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Mallory

von

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Konfrontation mit der Angst

Mallory war vor Angst erstarrt, als sie plötzlich diese Hand spürte, die noch kälter als Eis zu sein schien. Jemand oder etwas stand ganz dicht hinter ihr, sodass sie sogar seinen Atem im Nacken spüren konnte. Sie brachte in diesem Moment nicht einmal einen Schrei zustande. Ihre Hände zitterten heftig und innerlich schrie ihre Stimme verzweifelt danach, laut um Hilfe zu rufen, oder sich einfach umzudrehen. Aber sie konnte es in diesem Moment einfach nicht. Sie hatte vollständig die Kontrolle über ihren Körper verloren. Finnian, der wohl auch merkte, dass etwas nicht stimmte, wandte sich ihr zu und sah, was sich hinter ihr befand. „Mallory!“ rief er und in dem Moment war seine Angst um sie größer als seine Furcht vor Körperkontakt. Er ergriff ihre Hand und zog sie weg und als sie sah, wer da gerade noch hinter ihr gestanden hatte, glaubte sie, den Verstand zu verlieren. Eine Frau mit langem schwarzen Haar und leichenblasser Haut stand da und war vollkommen blutüberströmt. Das komplette Gesicht fehlte, stattdessen fand sie oberhalb des intakten Unterkiefers nur eine widerliche Mischung aus Blut, Fleisch, Knochensplittern und Hirnmasse. Entsetzt schrie Mallory auf und klammerte sich an Finnian fest und selbst Ilias war zu geschockt über diesen monströsen Anblick, als dass er mit der Brechstange hätte angreifen können. Just in dem Moment wurde die Tür zum Wohnzimmer aufgestoßen und ein leicht untersetzter Mann mit Dreitagebart und einer starken Fahne kam auf sie zu. In der einen Hand hielt er einen Nietengürtel und in der anderen eine zerbrochene Bierflasche. Er kam direkt auf Finnian zu und rief mit einem starken irischen Akzent „Da bist du endlich du verdammter Bengel. Komm sofort her, oder ich muss davon wieder Gebrauch machen. Willst du, dass ich wieder wütend werde?“ Finnian schrie in nackter Todesangst, als er den Mann sah und wich zurück, wobei er die Arme hob, um sein Gesicht zu verstecken. „Na los! Komm endlich her, oder soll ich erst deutlicher werden?“

„Nein, lass mich in Ruhe! Verschwinde!!!“ Der Mann erhob seinen Arm und schlug mit dem Nietengürtel zu. Die Schnalle traf Finnians Arm und dieser schrie vor Schmerz auf. Doch das brachte den Säufer noch mehr in Rage und er warf die Bierflasche nach ihm. Sie traf ihn dieses Mal direkt im Gesicht und zerbrach seine Maske. Benommen von dem Schlag taumelte Finnian weiter zurück und konnte nicht rechtzeitig reagieren, als der Mann ihn wieder mit dem Nietengürtel schlug und ihn dieses Mal an der Brust traf. Sein Gesicht verzog sich vor Schmerz und er versuchte, einen weiteren Schrei zu unterdrücken. Als ein weiterer Hieb ihn direkt gegen die Stirn traf, stöhnte er auf und sank zu Boden. „Hör auf zu winseln, du Flasche. Und jetzt will ich, dass du aufstehst und die Hände an die Wand legst, das Gesicht zur Wand!“ „Nein, bitte… ich will das nicht…“ Obwohl Finnian kräftemäßig eine reelle Chance gegen diesen Mann hatte, war er nicht imstande, sich gegen ihn zu wehren. Die Angst beherrschte ihn vollständig und in dem Moment wirkte er wie ein kleines Kind, das vom cholerischen Vater verprügelt wurde. Der Säufer zerrte ihn hoch, riss ihm die Mütze vom Kopf, packte ihn an den Haaren und stieß seinen Kopf gegen die Wand. „Wenn du es nicht machst, dann werde ich es tun.“

„Nein, bitte hör auf…“

Ilias vergaß für einen Moment die monströse gesichtslose Frau und schlug dem Angreifer seines besten Freundes die Brechstange gegen den Hinterkopf. Doch statt Blut spritzte eine vollkommen pechschwarze Flüssigkeit, die so schwarz war, dass sie sogar das Licht zu absorbieren schien. Bewusstlos oder vielleicht auch tot brach der Mann zusammen, wobei er Finnian losließ. Mallory ihrerseits hob ihre Waffe und schoss der gesichtslosen Frau in die Brust und konnte sie somit außer Gefecht setzen. „Schnell, wir müssen hier weg!!!“ rief sie den anderen zu und ergriff Ilias’ Arm. Dieser steckte die Brechstange wieder ein, damit er seine andere Hand frei hatte, um Finnian zu fassen zu bekommen. Er zog ihn mit sich, als sie fluchtartig das Haus verließen und die Straße entlang eilten, bis sie weit genug weg waren, um kurz in einer kleinen Seitengasse zu verschnaufen und sich zu sammeln. Kaum, dass sie stehen blieben, sank Finnian zu Boden und kauerte da wie ein kleines Häufchen Elend, während er am ganzen Körper zitterte und das Gesicht in den Händen verbarg. Auch Mallory stand völlig neben sich und konnte nicht fassen, was da gerade passiert war. Was um Gottes Willen war das bloß für eine Kreatur gewesen, deren Gesicht bloß noch aus Fleisch, Knochensplittern und Hirnmasse bestand? Als dieses entsetzliche Bild wieder vor ihr auftauchte, begann ihr Magen zu rebellieren und sie konnte es dieses Mal nicht mehr zurückhalten. Unter Krämpfen erbrach sie sich und stützte sich dabei an der Wand ab. Der Schmerz in ihrem Kopf begann zu pulsieren und gegen ihre Schläfe zu drücken. Nur mir Mühe konnte sie einen weiteren Brechreiz unterdrücken und dieses furchtbare Bild aus ihrem Kopf verbannen. Aus ihrer Handtasche holte sie eine angebrochene Flasche Wasser und trank einen Schluck, um den säuerlichen Geschmack wieder loszuwerden. Ilias legte einen Arm um ihre Schulter. „Geht es wieder?“

„Ich glaub schon“, murmelte sie etwas benommen und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Scheiße, was zur Hölle war das bloß für ein Monster?“

„Vermutlich Josephines letzte Warnung an uns. Sie will uns mit aller Macht wieder vertreiben und schreckt offenbar vor gar nichts mehr zurück.“ Mallory wandte sich an Finnian, der immer noch auf dem Boden kauerte und sich so klein gemacht hatte, dass er tatsächlich wie ein kleines Kind wirkte. Er war völlig aufgelöst und durcheinander. Sie kniete sich neben ihm hin und versuchte, ihn anzusprechen. So wie er sich verhielt und wie der Mann vorhin gesprochen hatte, ahnte sie, warum er so verstört war. Dieser Mann musste sein Vater gewesen sein. Und sie erinnerte sich wieder, was sie alles aus seiner düsteren Vergangenheit erfahren hatte. Finnian war vor seiner Ankunft in Dark Creek mehrmals schwer misshandelt worden, das hatte Lewis ihr am Abend nach dessen Anfall erzählt. Sein ganzer Körper war von Narben, alten Brandwunden und blauen Flecken gezeichnet. Narben von Verbrennungen durch Zigaretten und einem Bügeleisen, außerdem von Striemen an seinem Rücken und eine Narbe an seinem Hals, die von einer alten Schnittwunde herrührte. Immer wenn er von seinem betrunkenen Vater vergewaltigt worden war, hatte er sich die Hände blutig gebissen, um diese Tortur irgendwie ertragen zu können. Er hatte mit seinem kleinen Bruder Keenan jahrelang in der Hölle gelebt, bis es schließlich zu einer Tragödie kam. Keenan, der der einzige Halt für Finnian war, starb und das konnte sein großer Bruder nicht verkraften. Der einzige Lichtschimmer in seiner inneren Finsternis war verschwunden und das hatte ihn gebrochen. Daraufhin war er mit der Leiche seines kleinen Bruders nach Dark Creek gekommen und wurde ein Gefangener in seiner eigenen Welt, in der Keenan noch lebte und gesund war. Doch obwohl er die schrecklichen Erinnerungen an den Tod seines Bruders, an die jahrelange Misshandlung und die unzähligen Vergewaltigungen verdrängt hatte, waren doch Narben geblieben. Sowohl körperliche als auch seelische. Seitdem versteckte er seinen Körper vor anderen und trug eine Maske, weil er sich dafür schämte, dass er vergewaltigt worden war. Und er konnte auch deswegen niemals einem anderen in die Augen sehen, da er Angst hatte, dass man sehen konnte, wie es hinter seinem ausgelassenen Lachen und seiner fröhlichen Art wirklich aussah. Und er wollte auch nie wieder von jemandem angefasst werden, deshalb hielt er seine Mitmenschen auf Abstand und verstrickte sich in unzählige Lügengeschichten, die er schließlich selbst zu glauben begann, um sich vor der Wahrheit zu schützen. Acht Monate lang ging das gut, doch nun war er mit seinem größten Alptraum konfrontiert worden. Sein Vater war wieder da und damit begann der ganze Terror noch mal für ihn. Das musste für ihn wirklich die Hölle sein. Mallory hätte ihn nur zu gerne getröstet, aber sie wusste, dass sie es nur schlimmer machte, wenn sie ihm zu nahe kam. „Finny, wir werden nicht zulassen, dass er dir je wieder etwas antut. Das versprechen wir dir. Wenn er dir nur ein einziges Mal zu nahe kommt, bringe ich ihn um!“

„Wir sollten ihn nach Hause bringen und die Sache besser abbrechen, das schafft er nicht. Das ist einfach zu viel für ihn.“ Doch Mallory verfolgte ihre eigenen Gedanken.

„Genau das haben die Zwillinge bezweckt. Sie fahren schweres Geschütz auf, nur um uns von hier zu verjagen. Dabei schrecken sie nicht mal davor zurück, Finny mit seinem Vater zu konfrontieren. Ich will lieber nicht wissen, was da noch kommen könnte.“

„Deshalb sollten wir besser gehen.“

„Nein, ich gehe ganz sicher nicht. Das ist es doch, was die Zwillinge wollen! Sie wollen uns Angst einjagen und uns dazu bewegen, von hier zu verschwinden. Lewis hat es auch geschafft, also können wir es theoretisch auch. Allerdings kann ich nicht von Finny verlangen, dass er sich das alles antut, das sehe ich ja auch ein. Du kannst ihn gerne nach Hause bringen, aber ich bleibe hier.“

„Ich verstehe dich einfach nicht“, rief Ilias plötzlich und erschrocken über diese heftige Reaktion zuckte Mallory zusammen. Er war bisher noch nie laut geworden, aber diese Begegnung mit Finnians Vater und dieser monströsen Frau und die Geschehnisse der letzten Zeit waren endgültig zu viel und seine Hilflosigkeit wurde zur Aggression. „Nach alledem, was vorgefallen ist, willst du immer noch dieses Risiko eingehen? Was soll denn bitteschön noch passieren, bis du endlich aufhörst?“

„Glaubst du etwa, das macht mir Spaß?“ entgegnete nun Mallory in einem lauten Tonfall und stand auf, um ihm direkt ins Gesicht zu sehen. Auch sie war wütend, allerdings nicht auf ihn, sondern einfach auf die ganze Situation, in welche man sie alle gebracht hatte. „Ich würde am liebsten auch einfach abhauen und die ganze Sache vergessen, aber das bringt doch alles nichts. Ich will nicht so enden wie Lewis und vom Dach springen, weil ich nicht mehr weiter weiß und noch verrückt werde, weil ich hier festsitze. Lewis hat es ganz klar zum Ausdruck gebracht: Niemand von uns wird jemals frei sein, solange wir vor der Wahrheit davonlaufen. Er hat seinen Ängsten ins Auge gesehen und ich will es auch tun, weil ich nach Hause zu meiner Familie will. Und ich will herausfinden, was mit meiner leiblichen Familie passiert ist, was aus Laura geworden ist und wieso Josephine damals dieses Massaker angerichtet hat. Okay, ich habe Angst, verdammt große Angst sogar. Jedes Mal, wenn ich diese schrecklichen Bilder sehe, bekomme ich Panik und entsetzliche Kopfschmerzen und am liebsten würde ich nur davonlaufen. Aber das wird keinem von uns etwas nützen. Wir müssen uns endlich unseren Ängsten stellen und die Wahrheit akzeptieren. Das hat auch Lewis von uns gewollt!“ Diese Worte hatten gesessen und nun wich auch Ilias’ Wut wieder und traurig wandte er den Blick von ihr ab. „Entschuldige, ich wollte dich nicht anschreien. Ich weiß ja, dass es auch für dich nicht leicht ist. Aber ich habe Angst um dich und die anderen. Ich könnte es nicht ertragen, nach Lewis auch noch euch zu verlieren.“ Ihn so zu sehen, ließ auch Mallory ihre Wut wieder schwinden und sie umarmte ihn. Er wollte sie genauso beschützen, wie sie ihn und Finnian und Dean beschützen wollte. Sie beide hatten Angst davor, im entscheidenden Moment zu versagen und ihren Freunden nicht helfen zu können. Und da musste sie sich wieder an ihre Schwester Laura erinnern. Sie hatte sie immer beschützt und getröstet, weil sie immer so ein Angsthase war und oft geheult hatte. Laura hatte vor allem Möglichen Angst gehabt. Angefangen von Spinnen und Ratten bis hin zu Hunden und sie hatte sich immer an ihre ältere Zwillingsschwester geklammert und sich immer hinter ihr versteckt. Mallory hatte schon damals hingegen vor nichts dergleichen Angst gehabt und sich sogar mit Jungs angelegt, was sich normalerweise kaum einer traute. Egal was auch war, sie war immer für Laura da gewesen. Immerzu hatte sie ihre Schwester beschützt… und noch jemand anderen. Ja, da war noch jemand gewesen, den sie damals beschützen und dem sie helfen wollte. Aber sie hatte es vergessen.

Was war nur aus Laura geworden und war sie vielleicht noch am Leben?

Langsam löste sich Mallory wieder von Ilias, denn sie sorgte sich um Finnian. Dieser kauerte immer noch völlig verstört am Boden und murmelte etwas vor sich hin. „Finny, steh auf. Wir können nicht hier bleiben.“

„Ich… ich will das nicht mehr…“, brachte er mit zitternder Stimme hervor und seine Augen waren vor Angst und Entsetzen geweitet. Mallory kniete sich neben ihm hin und führte vorsichtig ihre Hand näher an ihn heran. „Hab keine Angst, es wird dir nichts passieren. Wir sind ja bei dir.“ Sie legte ihre Hand auf seine Schulter und zuerst zuckte er zusammen, aber langsam beruhigte er sich wieder. Wahrscheinlich, weil Mallorys sanfte und beruhigende Art ihn an Lewis erinnerte. Zum ersten Mal nahm Finnian Blickkontakt auf und nun sah sie auch erstmals, dass er die gleiche Augenfarbe hatte wie sie: Ein strahlendes unverfälschtes blau. Und sie sah auch die Angst in seinen Augen und die Verzweiflung. In diesem Moment waren es aber plötzlich nicht mehr Finnians Augen, stattdessen tauchte ein anderes Bild vor ihren Augen auf, nämlich das von Anna. Sie sah das kleine Mädchen mit Tränen in den Augen auf dem Boden kauernd und nun hatte sie nicht mehr diese starren und leblosen Puppenaugen wie zuvor. In dieses sonst so bleiche und regungslose Gesicht war Leben zurückgekehrt und mit zitternder Stimme rief sie „Nein, komm mir nicht näher! Fass mich nicht an!“ Sofort zog Mallory ihre Hand zurück, als sie realisierte, dass das nicht Annas, sondern Finnians Worte gewesen waren. „Entschuldige, das wollte ich nicht.“ Zuerst fürchtete sie, er könnte wieder in Angst verfallen, doch überraschenderweise stand er auf und sammelte sich wieder. „Es geht schon wieder. Alles in Ordnung.“

„Keine Sorge, wir werden nicht zulassen, dass dich dieses Drecksschwein noch einmal anfasst.“ Es kostete Finnian unglaublich viel Mühe, sich zusammenzureißen und seine Angst zu unterdrücken. Innerlich litt er immer noch, denn diese entsetzlichen Erinnerungen zu verdrängen war nun nicht mehr so einfach wie zuvor und es stand zur Befürchtung, dass er jeden Moment wieder einen Anfall erleiden könnte. Sie mussten gut auf ihn Acht geben. Mallory verließ als Erste die Gasse, da sie die Pistole in der Hand hatte und sie bereitete sich darauf vor, sofort zu schießen, wenn jemand sie angreifen sollte. Doch als sie sich umsah, konnte sie niemanden entdecken und so gab sie Entwarnung an die anderen. Ilias blieb dicht bei seinem besten Freund, um ihm beizustehen und hielt selbst die Brechstange bereit. Sie gingen nach rechts und erreichten die erste Achterbahn. Die Waggons waren einfach auf der Strecke geblieben und die künstlichen Teiche waren mit Algen zugewachsen. Außerdem trieben tote Fische an der Oberfläche. Am Eingang hing ein Schild und darauf stand „Farewell Ride“. Irgendwie ein seltsamer Name für eine Achterbahn. „Hey, da sind doch Anna und Dean!“ Mallory folgte Ilias’ Fingerzeig und konnte tatsächlich Anna entdecken, die den 10-jährigen an der Hand hielt und mit ihm in Richtung der Achterbahn verschwand. „Dean!“ rief Ilias und tatsächlich blieben er und Anna stehen und sahen zu ihnen herüber. Im selben Moment stürzte sich etwas auf Mallory und packte sie an der Kehle. Es war die gesichtslose Frau. Sofort schoss Mallory und traf die Frau in die Brust und in den Kopf. Vier Male schoss sie, dann brach das Monster zusammen. Doch schon kam Verstärkung herbei. Von allen Seiten her kamen immer mehr menschenähnliche Wesen herbei, die vollkommen weiß waren und sich unbeholfen bewegten wie Puppen, die gerade erst selbst das Laufen erlernt hatten. Sie wankten und ihre Gesichter waren starr und unbeweglich, genauso wie ihre Augen. Ilias schlug mit der Brechstange zu und traf eine der Kreaturen am Kopf, woraufhin der Schädel in Stücke zerbrach. Und mit Entsetzen erkannte Mallory, dass es keine Menschen waren, sondern Statuen. Ihre schlimmsten Alpträume waren zum Leben erwacht und machten nun Jagd auf sie. Schnell erhob sie erneut die Pistole und schoss einer Statue, die Finnian mit einer Axt angreifen wollte, in den Kopf. „Aufhören!!!“ rief Anna plötzlich zu ihnen herüber und in dem Moment zerbrach die Beretta in Mallorys Hand in ihre Einzelteile. Im nächsten Moment griff eine der Statuen sie an und nur ein Sprung zur Seite konnte sie retten. Schon war Finnian zur Stelle, der mit einem gezielten Roundhouse Kick die Statue in die Brust traf und wegschleuderte. „Mallory, Ilias und ich regeln das hier schon. Geh schon!“ Da Anna ihre Beretta zerstört hatte, war Mallory vollkommen unbewaffnet und damit bloß ein leichtes Ziel. Sie musste einfach darauf vertrauen, dass Ilias und Finnian es schaffen konnten. Also lief sie zur Achterbahn, wohin Anna und Dean verschwunden waren. Hoffentlich tat Anna dem Jungen nichts an. Hinter sich hörte sie, wie ihre beiden Freunde gegen diese Monster kämpften und wieder befiel sie die Angst, dass sie es nicht schaffen würden und sogar sterben könnten. Alles Schönreden half da nichts, die Chancen standen leider nicht sehr gut. Ilias hatte entsetzliche Angst vor Statuen und er hatte nur deshalb so stark sein können, weil sein Wunsch, seine Freunde zu beschützen, viel größer war als seine Angst. Und wer weiß wie Finnian sich machen würde, wenn er wieder auf seinen Vater treffen würde. Josephine und Anna hatten sich wirklich etwas Hinterhältiges einfallen lassen, sie alle mit ihren schlimmsten Ängsten zu konfrontieren. Aber… wer war diese gesichtslose blutüberströmte Frau gewesen? Sollte sie etwa tatsächlich ihre schlimmste Angst darstellen? Nun gut, sie hatte furchtbare Angst vor Blut, aber sie verstand nicht, was es mit dieser Frau auf sich hatte. Ob es sich bei der Frau um eine Person aus ihrer Vergangenheit handelte?

Sie bog um eine Ecke und sah, wie Dean und Anna in Richtung einer Spiegelkammer verschwanden. Na toll, dachte Mallory und versuchte nun schneller zu laufen, um sie vorher einzuholen. Diese elenden Spiegelkammern hatten sie schon als Kind immer in den Wahnsinn getrieben, weil sie nie den Ausgang gefunden hatte und ewig festsaß, bis ihre Pflegeeltern oder Edna sie rausgeholt hatten. Auch in Labyrinthen hatte sie einen katastrophalen Orientierungssinn und wäre jedes Mal darin versauert, wenn sie nicht bei ihrer Familie geblieben wäre. „Bleibt stehen!“ rief sie und beobachtete, wie die beiden Kinder im Inneren verschwanden. „Verdammt noch mal, wartet!“ Es nützte nichts, die beiden waren bereits in der Spiegelkammer drin. Wohl oder übel musste Mallory ihnen folgen und sie hoffte, dass es nur ein einfacher Durchgang war, bei dem wenigstens nicht die Gefahr bestand, dass sie sich verlaufen könnte. Doch schon als sie durch das Drehkreuz gegangen war und überall die Spiegel sah, in denen Dean und Anna in verschiedene Richtungen verschwanden, wurde sie in ihrer schlimmsten Befürchtung bestätigt. Es war ein Labyrinth. Irgendwie hatte sie wirklich nur Pech…

Sie lief den Gang geradeaus und folgte einem engen Gang, in welchem überall Spiegel hingen. Sogleich tauchte von allen Seiten ihr Spiegelbild auf und brachte sie nun völlig aus der Konzentration. Überall sah sie Bewegungen und sie konnte nicht mal mehr erkennen, wo sie weitergehen konnte. Ihr Gehirn war mit dieser plötzlichen Reizüberflutung vollkommen überfordert und spielte ihr Trugbilder vor. Sie musste ihre Hände zur Hilfe nehmen, um nicht noch gegen einen Spiegel zu laufen. Warum nur musste es ausgerechnet ein Spiegellabyrinth sein? „Dean!“ rief sie und versuchte, etwas schneller zu laufen, aber als sie sich kurz zur Seite umsah, knallte sie auch schon gegen einen Spiegel und taumelte kurz zurück. „Dean! Anna!!!“ Sie hörte rein gar nichts, nur ihre eigenen Schritte und außer ihren eigenen Spiegelbildern konnte sie auch nichts erkennen. Egal wohin sie auch blickte, sie sah nur sich selbst in diesen vielen Spiegeln und es schien kein Ende nehmen zu wollen. Durch diese unzähligen Reflexionen spiegelte sie sich nicht nur ein Mal, sondern gleich tausende Male in einer Reihe wider, wodurch sie vollkommen orientierungslos wurde. Sie rief erneut nach ihrem kleinen Freund, hörte aber rein gar nichts. Dafür aber sah sie einen Schatten hinter sich und erkannte entsetzt, dass es wieder die gesichtslose Frau war. „Mallory…“, brachte diese hervor und streckte ihre knochigen Hände nach ihr aus. Mallory schrie auf und rannte los, doch da prallte sie wieder gegen einen Spiegel und presste eine Hand gegen die schmerzende Stelle, wo sie gegen das Glas geschlagen war. So ein Mist, dachte sie und versuchte, den nächsten Gang zu ertasten. So kam sie garantiert nicht weiter. Diese vielen Spiegelbilder verwirrten sie nur und machten es ihr sehr schwer, überhaupt zu erkennen, wohin sie gehen musste.

Eine eiskalte Hand ergriff sie am Arm und zerrte sie zurück. Die gesichtslose Frau, die eigentlich nicht mal einen richtigen Mund, sondern höchstens einen intakten Unterkiefer ohne Zunge hatte, hielt sie so fest, dass es schon schmerzhaft war. „Lass los!“ rief Mallory und versuchte, ihre Angreiferin wegzustoßen, doch diese packte auch ihren anderen Arm. Blut strömte aus ihrem zerfetzten Gesicht und floss aus den Schusswunden. Die 24-jährige wehrte sich nach Leibeskräften, aber sie war nicht stark genug. „Mallory…“, krächzte diese Kreatur hervor und zog sie näher an sich heran. Nun bekam Mallory richtig Angst, denn sie fürchtete, dass dieses Ding sie gleich hier und jetzt umbringen würde. So etwas kann es doch nicht geben, dachte sie und konnte nur mit Mühe eine Panik unterdrücken. Das ist bloß ein furchtbarer Alptraum. Bitte lass mich in einem einfachen Motel aufwachen und realisieren, dass diese ganze Scheiße hier nur geträumt ist und dass ich niemals nach Dark Creek gekommen bin. Bitte lass diesen Alptraum endlich vorbei sein!

Doch es war kein Traum, sondern die nackte Realität. Und mit Entsetzen sah sie dieses entsetzliche Gemisch aus Blut, Fleisch, Hirnmasse und Knochensplittern, wo früher vielleicht mal ein menschliches Gesicht gewesen war. „Mallory…“

„Was willst du von mir?“

„Mein Gesicht… ich will mein Gesicht…“

„Ich… ich habe dein Gesicht nicht!“

„Doch. Du hast es mir genommen, du Diebin. Du hast mir mein Gesicht genommen und ich werde es mir wiederholen. Ich werde mir einfach deines nehmen.“ Es mochte am plötzlichen Adrenalinschub liegen oder daran, dass Mallory aus lauter Panik all ihre Kraftreserven mobilisierte, aber es gelang ihr mit einem Aufschrei der Todesangst, ihre Angreiferin von sich zu stoßen. Diese fiel nach hinten und stieß mit dem Hinterkopf gegen einen der Spiegel, woraufhin dieser von Blut völlig verschmiert wurde. Mallory nutzte diese Chance und tastete sich, so schnell sie konnte, weiter voran, um bloß schnell von dieser Kreatur wegzukommen. Diese Kreatur wollte ihr Gesicht haben, aber warum? Mallory verstand die Welt nicht mehr, sie verstand sowieso überhaupt nichts mehr. Was war das nur für ein Monster und wieso passierte das hier alles nur? Alles in dieser Stadt ergab überhaupt keinen Sinn mehr und sie fragte sich, was Lewis hier wohl durchmachen musste. Er war ganz alleine hier gewesen, ohne Hilfe. Was für Schrecken hatten wohl auf ihn gewartet?

„Du wirst mir nicht entkommen, Mallory!“ Die eiskalte Hand der gesichtslosen Frau bekam sie an den Haaren zu fassen und riss sie brutal nach hinten. Mallory schrie auf und versuchte, sich irgendwo festzuhalten oder sich aus dem Griff zu befreien, doch die Frau war einfach zu stark für sie. Ohne eine Waffe hatte sie nicht die geringste Chance, gegen dieses Monster anzukämpfen. Sie war einfach nicht stark genug, sie war noch nie stark genug gewesen… Sie war schwach…

„Und jetzt wirst du sterben, du Miststück.“ Mallorys Sicht verschwamm hinter den vielen Tränen und ein dicker Kloß verstopfte ihren Hals. Nicht einmal einen Schrei brachte sie zustande. Jetzt war es endgültig aus, das wusste sie. Hier und jetzt würde sie in diesem Vergnügungspark sterben und hinterher genauso aussehen wie diese gesichtslose Frau. Bitte, irgendjemand muss mir helfen. Ich will hier nicht sterben…
 

Ein Schrei ertönte und in dem Moment löste sich der Griff. Mallory stolperte nach vorne und verstand nicht, was da gerade passiert war. Hatte da gerade jemand ihre Gebete erhört? War da gerade ein gottverdammtes Wunder geschehen? Sie sah die gesichtslose Frau zu Boden fallen und inmitten der sich ausbreitenden Blutlache Josephine stehen, die eine Machete in der Hand hielt. Ihr Gesicht und auch ihre Hände waren voller Blut. Nein, das war kein Wunder gewesen. Jetzt stand Josephine bewaffnet vor ihr und so wie sie aussah, würde sie diese Waffe auch noch mal benutzen. Und Mallory hatte nichts, womit sie sich wehren konnte. Ihr blieb nur noch die Flucht durch dieses verfluchte Spiegelkabinett.



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