne fürchten zu müssen, dafür angefeindet zu werden. Ich wünsche mir, keine Artikel in etablierten Zeitungen mehr lesen zu müssen, in denen wir mehr oder minder offen als Kinderschänder bezeichnet werden. Ich wünsche mir, mir hätte die völlig betrunkene Thekenkraft heute nicht vors Büro gekotzt. Und noch eine Menge mehr, aber realistisch betrachtet ist es noch ein weiter Weg für all das. Dinge ändern sich eher selten über Nacht und noch viel seltener werden sie einfach so wirklich gut. Ah, was ich damit sagen will, ist … Ich hatte dir versprochen, dir so viel Zeit zu lassen, wie du brauchst und nur, weil mir heute bewusst geworden ist, dass ich unsere Situation in den letzten Wochen vielleicht etwas zu naiv betrachtet habe, hat sich an diesem Grundsatz nichts geändert. Ich stehe hinter dir. Immer.“

Jonas krallte die Hände in das Sofapolster und atmete einige Male tief durch. Er war müde und erschlagen, aber eine Anspannung, derer er sich bis eben nicht einmal bewusst gewesen war, versickerte langsam in der schlammigen Grube, aus der sie sich ursprünglich ihren Weg gebahnt hatte. Kraftlos lehnte er sich gegen Erik. „Dir hat jemand vors Büro gekotzt?“

Erik rollte mit den Augen. „Wir wollten den Typen eh feuern, weil er schon ein paarmal durch Unzuverlässigkeit geglänzt hat. Dieses Mal hat er wohl für jeden Kurzen, der bei ihm bestellt wurde selbst einen getrunken. In das Ergebnis wäre ich dann kurz vor Mitternacht beinahe reingetreten.“

Ohne es wirklich zu wollen, brach Jonas in schallendes Gelächter aus. „Ich sag’s noch mal, ihr hättet damals wirklich mich einstellen sollen!“

„Ich weiß.“ Einen Arm um Jonas gelegt, nippte Erik an seinem dampfenden Tee. „Wie ist der restliche Tag mit deinen Eltern gelaufen?“

Jonas nahm ihm die Tasse ab, um selbst einen Schluck zu trinken. „Beschissen. Ehrlich beschissen. Nee, warte, ‚ehrlich‘ ja grad nich‘.“

„Was war los?“

„Ich weiß es nich‘.“ Hilflos zog Jonas die Knie noch enger an seinen Körper, umarmte sich selbst. „Es is‘ … Dieses Thema überschattet einfach alles. Ständig denk ich drüber nach, wie ich’s sagen könnt, wie meine Eltern reagieren. Bin sauer auf mich, weil ich’s nich‘ einfach durchzieh, bin sauer auf sie, weil sie’s mir so schwer machen … Dann bin ich angespannt und maule sie an. Sie maulen zurück und schon sin‘ wir in so ‘nem ekelhaften Strudel aus beschissener Laune, aus dem wir nich‘ rauskommen.“ Jonas sah, dass Erik den Mund zu einer Erwiderung öffnete und kam ihm zuvor: „Ich weiß, dass ich’s ihnen nich‘ sagen muss! Aber … doch, ich muss es. So kann’s einfach nich‘ weitergehen. Unser Verhältnis kann kaum noch angespannter und unangenehmer werden. Naja, ich hab Ende nächster Woche ja noch ‘ne Chance. Dann kommen sie auf dem Heimweg wieder vorbei.“ Jonas starrte auf den ausgeschalteten Fernseher. „Komm, mach Lost rein, ich brauch ‘n bissl Ablenkung.“ Wie Erik es schaffte, jeden Morgen nach der Arbeit genau eine Folge dieser Serie anzusehen, war Jonas noch immer ein Rätsel, aber solange er jetzt ebenfalls davon profitierte, wollte er nicht meckern.

„Ich bin durch damit.“

Was? Und das erzählst du mir nich‘? Und? Wie fandst du das Ende?“

„Kreativ“, erwiderte Erik trocken.

Jonas grinste. „Das is‘ ja ‘n noch grausameres Urteil als ‚nett‘. Was guckst du dann jetzt?“

„Downton Abby.“

„Okay, ich geh ins Bett. Hey!“ Lachend versuchte Jonas, Eriks Finger aus seiner Jeansschlaufe zu lösen. „Du erwartest jetzt wirklich, dass ich das mitguck, oder?“

„Mhm.“

Nach ein wenig gespieltem Widerstand sank Jonas zurück auf die Couch und schmiegte sich an seinen Freund. „Downton Abby … Kein Wunder, dass meine Mum dich für schwul hält.“

Jetzt war es an Erik zu lachen. „Ist das so?“

„Japp. Hat mir ‘ne ganze Sammlung an Klischees um die Ohren gehauen, um mich zu überzeugen.“

„Nun, sie hat nicht ganz Unrecht, oder? Ich bin schwul. Und ich erfülle wohl auch das eine oder andere Klischee. Immerhin hast du mich damals im Tix einfach so geküsst, du musst also zumindest eine Ahnung gehabt haben.“

„Ich war betrunken, geil und in Panik!“, rief Jonas abwehrend. „Außerdem dacht ich, du hättest mit mir geflirtet!“

„Ah, ich habe mit dir geflirtet.“

„Hast du?“ Bis heute war sich Jonas nicht sicher gewesen, ob das nicht nur seinem Wunschdenken entsprungen war.

„Natürlich. War schwer genug, mich während des Vorstellungsgesprächs zurückzuhalten. Du warst so niedlich. Au!“ Erik rieb über seinen schmerzenden Oberarm. „Ich sage nur die Wahrheit.“ Ein wenig ernster fragte er: „Wie haben deine Eltern darauf reagiert?“

„Ganz ehrlich? Nich‘ besonders gut. Sie …“ Jonas lachte bitter. „Sie haben gesagt, ich soll aufpassen, dass du keine, ähm, sexuelle Gegenleistung für die günstige Miete von mir erwartest. Hab ihnen dann gesagt, dass es mir nix ausmacht, dir einmal im Monat den Schwanz zu lutschen. Hat nich’ grad geholfen, die Stimmung zu lockern.“

„Seltsam, ich kann mir gar nicht vorstellen wieso. Vielleicht hättest du nicht so maßlos tiefstapeln sollen. Einmal im Monat … Die Quote würdest du vielleicht erreichen, wenn du mich die nächsten fünfzehn Jahre nicht mehr ranlässt. Au! In Ordnung, mein Arm braucht mal eine Pause.“

„Red weniger Quatsch, dann kriegt er sie vielleicht.“ Jonas‘ Zunge spielte mit seinem Piercing. „Sorry, dass du da so blöd reingezogen wirst.“

Erik zuckte mit den Schultern. „Damit komme ich schon klar. Außerdem hätten deine Eltern doch noch viel schlimmer reagieren können, oder nicht? Ich wette, wenn Christine eine WG mit einem Mann gründen würde, würden sie sie vor genau derselben Gefahr warnen.“

„Jaah, vielleicht.“

„Sie machen sich einfach nur Sorgen um dich.“

„Denkst du?“

„Natürlich. Ah, ich sage nicht, dass da nicht auch eine Menge Vorurteile drinstecken, aber zumindest Böswilligkeit kann ich nicht erkennen.“

„Vielleicht. In ein paar Tagen sind wir wohl schlauer.“

Erik gab ein unbestimmtes Brummen von sich. „Darf ich jetzt die Folge starten?“

„Ich kann immer noch nich‘ glauben, dass du mich zwingst, den Scheiß mit dir zu gucken.“

„Ich prophezeie dir, dass du die Serie nicht ansatzweise so schlecht finden wirst, wie du jetzt tust.“

Ohne diese Aussage mit einer Antwort zu adeln, rutschte Jonas noch näher an Erik. Nie wieder wollte er sich aus seinen Armen lösen. Der Frieden zwischen ihnen schien ihm zu brüchig.

Kapitel 47

Was zuletzt geschah:

Das erste Kennenlernen zwischen Erik und Jonas‘ Eltern verläuft denkbar schlecht. Während Jonas daran scheitert, Mut und die richtigen Worte zu finden, treibt die Enttäuschung über die fortgesetzte Heimlichtuerei Erik aus der Wohnung. Am Ende verabschieden sich Jonas‘ Eltern so ahnungslos wie zuvor und lassen ihren Sohn mit der Erkenntnis zurück, dass er unmöglich so weitermachen kann.

 

Kapitel 47

„Bloß noch eine Folge!“

„Nein.“ Hastig brachte Erik die Fernbedienung außerhalb der Reichweite von Jonas‘ gierigen Fingern.

Dieser weigerte sich allerdings, so schnell kleinbeizugeben. „Eine einzige!“

„Morgen wieder.“

„Aber du hast versprochen, dass wir Downton Abby zusammen bingen!“

„Was wir auch tun werden. Nur nicht jetzt. Wenn du willst, dass deine Eltern etwas zu Essen haben, wenn sie ankommen, sollten wir jetzt anfangen zu kochen.“

„Quatsch, wir haben noch mehr als genug–“ Jonas blinzelte, als Erik ihm seine Armbanduhr unter die Nase hielt. Dann sprang er von der Couch. „FUCK! So spät schon?“

„Mhm.“

„Die sin‘ in ‘ner Stunde da!“

„Mhm.“

„Fuck, fuck, fuck, fuck, fuck!“ Fluchend stürmte Jonas in die Küche und durchwühlte sämtliche Schränke nach den passenden Zutaten. „Fuck!“ Er wirbelte zu Erik herum. „Jetzt hilf mir doch mal!“

Ohne weitere Diskussionen nahm Erik Zwiebeln und Knoblauch entgegen, um sie in kleine Würfel zu verwandeln, während Jonas Mehl, Eier und Milch für zu einem Pfannkuchenteig zusammenrührte, der unter seinen nervösen Fingern immer wieder über den Schüsselrand schwappte. Diese Nervosität speiste sich aus derselben Quelle wie sein Gequengel nach noch einer Folge Downton Abby und die kaum gezügelte Reizbarkeit: Nackte Panik bei der Aussicht, in weniger als einer Stunde erneut seinen Eltern gegenüberzustehen.

Die vergangene Woche hatte sich wie Kaugummi gezogen und war dennoch viel zu schnell vergangen. Wieder und wieder waren Jonas‘ Gedanken zu dem anstehenden Gespräch gewandert, hatten Kreise darum gezogen, bis er nicht mehr Schlafen, Essen oder Lachen konnte. Er versuchte sich einzureden, dass er sich unmöglich noch schlechter fühlen konnte, völlig egal, wie dieser Tag endete, aber auch das brachte keine Erleichterung. „Ich hab ihnen ‘nen Brief geschrieben.“

Erik sah von seiner Arbeit auf. „Einen Brief?“

Heißes Fett schlug Blasen um den Teigklecks, den Jonas probeweise in die Pfanne gegeben hatte. Rasch fügte er mehr hinzu, verteilte eine dünne Schicht über den Pfannenboden. „Hab alles reingeschrieben, was ich bisher nich‘ sagen konnte. Als Übung für mich. Und … Und als Absicherung. Falls ich’s heute nich‘ schaff, ihnen die Wahrheit zu sagen, dann … dann geb ich ihnen den Brief mit. Aber ich brauch vielleicht ‘nen Stups in die richtige Richtung.“

Knoblauch und Zwiebeln verströmten ihren würzigen Duft in einem weiteren Topf. Erik machte sich daran, Spinat zu verlesen. „Wo ist der Brief?“

„In meiner rechten Hosentasche.“ Jonas konzentrierte sich etwas zu sehr auf die Tomaten, die unter seiner Messerklinge zerfielen, doch Erik sorgte gewohnt zuverlässig dafür, dass der unbeachtete Pfannkuchen nicht anbrannte.

„Notfalls greife ich dir also einfach vor den Augen deiner Eltern in die Hose?“

„Japp und wenn sie bis dahin noch nich‘ begriffen haben, dass wir nich‘ nur Mitbewohner sind, kann ich ihnen auch nich‘ mehr helfen. Oder doch, weil dann haben sie ja immer noch den Brief.“

In Teamarbeit verteilten sie Frischkäse, Spinat, Tomaten und Feta auf die fertigen Pfannkuchen, rollten sie ein und verfrachteten sie in den Ofen. Erik warf einen Blick auf seine Uhr. „Ich denke, wir liegen gut in der Zeit.“

Jonas schnaubte. „Ja. Ja, das denk ich auch.“ Er zog Erik zu sich, küsste sich von den Schläfen, über die Lippen bis zum Schlüsselbein. Die Stirn gegen Eriks Halsbeuge gepresst, rief er sich all die guten Dinge ins Gedächtnis, die das Leben für ihn bereithielt – egal, wie seine Eltern gleich reagieren würden. Es brauchte ein nachdrückliches Läuten der Türglocke, um ihn aus seiner Starre zu reißen und bevor er sich gänzlich aus der Umarmung befreien konnte, hielt Erik ihn zurück.

Liebevoll strich er über Jonas‘ Wange. „Egal, was heute passiert: Ich bin hier, an deiner Seite. Dieses Mal laufe ich nicht weg. Versprochen.“

Jonas nickte. Dann öffnete er seinen Eltern die Tür.

 

„Seid ihr gut durchgekommen?“ Mit ausgestrecktem Arm lotste Jonas seine Eltern in die Küche.

„Ziemlich gut, Spatz.“

Der erstickte Laut hinter Jonas kam von Erik, der sich redliche Mühe gab, ob dieses Spitznamens nicht laut zu lachen. Schmunzelnd reichte er Jonas‘ Eltern die Hand. „Freut mich, Sie wiederzusehen.“

„Essen ist gleich fertig.“ Jonas spähte in den Ofen. „Ähm, so fünf Minuten noch. Setzt euch doch schon.“

Erik rückte Jonas‘ Mutter den Stuhl zurecht. „Wie hat Ihnen die Ostsee gefallen?“

„Oh, die Gegend ist wirklich ganz zauberhaft.“

„Bayern ist schöner“, antwortete Jonas‘ Vater trotzig. „Ich vermisse die Alpen. Hier ist alles so flach.“ Jonas musste ihm lassen, dass es einen gewissen Ehrgeiz benötigte, nach einem Strandurlaub noch schlechtere Laune als zuvor zu haben.

„Hat wenigstens das Wetter einigermaßen mitgespielt?“ Unwillig, sich von dieser Abfuhr aus der Ruhe bringen und das Gespräch abreißen zu lassen, mimte Erik ganz den braven Schwiegersohn, den sich Jonas schon eine Woche zuvor erhofft hatte. „Ich war lange nicht mehr da, aber in der Ostsee zu schwimmen war immer etwas ganz Besonderes für mich. Dafür habe ich sogar das Mittelmeer links liegen lassen.“

„Wir haben nur mal die Zehenspitzen reingehalten. Ist ja auch wirklich sehr kalt, sogar jetzt im Sommer.“

Jonas versuchte zu ergründen, ob das verlegene Lachen seiner Mutter echt war, oder sie sich einfach krampfhaft bemühte, das verpatzte erste Kennenlernen auszugleichen. Ihrem guten Willen zum Trotz, verlief die Unterhaltung schleppend und auch das Essen, das er auf den Tisch brachte änderte daran nichts. Sie und Erik tauschten ein paar Höflichkeiten aus, beide offensichtlich darauf bedacht, ihrem Gegenüber nicht auf die Zehen zu steigen, sein Vater und er selbst hüllten sich weitestgehend in Schweigen.

„Jonas, Spatz, du isst ja schon wieder nichts“, merkte seine Mutter nach einer Weile an. „Dabei hast du so gut gekocht. Geht’s dir nicht gut?“

„Doch, doch. Alles okay.“ Jonas fühlte Eriks Blick auf sich. „Aber, ähm … Es is‘ nur …“

„Was ist los?“

„Nix Schlimmes!“, versicherte er eilig. Schuldgefühle wallten unter dem sorgenvollen Ton seiner Mutter auf. „Es gibt nur Etwas, das ihr wohl wissen solltet und ich … Scheiße, ich zerbreche mir seit Monaten den Kopf, wie ich’s euch sagen soll.“

„Seit Monaten?“ Die Augen seiner Mutter wurden groß. „Du schleppst irgendetwas seit Monaten mit dir rum, weil du nicht weißt, wie du es uns sagen sollst? Jonas, du machst mir Angst!“

Jonas‘ Vater legte eine Hand auf den Arm seiner Frau. „Jetzt lass den Jungen doch mal ausreden.“

Dankbar nickte Jonas seinem Vater zu. „Eigentlich sin‘ es sogar schon ein paar Jahre … Aber das is‘ jetzt auch egal. Wichtig is‘ bloß, dass ich endlich den Mut find, euch zu sagen, dass ich … Ich … Ich …“ Jonas starrte auf die Gabel in seiner Hand, deren Zinken immer wieder sacht gegen den Teller schlugen. Nicht einmal bei seiner mündlichen Abschlussprüfung hatte er so gezittert. Unerwartet strich Eriks Fuß über sein Bein, spendete unter dem Tisch verborgene Stärke. Jonas nahm sich einen Moment Zeit, um zur Ruhe zu kommen, zählte langsam bis fünf und atmete einmal tief durch, bevor er sagte: „Ich bin schwul.“ Als seine Eltern nicht reagierten, blickte er auf. Hätte er ihnen gesagt, sein Name sei König Bambelboo aus dem schönen Planetensystem Gliese 581 und er würde ab sofort nur noch pinke Schlüpfer als Kopfbedeckung tragen, sie hätten ihn kaum verständnisloser ansehen können. Das war eine der Reaktionen, die er am meisten gefürchtet hatte. Aber es half nichts, er hatte diesen Weg eingeschlagen, jetzt musste er ihn auch zu Ende gehen. „Und, ähm, ihr hattet auch recht, dass ich nich‘ ganz zufällig zu Erik gezogen bin. Wir … leben zusammen. Also, nich‘ so WG-mäßig, sondern …“ Sein Piercing klickte gegen seine Zähne, als er sich auf die Lippe biss. „Erik is‘ mein Freund. Mein … fester Freund.“

Ganz allmählich schwenkten die Augen seines Vaters von ihm zu Erik. „Was soll das heißen?“

„Genau das, was Ihr Sohn Ihnen gerade zu erklären versucht“, antwortete Erik ruhig. „Ich weiß, dass das für Sie überraschend kommt, aber bitte geben Sie ihm die Chance, sich auszusprechen.“

Jonas hatte Eriks Worte nur am Rande mitbekommen. Seine Aufmerksamkeit galt seiner Mutter, die starr auf ihrem Platz hockte, die Lippen schmal und den Blick auf alles gerichtet, nur nicht ihren Sohn.

Er sprang auf, lief zur Tür gegenüber der Küche und stieß sie auf. „Das is‘ das zweite Schlafzimmer“, rief er lauter als nötig. „Wäre das zweite Schlafzimmer. Es is‘ aber keins, weil wir nur ein Bett brauchen.“

Abrupt stand seine Mutter auf. „Ich denke, wir sollten jetzt gehen.“ Ihre Stimme war zu hoch und zu dünn. Ohne eine Antwort ihres Manns abzuwarten stürmte sie aus der Küche. „Es war schön, dich wiederzusehen, Jonas.“ Noch immer ging ihr Blick an ihm vorbei. „Sag uns Bescheid, ob du über Weihnachten nach Hause kommst.“

Jonas war zu überrumpelt, um zu reagieren, blickte nur hilfesuchend zunächst zu Erik, der ebenso am Ende seiner Weisheit angekommen zu sein schien und anschließend zu seinem Vater, doch von dieser Front brauchte er wohl keine Hilfe erwarten. Mit hängendem Kopf schlich dieser an ihm vorbei. Binnen weniger Sekunden waren Jonas‘ Eltern aus der Wohnung verschwunden.

Das Zuschlagen der Tür hallte wie ein Gewehrschuss in seinem Kopf. Betäubt starrte er auf das lackierte Holz, glaubte, seinen eigenen Herzschlag zu hören. Was war gerade passiert?

Eine Hand legte sich auf seine Schulter; er schüttelte sie ab. „Ich geh eine Runde laufen.“ Er machte sich nicht die Mühe, seine Sportklamotten anzuziehen, eilte nur die Treppe herunter, floh beinahe, doch die Haustür stoppte ihn. Wann waren seine Eltern gegangen? Vor dreißig Sekunden? Drei Stunden? Er wusste es nicht, hatte jedes Zeitgefühl verloren. Alles war surreal, die Minuten falteten sich ineinander, rannen wie Honig über seine Finger. Wie hoch war das Risiko, seinen Eltern in die Arme zu laufen, wenn er jetzt das Haus verließ?

Die Hand auf der Klinke, zählte Jonas dreimal bis hundert, bevor er sie herunterdrückte und gegen den Schmerz in seiner Brust anrannte. Häuser, Bäume und unbekannte Gesichter zogen an ihm vorbei. Immer schneller, immer weiter. Gassen, die er nicht kannte, Orte, an denen er noch nie gewesen war. Jonas rannte.

Und rannte.

Und rannte.

Bis nichts mehr ging.

 

Keuchend stützte sich Jonas auf seinen Knien ab. Seine Lungen brannten, Schweiß tropfte von seinen Haaren auf den Boden, schwarze Flecke tanzten vor seinen Augen. Er wusste nicht, wohin ihn seine Füße getragen hatten und es war ihm auch egal.

Die Hand, mit der er sein Handy aus der Reißverschlusstasche seiner Shorts holte zitterte. Keine Nachricht von seinen Eltern. Dafür hatte Erik ihm geschrieben.

 

Erik, 13:43 Uhr

Hey,

ich verstehe, dass du Zeit für dich brauchst, aber gib mir bitte ein kurzes Lebenszeichen, ja?

 

Ein kurzes Lebenszeichen, wollte Erik. Einen kurzen Moment vorgeben alles wäre gut. Normal. Das konnte Jonas, hatte es jahrelang getan. Er tippte.

 

Du, 14:32 Uhr

alles gut

 

Du, 14:33 Uhr

werd noch mal ne runde laufen, dann komm ich heim

 

Du, 14:33 Uhr

sobald ich rausfinde, wo zum fick ich eigentlich bin

 

 

Seine eigenen Nachrichten bereits vergessen, steckte Jonas das Handy weg und setzte seinen Weg fort.

 

Jonas wusste nicht, wie lange er unterwegs gewesen war, doch als er endlich in die Wohnung zurückkehrte, war sein Körper taub. Nur sein Innerstes stand noch immer in Flammen. Er hinkte ins Bad, warf seine völlig verschwitzten Klamotten in den Wäschekorb und versuchte, den Brand in ihm mit eisigem Wasser zu löschen. Als auch das nicht half, drehte er den Hahn ab.

Das Handtuch, das Erik vorausschauend bereitgelegt hatte war weich und flauschig; umhüllte ihn, wie die Arme einer Mutter. Rasch wischte Jonas die Metapher aus seinem Kopf, flüchtete tropfend aus dem Bad.

Erik saß auf der Wohnzimmercouch, die Nase in ein Buch gesteckt, von dem er erst aufblickte, als er die Bewegung neben sich wahrnahm. Jonas griff nach der Fernbedienung, hielt dann aber inne. „Sorry, stört’s dich?“

„Nein, gar nicht.“ Erik klappte das Buch zu und legte es auf den Couchtisch vor sich. „Ich kann mich ohnehin nicht konzentrieren.“

„Okay.“ Jonas hatte keine Ahnung, was er sich eigentlich ansah. Blind starrte er auf den Bildschirm, die Worte flogen durch seinen Kopf hindurch, aber das war egal, solange sie nur seine eigenen Gedanken im Zaum hielten. Irgendwann wechselte das Programm und eine sinnlose Sendung löste die andere ab. „Sie haben nich‘ zufällig hier aufm Festnetz angerufen, oder?“ Hatte er ihnen überhaupt die Nummer gegeben?

„Nein.“

„Okay. Hatte ich auch nich‘ erwartet.“ Der Bildschirm vor Jonas verschwamm und wollte einfach nicht mehr aufklaren, völlig egal, wie oft er blinzelte. Sein notdürftig hochgezogener Schutzwall bröckelte. Zunächst nur ein paar Kiesel, aber bald splitterten Stein und Fels und Eis. Schlamm umspülte Jonas Füße, riss ihn mit sich, nahm ihm die Kontrolle. Das Schluchzen, das seit Stunden in seinem Inneren tobte kämpfte sich hervor, zwängte sich durch seine zugeschnürte Kehle.

Jonas war machtlos gegen die Tränen, die über sein Gesicht rannen, also gab er den Kampf gegen sie auf und akzeptierte den Schmerz, den sie mit sich brachten. Ein vertrauter Duft umhüllte ihn, Eriks Arme boten Schutz und Wärme, machten alles ein wenig erträglicher.

Es dauerte Stunden, jedenfalls fühlte es sich so an, doch irgendwann versiegte der Tränenstrom. Verbissen rieb Jonas die letzten Tränen aus seinen verquollenen Augen, löste seine verkrampften Finger aus Eriks Hemd. „Scheiße, zum Glück bist du hier. Keine Ahnung, was ich anstellen würd, wenn nich‘.“

Nur widerwillig ließ Erik von ihm ab. „So schnell wirst du mich sicher nicht los.“

Jonas nickte, wartete darauf, dass sich der Knoten in seiner Brust lockerte, aber das Gefühl, nicht genug Luft zu bekommen, blieb. Schließlich griff er nach der Fernbedienung, wollte sich ablenken, einfach nicht mehr nachdenken. „Jetzt haben wir aber Zeit für ‘ne Folge Downton Abby, oder?“

„Wir haben die ganze Nacht.“

 

Schwerfällig rollte sich Jonas zur Seite. Er hatte einen scheußlichen Traum gehabt, in dem er vor seinen Eltern endlich mit der Sprache rausgerückt und prompt von ihnen verlassen worden war. Und dann? Dann hatte er geweint und geweint und geweint. Wann immer die Tränen für kurze Zeit trockneten, waren sie kurz darauf umso schmerzhafter zurückgekehrt.

Ein zentnerschweres Gewicht sank auf seine Brust. Kein Traum. Seine Eltern wussten Bescheid und hatten ihm den Rücken gekehrt. Das aggressive Blinken seines Handys schien die Erinnerung in seinen Kopf hämmern zu wollen. Er griff danach, um es auszuschalten, doch ein Blick aufs Display ließ ihn in die Höhe schnellen. In seiner Eile brauchte er drei Versuche, um den Anruf entgegenzunehmen.

„Ha–“ Jonas räusperte sich, versuchte etwas weniger zu klingen, als hätte er die ganze Nacht geheult. „Hallo.“

„Na endlich!“

„Papa?“ Die Überraschung brachte das Krächzen zurück in seine Stimme. Er hatte fest mit seiner Mutter gerechnet. „Habt ihr’s schon öfter versucht?“

„Den ganzen Morgen.“

„Tut mir leid. Ich hab’s nich‘ mitgekriegt. Wir sin‘ spät ins Bett gegangen.“

„V-Verstehe.“ Ein paar Atemzüge Schweigen. „Jonas, es tut mir leid, wie das gestern gelaufen ist. Wir hätten nicht einfach so verschwinden sollen.“

Da hast du verflucht nochmal recht! Das war die größte Scheiße, die ihr hättet bringen können! „Ich … Ich kann schon verstehen, dass das unerwartet kam.“

„Das kam es in der Tat.“ Als die anscheinend erwartete Antwort ausblieb, räusperte sich Jonas‘ Vater. „Jedenfalls haben deine Mutter und ich darüber gesprochen und“, wieder eine kurze Pause, „wir wollen, dass du nach Hause kommst.“

„Was? Wann?“

„So bald wie möglich. Wie gesagt, wir haben uns gestern lange unterhalten und sind uns einig, dass dir das guttäte. Weg aus dieser Stadt. Weg von … von diesem Mann.“

Zusammen mit dem letzten bisschen Müdigkeit, das aus Jonas‘ Knochen verschwand, erlosch auch der Hoffnungsfunken, der sich klammheimlich entzündet hatte. „Papa, das hat nix mit … Wie könnt ihr denken, dass …“

„Glaub nicht, dass uns nicht aufgefallen wäre, wie sehr du dich seit deinem Umzug verändert hast. Das bist einfach nicht mehr du.“

„So ein verfickter Scheißunsinn!“ War Jonas‘ Stimme bisher schwach und zerbrechlich gewesen, überschlug sie sich nun. „Versteht ihr das wirklich nich‘? Genau das bin ich! Ich hab mich bisher bloß nich‘ getraut, es euch zu zeigen! Ich hatte Angst! Hab versucht, für euch jemand zu sein, der ich nich‘ bin. Hab versucht, diesen Teil in mir zu leugnen und gehofft, dass er irgendwann verschwindet. Aber das wird er nich‘! Und wisst ihr was? Inzwischen is‘ das okay für mich. Ich bin richtig so wie ich bin.“ Am andern Ende der Leitung herrschte Schweigen. Der kurzfristig aufgeflammte Zorn ließ Jonas ausgebrannt zurück. „Tut mir leid, Papa. Ich will nich‘ schon wieder streiten.“

„Das will ich doch auch nicht. Aber wir können nicht einfach zulassen, dass du in dein Unglück rennst.“

„Das tue ich nich‘.“

„Vielleicht siehst du das noch nicht“, sagte sein Vater sanft. „Weil das alles neu und aufregend für dich ist und dieser Typ dir schöne Versprechungen macht.“

„Papa, jetzt hör mir mal gut zu. Das hat nichts, wirklich nicht das Geringste mit Erik zu tun! Er hat mich nich‘ mit seinem pinken Zauberstab angestupst und – puff! – war ich ‘n Homo. Er hat mir nur dabei geholfen, den Mut zu finden, dazu zu stehen.“

„Ich kann dir nur noch einmal anbieten nach Hause zu kommen“, erwiderte Jonas‘ Vater steif, als arbeitete er ein Skript ab, das keinen Platz für die Argumente seines Sohns ließ. „Komm zu uns, gönn dir ein wenig Ruhe und Abstand von Berlin und …und diesem Mann.“ Er sprach Eriks Namen nicht aus. „Dann überlegen wir uns, wie es weitergeht. Vielleicht kannst du in München studieren, oder du jobbst erstmal im Apfelbäumchen. Das wird sich schon alles irgendwie ergeben.“

„Danke, Papa, aber ‚Nein, danke‘.“

„Dein letztes Wort?“

„Ja.“

„Das müssen wir so hinnehmen.“ Die Enttäuschung seines Vaters zog den Knoten in Jonas‘ Brust unerträglich eng. „Ob wir weiterhin bereit sind, diesen Lebensstil zu finanzieren, müssen wir uns allerdings noch einmal gründlich überlegen.“

„Tut das. Es wird nichts ändern. Ich bin froh, dass ihr heil zuhause angekommen seid. Grüß Oma und Vroni von mir.“ Jonas legte auf. Gerade so konnte er sich davon abhalten, sein Handy gegen die nächste Wand zu schmettern. Seine Beine schmerzten noch vom vergangenen Abend und der Muskelkater würde höllisch werden, dennoch joggte er eine ausführliche Runde über den harten Asphalt Berlins. Alles war besser als schon wieder zu flennen.

 

Verschwitzt und nur geringfügig ruhiger kehrte Jonas in die Wohnung zurück. Ein vertrauter Duft stieg in seine Nase. Wie schon am Abend zuvor, hatte es sich Erik auf der Couch bequem gemacht und las sein Buch, eine Tasse dampfenden Earl Grey vor sich auf dem Couchtisch. Doch dieses Mal sprang er auf, sobald Jonas den Raum betrat. „Da bist du ja! Ich hatte mir schon Sorgen gemacht.“

„Du warst nich‘ da, als ich aufgewacht bin.“ Jonas wünschte sich, er würde weniger vorwurfsvoll klingen.

„Ich weiß.“ Schulbewusst ließ Erik den Kopf hängen. „Ich konnte nicht mehr schlafen, wollte dich aber auch nicht wecken. Also dachte ich, ich hole uns Frühstück. Das hatte ich dir auch auf die Tafel geschrieben.“

„Oh.“ Jonas hatte noch nicht einmal einen Blick auf die Schiefertafel in ihrer Küche geworfen. „Okay. Ich, ähm, ich geh mal kurz duschen. Bin völlig verschwitzt.“

„Willst du danach frühstücken?“

Jonas hatte keinen Appetit nickte aber trotzdem, bevor er ins Bad verschwand.

Die Dusche fiel kürzer als gewollt aus, weil sein Körper ihm unmissverständlich klar machte, dass sich seine Kraftreserven allmählich dem Ende entgegenneigten. Mit pochenden Schläfen und einem dumpfen Schwindelgefühl, das sich nicht abschütteln ließ, stolperte er in die Küche.

Erik hatte die Zeit genutzt, um Obst zu pürieren und zusammen mit Honig, Nüssen und ein paar Kokosraspeln in zwei Schüssel zu verfrachten. Eine Tüte vom Bäcker, deren Inhalt vermutlich aus frisch gebackenen Croissants bestand lag daneben. Der Anblick sollte Jonas das Wasser im Mund zusammenlaufen lassen, aber der Hunger wollte sich einfach nicht einstellen. Obwohl der Tisch auf dem Balkon schon gedeckt war, blieb er in der Küche stehen. „Ähm, Erik?“

Dieser drehte sich zu ihm um, leckte einen Klecks Fruchtpüree von seinem Daumen. „Hm?“

„Vorhin, als du weg warst, da … Ich hatte einen Anruf, von, ähm … Von meinen Eltern. Also, meinem Vater, eigentlich, aber … Is‘ ja auch egal, jedenfalls … ähm … Es … Es könnte sein, dass sie mir den Unterhalt streichen.“ Eilig fügte er hinzu: „Aber das geht schon klar! Ich hab ja ‘n bisschen was gespart … und … und ich kann mehr Schichten im Café übernehmen. Oder in ‘nem Club oder ‘ner Bar anfangen, da verdient man meistens besser. Vielleicht kannst du dich mal umhören, ob wer jemanden sucht oder so … und eigentlich sin‘ meine Eltern ja auch verpflichtet, mir die erste Ausbildung zu finanzieren, aber bis das durch is‘ kann das dauern und eigentlich will ich auch nich‘ … Ich will sie nich‘ zwingen mir ‘n Leben zu finanzieren, das sie ablehnen.“

„Jonas–“

„Nee, stimmt, das is‘ Quatsch. Aber sie sollen sehen, dass ich selbst für mich sorgen kann und nich‘ auf ihre Zustimmung angewiesen bin.“

„Jonas–“

„Aber der Unterhalt wär ‘ne Notlösung, falls es trotz mehr Arbeit finanziell nich‘ aufgeht und–“

„Jonas!“, unterbrach Erik ihn. „Jetzt hol erstmal tief Luft.“

Jonas schluckte seine Erwiderung und befolgte Eriks Anweisung. Nicht, dass er sich dadurch ruhiger fühlte, aber er erinnerte sich auch nicht länger, was er eigentlich hatte sagen wollen.

Erik schien so oder so zufrieden mit dem Ergebnis. „So. Und jetzt hörst du auf, dir so viele Gedanken zu machen. Wir kriegen das hin. Wenn es hart auf hart kommt, kann ich die Miete problemlos alleine tragen, das habe ich bisher auch. Damit dürfte schon ein wesentlicher Teil deiner Fixkosten abgedeckt sein und den Rest besprechen wir, wenn es nötig wird.“

Jonas nickte, dennoch sickerten erste Tränen durch seine dichten Wimpern.

„Alles wird gut“, versprach Erik, als er ihn in die Arme schloss. „Schlimmstenfalls erhöhe ich den obligatorischen Oralsex von einmal pro Monat auf einmal pro Woche.“

Unwillkürlich musste Jonas lachen. Eriks Worte reichten nicht, ihm alle Sorgen von den Schultern zu nehmen, aber sie waren ein Anfang.

„Jetzt komm. Zeit fürs Frühstück.“

Widerspruchslos ließ sich Jonas auf den sonnigen Balkon schieben, doch tief in seinem Inneren wusste er, dass es nie wieder gut werden würde.

 

 

Kapitel 48

Was zuletzt geschah:

Jonas hat es getan. Nach unzähligen durchwachten Nächten, Selbstzweifeln und Rückziehern in letzter Minute, gesteht er seinen Eltern, sich in einen Mann verliebt zu haben. Sich überhaupt nur in Männer zu verlieben. Doch alles, was er für seinen Mut erntet ist Unverständnis und die Drohung, jede finanzielle Unterstützung zu verlieren, sollte er sich nicht von Erik lossagen.

 

Kapitel 48

Jonas blinzelte in die Oktobersonne. Unter ihm ruckelte er Zug, draußen zogen Bäume vorbei und seine Uhr verriet, dass sie ihr Ziel in nicht einmal zwei Stunden erreichen würden. Er hatte einen wesentlichen Teil der Fahrt nach Stuttgart verschlafen, war nun allerdings hellwach. Was man von Erik nicht gerade behaupten konnte, dessen Gewicht Jonas gegen das Zugfenster quetschte.

Früher war er überzeugt gewesen, außergewöhnlich tief zu schlafen, doch Erik hatte ihn eines Besseren belehrt. Weder das Holpern des Zugs, noch die Sonne, nicht einmal der lautstark hinter ihnen telefonierende Kerl schafften es, Erik aus seinen Träumen zu reißen. Genauso wenig wie die Aussicht, in wenigen Stunden Zeuge der Hochzeit seines Exfreunds zu werden.

Der Zug verlangsamte sich, als er in den Bahnhof einfuhr und kam schließlich vollständig zum Stehen. Die ersten Fahrgäste strömten vom Waggon auf den Bahnsteig. Jonas betrachtete hingegen seufzend Erik, der noch immer keine Anstalten machte aufzuwachen. Bis er ihm in die Wange kniff.

„Au!“

„Sorry, aber anders kriegt man dich ja nich‘ wach. Los komm, ich hab nämlich keine Ahnung, wo wir langmüssen.“

Noch verschlafen, aber immerhin auf dem Bahnsteig angekommen, drehte sich Erik einmal um die eigene Achse und musterte die Beschilderung. „Ah, so ganz sicher bin ich mir da auch nicht. Bisher musste ich nie zum Parkhaus.“

„Dann lasst mich euch führen.“

Überrascht von der vertrauten Stimme wirbelten Erik und Jonas herum. Hugo, ein alter Freund von Erik und einer der beiden Besitzer des Cafés, das Jonas bei seinem letzten Stuttgartbesuch zu schätzen gelernt hatte stand keine zwei Meter entfernt. Breit grinsend winkte er ihnen zu. „Drago und Marco stecken noch bis zum Hals in den Vorbereitungen, deshalb hat mein reizender Ehemann mich dazu verdonnert, ähm, ich meine, mir die ehrenvolle Aufgabe übertragen, euch abzuholen.“

„Wir hätten uns auch ein Taxi nehmen können“, wandte Erik ein, aber Hugo schüttelte resolut den Kopf.

„Macht euch nicht lächerlich! Bis da raus kostet das ein Vermögen. Jetzt kommt aber erstmal her!“ Mit kräftigen Armen zog Hugo die beiden an seine Brust. Der feine Duft nach frischer Butter und Gurken, der von ihm ausging, weckte Jonas‘ Appetit.

„Ihr übernehmt das Catering, oder?“

„Genau. Und ich wäre euch beiden echt dankbar, wenn wir einen kurzen Umweg zum Tässchen machen könnten, um noch ein paar Sachen einzuladen. Wir stecken mitten im Aufbau und allmählich wird die Zeit knapp, jedenfalls sofern ich auch bei der Trauung anwesend sein soll.“

„Kein Problem“, versicherte Erik.

Eifrig nickend ergänzte Jonas: „Sag uns einfach, wie wir helfen können.“

„Ich würde dieses Angebot gerne großzügig ausschlagen, aber wenn bis heute Nachmittag alles stehen soll, muss ich wohl oder übel darauf zurückgreifen.“ Hugo führte sie zu dem Transporter mit Marcos Firmenlogo, der ihm augenscheinlich für den Tag überlassen worden war. Die Tiefgaragenschranke hatte sich noch nicht hinter ihnen gesenkt, da war Erik bereits erneut eingeschlafen. Amüsiert betrachtete Hugo ihn im Rückspiegel. „Lange Fahrt für euch, was?“

„Für mich ging’s“, antwortete Jonas, „aber Erik is‘ praktisch von der Arbeit aus in den Zug gesprungen und ich glaub nich‘, dass er davor viel gepennt hat. Der muss dringend ein paar Stunden nachholen.“

Hugo hob die Brauen. „Er hat heute Nacht noch gearbeitet? Ich dachte, ihr hättet euch Urlaub genommen.“

Jonas rollte mit den Augen. „Im Leben nicht. Wo kämen wir denn da hin, wenn er einen Tag mehr als unbedingt nötig freinimmt? Kann ja den Club nich‘ im Stich lassen. Schon gar nich‘ an ‘nem Wochenende.“  

Sollte Jonas‘ Frust zu deutlich durchgekommen sein, ließ sich Hugo davon nichts anmerken. „Wann fahrt ihr zurück?“

„Morgen. Wir haben beide am Montag Uni und ich hab nachmittags noch ‘ne Schicht im Café.“

„Straffer Zeitplan.“

„Schon“, gab Jonas zu. „Aber Erik würd die Hochzeit im Leben nich‘ versäumen.“ Den Blick auf die Straße vor ihnen gerichtet, fügte er hinzu: „Ich glaub, es gibt generell sehr wenig, das er für Marco nich‘ tun würd.“

Auch Hugo beobachtete den Verkehr, als er fragte: „Ist das manchmal schwierig für dich?“

Jonas nahm sich einen Moment, um zu kontrollieren, ob Erik tatsächlich schlief und zu überlegen, wie er die Frage beantworten sollte. Schließlich schüttelte er den Kopf. „Nee, nich‘ wirklich. Irgendwie denkt jeder, dass das so sein müsst, selbst mit Erik hatte ich dieses Gespräch schon mehr als einmal, aber … Ich vertrau ihm. Und ich hab gesehen, wie die beiden miteinander umgehen. Klar is‘ da jede Menge Sympathie und Nähe, aber … ich weiß auch nich‘, wie ich’s in Worte fassen soll … Da is‘ einfach nix, was mich nervös macht, schätze ich. Und Drago scheint das ja genauso zu sehen.“

Zum Glück gab sich Hugo mit dieser Antwort zufrieden. Es war nicht so, dass Jonas log. Nicht wirklich. Bis vor ein paar Wochen war das tatsächlich seine feste Überzeugung gewesen, doch seit dem Bruch mit seinen Eltern, hatte auch seine Beziehung zu Erik Risse erlitten. Schmal, von außen praktisch unsichtbar und selbst für ihn oft kaum zu spüren, ließen sie doch gerade genug Platz für Zweifel. Allerdings keine, über die er sprechen wollte. Nicht mit Hugo und ganz sicher nicht mit Erik.

In beeindruckender Teamarbeit gelang es Jonas und Hugo vor dem Café zu parken und sämtliches Geschirr, Besteck und andere Kleinigkeiten, die sie für die an die Trauung anschließende Feier brauchen würden, in den Wagen zu laden, ohne Erik zu wecken. Erst, als das Auto schon in Marcos Garage stand, brachte es Jonas über sich, seinen Freund aus dem Schlaf zu reißen.

Desorientiert blinzelte Erik aus dem Fenster. Kondenswasser perlte von der Scheibe, dort, wo sein warmer Atem das Glas berührt hatte. „Sind wir schon da?“

„Japp, und wir brauchen deine Hilfe.“

„Ah. Wobei?“

Hugo deutete auf die Kisten hinter Erik, die dieser anstarrte als sähe er sie gerade zum ersten Mal. Was er auch tat. „Ganz eventuell haben Manni und ich uns überlegt, dass dieses ‚einfache Essen‘, das Marco und Drago im Sinn hatten nicht unseren Ansprüchen an ihre Hochzeit genügt. Kalte Sandwiches und billiger Wein. Also bitte! Die beiden sollen nicht auf eine ordentliche Bewirtung verzichten, nur, weil ihr Budget so knapp ausfällt. Also haben wir hier und da ein bisschen was hinzugefügt.“

Ein schelmisches Lächeln ersetzte Eriks schlafgetrübtes Stirnrunzeln. „Ah. Jetzt ergibt Mannis Nachricht allmählich Sinn.“

„Welche Nachricht?“ Hugo hob die Hand. „Nein, dumme Frage. Er hat euch eingespannt, oder?“

„Nur so halb“, gab Erik zu. „Ehrlich gesagt hatte ich denselben Gedanken wie ihr. Ich verstehe, dass Marco und Drago ihr Haus finanzieren und deshalb an anderer Stelle Abstriche machen müssen, aber ich fand es schade, dass das ausgerechnet ihre Hochzeit trifft. Ich kann nicht für Drago sprechen, aber ich weiß, wie viel sie Marco bedeutet. Manni musste also nicht besonders viel Überzeugungsarbeit leisten, um uns zum Mithelfen zu bewegen.“

Jonas dachte an seine Kamera, die darauf wartete, die Hochzeit festzuhalten und hoffte inständig, wenigstens halbwegs einen professionellen Fotografen ersetzen zu können. Neben ihm reckte Erik die Arme zur Decke, bis seine Wirbelsäule vernehmlich knackte. „Bringen wir die Sachen rein?“

„Nicht ‚wir‘, sondern nur ich“, erwiderte Hugo. „Soll ja eine Überraschung werden und ich will die beiden mit dem ganzen Zeug nicht misstrauisch machen. Also geht schon mal vor und lenkt sie ab. Idealerweise bekommt ihr sie ins obere Stockwerk, während ich das hier irgendwo sicher verstaue.“

Gehorsam nahmen Erik und Jonas ihre Reisetaschen, schlüpften aus der Garage und klingelten an der Haustür. Ein Rumpeln erklang und eine bekannte Stimme fauchte etwas in einer unbekannten Sprache. Jonas musste die Worte nicht verstehen, um zu wissen, dass sie nicht für Kinderohren geeignet waren. Kurz darauf öffnete sich die Tür und Dragos kühle Augen bohrten sich in die seiner Besucher. Gleich darauf wurden sie weicher, für ein Lächeln reichte es allerdings nicht. „Kommt rein.“

Jonas hatte Mühe, Schritt zu halten, denn die Verlockung, an jeder Ecke gaffend stehenzubleiben war groß.

Marco und Drago hatten die vergangenen drei Monate seit seinem letztem Besuch genutzt, um das untere Stockwerk komplett einzurichten. Was wiederum erklärte, wohin das Geld für die Hochzeitsfeier geflossen war. Die eleganten Möbel, deren Design die Mischung aus Klassik und Moderne fortsetze, die sich durch das gesamte Haus zog sahen nicht gerade günstig aus, zeigten jedoch auch deutlich, dass die beiden lieber die kommenden Jahre ihres gemeinsamen Lebens gestalteten, als den Tag, der ihren Beginn markierte.

Über das Treppengeländer gebeugt rief Drago: „Marco! Komm runter! Erik und Jonas sind hier!“

„Kann nicht!“, brüllte Marco zurück. „Manni versucht gerade, mich in diesen verflixten Anzug zu bekommen!“

Da war wieder dieses Wort, dessen Bedeutung Jonas erahnen konnte, ohne Serbisch zu sprechen. Drago winkte ihnen, ihm zu folgen. „Dann zeige eben ich euch das Gästezimmer.“ Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr, fluchte erneut. „Wir kommen zu spät zu unserer eigenen Hochzeit.“

„Können wir irgendwie helfen?“, fragte Jonas.

„Versucht einfach, in dreißig Minuten startklar zu sein. Ich versuche solange, Marco nicht zu erschlagen.“

„Was versuchst du?“ Marco hüpfte aus dem noch recht karg eingerichteten Schlafzimmer heraus, ein Bein in einer dunklen Anzughose, das andere außerhalb. Manni folgte ihm kopfschüttelnd. „Komm wieder her. Du zerreißt noch was.“

Aber Marco ignorierte ihn und richtete stattdessen einen vorwurfsvollen Blick auf seinen Verlobten. „Warum zwingst du mich noch mal, diesen unbequemen Mist anzuziehen?“

„Weil ich nicht will, dass der erste Anlass, zu dem ich dich in einem Anzug sehe, deine Beerdigung ist“, erwiderte Drago kühl.

„Aber das ist so spießig!“

„Wir heiraten. Das ist per Definition spießig. Die Hochzeit war übrigens deine Idee.“

„Weil ich weiß, dass das deinem konservativen Herzchen gefällt. Auch, wenn du mich lange genug auf eine Antwort hast warten lassen.“

„Dann mach mein konservatives Herz noch glücklicher und zieh endlich diesen“, schon wieder dieses Wort, bald beherrschte Jonas es ebenfalls, „Anzug an.“

Marco zog eine Schnute, wurde aber von Manni zurück ins Schlafzimmer bugsiert, bevor er die Chance hatte, Drago endgültig an den Rand eines Nervenzusammenbruchs zu bringen.

Seinen Lippenbewegungen nach zu urteilen zählte Drago langsam bis zehn, dann deutete er auf das Zimmer gegenüber. „Das ist eures.“ Das ehemals leere Gästezimmer war nun um ein breites Doppelbett, zwei Nachtkästchen und einen Schrank reicher und damit zwar weniger luxuriös als das Untergeschoss, aber bei weitem besser ausgestattet als das Hauptschlafzimmer. „Wir teilen uns das Bad, aber im Erdgeschoss gibt es noch eine G–“

Ein dumpfes Poltern hallte aus dem unteren Stockwerk nach oben. Vielleicht räumten gerade Einbrecher das Haus aus, viel wahrscheinlicher jedoch hatte Hugo etwas fallenlassen. Drago zog die Stirn kraus.

„Was ist los?“, fragte Erik mit beeindruckender Unschuldsmiene.

„Habt ihr das nicht gehört?“ Drago wirkte verunsichert, vermutlich ein Anblick, den man bei ihm nicht besonders oft zu sehen bekam.

„Nein“, antwortete Erik schlicht.

„Was denn hören?“, fragte Jonas, ein wenig amüsiert, aber hauptsächlich mit schlechtem Gewissen, weil sie den Armen gerade noch mehr stressten.

„Da war …“ Drago schüttelte den Kopf. „Schon gut, vergesst es. Ich gehe mich dann auch mal umziehen. Bis später.“

„Versprich mir, dass wir nie heiraten“, raunte Jonas seinem Freund zu, nachdem sie die Tür des Gästezimmers hinter sich geschlossen hatten.

Erik hatte sich runtergebeugt, um seine Reisetasche zu öffnen, hielt mitten in der Bewegung jedoch inne. „Keine Sorge, wenn der Tag rum ist, brauche ich erstmal lange Abstinenz von dem Thema.“ Bevor sich Jonas sicher sein konnte, ob unter der oberflächlichen Leichtigkeit in Eriks Erwiderung noch etwas anderes mitschwang, befreite dieser seine Klamotten aus der Tasche und seufzte. „Ah, Mist, völlig zerknittert.“ Einen Augenblick lang zögerte er, klopfte dann aber doch an Marcos und Dragos Schlafzimmertür, um nach einem Bügeleisen zu fragen. Jonas verschwand solange unter der Dusche.

 

Eine halbe Stunde später waren alle Beteiligten überraschenderweise fast aufbruchbereit. Also wirklich fast. So in fünf Minuten. Vielleicht zehn. Himmel, wo hatte Marco seinen Ring hingelegt? Weinte Drago gerade leise im Bad? Wenigstens kam Manni in den Genuss eines effektiven Cardio-Trainings, während er das gesamte Haus nach dem verlorenen Schmuckstück durchkämmte.

Jonas musterte derweil kritisch sein Spiegelbild. Obwohl Marco ihnen bei seinem letzten Anruf noch einmal versichert hatte, dass für die Gäste kein Dresscode herrschte und bitte jeder das tragen sollte, womit er sich wohl fühlte, hatte er sich für Hemd und Jackett entschieden. Jetzt war er sich allerdings nicht mehr sicher, ob das wirklich eine gute Wahl gewesen war. Es wirkte ungewohnt, geradezu unpassend.

„Schau nicht so skeptisch, du siehst sehr gut aus.“ Eriks Lippen streiften Jonas‘ Hals knapp oberhalb des Hemdkragens.

„Bah, das kitzelt!“ Protestierend schob Jonas ihn von sich. Nicht spielerisch, sondern vehement. In der Sekunde, in der ihm seine heftige Reaktion bewusst wurde, tat sie ihm bereits leid, aber da war es schon zu spät.

Erik war einen Schritt zurückgetreten, einen Ausdruck in den Augen, der das Lächeln auf seinen Lippen Lügen strafte. „Ich finde trotzdem, dass es dir steht.“

Eine Entschuldigung lag auf Jonas‘ Zunge, wollte sich aber nicht aussprechen lassen. Stattdessen versuchte er, die Situation mit Geplapper zu überspielen. „Ich seh aus, wie damals, als meine Mutter mich noch jeden Sonntag in die Kirche gezwungen hat. Scheiße, war das ein Kampf, da nich‘ mehr hinzumüssen.“ Er stockte. Blinzelte. Holte Luft. Kämpfte gegen die Enge in seiner Brust. Da hatte er sich ja sehr erfolgreich vom Regen in die Traufe gequasselt. Nun wollten überhaupt keine Worte mehr über seine Lippen kommen.

„Du kannst dich immer noch umziehen“, sagte Erik sanft, vielleicht, weil er nicht wusste, was er sonst sagen sollte. Er hob die Hand, als wollte er sie auf Jonas‘ Schulter legen, ließ sie gleich darauf jedoch wieder sinken. „Ich war gerade bei Marco, jetzt ist auch noch Dragos Ring weg. Wenn kein Wunder mehr passiert, kommen wir sowieso zu spät.“

Wieder betrachtete Jonas sein Spiegelbild. Er fühlte sich verkleidet, nicht er selbst. Oder noch weniger, als ohnehin schon. „Aber is‘ das nich‘ respektlos gegenüber den beiden? So einen besonderen Anlass sollte man doch mit besonderer Kleidung unterstreichen, oder? Marco trägt auch ‘nen Anzug, obwohl er offensichtlich nich‘ will.“

„Glaub mir, der will. Sonst würde er ihn im Leben nicht tragen. Nicht mal für Drago.“

„Sicher?“

„Ganz sicher. Jetzt zieh dich um.“ Erik blieb nicht im Raum, um herauszufinden, ob Jonas seiner Aufforderung folgte.

 

Schüchtern lugte Jonas aus dem Zimmer. Endlich war die ganze Entourage startklar, aber er war sich trotz Eriks Beteuerungen unsicher, ob es wirklich in Ordnung war, in Jeans und Shirt aufzutauchen. Marco erspähte ihn. „Wenigstens einer hier, der ordentliche Klamotten trägt!“

„Is‘ das echt okay?“

„Klar ist das okay!“ Aufmunternd klopfte Marco Jonas auf den Rücken. „Die einzigen, die hier im Anzug antanzen müssen, sind diejenigen, deren künftige Ehemänner darauf bestehen.“ Er wandte den Kopf zur Treppe und brüllte: „Erik?“

Dieser machte sich nicht die Mühe, die Stufen nach oben zu laufen, sondern brüllte zurück. „Was ist?“

„Bestehst du darauf, dass Jonas einen Anzug trägt?“

„Warum sollte ich?“

Marco grinste. „Na, damit hätten wir das wohl geklärt.“ Verschwörerisch zwinkerte er Jonas zu. „Jetzt komm. Ich fürchte, wenn wir Drago auch nur noch eine Minute länger warten lassen, sagt er die ganze Sache ab und verlässt mich endgültig.“

Glücklicherweise war Marcos Transporter groß genug, um darin Platz für das zu verheiratende Paar, Manni, Hugo, Erik und Jonas zu bieten und der Verkehr relativ harmlos. So schafften sie es, mit nur zehn Minuten Verspätung vor dem Standesamt anzukommen. Fünfzehn Minuten, wenn man die Parkplatzsuche miteinrechnete.

„Das ist doch sicher noch total im Soll“, versuchte Marco Drago zu beruhigen, doch dieser zeigte sich unbeeindruckt. Und weil sein Schweigen mehr als tausend Worte sagte, eilten sie gemeinsam Stufen nach oben und hetzten Gänge entlang, bis sie ihr Ziel erreichten, vor dem sich bereits eine kleine Menschentraube versammelt hatte. Viele von ihnen in festlicher Kleidung, aber auch genug in normalen Straßenklamotten, um Jonas endlich sein schlechtes Gewissen zu nehmen.

Eine zierliche, dunkelhaarige Frau kämpfte sich nach vorne. „Da bist du ja!“ Breit grinsend fiel sie Marco um den Hals. „Wir dachten schon, ihr hättet kalte Füße bekommen.“

„Ihr habt Glück“, wandte sich ein Mann, in dessen Jacketttasche die gleiche dezente Blume wie in Mannis stecke an Drago. „Die Standesbeamtin ist auch zu spät. Steht im Stau.“

„Dann hätten wir uns ja ruhig noch mehr Zeit lassen können“, erklärte Marco lachend, verstummte beim Blick seines Partners allerdings.

Tatsächlich hätten sie sich noch länger Zeit lassen können, denn es verging noch eine ganze Weile, bevor eine gehetzt aussehende Standesbeamtin angerannt kam und sie um noch etwas mehr Geduld bat, damit sie sich und den Saal vorbereiten konnte. Das gab Erik die Möglichkeit, Jonas einige der Gäste vorzustellen.

Die zierliche Frau musste er dafür nicht extra ansprechen, sie zog ihn in ihre Arme, sobald sie sich von Marco und Drago gelöst hatte. „Erik! Es ist so schön, dich mal wiederzusehen!“

„Da sagst du was. Es ist viel zu lange her.“ Nachdem seine Hände wieder frei waren, drehte sich Erik zu Jonas. „Giulia, darf ich dir meinen Freund vorstellen? Jonas, das ist Giulia, Marcos Schwester.“

„Freut mich.“ Jonas wollte ihr die Hand reichen, fand ich sich eine Sekunde später jedoch ebenfalls in einer herzlichen Umarmung wieder.

„Du beweist wie immer Geschmack.“ Mit einer Verschmitztheit, die die Verwandtschaft zu Marco eindeutig machte, zwinkerte Giulia Jonas zu.

„Wo hast du denn Giovanni und die Kleinen gelassen?“, erkundigte sich Erik, nachdem er den Blick durch den Vorraum hatte schweifen lassen.

„Im Schwimmbad. Ich würde die Trauung gerne genießen und nicht darauf achten müssen, drei übereifrige Münder geschlossen zu halten. Zur Feier sind sie dann ja wieder dabei. Oh, da fällt mir ein, du hast unsere Jüngste noch gar nicht kennengelernt, oder?“

Erik schüttelte den Kopf.

„Dann wird es Zeit!“ Giulia lächelte noch breiter als zuvor schon. „Arianna ist ein echter Wirbelwind, du wirst sie lieben. Und ich liebe jeden, der sie mir mal ein paar Minuten abnimmt.“

„Ich denke, das bekomme ich hin.“ Es war offensichtlich, dass Erik sich auf diese Aufgabe freute. „Und sei es nur, um mein schlechtes Gewissen zu tilgen, weil wir euch das Gästezimmer wegnehmen. Es wäre wirklich kein Problem für uns gewesen, ins Hotel zu gehen, damit dafür ihr bei Marco bleiben könnt.“

Giulia winkte ab. „So schön das Haus ist, für sieben Leute ist es dann doch etwas klein. Außerdem garantiere ich, dass es die Rasselbande schaffen würde, die Einrichtung, sich selbst oder beides zu zerlegen. Im Hotel habe ich dagegen Zimmerservice, jemanden, der die Betten macht und ein himmlisches Frühstück, das ich weder zubereiten, noch abräumen muss. Glaub mir, wenn ich dir sage, dass das die mit Abstand entspannteste Option für alle Beteiligten ist. So und jetzt sollte ich wohl noch einmal zu meinem Bruder. So wie es aussieht, hat er langsam realisiert, dass er in weniger als einer Stunde ein verheirateter Mann sein wird.“

Jonas musterte Marco, der unter seiner gebräunten Haut tatsächlich einen gewissen Grünschimmer aufwies und unruhig von einem Fuß auf den anderen trat. Als seine Schwester ihn ansprach, zwang er sich ein nervöses Lächeln aufs Gesicht.

„Hm.“ Erik sah sich um. „Mal sehen, wen ich hier noch kenne.“

Der Mann mit der Blume in der Jackettasche, entpuppte sich erwartungsgemäß als Dragos Trauzeuge und Kindheitsfreund, Daniel. Bei ihrer kurzen Unterhaltung erfuhr Jonas, dass nicht nur ihre jahrelange Brieffreundschaft Drago für sein Studium nach Deutschland gelockt, sondern Daniel auch derjenige gewesen war, der ihn und Marco überhaupt erst miteinander bekannt gemacht hatte.

Die anderen Gäste, die Erik Jonas vorstellte stammten größtenteils aus seiner Zeit im Jugendtreff, dazu einige auch für Erik unbekannte Namen, insbesondere auf Dragos Seite. So sehr sich Jonas bemühte, er kam nicht umhin, den auffallenden Mangel an Familie zu bemerken. Giulia war die einzige Blutsverwandte, die an der Trauung teilnahm.  

Sie hatten ihre kleine Vorstellungsrunde eben beendet, als die Flügeltüren des Saals aufschwangen. Die Gäste verstreuten sich über die Sitzreihen, wobei sich Erik und Jonas ein wenig im Hintergrund hielten, damit Letzterer das Ereignis möglichst unauffällig mit der Kamera festhalten konnte. Für ein Amtsgebäude war der Saal wundervoll dekoriert und auch die Standesbeamtin verstand ihren Job, führte mit gut gewählten Worten durch die Zeremonie. Doch es waren Marco und Drago, die den wahren Zauber ausmachten.

Jonas bannte den Moment, in dem sie sich die Ringe ansteckten auf Film und betete stumm, wenigstens einen Bruchteil der Intensität, des in dieser Geste liegenden Versprechens erhascht zu haben. Beim Kuss, so zurückhaltend dieser auch ausgefallen war, hätte er beinahe vergessen, den Auslöser zu drücken. Marco und Drago mochten ihre Meinungsverschiedenheiten haben, aber in diesem Augenblick wurde offensichtlich, wie viel sie einander bedeuteten.

Hochzeitspaar und Trauzeugen setzten ihre Unterschriften unter die offiziellen Dokumente und als die Beamtin bestätigte, dass sie ab jetzt rechtmäßig verheiratet waren, brach der Saal in laute Jubelrufe aus. Drago zeigte das breiteste Lächeln, das Jonas bisher an ihm gesehen hatte, seine Finger fest mit Marcos verschlungen.

In kleinen Fahrgemeinschaften machten sie sich auf den Weg zum Haus der frisch Vermählten, allerdings verzögerte Dragos Trauzeuge dessen Abfahrt nach einem Blick auf sein Handy mit organisatorischen Fragen, die problemlos später hätten geklärt werden können. Zufälligerweise versiegte der Fragenstrom schlagartig, nachdem eine weitere Nachricht einging.

Marco parkte in der geräumigen Doppelgarage, dem einzigen noch freien Platz in der gesamten Straße. Was dafür sprach, dass die Gästeliste für die Feier weitaus länger ausfiel als die für die eigentliche Trauung.

„Wenn das so weitergeht, wird sich niemand daran erinnern, dass wir heute geheiratet haben, sondern nur daran, wie unpünktlich wir sind“, brummte Drago, während er seine Schlüssel suchte. „Und wie kommt es, dass die Leute offenbar schon im Haus sind?“ Er stieß die Tür auf, trat aber nicht hindurch. „Hm. Deshalb.“

Marco drängte sich an ihm vorbei. „Wesh–oh!“

Dezente Blumengestecke brachten Farbe und Feierlichkeit ins Untergeschoss, ohne kitschig zu wirken, der Wohnzimmertisch bog sich beinahe unter den darauf gestapelten Geschenken und würziger Essensduft wehte aus der Küche ins Wohnzimmer. An der zum Garten grenzenden Wohnzimmerwand war die kleine, aber gut ausgestattete Bar aufgebaut worden, an der Erik einen Teil des Abends den Barkeeper mimen würde. Jonas betätigte sich hingegen weiterhin als Fotograf. Er schoss Fotos vom Essen, der Bar, der Dekoration und den überraschten Mienen der beiden Ehrengäste.

„Wir dachten, wir buchen euch ein kleines Upgrade“, erklärte Manni grinsend. „Und jetzt wäre euch wohl jeder hier dankbar, wenn ihr Bar und Buffet eröffnet.“

Das taten sie dann auch.

 

Das Essen, das Hugo gemeinsam mit Manni vorbereitet hatte schmeckte himmlisch und Eriks Cocktailmischungen fielen gewohnt großzügig aus. Bald verteilten sich die Gäste im gesamten Untergeschoss; tranken, lachten und tanzten zwischen an die Wand geschobenen Möbeln. Jonas hatte eine Weile mit Erik an der Bar verbracht, sich dann jedoch von Marco auf die improvisierte Tanzfläche ziehen lassen.

Fünf durchtanzte Songs später, kämpfte er sich verschwitzt zur Küche, schoss noch ein paar Fotos und nahm auf dem Weg einige verwaiste Teller mit, um sie in die Spülmaschine zu verfrachten. Er hatte gerade den Spülgang gestartet, als Marco hinter ihm auftauchte.

„Machst du schon schlapp?“

„Quatsch! Ich hol bloß kurz Luft, bevor’s weitergeht. Will ja die anderen nich‘ mit meiner jugendlichen Energie überfordern.“

„Vorsichtig, Küken“, warnte Marco. „Fordere mich nicht heraus.“ Er drückte Jonas einen Cocktail in die Hand. „Der ist von Erik. Er wollte ihn dir eigentlich persönlich bringen, aber ich fürchte, meine Nichten haben ihn vorerst in Beschlag genommen.“

Jonas drehte den Kopf und tatsächlich war Erik von drei aufgeregt quasselnden Mädchen umringt, aus deren Haaren bunte Schirmchen und Kunstblüten ragten. Zufrieden mit ihren neuen Accessoires, diktierten sie nun ihre jeweiligen Getränkewünsche. Mit einem Lächeln, das unmöglich noch breiter werden konnte, füllte Erik geduldig Kostproben der Flaschen, auf die sie deuteten in Schnapsbecher. Nur bei alkoholischen Getränken schüttelte er den Kopf und überzeugte die Schar, doch lieber eine der zahlreichen Alternativen zu wählen. Schließlich mixte er etwas aus ihrer Auswahl, das sogar halbwegs trinkbar aussah.

Misstrauisch musterte Jonas sein eigens Gesöff. Pink, mit ein paar geeisten Beeren, die träge an der Oberfläche schwammen.

„Ich habe den Auftrag, erst wieder zu gehen, wenn du wenigstens probiert hast“, erklärte Marco.

„Okay, okay.“ Vorsichtig nippte Jonas an seinem Getränk, fühlte das Prickeln auf seiner Zunge. Der Cocktail war gut, ausgezeichnet sogar, aber das würde Jonas nicht so schnell zugeben. Genaugenommen ärgerte er sich ein wenig darüber, wie gut Erik ihn einschätzte, ohne festlegen zu können, woher dieser Ärger stammte. Das war allerdings kaum ein neues Gefühl, sondern eines, das er nun schon seit einer Weile mit sich rumschleppte. Ein tiefer Groll gegen Erik, der sich jeder Logik entzog und dennoch so tief reichte, dass Jonas ihn seit Wochen auf Abstand hielt.

Marco lehnte entspannt am Kühlschrank. „Wir sind noch gar nicht zum Quatschen gekommen.“

„Hast du denn die Erlaubnis, solange von deinem Mann wegzubleiben?“

„Na komm, ich muss mich schließlich auch um die Gäste kümmern und das schließt dich mit ein. Außerdem ist Drago bestimmt froh, mich mal fünf Minuten nicht zu sehen. Der hat mich noch den Rest seines Lebens. Also? Wie geht’s dir?“

„Ganz gut“, antwortete Jonas unverbindlich. „Die Uni hat mich wieder ziemlich im Griff.“

„Gefällt es dir noch?“

Jonas unterdrückte ein erleichtertes Aufseufzen. Endlich mal ein unverfängliches Thema. „Japp. Das erste Jahr war ganz schön hart. So viele kreative Leute auf einem Haufen und gefühlt alle besser als ich, aber ich glaub, so langsam find ich meine Nische.“

„Falls dich das tröstet, ich kenne das Gefühl, wenn man etwas liebt, aber glaubt, alle anderen seien viel besser als man selbst. Ging mir, ach, Blödsinn, geht mir heute auch noch so. Die Hälfte der Zeit habe ich das Gefühl, meine Kunden zu betrügen, weil meine Arbeit nicht so gut ist wie ich tue.“

„Echt jetzt?“, fragte Jonas ungläubig.

„Echt jetzt. Und ich weiß, dass Drago ähnlich empfindet. Dabei ist er der Letzte, dem man solche Selbstzweifel zutrauen würde.“

„Stimmt.“ Gedankenverloren kratzte Jonas mit der Fußspitze über den Boden.

„Ist wirklich alles in Ordnung?“, hakte Marco nach.

„Jaah.“ Einerseits wollte es Jonas dabei belassen, andererseits war Marco vielleicht der beste Gesprächspartner, den er bei diesem Thema finden konnte. Aber eine Hochzeitsfeier war kaum der angemessene Rahmen dafür.

„Du kannst jederzeit mit mir reden, weißt du? Auch jetzt.“

Jonas warf einen Seitenblick auf Marco, der ihm ein ermutigendes Lächeln schenkte. „Ähm, hat Erik erzählt, dass ich … Die Sache mit meinen Eltern? Dass es nich‘ besonders gut lief?“

„Er hat es erwähnt. Aber nachdem Erik nicht der Typ ist, der Details über das Leben anderer weitertratscht ist das ungefähr alles, was ich weiß.“

Auf seine Fingernägel konzentriert, wartete Jonas darauf, dass sein Hirn seinem Mund die richtigen Worte lieferte. „Sie sin‘ praktisch aus der Wohnung geflüchtet. Wollten dann, dass ich zurück zu ihnen zieh‘ und haben gedroht, mir den Unterhalt zu streichen. Haben sie allerdings nich‘.“ Er lächelte freudlos. „Kann ich mich richtig glücklich schätzen, was?“

„Habt ihr danach nochmal miteinander gesprochen?“

„Sie haben etwa zwei Wochen später wieder angerufen.“ Die Erinnerung presste die Luft aus Jonas‘ Lungen. „Haben mir vorgeschlagen, ‘n klärendes Gespräch zu führen. Nur wir drei … und der Dorfpfarrer. Hab ihnen dann gesagt, dass wir das gerne tun können, wenn sie bereit sind, danach mit mir dasselbe Gespräch nochmal bei ‘ner Beratungsstelle meiner Wahl zu führen. Wollten sie nich‘. Seitdem herrscht Funkstille.“

„Hm.“ Marco verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Klingt ziemlich ätzend. Aber gut für dich, dass du eine klare Grenze gezogen hast.“

„Denkst du?“ Jonas war sich da bei weitem nicht so sicher.

„Denke ich“, bestätigte Marco. „Gesprächsangebote sind gut, aber es ist auch wichtig, dabei für sich selbst einzustehen. Du hast ihnen einen Kompromiss vorgeschlagen. Ich würde sagen, jetzt liegt der Ball auf ihrer Seite des Felds.“ Er seufzte. „Das dürfte eine der härtesten Lektionen überhaupt sein. Sich nicht unendlich zu verbiegen, um es anderen rechtzumachen. Auch, wenn das vielleicht bedeutet, nicht mehr zusammenzufinden. Oh!“ Verlegen fuhr er durch sein dichtes Haar. „Damit wollte ich nicht sagen, dass das bei dir so sein wird! Überhaupt nicht! Da habe ich wohl gerade etwas zu viel von mir selbst reingebracht.“

„Is‘ okay. Tut ganz gut zu hören, dass ich’s nich‘ völlig versaut hab, weil ich einfach bloß meinen Sturkopf durchsetzen wollt.“ Abwesend strich Jonas mit der Zunge über sein Piercing. „Das Schlimmste is‘ eigentlich, dass ich meine ganze Familie in die Sache reingezogen hab. Meine Schwester Christine hat sich so mit meinen Eltern gefetzt, dass sie die letzten paar Wochen vor ihrem Flug nach Australien zu ihrem Freund gezogen is‘. Wollte sich wohl nich‘ mal von ihnen verabschieden. Mit meiner Oma und meiner kleinen Schwester hab ich seit zwei Monaten nich‘ mehr gesprochen, weil ich keine Ahnung hab, wie viel sie wissen und keine schlafenden Hunde wecken will. Ach fuck!“ Wütend blinzelte er ein paar Tränen weg. „Die ganze Situation is‘ sowas von beschissen!“

„Ich weiß.“ Marco senkte den Kopf. „Glaub mir, das weiß ich.“ Das Lächeln kehrte auf seine Lippen zurück. „Aber darüber reden hilft meistens. Oder den Mann heiraten, den man liebt.“

„Ich glaub, mit Letzterem sollt ich doch noch ‘n paar Jahre warten.“

„Vielleicht“, räumte Marco. Sein Lächeln verblasste erneut. „Ist denn zwischen euch alles in Ordnung? Der Tag heute war so hektisch, dass alles irgendwie zu kurz gekommen ist, aber – und sag mir, wenn ich mich da jetzt zu weit aus dem Fenster lehne – aber die Stimmung zwischen euch war irgendwie schräg.“

Lange sagte Jonas nichts, starrte nur auf den Cocktail in seiner Hand und das langsam schmelzende Eis darin. „Ich bin sauer auf Erik. Richtig scheißsauer.“

„Warum?“

Hilflos hob Jonas die Schultern. „Sag’s mir.“

„Kann ich nicht“, erwiderte Marco schlicht. „Ich könnte jetzt natürlich ins Blaue raten …“

„Nur zu.“

„Du gibst ihm die Schuld daran, dich vor deinen Eltern geoutet zu haben.“

„Er hat mich nie unter Druck gesetzt, das zu tun.“ Doch Jonas‘ Protest fiel schwach aus, denn im Grunde wusste er, dass Marco mit seiner Vermutung richtig lag. „Er kann nichts dafür.“

„Gefühle sind eher selten für ihre Rationalität bekannt.“

„Und was mach ich jetzt dagegen?“

Jetzt war es an Marco, mit den Schultern zu zucken. „Was du für richtig hältst, schätze ich. Aber nachdem ich Erik wesentlich besser als deine Eltern kenne, kann ich dir hier vielleicht sogar einen Tipp geben. Erik gehört zu den Menschen, mit denen man eigentlich über alles sprechen kann.“

„Und uneigentlich?“

Marco schnaubte. „Hat er wohl auch seine Grenzen. Aber ich bezweifle, dass du die mit diesem Thema schon ausgereizt hast.“

„Ich soll ihm also einfach sagen, dass ich ihm die Schuld am Bruch mit meinen Eltern geb, weil ich nich‘ weiß, wem sonst?“

„Wenn das der Fall ist, solltest du darüber nachdenken, sì. Oder anders gefragt: Was ist die Alternative?“

Mich weiter vor ihm zurückziehen. Ihn anschnauzen und auf Abstand halten. Bis er es nicht länger aushält. Ein Arm schlang sich um Jonas‘ Schultern, riss ihn aus den trüben Gedanken.

„Zerbrich dir nicht zu sehr den Kopf“, sagte Marco. „Erik wird nicht so schnell weglaufen. Und es wird einfacher.“

„Wird es?“ Lediglich zwei Silben und dennoch brach Jonas‘ Stimme an ihnen.

„Wird es“, versprach Marco. „Vielleicht nicht … perfekt. Aber einfacher.“

„Okay.“ Bitte lass das wahr sein.

„Erinnerst du dich, dass ich meinen Eltern seit meinem Comingout vor …“ Marco verstummte. Seufzte. „Ich kann kaum glauben, dass das schon elf Jahre her sein soll … Jedenfalls, dass ich ihnen seitdem einmal pro Jahr einen Brief geschrieben habe? Mit allem, was so bei mir passiert ist?“

Jonas nickte, traute seiner Stimme zu wenig, um laut zu sprechen.

„Zusammen mit der Einladung zur Hochzeit, habe ich vor ein paar Wochen den letzten abgeschickt. Am Ende hatte Drago doch recht. Ich habe das nicht getan, um ihnen zu zeigen, dass es mir gut geht, sondern weil ich immer gehofft hatte, dass sie eines Tages doch antworten. Ich bin es leid, zu hoffen. Oh.“ Marco räusperte sich. „Eigentlich wollte ich dir Mut machen, auch, wenn das vielleicht gerade nicht danach klang. Meine Situation ist nicht perfekt, alles andere als das, aber ich bin trotzdem glücklich. Zusammen mit diesem Brief konnte ich irgendwie abschließen, weißt du? Jedenfalls, äh, meiner Erfahrung nach bin ich ein Extremfall. Die meisten Eltern brauchen nur etwas Zeit, um ihre Gedanken zu sortieren und sich auf die Situation einzustellen. Aber falls es anders läuft, ist es gut, ein liebevolles Umfeld außerhalb der Familie zu haben. Zum Beispiel Idioten, die sich viel zu viel Mühe machen, um die Hochzeit von zwei anderen Idioten zu feiern.“

„Ich hab keine Ahnung, wen du meinen könntest.“ Jonas zeigte ein schmales Lächeln. „Aber ehrlich, das war ‘ne schöne Trauung.“

„Eigentlich wollte ich ein Zeichen setzen und Dragos Nachnamen annehmen“, erzählte Marco. „Aber nachdem meine Firma meinen Namen trägt und wir uns gerade ein wenig etabliert haben …“ Er zuckte mit den Schultern. „Eine Namensänderung wäre da unklug und mit unseren Kreditschulden können wir uns in dieser Hinsicht nicht viele Fehler leisten.“

„Was ist mit einem Doppelnamen?“ Jonas überlegte, ob er bereit wäre, Eriks Namen anzunehmen. Jonas Kolb. Naja.

„War meine nächste Idee“, antwortete Marco. „Aber ich muss schon ‚Bianchi‘ oft genug buchstabieren. Kannst du dir vorstellen, was das für eine Katastrophe bei ‚Bianchi-Djordjević‘ werden würde?“

Jonas lachte. „Okay, ja, das fordert‘s schon irgendwie raus.“

Die Türglocke unterbrach ihr Gespräch, Marco drehte den Kopf, bewegte sich aber nicht.

„Na los, geh schon“, forderte Jonas ihn auf. „Deine anderen Gäste sollten auch ‘n bissl was von dir haben.“

Nach einem kurzen Nicken und einem letzten aufmunternden Schulterdruck eilte Marco aus der Küche, um den verspäteten Gast ins Haus zu lassen, doch Drago war ihm zuvorgekommen. Er hatte die Tür gerade weit genug geöffnet, um den Blick auf eine hübsche, dunkelhaarige Frau freizugeben, als Marco auf halbem Weg wie versteinert stehenblieb. „Francesca?“

Kapitel 49

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Kapitel 50

Was zuletzt geschah:

Die Hochzeit ist im vollen Gange, als ein unerwarteter Gast alte Erinnerungen und neue Hoffnung bringt. Während Marco einen Teil seiner lange verloren geglaubten Familie zurückerhält, entfernt sich Jonas immer weiter von seiner eigenen. Nicht nur von seinen Eltern, sondern auch der Graben zwischen ihm und Erik wächst. Spätnächtliche Worte prasseln wie lange überfälliger Sommerregen auf ihre Beziehung und klären die Luft – wenigstens zeitweise. Doch das reicht Jonas nicht. Er will auch seine Eltern erneut in seinem Leben haben. Dieses Verlangen wird so stark, dass er sein Herz über die Telefonleitung ausschüttet.

 

Kapitel 50

Auf der Wohnzimmercouch lümmelnd, erfreute sich Jonas an Edith, die Mary wegen einer banalen Kleinigkeit zerfleischte. Wer hätte ahnen können, dass ihm Downton Abby so ans Herz wachsen würde? Noch etwas Gutes, das Erik in sein Leben gebracht hatte. Jonas fügte den Punkt seiner mentalen Liste hinzu, die er immer dann aufrief, wenn die Stimme in seinem Inneren drohte, seine Beziehung zu torpedieren.

Nichtsahnend von dem stillen Kampf, den sein Freund ausfocht, hatte Erik den Kopf auf Jonas‘ Schoß gebettet und brummte selig, als dieser mit den Fingern durch seine langen Strähnen fuhr. Das Schellen der Türglocke zerriss die Idylle.

„Erwartest du jemanden?“

„Nee.“

„Also muss ich aufmachen?“

„Japp.“

Theatralisch seufzend erhob sich Erik. Bevor er zur Tür schlurfen konnte hielt Jonas ihn zurück, um ihm einen Kuss auf die Lippen zu drücken.

„Wie lange willst du das noch durchziehen?“, fragte Erik amüsiert.

„Bis du mir sagst, dass ich nerv.“

„Ah. Also nie.“

Zur Antwort krallte Jonas die Finger fester in Eriks Hemdkragen, weigerte sich, ihn schon ziehen zu lassen. Anfänglich war er sich dumm vorgekommen, Eriks Nähe auf diese Weise zu erzwingen. Ihn zu küssen, wann immer einer von ihnen den Raum verließ, egal, ob ihm gerade danach war oder nicht, in Erik Arme zu kriechen, wenn dessen späte Heimkehr ihn weckte und stets ehrlich zu sein, ganz besonders dann, wenn er eigentlich das Gegenteil wollte.

Vermutlich hatte Erik genau gespürt, wie viel Überwindung Jonas diese Maßnahmen kosteten und dennoch mitgespielt. Am Ende waren sie für ihre Hartnäckigkeit belohnt worden. Stück für Stück eroberten sie sich die alte Vertrautheit zurück, die immer ein Stützpfeiler ihrer Beziehung gewesen war. Weniger selbstverständlich als früher, dafür stabiler.

Ein zweites Klingeln versetzte Erik in Bewegung, um dem unerwarteten Gast zu öffnen. Es dauerte einen Moment, dann hörte Jonas gedämpfte Stimmen. Ungewohnt lange dafür, dass Erik den Gast weder hereinbat, noch auf seinen Weg schickte, aber vermutlich hatten sie sich einfach einen besonders hartnäckigen Staubsaugervertreter eingefangen. Der Jonas nun davon abhielt Downton Abby weiterzugucken. Der Arsch.

Endlich schloss sich die Tür und Erik kehrte ins Wohnzimmer zurück.

„Wurd ja auch mal Zeit“, motzte Jonas ihn an. „Los, lass endlich die Folge weiterlaufen.“ Als sich Erik weder setzte noch auf Play drückte, blickte er misstrauisch auf. „Was is‘ los?“

„Dein Vater ist hier.“

Was?

„Er sagt, er möchte mit dir sprechen. Ich habe ihn gebeten, vor der Tür zu warten, bis ich dich gefragt habe, ob du das auch willst.“

„Wie … Warum …“ Ächzend barg Jonas das Gesicht in den Händen. Er fürchtete den Auslöser für den Besuch zu kennen. „Ich hab zuhause angerufen. Neulich. Nachdem wir von der Hochzeit zurück waren.“

„Ihr habt miteinander gesprochen? Davon hast du mir gar nichts erzählt.“

„Nee, wir …“ Panik stieg in Jonas hoch. „Da war bloß der Anrufbeantworter, dran und … Fuck! Fuck, fuck, fuck, fuck, fuck, fuck! Was kann er nur wollen?“

„Was auch immer es sein mag“, da schwang ein Ton in Eriks Stimme mit, den Jonas in dieser Härte bisher nur selten gehört hatte, „wenn du nicht ihm sprechen willst, dann werde ich ihn bitten zu gehen. Und wenn du mit ihm sprechen möchtest, bin ich die ganze Zeit über da, bis du mir sagst, dass ich verschwinden soll.“

Mit diesem Versprechen im Ohr, straffte Jonas seine Schultern. „Ich sollt mir wohl wenigstens mal anhören, was er zu sagen hat.“ Er folgte Erik in den Gang, musste jedoch noch einmal tief Luft holen, bevor er ausreichend Mut aufbrachte, die Klinke nach unten zu drücken. „Hallo, Papa.“

Jonas‘ Vater sah aus, wie man nach einer mehr als siebenstündigen Fahrt eben aussah. Tödlich erschöpft und am Ende seiner Kräfte. Er lächelte gezwungen. „Es ist schön dich zu sehen. Können wir miteinander reden?“

Jonas spürte Eriks Präsenz in seinem Rücken und tastete hinter sich, bis er die kühle Hand streifte, die ihm schon so oft Halt geschenkt hatte. Erst danach trat einen Schritt zur Seite, um seinen Vater in die Wohnung zu lassen.

Dieser fühlte sich sichtlich unwohl, verlagerte im Sekundentakt sein Gewicht von einem Bein auf das andere, doch Jonas war noch nicht bereit, ihm einen Sitzplatz anzubieten. Stattdessen ließ er von Erik ab, verschränkte die Arme vor der Brust und versuchte, hinter die erschöpfte Maske zu blicken. „Was machst du hier?“

„Ich wollte dich sehen. Mit dir reden.“

„Warum?“

„Ich habe deine Nachricht abgehört und …“ Die Lippen seines Vaters bewegten sich, als übte er eine Rede ein. Nach mehreren Durchläufen stieß er seinen angehaltenen Atem aus, beließ es jedoch bei einem schlichten „Du fehlst mir“.

„Is‘ das alles, was du mir zu sagen hast?“

„Es ist dein gutes Recht, wütend auf mich zu sein. Wir haben einen Fehler gemacht und es tut mir leid, dass es so lange gebraucht hat, bis ich das verstanden habe.“

Jonas zertrampelte die in ihm aufkeimende Hoffnung. Nochmal würde ihm das nicht passieren. „Ich werd nich‘ mit nach München kommen“, stellte er klar. „Ich bleibe in Berlin. Bei Erik. Und ich bin auch weiterhin schwul. Daran wird sich nichts ändern. Und wenn du ‘n Problem damit hast, kannst du gleich wieder verschwinden.“

„Nein! Nein, das ist nicht, was ich … Jonas, ich …In den letzten Wochen, da habe ich … Ich habe ein bisschen was über, ähm, über … Ich habe ein bisschen was über diese Sache gelesen und, ähm, dann war da noch … Erinnerst du dich, als wir mit dir zu Pfarrer Steinkirch wollten und du stattdessen diese … diese Organisation vorgeschlagen hast, die, ähm, also, für Menschen in deiner Situation?"

„Ja, scheiße, was habt ihr denn erwartet, wie ich auf so ‘nen beschi–bescheuerten Vorschlag reagier? Ich wollt einfach, dass ihr auch mal jemandem zuhört, der auf meiner Seite is‘, anstatt bloß davon zu labern, wie schlimm ich im Fegefeuer braten werd. Du kannst mir ja wohl kaum vorwerfen, dass ihr dazu nich‘ bereit wart.“

„Ich bin hin. Zu dieser Beratungsstelle, meine ich.“

Jonas war versucht, den Schmalz aus seinen Ohren zu pulen, denn sicherlich hatte er sich eben verhört. „Was?“

„Ich habe den Namen gegoogelt – ja, ich weiß, wie das geht – und einen Termin vereinbart. Die haben sich Zeit genommen und mir viel erklärt und … Ich will dich nicht anlügen und sagen, dass ich es wirklich verstehe, aber … Aber mir ist klar geworden, dass ich das auch gar nicht muss, weil ich dich so oder so liebe. Du bist doch mein Sohn.“

Wütend blinzele Jonas. Er wollte nicht weinen, nicht zeigen, wie sehr er sich nach diesen Worten gesehnt hatte. Überfordert von der Flut an Gefühlen, die über ihn hereinbrach, reagierte er nicht, als ihn sein Vater umarmte, stand nur stocksteif da und kämpfte gegen die Tränen, die in ihm aufstiegen. Kämpfte gegen das Schluchzen, gegen das unbändige Verlangen, sich in die Geborgenheit seiner Kindheit zu stürzen. Bis er nicht länger kämpfen konnte.

Das letzte Mal so kläglich ich den Armen seines Vaters geweint hatte er, nachdem ihre Katze Minnie überfahren worden war. Da musste er etwa zehn gewesen sein und das Wissen, nie wieder neben diesem warmen Fellknäuel einzuschlafen lange Zeit der schlimmste Verlust, den er kennenlernte. Bis zum Tag seines Comingouts vor seinen Eltern.

Aber anders als Minnie war sein Vater zurückgekehrt und das nicht einmal auf eine mörderische Friedhof der Kuscheltiere Art. Das war kaum die richtige Zeit zum Heulen. Resolut wischte Jonas über seine feuchten Wangen und zwang ein Lächeln auf sein Gesicht, bevor er sich aus der Umarmung löste. „Willst du was essen?“

Auch sein Vater lächelte. „Dazu würde ich nicht Nein sagen. War eine lange Fahrt.“

Jonas drehte sich zu Erik, um zu fragen, was sie noch im Haus hatten, doch der Gang war leer, die Tür zum Büro geschlossen. Offensichtlich hatte Erik entschieden, den beiden so viel Privatsphäre wie möglich zu bieten, ohne sich zu weit zu entfernen. Also lag es an Jonas, seinen Vater angemessen zu bewirten. Er führte ihn in die Küche. „Setz dich. Kaffee?“ Irgendwo mussten noch Überreste von Sophias Besuch stecken.

„Gerne.“ Jonas‘ Vater verschränkte die Finger vor seiner Brust und tippte mit dem Zeigefinger gegen den Reißverschluss der Jacke, die er noch nicht abgelegt hatte. „Ich soll dich von Oma grüßen. Sie wäre gerne mitgekommen, schafft aber die lange Fahrt einfach nicht mehr.“

Jonas schmiss den Wasserkocher an und kramte nach der Dose mit dem Kaffeepulver. Wenn das Zeug doch nur so gut schmecken würde, wie es roch. „Schade. Sie fehlt mir.“

„Du fehlst ihr auch. Sie hat uns gehörig den Kopf gewaschen, nachdem sie deine Nachricht abgehört hatte.“

Mitten in der Bewegung erstarrte Jonas, feingemahlene Kaffeebohnen rieselten von dem Teelöffel in seiner Hand. Wusste seine Oma, weshalb seine Eltern den Kontakt zu ihm abgebrochen hatten? Er warf einen Blick über seine Schulter, suchte im Gesicht seines Vaters nach einer Antwort, fand sie jedoch nicht. Letztlich murmelte er nur: „Tut mir leid, ich wollt wirklich nich‘, dass ihr euch streitet.“

Sein Vater schüttelte den Kopf. „Es war gut, dass du angerufen hast. Der Weckruf war schlicht nötig.“

Jonas hatte sich eine Weile darum gedrückt, aber letztlich musste er die Frage stellen, die ihn drängte, seit er seinem Vater die Tür geöffnet hatte. „Was … Was is‘ mit Mama?“

Das Zögern seines Vaters sagte im Grunde alles. „Mama braucht noch etwas mehr Zeit, um sich an den Gedanken zu gewöhnen, dass du–“

„–schwul bist–“

„–dein eigenes Leben lebst.“

„Verstehe.“ Unwillig, das Thema zu vertiefen, stellte Jonas seinem Vater den frisch aufgebrühten Kaffee und ein Glas Wasser vor die Nase und machte sich daran, aufzudecken, was vom Frühstück übriggeblieben war. „Bedien dich. Wurst haben wir leider nich‘ im Haus.“

„Bist du jetzt auch unter die Vegetarier gegangen?“ Der frotzelnde, aber liebevolle Ton seines Vaters tat gut. Beinahe, als wäre nie etwas zwischen ihnen passiert.

„Nee, ich nich‘, aber Erik.“ Jonas wartete auf eine Reaktion, die nicht kam. „Isses dir unangenehm, wenn ich über ihn sprech?“

„Nein, nein! Ist schon gut!“ Zu schnell, um glaubwürdig zu sein.

„Papa, ich bin echt scheißfroh, dass du hier bist, aber anlügen brauchst du mich auch nich‘.“

„Ich lüge dich nicht an! Es ist nur …“ Sein Vater drehte die Handflächen nach oben. „Es ist nicht so, dass ich … dass ich …“ Er suchte nach den richtigen Worten, schien sie aber nicht zu finden.

Jonas trank einen Schluck Saft, schnitt eines der Brötchen auf, weil es so verführerisch vor seiner Nase lag und verteilte dick Nutella darauf. „Schon gut. Ich darf wohl nich‘ vergessen, dass ich selbst Jahre gebraucht hab, diesen Teil von mir zu akzeptieren. Da kann ich kaum von euch erwarten, dass ihr’s quasi über Nacht schafft.“

„Bist … bist du glücklich hier?“

Überrascht von der unerwarteten Frage hob Jonas den Kopf und bemerkte die ehrliche Sorge in den Zügen seines Vaters, die ihm ein ebenso ehrliches Lächeln entlockte. „Japp, bin ich. Mama und du fehlt mir, genauso wie Oma und Vroni und Christine. Ich weiß auch nich‘, ob ich ewig hier in Berlin bleiben will, aber … Das Studium is‘ cool, ich versteh mich mit den Leuten, hab neue Freunde gefunden und–“

„–du hast deinen … Freund“, vervollständigte Jonas‘ Vater den Satz mit einem gewissen Zögern.

„Das auch.“ Jonas entschied, offen mit ihm zu sprechen. „Weißt du, hier konnte ich zum ersten Mal wirklich ich selbst sein. Aber das hat nich‘ plötzlich alles superleicht gemacht, oder so. Ich hab versucht, es vor euch zu überspielen, aber ich hatte nach meinem Umzug hierher teilweise ganz schön zu kämpfen. Hatte Heimweh und hab mich nich‘ wirklich zuhause gefühlt. Hier nich‘, aber in Bayern auch nich‘. Manchmal war ich mir nich‘ sicher, ob ich’s pack. Erik war da im letzten Jahr echt ‘ne wichtige Stütze für mich. Auch schon vor unserer Beziehung.“ Als wir bloß so miteinander gefickt haben. „Als wir bloß Freunde waren. Ohne ihn hätte ich vielleicht alles hingeschmissen.“

Sein Vater musterte seine Hände, die frischen Brötchen vor ihm blieben unangetastet. „Kann ich dich noch etwas fragen?“

„Klar!“, antworte Jonas, froh, sowas Ähnliches wie einen Dialog zustande gebracht zu haben. „Frag so viel du willst!“

„Wie lange weißt du schon, dass du …“ Hilflos wedelte sein Vater mit der Hand, als könnte er so das richtige Wort aufdecken, ohne es laut aussprechen zu müssen.

„Wie lange ich schon weiß, dass ich nich‘ auf Frauen stehe?“, half Jonas.

Sein Vater nickte.

„Das … is‘ gar nich‘ so leicht zu beantworten.“ Jonas überlegte, wie er es formulieren sollte. „Befürchtet hab ich’s schon recht früh, sicher bin ich mir so seit … drei Jahren? Und wirklich akzeptiert hab ich’s vielleicht seit ‘n paar Monaten.“

Schwer zu sagen, wie diese Antwort bei seinem Vater ankam. Dieser rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. „Und die ganze Geschichte mit Maria …?“

„War eine einzige Lüge, damit ihr und ihre Eltern uns nich‘ mehr aufn Sack geht. Sorry. Wir waren immer bloß gute Freunde. Sie war ‘n gutes Alibi, weißt du? Mit ihr an meiner Seite kam gar nich‘ erst der Verdacht auf, ich könnte … Jungs bevorzugen.“

Nachdenklich richtete Jonas‘ Vater den Blick erneut auf seine Hände. „Sie hat mit uns gesprochen. Kurz … Kurz nachdem wir aus Berlin zurück waren.“

„Das wusste ich nich‘“, murmelte Jonas. „Ich hab sie nich‘ auf euch angesetzt oder so.“

„Ich weiß. Oder ich habe es mir zumindest gedacht. Wir sind uns zufällig beim Einkaufen begegnet und sie hat uns erzählt, dass du ihr schon vor Jahren erzählt hast, dass … Ähm, und, dass das nichts mit Berlin zu tun hat. Oder eine Phase ist. Und … Sie hat uns auch gesagt, wie sehr du … Wie weh dir unsere Reaktion getan hat.“

„Oh. Naja … da hatte sie nich‘ ganz unrecht.“

„Also stimmt es?“, hakte sein Vater nach.

„Dass eure Reaktion mich verletzt hat? Das sollte offensichtlich sein, oder?“

„Ich meinte …“ Sein Vater ließ den Kopf hängen. „Ich weiß, dass wir dich verletzt haben. Ich wollte aber eigentlich fragen, ob Maria wirklich schon so lange davon weiß.“

„Japp, tut sie“, antwortete Jonas wahrheitsgemäß. Er goss seinem Vater Kaffee nach. Nicht, weil die Tasse leer war, sondern weil ihr Inhalt allmählich erkaltete. „Sie war die Erste, der ich‘s erzählt hab und sie … Maria hat mir geholfen, ein wenig klarer zu sehen. Nich‘ mehr so viel Angst zu haben. Mich weniger zu hassen.“

Stumm wiederholten die Lippen seines Vaters dieses letzte Wort, schienen Mühe zu haben, sich davon zu lösen. Sein Löffel klickte dumpf gegen den Tassenrand, als er Milch und Zucker in seinen Kaffee rührte. „Wer wusste es noch? Christine, nehme ich an …?“

„Christine weiß es seit Weihnachten. Clemens seit Februar.“

„Clemens weiß es auch?“ Jonas war sich nicht sicher, ob ihn die Überraschung seines Vaters amüsierte oder verletzte. „Wie hat er reagiert? Ich meine, ist er nicht … Ihr wart so dick befreundet und …“

„Fragst du mich gerade, ob er sich geekelt hat, jahrelang eine Umkleidekabine mit mir geteilt zu haben?“

„Nein!“, beteuerte sein Vater wenig überzeugend.

„Schon gut. Ich war mir auch unsicher. Deswegen hab ich’s ja so lang für mich behalten. Aber … Er hat’s echt gelassen aufgenommen.“ Jonas lächelte bei der Erinnerung. „Ich dacht … Ich hatte immer Angst, das könnt uns endgültig entzweien, aber eigentlich war’s das Geheimnis, das ich so lang vor ihm gehütet hab, das uns so auseinandergetrieben hat. Is‘ gut, dass das nich‘ mehr zwischen uns steht.

„Wer weiß es noch?“

Allmählich verlor Jonas die Geduld, aber er rief sich ins Gedächtnis, dass es das Beste war, sämtliche Fragen seines Vaters ruhig und ehrlich zu beantworten. „Christines Freund Nick. Spätestens, seit er im Sommer hier war, aber ich glaub, sie hat’s ihm schon davor gesteckt. Ich hab ihr gesagt, dass sie’s ihm erzählen darf. War schlimm genug, dass sie’s die ganze Zeit vor euch verheimlichen musste. Damit hab ich ihr ganz schön was aufgebürdet.“ Er dachte nach. „Meine Freunde hier in Berlin wissen’s auch. Die engeren, jedenfalls. Erik, natürlich. Ein paar seiner Freunde und seine Familie.“ Jonas konnte sehen, dass diese Information etwas in seinem Vater auslöste und auch er selbst realisierte langsam, wie tief der Graben zwischen ihm und seinen Eltern im letzten Jahr geworden war.

„Das sind eine Menge Leute.“

„Ja.“

„Nur uns hast du es nicht erzählt.“

„Papa, ich hatte Angst!“, versuchte Jonas seine Entscheidung zu begründen. „Bei den anderen, denen ich’s erzählt hab, konnt ich ungefähr abschätzen, wie sie reagieren. Und selbst, wenn ihre Reaktion beschissen gewesen wär, wär ich irgendwann drüber hinweggekommen. Aber ihr … Ihr seid mir wichtig! Ich liebe euch und die Vorstellung, dass ihr … dass ihr mich nich‘ mehr liebt …“

„Wir lieben dich!“, beteuerte sein Vater eindringlich. „Ich liebe dich! Ganz egal, was du tust und wer du bist!“

Erneut standen Tränen in Jonas‘ Augen. Er machte sich nicht die Mühe, sie zu verstecken.

„Und ...“ Sein Vater atmete durch. „Ich bin nicht wütend, weil du es uns so spät erzählst hast. Ich bin traurig, weil du es nicht früher konntest.“ Er stützte den Kopf in die Hände. „Es tut mir so leid. Ich würde dir jetzt gerne sagen, dass ab jetzt alles gut wird, aber … Ich kann nur für mich selbst sprechen … Und auch für mich ist das alles noch sehr neu und seltsam. Wahrscheinlich werde ich noch jede Menge dumme Sachen sagen, bis ich das alles wirklich verstanden habe.“

„Das is‘ schon okay. Ich mein, das Gute is‘ ja, dass wir mehr als genug Zeit haben, daran zu arbeiten.“ Jetzt schaffte es sogar ein schmales Lächeln auf Jonas‘ Gesicht. „Ähm … ich hab Fotos von der Hochzeit geschossen, auf der wir neulich waren und bin grad dabei, ein Album aus den schönsten zusammenzustellen. Willst du sie sehen?“ Seinem Vater die Bilder von Marcos und Dragos Hochzeit zu zeigen stellte ein gewisses Risiko dar. Vielleicht würden sie ihn abschrecken. Vielleicht würden sie ihm aber auch verdeutlichen, dass es im Leben gar keinen so großen Unterschied machte, welches Geschlecht man nun liebte.

„Ähm … Ja. Sicher. Warum nicht.“ Zwar machte Jonas‘ Vater kaum einen Hehl daraus, dass er nur ihm zuliebe einwilligte, aber auch das war ein erster Schritt.

„Jetzt müsst ich mich bloß noch erinnern, wo ich mein Scheißnotebook hingepackt hab.“ Jonas stand auf. „Wart, ich frag mal Erik.“

Sein Vater erhob sich ebenfalls. „Wahrscheinlich sollte ich mich ohnehin bei ihm entschuldigen. Unsere erste Begegnung war nicht unbedingt ideal.“ Wenn Jonas noch einen Beweis gebraucht hätte, dass sich sein Vater wirklich bemühte, spätestens jetzt hätte er ihn gehabt. Hoffentlich sah Erik das ähnlich.

Seinen Vater im Schlepptau, stürmte er das Büro. Über die vergangenen Monate hatte es sich als Rückzugsort etabliert, um möglichst ablenkungsfrei ungeliebte Arbeiten zu erledigen. So, wie im Augenblick Erik, der am Schreibtisch saß und in dem Buch über Handelstheorie las, das schon seit Wochen auf seinem Nachttisch lag, ohne dass sich das Lesezeichen darin einen Millimeter weiterbewegt hätte. Er blickte auf, als er die Tür hörte.

„Weißt du, wo mein Notebook steckt?“, fragte Jonas.

Erik tippte gegen die bunte Schutzhülle neben einem Bücherstapel. „Hier.“ Sein Blick wanderte von Jonas zu dessen Vater. Eine unangenehme Stille entstand.

„Ich, ähm, wollt meinem Dad die Fotos von Marcos Hochzeit zeigen.“

„Ah, dann seid ihr eine Weile beschäftigt. Sind ja nur ungefähr fünftausend.“

„Und jedes einzelne davon zeigt mein herausragendes Talent.“ Jonas streckte Erik die Zunge raus.

„Herr Kolb …“ Vorsichtig trat Jonas‘ Vater an den Schreibtisch heran, die Hände zur Brust gezogen, als fürchtete er, einen Schlag abwehren zu müssen. „Ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen. Wir müssen einen fürchterlichen ersten Eindruck hinterlassen haben.“

„Durchaus, ja.“

Alles in Jonas verkrampfte sich. Still sandte er Gebete an einen Gott, an den er schon lange nicht mehr glauben konnte und an Erik, der nicht gewillt schien, die Sache für Jonas‘ Vater einfach zu gestalten.

Genauso wenig wie dieser gewillt schien, bereits aufzugeben. „Ich würde mir trotzdem wünschen, dass wir einen Neuanfang starten. Jonas zuliebe.“

Erik stand auf, um die Hand zu schütteln, die ihm gereicht wurde. „Solange Sie Ihren Sohn anständig behandeln, soll es an mir nicht scheitern.“

Jonas‘ Vater nickte. „Das werde ich. Versprochen.“

Eine lange Sekunde verstrich und Jonas hätte beinahe einen Luftsprung gemacht, als Erik lächelte. Nicht gequält, nicht gezwungen, sondern ehrlich. „Dann freut es mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen.“

„Okay, Fotozeit!“, entschied Jonas. Die Stimmung war ihm gerade ein wenig zu heikel. Er schnappte sich den Ärmel seines Vaters und zog daran. „Komm, wir gehen ins Wohnzimmer, unsere Couch is‘ echt scheißgemütlich, das muss jeder Arsch mal erlebt haben.“

„Ich habe aber nur eine Stunde oder so.“ Offenbar war Jonas‘ Vater so durch den Wind, dass er seinen Sohn nicht einmal für das Wort ‚Arsch‘ rüffelte. „Dann muss ich zurück nach Hause.“

„Du willst gleich heute wieder zurück? Das sind fünfzehn Stunden Fahrt an einem Tag!“

„Ich kann deine Mutter nicht so lange im Apfelbäumchen allein lassen.“

„Sie werden sie noch viel länger alleine lassen, wenn irgendetwas passiert“, wandte Erik ein. „Bleiben Sie wenigstens eine Nacht. Wir können die Couch ausziehen oder ich buche Ihnen ein Hotelzimmer.“

„Ich weiß nicht …“

„Papa, bitte. Erik hat recht, das is‘ viel zu gefährlich.“

Jonas‘ Vater schien sich für keine der Optionen besonders begeistern zu können. Glücklicherweise kannte und akzeptierte er dennoch seine Grenzen. „Ich muss zuhause anrufen und deiner Mutter Bescheid geben.“

„Das Telefon steht auf dem Schränkchen hinter Ihnen.“ Erik deutete darauf, augenscheinlich fest entschlossen, Jonas‘ Vater einen Tag länger in Berlin zu behalten.

Dieser schielte wiederholt in die entsprechende Richtung, bewegte sich aber nicht. Schließlich sanken seine Schultern nach unten und Jonas wusste, dass er eine Entscheidung getroffen hatte. „In Ordnung. Danke.“ Er griff sich das Telefon, jedoch erneut.

„Hast du echt deine eigene Nummer vergessen?“, neckte Jonas, doch sein Vater lachte nicht. Nach einem langen Blick zu Jonas zog er sich in die Küche zurück und schloss die Tür hinter sich.

Die Erkenntnis goss Blei in Jonas‘ Magen. „Mama wird nich‘ begeistert sein, dass er noch ‘nen Tag hierbleibt. Bei mir.“ Er presste das Notebook gegen seine Brust. Die Küchentür war zu dünn, um die Stimme seines Vaters vollständig abzuschirmen.

„Es ist nur noch ein Tag länger … Ich weiß, dass viel zu tun ist … Nein, ich erwarte nicht, dass … Ja, das ist mir klar … Monika, du … Ja … Ja, ich weiß … Nein, das … Jetzt hör doch mal … Jonas ist immer noch … Schon, aber … Monika! Du redest über unseren Sohn! … Das gibt dir nicht das Re–“

Das Gespräch verkam zu undeutlichem Gemurmel. Unfähig, den Dialog weiter zu belauschen, blickte Jonas zu Erik, der an der Tür lehnte, die er eben geschlossen hatte. „Was auch immer da gerade zwischen deinen Eltern läuft, ist nicht deine Schuld.“ 

„Irgendwie ja doch.“

Erik ersparte sich weitere Erwiderungen und lief einfach zu Jonas, um ihn in die Arme zu schließen. Zärtlich küsste er Jonas‘ Schläfen, seine Lippen, seine Stirn; versuchte, mit Berührungen zu erreichen, was Worte nicht schafften.

Sie hörten ein Räuspern. Jonas‘ Vater stand hinter ihnen, die Türklinke in der einen, das Telefon in der anderen Hand, seine Wangen ein wenig gerötet. „Gibt es hier günstige Hotels, die noch Zimmer frei haben?“

Rasch brachte Jonas etwas Abstand zwischen sich und Erik. „Denk schon.“

„Ich kümmere mich gleich darum“, versprach Erik. „Seht ihr euch solange die Fotos an, ich sage Bescheid, sobald ich etwas habe.“

Mit einem dankbaren Blick zu seinem Freund, schleppte Jonas seinen Vater ins Wohnzimmer. Es dauerte ein wenig – Fotos von der Hochzeit zweier Männer zu sehen, war definitiv seltsam für seinen Vater – doch mit jeder Aufnahme, die über den Bildschirm huschte, wurde er lockerer, stellte Fragen, wollte Details wissen. Bevor sie sich versahen, war es dunkel und er gähnte im Sekundentakt. „Ich sollte wohl langsam ins Hotel.“

Am nächsten Morgen, nach einem gemeinsamen Frühstück, für das sogar Erik ungewohnt früh aus den Federn geklettert war, winkte Jonas dem Auto, das ihn jahrelang durch Bayerns Hinterland kutschiert hatte hinterher. Er selbst blieb mit einer Mischung aus Hoffnung und Trauer in Berlin zurück.

 

Novemberwind fegte durch die Straßen, trieb frierende Menschen in ihre Wohnungen und brachte den Geruch nach Schnee in die Stadt. Jonas hatte seit dem Besuch seines Vaters noch einige Male mit diesem telefoniert. Viel zu kurz, viel zu heimlich, zu Zeiten, an denen es unwahrscheinlich war, dass seine Mutter davon erfuhr. Umso überraschter war er, als ihre Festnetznummer Sonntagmorgen auf seinem Handydisplay blinkte. Kirchenzeit, eigentlich.

„Willst du nicht rangehen?“, nuschelte Erik verschlafen neben ihm. Das Klingeln musste ihn ebenfalls geweckt haben.

„Sorry, gleich.“ Unbeholfen kletterte Jonas aus dem Bett und drückte auf ‚Annehmen‘. „Morgen.“

„Guten Morgen“, begrüßte ihn die Stimme seines Vaters. „Hast du noch geschlafen?“

„Ähm, ja. Freu mich aber, dass du anrufst.“ Er wanderte in die Küche, um Wasser aufzusetzen. Wenn Erik seinetwegen schon wach war, konnte er ihm wenigstens Tee kochen. „Wie geht’s euch?“

„Ganz gut, ganz gut. Wir überlegen, nächstes Jahr jemanden einzustellen, der im Apfelbäumchen hilft und dafür in die Wohnung darüber ziehen könnte. Als Ferienwohnung läuft sie sowieso nicht so gut und für uns wäre es eine echte Erleichterung, jetzt, wo Christine auch nicht mehr da ist.“

„Klingt doch nach ‘ner ganz guten Idee.“ Jonas kramte nach den Teebeuteln. Eigentlich konnte er auch gleich das Frühstück vorbereiten. Die Sucherei lenkte ihn wenigstens von der Frage ab, weshalb sein Vater um diese Zeit bei ihm anrief. Sicher nicht, um ihm von seinen Personalplänen zu erzählen.

„Und wie geht’s dir?“, erkundigte sich dieser. „… Euch?“

Wärme durchflutete Jonas‘ Körper, wie immer, wenn sich sein Vater bemühte Erik in Jonas‘ Leben anzuerkennen. „Auch gut. Gibt nich‘ viel Neues zu erzählen. Kaum zu glauben, aber zum ersten Mal seit Monaten scheint bei uns sowas Ähnliches wie Routine einzukehren.“ Er seufzte. „Fuck, jetzt hab ich’s laut ausgesprochen, jetzt muss irgend ’n Scheiß passieren.“

„Kommst du über Weihnachten zu uns?“

Und schon war es so weit. Nicht, dass Jonas sich diese Frage in den letzten Wochen nicht auch gestellt hätte, nur bisher war er nicht gezwungen gewesen eine Antwort darauf zu finden. „Ähm …“

„Ich weiß, dass ich schon früher hätte fragen sollen, aber …“

„Mama is‘ nich‘ begeistert, was?“ Warum um den heißen Brei reden?

„Sie … braucht Zeit.“

„Ich glaub, das hast du schon mal gesagt.“ Unmöglich, die Bitterkeit aus seiner Stimme herauszuhalten, so sehr es Jonas auch versuchte.

„Sie hätte dich an Weihnachten aber gerne hier!“, versicherte sein Vater eilig.

„Wirklich?“ Jonas hatte da so seine Zweifel. „Weil … wenn nich‘, is‘ das okay. Ich werd's überleben, über Weihnachten mal in Berlin zu bleiben.“ Das Wasser kochte und beinahe hätte er sich beim Umgießen in die Kanne verbrüht.

„Ich will kein Weihnachten ohne meine Kinder verbringen“, sagte sein Vater bestimmt. „Und deine Mutter will das auch nicht. Glaub mir, wir haben darüber gesprochen und wir hoffen beide, dass du kommst.“

Ein Teebeutel knisterte zwischen Jonas‘ Fingern. Entgegen seiner Worte, war die Vorstellung Weihnachten ohne seine Familie zu verbringen furchtbar, aber immer noch besser als ein unliebsamer Gast zu sein. „Bist du sicher, dass es okay für Mama is‘?“

„Völlig sicher!“

„Okay, dann …“, ein zartes Lächeln brach sich Bahn, „dann sehen wir uns an Weihnachten. Ich meld mich bei euch, wenn ich weiß, wann genau ich komm, ja?“

„Mach das.“

Den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt, öffnete Jonas den Kühlschrank. Dabei streifte sein Blick die mit einem bunten Magneten daran festgeheftete Karte. „Wusstest du, dass Vroni mir geschrieben hat?“

„Davon hat sie nichts erzählt. Wahrscheinlich hat Oma ihr geholfen.“

„Wahrscheinlich.“ Sogar mit Sicherheit. Auf dem Umschlag prangte ein mit Buntstiften gemaltes Haus, vor dem die ganze Familie versammelt stand. Vroni und Jonas in der Mitte, lachend, sie in seinen Armen. Im Inneren zog sich kindliche Schrift (Schreibschrift, seine kleine Schwester beherrschte wirklich schon Schreibschrift) über stabilen Karton: Oma meinte du bist traurichg und füllst dich allein und wir solen dir sagen das wir dich lieb haben. Jonas ICH HAB DICH GANS DOLL LIEB!!!!

Nachdem Jonas die Karte gelesen hatte, hatte er erst einmal heulend am Küchentisch gesessen, bis Erik nach Hause gekommen war und ihn entsetzt gefragt hatte, ob etwas passiert sei. Seither hing sie am Kühlschrank und erinnerte ihn jeden Tag daran, wie viele tolle Menschen sein Leben für ihn bereithielt.

„Jonas? Bist du noch dran?“

„Oh, ähm, ja. Ja, natürlich. Ähm, Papa? Wissen Oma und Vroni … Wissen sie, warum ihr … Warum wir uns gefetzt haben?“

Dieses Mal herrschte am anderen Ende der Leitung Stille, die erst nach einigen Sekunden von einem Räuspern unterbrochen wurde. „Vroni ziemlich sicher nicht. Wir … Wir hatten keine Ahnung, wie wir ihr das erklären sollten. Und Oma …“ Jonas‘ Vater zögerte wieder. „Ich weiß es nicht genau. Wir haben ihr nichts gesagt, aber sie hat deine Nachricht an uns abgehört, also ist es schon möglich …“

„Verstehe.“ Was sie wohl darüber dachte? Und wie sollte Jonas seiner kleinen Schwester erklären, weshalb er und seine Eltern sich plötzlich so anders verhielten?

„Also kommst du Weihnachten?“, fragte sein Vater noch einmal, als könnte er es selbst nicht ganz glauben.

„Ja, Papa. Versprochen.“ Jonas hörte die Badtür, kurz darauf gluckerte Wasser durch die Rohre. „Ich sollt Schluss machen, muss noch das Frühstück vorbereiten. Ich meld mich. Grüß alle anderen von mir.“

„Natürlich. Und, ähm, richte deinem Erik auch schöne Grüße von mir aus, ja?“

„Wird erledigt! Bis bald!“

„Warte!“

Misstrauisch runzelte Jonas die Stirn. „Was is‘?“

„Ich … Wir haben uns noch gar nicht dafür bedankt, dass du dich bei Christine gemeldet hast. Sie hat vor ein paar Tagen angerufen. Das war das erste Mal seit ihrem Abflug, dass wir was von ihr gehört haben. Nur kurz und es wird wohl noch dauern, bis sie nicht mehr sauer auf uns ist, du kennst ja deine Schwester, aber … Danke.“

„Das freut mich, Papa. Ganz ehrlich. Ich wollte nie für Zwist bei euch sorgen.“ Nachdem sein Vater zurück nach Bayern gefahren war, hatte Jonas seiner Schwester eine lange Mail geschrieben, ihr von dem unerwarteten Besuch erzählt und sie gebeten, ihren Eltern wenigstens ein kurzes Lebenszeichen zukommen zu lassen. Anscheinend war sie seinem Wunsch nachgekommen. Vielleicht würde Weihnachten weniger schlimm werden, als er noch vor ein paar Minuten befürchtet hatte. „Also dann, Papa … macht’s gut.“

„Du auch.“

Jonas legte auf, bevor sich diese Verabschiedung noch länger ziehen konnte. Er streckte den Kopf zur Küchentür raus. „Erik?“

„Ja?“

Durch geschlossene Türen und plätscherndes Wasser konnte Jonas ihn gerade noch so verstehen. „Willst du Zimtschnecken zum Frühstück?“

„Was?“

„Willst d–“ Das Wasser im Bad wurde abgedreht, die Tür öffnete sich.

Schaum glänzte auf Eriks Haut, verklebte sein Haar. „Wenn du mit mir sprechen willst, warte noch fünf Minuten oder komm mit unter die Dusche.“

Jonas entschied sich für Option zwei.

 

Der Duft nach frisch aufgebackenen Zimtschnecken mischte sich mit dem des Tees, der Eriks Gesichtsausdruck nach zu urteilen eindeutig zu lange gezogen hatte.

„Das vorhin war mein Vater“, erzählte Jonas. „Hat gefragt, ob ich an Weihnachten zu ihnen komm.“

„Wirst du?“

„Japp. Denk, das könnt ganz gut sein. Ich mein, vielleicht geht’s auch richtig schief, alles is‘ beschissen und wir sprechen nie wieder miteinander, aber“, Jonas zuckte mit den Schultern, „das Risiko gehe ich ein. Ähm, was machst du denn zu Weihnachten?“ Im vergangenen Jahr hatte Erik gearbeitet, aber das war ja wohl kaum jedes Jahr der Fall.

„Arbeiten.“

„Echt jetzt?“

„Wenn ich an der Bar einspringe, kann jemand anderes mit seiner Familie feiern. Die meisten sind froh, diese Schicht nicht übernehmen zu müssen.“

„Machst du das echt jedes Jahr?“

Erik hob nur eine Braue und widmete sich anschließend seinem Frühstück. Eigentlich ein deutliches Signal, dass er das Thema nicht vertiefen wollte, aber so schnell gab sich Jonas nicht zufrieden.

„Also bist du ganz allein?“

„Sieht wohl so aus.“

„Aber–“

„Du musst mich nicht daran erinnern, dass ich keine Familie habe, zu der ich fahren könnte.“ Eriks Stimme war trocken, bitter und schrecklich traurig. „Das weiß ich auch so.“

Jonas verfluchte sich dafür, die Sache nicht auf sich beruhen gelassen zu haben. „Sorry, ich wollt nich‘ …“

Erik schüttelte nur den Kopf. „Schon gut. Vergiss es einfach.“

Aber Jonas war schon einen Schritt zu weit gegangen, jetzt konnte er auch noch einen zweiten machen. Entschlossen umrundete er den Tisch, zog Erik zu sich und wartete geduldig, bis dieser aufhörte, sich gegen die Umarmung zu stemmen. Die Gegenwehr erlosch bereits nach wenigen Sekunden und bald darauf wurde der Griff um Jonas‘ Taille fast schon schmerzhaft fest. Erste Regentropfen benetzten die Fensterscheiben, wurden größer, rannen hinab, bildeten Pfützen auf dem Rahmen. „Ich wollt nix aufwirbeln.“ Zärtlich strich Jonas über Eriks feuchtes Haar.

Dieser seufzte. „Ist in Ordnung. Weihnachten ist einfach generell keine leichte Zeit für mich.“ Er löste sich aus der Umarmung. „Arbeiten ist eine gute Ablenkung. Ich mache mich nützlich und wenn viel zu tun ist, verfliegt die Zeit und das Jahr ist vorbei, bevor ich wirklich darüber nachdenken konnte. Alternativ könnte ich vermutlich zu meiner Tante und ihrer Familie, aber ich denke nicht, dass sich irgendjemand wirklich wohl mit dieser Lösung fühlt.“

Jonas setzte sich zurück auf seinen Platz. „Ganz ehrlich? Ich glaub, die fühlen sich auch nich‘ wohl, wenn sie unter sich sin‘.“ Immerhin erntete er dafür ein schmales Lächeln.

„Da hast du vermutlich nicht ganz unrecht.“

Geistesabwesend starrte Jonas aus dem Fenster. „Wir könnten … Nee, das is‘ ‘ne Scheißidee. Obwohl … Wenn … Nee, das is‘ irgendwie … Andererseits …“

„Lässt du mich an deinen Gedanken teilhaben, oder muss ich raten?“

Eriks amüsierte Stimme brauchte Jonas zurück in die Gegenwart. „Sorry. Ich dacht bloß grad … Was, wenn wir zusammen nach Bayern fahren? Als Urlaub?“

„Wann?“

„Na, über Weihnachten natürlich!“

Erik brauchte ein paar Sekunden, um eine adäquate Antwort auf diesen Vorschlag zu finden. „Ich denke nicht, dass das eine gute Idee ist. Selbst, wenn ich so kurzfristig Urlaub über die Weihnachtszeit bekommen würde, was ziemlich unwahrscheinlich ist, bezweifle ich, dass deine Eltern mich bei sich haben wollen. Schon gar nicht über Weihnachten.“

„Nee, hör mir erst mal zu“, bat Jonas. „Ähm, ich … Ich hab ja ziemlich lang überlegt, ob ich überhaupt hinfahren soll, weil … Naja … Scheiße, ich mein, mein Dad kann noch so oft beteuern, dass Mama mich sehen will, es is‘ klar, dass das einfach nich‘ stimmt. Sonst hätte sie schon längst selbst mal angerufen und … und ich weiß einfach nich‘, ob ich‘s schaff, mit ihr im selben Haus zu wohnen, während wir so tun, als ob nix passiert wär. Und wenn wir nich‘ so tun, dann heißt das, dass wir wohl streiten … Und damit die restliche Familie reinziehen … Was zu noch mehr Streit führt und … Das is‘ irgendwie alles richtig beschissen.“ Erik musterte Jonas eingehend, sagte jedoch nichts, sondern wartete geduldig, bis dieser einmal tief durchgeatmet hatte und fortfuhr: „Also … Ich will die Feiertage schon gern bei meiner Familie verbringen, aber da wohnen? Mehrere Tage, vielleicht zwei Wochen? Nee, das …“ Jonas merkte, dass er erneut abschweifte und Erik noch immer keine Ahnung hatte, worauf er eigentlich hinauswollte. „Ähm, jedenfalls … Ich dacht, vielleicht könnten wir ein Hotelzimmer in der Nähe nehmen. Urlaub machen. Nix zu teures, das kann ich mir nich‘ leisten, aber … so ‘ne kleine Pension halt. Aber ich merk grad, dass das ‘ne Scheißidee is‘, weil–“

„–ich vermutlich keinen Urlaub bekomme–“

„–jaah und weil–“

„–es schwer werden könnte, so kurzfristig noch freie Hotelzimmer zu finden.“

„Das auch, aber hauptsächlich …“ Jonas wartete darauf, dass Erik seinen Satz ein weiteres Mal vervollständigte, aber nichts geschah. Er musste die Arbeit wohl selbst erledigen. „Ähm … Ich wär dann ja über die Weihnachtsfeiertage trotzdem zuhause. Wenigstens ein paar Stunden und … Ich hätte dich da echt gern dabei, aber ich weiß nich‘, ob meine Eltern … Ob ihnen das nich‘ zu schnell geht … Zu viel is‘, weißt du? Und wenn das so is‘, dann is‘ das doch auch kacke für alle Beteiligten.“

„Natürlich“, entgegnete Erik. „Ich fände es schön, wenn deine Eltern mir die Chance geben würden, mich nochmal ordentlich vorzustellen, aber ich vermute, dafür ist es einfach noch viel zu früh. Zumindest für deine Mutter und ich möchte mich wirklich nicht aufdrängen. Also sind die Weihnachtsfeiertage wohl die etwa ungünstigste Lösung.“

„Jaah… schon.“ Jonas biss sich auf die Lippe. Sein Plan wollte ihn einfach nicht loslassen, also zwang er sich, auch die anderen Schwächen laut auszusprechen. „Falls du trotzdem mitkommst, würde das auch bedeuten, dass du an Weihnachten allein in ‘nem Hotelzimmer in ‘ner fremden Gegend hockst. Was … vermutlich das Beschissenste is‘, was du tun kannst.“

„Mhm.“

Jonas konzentrierte sich auf den klebrig-süßen Geschmack der Zimtschnecke, in der Hoffnung, die Bitterkeit auf seiner Zunge zu vertreiben. Er wollte Erik bei sich haben. Besonders an Weihnachten, aber natürlich war das unvernünftig und dumm. Zwei Adjektive, die so gar nicht zu Erik passten.

„Wir könnten mit dem Auto fahren …“, überlegte dieser plötzlich laut, nachdem Jonas das Gespräch bereits für beendet gehalten hatte.

„Ähm, ja … könnten wir wohl. Aber warum sollten wir?“

„Weil ich dann, wenn du bei deinen Eltern bist, nach Stuttgart fahren könnte. Ist ein Stück hin, aber an einem Tag gut zu machen, wenn das Wetter halbwegs mitspielt.“

„Zu deiner Tante?“

Erik zuckte mit den Schultern. „Vielleicht. Alternativ schau ich mal im Tässchen vorbei. Hugo und Manni richten jedes Jahr eine kleine Feier für alle aus, die über die Festtage nicht wissen, wohin sie gehen können. Damit entspreche ich wohl ihrer Zielgruppe.“

Misstrauisch musterte Jonas seinen Freund. „Würdest du das echt machen? Es is‘ nämlich total okay, wenn du lieber hierbleibst. Ich dacht bloß … es könnt mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen. Und meinen Eltern die Chance geben, dich nochmal besser kennenzulernen. Wenn du das auch willst, natürlich! Wir hocken sonst in Berlin und sie in Bayern und da gibt’s nich‘ so viele Möglichkeiten. Aber ich will nich‘, dass das am Ende in noch mehr Stress für alle Beteiligten ausartet.“

Sanft lächelnd nahm Erik Jonas‘ Hand in seine. „Sei ehrlich. Selbst, wenn es in Stress ausartest, willst du alle dir wichtigen Menschen um dich haben. Und idealerweise verstehen sie sich untereinander auch noch prima. Ein hehres Ziel.“

„Ein erreichbares?“, fragte Jonas vorsichtig.

„Ich kann nur wiederholen, was ich deinem Vater schon gesagt habe. An mir soll es nicht scheitern.“ Erik stand auf, um seinen Teller in die Spülmaschine zu räumen. „Überleg dir, ob du das wirklich willst und wie wir es im Detail machen sollen. Dann frage ich, ob ich wenigstens ein paar Tage frei bekomme und wir versuchen, noch ein Hotelzimmer zu ergattern, das nicht völlig überteuert ist.“

Jonas umarmte seinen Freund von hinten, inhalierte den erdigen Duft, den er inzwischen mit Heimat verband. „Danke.“

„Nicht dafür.“

Kapitel 51

Was zuletzt geschah:

Nicht nur Marco empfängt unerwartete Gäste. Jonas hätte mit vielem gerechnet, aber sicher nicht mit einem spontanen Besuch seines Vaters in Berlin. Und noch weniger mit dessen Entschuldigung, die so aufrichtig klingt, dass sogar Erik die gereichte Hand schüttelt. In dieser neu gefundenen Harmonie ist das Fehlen von Jonas‘ Mutter jedoch allzu auffällig – und schmerzhaft. Vielleicht stellt ein gemeinsames Weihnachtsfest die beste Möglichkeit dar eingerissene Brücken neu aufzubauen. Vielleicht aber auch nicht.

 

Kapitel 51

Die Straßen waren glatt, das Schneegestöber mit jeder Minute dichter und zu allem Übel brach allmählich die Nacht herein. Erik hatte das Steuer schon vor einer Weile Jonas überlassen, der die Gegend bedeutend besser kannte und dennoch keine Sekunde unaufmerksam werden durfte, um den Wagen mitsamt Insassen sicher an seinen Zielort zu lenken. Beim Anblick des schneebedeckten Dachs des Apfelbäumchens atmete er erleichtert auf.

„Es ist nett von deinen Eltern, uns die Wohnung zu überlassen.“

„Wart ab, bis du sie gesehen hast. Hat schon seine Gründe, warum’s die einzige Ferienwohnung in der Gegend is‘, die noch unvermietet war.“ Mit der Erfahrung vieler vorangegangener Versuche parkte Jonas den Wagen in die ausgesprochen schmale Lücke, die als inoffizieller Personalparkplatz galt. Da das Personal im Apfelbäumchen aus Jonas‘ Eltern und deren Nachwuchs bestand, hatte Jonas sich seine Sporen beim Thema Einparken recht früh verdienen müssen (über die Entstehung des Kratzers im Kotflügel seines Vaters bewahrte er bis heute Stillschweigen).

Erik streckte sich in seinem Sitz, bevor er ausstieg. „Solange ich mich irgendwo hinlegen und schlafen kann, bin ich zufrieden.“

„Das sollte drin sein.“ Nach kurzer Suche fand Jonas die Schlüssel zur Hintertür in dem Plastikstein, den seine Eltern aus irgendeinem Grund für überzeugend hielten. Obwohl er wusste, dass das Apfelbäumchen wie üblich über die Weihnachtsferien geschlossen hatte, fühlte sich der Anblick der dunklen Fenster wie ein Omen an. Hastig schüttelte er den Gedanken ab und stieß die Tür auf. „So, hereinspaziert ins Warme!“ Ein eisiger Hauch umwehte ihn. „Äh, ins bald Warme … Hoffentlich haben wir Holz für den Ofen.“ Er nahm Erik an die Hand. „Willst du die Wirtschaft sehen, bevor ich dir die Wohnung zeig?“

„Sicher.“ Fügsam ließ sich Erik von Jonas durchs Erdgeschoss führen. Durch die Küche, den größeren Gastraum und den kleineren, der hauptsächlich für diverse Stammtische reserviert war. „Richtet ihr auch Feiern aus?“

„Manchmal. Beerdigungen und Geburtstage, hauptsächlich. Aber nich‘ so oft, jedenfalls nich‘, als ich noch hier gewohnt hab und das is ja nich‘ allzu lang her. In dem Kaff passiert ja nich‘ grad viel und Touristen bleiben selten lang genug, um ‘ne Hochzeit zu planen.“

„Es ist schön hier.“ Erik ließ die Hand über den Eichentisch gleiten, an dem Jonas oft nach der Schule gesessen und seine Hausaufgaben erledigt hatte. „Gemütlich. Wenn die Wohnung auch so aussieht, bin ich absolut zufrieden.“

„Najaaa … Als ‚gemütlich‘ geht sie vielleicht durch. Komm, wir gucken einfach mal.“ Die Treppenstufen zum ersten Stock knarzten und die Wohnungstür schwang nur unter missmutigem Quietschen der Scharniere auf. „TADAA!“

Jonas enthüllte den Blick auf eine Wohnung mit geräumiger Küche samt Sofaecke und separatem Schlafzimmer. Die Einrichtung war altmodisch, nein, eigentlich war sie einfach nur alt. Prilblumen, ein wuchtiger Gasherd und fadenscheinige Möbel dominierten das Bild. Selbstverständlich alles hübsch in Ocker und Oliv gehalten.

„Meine Eltern haben hier nach ihrer Hochzeit gewohnt“, erzählte er. „Ich wohl auch, aber da war ich noch so jung, dass ich mich nich‘ wirklich dran erinnern kann. Erst als Christine sich angekündigt hat, hat mein Opa eingesehen, dass es irgendwie scheiße is‘, wenn er und Oma das große Haus besetzen, während ‘ne bald vierköpfige Familie in ‘ner winzigen Wohnung hockt. Sie haben dann getauscht, aber ich glaub, so ganz hat er das nie verkraftet. War ja doch immer sein Haus und ständig lag er meinen Eltern in den Ohren, was sie alles dran machen müssen. Dass das Gras im Garten drei Millimeter zu hoch steht, die Heizungsanlage endlich gewartet werden muss und sowas. Gleichzeitig hat er in der Wohnung hier keinen Finger gerührt. Die wurde wahrscheinlich das letzte Mal in den Siebzigern renoviert. Als Opa dann vor ein paar Jahren gestorben is‘, is‘ Oma wieder zurück zu uns ins Haus gezogen und seitdem wird die Wohnung an Gäste vermietet. Läuft aber nich‘ besonders gut.“ Jonas streckte die Hand nach Erik aus. „Komm.“

Gemeinsam inspizierten sie jede Ecke. Die Fenster waren alt und undicht, es war eiskalt und die einzige Heizquelle stellte der Ofen neben der Sitzecke dar. Glücklicherweise hatten Jonas‘ Eltern daran gedacht einen ordentlichen Holzvorrat bereitzustellen.

„Mach schon mal ‘n Feuer“, wies Jonas Erik an. „Ich guck kurz, ob im Bad alles passt. Der Warmwasserboiler spinnt ganz gern mal.“

„Ah, Jonas …“

Dieser drehte sich auf halbem Weg zu seinem Freund um, bemerkte dessen überforderten Blick und versuchte verzweifelt, nicht zu lachen. „Wirklich? Du bedauerliches Stadtkind weißt nich‘, wie man ‘nen Ofen anheizt? Hast du überhaupt was gelernt, das–“ Er stockte. Ein Schatten war über Eriks Gesicht gefallen.

„Meine Eltern wollten mir sowas immer mal beibringen, aber davor sind sie … Sind sie …“

„Oh, fuck, Erik. Es tut mir so leid! Ich wusst nich‘ … Ich wollt nich …!“ Sich selbst für seine Taktlosigkeit verfluchend, schlang Jonas die Arme um Eriks bebenden Körper. Da hatte er ihn nur ein wenig aufziehen wollen und stattdessen alte Wunden aufgerissen. Sogar leises Schluchzen drang an sein Ohr, auch, wenn es eigenartig klang. Irgendwie falsch. Eher als … Moment. Lachte Erik etwa? Ja, er lachte eindeutig! Erbost schob Jonas ihn von sich. „Erik Kolb! Hast du grad echt deine toten Eltern benutzt, um mich zu verarschen?“

Dieser zeigte seine beste Unschuldsmiene. Jonas hätte sie ihm fast abgenommen, wäre da nicht dieses Kichern gewesen, das sich immer wieder Bahn brach. „Guck nicht so böse“, bat Erik schmunzelnd. „Ich wette, sie hätten das auch witzig gefunden.“ Er klopfte Jonas auf die Schulter. „Na los, zeig mir ahnungslosem Städter mal, wie man mit so einem Ofen umgeht.“

Bald darauf verbreitete ein zart flackerndes Feuer angenehme Wärme, das heiße Wasser funktionierte ebenfalls und Jonas‘ Eltern hatten nicht nur Handtücher sowie Bettzeug bereitgelegt, sondern sogar die Küchenschränke mit Vorräten bestückt.

„Deine Eltern haben sich wirklich Mühe gegeben.“

„Japp.“ Jonas wünschte sich, er wäre weniger überrascht über den netten Empfang. „Ich sollt wohl mal anrufen und ihnen Bescheid geben, dass wir heil angekommen sin‘.“ Während er sein Handy aus der Hosentasche kramte, verschwand Erik im Schlafzimmer, um ihre Koffer auszupacken. Das Handy am Ohr, tigerte Jonas durch die Küche. Es dauerte, bis jemand abhob.

„Bei Staginsky.“

„Hallo … Mama.“ Das war das erste Mal seit dem verhängnisvollen Besuch in Berlin, dass sie miteinander sprachen. „Ich bin’s.“

„Oh. Jonas.“

„Ich, ähm … Ich wollt nur sagen, dass wir angekommen sind.“

„Gut, gut. Brauchst du noch etwas?“

„Ähm, nee, is‘ alles gut.” Dass seine Mutter tat, als hätte keine monatelange Funkstille zwischen ihnen geherrscht irritierte Jonas, aber er war bereit, vorerst mitzuspielen. „Habt ihr super vorbereitet. Danke.“

Am anderen Ende der Leitung entstand Schweigen. Hätte Jonas nicht die regelmäßigen Atemzüge gehört, er wäre überzeugt gewesen, seine Mutter hätte aufgelegt.

„Ja, ähm, also dann …“

„Hast du schon gegessen?“

„Noch nich‘. Erik und ich wollten grad–“

„Willst du bei uns Essen? Christine ist auch schon da. Es wäre nett, die ganze Familie am Tisch zu haben.“

Jonas‘ Herz machte einen Satz. „Das wäre klasse! Ich durfte mir schon die halbe Fahrt über Eriks Gejammer anhören, wie hungrig er is‘ und wenn wir jetzt erst mit Kochen anfangen, dann–“

„Eigentlich dachte ich, dass nur du rüberkommst. Die Familie eben.“

„Oh. Verstehe.“ Die Lippen zusammengepresst, damit ihm kein falsches Wort entschlüpfte, warf Jonas einen Blick ins Schlafzimmer, in dem Erik noch immer damit beschäftigt war, ihre Sachen in den alten Holzschränken zu verstauen. Leise schloss er die Küchentür. „Wir sin‘ grad erst angekommen, ich werd Erik nich‘ schon jetzt alleinlassen. Er hat extra zwei Vorlesungen sausen lassen, damit wir einen Tag früher loskönnen.“

„Ein erwachsener Mann wird ja wohl in der Lage sein, sich ein paar Stunden alleine zu beschäftigen.“

„Japp. Ändert aber nix dran, dass ich ihn nich‘ hier in der Wohnung versauern lasse, bloß, weil du ihn nich‘ mit am Esstisch haben willst. So war das nich‘ abgemacht und ich denke, das hat Papa dir auch gesagt.“

Seine Mutter schwieg und als sie das nächste Mal sprach, klang ihre Stimme gepresst. „Er kann mitkommen.“

Jonas atmete tief durch. „Bist du sicher? Ich fänd’s nämlich echt schön, wenn ihr ihn wirklich kennenlernen wollt, aber … Wenn du das jetzt bloß sagst, damit ich zum Essen komm und ihn dann den ganzen Abend ignorierst, oder sonst irgendwie scheiße zu ihm bist“, er würgte den Protest seiner Mutter ab, indem er einfach fortfuhr, „dann warten wir lieber bis Weihnachten. Da bin ich gern bei euch. Auch allein, wenn ihr euch damit wohler fühlt. So, wie ich es mit Papa und Erik abgesprochen habe. Aber für den Rest der Zeit gehört Erik zu mir, das muss dir klar sein. Er hat’s nämlich nich‘ verdient, als ungeliebtes Beiwerk behandelt zu werden, das ihr notgedrungen akzeptiert. Wenn ihr uns also beide bei euch haben wollt, kommen wir gerne, andernfalls sehen wir uns an Weihnachten.“

Wieder Stille.

„Ich leg jetzt auf, Mama. Danke fürs Vorbereiten der Wohnung. Wir sehen uns–“

„Kommt vorbei. Beide. Um acht. Seid pünktlich.“

„Oh. Ähm, okay, ich frag m–“ Aber seine Mutter hatte schon aufgelegt. Unschlüssig, was er von ihrer Einladung halten sollte, öffnete Jonas die Küchentür. Die Stille aus dem Schlafzimmer sprach dafür, dass Erik bereits fertig ausgepackt und danach brav das Ende des Telefonats abgewartet hatte. Vorsichtig steckte Jonas den Kopf in den Raum. „Hi.“

„Hey.“

„Ähm, also … Meine Eltern haben uns bei sich zum Essen eingeladen.“

„Uns beide?“ Wenigstens war Erik genauso verblüfft wie Jonas.

„Jaah … Ich … Ich bin mir ehrlich gesagt nich‘ ganz sicher, was sie, genaugenommen meine Mum, damit bezwecken, aber … Naja, die Einladung steht.“ Eilig fügte er hinzu: „Aber wenn du lieber nich‘ hinwillst, kann ich das verstehen! Dann kochen wir hier und machen uns ‘nen schönen Abend zu zweit.“

„Willst du hin?“

„Ich ... weiß nich‘ …“, antwortete Jonas ehrlich. „Das Gespräch mit meiner Mum war irgendwie komisch … Aber … Christine ist auch da. Und Vroni und meine Oma. Und Papa, natürlich. Ich … Es wär irgendwie schräg, so nah bei ihnen zu sein und bis Weihnachten nich‘ mal ‚Hallo‘ zu sagen.“

„Dann gehen wir.“

„Aber ich kann dir nich‘ versprechen, dass sie sich dir gegenüber nich‘ beschissen aufführen“, warnte Jonas. „Das … könnt schon passieren. Ich mein, wenn’s passiert, dann hauen wir natürlich gleich wieder ab, aber …“

„Jonas, es ist in Ordnung“, versprach Erik. „Ich weiß, dass die Situation für euch schwierig ist. Für deine Eltern genauso wie für dich. Wir schaffen das schon.“ Er zeigte dieses unwiderstehliche Schuljungengrinsen. „Außerdem freue ich mich darauf, Christine wiederzusehen.“

 

Mit steifen Beinen und rasendem Herz kletterte Jonas aus dem Auto. Er blickte zu Erik, der trotz seiner Beteuerungen, sich auf den Abend zu freuen ebenfalls reichlich nervös wirkte. Hand in Hand durchquerten sie den Vorgarten, die Eingangstür war wie immer unverschlossen. Jonas atmete tief durch, drückte die Klinke nach unten und lauschte. In der Küche klapperte Geschirr, gedämpfte Stimmen drangen an seine gespitzten Ohren.

Das Knarzen der untersten Treppenstufe und ein beherztes „JONAS!“ waren seine einzige Warnung, bevor sechzig Kilo Schwester gegen seine Brust prallten und die Luft aus seinen Lungen pressten. „Da bist du ja endlich!“

„Ich kann’s selbst kaum glauben, aber ich find’s auch schön, dich zu sehen.“ Kurz bevor Jonas an Sauerstoffmangel einging, schob er Christine von sich. „Scheiße, bist du braun geworden.“

„Die gute australische Sonne.“ Grinsend wandte sich Christine Erik zu und auch er kam in den Genuss ihrer knochenbrechenden Umarmung. „Hallo, viel zu attraktiver Freund meines Bruders“, nuschelte sie gegen seine Schulter. „Bereit, dich in die Höhle der Löwen zu begeben?“

„So bereit, wie ich eben sein kann.“

„Ha! Mutig!“ Ihr Lächeln schwand. „Aber im Ernst, ihr solltet darauf vorbereitet sein, dass es ein wenig“, sie suchte nach dem richtigen Wort, „holprig wird. Die Stimmung zwischen Mama und Papa war schon nicht die beste, als ich gestern angekommen bin und ich kann nicht behaupten, dass sie seither gestiegen wäre. Erwartet also lieber keinen allzu herzlichen Empfang.“

Jonas seufzte, sagte aber nichts dazu. „Wo is‘ Vroni?“, erkundigte er sich stattdessen.

„Noch in ihrem Zimmer. Ihr seid ein bisschen früh dran und sie hat euch wohl nicht gehört. Der Rest ist in der Küche.“ Christine hakte sich bei Erik und Jonas unter. „Was sagt ihr? Bringen wir es gleich hinter uns?“

Jonas‘ Familie war zu beschäftigt, um die Neuankömmlinge sofort zu bemerken. Seine Oma saß auf ihrem Stuhl am Küchentisch und pellte Kartoffeln, während seine Eltern über das Salatdressing diskutierten. Über fünfundzwanzig Jahre Ehe, dazu eine erfolgreiche Gaststätte und sie hatten sich noch immer nicht darauf geeinigt, ob ein paar Tropfen Honig hineingehörten.

Nach einigen Sekunden räusperte sich Jonas. „Wir sin‘ … da.“

Er hatte befürchtet seine Stimme wäre zu kläglich ausgefallen, um Gehör zu finden, doch da breitete sich bereits ein Strahlen auf dem Gesicht seiner Oma aus. „Bua!“ Sie rutschte von ihrem Stuhl, humpelte auf ihn zu und zog ihn an sich. Für eine Frau ihres Alters hatte sie noch erschreckend viel Kraft in den Armen. „Mei, is‘ des schee, dass’d do bisd!“

„Ich freu mich auch, Oma.“ Jonas genoss die Umarmung, die Nähe, den Duft nach Kölnisch Wasser, der seine Großmutter umgab, solange er denken konnte. Noch einmal drückte er sie an sich, bevor er sich sanft löste und einen Schritt zurücktrat. Er legte eine Hand auf Eriks Schulter. „Darf ich dir Erik vorstellen?“ Sollte er genauer werden? Betonen, in welchem Verhältnis sie standen? Jonas zögerte, der Moment kam und ging.

Erik reichte Jonas‘ Großmutter die Hand. „Es freut mich sehr, Sie kennenzulernen, Frau Schwanberger.“ Himmel, der Mann hatte sich sogar den Mädchennamen seiner Schwiegermutter wider Willen gemerkt. Innerlich glühte Jonas vor Stolz und auch seine Oma schien beeindruckt.

„Mei, fesch ozong und höflich dazua. I soiad a noch Berlin ziang, wenn's do no soiche Mannsbuida gibt!“

„Ah …“ Etwas ratlos blickte Erik zu den beiden Geschwistern, die gar nicht erst versuchten, sich das Lachen zu verkneifen.

„Sie mag dich“, übersetzte Christine kichernd.

„Ah. Das … ist gut zu wissen.“

„Okay, genug fremdgeflirtet.“ Spielerisch knuffte Jonas Erik in die Seite. Erst jetzt bemerkte er, dass seine Eltern ihnen nicht länger den Rücken zuwandten. Noch vor wenigen Monaten wäre Jonas seiner Mutter um den Hals gefallen und hätte sie an sich gepresst, bis ihre Füße den Boden verließen und sie sich heimlich eine Träne aus dem Augenwinkel wischte, während sie lautstark gegen diese rüde Behandlung protestierte. Doch heute war nichts von der üblichen Wiedersehensfreude zu spüren. Im Gegenteil, seine Mutter schien fest entschlossen keine noch so kleine Regung über ihr Gesicht huschen zu lassen. Er schluckte den Kloß in seinem Hals herunter und verharrte reglos im Raum, nicht bereit, mehr zu geben, als er zurückbekam.

Am Ende war es sein Vater, der den ersten Schritt machte und ihn in eine herzliche Umarmung zog. „Schön, dass ihr hier seid.“

Dass dieses ‚ihr‘ Erik miteinschloss, war unerwartet rührend und schon kämpfte Jonas erneut mit Tränen. „Find ich auch“, schniefte er leise.

Gleich nachdem er von seinem Sohn abgelassen hatte, griff Jonas‘ Vater beherzt Eriks Hand und schüttelte sie. „Es freut mich, Sie wiederzusehen, Herr Kolb." Sein Lächeln mochte ein wenig erzwungen wirken, doch Jonas wusste die Geste zu schätzen, denn im Gegensatz dazu, kostete es seine Mutter sichtlich Überwindung, Erik die Hand zu reichen. Dieser nahm ihre Reaktion mit seinem gewohnt freundlichen Lächeln hin. „Guten Abend, Frau Staginsky. Vielen Dank für die Einladung.“ Als er keine Antwort erhielt, fügte er nach kurzem Zögern hinzu: „Mir ist bewusst, dass diese Situation schwierig für Sie ist und i–“

„Ich muss mich um das Abendessen kümmern.“ Abrupt wandte sich Jonas‘ Mutter ab, schob ziellos Töpfe über den Herd und polierte bereits trockenes Geschirr. Nicht ein einziges Wort hatte sie an ihren Sohn gerichtet, kein Lächeln, kein noch so dezenter Hinweis darauf, dass sie ihn überhaupt wahrgenommen hatte. Verloren stand Jonas an seinem Platz, ratlos, wie er vorgehen sollte. Auch seinem Vater schienen die Worte zu fehlen. Seine Oma runzelte lediglich die Stirn, schenkte ihrem Enkel ein hilfloses Lächeln und fuhr fort, die Kartoffeln für das Abendessen zu schälen, als suchte sie mit ihren Händen nach einer Ablenkung, die ihr Kopf nicht fand.

Jonas hatte schwarze Wolken über seine Familie gebracht und fürchtete, das Gewitter bereits riechen zu können. Blut rauschte in seinen Ohren, plötzlich war die Küche zu hell und seine Beine zu schwach, um ihn noch länger zu tragen. Zwei starke Arme legten um seine Schultern. Erik und Christine stützten ihn, gaben ihm genug Halt, noch ein paar Sekunden durchzuhalten.

„Lass uns zu mir hoch, bis das Essen fertig ist“, flüsterte Christine. Zu ihrem Vater sagte sie: „Wir führen Erik mal durchs Haus.“

Ihr Vater nickte nur, sah so unglücklich aus, wie Jonas sich fühlte. Seine Oma pellte weiterhin Kartoffeln, seine Mutter hatte allen anderen den Rücken gekehrt, doch sobald die Kinder die Küche verlassen hatten, setzte Stimmengewirr ein. Zu leise, um die Worte zu verstehen, aber dass der Ton alles andere als freundlich ausfiel, wurde dennoch deutlich.

„So geht das die ganze Zeit“, erzählte Christine, während sie Jonas und Erik nach oben führte. „Ich verstehe einfach nicht, was mit Mama los ist. Ehrlich, wenn dann hätte ich erwartet, dass Papa irgendwas zwischen verständnislos und unsensibel reagiert, aber Mama übertrifft gerade echt alles.“ Als sie das Gesicht ihres Bruders bemerkte, nahm sie ihn in die Arme. „Ach, du Depp du! Das ist nicht deine Schuld! Sprich mir nach: ‚Es ist nicht meine Schuld!‘“ Sie wartete einen Augenblick, Jonas gab jedoch keinen Ton von sich. „Ja, nee, ich lasse dich erst los, wenn du es gesagt hast. Noch mal ganz langsam für dich: ‚Es. Ist. Nicht. Meine. Schuld!‘ Na los, ich warte!“

„Nich‘ meine Schuld“, murmelte Jonas nach ein paar Sekunden.

„Erik?“ Christine neigte den Kopf. „Nimmst du ihm das ab?“

„Nicht wirklich.“

„Ich auch nicht. Also, noch mal: ‚Es ist nicht meine Schuld!‘“

„Es is‘ nich‘ meine Schuld“, wiederholte Jonas etwas lauter.

„Schiedsrichter?“

„Besser“, sagte Erik. „Nicht perfekt, aber besser. Ah, entdecke ich da sogar ein kleines Lächeln?“

Jonas rieb sich mit dem Ärmel über die Augen. „Ihr seid echt bescheuert.“

„Ja, ja, wir lieben dich auch.“ Christine öffnete die Luke zum Speicher. „Der Gast zuerst. Keine Angst, um die gigantische Spinne habe ich mich gestern Abend schon gekümmert. Nach Australien kann mich echt nichts mehr schocken.“

Unschlüssig blieb Jonas stehen. „Ähm, ich würd ganz gern kurz allein mit Vroni sprechen. Mal versuchen, ihr zu erklären, dass Erik und ich … nich‘ bloß Freunde sin‘. Bevor sie’s auf blöd aufschnappt und in den falschen Hals bekommt.“ Er sah zu Christine. „Oder denkst du, dass das ‘ne Scheißidee is‘?“

„Ich denke, dass das eine ziemlich gute Idee ist. Wetten, Vroni kann damit wesentlich besser umgehen als unsere werten Eltern? Wir warten solange oben.“ Christine schob Erik so resolut zur Leiter, dass er sich gerade noch an einer Sprosse festklammern und einen filmreifen Bauchklatscher verhindern konnte.

Trotz Christines zustimmender Worte zögerte Jonas. Still stand er vor der Tür seines ehemaligen Zimmers, das inzwischen zu dem seiner kleinen Schwester geworden war. Nach einer guten Minute fasste er sich endlich ein Herz und klopfte. Keine Antwort. Er lauschte, glaubte, das Klackern von Tasten zu hören, klopfte lauter.

„WAS IST?“

„Vroni, ich bin’s. Lässt du mich rein?“

Das Klackern stoppte, gleich darauf flog die Tür auf und Vroni in Jonas‘ Arme. Dieser hob seine Schwester lachend von den Füßen und trug sie zurück in ihr Zimmer. Mit der Hacke stieß er die Tür zu. „Was spielst du?“

Kaum hatte er Vroni abgesetzt, krabbelte sie zurück aufs Bett und schnappte sich den Controller. „Super Smäsch Bross!“

Natürlich hatte er diese Antwort erwartet, schließlich war er es gewesen, der ihr das Spiel mitsamt Konsole bei seinem Auszug vermacht hatte, aber Vronis begeistertes Gesicht zeigte, dass die Frage ein ganz guter Einstieg gewesen war. „Macht’s Spaß?“

Sie nickte, mehr darauf konzentriert, welche Spielfigur sie wählen sollte als darauf, ihrem Bruder zuzuhören. Ihre pinke Zungenspitze lugte zwischen ihren Lippen hervor.

„Lässt du mich nach dem Essen eine Runde mitspielen?“

„Aber nur, wenn du nicht so stark bist!“

„Also soll ich absichtlich verlieren?“ Jonas setzte eine strenge Miene auf.

„Neeeiiin! Nur mich gewinnen lassen!“

„Das … Okay. Mit dieser Logik kann ich nich‘ mithalten.“ Er setzte sich zu seiner Schwester aufs Bett. „Vroni, weißt du, dass heute noch jemand zum Essen da is‘? Jemand, den du bisher nich‘ kennengelernt hast?“

Sie schüttelte den Kopf, bereits völlig in ihr Spiel vertieft.

„Sein Name is‘ Erik und er is‘ ‘n richtig guter Freund von mir. ‘N richtig, richtig guter Freund. Ich … Ich hab ihn echt lieb.“ Jonas zögerte und seine Schwester ließ weiterhin auf eine Reaktion warten. „Erde am Vroni! Hörst du mir zu?“

„Ja, ja.“

„Okay, spiel die Runde mal zu Ende und dann mach kurz Pause, ja?“ Das gab auch ihm noch ein wenig Zeit, sich die passenden Worte zurechtzulegen. Als seine Schwester kurz darauf den letzten Gegner von der Ebene gekickt hatte, applaudierte er. Vielleicht musste er gar nicht absichtlich schlecht spielen, um gegen sie zu verlieren.

Wie abgemacht legte Vroni den Controller zur Seite und starrte ihrem großen Bruder mit erwartungsvoll geweiteten Augen entgegen. Aus alter Gewohnheit strich Jonas eine Strähne aus ihrer Stirn, doch offenbar war sie inzwischen zu erwachsen für solche Dinge, denn sie wischte sich protestierend übers Gesicht, zog eine Schnute und rückte ein Stück ab. „Bäääh!“

„Sorry.“ Das lief ja super. „Ähm, also … Ich wollt dir noch was erzählen. Dieser Freund, der heute bei uns is‘ …“

„Den du so lieb hast?“

„Ähm, ja … Genau der.“ Immerhin schienen seine Worte nicht völlig an ihr abgeprallt zu sein. „Weißt du … Ich mag ihn nich‘ nur als Freund-Freund. Nich‘ so, wie ich zum Beispiel Clemens mag, sondern … So, wie Christine Nick mag. Oder wie Papa Mama mag.“ Zu spät fiel Jonas ein, dass das keine besonders guten Beispiele gewesen waren. Nick und Christine hatten sich vor ihrer Abreise getrennt. Im Guten und mit der Absicht Freunde zu bleiben, aber Trennung war Trennung. Tja, und bei seinen Eltern hing der Haussegen derzeit gehörig schief. Verunsichert fragte er: „Verstehst du, was ich dir damit sagen will?“

„Küsst ihr euch?“ Da war pure Neugierde in Vronis Augen. „Nick und Christine haben sich immer geküsst, wenn Mama und Papa nicht da waren.“

„Ja, wir küssen uns“, antwortete Jonas ein wenig verlegen.

„IIHHH!“

„Findest du das wirklich so eklig?“ Er bemühte sich, neutral zu klingen, aber Vronis Reaktion hatte ihm einen schmerzhaften Stich versetzt.

„Küssen IST eklig! Voll so … So!“ Vroni ließ ihre Zunge wie die Rotorblätter eines Helikopters kreisen und bei den Schmatzgeräuschen, die sie dabei von sich gab, drehte sich sogar Jonas‘ Magen um.

„Okay, ja, manchmal isses wohl echt eklig“, gab er zu. „Aber manchmal is‘ Küssen auch sehr schön. Deshalb tun es so viele Paare.“ Er hielt einen Augenblick inne, überlegte. Dann ergänzte er: „Oft sind das Mann und Frau, aber manchmal auch Frau und Frau oder Mann und Mann.“

„Das weiß ich doch schon!“, trötete Vroni. „Das hat Frau Müller uns schon erzählt!“

Jonas brauchte einen Moment, um auf diese unerwartete Antwort zu reagieren. „Is‘ Frau Müller deine Lehrerin?“

Vroni nickte. „Und Franziska hat erzählt, dass sie zwei Mamas aber keinen Papa hat.“

Jonas hatte keine Ahnung, wer Franziska war, aber gerade dankte er ihr auf Knien dafür, dass sie ihr Familienleben vor seiner kleinen Schwester breittrat. Offenbar drehte sich die Welt sogar in ihrem kleinen Kaff schneller als er gedacht hatte. „Willst du Erik kennenlernen?“

„Weiß nicht …“

„Warum nich‘? Er is‘ wirklich lieb.“

„Vielleicht mag ich ihn aber nicht.“

Jonas neigte den Kopf, unsicher, was er von dieser Antwort halten sollte. „Warum nich‘?“

„Weil du ganz viel Zeit mit ihm verbringst und ganz wenig mit mir!“

„Für meine Lieblingsschwester hab ich immer Zeit!“

„Gar nicht wahr.“

„Glaubst du mir etwa nich‘?“

„Nö.“

Ohne Vorwarnung schnellte Jonas nach vorne, schnappte sich Vroni, die viel zu spät, dafür aber laut kreischend zu flüchten versuchte und kitzelte sie durch, bis sie japsend auf dem Bett lag. Gezähmt wie sie nun war, packte er sie, warf sie wie einen Kartoffelsack über seine Schulter und spazierte aus dem Raum.

„Lass mich runter!“ Alles an Vronis Ton sagte, dass das das Letzte war, was sie wollte.

„Nope. Du kommst jetzt mit.“ Vorsichtig erklomm Jonas die Stufen zum Speicher. „Paketlieferung!“

Erik und Christine hatten es sich auf den übergroßen Sitzsäcken bequem gemacht, ein Fotoalbum zwischen ihnen. Jonas deutete darauf. „Is‘ das …?“

„Ist es“, antwortete Christine. „Frisch aus Australien eingetroffen. Okay, fast frisch. Gestern. Mit mir. Und was hast du uns da schönes mitgebracht?“

„Das?“ Jonas zuckte mit der Schulter, über der eine inzwischen immer lauter protestierende Vroni hing. „Och, nur son kleines Monster, das ich unten gefunden hab.“

„Hey! Du bist das Monster!“

„Pff. Grad wollt ich dich runterlassen, aber jetzt muss ich mir das nochmal überlegen.“ Allerdings wurde Vroni inzwischen doch ziemlich schwer. Wie konnte ein Kind in ein paar Monaten so wachsen? Jonas ging in die Knie und ließ sie behutsam auf den Boden rutschen. Er deutete nach vorne. „Das is‘ Erik.“

Dieser zeigte sein warmherzigstes Lächeln. „Hallo, Vroni.“

Schüchtern und mit einem prüfenden Blick zu Jonas, schüttelte sie die hingehaltene Hand. „Hallo.“

„Soll ich dir was verraten?“ Erik wartete, bis Vroni nickte. „Ich weiß, dass eigentlich du die Künstlerin in der Familie bist. Dein Bild hängt bei uns am Kühlschrank und es ist besser als alles, was ich bisher von deinem Bruder gesehen habe.“

„Hey!“

Trotz Jonas‘ Protest – nun, vermutlich gerade deswegen – zeigte Eriks schamlose Schmeichelei Wirkung, Vroni taute ihm gegenüber merklich auf. „Ich hab noch mehr! Einen ganzen Block voll!“

„Den musst du mir später unbedingt zeigen.“

„Davor sollten wir allerdings essen“, unterbrach Christine. Sie hielt ihre Uhr hoch; es war fünf vor acht.

Mit mulmigem Gefühl machten sich die drei Erwachsenen auf den Weg ins Esszimmer. Lediglich Vroni hüpfte ausgelassen zwischen ihren Beinen herum, glücklich, ihre Familie wieder vereint zu sehen. Jonas musste zugeben, dass das Essen himmlisch duftete. Er konnte nicht genau ausmachen wonach, nur, dass es Zuhause war.

Im Gegensatz zum Rest, wirkte Erik deutlich entspannter als bei ihrer Ankunft. Er witzelte mit Christine, veranstaltete einen Grimassenwettbewerb mit Vroni und füßelte unter dem Tisch mit Jonas, der allerdings zu nervös war, um das wirklich zu genießen. Einmal trat er Erik sogar versehentlich gegens Schienbein und brachte das Spiel damit zu einem abrupten Ende. In der Küche klapperte Geschirr und jemand fluchte.

„Kann man euch helfen?“, rief Jonas über seine Schulter.

„Nein, bleibt sitzen!“, rief sein Vater hörbar genervt zurück. Kurz darauf kamen er, seine Frau und seine Schwiegermutter aus der Küche, beladen mit Schalen voll Kartoffelbrei, Rinderbraten und Gurkensalat, die sie auf dem Esstisch arrangierten.

„Sie essen kein Fleisch, oder?“, wandte sich Jonas‘ Vater an Erik. „Wir hatten leider nicht damit gerechnet, Sie heute schon mit am Tisch sitzen zu haben.“ Dabei warf er seiner Frau einen Blick zu, der einen eindeutigen Schuldspruch in sich trug. „Deshalb fallen die Alternativen etwas spärlich aus. Entschuldigung.“

„Das ist wirklich kein Problem. Ich halte mich gerne an Beilagen.“

„Nein, nein. Die Rahmpilze, die wir für Christine gemacht haben sollten für zwei reichen. Sofern Sie Pilze mögen?“

„Sehr gerne.“

Jonas wusste, dass das ein wenig übertrieben war. Erik aß Pilze, sie waren allerdings weit davon entfernt sein Leibgericht zu sein. Die Tatsache, dass sein Vater überhaupt daran gedacht hatte, dass Erik Vegetarier war und dieser vermutlich alles essen würde, um einen guten Eindruck zu hinterlassen, machte ihn jedoch glücklicher, als für so eine triviale Kleinigkeit angemessen schien.

„Froh, dass ich diesen Kampf vor dir ausgefochten habe?“, raunte Christine Erik zu, der ihr zur Antwort verschmitzt zuzwinkerte.

„‘s gibt dann a a Nachspeis.“ Bei diesen Worten von Jonas‘ Oma verwandelte sich Eriks höfliches Lächeln in ein vorfreudiges.

„Ich kann das nicht.“ Unvermittelt schob Jonas‘ Mutter ihren Stuhl zurück und flüchtete in die Küche. Betretenes Schweigen breitete sich im Esszimmer aus.

„Ich sollte wohl …“, murmelte Jonas‘ Vater wenig begeistert, doch Jonas schüttelte den Kopf.

„Lass mich mal versuchen.“ Er warf einen entschuldigenden Blick auf Erik, „bin gleich wieder da“, und folgte seiner Mutter. Sie stand mit dem Rücken zu ihm, die Hände auf die Küchenablage gestützt. Ihre Schultern bebten.

„Mama.“

Sie reagierte nicht, aber er war sich sicher, Schluchzer zu hören. Stumm reichte er ihr ein Taschentuch. Das kurze Zögern, bis sie es annahm, schmerzte. „Mama, sieh mich an. Bitte.“ Als sie ihren tränenverschleierten Blick auf ihn richtete, wünschte sich Jonas, nicht darum gebeten zu haben. Er biss die Zähne zusammen und atmete tief durch. Sie mussten miteinander sprechen, so konnte das einfach nicht weitergehen. „Ich weiß, dass das schwer für dich is‘.“

„So habe ich mir dein Leben nicht vorgestellt!“ Da war so viel Wut und Verzweiflung in ihrer Stimme, dass Jonas instinktiv einen Schritt zurücktrat. „Du solltest mal eine Familie haben! Kinder!“

Jonas wollte ihr sagen, dass das immer noch sein Leben war, nicht ihres. Dass sie nicht das Recht hatte, ihm vorzuschreiben, wie er es führte. Doch als er den Mund öffnete, kamen völlig andere Worte heraus. „Das will ich auch.“ Es war seltsam, diesen Traum laut auszusprechen, ganz besonders, weil er ihn sich damit zum ersten Mal vor sich selbst eingestand. „Genauso wie Erik. Und das is‘ der Punkt, Mama. Ich will eine Familie mit Erik. Nich‘ mit irgendeiner Frau, die ich nie auf die Weise lieben könnte, die sie verdient hat. Vielleicht bedeutet das, dass ich dann auf eigene Kinder verzichten muss, aber … Auch ohne Kinder, kann ich eine Familie haben. Ich hab Erik und Christine und Vroni und die Nichten und Neffen, die vielleicht mal kommen werden. Ich hab Oma. Maria und Clemens. Und ich hab Papa und dich. Ich find, das is‘ scheißviel Familie.“

„Das ist nicht die Art Familie, die ich für dich im Sinn hatte.“

„Wahrscheinlich nich‘, aber das macht sie nich‘ schlechter.“ Zurückhaltend legte Jonas eine Hand auf die Schulter seiner Mutter und atmete innerlich auf, als sie nicht zurückzuckte. „Mama, ich weiß, dass das ‘ne scheißschwierige Situation für dich is‘. Für mich auch. Und … Es is‘ bestimmt auch unfair von mir, zu erwarten, dass ihr euch so schnell an den Gedanken gewöhnt, wenn ich selbst Jahre dafür gebraucht hab, aber grad deshalb kann ich dir sagen, dass sich nix ändern wird, bloß weil man‘s leugnet oder dagegen ankämpft. Ich bin schwul. Ich hab‘s mir nich‘ ausgesucht, aber ich muss damit leben. Und inzwischen kann ich das auch richtig gut. Vielleicht kann ich was tun, um‘s dir auch einfacher zu machen?“

Seine Mutter öffnete den Mund, schloss ihn jedoch wieder, ohne einen Ton von sich gegeben zu haben. Ihre Kiefer mahlten. Schließlich sagte sie kühl: „Ich wüsste nicht was.“

Jonas seufzte. „Dann denk drüber nach. Ich geh solang wieder zurück zu den anderen. Hab euer Essen zu sehr vermisst, um‘s jetzt kaltwerden zu lassen.“ Er zögerte. „Aber ich fänd’s schöner, wenn du mitkommen würdest.“ Als seine Mutter keine Anstalten machte, ihn zu begleiten, wandte er sich ab und kehrte ins Esszimmer zurück. Grabesstille empfing ihn, wurde noch tiefer, als er resigniert den Kopf schüttelte. „Sorry.“ Es war Vronis verständnisloser Blick, der ihm endgültig das Herz brach.

„Lasst uns einfach anfangen“, entschied sein Vater. „‘n guten.“

Das Klappern des Geschirrs war über weite Strecken das einzige Geräusch an diesem Abend. Immer mal wieder versuchte jemand ein Gespräch in Gang zu bringen, doch meist erstarb es nach nur wenigen Sätzen. Wenigstens schien die gedrückte Stimmung keinen Einfluss auf den Appetit der Esser genommen zu haben. Am Ende standen nur noch klägliche Reste auf dem Tisch.

„Können wir Ihnen noch beim Abwasch helfen?“, bot Erik an.

„Ach, das ist nicht nötig.“ Jonas‘ Vater hob abwehrend die Hand, warf dann jedoch auf einen Blick auf seine Schwiegermutter, die sichtlich müde in ihrem Stuhl hing. „Andererseits …“

„Wir machen das schon, Papa“, sagte Jonas. „Ihr habt gekocht, wir kümmern uns um den Rest.“

Zu dritt räumten sie das Geschirr ab, stapelten Gläser, Teller und Besteck in der Spülmaschine und ließen Wasser für die Töpfe einlaufen. Vroni hatte sich heimlich in ihr Zimmer zurückgeschlichen, aber angesichts der vorangegangenen Ereignisse hätte ohnehin niemand darauf bestanden, dass sie noch länger bei den Erwachsenen blieb.

Automatisch nahm Jonas das Trockentuch in die Hand, während Erik die Ärmel hochkrempelte und sich vor die Spüle stellte. Das war die Aufteilung, die sich auch bei ihnen zuhause ergeben hatte.

„Was sind das für Narben?“ Jonas‘ Mutter stand im Türrahmen, den Blick auf Eriks Unterarme gerichtet.

„Ah, das–“

„–geht dich überhaupt nix an“, entschied Jonas knapp.

„Tut es nicht?“, fragte seine Mutter spitz. „Hast du nicht vorhin noch groß getönt, mir helfen zu wollen, zu akzeptieren, dass du …“ Sie schnaubte. „Und dann hast du Geheimnisse vor mir?“

„Bloß, weil ich versprochen hab, völlig offen zu dir zu sein, heißt das noch lange nich‘, dass Erik–“ Eine Hand an Jonas‘ Schulter ließ ihn verstummen.

„Ist in Ordnung.“ Erik erwiderte den Blick von Jonas‘ Mutter freundlich, aber mit einer gewissen Entschlossenheit. „Die Narben stammen von Rasierklingen, Nagelscheren, Büroklammern. Im Grunde allem, was mir damals zum richtigen Zeitpunkt zwischen die Finger kam.“

Das war ganz sicher nicht die Antwort, die Jonas‘ Mutter hatte hören wollen und sogar Christine vergaß, so zu tun als sei sie beschäftigt.

Als hätte er die Reaktionen nicht bemerkt, streckte Erik seine Unterarme aus und präsentierte sie für eine gründliche Inspektion. Zig Linien, die meisten fein und hell, manche zart gerötet, ein paar breit und wulstig, zogen sich über winterblasse Haut. Jonas kannte den Anblick und dennoch starrte auch er.

„Vielleicht sehen Sie, dass es sich um alte Narben handelt“, erklärte Erik mit einer Abgeklärtheit, für die Jonas ihn nur bewundern konnte. „Die Jüngste ist vor etwa neun Jahren entstanden.“

„Warum …?“ Christine biss sich auf die Lippen, offensichtlich beschämt über ihre eigene Taktlosigkeit.

Erik schenkte ihr ein verständnisvolles Lächeln, signalisierte, dass er Nachfragen nicht übelnahm. „Als ich fünfzehn war sind meine Eltern bei einem Autounfall ums Leben gekommen und ich … Sagen wir, ich habe nicht den besten Weg gewählt, um mit meiner Trauer umzugehen.“

„Drogen?“

Jonas wusste nicht, wann er das letzte Mal so wütend auf seine Mutter gewesen war. Er öffnete den Mund, um das Gespräch für beendet erklären, doch Erik kam ihm mit seiner Antwort zuvor.

„Unter anderem“, gab er zu. „Alkohol, vor allem. Glücklicherweise habe ich Hilfe bekommen, bevor ich ein ernstzunehmendes Suchtproblem entwickeln konnte. Die Selbstverletzung war problematischer, dank einer mehrjährigen Therapie habe ich aber auch das inzwischen im Griff.“

„Was ist mit Aids?“

„MAMA!“, protestierten Jonas und Christine unisono.

Erik schüttelte nur den Kopf. „Ich will nicht leugnen, dass Männer, die mit Männern schlafen noch immer eine Risikogruppe darstellen, aber–“

„Wir sin‘ beide gesund!“, unterbrach Jonas. Allmählich hatte er die Schnauze gehörig voll. „Haben uns am Anfang der Beziehung testen lassen. Und vor ein paar Wochen nochmal. Auf Eriks Wunsch. Weil er so viel scheißverantwortungsvoller is‘ als ich!“ Der Zorn, der lange vom Flehen nach Akzeptanz überdeckt worden war kehrte mit Wucht zurück. „Davor haben wir Gummis benutzt. Was ebenfalls Eriks Verdienst war. Nich‘ eurer. Scheiße, Mama, guck nich‘ so entsetzt! Habt ihr das Wort ‚Kondome‘ oder ‚Verhütung‘ mir gegenüber überhaupt mal in den Mund genommen? Nee, oder? Nich‘ mal als ihr dachtet, dass Maria und ich ‘n Ding sind. Ihr habt einfach drauf gehofft, dass die Schule euch dieses Thema abnimmt und ich sie schon nich‘ schwängern werd.“ Wütend pfefferte er das Spültuch auf den Küchentisch. „Dir war‘s scheißegal, wie ich’s treib! Erst jetzt, weil dir nich‘ passt, mit wem ich ficke, denkst du plötzlich über diese ganze Scheiße nach!“

Die Augen seiner Mutter weiteten sich, aber sie knickte nicht ein. „Bin jetzt etwa ich die Böse, weil ich mir Sorgen um meinen einzigen Sohn mache?“

Eine scharfe Antwort auf der Zunge, machte Jonas einen Schritt auf seine Mutter zu, doch vier Hände, zwei groß und kräftig, zwei klein aber kein bisschen schwächer hielten ihn zurück. Aufgebracht wirbelte er herum und starrte in zwei warnende Augenpaare.

Stumm formte Erik das Wort ‚Durchatmen‘.

Es dauerte, aber nach und nach ebbte Jonas‘ Wut ab, schaffte Raum für ein wenig Vernunft. Erik und Christine hatten recht, wenn er jetzt die Nerven verlor, machte er alles nur noch schlimmer als es ohnehin schon war. „Wir sollten gehen.“ Ohne das Adrenalin, das durch seine Adern jagte fühlte sich Jonas einfach nur erschöpft. Er rieb über seine juckenden Augen, bevor er sich zu seiner Mutter umdrehte. „Sorry, Mama. Lass uns wann anders noch mal darüber reden.“

Seine Mutter antwortete nicht.

„Vielleicht morgen?“

Schweigen.“

„Wir könnten uns revanchieren und für euch kochen.“ Hilflos blickte Jonas zu Erik. „Das … das wär doch okay, oder?“

„Natürlich. Ich würde mich freuen.“

Schweigen.

Dieses Mal konnte Jonas die Tränen in seinen Augen nicht wegblinzeln, kühl rollten sie über seine Wangen. „Mama, bitte!“

„Übermorgen“, entschied sie, ohne ihren Sohn anzusehen. „Und kein Abendessen. Kaffee reicht. Nur wir drei, bei euch in der Wohnung. Ich rufe an, bevor ich losfahre.“

Jonas wusste nicht mehr, was er fühlen sollte. Erleichterung? Hoffnung? Gerechtfertigte Wut, über die Art, wie seine Mutter ihn und Erik behandelte? Am Ende brachte er nur ein klägliches Nicken zustande und seine Mutter verschwand ohne ein weiteres Wort aus der Küche.

„Dann machen wir mal den Abwasch fertig“, murmelte er erschlagen, doch Christine nahm ihm das Trockentuch aus der Hand.

„Nope, das mache ich. Du gehst hoch zu Vroni und hältst dein Versprechen, ein paar Runden Smash Bros mit ihr zu spielen.“

„Aber …“

„Kein ‚Aber‘“, entschied sie resolut. „Geh. Versuch, dem Abend wenigstens irgendwas Positives abzugewinnen.“

Eriks Hand in Jonas‘ Kreuz schob ihn Richtung Tür. „Christine hat recht. Verbring ein bisschen Zeit mit deiner Schwester, sie sieht dich selten genug.“

„Und was is‘ mit dir?“

„Ich helfe Christine mit dem Abwasch und dann kommen wir hoch zu euch.“

„Aber ich kann dich doch nich‘ allein lassen!“, protestierte Jonas.

„Ich bin ja nicht allein“, erwiderte Erik ungerührt. „Jetzt geh. Hab Spaß. Und sag Vroni, sie soll schon mal den Block mit ihren ganzen Zeichnungen raussuchen. Ich will jede davon sehen.“

Widerwillig ließ sich Jonas aus der Tür bugsieren und schlich die Treppe nach oben. Zu seiner eigenen Überraschung hatte er bereits nach der zweiten Runde Super Smash Bros vergessen, was zuvor in der Küche abgelaufen war.

 

In der Sekunde, in der sie im Auto saßen, stießen sowohl Erik als auch Jonas ein tiefes Seufzen aus.

„Das hätte schlechter laufen können.“

Ungläubig musterte Jonas Erik. „Waren wir heut im selben Haus?“

„Das hoffe ich doch ganz stark.“

„Also hast du schon diese Frau mitbekommen, die dich wie ‘nen Aussätzigen behandelt hat, wenn sie nich‘ grad zu sehr damit beschäftigt war, so zu tun, als würden wir gar nich‘ erst existieren?“

„Ich sage ja nicht, dass es gut gelaufen ist“, verteidigte Erik seine Einschätzung. „Nur, dass es hätte schlimmer laufen können. Es gab zum Beispiel keine einzige Messerstecherei.“

„Scheiße, verlierst du eigentlich irgendwann auch mal die Geduld? Ich hab das Gefühl, seit ich mit dir zusammen bin versucht jeder dir ans Bein zu pissen und mal zu gucken, wie lang’s dauert, bis du ausflippst.“ Kraftlos barg Jonas das Gesicht in den Händen, zog die Knie an seine Brust, machte sich so klein wie er sich fühlte. „Was tu ich eigentlich hier? Das bringt doch alles nichts. Meine Mum wird nie … Wird nie …“ Ein Arm legte sich um seine Schultern.

„Ich denke, wir sind uns einig, dass der Abend heute ziemlich–“

„–beschissen, katastrophal, absolut abgefuckt–“, schlug Jonas vor.

„–unangenehm war. Vermutlich für alle Beteiligten.“

„Ich hätte uns den ganzen Scheiß einfach ersparen soll.“

„Aber“, Erik rückte noch näher an Jonas, spendete willkommene Wärme, „du hast zum ersten Mal seit Monaten mit deiner Mutter gesprochen. Und sie hat versprochen, sich übermorgen mit uns zu treffen. Mit uns beiden, nicht nur dir allein. Das sind kleine Schritte–“

„–winzige–“

„–von mir aus auch das. Aber es sind Schritte in die richtige Richtung.“

„Irgendwann werde ich den Kampf trotzdem aufgeben müssen.“

„Vielleicht, und wenn es so weit ist, ist das auch in Ordnung. Aber – und sag mir, falls ich mich täusche – noch ist dieser Zeitpunkt nicht gekommen, oder?“

Jonas antwortete nicht, hing nur in seinem Sitz, starrte aus dem Fenster und ließ die Autoschlüssel zwischen seinen Fingern klimpern.

„Soll ich fahren?“, bot Erik an.

„… Okay.“ Die Fahrt zum Apfelbäumchen nahm keine zehn Minuten in Anspruch, aber Jonas fürchtete, nicht einmal dafür genug Konzentration aufbringen zu können. Tatsächlich war er an diesem Abend zu nichts mehr fähig, außer, sich gründlich von Erik durchvögeln zu lassen und anschließend erschöpft in seinen Armen einzuschlafen.

 

 

Kapitel 52

Was zuletzt geschah:

Für Jonas beginnen die Weihnachtsferien alles andere als besinnlich. Die Ferienwohnung, die ihm seine Eltern zur Verfügung stellen ist genauso kalt wie der Empfang, den ihm seine Mutter zu teil werden lässt und auch, wenn sich der Rest der Familie redlich Mühe gibt, Jonas und Erik gebührend willkommen zu heißen, ist die Anspannung deutlich spürbar. Wird eine Tasse Kaffee helfen Brücken zu bauen, oder ist am Ende alles so trostlos wie zuvor?

 

Kapitel 52

Das Frühstück verlief beinahe so schweigsam wie das Abendessen am Tag zuvor. Gedankenverloren starrte Jonas auf sein Frühstücksei, unfähig die Erinnerung an das Gesicht seiner Mutter abzuschütteln. Diese grässliche Enttäuschung in ihren Augen, als hätte er ihr durch seine bloße Existenz das Leben versaut. Sein Handy vibrierte und sorgte so für kurzfristige Ablenkung. „Maria fragt, ob wir uns heute mit ihr treffen wollen.“

„Wir beide?“, hakte Erik nach.

„Klar. Wer sonst?“

„Ich dachte nur, dass ihr euch seit Monaten nicht mehr gesehen habt. Maria will dich doch sicher wenigstens ein paar Stunden für sich allein.“

Jonas schluckte seinen Protest herunter. Erik lag nicht völlig falsch, schließlich hatte Maria bereits eingestanden, dass ihre anfängliche Abneigung ihm gegenüber wenigstens teilweise auf Eifersucht gründete. Das würde kaum besser, wenn Jonas Erik zu jedem ihrer Treffen mitschleppte. Trotzdem … „Ich kann dich doch nich‘ hier alleinlassen.“

„Warum nicht? Dank dir weiß ich ja jetzt, wie ich den Ofen warmhalte und da warten auch noch ein paar Bücher auf mich, die seit Wochen gelesen werden wollen.“

„Bist du s–“

„Ja, Jonas, ich bin sicher.“ Aufmuntert lächelte Erik ihm zu. „Wir haben noch fast zwei Wochen, um auch mal etwas zu dritt zu unternehmen. Da könnt ihr ruhig einen Tag alleine miteinander verbringen.“

Noch immer nicht völlig überzeugt, aber auch nicht in der Lage ein Gegenargument zu finden, nahm Jonas sein Handy, um Maria zu antworten.

 

Schneeflocken bedeckten Baumwipfel wie Konfetti und Jonas‘ Atem verband sich mit Marias zu einer weißen Wolke, während der gefrorene Boden unter ihren Stiefeln knirschte.

Er hob seine Kamera und blickte durch den Filter ihres Suchers. „Manchmal denke ich, dass das hier der einzige Fleck auf der Welt is‘, der sich nie verändern wird.“

Warte mal noch ein bisschen“, erwiderte Maria gewohnt nüchtern, „in zehn Jahren führt hier wahrscheinlich eine Autobahn durch.“

„Jetzt lass mich das doch genießen!“ Jonas‘ Objektiv fing Felder, Wälder und das rote Ziegeldach des Hauses, in dem Marias Eltern lebten ein. Weit entfernt rauschte Verkehr über die einzige Straße, die zum Dorf führte.

„Euer Urlaub läuft bisher nicht so, wie du es dir vorgestellt hast, oder?“

Jonas war klar gewesen, dass er Maria nichts vormachen konnte, er hatte allerdings nicht damit gerechnet, schon so schnell durchschaut zu werden. „Nich‘ wirklich“, räumte er ein, leugnen war ohnehin zwecklos. „Oder sagen wir, er läuft nich‘ so, wie ich’s gehofft hatte. Meine Mum …“ Etwas in seiner Kamera knackte und er zwang sich, seinen Griff um sie zu lockern. „Es is‘ schwer für sie. Das weiß ich. Und ich versuch wirklich, Verständnis dafür aufzubringen. Aber fuck, es tut echt scheißweh so abgelehnt zu werden. Ich hab so lang gebraucht, um zu kapieren, dass ich nix dafür kann, dass ich auf Männer steh. Und nochmal länger, um zu checken, dass es nich‘ nur nich‘ meine Schuld is‘, sondern, dass auch nix dran falsch is‘. Aber, wenn ich mir anseh, was grad in meiner Familie abgeht, dann … dann komm ich ins Zweifeln, verstehst du?“

Maria antwortete nicht sofort, doch ihre in behandschuhten Finger tasteten nach Jonas‘ freier Hand. „Vielleicht solltest du dich mal damit auseinandersetzen, ob es nicht besser ist, den Kontakt eine Weile ruhen zu lassen.“

„Das hatten wir doch die letzten Monate schon. Hat nich‘ grad geholfen.“

„Es soll auch nicht deiner Mutter helfen, sondern dir.“ Marias Ton war kühl. „Ich kann sehen, wie sehr dich die ganze Situation quält und ganz ehrlich, immer nur zu versuchen, es deiner Mutter rechtzumachen, kann kaum der richtige Weg sein.“

„Sagst ausgerechnet du.“ Jonas hatte nicht geplant, so vorwurfsvoll zu klingen, aber jetzt war es zu spät. Unter dem Frust über seine derzeitige Situation war die Wunde, dass Maria ihren Eltern nachgegeben und ein Studium in München begonnen hatte, anstatt ihn nach Berlin zu begleiten wieder aufgeplatzt. Nicht einmal eine Entschuldigung wollte über seine Lippen kommen.

Maria schien es ihm nicht übel zu nehmen, erwiderte nur ruhig: „Ja, sage ausgerechnet ich. Eben, weil ich mich die letzten neunzehn Jahre damit gequält habe, es meinen Eltern rechtzumachen. Glücklich hat mich das nicht gemacht.“ Ihr Griff um Jonas‘ Hand verstärkte sich. „Ich bin ständig müde und mit den dümmsten Kleinigkeiten überfordert. Jedes bisschen Verwaltungskram ist eine Hürde. Auf meinem Schreibtisch liegen zwei Bücher, die ich seit Wochen in die Bibliothek zurückbringen müsste. Ich weiß, dass demnächst Mahngebühren anfallen, aber … Ich kann mich einfach nicht aufraffen.“

„Maria, das–“

„–ist ein Problem. Weiß ich. Deshalb muss sich etwas ändern.“ Sie blieb stehen und blickte zurück zu dem Dorf, in dem sie aufgewachsen war. „Ich wollte dir das eigentlich erst später erzählen, so als Weihnachtsgeschenk, aber dann tu ich’s eben jetzt. Zum nächsten Wintersemester wechsle ich nach Berlin.“

„Was?“

Maria schmunzelte; offenbar war Jonas‘ Reaktion ausgefallen wie erhofft. „Ich werde jetzt nicht sagen, dass Berlin eine wunderschöne Stadt ist. Eigentlich fand ich sie sogar ziemlich scheußlich. Aber du bist da und an Erik werde ich mich wohl auch gewöhnen. Und nachdem ich mich ohnehin für einen Fachwechsel entschieden habe, kann ich auch gleich einen kompletten Neuanfang star–hmpf!“ Der letzte Teil ihres Satzes verpuffte in der Kälte, weil Jonas‘ Umarmung ihr die Luft aus den Lungen presste. Lachend stemmte sie sich gegen ihn. „Ist ja gut, du Riesenwelpe! Aus! Platz! Geh in dein Körbchen!“

„Wuff!“

Arm in Arm schlenderten über den verschneiten Feldweg.

„Wo hast du eigentlich Erik gelassen?“

„In der Wohnung. Er wollte sich nicht immer zwischen uns drängen.“

„Das ist nett von ihm.“ Maria zögerte einen Moment. „Aber zwischen euch ist alles gut, oder?“

„Ich glaub schon. Ich mein, die letzten Monate waren echt ätzend und vor einer Weile gab es eine Phase da … Da war ich mir nich‘ sicher, ob wir’s schaffen. Aber wir haben viel drüber gequatscht und das hat echt geholfen. Ich hab immer noch Angst, dass er irgendwann die Schnauze voll hat von dem ganzen Drama mit mir“, ein schmales Lächeln schlich sich auf Jonas‘ Lippen, „bis jetzt sieht’s aber nich‘ danach aus.“

„Er hat auf mich jedenfalls nicht wie jemand gewirkt, der schnell aufgibt“, stimmte Maria zu. „Dabei habe ich mir in Berlin am Anfang echt Mühe gegeben, einen Keil zwischen euch zu treiben.“ Sie verzog das Gesicht. „Nochmal sorry dafür. War kacke.“

„Is‘ ja nix passiert. Wenn überhaupt, hast du uns näher zusammengebracht.“

„Gut.“ Marias Lächeln verschwand so schnell wie es gekommen war. „Aber ich kann mir schon vorstellen, dass die Sache mit deiner Mutter für euch beide ziemlich belastend ist.“

Zur Antwort seufzte Jonas. „Ganz ehrlich? Erik gibt sich so scheißviel Mühe. Is‘ immer für mich da, hört mir zu. Is‘ supernett und geduldig mit meinen Eltern. Du hättest mal hören sollen, wie meine Mum gestern mit ihm geredet hat. Als wär er ‘n selbstmordgefährdeter Junkie, der alles fickt, was bei drei nich‘ aufm Baum is‘ und ‘n Sammelsurium an Krankheiten mit sich rumschleppt, das jedes Labor für biologische Kampfstoffe vor Neid erblassen lässt. Aber er hat keine Miene verzogen und einfach bloß jede Frage ehrlich beantwortet. Und er sagt mir dabei immer, dass es okay is‘, dass er schon damit klarkommt, so durchleuchtet zu werden, aber …“

„Du glaubst ihm nicht.“

„Nich‘ wirklich.“

„Würde ich auch nicht“, gab Maria zu.

Jonas knabberte an seiner Unterlippe. „Vielleicht hat er mich deshalb auch allein losgeschickt. Damit er mal ‘n bisschen Zeit für sich hat und Abstand bekommt.“

„Möglich. Muss aber nichts Schlechts sein, oder? So könnt ihr beide getrennt voneinander Kraft tanken und dann wieder eine gute gemeinsame Zeit verbringen.“

„Hoffen wir’s.“ Jonas war froh, jemanden zu haben, mit der er über seine Probleme sprechen konnte, aber er weigerte sich, den kompletten Tag damit zu verplempern. „Hey, gibt’s den alten Jagdstand noch? Von da oben konnte man tolle Fotos schießen!“ Wenigstens ein paar Stunden wollte er sich mit etwas anderem als seinem verkorksten Familienleben beschäftigen.

 

„Ich bin wieder d–“ Jonas biss sich auf die Zunge.

Die langen Beine zu einer anatomisch unmöglichen Position zusammengefaltet, hatte sich Erik auf dem Sofa zusammengerollt und wandelte tief im Reich der Träume. Sein Buch, das er seit Wochen zu beenden versuchte lag vergessen neben ihm auf dem Fußboden, das Feuer im Ofen war schon lange verglüht.

Erst jetzt, als Schlaf Eriks Züge entspannte, realisierte Jonas die Veränderung. All die kleinen Falten, die er zunehmend für normal gehalten hatte waren geglättet und Eriks Lippen einen Spalt geöffnet, anstatt zu erzwungenem Schweigen zusammengepresst.

Aus Sorge, die quietschende Ofentür könnte ihn wecken, verzichtete Jonas darauf, das Feuer neu zu entfachen. Stattdessen holte er zwei Wolldecken aus der Truheneckbank, von denen er eine über Erik breitete und die andere um sich selbst wickelte, bevor er auf den Sessel neben dem Sofa sank. Die Decke roch ein wenig modrig, doch sie war warm und gemütlich.

Jonas hatte sämtliche neu geschossene Fotos auf seinen Laptop übertragen und war gerade damit beschäftigt, den Einfluss des Sonnenstands auf die Stimmung der Bilder zu studieren, als sich Erik zum ersten Mal regte.

Verwirrung verzerrte seine Züge, als er die Decke ertastete, bis er 1+1 zusammenzählte und zu Jonas blickte. „Wie lange sitzt du da schon?“ Seine Stimme war nicht mehr als ein heiseres Flüstern.

„Eine Stunde oder so.“

„Du hättest mich wecken können.“

„Oder ich hätte dich etwas Schlaf nachholen lassen können. Du bist nich‘ der Einzige hier, der sich auch mal ‘n bisschen allein beschäftigen kann.“

Noch alles andere als wach, blinzelte Erik in den schummrigen Raum. Sich aufzusetzen schien ihn an die Grenzen von Kraft und Konzentrationsvermögen zu bringen. „Wie geht’s Maria?“

„Gut.“ Jonas kletterte von seinem Sessel auf Eriks Schoß, um ihm jede Chance auf Flucht zu nehmen. „Und wie geht’s dir?“

„Abgesehen davon, dass du schwer bist und ich noch drei weitere Stunden schlafen könnte?“

„Japp, abgesehen davon.“

„Ah, es war ganz nett, mal einen halben Tag für mich zu haben.“

„Das is‘ alles?“

„Was willst du denn noch von mir hören?“

„Die Wahrheit.“ Zärtlich fuhr Jonas durch Eriks Haar, lehnte die Stirn an seine Schulter. „Ich weiß, dass ich dir in letzter Zeit echt scheißviel zugemutet hab. Ich war alles zwischen abweisend, anhänglich, überdreht und scheißunglücklich und irgendwie hast du’s geschafft, uns beide halbwegs heil durch dieses Chaos durchzumanövrieren. Du gibst dir so viel Mühe, es allen recht zu machen. Meinen Freunden, meiner Familie … Und ich weiß, dass das anstrengend für dich is‘. Du musst nich‘ so tun, als ob‘s das nich‘ wär. Also … Es is‘ toll, dass du das für mich durchziehst und ich bin dir so unendlich dankbar dafür, aber … sei wenigstens ehrlich mit mir, wenn ich dich frag, wie’s dir geht.“

„Es ist in Ordnung“, versicherte Erik wieder.

„Komm schon. Die Wahrheit. Einmal. Danach darfst du wieder dazu übergehen, so zu tun, als ob alles prima wäre.“

Erik wich Jonas‘ Blicken aus und die Finger, die bis eben locker auf seinen Hüften geruht hatten bohrten sich tiefer. „Es ist anstrengender als ich erwartet hatte“, gab er schließlich zu. „Immer Ruhe zu bewahren, weil ich ständig auf dem Prüfstand stehe ist eine Sache; dabei zusehen zu müssen wie du dich abstrampelst, um irgendwelche Erwartungen zu erfüllen nochmal eine ganz andere. Das ist das Schwierigste von allem.“ Er zeigte ein wenig überzeugendes Lächeln. „Aber ich schätze, wenn es hilft, die Beziehung mit deinen Eltern zu kitten, dann ist es das wert.“

„Nee. Nee, eigentlich isses das nich‘ wert.“ Eriks und Marias Worte hallten in Jonas Kopf. Er traf eine Entscheidung. „Pass auf: Wir sagen den Kaffee mit meiner Mum morgen ab und machen uns stattdessen ‘nen schönen Tag. Bloß wir beide, niemand sonst. Scheiß doch drauf, was meine Eltern davon halten. Das is‘ unser Leben!“

Erik antwortete nicht sofort, auf seinem Gesicht spiegelte sich ein stummer Kampf. Er wirkte nicht glücklich mit dem Sieger, beugte sich aber. „Gegenvorschlag. Wir ziehen den Kaffee mit deiner Mutter durch, sind höflich und freundlich und versuchen, ihr ihre Ängste zu nehmen. Dasselbe machst du über Weihnachten nochmal, während ich mal sehe, was in Stuttgart so los ist. Und wenn die Feiertage gelaufen sind und du dein Versprechen deiner Familie gegenüber gehalten hast, dann gönnen wir uns so viele gemeinsame Tage wie wir wollen.“

Jonas zögerte. Es wäre so viel einfacher, seiner Mutter den Rücken zu kehren und einfach wegzulaufen. Nicht mehr in ihr versteinertes Gesicht blicken zu müssen, auf der Suche nach einer Spur der Liebe, die früher darin war. Nicht noch einmal dem betretenen Schweigen am Esstisch lauschen zu müssen, oder dem Murmeln, das sich erhob, sobald er den Raum verließ. Nur würde das nichts ändern und auch, wenn Jonas das zeitweise verdrängen konnte, vergessen würde er es nicht. „Okay, Deal“, murmelte er schließlich. „Wir spielen noch ‘n paar Tage mit und hoffen entgegen aller Hoffnung, dass das bei meiner Mum irgend‘nen Schalter umlegt, den sie bisher nich‘ gefunden hat. Aber davor muss ich dringend was für dich tun!“ Er hakte einen Finger in Eriks Hemdkragen, lupfte den Stoff nach oben und pustete. Erst über die linke Schulter, dann über die rechte.

Erik erschauderte unter dem Atem, der über seine nackte Haut strich. „Was tust du da?“

„Dir die Last von den Schultern fegen.“

„Bitte was?“

„Naja, ich mein, vermutlich sollt ich dir die Last einfach abnehmen, aber ganz ehrlich, ich will sie ja auch nich‘. Also muss sie weg.“ Wieder pustete Jonas, während Erik kichernd versuchte, dem kühlen Luftstrom zu entkommen. „Na-ah! Erst, wenn alles weg is‘!“

„Es ist weg!“, rief Erik. „Völlig weg!“

„Sicher?“ Stirnrunzelnd knöpfte Jonas Eriks Hemd auf. „Lass mich mal sehen. Nee, da is‘ noch was.“ Die Welt wurde schwarz. „Hey!“

Vergeblich kämpfte Jonas gegen den Kapuzenpullover, der ihm ohne Vorwarnung über den Kopf geschoben worden war. Zu allem Übel kitzelten nun auch noch Finger seine entblößten Seiten durch. „Aufhören!“ In der Hoffnung, seinem Peiniger zu entkommen, glitt er vom Sofa und landete prompt unsanft auf seinem Hintern. Das reichte jedoch nicht, um Erik abzuschütteln. Wie der Schuft, der er war, nutzte dieser Jonas‘ momentane Hilflosigkeit, um ihn gänzlich niederzuringen. Irgendwo auf halben Weg verschwand dabei Jonas‘ Pulli gänzlich von seinem Körper.

Plötzlich fand er sich flach auf dem Bauch wieder, Eriks Gewicht auf seinem Rücken, seine Handgelenke in Schraubstöcken. „Hab ich dich“, gurrte Erik in sein Ohr.

„Fuck!“ Jonas kämpfte gegen die Umklammerung, wollte sich herausschlängeln, aber er war nahezu bewegungsunfähig. Einzig mit dem Hintern konnte er wackeln. Hm. Vielleicht war es Zeit für einen Taktikwechsel. „Oh, bitte Gnade!“, flehte er. „Ich tu alles was du willst. Wirklich. Absolut. Alles.“ Jonas‘ Hintern rieb über Eriks Schritt und binnen Sekunden wusste er, dass sein Plan aufging. Der Griff um seine Handgelenke lockerte sich, die Aufmerksamkeit seines Kontrahenten war definitiv zu anderen Regionen gewandert.

Mit einer fließenden Bewegung befreite Jonas seinen rechten Arm, stieß sich vom Boden ab und nutzte den Schwung für eine wenig elegante, aber effektive Rolle, mit der er Erik auf den Rücken und sich selbst über ihn katapultierte. „Ha!“ Bevor Erik etwas tun oder erwidern konnte, küsste Jonas ihn. Hart. „Gewonnen!“

“Ich ergebe mich“, schnaufte Erik. „Hätte ich ein weißes Taschentuch, ich würde damit schwenken.“

Zur Antwort küsste Jonas ihn erneut, doch dieses Mal strich er nur zart über Eriks Lippen. „Ich liebe dich.“ Jonas‘ Fingerspitzen spielten mit Eriks langen Strähnen. „Dafür, dass du immer für mich da bist. Mir Halt gibst. Geduldig bist. Aber ganz besonders liebe ich dich dafür, dass du Du bist.“ Er wusste selbst, dass seine Worte entsetzlich kitschig klangen, doch sie zeigten Wirkung. Erik drückte das Gesicht in Jonas Halsbeuge, darum bemüht, jede Lücke zwischen ihren Körpern zu schließen.

Lange lagen sie in dieser Umarmung, genossen die Nähe des anderen, hauchten zarte Küsse auf Stirn, Wangen, Lippen und jede andere Stelle, die sie erreichten, ohne sich voneinander lösen zu müssen. Mit der Zeit wurden ihre Küsse intensiver, Lust schlich sich in die ursprünglich zärtlichen Gesten und Hände wanderten an Orte, die sie in der Öffentlichkeit lieber nicht berühren sollten.

Neugierig musterte Jonas Erik. „Schon mal vor ‘nem prasselnden Kaminfeuer gefickt?“

„Dieses Jahr noch nicht. Au! Nicht zwicken!“

Mit strengem Blick rappelte sich Jonas auf, um das Feuer in Schwung zu bringen – und bei dieser Gelegenheit auch gleich Gleitmittel und Kondome bereitzulegen. Von dem Moment, in dem die Flammen aufloderten, bis zu ihrem glühenden Höhepunkt trennten sich ihre Körper nicht mehr, gab es keine Sekunde, in der Jonas Erik nicht küsste, streichelte, ihm mit Berührungen zeigte, wofür Worte nicht reichten. Für einen viel zu kurzen Augenblick waren sie eins.

„Ich liebe dich“, raunte Erik, die Beine noch immer um Jonas‘ Hüften geschlungen. Winzige Schweißperlen standen auf seiner Stirn. „Und ich bin froh, dass wir hier sind, auch, wenn du mir das vermutlich nicht glaubst.“

Jonas küsste ihn ein letztes Mal, dann rollte sich zur Seite und streifte das Kondom ab. „Mal gucken, ob du das morgen immer noch sagst, wenn meine Mum da war.“

 

Die altersschwachen Dielen knarzten unter Jonas‘ nervösen Füßen. Ofenfeuer wärmte den Raum, der Küchentisch war gedeckt und nach einem spontanen Besuch im Dorfladen hatten Erik und er es sogar geschafft, ein Blech Weihnachtsplätzchen zu produzieren, die sie zum Kaffee reichen konnten. Jetzt musste nur noch seine Mutter auftauchen.

„Entspannt dich. Alles wird gut.“ So bedingungslos sich Erik Jonas am Abend zuvor hingegeben hatte, so stark waren seine Schultern in diesem Moment und Jonas war dankbar, sich daran anlehnen zu dürfen. Leider währte die Ruhe nur kurz.

Die alte Türglocke der Wohnung jagte ihn ins Erdgeschoss, da es seine Eltern nie für nötig befunden hatten einen Türöffner zu installieren. Seine Hand bereits nach der Klinke ausgestreckt, atmete Jonas noch einmal tief durch, bevor er sich seiner Mutter stellte. „Schön, dass du es geschafft hast.“ Er trat zur Seite, um sie ins Innere zu lassen. „Hattest du eine gute Fahrt?“

Sie musterte ihn kritisch. „Sind ja nur ein paar Minuten.“

„Jaah … ich dachte nur …“ Jonas verstummte, es hatte ja doch keinen Zweck, auf den Austausch höflichen Geplänkels zu bestehen. „Komm, der Kaffee ist gleich fertig.“

War die Wohnung zu warm? Hatte er es mit dem Feuer übertrieben? Oder brach ihm aus ganz anderen Gründen der Schweiß aus? Rasch wechselte Jonas einen Blick mit Erik, der aufgestanden war, sich mit einer Begrüßung jedoch zurückhielt, bis Jonas‘ Mutter seine Anwesenheit anerkannte.

„Herr Kolb“, sagte sie kühl, ohne irgendwelche Anstalten zu machen, ihm die Hand zu reichen.

„Guten Tag, Frau Staginsky. Vielen Dank, dass sie heute gekommen sind.“

Oh, das Lächeln, das Erik da zeigte mochte oberflächlich als höflich durchgehen, aber Jonas wusste es besser. Eine Schweißperle rollte zwischen seinen Schulterblättern hindurch und Gänsehaut breitete sich auf seinem Körper aus. „Setz dich doch, Mama“, bot er an, bevor die Stimmung zwischen ihr und Erik endgültig kippte.

Als alle platzgenommen und Jonas den Kaffee ausgeschenkt hatte, blickte seine Mutter erst ihn und dann Erik an. „Nur um das gleich klarzustellen, das hier ist kein Höflichkeitsbesuch. Ich bin nicht hier, weil ich einen netten Plausch führen will, oder weil ich gutheiße, dass ...“

Sie sprach nicht weiter und Jonas‘ Herz sank ein Stockwerk tiefer. Bis eben hatte er ihren Besuch als Friedensangebot gedeutet. „Warum bist du dann hier?“

„Ich bin eine Fremde in meinem eigenen Haus!“, zischte sie. „Meine älteste Tochter weigert sich, mit mir zu sprechen, meine eigene Mutter sieht mich an, als wäre ich die Enttäuschung ihres Lebens und mein Mann nimmt mir gegenüber das Wort Scheidung in den Mund!“

Stumm wiederholten Jonas‘ Lippen den letzten Satz. Was hatte er getan? Natürlich hatten seine Eltern gelegentlich gestritten, aber in den zwanzig Jahren, die er bei ihnen gelebt hatte, hatte er kein einziges Mal daran gezweifelt, dass sie eine glückliche Ehe führten. Eine starke Ehe. Und jetzt hatte er …

„Das tut mir sehr leid für Sie, Frau Staginsky“, drängte sich Eriks Stimme in Jonas‘ Bewusstsein, „aber das ist nicht die Schuld ihres Sohns.“

„Ist es nicht?“

„Nein.“ Erik klang so überzeugt, dass Jonas ihm einen Augenblick lang glaubte.

„Alles war gut, bevor …“ Sie gestikulierte in Eriks Richtung.

„Es war nich‘ gut, Mama“, flüsterte Jonas rau. „Nich‘ für mich.“

„Du warst immer ein fröhliches Kind!“

„Kind vielleicht. Später … nich‘ mehr so. Mama, ich …“ Jonas spielte mit seiner Kaffeetasse, beobachtete die Wirbel aus Milch, die die Oberfläche marmorierten. „Denk doch bloß mal ans letzte Jahr und sag mir, ob ich glücklich auf dich gewirkt hab?“

Eigentlich hatte er erwartet, dass seine Mutter seinen Hinweis sofort abschmettern würde, doch zu seiner Überraschung schüttelte sie den Kopf. „Nein, das hast du nicht. Ich wusste, dass etwas nicht mit dir stimmt. Diese Stadt–“

„–hatte nichts damit zu tun“, erwiderte Jonas. „Nich‘ wirklich. Eher damit, dass ich plötzlich irgendwie zwei völlig verschiedene Leben geführt und in keins davon reingepasst hab. Ich wollt euch nich‘ anlügen, aber … ich hatte Angst. Und jetzt is‘ genau das passiert, wovor ich mich gefürchtet hab.“

Schweigen trat ein, das erst nach langen Sekunden von Jonas‘ Mutter gebrochen wurde. „Ich verstehe nur nicht …“ Sie verstummte wieder.

„Was verstehst du nich‘?“, hakte Jonas nach. „Vielleicht kann ich’s dir erklären.“

„Warum?“

„Warum was?“

„Warum kannst du nicht einfach …“

„Normal sein?“ Jonas schnaubte. „Warum bist du hetero? Anstatt Papa hättest du dir doch auch einfach ‘ne heiße Braut suchen können. Wer weiß, vielleicht müsstest du dich dann jetzt nich‘ mit mir rumärgern.“

„Jonas!“

„Was? Isses nich‘ das, was du zurzeit denkst? Lieber gar keinen Sohn, als einen der schwul is‘?“

„Nein, das ist nicht … Ich liebe dich. Du bist mein Kind. Aber das alles hier …“ Hilflos gestikulierte seine Mutter zur Decke. „Das ist nicht gottgewollt.“

„Ich glaub, wir haben sehr unterschiedliche Vorstellungen davon, was Gott will.“ Das war die beste Antwort, die Jonas seiner Mutter geben konnte. Nächtelang hatte er sich gequält mit dem Glauben, der ihm von frühester Kindheit an eingeimpft worden war. Hatte damit gehadert, bis davon kaum mehr übrigblieb als das diffuse Gefühl, dass da mehr zwischen Himmel und Erde sein musste. Und selbst daran zweifelte er inzwischen.

Seine Mutter schien zu spüren, dass sie auf diesem Weg nicht weiterkam. „Warum jetzt? Du sagst, es hätte nichts mit deinem Umzug zu tun, aber all die Jahre davor hast du kein Wort darüber verloren.“

„Weil ich lang gebraucht hab, den Mut zu finden, es euch zu sagen. Und lang, es vor mir selbst einzugestehen.“

„Und wie soll das jetzt weitergehen? Wie stellst du dir deine Zukunft vor?“ War da Angst in ihrer Stimme?

„So, wie ich sie mir auch vorgestellt hätte, wenn ich auf Frauen stehen würde“, antwortete Jonas schlicht. „Guck mal, letztlich is‘ meine sexuelle Orientierung doch nur ein kleiner Teil meines Lebens und meiner Persönlichkeit. Klar, sie unterscheidet mich von anderen und ich werd mich mit Dingen auseinandersetzen müssen, die für viele Heteros total selbstverständlich sin‘, aber … Ich bin doch kein Ausgestoßener oder sowas. Hab zugegebenermaßen selbst ‘ne Weile gebraucht, um das zu kapieren.“

Resigniert schüttelte seine Mutter den Kopf. „Was ist mit Familie? Kindern?“

„Ach, Mama, das hatten wir doch neulich schon. Ich hab ‘ne Familie. Und Kinder …“ Jonas zuckte mit den Schultern. „Selbst, wenn ich auf Frauen stehen würd, könnt ich mich in eine verlieben, die keine will. Oder keine bekommen kann. Wer weiß, vielleicht schieß ich ja selbst mit Platzpatronen.“ Ein Schnauben neben ihm lenkte Jonas‘ Aufmerksamkeit auf Erik, der rasch die Hand vor den Mund schlug. „Lachst du grad über meine hypothetischen Nichtschwimmer?“

„Würde ich nie.“ Tat er doch.

„Was ist mit Ihnen?“ Der Blick, mit dem Jonas‘ Mutter Erik bedachte wischte jeden Ansatz eines Lächelns fort. „Wollen Sie keine Kinder?“

„Doch“, erwiderte Erik knapp.

„Wie stellen Sie sich das konkret vor?“

Ein Schatten huschte über Eriks Gesicht und die schmale Falte zwischen seinen Brauen erschien. „Ich denke, jeder Mensch muss im Laufe seines Lebens damit umgehen lernen, dass manche Wünsche unerfüllt bleiben.“

Mit dieser Antwort hatte Jonas‘ Mutter offenbar nicht gerechnet. Verdutzt verfiel sie erneut in Schweigen, allerdings ohne ihren Blick von Erik zu nehmen.

„Ähm“, setzte Jonas an, als er die Stille nicht länger ertrug. Er hatte keine Ahnung, was er sagen sollte und wurde glücklicherweise von seiner Mutter unterbrochen, bevor er sich mit unzusammenhängendem Gestammel zum Deppen machte.

„Wie alt waren Sie, als Ihre Eltern verstorben sind?“

Jonas runzelte die Stirn. Warum fragte seine Mutter das?

„Fünfzehn.“ Wieder eine knappe Antwort. Ein ziemlich sicheres Zeichen dafür, dass Erik ein Thema nicht vertiefen wollte.

„Standen Sie sich nahe?“

„Sehr.“ Nach einem langen Atemzug fügte Erik hinzu: „Es vergeht kein Tag, an dem sie mir nicht fehlen.“

„Denken Sie nicht manchmal, dass das ein Auslöser gewesen sein könnte? Vielleicht fürchten Sie sich deshalb, eine eigene Familie zu gründen.“

Jonas vermutete, dass sich das Unverständnis auf Eriks Gesicht auch in seinem eigenen zeigte. Er hatte keine Ahnung, worauf seine Mutter da hinauswollte. Außer …

„Ah. Fragen Sie mich gerade, ob mich der frühe Tod meiner Eltern schwul gemacht hat?“ Erik ließ Jonas‘ Mutter keine Zeit für eine Antwort, aber da zupfte tatsächlich ein Lächeln an seinen Mundwinkeln. Ob es ein gutes oder schlechtes war, konnte Jonas nicht sagen. „Ich kann Ihnen versichern, dass das nicht der Fall ist. Meine Homosexualität ist mir schon ein paar Jahre zuvor bewusstgeworden. Übrigens haben mich meine Eltern immer unterstützt.“

„Ein paar Jahre zuvor? Obwohl Ihre Eltern so früh verstorben sind?“

„Mhm. Sie haben mir von Geburt an klar gemacht, dass es völlig egal ist, welches Geschlecht man liebt, aber ich denke, ich war dreizehn, als das Thema zum ersten Mal konkret auf mich bezogen aufkam.“

„So früh kann das doch niemand wissen! Was, wenn das alles nur eine Phase ist?“

Erik zuckte mit den Schultern. „Dann wäre das eben so gewesen. Allerdings vermute ich, dass ich mit Ende zwanzig allmählich ausschließen darf, dass es sich um eine Phase handelt. So oder so hat es meine Eltern nicht gekümmert, solange ich nur glücklich war.“ Seine langen Finger verknoteten sich. „Sie zu verlieren war unbeschreiblich schmerzhaft, aber die Vorstellung, wegen etwas von ihnen verstoßen zu werden, auf das ich keinen Einfluss habe … Ich will nicht das eine mit dem anderen vergleichen, aber ich bin froh, dass mir wenigstens das erspart geblieben ist.“

Jonas wollte eingreifen, Erik sollte sich nicht gezwungen fühlen, über so persönliche Erfahrungen zu sprechen, doch nach einem Blick auf seine Mutter schlossen sich seine Hände fest um die Kaffeetasse. Die Hitze, die sich in seine Haut brannte fühlte er nicht.

Zum ersten Mal seit seinem Comingout lag etwas Weiches in den Zügen seiner Mutter und Verständnis flackerte in ihren Augen. Vielleicht war ihr die Veränderung ebenfalls aufgefallen, denn sie stand genauso abrupt auf, wie bei ihrem letzten gemeinsamen Abendessen. „Vielen Dank für den Kaffee, aber ich sollte wieder los.“

„Oh … Okay.“ Vor den Kopf gestoßen, brauchte Jonas ein paar Sekunden, um sich ebenfalls zu erheben. Erik folgte seinem Beispiel, blieb jedoch neben dem Esstisch stehen, während Jonas seine Mutter zur Tür begleitete. „Dann … komm gut heim.“

„Es sind immer noch nur fünf Minuten Fahrt.“

„Trotzdem.“ Unschlüssig sahen sich die beiden an, bis sich Jonas ein Herz fasste und seine Mutter in die Umarmung zog, nach der er sich seit Monaten sehnte. „Ich hab dich lieb, Mama.“ Sie versuchte nicht, sich aus der Umarmung zu lösen, tat jedoch auch nichts, um diese zu erwidern. Nachdem er das akzeptiert hatte, trat Jonas einen Schritt zurück.

Seine Mutter nickte ihm ein letztes Mal zu. „Wir sehen uns morgen.“

„… bis morgen.“ Jonas schaffte es, sich zusammenzureißen, bis er ihr Auto starten hörte, dann rannen die ersten Tränen über seine Wangen. Schluchzend lehnte er sich erst gegen das spröde Holz der Wohnungstür und bald darauf gegen Erik, der schützend die Arme um ihn legte.

„Scheiße, sagst du jetzt gleich wieder, dass es schlimmer hätte laufen können?“

„Ah, naja, es hätte schlimmer laufen können, oder nicht?“

„Dann sagst du mir sicher auch noch, dass sie einfach mehr Zeit braucht.“

„Vielleicht ist das so.“

Ein humorloses Lachen stieg in Jonas‘ ausgetrocknetem Hals auf. „Toll! Wie lang? Noch ein paar Monate? Jahre? Wann darf ich endlich die verfickte Scheißhoffnung aufgeben?“ Er schob Erik von sich, nur um die rüde Geste im selben Moment zu bereuen. „Sorry, ich … Sorry.“

Betreten starrte Erik auf seine Hände. „Nein, mir tut es leid. Ich baue viel zu viel Druck auf dich auf, weil ich mir wünsche, dass ihr noch eine Lösung findet.“

„Ja, ich mir auch.“

„Und wahrscheinlich bin ich zu optimistisch, aber ich habe das Gefühl, dass sich deine Mutter auf ihre Weise auch bemüht. Sie hat sich Zeit genommen, Fragen gestellt, dir zugehört. Wenigstens ein bisschen. Das ist mehr Entgegenkommen, als sie bisher gezeigt hat.“

„Jetzt grad wär’s mir lieber, sie hätt’s nich‘ getan. Dann … Dann könnt ich sie wenigstens …“ Jonas stockte, holte pfeifend Luft. „Es tät so gut, richtig sauer auf sie sein zu können, weißt du? Aber dann fällt mir ein, was sie alles für mich getan hat. Was für ‘ne tolle Mum sie bisher war. Und dann fehlt sie mir, und … und ich …“ Der Rest seines Satzes ging in Schluchzen unter, aber Jonas war sich ohnehin nicht sicher, was er hatte sagen wollen. Wütend wischte er sich über die Augen. Er hatte diese Heulerei so satt! „Heiligabend und der erste Weihnachtsfeiertag. Die zwei Tage geb ich ihnen noch. Wenn’s dann nich‘ besser is‘, dann … dann will ich einfach bloß zurück nach Berlin.“

„In Ordnung.“ Was sonst hätte Erik schon sagen können? „Ich liebe dich.“

„Ich dich auch.“ Dummerweise war Erik gerade nicht der Mensch, von dem Jonas diesen Satz am meisten hören wollte.

 

Kapitel 53

Was zuletzt geschah:

Bekanntlich stirbt die Hoffnung zuletzt, aber irgendwann muss sie halt trotzdem den Löffel abgeben. Jonas fürchtet, dass dieser Zeitpunkt gekommen ist. So sehr er sich auch bemüht, die Haltung seiner Mutter bleibt unverändert und der Preis, den er, Erik und der Rest der Familie dafür zahlen wiegt jeden Tag schwerer. Am Ende muss er sich die Frage stellen, ob es das wirklich wert ist.

 

Kapitel 53

Besorgt blickte Jonas aus dem Fenster. Schneetreiben hüllte die Welt in Watte, so dicht, dass selbst die gegenüberliegenden Häuser nicht länger zu erkennen waren. „Du schreibst mir, wenn du da bist, ja?“

„Natürlich“, beruhigte ihn Erik. „Mach dir nicht so viele Gedanken. Ich fahre vorsichtig und melde mich bei dir, sobald ich in Stuttgart angekommen bin.“

„Okay … Und du kommst heute Abend zurück?“

„Aber ja. Ich verbringe ein paar Stunden bei meiner Tante, schau mal im Tässchen vorbei und dann mache ich mich auch schon wieder auf den Rückweg. Bestimmt bin ich noch vor dir wieder hier.“ Mit einem sanften Lächeln schloss Erik Jonas in die Arme. „Lass den Kopf nicht so hängen. Es sind doch nur ein paar Stunden und noch dazu eine gute Gelegenheit, Zeit mit deiner Familie zu verbringen, ohne, dass ich dabei im Weg bin.“

„Ich würd lieber Zeit mit dir verbringen“, murrte Jonas. Mit jeder Minute, die der Abschied näher rückte schrumpfte sein Interesse daran, Heiligabend bei seinen Eltern zu hocken.

„Das wirst du auch. Nur heute nicht.“

„Okay, okay!“ Jonas schob Erik von sich. „Ich benehme mich jetzt wie ‘n Erwachsener, geb dir ‘nen Abschiedskuss und harre der Dinge, die da kommen.“ Und genau das tat er dann auch.

 

Jonas hätte die Hupe seines alten Autos unter Hunderten herausgehört. Normalerweise liebte er ihr klägliches Quietschen, das wie der letzte Hilferuf vor dem endgültigen Zusammenbruch klang, doch jetzt gerade riss sie ihn aus dem Dämmerschlaf, in den er vor seiner Nervosität geflüchtet war. Widerwillig strampelte er sich die Decke von den Beinen, schlüpfte in seine Jacke und sprintete zum wartenden Wagen. Christine hatte es sich hinter dem Steuer gemütlich gemacht und klopfte im Takt irgendeines Songs, den er noch nie gehört hatte gegen das Lenkrad. „Du hättest dir ruhig die Mühe machen können zu klingeln“, meckerte er sie an.

„Sorry, Brüderchen.“

„Faules Stück.“

„Gib schon zu, dass du mich einfach überreden wolltest, noch ein Weilchen hier zu bleiben, anstatt gleich zu Mama und Papa zu fahren.“

„Und?“ Jonas spreizte die Finger in einer Geste absoluten Unverständnisses. „Wäre das so verwerflich gewesen?“

Christine lachte. „Nope, aber wenn ich mich darauf eingelassen hätte, wären wir wahrscheinlich gar nicht mehr gefahren.“ Ihr Lächeln flackerte. „Ich wollte dich noch fragen …“ Sie schien zu überlegen, wie sie ihre Gedanken formulieren sollte. „Seien wir mal ehrlich, das letzte Essen lief nicht besonders gut.“

„Jaah“, sagte Jonas langsam. „So könnte man’s wohl ausdrücken.“

„Ich will nur, dass du weißt, dass ich auf deiner Seite stehe. Immer. Und wahrscheinlich hätte ich letztes Mal etwas sagen sollen, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, du willst nicht, dass ich mich zu sehr einmische. Deshalb wollte ich nur mal fragen, wie ich mich verhalten soll, sollte das Thema aufkommen.“

Jonas senkte den Blick. „Ich will nich‘, dass ihr wegen mir streitet.“

„Das tun wir nicht!“, erwiderte Christine bestimmt, nur um gleich darauf einzulenken. „Also, natürlich irgendwie schon, aber es ist nicht deine Schuld. Warte … Ich glaube, das habe ich dir neulich schon gesagt.“

„Dann sag‘s auch mal Mama.“ Schon wieder stachen Tränen in Jonas‘ Augenwinkeln, die er energisch wegblinzelte.

„Hat sie dir Vorwürfe gemacht?“

Jonas zögerte. Er wollte nicht lügen, aber auch keinen unnötigen Staub aufwirbeln. „Nich‘ direkt. Sie is‘ einfach unglücklich mit der Situation. Genau wie ich, weil ich keine Ahnung hab, ob wir ‘ne Lösung finden, mit der am Ende alle leben können.“

„Gut. Und was heißt das jetzt für mich?“, hakte Christine nach.

„Dass ich glaub, es is‘ besser, wenn du nich‘ auch noch auf Mama einquatscht.“

„Hm. Okay.“ Christine klang nicht glücklich.

Jonas zwang sich ein Lächeln aufs Gesicht. „Es reicht mir, wenn ich weiß, dass du im Stillen zu mir stehst. Den Rest kann ich alleine regeln.“

„Dann vertrau ich dir da mal. Aber lass mich wissen, wenn sich was ändert, ja?“

„Versprochen.“

Nach einem letzten prüfenden Blick zu Jonas startete Christine den Motor.

 

Zur Überraschung aller Beteiligten verlief das Abendessen erstaunlich harmonisch. Jonas‘ Mutter zeigte sich locker und gesprächig. Zwar umschiffte sie sorgfältig sämtliche Themen, die auch nur ansatzweise zu Berlin, Erik oder Beziehungen im Allgemeinen führen könnten brachte jedoch trotzdem eine Menge Lachen und Ausgelassenheit in die Runde. Beinahe fühlte sich Jonas wie in alten Zeiten. Vielleicht war die dritte Flasche Wein, die noch vor dem Nachtisch geöffnet wurde daran nicht ganz unschuldig.

„Willst du wirklich kein Glas, Spatz?“, fragte seine Mutter.

„Nee, ich muss doch noch heimfahren.“

„Bleib doch über Nacht. Dann kann Christine dich morgen fahren und du sparst dir den ganzen Stress, das Auto wieder zurückzubringen.“

„Mama …“ Jonas‘ Piercing klickte gegen seine Zähne, als er auf seine Lippe biss. „Erik kommt in ein paar Stunden zurück. Wir hatten abgemacht–“

„Schon gut“, unterbrach ihn seine Mutter unwirsch. „Dann eben nicht.“

Vroni rettete die Situation, indem sie beide an der Hand fasste und ins Wohnzimmer zerrte. „Das Christkind war da!“

„Ach ja?“ Da hatte Jonas‘ Vater allerdings ausgesprochen gutes Timing bewiesen. „Dann schnell, ich will sehen, was es dir gebracht hat!“

Traditionsgemäß ließ sich der Teil der Familie, der die Grundschule abgeschlossen hatte auf dem Sofa nieder, während Vroni unter den festlich geschmückten Baum kroch, stolz vorlas, was auf den kleinen Geschenkekärtchen stand und die bunten Pakete zu ihrem rechtmäßigen Besitzer schleppte. „Das da ist für dich, Mama.“

Nervös beobachtete Jonas seine Mutter beim Abreißen des Papiers. Zunächst kam die handgeschöpfte Seife zum Vorschein, ein Klassiker, den er ihr seit Jahren organisierte, doch gleich darauf fiel ihr Blick auf das Buch, das er dazugelegt hatte.

Berlins Geschichte in Bildern. Fotos, Zeichnungen, Kupferstiche; von der ersten Siedlung bis zur Moderne. Ebenfalls darin enthalten: Ein nicht gerade kurzes Kapitel über die LGBTQ-Szene der Stadt.

Jonas war sich bewusst, dass es ein gewisses Risiko darstellte seinen Eltern das Buch zu schenken und er war tagelang um die Auslage des Antiquariats herumgeschlichen, aber am Ende hatte er sich ein Herz gefasst und zugegriffen. Umso gespannter wartete er auf die Reaktion.

„Das ist nett, Spatz.“ Seine Mutter legte das Buch zur Seite, ohne wenigstens durchgeblättert zu haben. „Jetzt mach deins auf.“

Jonas lächelte grimmig, als er nach und nach das unförmige Geschenk enthüllte, das seine Eltern für ihn eingepackt hatten. Während er darum bemüht gewesen war ihnen einen Aspekt seines neuen Lebens zukommen zu lassen, hatten sie augenscheinlich entschieden, ihm ein Stück Heimat mitzugeben. Ein Fresskorb, vollgepackt mit typisch bayerischen Delikatessen. Dazu ein Kochbuch.

Jonas stutzte und sah sich das Buch genauer an. Das blauweiße Karomuster hatte ihn annehmen lassen, es handle sich um bayerische Küche und er lag mit dieser Einschätzung nicht völlig falsch, aber eben auch nicht völlig richtig. Tatsächlich drehte sich das Buch um vegetarische Variationen ihrer Klassiker.

Sein Vater zwinkerte ihm zu. „Ich dachte, damit mache ich vielleicht gleich zwei Leuten eine Freude.“

„Danke.“ Jonas‘ Blick huschte zu seiner Mutter, aber es war unmöglich zu sagen, was sie davon hielt und wie viel Anteil sie am Kauf gehabt hatte.

Der Abend zog vorüber, Vroni erstickte jedes aufflammende Gespräch erfolgreich mit ihrer neuen Blockflöte (wie zum Teufel hatten ihre Eltern das für ein gutes Geschenk halten können?) und Jonas nutzte einen unbeobachteten Moment, um sein Handy aus der Hosentasche zu ziehen. Freudig öffnete er Eriks auf dem Display blinkende Nachricht, doch gleich darauf verschwand das Lächeln von seinem Gesicht.

 

Erik, 20:28 Uhr

Hey :)

Wie läuft es bei dir?

Das Essen bei meiner Tante war überraschend nett. Sie haben nach dir gefragt und ich soll dir schöne Grüße ausrichten :)

Ich ziehe mal weiter ins Tässchen, bleibe aber sicher nicht besonders lange.

 

Erik, 21:42 Uhr

Marco und Drago sind auch da und ich soll dir schon wieder Grüße ausrichten ;)

Sie haben angeboten, dass ich bei ihnen übernachten könnte und ich überlege, das Angebot anzunehmen. Es ist doch recht spät und das Wetter keinen Deut besser geworden. Ehrlich gesagt würde ich lieber bei Tageslicht fahren. Dann könnte ich Sophia auch gleich mitnehmen und in München bei Dimi absetzen.

Wäre das okay für dich?

 

„Schlechte Nachrichten?“, flüsterte Christine zwischen zwei schiefen Tönen aus Vronis Flöte.

„Nee, nee.“ Reflexartig verbarg Jonas das Display. „Ich, ähm, ich bin gleich wieder da. Will bloß kurz Erik anrufen.“ In seine Jacke gewickelt positionierte er sich so auf der Veranda, dass man ihn vom Wohnzimmer aus nicht sehen konnte, bevor er Eriks Nummer wählte. Das Freizeichen erklang, doch niemand hob ab. Erst als die Mailbox ansprang legte Jonas auf und tippte stattdessen mit vor Kälte zitternden Fingern eine Nachricht.

 

Du, 22:01 Uhr

klar is das ok

 

Du, 22:01 Uhr

wir sehen uns morgen!

 

Christine fing ihn ab, als er zurück ins Wohnzimmer schleichen wollte. „Ist wirklich alles gut?“

„Jaah, ja, is‘ alles gut. Erik kommt bloß doch erst morgen zurück.“

„Und warum guckst du dann so traurig, wenn doch alles gut ist?“

Jonas fragte sich, ob er einfach nur ein grauenhafter Lügner war, oder dazu neigte, sich mit ausgesprochen sozialkompetenten Menschen zu umgeben. „Es is‘ nur …“

„Jaah?“, fragte seine Schwester langgezogen. „Ich höre?“

„Ich … Ich erreich ihn nich‘ und … Ich glaub nich‘, dass es bloß am schlechten Wetter liegt, dass er noch länger bleibt.“

Christine musterte ihn durchdringend. „Was meinst du? Woran soll es denn sonst liegen?“

„Ich weiß nich‘ …“ Jonas rieb über seinen Nacken, unsicher, ob er seine Sorgen laut aussprechen und sie damit real machen wollte.

„Jetzt spuck‘s schon aus!“

Wieder zögerte Jonas. Dann seufzte er und gab auf, seine Zweifel für sich behalten zu wollen. Das würde sie ja doch nicht vertreiben. „Die letzten Monate waren echt hart für Erik“, versuchte er zu erklären. „Ich war … schwierig. Hab mich erst total an ihn geklammert – echt jetzt, manchmal konnte er nich‘ mal mehr aufs Klo, ohne dass ich ihn genervt hab – nur, um ihn im nächsten Moment ziemlich bösartig wegzustoßen. Teilweise hab ich ihm sogar die Schuld dafür gegeben, dass es zwischen Mama, Papa und mir so gekracht hat. Hab’s nie laut ausgesprochen, aber ich glaub, dass er’s trotzdem gespürt hat. Und jetzt hier zu sein … Du hast doch selbst gesehen, wie Mama mit ihm umgeht. Papa versucht wenigstens nett zu sein, aber man merkt trotzdem wie sehr er sich bemühen muss. Das is‘ doch alles echt beschissen.“

„Okay, ja, ihr macht gerade eine schwierige Zeit durch“, räumte Christine ein. „Ich verstehe aber noch nicht so ganz, worauf du hinauswillst.“

Jonas ließ den Kopf hängen. „Ich glaub einfach, dass er ganz froh is‘, mal wo zu sein, wo die Leute ihn tatsächlich mit offenen Armen empfangen. Ihn mögen und als den Menschen annehmen, der er is‘, ohne dass er sich ständig von seiner besten Seite präsentieren oder eine starke Schulter bieten muss. Er will sicher auch einfach nur mal … Spaß haben.“

„Gut möglich. Und?“

„Und … Ich weiß nich‘, wie weit dieser ‚Spaß‘ geht.“

„Ich versteh nicht, was du– Moment! Du denkst jetzt aber nicht wirklich, dass Erik dir fremdgeht, oder?“ Mit vor der Brust verschränkten Armen zeigte Christine einen Blick, der dem ihrer Mutter erschreckend ähnelte. Seiner körperlichen Gesundheit zuliebe verkniff sich Jonas einen entsprechenden Kommentar und wartete einfach, bis sie weitersprach. „So eine Scheiße abzuziehen, würde ich ihm echt nicht zutrauen.“

„Ich auch nich‘“, erwiderte Jonas schwach. „Das is‘ auch nich‘ das, worüber ich mir wirklich Sorgen mach.“

„Sondern?“

„Was, wenn …“ Jonas schluckte. „Wenn er heut richtig Spaß hat und ihm klar wird, dass das mit uns den ganzen Stress nich‘ wert is‘?“

„Ach, Jonas. Das glaubst du doch wohl selbst nicht.“ Christine musterte sein bedrücktes Gesicht. „Himmel! Du glaubst das wirklich!“

„Is‘ nich‘ so weit hergeholt, oder?“ Jetzt, da Jonas diese Gedanken zugelassen hatte, stürzten sie auf ihn ein. „Ich mein … Wir sin‘ ja noch nich‘ so wirklich lang zusammen. Nich‘ mal ‘n Jahr. Und wie viel Scheiß in der Zeit schon passiert is‘ … Ich bin ihm quasi fremdgegangen, noch bevor wir überhaupt richtig zusammen waren. Dann der Unfall und die Sache mit meiner Wohnung. Jetzt meine Eltern. Und ich schaff’s einfach nich‘, dabei mal Partei für ihn zu ergreifen, weil ich so verfickt drauf hoff, dass sie’s akzeptieren, wenn ich nur nett genug zu ihnen bin! Fuck. Fuck, fuck, fuck. Fuck!“ Jonas rieb über seine schon wieder erschreckend feuchten Augen. „Was, wenn er merkt, wie sehr er eigentlich die Schnauze voll davon hat, ständig in meine Probleme reingezogen zu werden?“

„Ach, Brüderchen. Jetzt komm erst mal her.“ Bevor er sich hätte wehren können, zog Christine ihn in eine ihrer rippenbrechenden Umarmungen und ließ ihn nicht mehr los. „So, und jetzt hörst du mir gut zu. Anders als andere hier, ist Erik ein verantwortungsbewusster Erwachsener, der gerne in ganzen Stücken an seinem Zielort ankommt, weshalb es absolut sinnvoll ist, dass er nicht mehr mitten in der Nacht bei Schneefall drei Stunden durch die Gegend gurkt. Außerdem besitzt er sowas wie Kommunikationsfähigkeiten, woraus ich einfach mal schließen würde, dass er – Achtung, jetzt kommt’s – Probleme anspricht, anstatt einfach vor ihnen wegzulaufen. Stimmst du mir soweit zu?“

Jonas brachte ein klägliches ‚Ja‘ zustande.

„Und? Hat er denn angesprochen, dass er sich in eurer Beziehung nicht mehr wohlfühlt?“

„Nein.“ Ebenso kläglich.

„Dachte ich mir. Weiß du, du hast absolut recht, dass du dir mit Erik einen echt klasse Typen geangelt hast. Ich glaube bloß, du checkst manchmal nicht, warum das so ist.“

„Was?“

„Ja, sag ich doch, dass du’s nicht checkst. Also bleibt es mal wieder an mir hängen, dir das in deinen Dickschädel zu prügeln. Du hast deshalb so einen lieben, herzlichen und treuen Mann an deiner Seite, weil du’s sowas von verdient hast. Siehst du das echt nicht? Wie sehr Erik dich liebt? Und wie sehr du diese Liebe verdient hast, weil du ihm etwas gibst, das er ganz dringend braucht und das ihm offensichtlich kein anderer geben kann?“

Jonas runzelte die Stirn. Nicht, dass sich Christines Worte nicht gut anfühlten – sie gingen runter wie Öl – aber … „Woher willst du das wissen? Ihr habt euch bisher dreimal oder so gesehen."

„Jaah.“ Verlegen blickte sie zur Seite. „Okay, okay, Karten auf den Tisch. Erik und ich hatten in den letzten Monaten immer mal wieder Kontakt.“ Sie hob die Hand, um Jonas‘ Protestruf abzuwürgen. „Ist nicht so, dass wir das aktiv vor dir verheimlichen wollten, aber … Wir haben uns Sorgen gemacht. Ich war so weit weg und hatte keine Chance, an dich ranzukommen. Maria auch nicht. Und du hast teilweise tagelang nicht auf unsere Nachrichten reagiert. Es war einfach gut zu wissen, dass da jemand ist, dem du viel bedeutest und der ein Auge auf dich hat. Außerdem glaube ich, dass Erik ganz froh war, die Verantwortung nicht ganz allein zu tragen.“ Wieder wollte Jonas protestieren und wieder würgte Christine ihn ab. „Das ist nichts, was dir leidtun muss, aber auch nichts, worüber du dich aufregen solltest. Und du darfst gerne betonen, dass du allein die Verantwortung für dich trägst, weil’s natürlich stimmt, aber das heißt nicht, dass sich andere nicht für dich verantwortlich fühlen. Ich sag’s nochmal und dann mag ich langsam nimmer: Erik liebt dich. So richtig. Genauso wie Maria dich liebt. Okay, nicht genauso nehme ich an, aber auch wenn sich die Details unterscheiden, ist die Qualität die gleiche. Und bevor du fragst: Ja, ich liebe dich auch. Du Depp. Ist das jetzt klar?“

Jonas wollte etwas erwidern, aber sein Gehirn schien gerade den Geist aufgegeben zu haben.

„Fühlst du dich besser?“

„Äh …“

„Gut. Dann sage ich dir, was wir jetzt machen.“ Zielsicher schob Christine Jonas Richtung Küche. „Du pennst heute Nacht hier. Wir mopsen uns eine Flasche von dem guten Wein, den Mama und Papa im Keller verstecken, verkriechen uns auf den Speicher und gucken mal das Fotoalbum durch, das ich so mühevoll von Australien hierher geschleppt habe. Du hast noch gar nicht gesehen, wie viele potenziell tödliche Viecher ich geknipst habe, bevor ich schreiend davongelaufen bin. Okay?“

Jonas nickte.

„Und morgen schnappst du dir Erik, erzählst ihm, was du gerade mir erzählst hast und lässt dir auch von ihm noch mal bestätigen, wie unglaublich doof du bist, sowas auch nur zu denken.“

Nicht wirklich überzeugt nickte Jonas dennoch erneut. Wenigstens überlagerten Christines Stimme und Vronis Flötenspiel die Zweifel in seinem Kopf.

Kapitel 54

Was zuletzt geschah:

In einem Versuch seinen Eltern entgegenzukommen, verbringt Jonas Weihnachten getrennt von Erik. Während er am heimischen Tisch sitzt und sich bemüht, eine dünne Schicht Familienglück zu erschaffen, genießt Erik in Stuttgart ein Wiedersehen mit seinen Freunden. So sehr, dass er nicht wie abgemacht noch am selben Abend zurückfährt, sondern Jonas auf den nächsten Tag vertröstet. Eine Entscheidung, die bei diesem alle Alarmglocken läuten lässt. Hat Erik endgültig genug von all dem Stress?

 

Kapitel 54

„Boah Jonas, geh endlich an dein Kackhandy!“ Christines Kissen traf zielsicher seinen Kopf.

„Is‘ ja gut. Sorry.“ Jonas lag bereits eine Weile wach, aber die Flasche Wein, die er sich mit Christine geteilt hatte zeigte Wirkung. Blinzelnd starrte er auf sein blinkendes Display, wurde schlagartig fit, als er den Namen erkannte. Dummerweise zu spät – Erik hatte bereits aufgelegt. „Ich bin mal unten.“ Das Handy ans Ohr gepresst, rollte Jonas von dem übergroßen Sitzsack und fiel die Speichertreppe eher runter als dass er kletterte.

„Hauptsache, ich kann weiterschlafen“, murrte Christine ihm hinterher.

Noch bevor Jonas die relative Ungestörtheit der Küche erreicht hatte, hörte er eine vertraute Stimme am anderen Ende der Leitung. „Hey. Habe ich dich mal wieder geweckt?“

„Nee. Und selbst wenn, wär’s nich‘ schlimm.“ Jonas versuchte gar nicht erst sein Lächeln zu unterdrücken. Dann stand er eben im T-Shirt seiner Schwester in der Küche seines Elternhauses und grinste wie ein Depp. Wenigstens war er ein glücklicher Depp. „Christine könnt’s dir vielleicht übelnehmen, aber die is‘ bestechlich.“

„Lass es uns trotzdem lieber nicht zur Tradition machen.“

„Einverstanden.“ Jonas‘ Blick folgte den vereinzelten Schneeflocken vor dem Fenster, die träge ihren Weg zum Boden fanden. „Erinnerst du dich an unser Telefonat letztes Weihnachten? Ich weiß grad nich‘, ob ich’s schräg finden soll, dass seitdem erst oder schon ein Jahr vergangen is‘.“

„Mhm. Ist eine ganze Menge passiert.“

Eine der Flocken landete auf der Scheibe und schmolz zu einem winzigen Tropfen. „Bist du bei Marco?“

„Vor einer halben Stunde sowas angekommen. Er und Drago sind aber in ihrem Zimmer verschwunden, sobald die Tür hinter uns ins Schloss gefallen ist.“

„Is‘ ja auch ziemlich spät.“

„Irgendwie bezweifle ich, dass die beiden schlafen.“ Erik klang amüsiert. „Tut mir übrigens leid, dass ich nicht auf mein Handy geschaut habe. Im Tässchen waren ein paar Leute, mit denen ich seit Jahren keinen Kontakt mehr hatte und wir sind anschließend noch was Trinken gegangen.“

„Is‘ okay. War bestimmt ganz nett für dich, mal wieder mit Leuten zu quatschen, die dir nich‘ die Schuld am moralischen Verfall ihres Sohns geben.“ Hatte er bitter geklungen? Jonas war sich nicht sicher.

„Ist bei dir alles in Ordnung?“

Alles klar, er hatte bitter geklungen. „Jaah. Alles gut. Bin bloß müde.“

„Entschuldige, ich hätte so spät nicht mehr anrufen sollen. Ich wollte nur …“

„Meine Stimme hören?“ Jonas‘ Lächeln kehrte zurück. Exakt dasselbe hatte Erik ihm vor einem Jahr schon einmal gesagt. „Ich wollt deine auch hören“, gab er zu. „Weißt du schon, wann du morgen zurückkommst?“

„Ah, noch nicht so genau. Falls ich Sophia mit nach München nehmen soll, muss ich warten, bis das Weihnachtsessen bei meiner Tante gelaufen ist. Dann wird es ziemlich sicher auf zehn zugehen.“

„Okay.“

„Soll ich früher kommen?“

„Nee, Quatsch. Das passt schon so. Ich bleib dann einfach ‘n bissl länger bei meinen Eltern. Glaub, die haben sich richtig gefreut, dass ich heut hier übernachte. Jedenfalls bevor sie gemerkt haben, dass ihr Wein weg is‘.“

„Das ist schön zu hören.“ Erik schien sich ehrlich über diese Nachricht zu freuen. „Ich sollte wohl auch so langsam ins Bett gehen und dich nicht weiter wachhalten.“

„Eigentlich würd ich gerne noch viel länger mit dir Quatschen, aber … Fuck, ich bin echt scheiß k.o.“

„Dann träum was Schönes, ja?“

„Ich probier‘s, wenn du’s auch tust.“

„Deal. Und bitte entschuldige dich in meinem Namen bei Christine, dass ich sie geweckt habe.“

„Mach ich“, versprach Jonas. „Werd sie gleich dafür wecken!“

Erik lachte. „Ich liebe dich.“

„Ich liebe dich auch.“ Der Nachhall dieser Worte glättete einen Teil der Wogen in Jonas‘ Innerem. Er hatte gerade aufgelegt, als er die Toilettenspülung hörte. Kurz darauf humpelte seine Oma vom Bad zu ihm in die Küche. „Na, Bua, bist fertig mitm redn?“

„Hab ich dich geweckt?“, fragte Jonas schuldbewusst.

„Na, i musst bloß biesln. War des dei Freind?“

„Ähm, ja.“ Jonas bereitete sich darauf vor, die Frage zu stellen, die schon seit Wochen auf seiner Zunge brannte. „Oma … Du weißt, dass Erik und ich nich‘ bloß Freunde sin‘, oder?“

„Bua, i bin oid, ned bled.“

„Oh, gut. Ähm … Ich mein, ich war mir nich‘ sicher, weil du so gelassen reagiert hast. Im Gegensatz zu Mama und Papa.“

„Mei, i hob mi eben dro gwohnt, dass’d junga Leit a boa Sachan andas mochn, ois mia damois. I muaß ja ned ois davo vastehn. Monchmoi daad I ma bloß wünschn, dass mia a scho so frei gwesen warn.“ Während Jonas noch über die Bedeutung ihres letzten Satzes nachdachte, schlurfte seine Oma bereits wieder zu ihrem Schlafzimmer. „Schlaf guad, Bua.“

Seine Erwiderung wurde von einem langgezogenen Gähnen unterbrochen und er entschied, es seiner Großmutter gleichzutun und ebenfalls ins Bett zu verschwinden.

 

„Bist du sicher, dass du schon losmusst?“ Jonas‘ Mutter beobachtete ihren Sohn beim Anziehen seiner Jacke.

„Japp. Sorry Mama, aber Erik is‘ in ‘ner halben Stunde sowas zurück und ich will, dass die Wohnung bis dahin warm is‘.“

„Warte hier.“ Seine Mutter wandte sich ab, aber es war zu spät, um den Schatten, der über ihr Gesicht gehuscht war zu verbergen.

Jonas blieb vor der Haustür stehen, unschlüssig, ob er bleiben oder gehen sollte. Bevor er eine Entscheidung gefällt hatte, kehrte seine Mutter zurück, in der Hand drei Aufbewahrungsboxen.

„Das sind ein paar Reste vom Weihnachtsessen. Mit Fleisch für dich, ohne Fleisch für … Und in die dritte habe ich ein paar Plätzchen gepackt. Du kannst jederzeit mehr haben.“

„Danke.“ Jonas stellte die Dosen auf dem Schuhschränkchen ab. Von der restlichen Familie hatte er sich bereits verabschiedet, aber das hier fühlte sich endgültiger an. „Also dann …“ Plötzlich fand er sich in den Armen seiner Mutter wieder, umhüllt vom vertrauten Duft nach Geborgenheit.  

Lange standen sie im Eingangsbereich, während kalter Wind von draußen ihre Knöchel umspülte. Keiner sagte ein Wort, doch das leise Schluchzen in Jonas‘ Ohren sprach Bände. Schließlich trat seine Mutter einen Schritt zurück und wischte sich mit dem Ärmel über die Augen. „Gedenkst du, dich nochmal blicken zu lassen, bevor du wieder fährst?“

„Aber ja. Wenn ihr Erik und mich bei euch haben wollt, kommen wir jederzeit vorbei. Versprochen.“

„Gut. Dann geh jetzt. Wir sehen uns.“

„Mama …“

„Los, du willst doch die Wohnung heizen, bevor …“ Sie verstummte.

„Bevor Erik nach Hause kommt“, sagte Jonas sanft. „Ob du seinen Namen nun laut aussprichst oder nich‘, es wird nix ändern.“

„Das weiß ich!“ Und einfach so, war die herzliche Stimmung verflogen.

Jonas balancierte die drei Aufbewahrungsdosen in einer Hand, drückte mit der anderen die Türklinke nach unten und stellte sich der winterlichen Kälte. Ein letztes Mal drehte er sich zu seiner Mutter um. „Tschüss, Mama. Danke fürs Essen.“ Er saß eine ganze Weile bei ausgeschalteten Motor im Auto, bevor er klar genug sehen konnte, um sich den Heimweg zuzutrauen.

 

Holzscheite knackten im Ofen und Dielen knarrten unter Jonas‘ Füßen. Ungeduldig tigerte er durch die Wohnung, blieb nicht einmal stehen, um den Duft der auf einem Teller ausgebreiteten Plätzchen zu genießen.

Immer wieder las er die Nachricht, die ihn darüber informierte, dass Erik Sophia in München abgesetzt hatte und jetzt weiterfahren würde. Anschließend wechselte Jonas zu dem knappen Onlineartikel, der über einen Unfall auf der Autobahn berichtete. Und am Ende dieser bereits eingeschliffenen Routine bestätigte ihm ein Blick auf die Uhr, dass Erik schon lange bei ihm hätte ankommen sollen.  

Jonas wählte zum etwa tausendsten Mal an diesem Abend Eriks Nummer, als Kies unter Autoreifen knirschte und Scheinwerferlicht über die Zimmerdecke zog. Noch bevor es erloschen war, war Jonas die Treppe halb heruntergestürzt. Er nahm drei Stufen auf einmal, platzte durch die Eingangstür und katapultierte sich in Eriks Arme. „Aua!“ Erik rieb über seinen Rücken, der dank Jonas‘ stürmischer Begrüßung Bekanntschaft mit der Autotür gemacht hatte.

„Sorry.“ Doch Jonas presste sich nur noch fester an Erik. „Bin froh, dass du wieder da bist.“

„Ich auch. Es war seltsam, ohne dich einschlafen zu müssen.“

Verlegen grinsend blickte Jonas auf. „Is‘ ‘ne Weile her, dass wir das hatten, was? Ich schwör, ich bin um Punkt fünf aufgewacht und lag mindestens ‘ne Stunde wach, bevor mein Körper eingesehen hat, dass du nich‘ gleich zu mir ins Bett gekrochen kommst.“

„Mhm. Ich hoffe sehr, dass es wieder viele Monate dauert, bis es das nächste Mal so weit ist.“

„Ich auch.“ Nur widerwillig löste sich Jonas von Erik. „Wie war die Fahrt?“

„Lang.“ Erik klang so erschöpft wie er aussah. „Da war ein Unfall auf der Autobahn, irgendetwas Größeres. Hat sich ewig gestaut, bestimmt zehn Kilometer.“

„Ich weiß. Hab’s in den Nachrichten gelesen.“

„Hast du dir Sorgen gemacht? Ich wollte dir schreiben, aber, ah, Handy und Autofahren sind keine gute Kombination.“

Im ersten Moment war Jonas versucht alles abzustreiten, aber die verpassten Anrufe würden seine Lüge ohnehin binnen Sekunden überführen. „Vielleicht ‘n bissl.“

„Tut mir leid.“

„Is‘ ja nich‘ deine Schuld. Lass uns erstmal reingehen, ja? Is‘ schweinekalt hier draußen.“ Jonas nahm Eriks Hand und half ihm in der Wohnung sogar aus dem Mantel. „Wie war’s bei deiner Tante?“

„Ah, ganz okay. Immer noch recht steif, aber entweder nicht mehr so schlimm wie früher, oder es hat mir weniger ausgemacht.“

„Freut mich.“

„Außerdem muss ich mich bei dir bedanken.“

„Wofür?“

„Tobias und ich – du weißt schon, mein Cousin“, ergänzte Erik bei Jonas‘ fragendem Blick, „wir haben uns gestern länger unterhalten und ich denke, dass du recht hattest.“

„Womit?“ Noch immer war sich Jonas nicht sicher, worauf Erik hinauswollte.

Dieser lachte. „Damit, dass wir nicht so ganz wissen, wie wir miteinander umgehen sollen. Jedenfalls habe ich ihn auf die Sache damals vor ein paar Jahren angesprochen.“

„Oh.“ Jonas erinnerte sich, dass Tobias Erik in ihrer Jugend aus seinem Zimmer geworfen hatte, weil ‚er es nicht mit jemandem teilen wolle, der auf Männer steht‘. Das war allerdings Eriks Formulierung, Jonas‘ vermutete, Tobias hatte sich damals etwas weniger gewählt ausgedrückt. „Und? Was hat er gesagt?“

„Sich entschuldigt“, antwortete Erik. Ein zartes Lächeln lag auf seinen Lippen. „Ziemlich aufrichtig, sogar. Was nett war, weil es mir die Gelegenheit gegeben hat, ihm zu sagen, dass die Geschichte von meiner Seite aus schon lange abgehakt ist. Beste Freunde werden wir wohl nie, aber nachdem dieser Elefant vom Tisch war haben wir zum ersten Mal seit Jahren so etwas Ähnliches wie eine lockere Unterhaltung geführt. Ohne dich wäre das nicht passiert. Also danke.“

„Oh, ähm … gern geschehen.“ Eriks Dank machte Jonas verlegen, aber auch froh, ihm vielleicht ein kleines bisschen Glück zurückgeben zu können. „Hast du Hunger? Meine Mum hat uns Reste mitgegeben. Und Plätzchen!“

„Jonas, ich war in den vergangenen sechsunddreißig Stunden auf drei Weihnachtsessen eingeladen. Ich bin froh, wenn noch ein Schluck Wasser in mich passt.“ Erik schielte zum Plätzchenteller. „Sind das Spitzbuben?“

„Japp. Und Anislaiberl und Zimtsterne und …“ Anstatt weiterzureden, reichte Jonas den Teller weiter.

„Warfe kurf hier“, nuschelte Erik um das Plätzchen in seinem Mund herum. Ohne Jonas die Gelegenheit einer Erwiderung zu lassen verschwand er im Schlafzimmer. Hinter der verschlossenen Tür raschelte etwas und als sie sich wieder öffnete, hatte Erik nicht nur Hemd und Jeans gegen Wollpulli und Jogginghose getauscht, Kontaktlinsen durch Brille ersetzt und den Haargummi von seinem Kopf an sein Handgelenk verbannt, sondern hielt zudem ein kleines, buntverpacktes Quadrat in den Händen. „Frohe Weihnachten.“

„Dir auch frohe Weihnachten.“ Jonas hatte sein Geschenk vorsorglich schon auf dem Sofa postiert und hob es jetzt auf, um einen angemessen zeremoniellen Tausch mit Erik zu vollführen. „Da.“

„Es … riecht gut.“ Noch einmal schnupperte Erik an der Verpackung, bevor er sich daran machte den Tesafilm, der das silberne Papier zusammenhielt abzuknibbeln. In Zeitlupe legte er zuerst eine Packung Earl Grey und anschließend eine gläserne Kanne mit passendem Stövchen frei.

„Ich dacht, das hat ‘n bissl mehr Stil als deine Thermoskanne. Außerdem kann ich dir ab jetzt einfach ‘ne Packung Tee kaufen, wenn mir kein gescheites Geschenk einfällt.“

„Danke, die ist wundervoll.“ Erik fuhr mit den Fingern über die ins Glas gravierten Rosenranken. „Lass sie mich gleich ausprobieren.“ Mithilfe des altmodischen Tauchsieders setzte er Wasser auf.

Jonas hielt es nicht aus zu warten, bis sich Erik wieder gesetzt hatte und riss das buntgesprenkelte Papier von seinem Geschenk. Ein schmaler Umschlag fiel ihm entgegen, doch zunächst zog der darunterliegende Karton seine Aufmerksamkeit auf sich. „Eine Sofortbildkamera?“

„Ah, du hast mir doch neulich diesen Artikel gezeigt. Du weißt schon, den über dieses Polaroid-Projekt. Es klang, als würdest du das Konzept ganz spannend finden, also dachte ich …“

„Dass du der beste Freund der Welt sein willst? Haste geschafft!“ Ungeduldig zerrte Jonas an der Verpackung, befreite das gute Stück aus seinem Gefängnis und legte den Film ein.

„Funktioniert sie?“

Jonas blickte durch den Sucher und knipste. Nach und nach zeichneten sich die Konturen seines Motivs ab, Farben entstanden, erst blass, bald leuchtend. Für die Ewigkeit auf Zelluloid gebannt, saß Erik verlegen lächelnd auf der Kante eines fadenscheinigen Sofas und wartete darauf, dass sein Teewasser kochte. Jonas zog die lebendige Version in seine Arme. „Danke. Ehrlich. Das is‘ ‘n scheißgutes Geschenk.“

Sanft löste sich Erik von ihm, um das blubbernde Teewasser in seine neue Kanne umzufüllen. „Freut mich sehr. Vergiss den Umschlag nicht.“

„Oh, fuck, stimmt.“ Rasch nahm Jonas das rote Kuvert, dessen Existenz er kurzfristig tatsächlich verdrängt hatte und öffnete es. Im Inneren verbarg sich eine Weihnachtskarte, deren mit Strickpullovern bekleidete Rentiere so kitschig aussahen, dass es fast schon wieder niedlich war, ein Ersatzfilm für die Kamera und … „Tagespässe für die Therme in Erding?“

„Zugegeben, das ist eher ein Geschenk für uns beide. Vielleicht sogar mehr für mich als für dich, aber ich dachte mir, wenn wir schon in der Gegend sind, sollten wir das auch nutzen.“

Jonas suchte nach einem Datum. „Für wann …?“

„Wann immer wir wollen.“

„Morgen?“

„Zum Beispiel.“

„Ich glaub, das fänd ich schön.“ Ungeduldig wartete Jonas, bis Erik Teekanne und Tasse auf dem Tisch platziert hatte und zündete das Teelicht des Stövchens an. Als alles an der Stelle war, an der es sein sollte, kuschelte er sich an Erik. „Es wird echt Zeit, dass wir mal wieder ‘nen Tag nur für uns haben.“

„Kein Widerspruch von mir.“

„Ähm, ich …“ Eigentlich hatte Jonas das ganze Thema unter den Tisch fallen lassen wollen, jetzt, da Erik wieder zurück und seine Ängste unter Kontrolle waren, aber am Ende überwog der Drang, darüber zu sprechen. „Ich hab mir ‘n bissl Sorgen gemacht, als du gestern nich‘ zurückgekommen bist.“

Erik pustete kühle Luft über den Rand seiner Tasse, entschied aber, dass der Tee noch zu heiß war und stellte sie zurück auf Tisch. „Warum?“

„Weil … Weil ich Angst hatte, dass … Dass dir hier alles zu viel wird und du einfach wegbleibst. Und jetzt, wo du wieder hier bist, wird mir klar, dass das wahrscheinlich echt ziemlicher Quatsch war, aber … Die Angst war erstmal da, weißt du? Und … Keine Ahnung, ich hatte das Gefühl, es wenigstens mal ausgesprochen haben zu müssen.“

„Gut, dass du es tust.“ Erik streckte sich auf dem Sofa aus, soweit seine langen Beine das zuließen und bettete seinen Kopf in Jonas‘ Schoß. „Dann kann ich dir sagen, was für riesiger Unsinn das ist.“

„Hat Christine auch schon getan“, räumte Jonas ein. Er kämmte mit den Fingern durch Eriks Haar und erntete dafür ein wohliges Brummen.

„Bei Gelegenheit muss ich mich mal bei ihr bedanken. Ah, das soll jetzt nicht klingen, als wollte ich deine Befürchtungen kleinreden. Ich denke, ich kann schon verstehen, woher sie kommen. Immerhin hast du mich lange genug gedrängt, zuzugeben, dass die Situation auch für mich nicht ganz einfach ist.“

„Weil‘s wichtig is‘, dass du mir sowas sagst!“

Erik drehte den Kopf, um Jonas in die Augen zu sehen. „Wahrscheinlich ist es das.“ Er seufzte. „Ich fürchte, ich sehe manchmal nicht, wie sehr ich dich in der Luft hängen lasse, wenn ich mal wieder versuche erstmal alles mit mir selbst auszumachen. Ich ziehe ich mich zurück, um in Ruhe über ein Thema nachdenken zu können, ohne dich gleich damit zu belasten und mache damit am Ende alles nur schlimmer, weil du ja doch merkst, dass etwas nicht stimmt.“

„Das tu ich allerdings“, murrte Jonas. „Und dann zerbrech ich mir den Kopf darüber, weil du ja nich‘ mit der Sprache rausrückst.“

„Ich weiß. Ah, ich kann jetzt nicht versprechen, dass das nie wieder vorkommt, aber daran arbeiten werde ich auf jeden Fall. Das Letzte, was ich will, ist dir unnötige Sorgen zu bereiten. Bis dahin darfst du mir aber glauben, dass ich ganz sicher mit dir reden würde, wenn wir wirklich vor einem heftigen Problem stünden.“

„Okay.“ Eigentlich hatte Jonas ein wenig überzeugter klingen wollen.

„Im Augenblick“, Eriks Hände erkundeten Jonas Bauch, „bin ich einfach nur glücklich bei dir zu sein. Um mir das zu vergällen müsste schon noch eine ganze Menge schiefgehen.“

„Zum Beispiel?“, fragte Jonas nur noch halbernst.

„Hmm … Zum Beispiel müsste jetzt ein nackter Mann aus dem Schlafzimmer schleichen, mit dem du ziemlich eindeutig gevögelt hast, während ich mich durch Stau und über rutschige Straßen gequält habe.“

„Und wenn er ‘ne Schleife um den Schwanz trägt, weil’s ‘n Geschenk is‘?“

Darüber könnten wir dann reden.“

Lachend beugte sich Jonas nach unten, um Erik einen Kuss auf die Lippen zu hauchen. „Also packen wir das?“

„Mhm. Ich war mir selten bei einer Sache so sicher.“ Abrupt setzte sich Erik auf. „Führst du mich eigentlich mal durchs Dorf? Ich war die letzten Tage so viel unterwegs, aber ich habe noch fast gar nichts von der Gegend gesehen, in der du aufgewachsen bist.“

„Klar. Morgen?“

„Morgen.“

 

Die Tage zwischen Weihnachten und Neujahr verrannen wie Sand zwischen ihren Fingern. Jonas zeigte Erik den Ort, an dem er zwanzig Jahre seines Lebens verbracht hatte und verursachte dabei prompt einen kleinen Skandal, da er es sich nicht nehmen ließ, während der gesamten Tour Eriks Hand zu halten. Erstaunlich, wie vielen Nachbarn man innerhalb einer einzigen Stunde begegnen konnte.

Das tat ihrer Beliebtheit allerdings keinen Abbruch. Wenn sie nicht gerade ohnehin mit Maria, Clemens oder Christine zusammensaßen, stand gerne auch mal spontaner Besuch vor der Tür. Dennoch fanden sie auch immer wieder Momente, die nur ihnen gehörten. Der Tag in der Therme erwies sich hier als kleine Offenbarung für Jonas – selten hatte er Erik so ausgelassen erlebt. Er entschied, im neuen Jahr mehr von dieser Seite entdecken zu wollen.

Abends kehrten sie erschöpft und aufgequollen nach Hause, den Geruch nach Wasser auf der Haut, das Gefühl von Wellen am Körper. Wie in jeder Nacht schliefen sie aneinandergeschmiegt ein.

Ihr Aufenthalt in Bayern verlief so harmonisch, dass Jonas das Schweigen seiner Eltern beinahe nicht bemerkte.

 

 

Kapitel 55

Was zuletzt geschah:

Jonas hat turbulente Monate hinter sich. Sein Studium lockt ihn vom verschnarchten bayerischen Hinterland in die turbulente Hauptstadt und bald darauf findet er sich in den Armen eines Mannes, den er inzwischen nie wieder loslassen möchte. Nicht alles läuft rosig und viele Hürden müssen gemeistert werden, um Jonas an den Punkt zu bringen, an dem er heute steht. Aber er ist glücklich. Wenn doch nur seine Mutter über ihren Schatten springen könnte.
 

Kapitel 55

Weihnachten war vergangen, doch der nächste Feiertag stand bereits in den Startlöchern: In dieser Nacht läutete der Mitternachtsgong nicht nur den nächsten Tag, sondern ein neues Jahr ein. Derzeit zog jedoch noch feiner Kaffeeduft durch die Gassen und hinter verschlossenen Türen ließ sich gelegentliches Gähnen erahnen.

„Christine hat grad geschrieben.“ Jonas streifte ein paar Brotkrümel von seinem Kapuzenpulli und kuschelte sich zu Erik aufs Sofa. „Sie hat noch irgendwas in München zu tun und trifft sich dann direkt dort mit uns.“

„Hm, was treiben wir denn dann den halben Tag?“

„‚Treiben‘ find ich schon mal ‘n ganz gutes Stichwort.“ Nun überwältigte allerdings auch Jonas das allgegenwärtige Gähnen. Halb auf Erik liegend, das Gesicht in dessen Halsbeuge gedrückt, schloss er die Augen. Nur kurz dösen, in ein paar Minuten war er sicher fitter.

Das Handy musste lange und laut klingeln, um ihn aus seinem Tiefschlaf zu reißen. Blind tastete er danach, beantwortete den Anruf, ohne auf den Namen zu sehen. „Hallo?“

„Hallo.“

Schlagartig saß Jonas aufrecht. „Hallo, Mama.“ Er hatte seit ihrem Abschied zu Weihnachten nichts mehr von ihr gehört.

„Ich wollte fragen, ob du zum Essen kommst, bevor du nach München fährst.“

„Mama, du weißt, dass ich–“

„Ob ihr zum Essen kommt“, verbesserte sich seine Mutter. „Natürlich kann … Erik … mitkommen.“

„Oh, okay, ähm … Ich frag ihn mal.“

Erik saß neben Jonas, ein Buch in der Hand, doch seine Augen bewegten sich nicht. Vermutlich hatte er dem Gespräch wesentlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt als den Zeilen vor ihm.

„Ähm, meine Mum fragt, ob wir zum Essen vorbeikommen wollen.“

„Willst du?“

Jonas dachte an ihre letzte Begegnung, seine Hoffnung, ihre Tränen. „Ich glaub, es könnt ganz gut sein.“

„Dann gehen wir.“

Mit einem knappen Nicken hielt Jonas sein Handy wieder ans Ohr. „Okay, wir kommen vorbei. Aber macht euch keinen Aufwand, wir gehen dann in München Abendessen, brauchen also mittags nich‘ so viel.“

„Wir hatten ohnehin nur eine Brotzeit geplant. Seid um halb eins da.“

„Halb ei–?“ Aber seine Mutter hatte schon aufgelegt. „Toll, das gibt uns“, er sah auf sein Display, „zwanzig Minuten. Duschquickie?“

Wortlos sprang Erik auf, entledigte sich seiner Klamotten an Ort und Stelle und zog Jonas mit sich ins Badezimmer.
 

Eine halbe Stunde später standen die beiden gestriegelt und geschniegelt vor Jonas‘ Elternhaus. Sie wechselten einen nervösen Blick, bevor Jonas die wie immer unverschlossene Tür öffnete. „Hallo-o! Wir sin‘ da-a!“

„Kommt rein, kommt rein“, drang die Stimme seines Vaters aus dem Wohnzimmer zu ihnen. Er stand mit dem Rücken zur Tür, drehte sich aber um, als er die beiden hinter sich den Raum betreten hörte und lächelte breit. „Schön, dass ihr‘s so kurzfristig geschafft habt.“

„Jaah, die Einladung kam etwas überraschend“, gab Jonas zu.

Sein Vater wirkte betreten. „Ich weiß. Tut mir leid, dass wir uns so lange nicht gemeldet haben, aber ich dachte … vielleicht ist es ganz gut für deine Mutter, wenn sie ein bisschen Zeit hat, sich alles nochmal durch den Kopf gehen zu lassen. Das Essen heute war übrigens ihre Idee.“

„Wirklich?“ Überraschung, Hoffnung und Furcht verschlangen sich in Jonas zu einem Knoten. „Dann … war das wohl echt ‘ne ganz gute Idee. Wo steckt sie denn?“

„Ist mit Oma in der Küche. Vroni ist bei einer Freundin und Christine gleich nach dem Frühstück abgehauen. Sie meinte, sie hätte irgendwas in München zu erledigen.“

„Hat sie mir auch erzählt. Alles sehr geheimnisvoll. Ähm, wir gehen dann mal ‚Hallo‘ sagen, ja?“

„Nur zu.“

Der Esstisch war bereits gedeckt, neben Tellern und Gläsern fanden sich Butter, Wurst, Käse, Obatzda und pfeffrig duftender Radisalat darauf. In der Küche surrte die Brotschneidemaschine.

„Das verstehen deine Eltern unter einer Kleinigkeit?“, raunte Erik Jonas zu.

„Was hast du erwartet?“, fragte dieser. „Meine Familie besteht aus Gastwirten. Groß aufzutischen liegt uns im Blut.“

„Habe ich dir schon mal gesagt, dass dich kennenzulernen das Beste war, was mir passieren konnte?“

„Vielleicht. Aber tu’s ruhig noch öfter.“ Entschieden umfasste Jonas Eriks Hand und führte ihn in die Küche. „Hallo zusammen!“

Zwei Köpfe drehten sich zu ihnen. Das ewig nachsichtige Lächeln seiner Oma stand im deutlichen Kontrast zu den dünn zusammengepressten Lippen seiner Mutter. „Du hättest sagen können, dass ihr später kommt.“

„Sin‘ doch bloß zehn Minuten“, erwiderte Jonas achselzuckend. Er hatte keine Lust auf Streit, aber sich sofort anmeckern zu lassen war auch nicht nach seinem Geschmack. „Is‘ ja nich‘ so, als hättest du uns viel Zeit gegeben. Dein Anruf kam schon ‘n bissl überraschend.“

Jonas‘ Oma rettete die Situation, indem sie zu ihm und Erik humpelte und beide nacheinander in die Arme schloss. „Schee, dass’d do seids, Buam.“

Ein Hauch Rot durchzog Eriks Ohrspitzen, nachdem sie ihn aus ihrer Umarmung entlassen hatte und da war dieses Schuljungengrinsen, das er immer dann zeigte, wenn ihn sein Gegenüber sehr glücklich gemacht hatte. „Es ist schön, Sie wiederzusehen, Frau Schwanberger.“ Er wandte sich an Jonas‘ Mutter. „Vielen Dank für die Einladung.“

Sie lächelte nicht, ließ sich aber zu einem Händeschütteln hinreißen. „Setzt euch schon mal. Ich schneide noch das Brot fertig auf.“

Gehorsam nahmen Erik, Jonas und dessen Oma am Esstisch Platz. Kurz darauf folgte auch Jonas‘ Mutter, die ungeduldig nach ihrem Mann rief. Die ersten Minuten des Essens verliefen schweigend, jeder war damit beschäftigt, sich durch das reichhaltige Angebot zu probieren und augenscheinlich froh, mit vollem Mund kein Gespräch beginnen zu müssen.

Es war Jonas‘ Mutter, die das Schweigen unvermittelt beendete. „Und, Herr Kolb, wie gefällt es Ihnen bisher in unserer kleinen Ortschaft?“

„Ah, ganz gut“, antwortete Erik sichtlich überrumpelt. „Es ist ungewohnt ruhig für mich. Und bitte, ‚Erik‘ reicht völlig.“

„Ruhig, hm?“ Hatte seine Mutter gerade mit den Augen gerollt? Jonas konnte es nicht mit Bestimmtheit sagen. „Dann sind Sie wohl in Berlin aufgewachsen? Damit können wir hier natürlich nicht mithalten.“

Erik zeigte ein schmales Lächeln. „Eigentlich komme ich aus Stuttgart, aber ich vermute, der Unterschied zwischen Stuttgart und Berlin ist immer noch kleiner als der zwischen Stuttgart und hier.“

„Könntest du dir nicht vorstellen, hier auf dem Land zu wohnen?“

Zum ersten Mal seit ihrem Kennenlernen hatte Jonas‘ Vater auf das förmliche Siezen verzichtet und Eriks breiter werdendem Lächeln nach zu urteilen war das auch ihm nicht entgangen. „Ah, so pauschal kann ich das ehrlich gesagt gar nicht beantworten. Das kommt sicher auf die Umstände an und auch darauf, weshalb ich überhaupt umziehen müsste, aber grundsätzlich fühle ich mich in Städten wohler. Das sage ich jetzt allerdings ohne einen wirklichen Vergleich zu haben. Wahrscheinlich fände ich das Landleben am Ende wundervoll, wenn ich mich mal daran gewöhnt hätte. Und wer weiß schon, was die Zukunft bringt.“

Obwohl Erik mit Jonas‘ Vater gesprochen hatte, wusste Jonas, dass die letzten Worte ihm gegolten hatten. Ein Versprechen, den Weg gemeinsam zu gehen, sollte sich Jonas dazu entscheiden, doch wieder in die Nähe seiner Familie zu ziehen.

„Du musst einfach mal im Sommer vorbeikommen“, schlug sein Vater vor. „Wenn alles blüht und man Obst und Gemüse frisch vom Feld bekommt. Damit kann auch der beste Bioladen in der Stadt nicht mithalten, das verspreche ich dir.“

„Das glaube ich Ihnen gerne.“

„Ich dachte, wir hatten uns aufs ‚Du‘ geeinigt?“, tadelte Jonas‘ Vater. „Nenn mich doch bitte einfach Martin.“

Erik nickte. „Sehr gerne.“

Jonas warf einen kurzen Blick auf seine Mutter und wurde dabei prompt von ihr erwischt. Wieder formten ihre Lippen einen Strich, aber immerhin blieb sie am Tisch sitzen und beteiligte sich kurz darauf auch am Gespräch. Nichts Tiefgreifendes – es war beeindruckend wie lange man sich über das Wetter unterhalten konnte – und wie schon zu Weihnachten umschiffte sie alle potenziell gefährlichen Themen, scheiterte allerdings daran, ihren grimmigen Gesichtsausdruck durchgehend aufrechtzuerhalten. Eriks und Jonas‘ gemeinsame Erzählung über ihren Versuch den berühmten Schwanberger Apfelstrudel nachzubacken entlockte ihr sogar ein hörbares Lachen. Als sämtliche Teller geleert waren, stand sie auf. „Jonas, hilfst du mir kurz beim Abspülen?“

„Ähm, ja, klar. Erik–“

„Die anderen können sitzenbleiben.“ Niemand wagte, sich dieser Anweisung zu widersetzen.

Schweigend standen Jonas und seine Mutter nebeneinander vor der Spüle. Mit einem geblümten Tuch trocknete er die tropfenden Teller, die sie ihm reichte. Die Weigerung seiner Eltern, ihre Spülmaschine zu benutzen würde er nie verstehen, aber er hatte früh gelernt, nicht darüber zu meckern.

„Wo geht ihr heute Abend hin?“, durchbrach seine Mutter erneut die Stille.

„Das weiß ich noch gar nich‘ so genau“, antwortete Jonas ehrlich. „Wir treffen uns mit Maria, Clemens und noch ‘n paar Leuten in irgend‘nem Restaurant und schauen danach mal, wo‘s uns hintreibt.“

„Fahrt ihr mit dem Auto?“

„Japp, teilweise. Wir parken ein bisschen außerhalb und machen den Rest mit der Bahn.“

„Also trinkst du nichts?“

„Hab ich doch letztes Jahr auch nich‘, Mama, falls du dich erinnerst. Aber dieses Jahr fährt sowieso Erik.“

Beinahe wäre Jonas‘ Mutter der letzte Teller entglitten. „Kannst du dich darauf verlassen, dass er nüchtern bleibt?“

„Absolut.“

Die Sicherheit in Jonas‘ Ton erstickte jede weitere Diskussion und erneut breitete sich Schweigen aus. Sie waren beim letzten Schneidebrett angekommen, als seine Mutter wieder das Wort ergriff. „Ich habe es immer irgendwie geahnt.“

„Was geahnt?“, fragte Jonas verständnislos.

„Das du nicht n–“, im letzten Moment konnte seine Mutter das Wort ‚normal‘ vermeiden, aber er wusste dennoch, dass es ihr auf der Zunge gelegen hatte. „Dass du nicht wie die anderen Jungs bist.“

Etwas in seinem Magen verknotete sich. „Woher willst du das gewusst haben?“

„Du hast schon im Kindergarten mehr mit Mädchen gespielt–“

„–ich glaub nich‘, dass das irgendw–“

„–du hast dich von Anfang an so toll um Vroni gekümmert“, unterbrach ihn seine Mutter und zählte ihre Punkte an den Fingern ab.

„Auch das dürfte wenig damit zu t–“

„–und dann die Art, wie du Clemens angesehen hast.“

Dieses Mal war es Jonas, dem das Geschirr aus der Hand glitt. Polternd fiel das Schneidebrett zu Boden. Er kümmerte sich nicht darum. „Warum hast du nie was gesagt?“

„Weil ich es nicht wahrhaben wollte. Ich dachte, wenn ich keine große Sache daraus mache, wird es sich schon irgendwann verwachsen. Du ahnst nicht, wie erleichtert ich war, als du uns Maria vorgestellt hast.“ Seine Mutter schnaubte. „Ich war überzeugt, du hättest doch noch die richtige Entscheidung getroffen.“

„Das is‘ aber keine Entscheidung, Mama. Ich kann nich‘ einfach–“

„Du hättest die Chance auf ein normales Leben gehabt!“

„Ich führe ein normales Leben!“

„Du weißt, dass das nicht stimmt!“ Ihre Hände schnitten durch die Luft. „Die Leute reden. Hör doch nur, was im Dorf los ist, weil du dich nicht zusammenreißen konntest und wie ein Gockel durch die Straßen stolziert bist!“

„Ich hab Erik meinen Heimatort gezeigt!“, erwiderte Jonas hitzig. „Und ja, dabei hab ich seine Hand gehalten. Wie man das eben macht, wenn man verliebt is‘!“ Als seine Mutter nichts erwiderte, atmete er tief durch und mahnte sich zur Ruhe, bevor er erneut das Wort ergriff. „Ich weiß, dass die Leute reden. Ich bin nich‘ taub. Oder dumm. Was glaubst du, warum ich so lang mein Maul gehalten hab? Warum ich so viel Angst hatte jemandem die Wahrheit zu sagen?“ Mit Mühe lockerte er seine zur Faust geballten Finger. „Ich bin‘s leid, mich zu verstecken. Davon wird’s nich‘ besser und ändern tut sich schon gleich gar nix. Und ich hab’s satt einen Menschen zu verleugnen, den ich liebe, bloß, weil wir dasselbe Geschlecht haben. Das hab ich lang genug getan und ich wär beinahe dran zerbrochen.“

Seine Mutter starrte auf das schmutzige Wasser vor ihr. „Ich will doch nur, dass es dir gut geht.“

Jonas rieb sich über die Augen. Ein Rest Spülmittel brannte darin und er blinzelte. „Aber mir geht’s nich‘ gut, Mama. Und ‘ne ganze Weile ging’s mir noch viel beschissener. Ganz ehrlich?“ Er zwang sich, seine Mutter anzusehen. „Im Moment könnt ich richtig glücklich sein. Der einzige Grund, warum ich’s nich‘ bin, bist du.“

Seine Mutter öffnete den Mund, sagte aber nichts.

„Sorry, das klingt fies“, gab Jonas zu. „Ich weiß nur nich‘, wie ich dir sonst klarmachen soll, wie ernst die Situation zwischen uns grad is‘. Weil im Moment, Mama, im Moment …“ Er holte Luft. Alles in ihm sperrte sich dagegen, zu sagen, was er zu sagen hatte, aber er wusste, dass ihm keine Wahl blieb. „Im Moment heule ich mir wegen dir fast jede Nacht die Augen aus und das kann so nich‘ weitergehen. Ich muss meinen Weg gehen und wenn du dir wirklich so gar nich‘ vorstellen kannst mich dabei zu begleiten, dann müssen wir uns voneinander verabschieden.“ Er sah den Schmerz, den er seiner Mutter zufügte und hasste sich dafür.

„Empfindest du das wirklich so?“

„Wie soll ich’s denn sonst empfinden? Du bist abgehauen, unmittelbar nachdem ich mich vor euch geoutet hatte. Weißt du wie weh das tat? Wie viel Mut mich das gekostet hat und wie schlimm’s war, dafür bestraft zu werden? Du hast keine Sekunde investiert, um mir mal zuzuhören, sondern mich einfach mit Schweigen bestraft. Du hast dich sogar mit Papa verkracht, weil er versucht hat einen Schritt auf mich und Erik zuzumachen. Seit wir hier sind behandelst du Erik wie einen Aussätzigen, den du am liebsten auf die Straße verbannen würdest. Und hast du mich ein einziges Mal gefragt, wie’s mir in den letzten Monaten so ergangen is‘? Was das Studium macht, ob ich Freunde gefunden hab, wie’s mir eben so geht?“

Seine Mutter blieb stumm.

„Siehst du. Stattdessen hast du dir echt Mühe gegeben mir ‘n schlechtes Gewissen zu machen, weil ich … Keine Ahnung. Existiere? Oder nich‘ so bin, wie du mich gerne hättest?“ Hilflos hob Jonas die Hände. „Also sag mir, wie soll ich’s denn empfinden?“

„Ich weiß es nicht.“ Sie schloss die Augen. „Doch, natürlich weiß ich es. Ich weiß nur nicht, wie ich jemals diesen Keil zwischen uns treiben konnte. Ach Spatz, es tut mir so unendlich leid.“ Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie matt und erschöpft aus, keine Spur von der energiegeladenen Frau, die Jonas durch so viele Krisen getragen hatte. Nur nicht durch diese eine. „Aber eine einfache Entschuldigung reicht nicht, um zu reparieren, was zwischen uns kaputtgegangen ist, oder?“

„Keine Ahnung. Wahrscheinlich nich‘.“ Jonas wünschte sich, etwas anderes sagen zu können.

Seine Mutter nickte resigniert. „Ich will dich nicht verlieren, aber ich kann auch nicht alles über Bord werfen, woran ich so lange geglaubt habe.“

„Das is‘ wohl so.“

„Deshalb muss ich dich um noch mehr Geduld mit mir bitten. Ich weiß, dass das viel verlangt ist, aber ich fange gerade erst an zu verstehen, dass das … Dass er“, sie nickte Richtung Wohnzimmer, in dem Erik und Jonas‘ Vater saßen, „keine Entscheidung ist, die du bewusst getroffen hast.“

„Erik is‘ eine bewusste Entscheidung“, widersprach Jonas, aber ohne den Zorn, der bis eben noch seinen Körper geflutet hatte. „Dass ich schwul bin nich‘, aber Erik … Ihn würde ich immer wieder wählen.“

„Wie du meinst. Du warst ehrlich zu mir, also bin ich auch ehrlich zu dir. Ich möchte mir lieber nicht vorstellen, was im Leben noch auf dich zukommt. Du wirst es immer schwerer als andere haben.“

„Vielleicht.“

„Verstehst du, dass sich das keine Mutter für ihr Kind wünscht?“

„Du würdest es mir schon leichter machen, wenn du einfach …“ Jonas schüttelte den Kopf. „Kannst du mich nich‘ einfach akzeptieren? Nich‘ … Du musst es ja nich‘ gleich gut finden, aber is‘ Akzeptanz echt zu viel verlangt?“ Das Ticken des Sekundenzeigers hämmerte das Schweigen seiner Mutter in seine Ohren. Sekunde um Sekunde verstrich. Nach der sechzigsten trat er von der Spüle zurück. „Ich geh dann jetzt. Mach’s gut, Mama. Ich wünsche mir, dass du eines Tages anders darüber denkst, aber ich habe keine Kraft mehr darauf zu warten.“ Plötzlich fand er sich in einer unerwarteten Umarmung wider.

„Bitte bleib.“ Die Stimme seiner Mutter war nur ein ersticktes Flüstern. „Bitte bleib noch lange genug, damit ich dir sagen kann, wie sehr ich dich liebe und wie stolz ich auf dich bin. Daran wird sich nichts ändern, ganz egal, was passiert.“

„Mama, ich–“

„Ich kann nicht wiedergutmachen, was ich in den letzten Monaten zerstört habe, damit werde ich leben müssen. Und ja, ich habe unglaubliche Angst um dich und ich werde nicht lügen und behaupten, ich würde mir nicht wünschen, dass alles ein wenig anders wäre.“

„Mama, das–“

„–ist nicht das, was du hören willst. Schon klar. Ich bin aber noch nicht fertig. Du willst meine Akzeptanz und du hast sie. Meine Liebe kriegst du noch obendrauf. Glaubst du mir das?“

Das Spülwasser, das noch an den Händen seiner Mutter klebte, durchnässte Jonas‘ Oberteil bis auf die Haut, aber das war ihm gerade völlig egal. Er glaubte ihr. Gegen Tränen kämpfend drückte er seine Nase in ihr Haar. „Ich hab ich dich auch lieb, Mama.“

Dieses Mal fegte kein kalter Wind zwischen ihren Beinen hindurch, aber das Schluchzen war dasselbe wie bei ihrer letzten Verabschiedung. Und doch anders. Nun lag Hoffnung darin.

Jonas‘ Mutter strich mit der Hand über seine feuchte Wange. „Kommt morgen wieder zum Abendessen vorbei, wenn ihr wollt. Ich könnt jeden Tag kommen, solange ihr da seid. Gebt uns nur kurz Bescheid, damit wir genug einkaufen können.“

„Okay.“

„Und habt viel Spaß heute Abend.“

„Werden wir.“

„Fahrt vorsichtig.“

„Ja, Mama.“

„Denkt immer daran, dass genug andere Idioten unterwegs sind, egal, wie verantwortungsbewusst ihr selbst seid.“

„Ja, Mama.“

„Und nehmt lieber ein Taxi zurück, falls ihr doch was trinkt. Auch, wenn es teuer ist.“

„Ja, Mama.“

„Und–“

„Mama“, unterbrach Jonas sie sanft. „Das hatten wir doch alles schon letztes Jahr. Ich gelobe hiermit feierlich, dass wir unser Möglichstes tun werden, die heutige Nacht zu überleben.“

„Sei nicht so frech“, schalt Jonas‘ Mutter, allerdings nur halbherzig. „Ich mache mir nur Sorgen.“

„Weiß ich doch.“

„Versprich mir einfach, aufzupassen. Und behalte Christine ein bisschen im Blick.“

„Christine hat sich die letzten drei Monaten erfolgreich durch Australien gekämpft. Die wird Silvester in München schon überstehen.“

„Jonas Sta–“

„Jaah, is‘ ja gut!“, gab er nach. „Ich bin ein verantwortungsvoller großer Bruder und kümmere mich um meine kleine Schwester. Versprochen. So, jetzt werd ich aber abhauen, bevor du mir auch noch die Verantwortung für Maria und Clemens aufhalst.“

Mit der Leichtigkeit jahrelanger Übung duckte sich Jonas unter dem nach ihm geworfenen Spüllappen weg und hüpfte lachend aus der Küche. Nicht alle seine Hoffnungen hatten sich erfüllt, aber wenn das kein verdammt großer Schritt in die richtige Richtung war, wusste er auch nicht.
 

Jonas‘ Blick streifte über schlammiges Gras, kahle Baumwipfel und die Reste des weihnachtlichen Schneefalls. Auf seinem Gesicht fühlte er den Wind und in seinem Rücken die unverwüstlichen Säulen des Monopteros. Zahlreiche Menschen hatten sich im Englischen Garten versammelt, um das neue Jahr willkommen zu heißen, doch für ihn zählte nur die kleine Gruppe, in deren Herzen er stand.

Dimi und Sophia, die alle anderen mit Glühwein und Kinderpunsch versorgten. Christine, deren Zunge seit Stunden in Nicks Hals feststeckte. Clemens hatte den Arm locker um die Schultern einer frisch auf dem Weg aufgegabelten Bekanntschaft geschlungen, während Maria ihre Finger an einem mit Glühwein gefüllten Pappbecher wärmte und das Treiben der anderen beobachtete, unschlüssig, ob sie schmunzeln oder den Kopf schütteln sollte.

Und dann war da noch Erik, dessen Hand warm in Jonas‘ lag. Erik, mit seinem spitzbübischen Lächeln, das in diesem Augenblick niemand anderem als Jonas galt. „Wäre das eine Option für dich?“

„Was?“, fragte Jonas verwirrt.

„München.“

„München?“ Allmählich dämmerte Jonas, worauf Erik hinauswollte. „Du meinst, wenn ich mitm Studium fertig bin?“

„Mhm. Es wäre ein Kompromiss, oder? Deutlich näher an deinen Eltern und die Strecke nach Stuttgart ist auch kürzer. Zugegeben, vielleicht etwas spießiger als Berlin, aber das heißt auch, dass sie hier echt ein paar Leute wie dich gebrauchen könnten. Und der eine oder andere Job für einen BWLer wird sich wohl auch finden.“

Ein wenig überrumpelt von dem Vorschlag trank Jonas einen Schluck Glühwein, bevor er antwortete. „Könntest du dir denn vorstellen, hier mit mir zu leben?“

„Ich könnte mir vorstellen, überall mit dir zu leben“, erwiderte Erik schulterzuckend. „Aber hier könnte es mir sogar gefallen. Kannst du dir denn vorstellen, hier mit mir zu leben?“

„München …“ Jonas wälzte die Idee in seinem Kopf und den Namen auf seiner Zunge. Die Entscheidung ließ nicht lange auf sich warten. „JA!“ Nach einem verlegenen Räuspern fügte er leiser hinzu: „Ähm, ich mein, ich könnt’s mir schon auch vorstellen.“

Da war ein Leuchten in Eriks Gesicht, das Jonas bisher nicht oft an ihm gesehen hatte. Kühle Lippen streiften Jonas‘ Wangen, seine Stirn, sogar seine Nasenspitze, weigerten sich aber, sich von ihm schmecken zu lassen. Kurzerhand verhakte Jonas die Finger hinter Eriks Nacken und hielt ihn an Ort und Stelle, bis sich endlich Glühwein und Kinderpunsch mit dieser vertrauten Note mischten, die Jonas inzwischen fest mit Erik verband. Er verschwendete keinen Gedanken daran, wer sie gerade beobachtete und was diejenigen über sie dachten.

„Dann überleg dir mal, was du dir noch so für die Zukunft wünscht“, raunte Erik, nachdem Jonas von ihm abgelassen hatte. „Du hast noch“, er warf einen Blick auf seine Armbanduhr, „zwei Minuten.“

„Oh, ähm …“ Jonas wandte seinen Blick zum Himmel. Stockdunkel, mit vereinzelten Sternen und Wolken, die vom Wind übers Firmament getrieben wurden. Über seine Zukunftspläne musste er etwa so lange grübeln wie über einen Umzug nach München. Fast gar nicht. „Das klingt jetzt so viel spießiger als mir lieb is‘, aber wenn ich ehrlich bin, will ich ‘ne Familie. Heiraten und Kinder. Und, ähm … Ich weiß, dass Kinder ‘n blödes Thema für dich sin‘ und es für dich auch schon viel realer is‘ als für mich, weil … seien wir ehrlich, wirklich relevant wird es für mich in frühestens fünf, eher zehn Jahren und ich hab natürlich auch keine Zauberlösung, für den, naja, biologischen Aspekt, aber …“ Jonas schluckte. „Ich glaub, alles worum ich dich bitten will, is‘, die Tür nich‘ ganz zu schließen. Keine Ahnung, stopf ‘nen Kaugummi ins Schließblech, damit sie nich‘ komplett einrastet oder so …“ Eriks verdutzter Gesichtsausdruck ließ ihn verstummen. Schüchtern fragte er: „Ähm, was wünscht du dir denn für die Zukunft?“

„Ah, ich wollte eigentlich sagen, dass ich gerne mal wieder Urlaub am Meer machen würde.“

„Oh.“ Jonas vergrub das Gesicht in den Händen. „Oooohh! Du meintest … was ich mir fürs kommende Jahr wünsche?“

„Mhm, ursprünglich schon.“ Das schelmische Lächeln kehrte auf Eriks Lippen zurück. „Hochzeit, also?“

„Ähm … irgendwann schon irgendwie, ja.“

Dieses Mal war es Erik, der zum Himmel aufsah. „Witzig, bis vor Kurzem hatte ich das für mich nie wirklich in Betracht gezogen.“

Plötzlich brandete erster Jubel um sie herum auf. „ZEHN!“

„Aber …“ Erik richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Jonas. Die Dunkelheit verbarg die Farbe seiner Augen, aber Jonas wusste auch so, dass sie grau waren. Und jetzt gerade nur ihn wahrnahmen. „Je länger ich darüber nachdenke, umso besser gefällt mir die Idee.“

„FÜNF!“

„Irgendwann“, warf Jonas grinsend ein.

„DREI!“

„Irgendwann“, bestätigte Erik.

„EINS!“

Feuerwerk zauberte bunte Lichter auf Jonas‘ Gesicht und in Eriks Armen begrüßte er jubelnd die Abenteuer, die die Zukunft für sie bereithielt.


Nachwort zu diesem Kapitel:
Fun Fact: Wenn man Fun Fact googelt, spuckt es einen Fun Fact aus.

Von dieser kleinen Erkenntnis abgesehen, musste ich beim erneuten Korrekturlesen des Kapitels feststellen, dass ich es aus irgendeinem Grund nie für nötig erachtet hatte, Jonas‘ und Dominiks erstes Date auszuformulieren. Ich weiß selbst nicht so genau, was ich mir dabei gedacht habe. Jedenfalls ist dieser Teil des Kapitels entsprechend neu und seltener korrekturgelesen als der Rest. Sollten euch also Fehler oder Unstimmigkeiten auffallen: Bitte Bescheid geben. (Das gilt natürlich auch für Fehler in allen anderen Kapiteln, aber bei diesem ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass etwas durchgerutscht ist.)

Generell war dieses Kapitel ziemlich schwierig zu schreiben. So viele Emotionen, die irgendwie und möglichst subtil an den Leser gebracht werden wollten Öö
Ich hoffe mal, es hat halbwegs geklappt!

Oh, und guckt euch ‚Arrival‘ an, falls ihr ihn noch nicht gesehen habt. ‚Paterson‘ kenne ich bisher leider selbst noch nicht, aber ‚Only Lovers Left Alive‘ vom selben Regisseur ist einer der ganz wenigen Vampirfilme, die ich richtig gut finde.

So, jetzt höre ich aber auf, bevor der Kommentar hier noch länger wird als das eigentliche Kapitel.

Schönes Wochenende! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Heute viele kurze Szenen, aber ich hoffe mal, der zeitliche Ablauf ist trotzdem einigermaßen klar.

Jonas lässt Berlin ein paar Tage hinter sich und wir erfahren etwas mehr über ihn und seine Familie. Gutes und Schlechtes. Alles in allem ist das Kapitel eher ein Übergang, dafür gehört das Kommende zu meinen bisherigen Favoriten.


Weil ich gerade versuche, nach etwa zwölf Jahren Pause wieder ein bisschen meine alte Leidenschaft fürs Zeichnen zu entdecken, wollte ich euch hier eigentlich noch eine Skizze von Jonas anhängen, die bei meinen ersten Experimenten mit PaintTool SAI entstanden ist. Dummerweise habe ich sie auf meinem anderen PC abgespeichert und komme gerade nicht dran. Vielleicht denke ich nächste Woche daran (und eventuell habe ich es bis dahin auch geschafft, eine Skizze von Erik anzufertigen, die etwas mehr wie das Bild in meinem Kopf und etwas weniger wie ein Kamel aussieht).


Wie immer Danke fürs Lesen und hoffentlich bis nächste Woche! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Autorenkommi:
Ich würde mal sagen, da hat sich Christine ein fettes Plus auf dem Gute-Schwestern-Konto erarbeitet. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Endlich lernt ihr Drago und Marco kennen! Darauf freue ich mich schon die ganze Zeit. Ich verspreche auch, dass damit (fast) alle wichtigen Nebenfiguren wenigstens einmal aufgetaucht sind. (Sollte ich mal ein Personenregister hinzufügen? Für einen schnellen Überblick?)
Davon abgesehen: Böser Erik! Böser unbekannter Typ! Versaut dem armen Jonas doch nicht so den Abend! òó Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Sie reden miteinander! Also … so irgendwie. Yay?

An dieser Stelle nochmal einen ganz herzlichen Dank für alle Reviews, Favs, Empfehlungen und Klicks! Ich würde ja sagen, dass ihr mich dazu motiviert, weiterzuschreiben, aber die Geschichte ist ja schon abgeschlossen ^^;
(Ganz, ganz vielleicht habe ich allerdings begonnen, an einem Prequel zu schreiben …)


Liebe Grüße, schönes Wochenende und frohe Feiertage! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Und es ist … ein Date! Oder wenigstens die erste Hälfte davon. In der Erik erstmal die Katze aus dem Sack lässt, dass seine Beziehung mit Marco nicht immer rein platonischer Natur war. Wer hätte es gedacht? (Vielleicht einer von euch?)

Ich hoffe, ihr hattet einen guten Start ins neue Jahr und geht noch besser weiter! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Autorenkommi:
Naa? Wer von euch hatte Angst, dass Jonas Panik bekommt, alles hinschmeißt und wir weitere 20 Kapitel damit verbringen, die beiden wieder zusammenfinden zu lassen? Zum Glück scheinen sie aus vergangenen Kapiteln gelernt zu haben. Also … so ein bisschen, zumindest.

Schönes Wochenende und wie immer vielen Dank für alle Klicks, Favs, Empfehlungen und natürlich Reviews! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Und damit endet das zweite Date. Es folgt … Tja, das seht ihr dann nächste Woche.

Ich habe einen Twitteraccount! Also, erst seit kurzem und er ist auch noch etwas leer, aber wenn ihr Interesse an Infos zu meinen Projekten und anderen literatur- bzw. schreibrelevanten Themen habt, dann werft mal einen Blick darauf :)
https://twitter.com/NSchreibt Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich habe keine Ahnung, wie Gojibeeren-Limonade schmeckt, aber Apfelschorle mit Heuextrakt ist echt überraschend lecker!
Euch allen ein schönes Wochenende und hoffentlich bis nächsten Freitag :) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Letzte Woche haben wir ein paar Details aus Eriks Vergangenheit erfahren, heute ist Jonas an der Reihe. Davon abgesehen ist nicht nur das Popcorn zuckersüß. Die Frage ist: geht das so weiter? Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Jonas ist also wieder zurück in Bayern und diejenigen von euch, die befürchtet haben, er könnte das durchziehen, ohne vorher Erik Bescheid zu geben, hatten natürlich völlig recht ;)
Zum Glück haben die beiden in den letzten Wochen an ihrer Kommunikation gefeilt und konnten die große Katastrophe abwenden. Zumindest sieht es derzeit danach aus.

Fun Fact: Ich glaube, ich habe für die paar bayerischen Zeilen von Jonas‘ Oma länger gebraucht als für das restliche Kapitel. (Wer Fehler findet, darf sie– ach, na schön, sagt es mir, wenn etwas nicht stimmt …) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Eher kurzes, aber wichtiges Kapitel.
Die Zahl der Menschen, denen sich Jonas öffnet wächst beständig und dieses Mal ging zum Glück alles gut. Ob das immer so sein wird? Mal sehen. Die größte Hürde hat er ja noch vor sich. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Tja, Jonas. Du kannst nicht einfach Maria nach Berlin einladen und erwarten, dass Christine in Bayern versauert. Blöd gelaufen.

Heute ist es spät geworden und ich fürchte, das wird nicht zum letzten Mal so sein. Der März wird für mich wahrscheinlich noch extrem stressig, also seid vorgewarnt, dass Updates später kommen können oder (im schlimmsten Fall) auch mal ausbleiben. Ich hoffe mal, dass es nicht so weit kommt – einfach, weil das bedeuten würde, dass ich wirklich bis zur Stirn in Arbeit stecke – aber ganz ausschließen kann ich es leider nicht. Ab April wird es vermutlich, naja, vielleicht nicht ruhiger, aber doch wenigstens wieder etwas geregelter zugehen.

Liebe Grüße und ein schönes Wochenende euch allen!
Noxxy Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Heute gab es mal einen seltenen Einblick in Eriks Innenleben – aber ich glaube, wenn Jonas dafür erst überfahren werden muss, lassen wir das in Zukunft lieber bleiben :D

Schönes Wochenende euch allen! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Willkommen zum heutigen Kapitel, in dem Jonas leidet und Erik gluckt :D
Es ist, zugegebenermaßen, ein wenig ein Filler, aber ich wollte euch die ersten Tage ihres Zusammenlebens nicht vorenthalten.

Euch allen ein schönes Wochenende! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Sechsunddreißig Kapitel hat es gedauert, um euch Manni und Hugo vorzustellen :0
Zugegeben, hier nehmen sie eine ziemlich kleine Rolle ein, aber sie waren ein wichtiger Teil von Eriks (und ganz besonders Marcos) Jugend. Auf welche geheimnisvollen Neuigkeiten könnte Hugo angespielt haben? Das erfahrt ihr dann nächste Woche ;)
Ich habe heute spontan einen erheblichen Teil des Dialogs umgeschrieben. Sagt mir also bitte Bescheid, falls euch hier Fehler auffallen sollten.

Wie immer vielen Dank für all die lieben Rückmeldungen, Klicks und Favs. Habt ein schönes Wochenende! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Jonas wollte mehr über Erik erfahren und das hat er jetzt. Vermutlich sogar wesentlich mehr, als beide geplant hatten. So wirklich überraschend kommt Eriks Geschichte dabei vermutlich nicht, aber sie dürfte ein paar bisher leergebliebene Lücken füllen.

Euch allen wie immer ein schönes Wochenende! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Fun Fact: Ich musste einen Teil dieses Kapitels umschreiben, weil just eine Woche nach dessen Fertigstellung die Ehe für Alle beschlossen wurde :D

Außerdem habe ich mich eventuell zu lange mit diesem Chibi-Maker beschäftigt und mal einen Teil des Casts nachgebastelt. Falls ihr also mal einen Blick auf Jonas, Erik, Marco, Drago, Maria und Christine werfen wollt: Hier geht’s lang. Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ankündigung:
Ab nächster Woche habe ich einen neuen Job. Das ist natürlich erstmal was Gutes (und zweitmal, drittmal, usw. auch), heißt aber, dass ich zeitlich etwas weniger flexibel bin als bisher. Deshalb kann es sein, dass sich die Updates gelegentlich verschieben. Ich visiere immer noch den Freitag an und meistens wird das auch klappen, aber es kann sein, dass ein Kapitel mal erst am Samstag oder spätestens Sonntagabend erscheint. Hiermit seid ihr vorgewarnt :)

Schönes Wochenende! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Und damit sind wir bei einem neuen Abschnitt aus Eriks und Jonas‘ Leben angekommen :)

Ich hinke gerade beim Beantworten der Reviews hinterher, daher hier mal allgemein: Vielen, vielen Dank dafür! Ich freue mich über jede einzelne Rückmeldung und werde auch ganz sicher noch einzeln darauf eingehen – allerdings wahrscheinlich erst nächste Woche ^^;

Ein schönes Wochenende euch allen! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Yay. Volles Haus in Berlin! Ich fürchte, Maria hat mal wieder keine Pluspunkte gesammelt, aber ich schwöre, sie meint es eigentlich gut mit Jonas ^^;

Euch allen ein schönes Wochenende :) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Das war also Jonas‘ kleiner Ausflug mit Clemens. Ich glaube, viele von euch hatten die eine oder andere Dummheit befürchtet, aber Jonas ist ein braves Kerlchen (naja, jedenfalls im Großen und Ganzen :D).

Es ist mal wieder Zeit mich für die ganzen lieben Reaktionen zu bedanken! Ich hätte nie gedacht, dass diese Geschichte mal so viele Klicks, Favs und Reviews erhalten würde und freue mich jeden Tag darüber :) Danke!

Euch allen ein schönes Wochenende! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Okay, okay, einen Tag Verspätung hat das heutige Kapitel. Gestern war mein Tag mit Arbeit, Kuchenbacken und Schlafen gefüllt ^^;
Wer nicht weiß, worauf das Kinski-Shirt anspielt googelt bitte: „Klaus Kinski Ausraster“. Danke ;)
Euch allen ein schönes Wochenende! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ha! Da habt ihr sie, die Konfrontation mit den Eltern! Naja, zumindest den ersten Teil davon. Viele hatten sie ja schon letzte Woche in Bayern erwartet – ich hoffe mal, ihr wart nicht zu enttäuscht, stattdessen eine Sexszene zu bekommen ;)

Euch allen ein schönes Wochenende!

PS: Ich hinke mal wieder beim Beantworten der Kommentare hinterher. Sorry! Aber ich lese alles und werde so nach und nach auch die Zeit für eine Antwort finden :) Bis dahin nochmal an dieser Stelle vielen Dank für eure Mühe und lieben Worte! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Da war sie, die große … naja, ‚Aussprache‘ kann man es eigentlich nicht nennen. Aber Jonas‘ Eltern wissen nun Bescheid und ermuss sehen, wie er mit ihrer Reaktion umgeht.

Ein schönes Wochenende euch allen :) Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ziemlich viel los in dem Kapitel, hm? Jonas‘ Comingout ist nun schon eine Weile her, aber auch Monate danach sieht man noch dessen Nachwehen. Außerdem: Hochzeit! Yay!

Oh, und ich wrude auf diesen Song aufmerksam gemacht, der ab jetzt gerne als Titelsong zur Story betrachtet werden darf ;)


Euch allen ein schönes Wochenende! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Ich muss ja ehrlich zugeben, dass ich nicht damit gerechnet hatte, dass euch Jonas‘ Anruf bei seinen Eltern so nahe geht. Wenigstens hat er damit etwas angestoßen, aber ob sein Plan für Weihnachten so aufgeht, wie er sich das im Moment erhofft … Naja, die nächsten Kapitel werden es zeigen. (Ich kann nicht glauben, dass sich die Geschichte inzwischen doch rasant dem Ende entgegen neigt. Noch fünf Kapitel. Naja, vielleicht sechs, eventuell baue ich noch eine kleine Ergänzung ein, aber das weiß ich erst, wenn ich das entsprechende Kapitel korrekturlese.)

Euch allen ein schönes Wochenende! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Okay, später Upload, dafür auch ein langes Kapitel ;)
Und ja, ich hinke mal wieder beim Beantworten der Reviews hinterher. Was schade ist, weil ihr so viele tolle Kommentare zum letzten Kapitel geschrieben habt – ich habe mich echt total über die vielen Rückmeldungen gefreut! So Stück für Stück werde ich das auch nochmal persönlich schreiben, versprochen.

Bis dahin euch allen ein schönes Wochenende! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Autorenkommi:
Heute kommt das Kapitel mit einem Tag Verspätung und dann auch noch unschönem Ende. Sorry. Nächste Woche wird es besser. Vielleicht.

Euch allen noch ein schönes (Rest)Wochenende! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Heute ein eher kurzes Kapitel, aber dafür superpünktlich :D

So wirklich viel Neues hat es zwischen Jonas und seiner Mutter nicht gebracht, aber vielleicht haben sie gerade zumindest einen Waffenstillstand erreicht.

Wie immer vielen Dank für eure lieben Kommentare, Favs und Empfehlungen :) Und euch allen noch ein schönes Wochenende! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Da kommt das Kapitel so spät und dann habe ich auch noch zwei schlechte Nachrichten im Gepäck:
1. Das hier ist das vorletzte Kapitel von Raupe im Neonlicht. Nach Nummer 55 ist Schluss.
2. Das letzte Kapitel kommt sehr wahrscheinlich erst übernächste Woche. Ich bin über das komplette nächste Wochenende nicht zuhause und schaffe es wahrscheinlich nicht, das Kapitel noch vor Abfahrt hochzuladen.
Aber: Dafür bekommt ihr hoffentlich zusammen mit dem Upload des letzten Kapitels einen kleinen Bonus ;)

(Dass ich beim Beantworten der Kommentare hinterherhinke ist ja nix Neues mehr. Ich lese und freue mich, aber im Moment mangelt es mir an allen Ecken an Zeit, um euch die Antworten zukommen zu lassen, die eure tollen Reviews verdient haben. Aber ich hol’s nach, versprochen!)

Euch allen ein schönes Wochenende! Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Das war das letzte Kapitel von Raupe im Neonlicht. Bevor ein bisschen emotionales Blabla kommt, habe ich zwei Ankündigungen für euch.

1. Zusammen mit diesem Kapitel habe ich den ersten One-Shot von Stroboskoplicht online gestellt. Das ist eine kleine One-Shot-Sammlung mit Ausschnitten aus Eriks und Jonas‘ Leben. Die Updates werden sporadisch ausfallen – je nachdem, was Freizeit und Muse so hergeben – dafür dürft ihr Wünsche äußern. Szenen, die ihr vermisst habt, Zukunftsausblicke, Nebenfiguren, etc. Schreibt mir einfach eine PN oder hängt euren Wunsch an ein Review und ich sehe zu, dass er zu gegebener Zeit erfüllt wird. Die erste Geschichte trägt den Titel „Perspektivwechsel“ und vielleicht könnt ihr euch schon denken, wovon sie handelt ;)
2. Außerdem habe ich einen Teaser für Wolken mit Tomatensoße hochgeladen. Ab heute könnt ihr also das erste Kapitel von Eriks und Marcos gemeinsamer Geschichte lesen. Seid nur gewarnt: Ich lade den Rest erst hoch, wenn die Geschichte abgeschlossen und mindestens einmal überarbeitet ist. Das wird leider noch etwas dauern; ich schätze, sie wird frühestens im ersten Quartal 2019 fertig, eher im zweiten. Dafür wird es dann aber aller Wahrscheinlichkeit nach wieder den gewohnten wöchentlichen Upload-Rhythmus geben. Aber hey, ihr könnt sie ja schonmal vormerken, damit ihr kein Update verpasst ;)

Wenn ihr einen Überblick haben wollt, wie weit meine jeweiligen Projekte sind und was ich noch so plane, hilft ein Blick in mein Profil. Ich versuche auch, es halbwegs aktuell zu halten ^^;

So, jetzt das versprochene emotionale Blabla (dürft ihr überspringen, enthält keine wichtigen Infos ;)).
Raupe im Neonlicht war eigentlich nie zur Veröffentlichung gedacht. Die Geschichte entstand zur Ablenkung in einer Zeit, in der einiges nicht so lief wie ich es mir gewünscht hätte und weil ich es nach Abschluss schade fand, sie auf meiner Festplatte verstauben zu lassen, habe ich sie hochgeladen. Ich hätte allerdings nie damit gerechnet, dass sie so viel Aufmerksamkeit generieren würde.
Inzwischen läuft mein Leben wieder deutlich runder und ich will an dieser Stelle einfach Danke für die ganze Unterstützung sagen. Eure Favs, Empfehlungen und Kommentare haben mich teilweise von Woche zu Woche getragen und waren absoluter Balsam für mein angeschlagenes Selbstbewusstsein. Also: Vielen, vielen Dank! Für jedes liebe Wort und auch jedes stille Lesen. Danke!
Jetzt bleibt mir nur noch, mich zu verabschieden und zu hoffen, dass wir uns bei einem meiner anderen Projekte (oh Gott, ich habe so viele Projekte >.<) wiedersehen :) Komplett anzeigen

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Von:  z1ck3
2020-04-30T20:52:51+00:00 30.04.2020 22:52
Ich hatte gar nicht erwartet, dass Jonas Mist baut. Aber irgendwie hat es mich geritten, dass Clemens ihn anspringt.
naja was nicht ist, soll hoffentlich auch nicht werden.... Mit dem Kumpel gibt es sicher Ärger auf der Geburtstagsfeier....
Antwort von:  Noxxyde
01.05.2020 17:18
Haha, ja, Jonas ist ein braver Junge :D
Von:  Usaria
2018-09-23T19:40:05+00:00 23.09.2018 21:40
Hallo Noxxy,

Ich weiß du hast es ja angekündigt, trotzdem finde ich, dass die Geschichte nicht ganz zu Ende erzählt ist. Da gibt es noch so viel Spielraum. Noch sovieles in Jonas Leben zu erzählen. Gut dass du die One-Short Sammlung rein stellst.

Das Kapitel war wieder toll. Bei der Küchenszene fühlt man direkt wie sich Jonas Mutter bemüht ihre Fehler wieder gut zu machen. Aber auch diese angespannte Atmosphäre die zwischen den Beiden liegt. Diese Bedrücktheit, diese unheimliche Stille. Man fühlt wie ein jeder von den Beiden, versucht den Anderen seinen Standpunkt klar zumachen, ohne dabei zu verletzend zu sein. Dass dies nicht immer geht, ist klar.
Die hat Jonas dann schließlich auch eingesehen, (du hast es zwar nicht deutlich geschrieben, aber ich habs aus dem Zusammenhang der Situation jetzt mal so interpretiert), dass wenn er wirklich seiner Mutter klar machen will wie er sich fühlt bzw auch gefühlt hat, dass er sie dann mit der Wahrheit verletzt. Doch anders?
Ja, vielleicht, dann hätte er sich aber bestimmt wieder verstellen oder verleugnen müssen nur um seiner Mutter nicht weh zu tun.
Manchmal ist halt die Wahrheit, vorallem wenn es um Gefühle geht sehr verletztend.
Schön dass du in diesem letzten Kapitel, den Weg für eine Versöhnung bereitet hast. Dann werde ich mal bei dir vorbeischauen.
Ich wünsch dir ne schöne Woche, lieben Gruß Usaria
Antwort von:  Noxxyde
23.09.2018 22:40
Hey :)

Du hast natürlich recht, wirklich fertig erzählt ist Eriks und Jonas' Geschichte nicht. Sie beginnt ja quasi gerade erst. Aber irgendwann muss man doch mal einen Schlussstrich ziehen und das war so der Punkt ab dem ich keine wirklich zusammenhängende Geschichte mehr erzählen konnte. In Stroboskoplicht wird es aber definitiv ein paar Ausblicke auf ihre gemeinsame Zukunft geben (und ich bin sehr, sehr neugierig, was ihr davon haltet ;))

Das freut mich :)
Ich hätte Jonas und seiner Mutter tatsächlich gerne ein noch positiveres Ende gegeben, aber das wollte mir einfach nicht glaubhaft von den Fingern fließen. Da ist irgendwie zu viel Porzellan zerschlagen worden, das jetzt wieder mühsam zusammengeklebt werden muss.
Ich glaube auch, dass Jonas seiner Mutter gegenüber einfach mal sehr deutlich werden musste, damit sie versteht, dass er sich niemals dem Druck, den sie aufbaut beugen wird. Weil er nicht möchte, aber letztlich auch, weil er nicht kann. Jetzt müssen beide sehen, wie sie mit diesem Wissen umgehen. Nötig war diese Wahrheit trotzdem.

Vielen Dank für deine regelmäßigene Reviews, ich habe mich immer sehr darüber gefreut :) Es wäre natürlich wundervoll, wenn du auch an Stroboskoplicht und Wolken mit Tomatensoße Gefallen findest.

LG und einen guten Start in die Woche
Noxxy
Von: abgemeldet
2018-09-22T12:38:20+00:00 22.09.2018 14:38
„Hm, was treiben wir denn dann den halben Tag?“
„‚Treiben‘ find ich schon mal ‘n ganz gutes Stichwort.“
-> haha, schlechtes Wortspiel xD

„Toll, das gibt uns“, er sah auf sein Display, „zwanzig Minuten. Duschquickie?“
-> auch nicht besser ^^

„Schee, dass’d do seids, Buam.“
-> es bleibt dabei, ich liebe Jonas' Oma <3 ich werde sie so vermissen ;____;
(By the way, passt ja super, denn heut heißt's ja auch noch o'zapft is! XD )

Hey, und wir mussten bis zum letzten Kapitel warten, um zu erfahren, dass Jonas' Vater mit Vornamen Martin heißt... Noch eine kleine Überraschung nebenbei ;D

____
Ach Mann, ich bin gerade sehr traurig, dass es jetzt vorbei ist... ;___; aber ich will mich nicht beschweren, ganz im Gegenteil: du hast sie wunderbar ausklingen lassen und alle noch offenen Fragen und Aspekte geklärt.
Wirklich sehr schön, dass Jonas sich mit seiner Mutter ausgesöhnt hat. Klar, dass das nicht hundertprozentig gelingen konnte, aber sie hat sich schliesslich doch überraschend zusammengerissen. Und dass sie gleich überfürsorglich reagiert, spiegelt ebenfalls, dass Jonas für sie immer noch ihr Sohn ist. Ein Glück, es hätte schlimmer enden können!
Und dann diese Überleitung zur gemeinsamen Zukunft von Jonas und Erik. Auch sehr schön, da du es in diesem kurzen Abschnitt schaffst, einen Ausblick über ihre Pläne zu geben. Da bleibt viel Interpretationsfreiraum, den sich nun jeder selbst ausfüllen kann und der eine Fortsetzung ermöglichen würde - sie aber eben auch nicht zwingend notwendig macht. Da ist deine Lösung mit der One-Shot-Sammlung wirklich eine gelungene Idee, da freue ich mich schon drauf :") ich hab auch schon einen Vorschlag: ich würd unheimlich gerne von dem geplanten Sommerurlaub lesen (;
Aber alles in allem ist die 'Raupe' wirklich ein sehr schönes Gesamtwerk geworden! Also, ein großes Lob und Dankeschön für diese wunderbare Story!
Man liest sich~

Viele Grüße
Filika


Antwort von:  Noxxyde
24.09.2018 23:54
Eigentlich ist ja eher Erik für miese Wortspiele verantwortlich, aber Jonas hat doch ein Zeit mit ihm verbracht und sich das eine oder andere abgeguckt xD

Jonas' Oma wird mir auch total fehlen. Auch, wenn ich für ihre paar Zeilen immer ewig brauche, weil weder Dialekt sprechen noch schreiben kann ...

Ich gestehe: Ich hatte völlig vergessen, dass der Name im letzten Kapitel auftaucht ^^; Aber hey, ihr musstet auch bis zum letzten Kapitel warten, um zu erfahren, dass Erik graue Augen hat.

-----
Ich schon auch ein bisschen traurig, dass es jetzt vorbei ist. Aber gleichzeitig freue ich mich auch total darauf, mich auf meine anderen Projekte konzentrieren zu können. Das nutzt euch am Ende ja hoffentlich auch was :D

Schön zu lesen :) Ich hatte schon Angst, das Ende wäre nach allem doch etwas zu abrupt, aber ich wusste auch nicht so recht, wie ich die Geschichte an dieser Stelle noch weiter hätte erzählen soll. Irgendwann muss sie ja doch mal enden.

Das stimmt auf jeden Fall. Jonas bedeutet seiner Mutter unglaublich viel, egal, ob die beiden gerade gut miteinander auskommen oder nicht. Ich denke, ihr war gar nicht klar, wie viel zwischen ihnen kaputtgegangen ist, bis er endlich mal so klare Worte gefunden hat. Irgendwie hat sie eben doch noch gehofft, ihn "auf Linie" zu bringen, wenn sie jetzt nur streng genug ist. Natürlich immer mit dem Gedanken, dass es auf lange Sicht gesehen das Beste für ihn ist. Aber ich denke auch, sie hat es so langsam begriffen und ist bereit, auf Jonas zuzugehen.

Sommerurlaub ist eine gute Idee :D
Ich hatte einfach das Gefühl, dass noch ein paar Sachen ungesagt sind. Man erfährt gerade am Anfang ja doch recht wenig über Erik, dazu kommt für meinen Geschmack die eine oder andere Nebenfigur zu kurz und über Jonas' Vergangenheit erfährt man auch nur ein paar Ausschnitte. Von der Zukunft der beiden ganz zu schweigen. Da dachte ich, dass es ganz nett wäre einfach so ein paar unsortierte Ergänzungen reinzuwerfen.

Danke :) Und vielen Dank für deine lieben Kommentare!

LG Noxxy
Antwort von: abgemeldet
30.09.2018 21:00
Tja, die Beiden gleichen sich eben aneinander an... Was ich übrigens sehr süß finde! Demnächst spricht auch Erik den rebellischen Berliner Großstadt-Slang xD wobei ich mir das bei dem vernünftigen, besonnenen Erik ehrlich gesagt weniger vorstellen kann. Doch man weiß ja nie, und Erik hat häufig genug unter Beweis gestellt, dass er auch ganz anders kann, als er normalerweise vorgibt... ;P

Ich fühle mit dir, Dialekt kann einen töten... Aber sie war eine echte Bereicherung der Story, und ich werde dich immer dafür feiern, dass du dich trotzdem da herangewagt hast, selbst wenn es eine Herausforderung war. Nur weiter so! ;)

Wobei das mit den grauen Augen von Erik eigentlich ein sehr schöner Abschluss war. Wenn ich bedenke, dass das mit das erste ist, was ich selbst in Personenbeschreibungen einbaue, sieht mal mal, wie sich Schreibstile unterscheiden können. Was der Geschichte aber keineswegs einen Abbruch getan hat! Ich finde es bloß sehr interessant zu sehen, wie andere Leute andere Prämissen setzen.
Das wollte ich generell noch einmal zur Geschichte anmerken: Man kann sehr schön eine Entwicklung in deiner Schwerpunktsetzung beobachten. Als sich Eriks und Jonas' Beziehung noch in der Findungsphase befunden hat, lag dein Fokus eher auf expliziten Sexszenen und vor allem von Jonas' sexueller Selbstfindungsphase. Was ich völlig passend und echt klasse finde, denn im Gegensatz zu Erik hatte er ja noch keinerlei Erfahrungen und ist vorbildlich an die Homosexualität herangeführt worden. Wenn ich im Nachgang ans erste Kapitel bzw. die erste Begegnung der Beiden zurückdenke, haben sich wirklich Welten verändert... Doch diesen Prozess zu beschreiben, ist dir wirklich hervorragend gelungen, das muss ich an dieser Stelle einfach mal in den höchsten Tönen loben. So wünsche ich mir die Entwicklung einer jeden guten Geschichte!
Später lag dein Schwerpunkt dann eher auf der Etablierung von Eriks und Jonas' Beziehung. Ab dann sind die familiären Probleme und das Outing in den Vordergrund getreten, und es wurde ruhiger mit dem expliziten Sex. Was ich aber nicht als störend empfunden habe, da es die Geschichte in eine realistische Schiene gelenkt hat. Nach der wilden, aufregenden Anfangsphase reguliert sich der Alltag, und die größeren Probleme müssen in Angriff genommen werden - was auch bei der 'Raupe' der Fall war. Um es kurz zu fassen: Dir ist der Übergang zwischen den beiden 'Phasen' schön fließend gelungen, und mir kam es an keiner Stelle so vor, als trete ein radikaler Stilbruch ein. So verschieden können die Gewichtungen in einer einzigen Geschichte ausfallen, wirklich sehr schön gelungen!

______
Soo, das war jetzt aber lange offtopic xD Aber das wollte ich auf jeden Fall noch einmal lobend anerkennen.
Und auf alles Drumherum zur Hauptstory freue ich mich selbstverständlich auch! Ich werde dran bleiben und fleißig meinen Senf dazu abgeben. Aber toll, dass du die Hauptstory abgeschlossen hast, wie das ja leider häufiger nicht der Fall ist bei guten Geschichten...
Und du hast recht, der Abschluss war gut gesetzt. Man kann eine gute Geschichte auch kaputt reden, wenn man einfach kein Ende finden kann und/oder will... Und die 'Raupe' ist ja schon sehr schön umfangreich, da kannst du wirklich stolz drauf sein!
Also, lass dir alle Zeit, die du für dein Universum brauchst - das Schreiben soll ja vor allem dir Spaß machen und nicht in Stress ausarten ;)

Bezüglich Jonas' Mutter finde ich aber, dass es da nicht einmal die vollständige Aussöhnung braucht. Im Gegenteil: Dadurch, dass sie ihre Skepsis ein Stück weit immer behalten wird, macht das Ganze noch realistischer. Und in der Wirklichkeit passt ja niemals alles perfekt aufeinander. Solange die Beiden weiterhin zueinander halten und Monika ihren Sohn soweit akzeptiert, dass sie sich nicht im Streit entzweien, kann man damit leben. Niemand ist schließlich perfekt - doch Hautpsache, sie bleiben trotzdem eine sich liebende Familie!

Also dann, ich freue mich auf einen Sommerurlaub und all die anderen unsortierten kleinen Details, die noch so folgen werden. Die müssen sich ja auch erst einmal bei dir entwickeln - ich weiß, wie komplex eine Story im Schreibverlauf werden kann, und auch welchen Spaß das immer weiter Ausschmücken macht.
Also, man liest sich! :)

Liebe Grüße
Filika
Von:  Kerstin-san
2018-09-22T09:09:02+00:00 22.09.2018 11:09
Hallo,
 
oh, jetzt ist es vorbei, aber trotzdem ist es ein runder Abschluss geworden. Ich bin echt dankbar, dass du auf ein kitschiges XXL-Happy Ende verzichtest hast, so ist es nämlich viel besser und realistischer. Es kann nicht alles auf einmal gut werden, aber immerhin gibt es bei dir die Perspektive, dass sich so langsam alles beruhigt und normalisiert.
 
Das offene Gespräch zwischen Jonas und seiner Mutter fand ich echt gut, auch wenn sie mal wieder total unterschiedliche Sichtweisen haben, einfach weil sie im Gespräch bleiben und sich seine Mutter Mühe gibt ihren Sohn zu verstehen. Und auch weil Jonas ihr in aller Deutlichkeit zu verstehen gibt, dass es für ihn so nicht weitergehen kann und dass er Erik über sie stellen wird. Das ist dann vielleicht der entscheidende Knackpunkt, der sie dazu bringt sich zurückzunehmen und ihm ehrlich zu sagen, dass sie ihn so wie er ist akzeptiert.
 
Ich freu mich schon auf deine anderen Storys und schnupper da bestimmt mal rein :)
 
Liebe Grüße
Kerstin
Antwort von:  Noxxyde
26.09.2018 19:11
Hey :)

Danke, das freut mich. Ich hätte Jonas gerne ein noch glücklicheres Ende gegeben, aber wie du schon sagst, das wäre einfach nicht realistisch gewesen. Seine Mutter wird keine 180-Grad-Wendung vollziehen, auch, wenn er sich das natürlich wünscht. Die beiden werden weiterhin an ihrer Beziehung arbeiten müssen.

Ja, es war sicher Jonas' deutliche Ansage, die seine Mutter zum Nachdenken angeregt hat. Letztlich hatte sie ja doch immer gehofft, ihn noch zum Umdenken bringen zu können. Natürlich immer mit der Hoffnung, dass es ihm dadurch auf lange Sicht besser gehen würde, aber es war nötig, dass er ihr diesen Zahn zieht - so schmerzhaft das auch für beide gewesen sein mag.
Jetzt müssen die beiden sehen, wie sie weiter miteinander umgehen, aber wenigstens hat Jonas jetzt wieder Raum für sich geschaffen, um sich auf seine Zukunft mit Erik konzentrieren zu können.

Danke, das würde mich sehr freuen :)

Und auch nochmal vielen Dank für die vielen tollen Reviews!

LG Noxxy
Von:  chaos-kao
2018-09-22T07:57:34+00:00 22.09.2018 09:57
Ein wundervoller Abschluss für diese tolle Geschichte. Es ist zwar noch nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen aber auf dem besten Weg dahin. Man verlässt die beiden mit dem Gefühl, dass sie zusammen alles schaffen werden. Ich werde sie vermissen :) Danke dafür, dass du dich dazu entschieden hast die Geschichte der beiden mit uns zu teilen
Antwort von:  Noxxyde
26.09.2018 21:25
Hey :)

Vielen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast, die Geschichte zu lesen und zu kommentieren. Es freut mich unheimlich, dass du sie (und ihr Ende) mochtest.

LG Noxxy
Von:  Onlyknow3
2018-09-21T19:21:08+00:00 21.09.2018 21:21
Sehr schönes Ende, auch das Jonas Mutter einlenkt finde ich super.
Einen besseren start ins neue Jahr, ist doch schön.
Weiter so, freue mich auf die neuen Storys.

LG
Onlyknow3
Antwort von:  Noxxyde
27.09.2018 22:15
Hey :)

Dankeschön und auch nochmal vielen Dank für deine wunderbaren Reviews :) Würde mich sehr freuen, wenn dir auch die anderen Storys gefallen!

LG Noxxy
Von:  Usaria
2018-09-12T18:07:46+00:00 12.09.2018 20:07
Noxxyyyy!!!

Na, Na, Na! Der 60zga muarß nu voi wern!

Du kannst nicht mitten dirn aufhören! Das geht nicht! Bin jetzt zu geschockt um weiter einen Kommi zu schreiben.
Von: abgemeldet
2018-09-08T16:54:53+00:00 08.09.2018 18:54
„Bua, i bin oid, ned bled.“
Ich LIEBE Jonas' Oma <3

Endlich sind die beiden wieder vereint. Und ich habe mittlerweile auch keine Zweifel mehr, dass ihre Beziehung durch irgendetwas beeinträchtigt werden könnte - sonst wäre die Story nicht mit dem nächsten Kapitel vorbei, oder?
Aber mit seiner Mutter wird Jonas wohl nicht mehr richtig warm. Eine echt tragische Sache, wenn man im Streit mit einer seiner wichtigsten Bezugspersonen auseinandergeht :( dennoch wird die Geschichte Recht versöhnlich enden, was ich so lese. Das freut mich natürlich schon ;)
Also, ich bin gespannt aufs letzte Kapitel! Lass dir ruhig Zeit, es soll ja ein würdevoller Abschluss werden :)
Von:  Kerstin-san
2018-09-08T09:05:54+00:00 08.09.2018 11:05
Hallo,
 
also Jonas Oma ist echt cool. So ne lässige Reaktion würde man eher bei jemandem jüngeren Alters erwarten, aber ich lass mich immer wieder gerne überraschen. Von der Dame sollte sich Jonas Mutter und seine halbe Nachbarschaft mal eine Scheibe abschneiden.
 
Hmm, vegetarisches Essen und Plätzchen (lecker!) für Erik gibts auch noch. Das finde ich von Jonas Mutter echt nett! Und dass Jonas und Erik offen miteinander über ihre jeweiligen Ängste und Sorgen reden können, ist für ihre Beziehung echt super wichtig, aber der letzte Satz gibt mir echt nochmal zu denken. Jetzt erwarte ich für das letzte Kapitel irgendwie noch was ganz schreckliches (und hoffe, dass ich falsch liege)...
 
Irgendwie seltsam, dass die Story schon fast zu Ende ist. Ich bin zwar erst relativ spät eingestiegen, aber die ganze Bande ist mir ruck zuck ans Herz gewachsen.^^
 
Liebe Grüße
Kerstin
Von:  Onlyknow3
2018-09-08T08:37:03+00:00 08.09.2018 10:37
Es ist so schön wie die beiden sich entwickelt haben. Selbst Erik merkt das er mit reden bei Jonas weiter kommt.
Es tut gut zu sehen das Jonas außer Erik noch mehr Unterstützung hat als er gedacht hatte.
Was den Skandal angeht, sind das nur Menschen die im Mittelalter noch leben, und jeden ächten der anders ist als sie.
Erik und Jonas haben die Tage in Bayern, gefallen und gut getan.
Wenn auch das nächste Kapitel, das letzte ist freue ich mich darauf und auf was neues von dir.

LG
Onlyknow3


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