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Roadtrip

von

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Planlos

Die Landschaft zieht an uns vorbei, während ein stetiger Windhauch uns um die Ohren peitscht. Die scheiß Klimaanlage ist kaputt und zu allem Überfluss auch das Radio, weshalb ich die furchtbare Musik meines Beifahrer ertragen muss.

Schlimmer ist jedoch die Hitze. Schweißperlen rinnen unaufhörlich über unsere Stirn und ich bin froh, dass ich für den eigentlichen Ausflug genug zu Trinken eingepackt habe. Jedoch wird uns das Wasser nicht ewig davon abhalten, nicht irgendwann zu schmelzen.

Ich muss grinsen, obwohl es gar nicht lustig ist.

Wir hätten nicht den alten VW nehmen sollen, aber für diese Erkenntnis ist es eindeutig zu spät. Trotzdem. Ich blicke grimmig auf das Lenkrad in meinen Händen. Wer hätte auch ahnen sollen, dass dieser Wagen eine einzige Schrottkiste ist! Ich hoffe nur, dass wir nicht irgendwann eine Panne haben. Das könnte nämlich sehr unschön für uns enden, noch ehe wir unser Ziel erreicht haben.

Ich seufze unbemerkt und sehe flüchtig zu meinem Beifahrer. Er hat den Kopf gegen die Scheibe gelehnt und blickt nach draußen. In Händen hält er die Karte, die uns leiten wird - oder auch nicht.

Aber die Karte ist es nicht, was mich beschäftigt, sondern tatsächlich er selbst. Ausgerechnet er. Nicht etwa mein bester Freund oder überhaupt ein Freund von mir. Nein, es musste Jannis sein. Dabei habe ich mit ihm eigentlich nichts zu tun, außer vielleicht der Tatsache, dass ich es lustig finde, ihm auf die Nerven zu gehen.

Sicher ist er von mir als Mitfahrer auch nicht begeistert. Aber es hat ja auch keiner gesagt, dass wir diesen Plan bewusst geschmiedet hätten. Wobei man nicht wirklich sagen kann, dass wir einen Plan hätten. Im Gegenteil. Wir sind nur zwei Teenager, die einen absurden Gedanken hegen, aber nicht gewillt sind, diesen fallen zu lassen. Vielleicht gibt es also eine leichtere Route. Eine einfachere, schnellere, kürzere. Aber das ist uns egal. Wir gehen einfach danach, welcher Städtenamen gut klingt oder welche Route am besten aussieht.

Wenn ich irgendwem erzählt hätte, dass ich das hier mal erleben werde, er hätte mir den Vogel gezeigt. Ich hätte mir wahrscheinlich selbst den Vogel gezeigt. Es ist ja auch jetzt, wo ich live dabei bin, irgendwie irreal und vor allem extrem dumm.

Was uns geritten hat, diese Idee trotzdem zu verfolgen? Ich kann es im Nachhinein nicht mehr sagen, aber irgendwie führte eines zum anderen. Begonnen hat all das jedenfalls mit einem Schulausflug, der endete, ehe er angefangen hat…

Es endet, ehe es begonnen hat

Mit fertig gepackter Tasche stehe ich an der Bushaltestellte und warte auf Micha. Micha, eigentlich Michael, ist mein bester Freund seit… schon immer. Wir kennen uns schon, seit unsere Mütter sich nach der Geburt im Krankhaus ein Zimmer teilten. Wir waren gemeinsam im Kindergarten, in der Grundschule und nun sind wir gemeinsam auf einem Gymnasium hier in Aschaffenburg. Theoretisch gesehen unternehmen wir alles zusammen: Weiber aufreißen, Saufen gehen und natürlich in unserer freien Zeit sinnlos in der Gegend herumgammeln. So gesehen gibt es uns nur im Doppelpack.

Deshalb freue ich mich auch schon sehr auf das Schullandheim, wenn auch als Einziger in der Klasse. Aber Schullandheim verspricht viele neue Möglichkeiten, mit Micha so richtig auf den Putz zu hauen. Abgesehen davon bietet es mir die Chance, ein wenig Abstand von zu Hause zu bekommen. Meine Eltern, selbsternannte Pädagogen, haben den Sinn von Erziehung nämlich falsch verstanden und einfach einen Drill, ähnlich dem in der Bundeswehr, daraus gemacht.

Während ich noch sinniere, was Micha und ich anstellen könnten, taucht eben jener auf. Oder besser, er brüllt meinen Namen quer über den halben Schulhof („SAAAAM!“) und legt die letzten Meter, die uns trennen, im Laufschritt zurück.

„Bereit für die große Fahrt?“, grinst er mich an und wuchtet seine Reisetaschen neben uns auf den Boden. Ich höre das verdächtige Klirren von Flaschen und ahne, dass das nicht nur harmloses Wasser ist, das er da eingepackt hat. Ich muss grinsen. „Natürlich.“

Und während wir uns gerade richtig doll freuen, dass wir so cool sind, Alkohol mitgenommen zu haben, fährt der Grund vor, der uns das Grinsen förmlich aus dem Gesicht fegt: Herr Köpke. Wir seufzen synchron.

„Warum schicken sie uns diesen alten Miesepeter mit?“, fragt Micha sogleich und wir sehen zu besagtem Miesepeter.

Herr Köpke, seines Zeichens Geschichts- und Mathematiklehrer, ist wohl der strengste Lehrer der gesamten Schule. In eigentlich jeder Stunde findet er einen Grund, mindestens einem Schüler eine Strafarbeit aufzubrummen und generell kann er auch keinen Schüler leiden, begegnet allen mit feindlichem Gesicht und Argwohn. Bei manchen Schülern, wie zum Beispiel uns, ist das vielleicht gerechtfertigt, aber mindestens genauso oft ist das völlig unbegründet.

Zudem ist der gute Mann sicher schon über Hundert. Angeblich 68, aber das glaubt keiner, bei den vielen Falten, die sein Gesicht zieren. Das er noch nicht in Rente ist, ist noch ein weiterer Grund, der deutlich gegen ihn spricht.

„Vielleicht, um uns das letzte bisschen Spaß auch noch zu vermiesen?“

Zumindest das letzte bisschen Spaß, dass wir dem Ganzen zu geben im Stande gewesen wären. Mein Blick fliegt wieder auf Michas Reisetasche. Wenn der Köpke uns beim Saufen erwischt, killt er uns. Ganz sicher.

Ich sehe erneut zu dem Alten, der mit steifen Gliedern aus seinem Wagen – einem alten VW Golf, als könnte er sich nichts Besseres leisten – steigt und mit grimmiger Miene zu uns starrt. Schnell schau ich weg, nicht, dass ich ihm am Ende noch mit seiner Tasche helfen soll.

„Möglich wär’s,“ geht Micha auf meine Aussage ein und zuckt dann mit den Schultern. „Aber wir machen trotzdem Party, nicht?“

Ich nicke - schon alleine, weil er einen wild entschlossenen Blick aufgesetzt hat, der kein Widerwort duldet und ich den Ausflug eh nicht ohne Alkohol überstehen werde - und sehe angestrengt in eine andere Richtung, während ich aus den Augenwinkeln wahrnehme, wie der Köpke seine Tasche im bereitstehenden Bus unterbringt und sich dann mit dem Fahrer unterhält.

Und in genau diesem Moment entdecke ich ihn. Unseren kleinen Emo, auch Jannis genannt.

Ich kenne Jannis schon, da war er noch normal. Aber in der siebten Klasse hatte er sich in einem Anflug von Wahnsinn seine Haare plötzlich schwarz gefärbt und ab da fing es an. In der achten Klasse war die Wandlung zum Emo erfolgreich abgeschlossen und er hatte sich irgendwie selbst vom Rest der Klasse ausgeschlossen. Wobei man das so nicht sagen kann. Es ist nicht so, dass er gar keine Freunde mehr hat. Die Mädels finden ihn nämlich allesamt ‚total süüüüüüüß’ und mit einigen von diesen Fangirlies ist er auch gut befreundet. Gut befreundet. Ich muss schnauben. Kein Wunder, dass alle Welt glaubt, er wäre schwul, wenn er einen Haufen Weiber um sich schart und sie alle nur als gute Freunde betrachtet. Was dem Jungen entgeht, scheint ihm gar nicht klar zu sein – folglich muss er einfach schwul sein!

Micha seines gleichen folgt nun meinem Blick und entdeckt Jannis ebenfalls. „Oh, der Freak ist ja auch schon da,“ meint er so laut, dass es nicht nur ich, sondern ganz sicher auch Jannis hören kann. Dieser reagiert gar nicht, was uns sagt, dass wir da ein wenig Nachhelfen sollten.

Warum er schon hier ist, weiß ich auch nicht. Normalerweise geht er uns tunlichst aus dem Weg und wirklich jeder weiß, dass wir morgens immer die Ersten sind. Nicht, weil wir Streber sind, sondern weil es toll ist, alle, die vorbeiziehen, mit Sprüchen zu bedenken.

Ganz sicher hatte er wieder Stress mit seiner Alten und deren Lover. Um Jannis Familie ragen sich nämlich viele Gerüchte. Mein liebstes ist immer noch, dass sein Alter die Familie verlassen hat, um mit einer Nutte durchzubrennen und seine Mutter sich gleich den nächsten Trottel – sprich, einen totalen Kontrollfreak – ins Haus geholt hat. Was davon wahr ist, weiß keiner. Aber das ist ja das spannendste an der Sache.

Er guckt uns an, als wäre sein Tag bereits jetzt im Arsch, weil wir uns zu ihm bewegen. Recht hat er. Ich schlendere also langsam zu ihm hinüber und frage: „Mit wem gehst du eigentlich in ein Zimmer, Jan? Du hast doch gar keinen, der dich ertragen würde.“

Nun sieht er mich giftig an, wie eine Schlange, kurz vorm Angriff. Das die Emo-Schlange nicht angreift, weiß ich allerdings. Das tut sie nie. „So lange ich nicht mit dir in ein Zimmer muss, kann es mir relativ egal sein,“ kontert er und bleibt dabei betont kühl.

Ich muss grinsen, während sich Micha einmischt: „Versucht er gerade böse zu sein? Uuuuh,“ meint er zu mir und schließt zu uns auf. Dann grinst er Jannis überlegen an: „Sicher kommt er in Einzelverwahrung. Zu den Mädels darf er ja nicht und die Jungs sind sicher auch nicht vor ihm sicher.“

Dann lacht er laut los und ich falle ein. „Vielleicht sollten wir abschließen, nicht, dass er plötzlich in unserem Zimmer steht und kuscheln will,“ setze ich noch einen drauf.

Nun sieht der Emo richtig wütend aus – dabei heißt es doch immer, sie kennen nur eine Emotion: Heulen. Okay, das ist keine Emotion, aber so vom Prinzip her…

„Als wenn ich das Bedürfnis hätte, ausgerechnet in eurem Zimmer aufzutauchen…“ Er macht ein Würggeräusch, dass Michas Stolz wohl kränkt, denn er platzt sofort hervor: „Glaub mir, was du bei mir zu sehen kriegen würdest, würde dich für immer verfolgen.“ Und um diese Aussage zu unterstützen, greift er sich verdeutlichend in den Schritt und bringt nicht nur mich zum Augenrollen. „Sicher ist dein Schwanz nicht mal halb so groß, wie deine Klappe,“ erwidert Jannis und das muss man ihm anrechnen: Mutig ist er.

Okay, wir würden ihm auch nie etwas Wirkliches tun. Wir sind zwar Arschlöcher, aber nicht unmenschlich. In der Parallelklasse gibt es ein paar Typen, die es lustig finden, kleine Emos zu verprügeln. Zu Jannis Glück besitzen sie aber ihr eigenes Exemplar, so dass er weitgehend sicher ist. Also müsste er eigentlich uns gegenüber dankbar sein, dass wir ihn nicht anfassen…

Wahrscheinlich, um unser Gelaber nicht mehr hören zu müssen, stopft er sich nun Kopfhörer ins Ohr und schaltet seinen MP3-Player an. Wir sehen ihm zu, dann packt mich die Neugierde und ich greife nach vorne, um das gute Teil an mich zu nehmen. „Was der Emo wohl so hört?“, wende ich mich wieder an Micha und wühle mich durch die Songauswahl.

Angesprochener schaut mir über die Schulter und meint: „Sicher nur Songs, bei denen er so richtig gut heulen kann.“

„Gib den wieder her!“, fordert mich in dem Moment der Besitzer des Payers auf und funkelt mich zornig an.

„Sekunde, Sekunde,“ winke ich ab und klicke weiter. Ich möchte wirklich wissen, was er so hört, nicht nur, um ihn ein wenig zu ärgern. Wen interessiert nicht, was andere Leute so für Musik hören?

Jannis aber verengt nur die Augen und mit einem wirklich wütenden „Gib ihn her!“ greift er danach und reißt ihn mir aus der Hand, um ihn gleich danach schützend in seiner Faust zu beregen.

„Jetzt stell dich doch nicht so an, man,“ murrt Micha und sieht genervt zu Jan. „Sei kein Spielverderber, Jannilein,“ fügt er hinzu und macht damit sicher alles noch schlimmer. Wenn überhaupt möglich, sieht Jannis nun noch grimmiger aus. Aber was soll’s…

„Gibt schon her. Wir gucken doch nur,“ springe ich Micha bei und greife nach dem Handgelenk des Jüngeren – Jannis ist 16, wir Beide schon 17 – und zerre seinen Arm zu mir. Ich will seine Faust öffnen, aber er hält sie beharrlich zusammen.

„Lass mich los,“ faucht er und versucht, wie ein tollwütiger Hund, seinen Arm aus meinem Griff zu befreien.

„Zeig doch einfach her! Wir machen ihn schon nicht kaputt!“ Ich sehe ihn auffordernd an. Er aber entreißt mir nur mit voller Kraft seinen Arm, stolpert nach hinten und fällt samt mir vorn über, da ich ebenfalls das Gleichgewicht verliere, bei dem plötzlichen Ruck. Krachend landet er auf dem Asphalt und ich auf ihm. Triumphierend grinsend greife ich wieder nach seiner Hand, um den Player an mich zu nehmen.

Während er sich wehrt, umschlinge ich sein Handgelenk und berühre mit den Fingerspitzen gerade tatsächlich den Kunststoff, da fällt ein Schatten auf uns, der zu dick ist, um der von Micha zu sein und eine brummige Stimme ertönt hinter, oder eher über, uns.

„Was zur Hölle tut ihr da?“

Der Köpke sieht genervt zu uns hinab, die wir da aufeinander über die Straße kugeln und sicher freut er sich in seinem tiefsten Inneren, uns ‚erwischt’ zu haben. Wie gesagt, es ist kein Geheimnis, dass der Köpke kaum einen Schüler mag, aber uns Drei… uns hasst er. Ich glaube, Micha hat von ihm schon mehr Strafarbeiten aufgebrummt bekommen, als alle anderen Schüler zusammen und Jannis findet er glaube ich einfach nur abartig, weil er herumläuft, wie ein Mädchen. Was mich angeht. Ich glaube, ab und an ist er kurz davor, mir mein Grinsen einfach aus der Visage zu prügeln und nur die Konsequenzen, mit denen er dann rechnen müsste, halten ihn wohl davon ab.

„Ach Herr Köpke,“ wirft Micha belustigt ein,“ das ist doch nur Spaß.“ Wahrscheinlich versucht er wirklich gerade, den Köpke milde zu stimmen, aber allein die Tatsache, dass er etwas gesagt hat, scheint den Alten nur noch mehr zu reizen.

Dieser sieht Micha nun abschätzig musternd an, ohne etwas zu sagen, ehe er wieder zu uns blickt. „Nur Spaß,“ wiederholt er in einem wirklich seltsamen Ton. Eine Mischung aus Wut, Vorfreude und Ungläubigkeit. „Danach sieht es mir aber nicht aus.“

„Wirklich Herr Köpke… Wir haben nur das Gleichgewicht verloren.“ Auffordernd sehe ich zu Jannis, aber der ist sicher auch nicht gewillt, Strafarbeiten zu kassieren. Und genau das wird ihm blühen, dann einen Unterschied zwischen Täter und Opfer macht der Köpke nie, schon gar nicht, wenn er weder den einen, noch den anderen leiden kann. Deshalb nickt Jan bestätigend. „Ja.“

„Für mich sieht das nach einer Prügelei aus,“ erwidert der Alte mürrisch und vor allem in einem Ton, der keinen Widerspruch duldet. Ein weiter Grund, doch zu widersprechen. „Nein,“ rufe ich also hastig. „Ich wollte nur seinen MP3-Player sehen und dabei sind wir umgefallen.“

Nun stemmt er die Hände in die Hüften und macht ein Gesicht, mit dem er wirklich irgendwie gefährlich aussieht. „Man fällt nicht wegen einem MP3-Player um.“

Okay, da hat er Recht, aber eine Prügelei war es sicher auch nicht.

„Denkt ihr, ich bin blöd? Ich hab doch gesehen, wie ihr gerangelt habt. Geprügelt habt ihr euch, nichts anderes.

„Wirklich, Herr Köpke,“ springt uns nun wieder Micha bei. „Es sah schlimmer aus, als es war.“

Quer über sein Gesicht geschrieben steht die Abneigung gegenüber dem Lehrer, was diesem zum Glück entgeht, weil er Micha nicht beachtet.

Um uns herum füllt sich der Platz mit den restlichen Schülern. Logisch, denn der Bus soll in fünf Minuten abfahren. Fünf Minuten, in denen wir den Köpke hoffentlich doch noch – dem Wunder der unbefleckten Empfängnis gleich – Milde stimmen können.

„Ich möchte keine Schüler dabei haben, die sich prügeln.“ Aber höchstwahrscheinlich hat Jesus sich gedacht, dass er das einzige Wunder auf Erden bleiben möchte und so geht dieser Schuss nach hinten los. Mürrisch werden wir angesehen. „Der Rest kann in den Bus,“ ruft er dann über den ganzen Platz. „Ihr zwei bleibt hier,“ fügt er an uns gewandt hinzu.

„Was?!“, entfährt es Jannis so hysterisch, dass ich zusammen zucke. Aber er hat ja Recht. Das kann nicht sein Ernst sein. Das bedeutet sicher Erziehungsmaßnahmen – wie meine Eltern allgemein geltende Foltermethoden nennen – in Massen für mich.

„Herr Köpke,“ mache ich einen letzten Versuch, in der Hoffnung, dass ist nur ein Scherz, aber das ist es nicht. „Ihr werdet den Unterricht in der Parallelklasse besuchen, genau wie die Schüler, die nicht mitkönnen.“

„Aber Herr Köpke, das können sie doch nicht machen!“, wirft Micha nun wieder ein. Entgegen der Aufforderung, dass alle in den Bus steigen sollen, steht er noch bei uns.

„Du bist ruhig, sonst bleibst du auch hier!“, wendet sich der Alte nun ungehalten an Micha und deutet dann energisch auf den Bus: „Geh da rein!“

Entschuldigend sieht mich Micha an, ehe er langsam zum Bus schleicht und einsteigt. Ich mache ihm keine Vorwürfe, dass er nicht bei uns bleibt. Seine Eltern sind auch nicht gerade leicht. Und ganz sicher überlegt der Köpke es sich noch anders, wenn wir nur ein ganz leidendes Gesicht machen.

„Ihr könnt jetzt zum Rektor gehen und ihm erklären, warum ihr nicht mitkönnt. Und dann geht ihr in den Unterricht.“

Er sieht uns noch einmal an, während der Fahrer bereits den Motor startet. „Und steht endlich auf!“

Erst da bemerke ich, dass ich noch immer auf Jannis liege und richte mich auf, so dass auch er sich wieder frei bewegen kann. Schweigend sehen wir dem Köpke zu, wie er zum Bus läuft und einsteigt.

Nun rapple ich mich ganz auf und sehe zu, wie sich die Bustür schließt und dieser davon fährt. „Alter… Das ist ein schlechter Scherz, oder?“, wende ich mich dann an Jannis, der neben mir in die Senkrechte kommt. Auch er sieht dem Bus nach.

„Sieht das für dich aus, wie ein Scherz? Normal müsste er spätestens jetzt anhalten und uns einladen.“ Spricht’s, aber der Bus hört es nicht. Stattdessen biegt er um die Ecke und lässt uns zurück.

„Wenn wir uns jetzt beim Rektor melden, ruft der bei uns zu Hause an und dann bin ich so gut wie tot!“ Ich sehe zu Jannis.

„Was soll ich sagen? Der Lover meiner Mum erschlägt mich,“ entgegnet dieser und seufzt.

„Super. Nur wegen eurem Scheiß!“ Er sieht mich grimmig an und ich blicke ebenso zurück. „Was musst du dich auch so quer stellen,“ gebe ich die Schuldzuweisung zurück.

„Ich? Warum konntest du es nicht einfach sein lassen?“ Wütend funkelt er mich an und wir befinden uns in einer Saggasse, wie ich feststelle.

„Komm, das bringt jetzt auch nichts, sich gegenseitig die Schuld zu geben. Es ist einfach dumm gelaufen.“ Ich lasse mich wieder auf den Bordstein sinken. „Was machen wir denn jetzt?“

Jannis zuckt mit den Schultern und lässt sich neben mir nieder. „Uns bleibt nichts anderes übrig, als zum Rektor zu gehen.“

Ich verziehe das Gesicht, ehe ich seufzend nach vorne sehe. Mein Blick fällt auf den alten VW Köpkes. „Ich hab ne andere Idee,“ meine ich dann und springe begeistert auf.

„Die da wäre?“, murrt Jannis und sieht fragend zu mir hoch, während ich bereits nach vorne deute. „Wir fahren ihnen einfach hinterher.“

Nun sieht auch Jannis zum alten VW. „Nicht… dein Ernst?“

Aber wie das mein Ernst ist. Ich strahle ihn an. „Ich hab meinen B-17-Führerschein. Wir kommen also lebend an.“

Jannis aber schüttelt nur den Kopf. „Du willst doch nicht ernsthaft den sein Auto knacken? Abgesehen davon, dass dir zum Fahren die Begleitung fehlt.“

Manchmal ist er wirklich das Abbild von Köpke, der totale Langweiler.

„Ich hab doch dich als Begleitung,“ lache ich und laufe enthusiastisch zum Auto. Nun springt auch Jan auf und rennt mir nach.

„Du weißt genau, dass ich nicht zähle,“ wirft er ein, aber ich ignoriere ihn. Stattdessen besehe ich mir das Auto.

„Du willst das doch nicht wirklich durchziehen, oder? Das ist illegal!“

„Solange uns keiner erwischt,“ entgegne ich und mache mich an der Türe zu schaffen. „Guckst du, dass keiner kommt?“, will ich wissen und er hält notgedrungen Wache. „Das ist lächerlich, Samuel.“ Schon alleine, dass er Samuel sagt – ich hasse diesen Namen – lässt mich aus Trotz weiter am Auto herumfummeln. „Abgesehen davon, dass du das Auto eh nicht aufkriegst und…“

Ich unterbreche ihn: „Offen!“

Er wirft den Kopf zu mir und sieht mich ungläubig an. „Wie hast du das gemacht?“, quiekt er dann und ich grinse. „Ist doch egal, Hauptsache, es ist offen.“

Ich öffne die Autotüre und lasse mich auf dem Fahrersitz nieder. Im Auto riecht es nach diesen Duftbäumchen. „Aber wir haben doch keinen Schlüssel…“

Jannis hat die Beifahrertüre geöffnet, macht aber keine Anstalten einzusteigen, sondern sieht mich nur tadelnd an Ich überlege, welche Drähte man kappen und aneinander halten muss, um das Auto zu starten, als mir etwas einfällt, was dieses Problem nichtig werden lässt..

„Doch, haben wir. Der Köpke hat mal erwähnt, dass er seinen Ersatzschlüssel im Handschuhfach aufbewahrt.“ Und mit etwas Glück liegt dieser noch immer dort…

„Welcher Trottel lässt seinen Ersatzschlüssel im Handschuhfach liegen?“ Jan schüttelt den Kopf. „Keine Ahnung, der Köpke eben… Er meinte, sein richtiger würde manchmal nicht starten, da hat er den Ersatzschlüssel mitgenommen und ihn dann da liegen gelassen.“

„Was für eine blöde Idee. Und was für eine blöde Idee, das auch noch zu erzählen!“ Von so viel Dummheit geflasht, reißt er nun das Handschuhfach auf und wir starren auf den Schlüssel. „Tatsache.“

„Ist doch nur gut für uns,“ werfe ich ein und grapsche nach dem Schlüssel. Dann steige ich aus, werfe meine Reisetasche auf die Rückbank und sehe Jannis auffordernd an. „Was ist nun? Willst du mit, oder nicht?“ Ich lasse ihm keine Zeit zu protestieren, sondern steige wieder ein und sehe ihn von unten herab fragend an. Er beißt sich auf die Lippe. „Sam, dass ist illegal.“

„Letzte Chance,“ meine ich nur halb singend und greife warnend nach der Beifahrertüre, um sie zur Not selbst zu schließen. „Du kannst auch gerne zum Rektor und ein langes Gespräch mit ihm und deinen Alten führen…“

Nun seufzt Jannis entnervt auf, ehe er seine Reisetasche packt, ebenfalls in den Wagen wirft und einsteigt. „Wir ziehen das jetzt echt durch?“, fragt er mich dann. Ich nicke. „Klar.“ Und dann starte ich den Motor.
 

Ich biege in eine Seitenstraße und schiele dann zu Jannis, der den Inhalt des Handschuhfachs in Augenschein nimmt. „Was interessantes dabei?“, will ich wissen.

„Alles ziemlich unspektakulär. Ein Haufen CDs, voll mit klassischer Musik – der Alte erfüllt auch jedes Klischee – und den Fahrzeugschein hat er tatsächlich auch hier deponiert.“ Er schüttelt den Kopf und ich grinse wieder, während er mit besagtem Schein vor meiner Nase herumwedelt. „Lass uns das Auto verticken,“ lache ich amüsiert.

Er antwortet nicht, sondern wühlt weiter. „Bonbons, Taschentücher und eine Parkscheibe. Mehr ist da nicht.“

Ich schnaube. „Wie langweilig. Hat er gar keine Kondome oder so da drin?“

„Alter… Weißt du, wie eklig das wäre, wenn wir hier Kondome finden würden?“, braust Jannis auf und verzieht das Gesicht, während ich erschaudere. Recht hat er.

„Schau mal, ob er hinten irgendwo eine Karte hat,“ trage ich ihm dann auf und Jannis schnallt sich ab und beugt sich nach hinten. Kurz darauf hat er eine solche in der Hand und macht es sich wieder auf seinem Sitz bequem.

Er klappt sie auf, studiert sie einige Zeit, ehe er meint: „Wir sind hier… und wo genau wollen wir hin?“

Tja und dann versuchen wir uns krampfhaft an den Namen des Kaffs zu erinnern, zu dem der Bus aufgebrochen ist, haben aber letztlich keine Ahnung mehr. Fakt ist, dass ich nicht ewig in die grobe Richtung fahren kann, sondern ein genaues Ziel brauche, was jetzt ein wenig schwierig wird. Aber no rik, no fun.

„Weißt du, wie lustig das wird, wenn wir da auftauchen – in Köpkes Auto?“, will ich nach einiger Zeit des Schweigens wissen.

„Er wird uns töten,“ stellt Jannis sogleich fest. Seine Miene verhärtet sich. „Weißt du, dass ist vielleicht doch keine gute Idee…“

„Willst du jetzt noch kneifen?“, frage ich ein wenig enttäuscht. Ehrlich gesagt habe ich keine Lust, ohne ihn zu fahren und den Ärger ganz alleine einzukassieren.

Aber Jan seufzt nur. „Ich will nicht umdrehen, aber ich will da auch nicht auftauchen.“ Er zerknittert die Karte. „Ist doch alles scheiße! Wir wissen ja nicht mal, wo wir hin müssen!“

„Das einzige, was an der Sache scheiße ist, ist Köpke. Wir sollten seine Schrottkiste einfach an den nächsten Baum fahren!“, stimme ich wütend zu.

Wegen dem Alten Sack sind wir in so einer misslichen Lage.

Nun fängt Jannis zu lachen an. „Darf ich vorher aussteigen?“, fragt er dann in einem erneuten Lachanfall und ich muss grinsen: „Mit gefangen, mit gehangen.“ Dann lache ich auch wieder und deute auf die Karte. „Gibt es einen Ort, wo du unbedingt schon mal hin wolltest?“

„Der einzige Ort, zu dem ich gerne mal gehen würde, ist das Meer. Da war ich noch nie.“

Noch sind wir in Aschaffenburg. Ich überlege, wie lange man von hier wohl quer durch Deutschland braucht, wenn man keine Autobahn nutzen kann. „Kiel soll schön sein,“ meine ich dann.

„Kiel liegt an der Ostsee,“ wirft Jan ein. „Schade, dass wir da nicht hinkönnen.“

Ich sehe in sein Gesicht, in welches groß und breit ‚Sehnsucht’ geschrieben steht und fasse einen Entschluss. „Wieso können wir nicht? Lass uns das tun. Lass uns nach Kiel fahren!“

Jan blickt mich an, als wäre ich debil. „Ist das dein Ernst?“

Ich nicke. „Ja man. Wir fahren jetzt an die Ostsee. Das ist doch viel cooler, als irgend so ein Kuhkaff.“

„Alter… du bist so verrückt,“ meint Jan und dann grinst er. „Kiel.“

Danach müssen wir erst Mal lachen, ehe ich nach einer Wendemöglichkeit suche. „Auf nach Kiel,“ singe ich, während ich zurücksetze und wieder in entgegengesetzte Richtung fahre.

Denn sie wissen nicht, was sie tun…

Jannis lehnt sich im Beifahrersitz weiter zurück, in dem er ein Stück nach unten rutscht. Soweit ich das aus dem Augenwinkel erkenne, fällt ihm dabei eine Strähne seines schwarzen Haares ins Gesicht und er wischt sie energisch weg. „Wir haben fünf Tage, um nach Kiel zu kommen,“ bemerkt er dann. Wenn er es ausspricht, klingt es unmöglich. Aber es macht einfach zu viel Spaß, an diese Unmöglichkeit zu denken, als das wir jetzt noch umkehren würden. Das wissen wir Beide.

Es kommt wieder Leben in meinen Beifahrer. Er dreht sich erneut nach hinten und wühlt in seiner Reisetasche, bis er irgendwann sein Federmäppchen in Händen hält und beginnt, die Karte zu überfliegen.

Derweil verlassen wir Aschaffenburg und starten unser großes Abenteuer.

Mit einem Stift zieht er irgendwann eine Route auf der Karte nach, von der wir nicht wissen, ob sie sinnvoll ist.

Man kann nicht wirklich sagen, dass wir einen Plan hätten. Im Gegenteil. Wir sind nur zwei Teenager, die einen absurden Gedanken hegen, aber nicht gewillt sind, diesen fallen zu lassen. Vielleicht gibt es also eine leichtere Route. Eine einfachere, schnellere, kürzere. Aber das ist uns egal. Wir gehen einfach danach, welcher Städtenamen gut klingt oder welche Route am besten aussieht.

Hauptsache ist nur, dass wir nicht erwischt werden. Also meiden wir die Autobahnen und suchen uns Schleichwege durch irgendwelche kleinen Örtchen.

Einige Streckenverläufe diskutieren wir durch, bei anderen sind wir uns sofort einig. Irgendwann ziert ein dicker grüner Strich die Karte. Unsere Route.

„Die anderen sind jetzt sicher schon dort,“ meint Jannis mit einem Blick auf die Uhr, als wir gerade Rodgau erreichen. Im Übrigen befinden wir uns schon nicht mehr in Bayern, sondern schon in Hessen.

„Hoffentlich hat der Alte nicht die Schule angerufen…“, bange ich. Das wäre unser Ende. Man würde uns suchen, wenn nötig mit Polizei. Nein, ganz sicher sogar mit Polizei. Ich fühle ein flaues Gefühl im Magen, bis Jannis mich beruhigen kann, in dem er sagt: „Wird er nicht. Darauf hat der sicher keinen Bock. Und wenn er es getan hätte, würde man uns schon zu erreichen versuchen…“

Er lächelt mich aufmunternd an. Klingt logisch, was er da sagt. Um nicht darüber nachdenken zu müssen, dass es von Köpke fast schon fahrlässig ist, sich nicht nach uns zu erkundigen – was ihm sicher egal ist –, wechsle ich das Thema.

„Das ist also Rodgau!“

Jannis blickt flüchtig aus dem Fenster; er studiert noch immer die Karte, als wolle er die Route auswendig lernen. „Sieht besser aus, als das Kaff, in das wir gefahren wären.“

Ich muss grinsen und schalte das Radio ein. Lautes Rauschen schlägt uns entgegen. Ich ignoriere das trockene „Entzückend.“ von Jannis und spiele daran herum, bis ich ganz schwach einen Sender rein bekomme. „Mach das weg,“ fordert Jan in dem Moment, weil ihm das Rauschen sicher genauso nervt, wie mich, und schiebt eine CD in den Player. Mozart, Beethoven oder Bach… keine Ahnung, wer uns da entgegen dröhnt, Fakt ist, dass er von Jan schneller zum Schweigen gebracht wird, als das Radio zuvor.

Ich überlasse dem Emo das Radio ganz und konzentriere mich wieder auf die Straße. Ist nicht so, dass ich nicht Autofahren kann. Ich habe meine Fahrprüfung gleich beim ersten Mal ohne Probleme bestanden. Allerdings habe ich keinen Lust, einen Unfall zu bauen, nur weil ich unachtsam bin. Ich will mir gar nicht vorstellen, was es für Ärger gibt, wenn wir den VW Schrotten. Abgesehen davon, dass mich Jannis dann sicher umbringt, ehe meine Eltern die Chance dazu bekommen. Ich sehe zu ihm, der er mit wachsender Verzweiflung weiter das Radio massakriert.

„Es hat keinen Sinn,“ meine ich nach einiger Zeit belustigt, in der wir außer Raschen und wenigen Gesprächsfetzen nicht viel gehört haben.

„Sicher ist die Antenne im Arsch. Schieb ne CD rein.“ Ich deute nach hinten. „Ich hab welche in meiner Reisetasche. Ist eh besser, als Radio.“

Obwohl es schön blöd ist, dass wir nun keine Blitzer durchgesagt bekommen. Aber ich habe eh vor, mich penibel an die Geschwindigkeitsbegrenzung zu halten. Ich hab keine Lust, dass meine Reise damit gestoppt wird, dass wir raus gewunken werden, weil ich zu schnell war.

„Das ist nicht dein Ernst,“ keucht Jan plötzlich neben mir auf, während er meine CDs herumzerrt. Ich sehe ihn fragend an. „Das ist ja nur Schrott,“ bekomme ich an den Kopf geworfen und er hebt eine CD in die Höhe. Was stört ihn an Hip Hop? Ist ja nicht so, dass ich wie diese Hopper rumlaufe, die Hose bis in den Kniekehlen, aber man kann ja die Musik mögen, nicht?

Er wühlt sich weiter durch den Haufen CDs, wird aber nicht fündig und schiebt notgedrungen eine CD von Bushido in den Player. Schon ertönt dessen Stimme und Jannis macht zum zweiten Mal am heutigen Tag ein Würggeräusch, während er missbilligend das Gesicht verzieht.

„Ich schlaf ne Runde. Das tue ich mir nicht an,“ verkündet er sogleich.

Erst will ich ihm seinen Schlaf lassen, aber dann fällt mir etwas ein und ich greife zu ihm und rüttle ihn wieder wach.

„Du kannst nicht schlafen! Du musst die Karte lesen!“

Auffordernd pieke ich mit dem Finger auf die Karte, die noch immer auf seinem Schoß liegt.

„Ich weiß doch sonst nicht, wo ich hin fahren muss.“

„Dann schau selbst auf die Karte,“ schnauzt er mich an, „Aber verlang nicht, dass ich diese… Scheiße mithöre.“

Ich muss grinsen, weil er äußert witzig aussieht, so aufgebracht. „Stell dich nicht so an,“ murre ich und füge dann wahrheitsgetreu hinzu: „Außerdem kann ich keine Karten lesen.“

„Boar!“, stößt er daraufhin hervor und bringt mich nun endgültig dazu, loszubrüllen, vor Lachen. Das bleibt mir allerdings im Hals stecken, als er sich genervt in eine gerade Position bringt und die CD herausschnappen lässt. „Na gut,“ willigt er dabei ein. „Aber dann hören wir nicht diese Musik.“

Ehe ich protestieren kann, hat er meine CDs wieder in meiner Tasche verstaut und sucht wohl seine eigenen, während uns das Rauschen des Radios wieder auf die Nerven geht.

Ich mache ein leidndes Gesicht und sehe ihn an. „Und was schlägst du vor?“

„My Chemical Romance,“ verkündet er mir und stopft die CD ins Radio. La, la, la… Ich hab keine Lust mehr. „Nicht wirklich,“ stöhne ich deshalb gequält, aber er lässt nicht locker und schlägt mir kurzerhand auf die Finger, als ich die CD wieder herausholen will.

„Konzentrier dich auf deinen Weg!“ Dann verschränkt er die Arme und sieht mich streng an und ich muss wieder grinsen.

Der Emo und ich auf großer Fahrt… das kann ja was werden!
 

„Halt an!“, befiehlt mir Jan zum wiederholten Male, jetzt aber so laut, das ich vor Schreck zusammen zucke. Er rutscht auf seinem Sitz hin und her und ich grinse mir einen ab. Wir haben gerade Offenbach am Main erreicht, aber schon seit einer halben Stunde liegt er mir in den Ohren, er müsse pinkeln. Ich beachte ihn nicht weiter – was ist er, das er nicht warten kann? Ein Mädchen? – und suche nur weiter nach einer Möglichkeit zum Halten. Genau das sage ich ihm auch murrend.

„Dort hinten war ein Rastplatz,“ bricht es daraufhin empört aus ihm heraus. „Und dort ging es in die Stadt rein!“

Er stößt mit seinem Finger energisch gegen die Scheibe und sieht mich aufgebracht an. Weil ich ihn nicht weiter beachte, verschränkt er nur beleidigt die Arme, nur um sie gleich darauf wieder zu entknoten, um an der Klimaanlage herum zu spielen.

Wir haben Juni, es ist extrem heiß draußen und die Klimaanlage ist im Arsch. Zumindest kommt nur ab und an ein Stoß kalter Luft entgegen, ehe sie wieder aussetzt.

Es ist eklig warm hier im Auto, aber bei 100 km/h wollen wir auch kein Fenster weiter, als einen Spalt breit, aufmachen.

„Sieh doch endlich ein, dass die Klimaanlage nicht funktioniert,“ meine ich zu ihm und er sieht mich an, als wolle er mich am liebsten anfallen und fressen. Er hat etwas von einem Kampfzwerg, aber das sage ich ihm lieber nicht.

Anscheinend hat er seiner Wut noch nicht genug Luft gemacht, denn er wettert weiter. „Hier drin ist es heiß und stickig, ich muss pinkeln und an allem fährst du einfach vorbei!“, kreischt er mich wieder an und ich lenke notgedrungen ein. Im wahrsten Sinne des Wortes.

Ich fahre einfach auf einen Rasenfleck, mitten an der Straße und nun passt es dem werten Herren wieder nicht. Zumindest sieht er mich empört an: „Was zur Hölle tust du da?“

Ich antworte nicht, sondern parke das Auto einfach hinter einem Busch auf der Wiese. „Sam?“, fragt er erneut.

„Sei ruhig,“ befehle ich ihm nur entnervt und steige dann aus. „Hier ist es doch cool. Und ich hab keine Lust, noch eine Sekunde länger dein Gemecker zu ertragen.“

Und so steigt er aus und läuft hinter ein paar Büsche um zu pinkeln.

Ich habe den Wagen extra abseits der Straße geparkt, damit uns nicht so viele Leute sehen, wie wir Teenager aus dem Wagen steigen. Vielleicht sucht man uns ja doch schon und am Ende wird noch wer misstrauisch.

Das Auto also gut versteckt, lasse ich mich ins Gras fallen. Wir haben fast Mittag und ich bin geschafft. Autofahren kann ja so anstrengend sein.

Irgendwann tritt Jannis hinter mich und lässt sich neben mir ins Gras fallen. „Coole Aussicht, oder?“, frage ich ihn. Wir sitzen auf einer Anhöhe und unter uns fließt der Main friedlich dahin. Von der Straße dröhnt noch ab und an Lärm zu uns, aber dennoch wirkt die Gegend friedvoll, wenn man auf das Wasser blickt.

„Ja,“ stimmt mir der Emo zu und ich stehe auf und beginne, nach unten zu klettern. Fragend sehe ich zu ihm: „Kommst du mit?“

Er antwortet nicht, folgt mir aber. Wenig später stehen wir am Wasser.

„Ich brauche eine Pause, ehe ich weiter fahren kann,“ gestehe ich und strecke mich müde, ehe mir ein wenig Wasser ins Gesicht spritze. Es ist nicht wirklich kühl, aber dennoch erfrischend.

Jan sieht nachdenklich aus, während er aus seinen Chucks und Socken schlüpft und sich mühsam seine enge Röhrenjeans hochkrempelt. Dann tapste er zum Wasser. Ich sehe ihm dabei zu, bis ich realisiere, was er tut und mir das selbst nicht entgehen lassen will. Also folge ich ihm schnell, bis ich ebenfalls bis zu den Waden im Wasser stehe.

„Tut mir Leid, dass ich noch nicht fahren kann,“ meint er dann entschuldigend und ich sehe ihn fassungslos an. „Das ist doch nicht deine Schuld.“

„Naja… theoretisch könnte ich schon, aber…“ Er bricht ab. Ich weiß, dass er Fahrstunden nimmt und auch bald Prüfung hat. Aber auch so… Er ist noch Sechzehn, darf also erst in ein paar Monaten mit Begeleitung fahren.

„Zu riskant,“ seufze ich, obwohl es verlockend wäre.

„Glaubst du, wir kommen heute noch weit?“, will er dann wissen und ich zucke mit den Schultern. „Mein Ziel ist Meschede.“

Daraufhin stöhnt er auf und läuft ein paar Schritte aus dem Wasser. „Das ist noch ewig weit,“ gibt er mir zu bedenken.

„Ich weiß,“ erwidere ich und folge ihm. „Also sollten wir wohl langsam weiter fahren.“

Allerdings hat er Recht. Bis Meschede ist es noch ein ganz schönes Stück. Aber ich möchte heute einfach so viel Weg wie möglich schaffen, damit wir es die nächsten Tage etwas ruhiger angehen lassen können.

Also sitze ich wenig später wieder im Auto, während Jannis zur Straße kraxelt – dabei fast noch über einen Erdhaufen stolpert, was ich sehr witzig finde – und mich dann hinter den Büschen hervorwinkt, als kein Auto zu sehen ist.

Ich will noch immer so vorsichtig wie möglich sein und was ist wohl verdächtiger, als ein Auto, das plötzlich hinter Büschen auftaucht?

Ich fahre also zur Straße zurück, Jan steigt ein und weiter geht die Reise.
 

„Langsam kriege ich Hunger,“ meine ich, während wir Offenbach am Main endgültig hinter uns lassen.

„Wir könnten in Frankfurt was essen,“ schlägt Jan daraufhin vor. Frankfurt. Unser nächstes Ziel, das konnten wir uns einfach nicht nehmen lassen.

Ich stimme ihm jedenfalls zu und gebe Gas. „Ich hätte Bock auf Mc Donalds.“

„Von mir aus,“ stimmt mein Beifahrer mir zu und grübelt dann eine Weile, ehe er meint: „Wir sollten zu einem Supermarkt fahren und uns mit Essen eindecken.“

Damit hat er natürlich Recht, auch wenn es mich ärgert, dass ich da nicht selbst drauf gekommen bin. Natürlich kann man so eine Reise nicht antreten, ohne sich Verpflegung einzupacken. Allerdings ist das alles mit einem noch viel größeren Problem verbunden.

„Hast du Geld dabei?“

Jannis guckt nur undefinierbar vor sich hin, während er nach seinem Geldbeutel wühlt. „Hundert.“

„So viel?“, meine ich ungläubig.

„Ich wollte mein Geld nicht zu Hause liegen lassen. Der Lover meiner Mum bedient sich nämlich gerne daran, wenn er Geld für seine Zigaretten braucht.“

Ich nicke und finde es ziemlich fies von diesem Sack. Er kann doch nicht einfach Geld von Jan nehmen!

„Ich hab nur meine Karte dabei,“ meine ich dann und er nickt zustimmend, was mir sagt, das er wohl auch eine dabei hat.

„Dann kommen wir schon nach Kiel, ohne das der Tank leer geht oder wir zwischendrin verhungern,“ versuche ich mich an einem Spaß und Jan lächelt leicht.

„Tanken ist übrigens eine gute Idee,“ informiere ich ihn dann.
 

Den Rest der Fahrt nach Frankfurt verbringen wir überwiegend schweigend.

„Endlich!“, stöhnt Jan, als wir das Ortsschild von Frankfurt erreichen und ich kann ihm nur zustimmen. Ich hab keine Lust mehr und mein Magen knurrt, weil ich seit früh morgens nichts mehr gegessen habe.

Wenig später finde ich einen Mc Donalds, wo ich Jan rauslasse, ehe ich weiter tanken fahre.

Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich noch nie zuvor getankt habe. Zwar habe ich meinem Dad schon öfter zugesehen, aber hingegen einiger meiner Freunde, habe ich noch nie Lust verspürt, das selbst auszuprobieren.

Ein wenig unbeholfen stopfe ich also den Zapfhahn in den Tank des Autos und warte, bis er voll gelaufen ist.

Keiner beachtet mich weiter, was gut ist. Es wäre ziemlich blöd, wenn jemand hier darauf aufmerksam werden würde, dass ich zu jung fürs Autofahren bin. Aber ich sehe ja zum Glück schon aus, wie Achtzehn.

Ich krame nach meinem Geldbeutel und schließe vorsorglich sogar das Auto ab, ehe ich in die kühle Tanke gehe, um zu bezahlen. Natürlich bin ich vorsichtiger, als ich es sein müsste, aber das Dümmste, was geschehen könnte, wäre ja, dass ein Irrer unseren geklauten Wagen klaut. Ich muss grinsen, so suspekt, wie sich das anhört. Es ist nur ein Mann vor mir, der geht, als ich mich gerade hinter ihn stelle und so bin ich schnell fertig und wieder am Auto.

Erleichtert lasse ich mich in den Sitz sinken und schnalle mich an, ehe ich mache, dass ich schnell wegkomme.

Dummerweise habe ich Jannis wirklich nicht angelogen. Ob nun Karten lesen oder einfach nur orientieren. All das ist nicht meine Stärke, als wäre ich ein Mädchen. Deshalb dauert es auch ewig lange, den Mc Donalds zu suchen. Blöderweise verfahre ich mich prompt und fürchte schon, Jan nie wieder zu finden, bis ich doch wieder am Ausgangspunkt lande und im zweiten Anlauf auch wieder bei Jan ankomme.

„Du hast aber lange gebraucht,“ meint dieser und reicht mir sogleich eine Tüte.

„Jaaa… viel Betrieb,“ lüge ich und nehme ihm die Tüte ab.

Dann sitzen wir schweigend im Auto und essen gierig unsere Burger.

„Glaubst du, wir schaffen es nach Meschede?“, will Jan irgendwann wissen und ich sehe ihn an.

„Weiß nicht. Aber wenn wir das schaffen, dann können wir es morgen ruhiger angehen lassen,“ weihe ich ihn in meinen Plan ein.

„Wo sollen wir eigentlich schlafen?“, will er dann wissen und wir sehen synchron auf die Rückbank. „Hier?“

„Warum nicht,“ zucke ich mit den Schultern. „Oder hast du ein Zelt dabei?“

Er muss lachen und dann essen wir schweigend zu Ende.
 

Wir haben beide keine Lust, in den verwirrenden Straßen Frankfurts nach einem Supermarkt zu suchen und verschieben unsere Einkaufstour auf eine andere Stadt. Und so lassen wir Frankfurt und auch bald Bad Villbel hinter uns.

„Vielleicht sollten wir doch die Autobahn nutzen,“ überlege ich irgendwann, weil ich absolut keine Lust mehr habe, weiter durch die Pampa zu fahren. Jannis überlegt nicht lange, sondern willigt sofort ein. Aber letztlich bleiben wir doch brav und folglich auf sicherem Gebiet. Wir sind ja solche Memmen, denke ich. Aber wir wollen ja auch nicht, dass unsere Fahrt unschön endet. Es gibt nur ein Ziel und das ist das Meer. Wir werden erst aufhören, wenn wir die Wellen an unsere Beine streifen spüren.

Schon bald erreichen wir Karben und ich blicke auf die Uhr. „Wir schaffen es wohl doch nicht bis Meschede.“

Und damit meine ich nicht nur die lange Wegstrecke, die noch vor uns liegt, sondern die Tatsache, dass ich nicht bis in die Nacht hinein fahren kann.

Wir halten an einem Rastplatz und vertreten uns die Beine. „Wenn wir bis nachts durchfahren schon,“ kommt Jan dabei der gleiche Gedanke, wie mir und nun muss ich gestehen: „Das schaffe ich nicht.“

In einem plötzlichen Anflug von Wut, trete ich gegen den VW. „Verdammt, auf was haben wir uns nur eingelassen?“

Plötzlich wünsche ich mich doch wieder nach Hause, wo ich jetzt vielleicht Hausarrest hätte… Stattdessen stehen wir hier, ohne Sinn und Verstand, und versuchen nach Kiel zu fahren.

Genauso schnell, wie die Zweifel kamen, gehen sie aber auch wieder und spätestens, als Jannis meint „Dann fahr eben doch ich.“ habe ich ganz andere Sorgen.

„Nachts, wenn kaum einer unterwegs ist, kann ich doch fahren. Das fällt doch kaum auf,“ meint er, ehe ich protestieren kann. Er sieht mich wild entschlossen an und ich sehe unsicher zurück.

„Dein Ernst?“, will ich wissen und weiß nicht, was ich davon halten soll.

Er nickt und ich grinse. „Man, du wirst ja richtig unartig,“ lache ich dann und er zeigt mir den Mittelfinger.

„Ich hätte nie gedacht, ausgerechnet mit einem Idioten wie dir auf große Fahrt zu gehen,“ meint er dann und ich muss zustimmend nicken.

„Ich hätte auch nie gedacht, mal mit einem Freak wie dir nach Kiel zu trampen,“ erwidere ich feixend.

Jannis und ich kennen uns nun schon seit der Grundschule. Aber spätestens, als er zum Emo mutiert ist, hat sich eine Abneigung zwischen uns entwickelt, von der wir nie dachten, dass wir sie so leicht beilegen könnten.

Aber nun sind wir seit einem Tag zusammen im Auto und wir haben uns noch immer nicht gegenseitig erwürgt. Eigentlich ein beachtlicher Fortschritt, nicht?

„Lass uns weiter fahren,“ fordert Jan und ich stimme zu. Wir haben noch einen weiten Weg vor uns.

Not macht erfinderisch

Nach Karben folgt Friedrichsdorf und nach Friedrichsdorf Friedberg. Wir verbringen die Autofahrt schweigend, hören nur auf das Radio, dass schon zum gefühlten hundertsten Mal die CD von My chemical romance durchspielt. Meine Aufforderungen an Jannis, doch eine andere einzulegen, blieben bisher unerhört. Er hat den Kopf ans Fenster gelehnt und sieht aus, als würde er schlafen. Aber dafür bewegt er sich zu viel.

„Jan?“, unternehme ich einen neuen Versuch. Er schielt zu mir, ich sehe seine wasserblauen Augen auf mir ruhen. Aber er sagt nichts. „Von mir aus auch eine von deinen CDs,“ lenke ich ein, weil ich bisher erfolglos meine eigenen angepriesen habe.

Zuerst kommt keine Reaktion. Doch dann streckt er müde einen Arm aus, holt die CD aus dem Player und schiebt eine andere rein. Dann schließt er die Augen wieder und rutscht in eine bequemere Position.

Vielleicht die Hälfte der Strecke, die wir für den heutigen Tag geplant haben, haben wir nun geschafft. Ich bin erleichtert, auch wenn es schon später Nachmittag ist.

Nach einer Weile atmet er dann doch gleichmäßig und scheint tatsächlich eingeschlafen zu sein. Ich lasse ihm seinen Schlaf. Ich kenne den Weg erst einmal ungefähr und er soll später fit sein, wenn er fahren muss. Es ist eh schon risikoreich, wenn er, trotz dem Mangel an einem Führerschein, fährt.

Ich blicke zu ihm und denke an unser Gespräch. Ich hab ihn nie sonderlich gemocht, nicht mal, als er noch ‚normal’ war. Er gehörte nie zu meinen Freunden, damit sind wir aber beide klar gekommen. Jetzt sitzen wir hier im gleichen Boot und verstehen uns plötzlich gut, können normal miteinander reden. Wer hätte das jemals gedacht?

Und entgegen meiner Befürchtung, es würde noch eskalieren, läuft alles gut. Wir denken ähnlich und treffen schnell Entscheidungen. Fast so, als wäre ich mit Micha hier, als wären wir Freunde.

Irgendwann erwacht er wieder und reißt mich aus meinen Gedanken. „Hab ich was verpasst?“

Ich sehe zu ihm. Wir sind an Bad Nauheim vorbei und kurz vor Butzbach.

„In Bad Nauheim ist ne nackte Oma auf die Straße gerannt, aber sonst war nichts…“

Ich grinse. Die Oma… na ja, sie war nicht nackt. Sie trug einen Badeanzug. Aber sie ist auf die Straße gerannt, ihrem Hund nach. Den hätte ich fast erwischt, wenn sie ihn nicht noch, gerade rechtzeitig, zurück gepfiffen hätte...

„Verarsch mich nicht,“ mault er nur. Er glaubt mir also nicht. Ich lache amüsiert. „Mach ich nicht. Das war so.“ Dann pruste ich los und zerstöre mein letztes bisschen Glaubwürdigkeit. „Kein schöner Anblick,“ füge ich dennoch hinzu und langsam ziert auch sein Gesicht ein Grinsen, auch wenn er es mich dennoch sicher nicht abnimmt.

„Butzbach ist nicht so toll, wie ich dachte,“ meint er dann, als wir eben jenes erreichen und er aus dem Fenster blickt.

„Was erwartest du von einer Stadt, die Butzbach heißt?“ Ich sehe ihn an und ziehe eine Braue hoch. Zumindest versuche ich das. Irgendwie klappt das nicht so ganz und sicher sehe ich jetzt total komisch aus. Ich entspanne mein Gesicht schnell wieder, aber Jannis grinst schon wieder. Super...

„Wir sind bald in Gießen,“ werfe ich also ein, um abzulenken.

„Bald ist gut,“ stöhnt er auf und blickt auf die Karte, ehe er mich irgendwann mit unzufriedenem Gesichtsausdruck ansieht. „Hier drin stinkts.“

Die Klimaanlage funktioniert noch immer nicht richtig und ich öffne doch wieder ein Fenster, obwohl wir im Moment so schnell fahren, dass wir sicher einen Zug kriegen werden.

„Ich fühle mich, als hätte ich drei Tage nicht geduscht,“ stimme ich ihm zu und in der Tat fühle ich mich einfach nur dreckig. Schweißperlen rinnen mir ständig über das Gesicht und mein Hemd klebt an meinem Rücken.

„So riechst du auch,“ neckt Jan mich und ich zeige ihm den Mittelfinger. „Glaub mir, du riechst genauso.“

„Nach Gießen fahren wir an einem Fluss entlang,“ meint er daraufhin ohne auf meine Worte einzugehen, „Lass uns da irgendwo anhalten und baden.“

Oh und manchmal muss man ihm einfach lassen, dass er auch gut Ideen haben kann. Ich sehe ihn anerkennend an. In meinem Wahn, einfach so schnell wie möglich in Meschede anzukommen, hab ich ganz vergessen, dass sich mit einem Fluss auch unsere hygienischen Probleme erledigen.

„Ganz, wie Madame wünscht,“ grinse ich ihn also an und nun zeigt er mir doch seinen Mittelfinger. Ein Eigentor, wie ich feststelle, weil er seine Nägel schwarz lackiert hat. Aber dazu sage ich nichts, ich will mein Glück nicht herausfordern.

Stattdessen konzentriere ich mich auf die Straße und sinniere über die wundervolle Idee, baden zu gehen. Ich kann es kaum erwarten, mich endlich in die kalten Fluten zu stürzen.
 

Einige Zeit später erreichen wir Gießen und lassen es auch bald hinter uns. Und dann sehen wir auch schon die Lahn.

Wir wählen extra eine Strecke, am Fluss entlang und finden irgendwann einen kleinen Rastplatz, von dem es nicht weit zum Fluss ist. Glücklich springen wir aus dem Auto, kaum habe ich das Auto abgestellt.

„Ich hoffe, jetzt kommt keiner,“ meint Jannis, während er sich von seinem Shirt und seiner Hose befreit und dann losstürzt.

Ich sehe ihm nach, kämpfe noch mit den vielen Knöpfen meines Hemdes. Ich sollte mir wirklich auch ein Shirt drüber ziehen, wenn wir gebadet haben!

Irgendwann stolpere ich ihm hinterher und springe ebenfalls glücklich ins Wasser.

Wie gut so was tun kann. Gleich fühle ich mich sauberer. Überhaupt habe ich darauf schon Lust, seit wir vorhin mit den Füßen im Wasser waren!

Während ich noch das kühle Nass genieße, ist Jannis schon einen Schritt weiter und ehe ich mich versehe, habe ich einen großen Schwall Wasser ins Gesicht bekommen. Ich sehe ihn empört an, während mir meine dunkelblonden Haare nass ins Gesicht hängen und sicher schon dabei sind, leichte Locken zu bilden. „Das kriegst du zurück,“ warne ich ihn und attackiere ihn mit Wasser.

Aber irgendwie kriegt er gar nichts zurück. So schnell, wie er ausgewichen und verschwunden ist, kann ich gar nicht gucken. Im nächsten Moment stehe ich alleine im Wasser und Jan ist am Rand und trocknet sich ab.

„Hey,“ beschwere ich mich und er grinst mich an. „Bevor du meine Frisur zerstört…“ Ich verdrehe die Augen.

„Weib!“

Und schon streckt er mir die Zunge raus. Ich grinse und folge ihm zurück ans Ufer.

„Wenn wir in Marburg sind, lass uns einkaufen gehen,“ meint er in einem plötzlichen Einfall. Ich stimme ihm zu, weil wir wirklich langsam Wasser und Essen brauchen. Mein Bauch meldet sich erneut so langsam wieder zu Wort und die Getränke, die wir für den Ausflug eingepackt haben, gehen zur neige.

Wir trocknen uns flüchtig mit den alten Shirts ab und laufen dann ohne zum Auto, um uns dort neu einzukleiden.

Ich tausche meine Jeans gegen Shorts und Jannis hat tatsächlich eine dreiviertellange schwarze Hose dabei – und ich dachte immer, er trägt nur Röhrenjeans. Shirts lassen wir weg, dafür ist es irgendwie immer noch zu warm.

Wenig später sitzen wir sauber wieder im Auto und sind bereit für den Rest der Fahrt.
 

Wir fahren eine ganze Weile an der Lahn entlang, ehe wir endlich Marburg an der Lahn erreichen. Einen Supermarkt zu finden, ist nicht schwer und wenig später halte ich auf einem überfüllten Parkplatz. Einen kurzen Moment sehen wir einer Frau zu, die ihr Kind schimpft, weil es heulend um ein Eis bettelt, dann steigen sie in das Auto neben uns und fahren weg. „Ich will auch ein Eis,“ stelle ich daraufhin fest und sehe zu Jan, der sich schon abgewandt hat, um nach einem frischen Shirt zu suchen. Ich tue es ihm gleich. Ordentlich angezogen treten wir dann aus dem Auto und laufen zum Eingang des Supermarktes.

Darin ist es kühler als draußen, aber nicht wirklich angenehm. Während wir durch die Gänge streifen, blicken uns ein paar alte Omas nach und ich werde das Gefühl nicht los, das könnte an Jannis liegen. Aber weil es ihn nicht zu stören scheint, stört es mich sicher auch nicht. Ich folge ihm brav und überlasse ihm das einkaufen. Er ist es ja auch, der mit dem Einkaufswagen durch die Gänge schrubbt.

„Auf was hast du so Hunger?“, möchte er irgendwann von mir wissen und ich sehe mich in den Regalen um.

„Keine Ahnung. Ich will ein Eis,“ unternehme ich einen erneuten Versuch, der gekonnt ignoriert wird. Irgendwie komme ich mir vor, als wäre ich das bettelnde Kind und Jannis die Mummy. Ich muss grinsen.

„Was ist?“, will er daraufhin wissen und ich winke nur ab. „Lass uns was einkaufen, was man nicht unbedingt warm machen muss, aber das man auch nicht kühlen muss.“

Okay, das schränkt unsere Möglichkeiten enorm ein, aber Jannis findet unsere Rettung. In den Sonderangeboten findet sich nämlich ein Dosenöffner und wenig später haben wir Dosensuppen in Massen eingekauft, zusammen mit Brot, Marmelade, Müsliriegeln und Obst.

Außerdem wuchtet er gefühlte tausend Liter Wasser in den Einkaufswagen. Bei der Hitze widerspreche ich aber nicht.

Es finden sich auch Plastiklöffel, mit denen wir die Suppe essen können und – oh Wunder – er drückt mir tatsächlich ein Eis in die Hand, ehe wir zur Kasse gehen. Ich könnte ihn abknutschen! Naja… nicht wirklich…

Wir bezahlen – dank der Wasserfalschen doch ein wenig mehr, als gedacht – und kutschieren unseren überfüllten Einkaufswagen dann wieder zum alten VW, der treu auf uns wartet.

„Also langsam geht der Platz aus,“ grinst Jannis, als wir umständlich die Reisetaschen, die ganzen Dosen und Getränkeflaschen und was wir sonst noch eingekauft haben, in den kleinen Kofferraum quetschen. Kaum zu glauben, aber irgendwie geht er dennoch zu.

Mit genügend Essen und Wasser im Gepäck, könnten wir jetzt eigentlich gleich nach Kiel durchfahren, wäre es nicht so eine verdammt weite Strecke. Wir steigen wieder in den Wagen, ich lenke ihn wieder auf die Straße und weiter geht es an der Lahn entlang, bis wir Hessen hinter uns lassen und Nordrhein-Westfahlen erreichen.
 

Es ist nach Acht, als wir in Bad Berleburg ankommen.

„Wir schaffen es tatsächlich heute noch bis Meschede,“ meint Jan erstaunt und ich grinse ihn stolz an, weil ich eine so gute Zeitplanung besitze. Er ignoriert das, was wirklich frustrierend ist. Mit ihm kann man gar nicht streiten, weil er einen immer ignoriert.

Als wir irgendwann am späten Abend in Schmellenberg ankommen und ich am Straßenrand parke, sieht Jannis ein wenig unglücklich aus. Aber ich kann wirklich nicht mehr und es ist jetzt dunkel genug, dass er den Rest fahren kann.

„Du bist dran,“ prophezeie ich ihm und er steigt nickend aus und wir tauschen Plätze.

Wahrscheinlich vor Aufregung, würgt er dreimal ab, ehe er ein wenig unsicher losfährt. Aber die erste Scheu verfliegt schnell und ich muss sagen, dass er gut Auto fährt.

„Das ist der beste Praxisunterricht, den du je haben wirst,“ meine ich zu ihm. „Wenn du deine Prüfung dann nicht bestehst, weiß ich auch nicht.“

Er sieht mich unglücklich an und ich schätze mal, er denkt daran, nie zur Prüfung antreten zu können, falls er jetzt ohne Führerschein erwischt wird. Ich lege ihm beruhigend eine Hand aufs Knie. „Hier ist keiner und du fährst gut. Das wird schon. Es ist ja nicht mehr weit.“

Ich helfe ihm ein wenig, mache ihn auf Geschwindigkeitsbegrenzungen aufmerksam, sag ihm, wenn mir etwas auffällt oder er schalten sollte. Aber meistens macht er das schon instinktiv und ich bin eigentlich überflüssig. Dennoch habe ich das Gefühl, dass ihm das die Sicherheit gibt, die er braucht. Ich könnte glatt Fahrlehrer werden, so gut wie ich mich da mache. Diese Erkenntnis teile ich Jan sogleich mit und er muss lächeln. „Was ist? Was willst du denn nach dem Abi machen?“, frage ich ihn daraufhin.

„Keine Ahnung. Ich dachte, ich werde Autoknacker,“ überlegt er und ich pruste los. „Oh ja, ich glaube, darin würdest du dich gut machen.“

Schon habe ich ein Bild von uns Beiden im Kopf, wie wir, ganz wie Bonnie und Clyde, Banken überfallen und dann Autos stehlen und abhauen.

Als ich ihm davon erzähle, schüttelt er nur den Kopf. „Und ich bin Bonnie, oder was?“

Damit nimmt er mir leider den Wind aus den Segeln, aber den Kommentar, dass ihm diese Figur tatsächlich auf den Leib geschneidert ist, kann ich mir nicht verkneifen.

„Lass uns das als Decknamen verwenden, wenn das FBI sich in unseren Fall einschaltet.“

„Das FBI“, stöhnt Jannis – wahrscheinlich über meine Dummheit. Ich grinse nur.
 

Als wir wenig später einen Rastplatz nahe Meschede erreichen, können wir unser Glück kaum fassen. Vor allem Jannis sieht aus, als ob er vor Erleichterung heulen würde, was an dem Polizeiauto liegen könnte, dass die letzten paar Meter hinter uns gefahren ist, aber uns zurückgelassen hat, als wir zum Rastplatz abgebogen sind.

Jan vergräbt nun jedenfalls das Gesicht in den Händen und ich fürchte schon, er muss tatsächlich heulen, aber schon nimmt er die Hände wieder weg und sieht mich aus klaren Augen an.

„Nie wieder,“ stößt er hervor und ich nicke zustimmend.

Man soll sein Glück ja nicht ausreizen.

„Du bist übrigens toll gefahren,“ meine ich dann anerkennend, um ihn ein wenig aufzuheitern und er lächelt mich schwach an.

Dann steigen wir aus, klappen unsere Sitze zurück und versuchen, es uns irgendwie mit T-Shirts als Kopfkissen bequem zu machen.

„Das wird eine beschissene Nacht,“ stelle ich fest, während wir in uns in den VW quetschen.

„Der Preis der Freiheit,“ sinniert Jan daraufhin und wir müssen lachen, ehe ich mein Gesicht in ein Haufen T-Shirts presse.

„Die haben es echt nicht gemerkt,“ stelle ich ungläubig fest. „Der Köpke wird so Ärger kriegen, wenn rauskommt, dass er sich nicht richtig um unseren Verbleib gekümmert hat.“

„Das er sich nicht wundert, dass der Rektor ihn nicht angerufen hat, wegen der Sache…“, erwidert Jannis.

„Tja. Er denkt sicher, wir sind die totalen Problemkinder, oder Freaks, oder so… und jeder würde das so sehen, so dass seine Entscheidung keiner jemals hinterfragen würde.“

„Du Problemkind, du,“ murmelt der Emo daraufhin und ich piekse ihm in die Seite. „Du Freak, du.“

„Findest du wirklich, dass ich komisch bin?“, will er daraufhin wissen und ich seufze. „Nein man. Ich dachte es immer, aber du bist es nicht.“

„Ich finde auch nicht, dass du ein Arsch bist. Dabei dachte ich das immer…“

Ich muss lächeln. „Ich mag dich, Jannis, weil du manchmal so scheiße bist.“ „Das kann ich nur zurückgeben.“
 

Ich habe eine unruhige Nacht, wache oft auf und fühle mich am Morgen wie gerädert. Ich bin sicher, Jan geht es ähnlich, denn als der Wecker meines Handys klingelt, vergräbt er sein Gesicht nur unzufrieden in seinen Shirts und schläft weiter. Ich drehe mich umständlich auf die Seite und blicke aus dem Fenster. Draußen ist es hell, es ist ja bereits sechs Uhr morgens.

Der Entschluss, ein billiges Motel zu suchen, setzt sich in mir fest, weil das Übernachten im Auto einfach eine Zumutung ist.

Ich fürchte, ich habe gerade genug Schlaf abbekommen, um das Auto auf der Straße gerade halten zu können und zum ersten Mal kommen mir Zweifel, ob ich mir nicht zu viel zugemutet habe. Es wäre leichter, wenn Jan und ich uns abwechseln könnten, aber ich glaube, so eine Situation wie gestern Abend, möchte keiner von uns Beiden wieder erleben.

Ich seufze. All das nützt mir jetzt nichts, wir müssen aufstehen. Ich richte mich also auf und schüttle Jannis leicht, bis er müde die Augen öffnet und sich langsam aufrichtet.

„Ich habe kaum geschlafen,“ erörtert er mir und ich erwidere, mir geht es genauso. „Lass uns in Meschede Kaffee holen,“ kommt ihm dann die Idee und wir beschließen, dass sofort zu erledigen. Also steigen wir aus, strecken uns und laufen dann den kurzen Fußmarsch nach Meschede, das Auto bleibt stehen, weil ich zu müde bin, zu fahren.

In der Stadt dauert es zum Glück nicht all zu lange, bis wir einen Bäcker finden und diesen betreten. Darin riecht alles herrlich nach frischen Gebäck und Kaffee. Die Leute, die den gleichen Gedanken hatten, wie wir, sehen uns komisch an und ich bin sicher, wir machen auch keinen guten Eindruck. Ringe unter den Augen, durchgeschwitzte Klamotten, unrasiert… Und Jannis verschmiertes Make-up als krönenden Abschluss. Ich muss grinsen. „Neben dir sieht man einfach immer gut aus,“ grinse ich und ich glaube, er ist zu müde, um etwas zu erwidern.

Als wir endlich unseren Coffee to go in Händen halten, machen wir uns auf den Rückweg. Um diese Uhrzeit ist die Temperatur noch angenehm und ich kann mir nichts Schöneres vorstellen, als wenn es den ganzen Tag angenehm kühl bleiben würde. Aber sicher wird es heute genau so ein heißer Tag, wie gestern.

Wir sind ein wenig froh, als wir die Stadt hinter uns lassen. Nicht nur, weil uns dann keiner mehr angucken kann, wie ein Alien, sondern einfach, weil wir uns an unsere gemeinsame Einsamkeit gewöhnt haben.

Mal wieder streift mein Blick Jannis, der wortlos an seinem Kaffee nippt. „Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal sage, aber ich bin gerne mit dir zusammen.“

Er wirft mir einen Blick zu. „Ich weiß, was du meinst.“
 

Wenn man nichts hat, muss man erfinderisch sein. Und ich kann Jannis nur anrechnen, wie erfinderisch er ist. Gerade schmiert er sich Rasierschaum ins Gesicht und rasiert sich im Rückspiegel die Bartstoppeln weg.

Ich sehe ihm eine Weile dabei zu, bis ich beschließe, dass ich es ihm gleichtun sollte.

Der Kaffee hat wahre Wunder gewirkt. Ich fühle mich fitter und vor allem Jan ist von den Toten auferstanden und gleich nach unserer Ankunft am Auto begonnen, sich abzuschminken.

Es war gestern eine gute Idee, mehr Wasser als nötig zu kaufen, denn man kann das Wasser natürlich super für die Hygiene nutzen. Zwar ist es eine absolute Verschwendung, das teure Vulkangesteinwasser für das Abwaschen von Rasierschau zu nutzen und sich damit nach dem Zähneputzen den Mund anzuspülen, aber in unserer Not müssen wir mit dieser Sünde leben. Das zumindest hat Jannis sarkastisch vor sich hin gemurmelt, als ich meinte, es wäre schade um das gute Wasser. Aber er hat ja Recht. Besser das, als ungepflegt durch die Gegend zu laufen.
 

Kaum zu glauben, dass wir all das in einer Stunde geschafft haben. Aber es ist tatsächlich erst sieben Uhr, als wir unsere Fahrt fortsetzen, um einiges gepflegter und mit Deo eingesprüht.

Das nächste Ziel: Warstein. Fürs erste.

Beim Bäcker haben wir zwei trockene Brötchen erstanden und während ich fahre, öffnet Jannis diese mit einem Taschenmesser und krümelt dabei das ganze Auto voll. Aber wir haben beschlossen während der Fahrt zu essen, um nicht mehr Zeit zu verlieren. Nun streicht er dick die gekaufte Marmelade auf das Brötchen und ich trauere meinem Taschenmesser nach, das jetzt verklebt am vor sich hin vegetiert, bis wir wieder an einem Fluss halten, um es zu säubern.

Dennoch bin ich dankbar über das Marmeladenbrötchen, mit dem Jan mich jetzt füttert. Irgendwie eine seltsame Situation, aber wir sagen nichts dazu. Hauptsache essen, und es fährt sich nun mal nicht gut, mit einem Brötchen in der Hand. Da sind mir die Umstände egal.

„Ob sie es wohl schon bemerkt haben?“, will er irgendwann wissen und ich zucke mit den Schultern. Wir vermuten noch immer, dass der Köpke doch noch mit dem Rektor telefonieren könnte, aus welchen Gründen auch immer, und dann alles raus kommt.

Von einer unbegründeten Panik ergriffen, blickt Jannis erst auf sein Handy und nach meinem Drängen auch auf meines, ehe wir sicher sein können, dass niemand versucht hat, uns zu erreichen. Nur eine SMS von Micha ist auf meinem Handy zu finden. Darin schreibt er, dass die Fahrt langweilig ist und ich froh sein soll, nicht dabei zu sein. Ich sage ihm nicht, dass ich gerade mehr Spannung erlebe, als vielleicht gut für mich ist, sondern trage Jan nur auf, ihm zu antworten, dass wir uns im Unterricht abquälen und ihm noch viel Spaß wünschen.

„Wenn er raus findet, was wir hier tun, wird er sich dafür hassen, mit auf den Ausflug gegangen zu sein.“ Ich lache belustigt auf.

Wenig später erreichen wir Warstein.

„Kommt hier eigentlich das Bier her?“, will ich wissen und Jan nickt. „Sicherlich.“

„Lass uns ein Bier kaufen,“ meine ich belustigt und er verdreht die Augen.

Nach einiger Zeit wühlt er im Handschuhfach nach der Karte, während wir schon wieder Büren erreichen und verlassen.

„Was meinst du? Wie weit kommen wir heute?“ Er sieht mich fragend an, während ich Richtung Salzkotten fahre.

„Ibbenbüren wäre cool,“ befinde ich, nachdem ich einen flüchtigen Blick auf die Karte geworfen habe. Mein nächster Blick fällt auf die Tankanzeige, die sich kurz vorm Absaufen befindet und wir halten erst Mal Ausschau nach der nächsten Tankstelle. Diese kommt zum Glück schneller, als erwartet und wir machen Halt.

Während ich auftanke, ist Jannis schon in der Tanke verschwunden – sicher muss er pinkeln, das tut er ja ziemlich gerne – und wartet dann darin auf mich. Wir kaufen noch etwa zu Essen, dann geht’s weiter.

„Gott, hab ich Hunger!“, meine ich und beiße gierig ein großes Stück von dem Pizzastück ab, welches Jannis erstanden hat.

„Reiß dich zusammen und warte bis Mittag, sonst hast du gleich wieder Hunger,“ kommt es nur gänzlich kaltherzig von Jan und er reißt mir die Pizza aus der Hand, ehe ich protestieren kann. Obwohl ihr verführerischer Duft das ganze Auto erfüllt, faste ich ihm zu liebe weiter. Er hat ja auch Recht.

Irgendwann erreichen wir dann Salzkotten und überqueren die Lippe, um auch bald in Delbrück anzugelangen. Unser nächstes Ziel ist Rietberg und wir hoffen, dass wir dort irgendwo baden gehen können.
 

Doch ehe wir auch nur ans Baden denken können, kommt uns etwas in die Quere. Ein kleiner Stau. Wir fahren langsam auf diesen zu und sehen langsam, aber sicher, was sich da vor uns auftut. Eine Straßensperre. Aber das ist nicht das Schlimme. Das Schlimme sind die Polizisten, die in jedes Auto blicken, ehe sie es weiterwinken oder sich kurz daran aufhalten. Eine allgemeine Fahrzeugkontrolle? Mir wird schlecht und ich blicke zu Jan, der ungewöhnlich blass um die Nasenspitze ist – also noch blasser, als normal.

Was sollen wir jetzt tun? Wir können hier nicht weg. Zum einen wäre das total auffällig, zum anderen sind hinter uns Autos zum stehen gekommen, so dass ich nicht einfach den Rückwärtsgang einlegen und lospreschen kann.

Ich sehe ängstlich zu, wie der Polizist ein paar Autos durchwinkt, ehe er einen VW kurz kontrolliert und auch weiter winkt. So geht das eine ganze Zeit und plötzlich ahne ich, was dort vor sich geht. Nun ist es aber eh zu spät, abzuhauen, denn das Auto vor und wird durch gewunken und nun sind wir dran. Ich lasse das Fenster herunter und sehe aus den Augenwinkeln, wie Jan immer weniger wird, auf seinem Sitz. Sicher rutscht er gleich in den Fußraum. Vielleicht denkt der Polizist ja, er sei krank und lässt uns schnell weiter fahren. Ich könnte ja auch behaupten, er wäre schwanger und ich müsse schnell zum Krankenhaus, weil das Baby kommt… Ob er uns das glaubt? Mental ohrfeige ich mich für meine dummen Gedanken, während ich nach außen hin unbeteiligt tue und nett ‚Hallo’ sage.

Der Polizist aber beachtet meinen Gruß gar nicht, wendet sich nur nach hinten und ruft: „Hier ist noch ein VW Golf.“ Dann mustert er mich und mir rutscht das Herz in die Hose, weil sich meine Vermutung endgültig bestätigt. Die suchen einen VW Golf. Die suchen uns. „Führerschein und Fahrzeugpapiere, bitte,“ fordert er uns nun auf und ich kann gar keinen klaren Gedanken mehr fassen. Es ist Jan, der plötzlich die Ruhe weg hat und tatsächlich in das Handschuhfach greift, um den Fahrzeugschein herauszuholen.

Am liebsten würde ich seine Hand packen und ihn aufhalten, weil ich nicht mehr weiß, was schlimmer ist: Gar keinen Fahrzeugschein aufweisen zu können oder den eines geklauten Autos. Mir wird so übel, dass ich mir fast auf den Schoß kotze.

Ob es hilft, zu behaupten, dass Köpke mein Onkel ist und mir seinen Wagen geliehen ha? Aber wenn sie Köpkes Wagen suchen, dann liefern wir ihnen mit dem scheiß Papieren den ultimativen Beweis. Ganz abgesehen von meinem beschissenen B-17-Führerschein, den er ja auch sehen will.

Als mir gerade klar wird, dass wir in der Falle sitzen, suche ich in meiner Jacke – hinten auf dem Beifahrersitz – nach meinem Führerschein und nehme den Wisch aus dem Handschuhfach an mich, um beides dem Polizisten auszuhändigen. Kurz bin ich geneigt, einfach zu fliehen, aber das würde nur in einer rasanten Verfolgungsjagd und mächtig viel Ärger enden.

Als ich dem Typen gerade das Zeug in die Hand drücken will, ruft von hinten einer seiner Kollegen: „Wir suchen aber einen schwarzen, keinen roten!“

Der Typ vor mir sieht zu ihm, dann wieder zu mir, dann zuckt er die Schultern. „Ihr habt’s gehört, Jungs. Ihr könnt weiter fahren, ihr seit die Falschen.“

Fast pisse ich mir in die Hose, nicht vor Angst, sondern vor überdimensional großer Erleichterung. Ich mach, dass ich davon komme, ehe er doch noch unser Zeug sehen will und sehe, wie er ungeduldig das nächste Auto heran- und weiter winkt.

Wir fahren einige Kilometer, ehe wir uns langsam entspannen und wieder Leben in uns kommt. Ich blicke zu Jan, er zu mir, dann fangen wir Beide an, gleichzeitig zu lachen und zu heulen. Er sieht blass aus. Ich möchte nicht wissen, wie ich aussehe!

Müde reibe ich mir die Augen und richte meine Aufmerksamkeit dann wieder nach vorn, auf die Straße. Trotzdem kann ich nicht umhin, das Ereignis immer wieder in Gedanken durchzuspielen. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, hätten wir ihm den Fahrzeugschein ausgehändigt, ehe der Andere eingegriffen und Entwarnung gegeben hat… Jetzt ist mir doch wieder schlecht vor Panik und ich muss kurz anhalten und mich sammeln, ehe es weiter gehen kann…

Nach der kurzen Pause verdrängen wir das Geschehen lieber, weil es einfacher ist, statt darüber zu reden. Stattdessen lenken wir uns vom Erlebten ab, in dem wir über jeden Scheiß sprechen, der uns gerade in den Sinn kommt und uns wieder darauf konzentrieren, eine Stelle zum Baden zu finden. Es fuktioniert. Während draußen die Landschaft vorbei zieht, klingt der Schock langsam ab...

Vom begossenen Pudel, der baden ging

Tatsächlich finden wir eine Stelle, an der wir halten können und den Fluss gleich in der Nähe haben. Mit dem Kram, den wir benötigen, und Klamotten zum wechseln, machen wir uns auf den Weg und springen auch gleich in die Ems.

Die Mittagssonne ist noch nicht raus und so ist das Wasser noch angenehm kühl, so dass es richtig erfrischend ist, zu baden. Ab und an geht ein leichter Wind und es ist fast schon wieder kalt.

Ich tauche unter und wasche notdürftig meine Haare. Shampoo verwenden wir keines. Wir wollen den Fluss ja nicht verseuchen. Und wenn ich sage wir, dann meine ich auch wir. Jannis hat, seiner Frisur zum trotz, nämlich auch seine Haare nass gemacht, da sie ihm eh wegen all dem Schwitzen platt am Kopf kleben und keine Frisur mehr bilden.

Ich grinse ihn an. „Jetzt siehst du aus wie ein begossener Pudel,“ verkünde ich ihm und er schiebt seine langen schwarzen Haare aus seinem Gesicht. „Wenigstens sehe ich nicht wie ein Löwe aus,“ kontert er und deutet auf meine Haare, die sich wild ringeln. Ich seufze. Aber sobald sie trocken sind, hab ich keine Locken mehr sondern einfach nur wuschlige Haare, die ich mit ein wenig Haargel schon irgendwie in Form kriege. Jedenfalls stört mich meine Frisur recht wenig, im Gegensatz zu Jannis, der unglücklich an seinen Spitzen herumzupft.

Wir bleiben länger am Fluss, als geplant. Aber es tut gut, sich in die Sonne zu legen und sich von ihren warmen Strahlen trocknen zu lassen. Ich genieße das so sehr, dass ich kurzzeitig sogar einnicke und nach geraumer Zeit erst wieder erwache. Die Sonne scheint mir nun voll ins Gesicht – wahrscheinlich der Grund für mein Erwachen – und ich sehe mich nach Jan um. Ich entdecke ihn am Fluss.

„Was zur Hölle tust du da?“, frage ich und sehe ihn ungläubig an.

„Ich rasiere meine Beine,“ kommt die Antwort, so ruhig, als wäre es selbstverständlich.

„Aha… Warum?“, bricht es aus mir heraus.

„Du hast geschlafen, da dachte ich, hab ich Zeit, das zu machen. Ich mag keine Stoppeln an den Beinen.“

Ich schüttle den Kopf. „Das ist echt schwul,“ stelle ich fest und er verdreht die Augen. Kaum ist er fertig, geht es zurück zum Auto.

Wir haben genug Zeit vergeudet, es ist bereits Ein Uhr nachmittags.
 

Verl ist gleich erreicht, aber bis Gütersloh wird es noch dauern.

Das alles ist mir aber rechtherzlich egal, denn ich habe es irgendwie – einem Weltwunder gleich – geschafft, Jannis dazu zu bekommen, eine meiner CDs zu hören. So rappe ich leise mit, während mein Beifahrer unglücklich vor sich hinstarrt. Irgendwann macht er seinem Unmut damit Ausdruck, dass er sich tot stellt und nicht auf meine Fragen nach dem Weg antwortet. „Ach Jannilein,“ meine ich und so schnell kann ich gar nicht gucken, wie er mir die Karte entgegen schleudert und sie auf meinem Schoß zum liegen kommt. Ich muss grinsen, was ihn sicher noch mehr provoziert.

„Jetzt stell dich nicht so an. Ich musste mir die ganze Zeit deine Musik antun.“

„Du hast auch normale CDs in deiner Tasche. Aber es musste HipHop sein,“ brummt er und spielt damit sicher auf die Green Day CD an, die irgendwo hinten im Kofferraum liegt. Wir haben sicher fast eine halbe Stunde diskutiert, was wir nun hören, ehe ich mich einfach durchgesetzt und meine HipHop CD eingeschoben haben, was ihm gar nicht gepasst hat. Seitdem ist er so.

„Ich hab jetzt eben mehr Lust auf so was,“ meine ich und deute aufs Radio. Er verschränkt nur die Arme und ignoriert mich.

„Hör auf damit,“ fordere ich und sehe ihn grimmig an.

„Glotz auf die Straße,“ faucht er zurück und ich muss grinsen. Kampfzwerg in Action.

„Und hör auf zu grinsen.“ Das bringt mich allerdings nur dazu, noch breiter zu grinsen und als nächstes wirft er mit einer Taschentuchpackung nach mir. Ich lache laut los, mach dann aber schnell ein ernstes Gesicht, ehe er mit dem Taschenmesser wirft.

Danach herrscht Schweigen. Er guckt mürrisch aus dem Fenster und ich summe vor mich hin.

Irgendwann ist die CD zu ende und ich schiele zu Jan, der das Radio mit Blicken taxiert und darauf wartet, was ich jetzt tue. Nur, um ihn zu provozieren, lasse ich die CD wieder von vorne beginnen, statt sie auszutauschen. Der Gesichtsaudruck, den er daraufhin auflegt, ist so göttlich, dass ich am liebsten ein Foto machen würde. Ich lasse den ersten Song noch mal durchlaufen, während ich belustigt vor mich hingrinse. Dann erlöse ich ihn und lasse die CD herausschnappen. Schon werde ich erwartungsvoll angesehen und ich stopfe eine CD mit den aktuellen Charts ins Radio. Immer noch besser, als HipHop. Das muss zumindest in Jans Kopf abgehen, denn er wirkt gleich viel freundlicher, schnappt sich die Karte, die noch immer auf meinem Schoß liegt, und studiert sie. Und schon habe ich wieder einen braven Beifahrer, der mir sagt, wo ich hinfahren muss.
 

Wie schnell man sich doch an eine Situation - und vor allem an einen Menschen - gewöhnen kann. Wenn ich daran denke, dass ich nach diesem Ausflug einfach wieder in meinen normalen Alltag zurückkehren soll, wünsche ich mir einfach nur, dass dieser Ausflug nie endet. Und wenn ich daran denke, dann keinen mürrischen Jan mehr um mich herum zu haben, dann fühle ich einen seltsamen Kloß in meinem Hals aufsteigen. Wir sind noch nicht mal zwei Tage unterwegs, aber ich habe mich bereits total an ihn gewöhnt und langsam stelle ich mir die Frage, wie es in der Schule weiter gehen soll. Ich werde nie wieder etwas Gemeines zu ihm sagen können, ja wahrscheinlich werde ich ab sofort die Pausen mit ihm verbringen. Was Micha wohl davon hält? Komischerweise ist mir das relativ egal. Ich weiß nur, dass ich ihn einfach mag. Es ist herrlich amüsant, wie er herum zickt.

„An was denkst du?“, fragt er mich, weil ich wohl gelächelt haben muss. „An dich.“

„Oh,“ entfährt es ihm und mir wird klar, dass das irgendwie schwuler klingt, als beabsichtigt. „Ich frage mich, wie es weiter geht, nach dem Ausflug,“ füge ich also hastig hinzu.

„Na ja… Wie immer?“ Er zuckt mit den Schultern und ich schüttle den Kopf. „Nein. Ich glaube, das hier ändert alles.“ Ich lächle ihn an.„Ja, Schatz. Wahrscheinlich,“ nickt er und ich muss grinsen. „Genau das meine,“ erwidere ich, „Das würde ich total vermissen.“

Nun grinst er ebenfalls und damit ist erst mal alles gesagt, was gesagt werden muss. Die nächste halbe Stunde lauschen wir nur der Musik und geben ab und an Kommentare zu den Songs ab.

„Wohin muss ich abbiegen?“, will ich irgendwann wissen und ohne in seinem Tun zu stoppen, sagte er mir die Richtung vor, was wirklich unheimlich ist. Anscheinend hat er tatsächlich die Route komplett im Kopf, wenn er nicht mal mehr auf die Karte gucken muss.

Das ist aber gerade nicht mein größtes Problem, sondern die Tatsache, dass es wirklich noch schwuler geht, als sich an einem Fluss die Beine zu rasieren.

„Könntest du vielleicht aufhören, dich zu schminken? Das lenkt mich vom Fahren ab,“ meine ich ein wenig befremdet und er verzieht den Mund, während er seine Augen weiter bearbeitet.

„Könntest du vielleicht aufhören, zu reden? Das lenkt mich vom Schminken ab.“

Jetzt grinst er, während ich nach Worten suche.

„Erklär mir bitte noch mal genau, warum du dich als Kerl schminkst?“, fordere ich dann, weil es mich wirklich interessieren würde.

„Weil’s gut aussieht?“ Er schielt kurz zu mir, ehe er den letzten Strich zieht und seinen Kajalstift wieder eingepackt.

„Hm…“, mache ich und beschließe, ihn weiter zu nerven. „Und jetzt musst du mir noch erklären, warum du so ein verdrehtes Weltbild hast.“

„Sei doch ruhig,“ faucht es mir sofort entgegen und mal wieder darf ich seinen Mittelfinger bestaunen, an welchem die Farbe seines Nagellacks langsam abblättert.

Ob es nun eine ernsthafte Frage ist, oder ob er mich nur ärgern will, weiß ich nicht, aber im nächsten Moment meint er: „Sag mir lieber, ob ich das Glätteeisen irgendwie am Zigarettenanzünder anstecken kann.“
 

Jannis ist sauer, weil ich ihm auf seine Frage keine Antwort gegeben habe und zupft nun, bewaffnet mit Haargel, an sich herum.

Aber was soll ich darauf auch antworten? Ich finde es schon schräg genug, dass er ein Glätteeisen besitzt, Kulturschock auf höchster Ebene.

Ich muss grinsen und werde mit Haargel beschmiert. Unheimlich… als könnte er meine Gedanken lesen…

Irgendwann sind wir endlich in Gütersloh und haben bereits Nachmittag. Ich fürchte, dass wir doch wieder bis in die Nacht hinein unterwegs sind und Jannis scheint sich darüber ebenfalls Gedanken zu machen, denn er bricht sein Schweigen: „Sieht aus, als würde ich doch noch mal ran müssen, was?“

Das ihm das Kopfzerbrechen bereitet, verstehe ich, und ehrlich gesagt will ich ihm das nicht noch mal zumuten. „Vielleicht. Aber ich denke, wir schaffen es.“

Er nickt und ich gebe ein wenig Gas.

Wir fahren an der Ems entlang, erreichen irgendwann Harsewinkel, was Jannis ständig als Hasenwinkel bezeichnet.

„Und? Schon ein Kaninchen gesichtet,“ necke ich ihn und erreiche damit nur wieder beleidigtes Schweigen.

„Ach komm schon, Jan,“ meine ich verzweifelt. „Es tut mir Leid.“

Im nächsten Moment grinst er mich triumphierend an und mir wird klar, dass er nur darauf aus war, mich zu einer Entschuldigung zu bringen.

Bald darauf erreichen wir Warendorf, um weiter Richtung Greven zu fahren. Wieder an der Ems entlang.

Die Pizza haben wir bereits verdrückt und das ist auch schon eine ganze Weile her. Deshalb wundert es mich nicht, dass irgendwann Jannis Magen anfängt zu knurren. Aber wir haben beschlossen, erst zu essen, wenn wir zumindest in Lengerich sind.

Gegen Abend erreichen wir diese Stadt auch und ich halte an einem Rastplatz.
 

Mühsam plage ich mich ab, mit dem Billigdosenöffner eine Konserve zu öffnen. Kalte Kartoffelsuppe und ein wenig Brot. So sieht also unser Essen aus. Sehr lecker, sehr nahrhaft…

Aber wenigstens essen wir überhaupt etwas.

Also sitzen wir im Wagen und stopfen das unliebsame Zeug in uns rein.

„Eklig,“ befindet Jan irgendwann und spricht meine Gedanken aus. Als die Dosen leer sind, stellen wir uns langsam die Frage, wo wir schlafen sollen.

„Motel oder Auto?“

Ich überlege eine Weile, ehe mir klar wird, dass wir sicher nur für eine Nacht ein Motel zahlen können. Deshalb beschließe ich, heute Nacht noch einmal mit dem Auto vorlieb zu nehmen. Jan widerspricht nicht.

Ich starte den Motor und wir machen uns auf nach Ibbenbüren.

Wir sind vielleicht eine halbe Stunde unterwegs, als wir den Schock unseres Lebens bekommen, da plötzlich mein Handy klingelt.

„Fuck,“ stoße ich hervor, während Jan panisch danach sucht und es unter einem Haufen alter T-Shirts findet. Das Auto sieht mittlerweile total chaotisch aus. Unsere Sachen fliegen auf der Rückbank kreuz und quer umher und ich freue mich schon auf heute Nacht, wenn wir all das wegräumen müssen, um Platz zu haben.

„Deine Mum,“ liest Jannis auf dem Display und ich könnte heulen vor Angst. Ja wirklich, ich habe richtig Angst, dass wir gleich das Donnerwetter unseres Lebens erleben werden. Hastig fahre ich an den Straßenrand und nehme ab.

„Ja?“

„Samuel, hey.“ Sie klingt ziemlich nett, dafür, dass sie eigentlich ausrasten müsste…

„Ich wollte nur wissen, wie der Ausflug bisher so ist! Du hast dich ja noch gar nicht gemeldet.“

Erleichtert seufzend entspanne ich mich. Dann erzähle ich ihr etwas, von wegen es wäre langweilig und denk mir aus, was wir bisher gemacht haben, ehe ich sie abwürgen kann. Jan sieht mich fragend an.

„Sie haben keine Ahnung, dass wir abgehauen sind,“ gebe ich Entwarnung. Er nickt erleichtert.

„Man, hat die mir einen Schrecken eingejagt. Was ruft sie auch an, nur um zu fragen, wie es ist?“, rege ich mich dann auf und Jannis beißt sich auf den Piercing an seiner Lippe, der mir erst jetzt wirklich auffällt. „Was ist?“, frage ich verwirrt.

„Wenigstens denkt deine Mum an dich…“

Ich öffne den Mund, weiß aber nicht wirklich, was sagen. „Deine denkt sicher auch an dich, auch wenn sie nicht anruft,“ tröste ich ihn dann.

„Ja… ganz sicher…“

Er klingt alles andere, als überzeugt.
 

Gegen neun Uhr erreichen wir Ibbenbüren.

Außerhalb der Stadt finden wir ein Plätzchen, wo wir den Wagen abstellen und nächtigen können. Und so beginnt eine weitere furchtbare Nacht auf unbequemen Sitzen.

Ich schlafe erneut sehr unruhig, was auch daran liegen könnte, dass es irgendwann laut über uns klappert. Ich öffne müde die Augen und muss erkennen, dass es zu regnen begonnen hat und es dieser ist, der auf das Autodach plätschert und so viel Krach macht. In der Ferne tobt wohl auch ein Gewitter, zumindest hören wir manchmal den Donner.

Jannis scheint das alles kaum zu stören, er grummelt nur, dreht sich auf die andere Seite und schläft weiter. Ich brauche länger, ehe ich trotz des Krachs schlafen kann.

Ich erwache erneut, als das Gewitter näher kommt und der Donner laut über uns schellt. Als ich die Augen öffne, sehe ich Jannis, der sich bereits aufgerichtet hat und wohl schon einige Zeit nach draußen blickt.

Ab und an wird der Himmel von einer Wetterleuchte erhellt und irgendwie hat das Schauspiel etwas fsazinierendes an sich.

Ich tue es dem Emo gleich und setze mich auf, er blickt zu mir. „Schön, oder?“, will er wissen und lächelt flüchtig. Ich nicke und öffne nach einiger Zeit eine Autotüre. „Komm,“ fordere ich ihn auf und springe nach draußen. Meine Füße kommen auf dem matschigen Boden auf, irgendwie eklig, irgendwie aber auch ein gutes Gefühl. Zuerst glaube ich, Jan wird mir nicht folgen, aber dann tritt er doch auch aus dem Wagen.

Der Regen ist angenehmem warm, aber doch kühlt er unsere erhitzte Haut. Genau das, was wir jetzt brauchen, nach einer unangenehmen Nacht in einem stickigen, heißen Auto. Jannis beschwert sich zwar, das seine Frisur nun wieder katastrophal aussieht, aber wirklich zu stören scheint es ihn nicht.

„Ist das geil, oder ist das geil?“, frage ich und tänzle im Regen umher, wie in so einem kitschigen Schnulzenfilm. Damit bringe ich Jan zum lachen und ich hüpfe zu ihm – was im Nachhinein wirklich peinlich ist – und sehe ihn auffordernd an, bis er nachgibt und mit mir herumhüpft.

Irgendwann krabbeln wir dann doch wieder ins Auto, nachdem wir uns von unseren nassen Klamotten befreit haben. Nun legen wir uns halbnackt und durchnässt schlafen und so schläft sich auch tatsächlich angenehmer.
 

Als ich am frühen Morgen erwache, sagt mir mein Handy, dass ich noch ein wenig Zeit habe, ehe ich aufstehen muss. Ich blicke zu Jannis, der noch friedlich schläft und mein Blick landet an seiner nackten Brust und schweift hinunter, bis zu seinen Lenden und dem Hosenbund seiner Shorts.

Während ich ihn anstarre, wird mir klar, was ich da tue und ich rufe mich selbst zur Besinnung. Aber ich bin ja auch arm dran. Wäre ich mit Micha auf dem Ausflug, hätte ich sicher schon ein Mädel klar gemacht und irgendwo flach gelegt. So gesehen bin ich einfach auf Entzug. Kein Wunder, dass ich da sogar auf Jannis reagiere. Ich blicke noch mal zu ihm und erkenne bestürzt, dass er die Augen geöffnet hat und mich angrinst. Toll, er hat gemerkt, dass ich ihn gemustert habe.

Ich sehe ihn an und er blickt zurück. Einige Zeit sagen wir nichts, dann ringe ich mich zu einem „Bild dir jetzt bloß nichts ein!“ durch.

Er gähnt nur und meint: „Schon klar!“ Dann richtet er sich auf, um die Morgentoilette hinter sich zu bringen und was zu essen. Ich für meinen Teil tue es ihm gleich und es ist wieder gegen sieben Uhr, als wir los fahren.
 

Tag Drei. Wahnsinn. Wer hätte gedacht, dass wir das jemals erleben würden? Oder es bis hier hin durchziehen würden? Andererseits bleibt uns ja auch nicht viel anderes übrig, immerhin wäre es ja total dämlich, jetzt umzukehren.

Obwohl… vielleicht wäre es sogar gut, umzudrehen. Immerhin wartet nur Ärger auf uns und es ist nicht mal gesagt, dass weiterhin alles so gut läuft, wie bisher. Fünf Tage… davon haben wir erst zwei hinter uns gebracht. Noch Drei, bis wir Kiel erreichen… was da noch alles geschehen kann…

„Hast du dir überlegt, wie wir wieder nach Hause kommen?“, fragt mich Jannis, der sich wohl gerade ähnliche Gedanken gemacht hat.

„Nicht so richtig.“ Ich seufze, ehe ich zu lachen beginne. „Mit dem Zug. Und das Auto lassen wir dort stehen.“

Nun fällt auch Jannis ein. „Stell dir Köpkes Gesicht vor, wenn sein Auto in Kiel gefunden wird.“

Wir kichern vor uns hin, bis Jan irgendwann einbricht. „Scheiße man,“ flucht er und vergräbt das Gesicht in den Händen. „Was haben wir uns dabei gedacht?“

„Nichts?“, meine ich und sehe zu ihm. „Wir hätten die Rückfahrt wohl lieber von Anfang an einplanen sollen.“

„Gehen wir einfach nie wieder zurück,“ sinniert mein Beifahrer vor sich hin und ich kann nicht sagen, dass ich dieser Idee abgeneigt wäre. Aber natürlich geht das nicht.

Wir fahren weiter, lassen NRW hinter uns und kommen in Niedersachen an, damit übrigens in Bramsche.

Nun folgen wir einer Stecke, in der sich Käffer mit anderen Käffern abwechseln und auf der es zwischendrin Pampa zu bestaunen gibt.

„Die Strecke ist scheiße, man sieht nix, außer Felder und Kühe,“ mault Jan und ich stimme zu und bemerke: „Tanken sollten wir auch mal wieder.“

Und so halten wir an der nächsten Tankstelle und tanken voll. Außerdem kaufen wir neues Wasser, ehe wir unseren Weg fortsetzen.
 

Gegen Mittag erreichen wir Lohne und kurz darauf Vechta, unsere Hoffnung, endlich wieder Zivilisation zu sehen.

Als nach Vechta wieder nur Landschaften und Dörfer auftauchen, zerplatzt dieser Wunsch wie eine Seifenblase.

Meine Laune wir mit jedem Busch, an dem wir vorbeifahren, schlechter und irgendwann spricht Jan dann auch noch meinen Lieblingssatz aus: „Ich muss pinkeln.“

Oh wie ich seine Blase hasse, die immer voll zu sein scheint. Aber gut. Langsam beginnt auch mein Magen zu knurren, deshalb halten wir nach einem Rastplatz Ausschau und dieser kommt schneller, als gedacht.

Der Weg dahin ist nur mit Kies aufgefüllt, weshalb es ziemlich holprig zu fahren ist und Jan auf seinem Sitz hin und her rutscht, als mache er sich gleich in die Hosen. Endlich stehen wir und er springt aus dem Wagen, ist sofort auf und davon, um sein dringendes Geschäft hinter ein paar Büschen zu erledigen. Ich muss nicht auf die Toilette, also steige ich gemächlich aus und lehne mich an den alten VW. Während ich also auf Jan warte, sehe ich mich auf dem Rastplatz um. Viel gibt es nicht zu sehen. Hinter uns parkt eine Familie, welche auf den Weg in den Urlaub ist, zumindest, wenn man den überfüllten Gepäckträger richtig deutet. Die Kinder essen ein Brötchen und er und sie befestigen einen Koffer neu auf dem Dach ihres Ford Mondeo.

Ein Stück vor uns steht ein schnittiger Sportwagen – Marke und Modell kann ich aus der Entfernung und Perspektive nicht richtig erkennen – und drei Typen stehen darum herum. Als sie bemerken, dass ich zu ihnen sehe, setzten sie sich in Bewegung und ich registiriere mit minderer Begeisterung, wie sie vor mir zum Halten kommen.

„Hey,“ sagt der eine. Er ist genauso groß wie breit und hat Akne im Gesicht. Sein Hals sieht aus, als wäre er gar nicht vorhanden.

Neben ihm kommen zwei Typen zum stehen, die ebenso dick sind, die aber aussehen, als wären das keine Fettpolster, sondern ausgewachsene Mammutmuskeln. Ich sehe den Kerl in der Mitte an und erwidere seinen Gruß.

„Ist das dein Auto?“, fragt er und nickt auf meinen VW und ich frage mich, ob er mir wohlgesonnen ist oder ob er mich gleich verprügelt.

Zur Antwort nicke ich und er blickt abschätzig erst den Wagen, dann mich an.

„Siehst ’n bisschen jung aus, für’n Auto…“

Ich sehe auf den VW, als würde auf den Scheiben groß die passende Antwort stehen. Tut sie nicht.

„Ich bin gerade 18 geworden. Letzten Monat.“

Toll gekontert, ich bin ja so stolz auf mich. Aber gut, normalerweise hätte ich ‚Fick dich’ oder ‚mit deiner Pickelface siehst’e selbst aus wie Zwölf’ gesagt, aber normalerweise bin ich ja auch nicht mit einem geklauten Wagen und einem mürrischen Emo im Schlepptau unterwegs. Warum ich letzteren erwähne? Weil er genau in dem Moment von seiner Pinkeltour zurückkommt und die Aufmerksamkeit der Typen auf sich zieht. In mir verkrampft sich etwas. Die sehen nicht aus, als wären sie emofreundlich gesinnt.

Der picklige Typ sieht also zu Jan, dann wieder zurück zu mir und grinst sich einen ab: „Und wer ist das? Deine Freundin?“

Ich funkle ihn wütend an und balle die Hand zur Faust, während Jan ganz cool bleibt, sich zu uns gesellt und ihm seinen Mittelfinger vor die Nase hält. Das findet der Fettsack natürlich gar nicht toll. Er tritt zu Jan und baut sich bedrohlich vor ihm auf: „An deiner Stelle würde ich aufpassen, wen ich provoziere. Das kann sonst ganz böse für dich enden.“

Mein Magen zieht sich zusammen, die Szene gefällt mir ganz und gar nicht. Ich frage mich, wie ich Jan jetzt am besten vermittle, dass er sein Maul halten soll, ohne es ihm laut zubrüllen zu müssen, ehe es zu spät ist. Dass er nämlich genau das nicht tun wird, weiß ich sicher, denn genau diese Eigenschaft an ihm hat mich ja immer dazu verlockt, ihn ein wenig aufzuziehen.

Eindeutig habe ich zu lange überlegt, anstatt zu handeln, denn Jannis grinst den Kerl an und meint: „Und an deiner Stelle würde ich Clerasil benutzen, ehe man dein Gesicht gar nicht mehr erkennen kann!“

Zu viel. Eindeutig zu viel. Der Typ packt ihn mit seinen Wurstfingern am Kragen und zieht ihn zu sich und ich habe plötzlich das dringende Gefühl, Jan ‚retten’ zu müssen. Nicht nur das… Ich will nicht, dass der Kerl ihn verletzt, ihn überhaupt anfasst. Ja, ich hasse ihn sogar dafür, dass er ihn berührt – auch noch so brutal. „Lass ihn los!“, brülle ich und will eingreifen, aber ehe ich vorpreschen, ihn wegziehen und ihm mit meiner Faust in seine hässliche Visage schlagen kann, bewegt sich Jan, rammt sein Knie in die Eier des Typen und stürzt dann zum Auto. Ich reagiere sofort, springe auf den Fahrersitz, ehe sich einer der Muskelberge rühren kann, lege den ersten Gang ein und trete das Gaspedal durch. Fast vergesse ich, die Türe zu schließen, so eilig habe ich es, wegzukommen.

„Gut gezielt,“ meine ich, als wir mit Achtzig Sachen über den Kies brettern. Jan grinst mich nur an und hält seinen Mittelfinger aus dem Fenster. Die Typen glotzen uns blöd nach, das sehe ich im Rückspiegel, oder bilde es mir zumindest ein.

Wir erreichen wieder die Straße und ich nehme den Fuß vom Gas. Wir sind in Sicherheit.
 

Aufgrund unserer spektakulären Flucht hatten wir leider keien Gelegenheit, etwas zu essen und so halte ich irgendwann einfach Mitten in der Pampa, so dass wir ein leckeres Menü – sprich kalte Erbensuppe und Brot – zu uns nehmen können. Beziehungsweise würgen wir es notgedrungen hinunter.

„Was für ein Leben,“ meine ich belustigt und Jan verzieht den Mund.

Wenig später riecht das Auto nach kalter Erbsensuppe und wir müssen einsehen, dass wir niemals wieder Zivilisation sehen werden. Denn als wir Wildeshausen erreichen, glauben wir, es endlich geschafft zu haben, aber danach folgt wieder Einöde. Niedersache scheint überhaupt nur daraus zu bestehen. Sehr seltsam.

Und als wollte Gott mich so richtig quälen, hat Jannis auch bestimmt, dass wir heute wieder seine Musik hören werden. Nun brüllt uns Dead by April entgegen und er summt zufrieden mit. Ich wünschte, ich könnte wie er beleidigt sein, aber ich kann es nicht. Also finde ich mich mit der Musik ab und konzentriere mich auf die Straße.

Stuhl liegt kurz vor Bremen und in uns keimt die Hoffnung wieder auf, dass wir nach einem langweiligen Tag in der Pampa endlich wieder eine richtig große Stadt sehen werden.

Wenigstens hat es den ganzen Tag geregnet, so dass es angenehm kühl ist und wir nicht so schwitzen müssen. Eigentlich ziemlich praktisch. Immerhin etwas, an so einem tristen Tag, wie heute.

Drama, Baby!

In Bremen angekommen, finden wir ein billiges Motel, in dem wir die Nacht verbringen können. Endlich wieder ein richtiges Bett. In großen leuchtenden Lettern verkündet das Motel schon aus weiter Ferne seinen Standort. Wir halten davor und treten ein. Lust, weiter zu fahren haben wir nicht, obwohl es erst acht Uhr ist. Also bleiben wir.

Die Frau an der Rezeption schaut uns ziemlich seltsam an, vor allem, als wir ein Doppelzimmer nehmen und uns mit einem Doppelbett zufrieden geben. Sicher denkt sie, wir machen perverse Dinge in unserem Raum, aber der Grund, warum wir das alles akzeptieren, ist das Geld. So kommt es uns einfach billiger. Sie sagt nichts weiter, drückt uns nur einen Schlüssel in die Hand und wir machen uns mit unseren Reisetaschen auf den Weg nach oben. Ich spüre ihren Blick in unserem Rücken, bis wir im oberen Stock verschwunden sind.

Wir haben gleich das erste Zimmer und als ich die Türe öffne, schlägt und ein muffiger, abgestandener Geruch entgegen und ich jage gleich zum Fenster und öffne es. Die Matratzen der Betten sind fleckig, im Bad liegen noch Haare am Boden. Es ist eklig, aber doch ist es gleichzeitig der Himmel. Fließendes Wasser, ein richtiges Bett… wen kümmert da noch mangelnde Hygiene?

Okay, wahrscheinlich hätten mich vor zwei Tagen keine zehn Pferde hier hinbekommen, aber heute sehe ich das alles anders. Heute bin ich einfach nur dankbar, nicht in einem VW Golf meine Nacht verbringen zu müssen.

Wir werfen uns ins Bett und merken erst jetzt, wie müde wir sind. Ich hätte nie gedacht, dass so ein Ausflug dermaßen anstrengen könnte, aber nun liege ich im Bett und merke, wie mich der Schlaf mehr und mehr übermannt.
 

Als ich am morgen aufwache, scheinen die ersten Sonnenstrahlen bereits hell durch die dreckigen Scheiben des Zimmers und ich höre das Rauschen der Dusche in unserem kleinen, ebenso dreckigen Badezimmer.

Ich stehe auf, reibe mir den Schlaf aus den Augen und höre, wie im Bad das Wasser abgestellt wird. Kurz darauf erscheint Jannis mit Shorts bekleidet und einem Handtuch um seine Haare gewickelt.

„Morgen,“ grinst er mich an und ich murmle einen Gruß zurück, ehe ich ins Bad gehe, um selbst zu duschen. Endlich Duschen. Mir kommt es vor, als hätte ich ewig nicht geduscht. Umso länger brauche ich auch, da ich den Wasserstrahl richtig genießen möchte. Als ich aus der Dusche steige, ist das für Jan das Strichwort, wieder im Bad präsent zu werden. Während ich mir nun die Zähne putze und durch meine Haare wuschle, kann er endlich sein geliebtes Glätteeisen benutzen.

Wenig später stehen wir top gestylt im Zimmer und fühlen uns wie neu geboren.

„So lässt es sich doch weiterziehen,“ freue ich mich und denke daran, dass wir mit dem heutigen Tag nun schon vier Tage unterwegs sind. Morgen werden wir Kiel erreichen. Bei dem Gedanken daran, kribbelt es in meinem Bauch vor Aufregung.

Bezahlt haben wir schon am Vortag und so schleppen wir unsere Reisetaschen sogleich nach draußen und steigen in den alten VW.

Als wir losgefahren sind, hatte ich ehrlich gesagt Angst, er würde es nicht schaffen. Aber nun bin ich ziemlich sicher, dass er uns noch gute Dienste leisten wird, bis wir die Dünen erreichen.

Wir haben leider keine Zeit, uns in Bremen näher umzusehen, auch, wenn wir das gerne getan hätten. So fahren wir gleich weiter, verlassen Bremen und finden uns inmitten von Niedersachen wieder. Erneut. Worpswede ist das nächste Ziel, welches wir bald erreichen sollten. Und wie hätte es auch anders sein können? Vor und nach Worpswede erfolgt ewig viel Pampa.

„Hier in der Nähe habe ich schon mal Urlaub gemacht,“ erzähle ich Jannis und blicke mich um. Worpswede. In der Nähe dieser Stadt war ich vor Jahren mit meinen Eltern.

„Ach ja?“, fragt mein Beifahrer nun und zieht eine Braue hoch. „Nette Gegend,“ meint er dann mit wenig Begeisterung in der Stimme und versucht sich an einem schiefen Grinsen. Aber ich erwarte nicht, dass ihn die Vorstellung von einem Urlaub hier erfreut. Mich hat die Vorstellung auch nicht erfreut.

„Meine Eltern sind so Naturfreaks, weißt du?,“ erläutere ich die Sache und grinse. „Meine sind eher TV-Freaks,“ gibt er zurück und klingt dabei ziemlich verbittert.

Er seufzt und ich tue es ihm gleich. So eine wirkliche glückliche Kindheit hatten wir wohl beide nicht.
 

Pampa. Nichts als Pampa.

Ich fluche vor mich hin, während wir weiter fahren, auch, wenn ich nicht mal mehr weiß, wo wir sind.

„Ich glaube, wir haben uns verfahren,“ meint Jannis sogleich und ich weiß, dass er das ‚wir’ nur aus Kameradschaft verwendet. Ich habe mich verfahren. Denn ich habe behauptet, ich wüsste, wo ich lang muss. Er weiß das und ich weiß das auch. Und genau das ärgert mich ziemlich und dieser Ärger ist wohl der Grund, warum ich diese Aussage als persönlichen Angriff auffasse.

„Haben wir nicht,“ erwidere ich also stur, obwohl ich keine Ahnung habe, wo es lang geht. „Doch. Du hättest da hinten abbiegen müssen,“ beharrt er nun auf seiner Meinung, hat sogar die Karte aufgeschlagen, um sich davon zu überzeugen.

„Sagt wer?“, frage ich dennoch angriffslustig.

„Sagt die Karte!“, wirft er genervt ein und deutet mit einem Finger energisch auf einen Punkt auf der Karte. Er hat seine Nägel frisch lackiert, bemerke ich.

„Red keinen Unsinn, ich kenne mich hier aus,“ murre ich nun beleidigt und fühle mich in meinem Stolz gekränkt. So ein Mist, dass ich mich verfahren musste. Ich überlege, wie ich unauffällig eine Schleife fahren kann, um am Ende da raus zu kommen, wo Jannis meint, dass wir hin müssen, aber mein Lieblingsemo lässt sich von meiner miesen Laune nicht beeindrucken, sondern wettert fröhlich weiter: „Du warst hier, als du Fünf warst. Wie kannst du behaupten, dich hier noch auszukennen!“

„Wir sind hier richtig,“ halte ich dagegen, obwohl sein Argument verdammt logisch und verdammt richtig ist.

In einem Anfall von purer Fassungslosigkeit – ich mach es ihm ja auch nicht leicht - schlägt er mit der Karte gegen die Armaturen, während er mich anfaucht: „Und warum ist dann bitte da vorne ein Schild, wo drauf steht, dass die Straße zu ende ist?!“

„Bitte,“ gebe ich trotzig zurück – noch immer der vorgetäuschten Meinung, wir wären richtig, und sehr in meinem Stolz gekränkt – „Warum fährst du dann nicht einfach, wenn du es so viel besser weißt?!“

„Weil ich schon eine andere Aufgabe habe,“ faucht er zurück und ich fürchte, dass er gleich die Karte zerfetzen wird, wenn ich nicht endlich aufhöre, ihn zu nerven. Und ich nerve mich ja selbst, aber ich bin so sauer. Nicht auf ihn, sondern auf mich, weil ich mich in so eine peinliche Lage manövriert habe.

„Die da wäre?“, will ich wissen und werde mit Blicken erdolcht, während er meint: „Karten lesen und gut aussehen. Dinge, die du beide nicht kannst!“

Und in dem Moment weiß ich, dass er weiß, dass ich gar nicht sauer bin und dass ich weiß, dass er es weiß. Und in über all diesem Wissen und Nichtwissen wissen wir Beide, dass wir den jeweils Anderen nicht so ernst nehmen sollten, das es nur Spaß ist.

„Sagst ausgerechnet du?“, necke ich ihn und das aggressive aus meiner Stimme ist verschwunden. „Du siehst doch aus wie eine Vogelscheuche.“

„Ja, aber eine hübsche Vogelscheuche,“ kontert er und auch seine Stimme klingt milder.

Wir vermeiden es tunlichst, jetzt zu lachen, aber ein Grinsen kann sich keiner von uns verkneifen.

Ich wende, fahre zurück und biege dort ab, wo Jannis der Meinung ist, dass wir abbiegen sollten.

Wenig später sind wir tatsächlich wieder auf der richtigen Straße und das ja auch fast ohne Drama.
 

Als wir gegen Mittag in Buxtehude ankommen, könnten wir wohl beide den Boden küssen. Eine Stadt. Eine richtig große Stadt nach gefühlten Jahren in der Pampa.

Und gleichzeitig ein weiter Meilenstein auf unserer langen, erschwerlichen Route nach Kiel.

Nach Buxtehude kommt irgendwann Hamburg und dort halten wir. Wir haben noch ein wenig Geld übrig und decken uns in einem Supermarkt mit neuen Wasserflaschen ein, ehe wir vom Rest beschließen, zu tanken und danach Essen zu gehen.

Wenig später sitzen wir bei einem Chinesen und stopfen gierig Bratnudeln in uns hinein, dass erste vernünftige Essen seit langem.

Wir haben es nicht eilig, Hamburg zu verlassen. Unser nächstes Ziel ist für heute eh nur noch Ahrensburg, den Rest der Strecke heben wir uns für Morgen auf.

Morgen, Tag Fünf… Kiel.

Noch immer ein unvorstellbares Ziel, obwohl wir kurz davor sind, es tatsächlich zu erreichen.

„Ich glaube, ich geh hier nie wieder weg,“ verkündet mir Jannis, während er einen Nachtisch – gebackene Bananen – in sich stopft. Er hat schon mehr gegessen als ich. Dabei ist er doch kleiner und schmaler. Ich schüttle den Kopf.

„Wieso bist du eigentlich nicht fett?“, will ich wissen und er grinst. „Guter Stoffwechsel?“

Ich ziehe nur die Brauen hoch.
 

Nach dem Essen – um nicht großes Fressen sagen zu müssen – gehen wir noch ein Stück durch Hamburg. Ich würde gerne die Reeperbahn sehen, aber dafür haben wir keine Zeit. Vielleicht auf den Rückweg… Aber bei dem Gedanken an eben jenen wird mir schlecht. Wie auch immer wir zurückkommen… wir werden entweder eine miese Stimmung haben oder in Begleitung von anderen sein.

Wieder einmal habe ich keine Lust, diesen Ausflug je enden zu lasse. Vielleicht sollten wir uns ein neues Ziel setzen. Sibirien oder so…

Wieder im Auto, hänge ich meinen düsteren Gedanken weiter nach, während Jannis sich seiner Lieblingsbeschäftigung gewidmet hat: Karten auswendig lernen.

Wir hören wieder meine Musik. HipHop. Und diesmal sagt mein Emo gar nichts dazu.

Mein Emo… ich schüttle den Kopf. Was ich schon alles denke, nur weil ich ein wenig Zeit mit Jan verbracht habe…

„Wir sollten uns doch mal überlegen, was wir machen, wenn wir dort sind?“, beende ich das Schweigen im Auto und lasse Jannis somit an meinen deprimierenden Gedanken teilhaben. Soll er mitleiden, dafür ist er ja da.

Er sieht flüchtig zu mir und meint dann nur resignierend: „Wir werden in Kiel ankommen und das Telefon wird klingeln.“ Nun richtet er sich in seinem Sitz auf, legt die Karte weg, sieht mich direkt an. Sein Ton wechselt ins Gleichgültige. „Meine Mum wird mich hysterisch fragen, wo ich bin, weil sie mich an der Bushalte abholen wollte und der Köpke ihr mitgeteilt hat, dass er uns vom Ausflug ausgeschlossen hat. Ich werde ihr notgedrungen sagen, wir sind in Kiel.“

Ich erwidere seinen Blick kurz, ehe ich wieder auf die Straße achte und einfalle: „Dann wird ein unglaublich wütender Schrei ertönen und sie wird dich fragen, wie wir nach Kiel gekommen sind und ob das ganz zufällig etwas mit dem verschwundenen Auto Köpkes zu tun hat.“

Wir seufzen zeitgleich und unsere Miene nimmt den Ausdruck von Trauergästen auf einer Beerdigung an, die es nicht wahr haben wollen, aber wissen, dass sie daran nichts mehr ändern können. Und genau wie sie, verstricken wir uns ins Grübeln, mit dem Unterschied, dass wir eigentlich von unserer Beerdigung sprechen. Darauf wird es hinaus laufen, ganz sicher. Sie werden uns umbringen!

„Wir werden bestätigen, dass wir das Auto haben und der Köpke wird vor Wut den Bus umschmeißen,“ spinnt Jan weiter und langsam nimmt sein Ton etwas zynisches an. Ich muss grinsen, weil er Recht damit hat, es von der lustigen Seite zu sehen. „Meine Mum wird hysterisch heulen und ihrem Lover die Schuld geben und deine…“

„…wird sagen, dass sie mich tötet, falls ich leben nach Hause komme. Micha wird sich sicher im Hintergrund schlapp lachen und von Köpke ne Strafarbeit kassieren.“

„Dann werden sie sagen, wir sollen in Kiel bleiben, sie werden am nächsten Tag hochfahren und uns abholen.“

„Und dann tauchen sie auf. Mit einem Großaufgebot an Polizei und dem Köpke im Schlepptau, der uns wegen Diebstahl angezeigt hat.“

„Man wird uns festnehmen und wir kommen in den Knast. Du wirst deinen Führerschein wieder los…“ „…und du wirst deinen nie machen dürfen. Außerdem werden wir von der Schule verwiesen…“

Wir fallen in Schweigen und keiner von uns wagt es ‚Happy End’ hinzu zu fügen, obwohl es uns sicher beiden auf der Zunge liegt.

Irgendwann resigniert Jan wieder: „Lass uns die Handys in der Ostsee versinken und abhauen?“

„Ich hab an Sibirien gedacht.“

„Bin dabei.“

„Okay.“

„Okay.“

Stille. Dann prusten wir los.
 

Eine geraume Zeit später erreichen wir Ahrensburg. Tag vier… hier endet er also. Zumindest im Sinne des Fahrens. Ansonsten sind wir noch zu munter, um uns Schlafen zu legen. Abgesehen davon, dass wir keine Lust haben, uns schon in den VW zu quetschen.

Wir haben auf den Weg hier hoch leider keinen Fluss oder See mehr entdeckt, als dass wir uns hätten Waschen können, obwohl wir es nach einem Tag in einem heißen Auto – heute hat es nämlich nicht mehr geregnet, sondern es herrschte knallender Sonnenschein – sicher gebraucht hätten.

Muffelnd sprühen wir uns dick mit Deo ein und waschen uns notdürftig mit dem Inhalt einer Wasserflasche.

Wir beschließen, den Abend ausklingen zu lassen, in dem wir uns in Ahrensburg umsehen. Und so laufen wir wenig später durch die warme Abendluft zur Stadt. Das Auto parkt sicher auf einem Rasthof.

Ahrenburg am Abend ist nicht berauschender, als andere Städte, aber wir erwarten auch nicht viel, sondern gehen einfach in einen Pub und lassen uns dort an der Bar nieder. Ich trinke nichts und Jannis aus Kameradschaft auch nicht – vielleicht will er sich auch nur nicht alleine besaufen –, also begnügen wir uns mit einer Cola.

Hauptsache, ein wenig ablenken, von den Gedanken, die uns, seit unseren Spinnereien im Auto, quälen.

Eine Liveband spielt hier und wir amüsieren uns dennoch, lästern über Lehrer, Mitschüler und ich stelle immer mehr fest, wie wenig sich unsere Gedanken doch unterscheiden. Warum ich ihm nie die Chance gegeben habe, einer meiner Freunde zu werden, kann ich jetzt nicht mehr nachvollziehen. Rein gar nicht.

Überhaupt bin ich noch immer der Meinung, dass er mein Leben verändert hat, das dieser Ausflug nur mit ihm so perfekt hat werden können, wie er es letztlich war. Mit Micha wäre alles anders gelaufen. Und das hätte mir nicht gefallen.

„Wenn wir wieder in der Schule sind,“ überlegt er irgendwann und spielt mit der Zitronenscheibe in seinem Colaglas. „Reden wir dann noch miteinander?“

Ich sehe ihn überrascht an. „Natürlich.“

„Ich dachte nur…“ Aber er sagt mir nicht, was er gedacht hat und ich weiß es dennoch. „Glaubst du echt, es würde wieder so werden können, wie vorher?“

Er zuckt mit den Schultern und ich beuge mich zu ihm vor. „Ich kann mir im Moment nicht mal vorstellen, einen Tag ohne dich zu verbringen. Wie könnte ich dann mein Leben wieder ohne dir gestalten?“

Er erwidert meinen Blick und lächelt schwach und ich schlucke schwer und werde mir bewusst, was ich da schon wieder von mir gegeben habe. Ich öffne den Mund, um dem ganzen den kitschig-romantischen Touch zu nehmen, aber in dem Moment steht ein Mädchen vor uns, grinst uns an und stellt sich als Tanja vor.

Wir müssen ziemlich irritiert aus der Wäsche geguckt haben, denn sie lacht los und fragt uns dann, wie wir heißen. Wir nennen unsere Namen.

„Ihr seit nicht aus der Gegend, oder? Ich hab euch hier noch nie gesehen!“

Sie wirft uns einen viel sagenden Blick zu, der Alles und Nichts bedeuten kann.

„Nein,“ schüttle ich also den Kopf und erzähle ihr knapp, wo wir herkommen und wie es uns hier her verschlagen hat.

„Cool,“ befindet sie dann und winkt nach einer Freundin.

„Schau mal, die Jungs sind mit dem Auto hier auf großer Reise. Sie kommen aus Aschaffenburg. Das liegt in Bayern.“

Das Mädchen – Mina heißt sie – macht große Augen.

„Ich hab dir ja gesagt, ich hätte mich an ein schwules Pärchen erinnert,“ meint sie dann an Tanja gewandt und Jan und ich wechseln einen verwirrten Blick. Schwules Pärchen?!

„Ähm,“ will ich die Sache klar stellen, aber Tanja grinst uns nur an. „Das ist ja so süß. Ihr gebt wirklich ein niedliches Paar ab.“

Ich sehe noch einmal zu Jan, der nur mit den Schultern zuckt und muss grinsen. Sicher hat sie gesehen, wie ich mich vorhin zu ihm gebeugt habe, anders kann ich mir gar nicht vorstellen, dass sie auf die Idee kommen könnte… Immerhin haben wir ja nicht geknutscht oder uns verliebte Blicke zu geworfen! Oder?! Natürlich. An ersteres hätte ich mich ja wohl erinnert und an zweiteres… auch!

Zum gefühlten Hundertsten Mal blicke ich also zu Jan, dessen Miene mir nicht sagt, was er denkt. „Tja, so sieht’s aus,“ gebe ich Tanja Recht und Jan kriegt große Augen, verschluckt sich zudem noch an seiner Cola. Ich klopfe ihm beherzt auf den Rücken, damit er mir nicht wegstirbt.

„Oh,“ jubelt ihre Freundin währenddessen und fordert: „Könnt ihr euch mal küssen? Bitte!“

Ich überlege nicht lange, sondern nicke nur. Zum Glück sieht sie nicht, wie Jans Gesichtzüge gänzlich entgleisen, als ich mich zu ihm beuge und ihn küsse.

Was tue ich da? Erschrocken von mir selbst, such ich nach einem plausiblen Grund für diese Handlung und finde keinen. Wenigstens bin ich nicht der Einzige, der gar nichts mehr versteht.

„Was tust du da?“, raunt er in den Kuss und ich schlinge die Arme um seine Hüften. „Ihr eine Show bieten.“

Aber trotz dieser Antwort habe ich für mich persönlich keine gefunden. Mache ich es wirklich wegen Tanja? Mit dem Image als Schwuler werde ich sie kaum noch rumkriegen, aber ehrlich gesagt will ich das gar nicht, bin ich gerade rundum glücklich mit der Situation, was mir ein wenig Angst macht.

Tanja und Mina quietschend jedenfalls entzückt (vielleicht sind sie ja so begeistert, dass sie uns heute Nacht einen Schlafplatz gewähren), ich küsse Jan, der sich verdächtig wenig dagegen sträubt und finde den Abend plötzlich unglaublich gelungen. Eigentlich eine Katastrophe, ich hab nicht mal was getrunken, als das ich vorschieben könnte, das Ganze hier deshalb toll zu finden. Aber darüber mache ich mir keine Gedanken. Nicht jetzt. Dafür habe ich ja auch noch später Zeit.

Später…
 

Später sitzen Jan und ich wieder im Auto. Unsere kleine Kussshow hat Tanja und Mina zwar unterhalten, Unterkunft wollten sie uns aber nicht geben, so dass wir nun doch wieder im VW hocken und versuchen, zu schlafen.

Ich seufze. Der Kuss brennt noch auf meinen Lippen und ich sehe zu Jan, der so unruhig ist, dass ich davon ausgehe, dass er noch nicht schläft.

„Du küsst gar nicht schlecht,“ versuche ich die seltsame Stimmung aufzulockern, die da zwischen uns liegt. Aber er erwidert nichts und ich weiß nicht, was ich davon halten soll. „Jan?“

„Warum hast du das gemacht?“ Eine klare Frage, die eine klare Antwort erfordert. Aber diese kann ich ihm nicht geben. Ich könnte sagen, ich tat es, weil ich wollte, dass man uns ein Plätzchen zum Schlafen anbietet. Aber so wirklich geglaubt habe ich daran eh nie und nun würde er es mir auch nicht abkaufen. Ich könnte auch sagen, dass ich scharf auf ihn bin, aber so wirklich stimmen tut das auch nicht. Obwohl ich in der Tat einen gewaltig großen Haufen Zuneigung ihm gegenüber empfinde. Vielleicht wollte ich das ja mit einem Kuss deutlich machen. Aber man küsst keine Kerle, nur weil man sie mag. Sonst hätte ich Micha ja schon tot knutschen müssen…

Über all diese Gedanken vergesse ich fast, zu antworten und als ich es tue, sind wir beide mit der Antwort unzufrieden: „Ich weiß nicht so Recht…“, sage ich und er seufzt, ich höre es ganz deutlich. Die Antwort war definitiv nicht, was er hören wollte. Er dreht sich von mir weg und ich falle in einen unruhigen Schlaf.
 

Am nächsten Morgen wache ich früh auf, blicke zu Jannis und stelle mir die gleiche Frage, wie er am Abend zuvor. Warum?

Ich weiß es nicht. Ich weiß es tatsächlich nicht. Aber ich weiß, dass ich es nicht wirklich bereue und ich glaube zu wissen, dass er es auch nicht bereut. Und das ist verwirrend und schön zu gleich und ich frage mich, was überhaupt los ist. Gerade war noch alles normal, dann küsse ich ihn und dann ist alles ganz anders. Mit einem Mal. Mit einem Kuss. Warum habe ich das getan?

Ich rutschte näher zu ihm – ziemlich unbeholfen – und streiche ihm dann sanft durchs Haar, bis er erwacht und mich fragend ansieht. „Was ist los?“

„Nichts,“ flüstere ich und sehe ihn an. Ob da mehr ist? Mehr zwischen uns Beiden?

„Wenn du schläfst, siehst du aus wie ein Mädchen. Weißt du das?“

„Pff,“ erwidert er und ich grinse. Und dann sieht er mich an. Bettelnd? Verlangend? Ich kann es nicht beschreiben. Ich weiß nur, dass er dabei wahnsinnig schön aussieht. Und ich weiß was er will und ich weiß nicht, ob ich es will, aber ich tue es trotzdem. Ich beuge mich vor und küsse ihn. Er keucht erschrocken auf, als hätte er nicht geahnt, auf was es hinausläuft. Als hätte er es nicht gewollt. Aber ich schätze, er hat nur nicht damit gerechnet, dass ich es auch will. Irgendwie zumindest.

„Sam?“, meint er nun total verunsichert. Ich höre es am Zittern seiner Stimme und bin plötzlich ganz ruhig und leergefegt von allen Gedanken.

„Ich weiß nicht warum, okay?“, meine ich abwehrend, denn ich will jetzt nicht darüber nachdenken und schon gar nicht darüber reden. Ich ziehe ihn nur näher zu mir und meine: „Lass mich einfach, wenn es okay ist.“

Und dass es okay ist, erkenne ich an dem Lächeln, dass sein hübsches Gesicht nun ziert. Ich sehe ihm in die Augen. Wasserblau, wunderschön. Wieso ist mir das nicht schon eher aufgefallen? Ist es. Ich habe ihm nur nie die gleiche Bedeutung beigemessen, wie jetzt.

Ich beuge mich vor. Und dann küsse ich ihn. Nicht so fordernd, spielend, wie im Pub, in dem es nur darum ging, Tanja und Mina zu beglücken (oder auch nicht). Nein, diesmal koste ich es voll und ganz aus, weil es nur darum geht, uns zu beglücken. Es geht um uns, nur um uns. Ich fühle seine Lippen weich auf meinen, wie sie sich gegen mich drücken, sich gegen mich bewegen, ich spüre sein Piercing hart gegen meine Lippen drücken und doch spüre ich ihn auch kaum. Ich spüre seine Lippen, die nach meinen schnappen und spüre zeitgleich die seinen zwischen meinen. Meine Arme schlingen sich um ihn, meine Hände krallen sich in sein Shirt und ich ziehe ihn näher.

Er öffnet seine Lippen, nur ein kleines Stück, aber breit genug, dass ich mit meiner Zunge in seinen Mund dringen kann. Ich stupse die seine an, spiele mit ihr.

Jans Körper presst sich enger an mich, ich spüre seine Muskeln arbeiten, wenn er sich bewegt und spüre seine Nähe, so warm und anschmiegsam an mir.

Wenig später habe ich ihn von seinen Klamotten befreit, bin über ihn und in einem stetigen Ansteigen unseres Verlangens spreizt er die Beine, sodass ich in ihn dringen kann. Und er ist so eng, dass ich glaube, in meiner Lust zu vergehen. Ich stöhne laut auf, weil ich nicht mehr an mich halten kann, stoße daraufhin nur noch härter in ihn. Härter und schneller. Und tiefer.

Und er biegt unter mir den Rücken durch und presst mir seine Hüften entgegen. Im Wagen ist es eng und stickig, aber das ist uns egal. Wir schwitzen so sehr, dass wir glauben, gleich zu schmelzen, aber das hält uns nicht davon ab, nach immer mehr von dem Anderen zu gieren. Ich will ihn besitzt und ich weiß, er will, dass ich ihn besitze.

Ich küsse seine Hals, meine Hände sind überall an ihm und ich berühre ihn, bis wir beide kommen, er in meiner Hand, ich in ihm.

Danach lasse ich mich erschöpft auf den Sitz zurück gleiten, drehe mich zu ihm und sehe ihn an.

„Und jetzt?“, fragt er nach einiger Zeit, während ich angefangen habe, mit seinen Haaren zu spielen. Und jetzt? War es bisher nur ein Spiel? Ist es jetzt Ernst? Was machen wir, wenn dem so ist? So viele Fragen in einer vereint…

Ich greife nach seiner Hand, drücke sie fest und fahre mit dem Daumen daran auf und ab.

„Keine Ahnung. Aber… ich fand’s schön und so…“ Ich stammle etwas vor mich hin, was Sinn ergibt, oder auch nicht und er nickt und lächelt. Und ich lächle auch und küsse ihn flüchtig und finde es toll.

„Ich steh eigentlich nicht auf Kerle,“ murmle ich dann. „Ich auch nicht,“ erwidert er.

„Aber dich will ich. Unbedingt,“ füge ich hinzu, weil es sonst klingt, als wollte ich es beenden. Und das will ich nicht. „Ich dich auch. Unbedingt,“ erwidert er wieder.

Ich lächle wieder und küsse ihn noch mal.

Mein Gott, sind wir kitschig. Mein Gott, finde ich das toll.

Die Magie des Roadtrips

„Glaubst du es ist, weil wir so viel aufeinander hängen?“

Jannis braucht nicht auszusprechen, was genau er meint. Wir wissen es Beide. Ich sehe zu ihm, während ich gemächlich aufs Gas trete. Es ist halb Acht morgens und wir fahren erneut seit Sieben Uhr. Schweigend bisher. Wir sind auf den Weg nach Bad Oldesloe.

„Ich denke, dass das gut möglich sein könnte,“ nicke ich nach einigem Überlegen, obwohl ich nicht mit Gewissheit sagen kann, dass dem so ist. Aber was soll es sonst sein? Ich stehe nicht auf Jungs. Und Jannis auch nicht. Das ändert sich doch nicht so plötzlich. Ich schiele erneut zu ihm. Andererseits… wenn doch, wäre das so schlimm?

„Was machen wir also jetzt?“, fragt er und damit spricht er genau die Frage aus, die mir auf der Zunge liegt, von der ich mich aber nicht traue, sie auszusprechen. Dafür traue ich mich aber an eine Antwort heran, die anders ausfällt, als man es erwartet hätte. „Es genießen, bis es aufhört. Oder weiter geht.“

Er nickt nur. Wir schweigen wieder. Meine Hand streift sein Knie, als ich die Karte ein wenig zu mir ziehe, um etwas nachzusehen. Seine Finger streifen meine Wange, als er mir einen Müsliriegel in den Mund stopft. Beides ist wunderschön und ich weiß nicht, ob ich jetzt Grinsen oder Angst haben soll.
 

Die Fahrt nach Bad Oldesloe dauert ewig. Quer durch die Pampa, mal wieder. Es ist immer das Selbe. Seitenstraßen, Landstraßen, Querstraßen, Nebenstraßen. Zwischendrin Kühe, Bäume, Felder…

Es ist, als wären wir die einzigen Menschen auf dem ganzen Planeten. Keine Menschen sind zu sehen. Wenn wir durch Dörfer fahren, dann sehen wir nur geschlossene Türen und Fenster. Niemand ist auf den Straßen. Seltsam, fast schon unheimlich. Aber so haben wir das Gefühl, die Welt gehört uns.

Als ich Jannis das sage, grinst er, breitet die Arme aus und ruft: „ICH BIN DER KÖNIG DER WELT!“

Dann lachen wir Beide und fühlen uns, als wäre es tatsächlich so.

Eine ganze Weile fahren wir noch, dann halte ich einfach in einem Feld, das ausgedorrt von der Hitze ist. Es ist verwildert, als würde sich kein Bauer mehr darum kümmern. Wir steigen aus und ich schlage vor, dass wir etwas Essen könnten. Und so machen wir unsere letzte Dose auf. Wir hatten kein Frühstück, nur die Müsliriegeln im Auto. Diese sind zwar nahrhaft, aber lang angehalten haben sie doch nicht. Nicht mal Brot mit Marmelade konnten wir essen, denn die Marmelade ist bereit seit gestern leer.

Nun aber haben wir eine delikate Tomatensuppe, zu der wir den Rest des Brotes essen. Ich schwöre mir mit jedem Löffel, dass ich nie wieder kalte Dosensuppe essen werde, ja wahrscheinlich nicht mal warme Dosensuppe. Ich könnte kotzen, wenn ich nur daran denke. Die Tomatensuppe: Definitiv das Sahnehäubchen auf einem Berg von ekligem Fraß.

Nachdem wir gegessen haben, steigen wir wieder ins Auto. Wir haben keine Lust, länger als nötig in der kargen Landschaft zu verweilen und wollen außerdem einfach nur nach ankommen. Endlich ankommen.

Wir fahren weiter und Jannis beginnt wieder, mich zu füttern. Mit dem restlichen Brot, dass ich übrig gelassen habe. Warum er das tut, weiß ich nicht. Immerhin haben wir gerade gegessen. Aber ich glaube, er tut es, um mich zu berühren. Denn er streift mich ständig. Meine Wange, meine Schulter, meinen Arm, meine Hand.

Ich lasse ihn gewähren und wünsche mir, das Brot würde niemals zu Ende gehen.

Aber es tut es, als wir Bad Segeberg erreichen. Eine halbe Ewigkeit später, die mit Brotkrumen bestückt war, als wären wir Hänsel und Gretel auf großer Suche nach dem richtigen Weg.

„Jetzt ist es nicht mehr weit,“ freue ich mich und fahre mit dem Finger den Weg auf der Karte nach – nur, um somit über Jans Knie streichen zu können. Irgendwie ist es seltsam. Diese Anziehungskraft, die von uns ausgeht. Als hätte der gestrige Abend alles verändert. Aber das hat er auch. Der Kuss… mit ihm hat sich ein Schalter umgelegt. Wahrscheinlich war dieses Verlangen schon die ganze Zeit da, hat sich aber erst gestern gezeigt.

Ich schüttle verwirrt den Kopf. Ist doch eigentlich egal. Jetzt ist es so und das ist gut.

Wir stehen auf einem Parkplatz eines Supermarktes und die Sonne brennt hell und heiß vom Himmel. Beim hießigen Bäcker haben wir zwei Sandwiches gekauft und noch einmal neues Wasser. Außerdem – und dafür hasse ich ihn wirklich – hat Jannis noch zwei Dosen Suppe gekauft. Damit wir in Kiel nicht verhungern, ehe wir irgendwie wieder nach Hause kommen. Ich persönlich wäre lieber verhungert, anstatt noch mal Suppe aus der Dose zu essen. Oder nach Hause zu gehen...

Wir fahren noch tanken, dann düsen wir weiter. Wir haben noch immer ein wahnsinniges Stück vor uns, aber wir werden es schon schaffen.
 

Die Landschaft wird immer unbefriedigender und irgendwann habe ich keine Lust mehr. Ich sehe fragend zu Jan, der allerdings schläft und entscheide alleine. Ich schlage alle Vorsicht in den Wind, biege bei der nächsten Abzweigung ab und fahre wenig später auf die Autobahn.

Als Jan aufwacht, überhole ich gerade mit ziemlich hohen Tempo einen LKW und einen kurzen Moment sieht er aus, als wenn gerade der Blitz eingeschlagen hätte. Dann starrt er mich an.

„Wo sind wir?“

„Auf der Autobahn.“

Und all die Küsse, die wir uns heute Morgen so gierig geschenkt und genommen haben, nützen mir jetzt nichts, als er mir mit der Karte eine über den Schädel zieht. Er ist eben immer noch der Alte.

„Wieso wirst du ausgerechnet jetzt unvorsichtig?“

„Wir sind gleich in Neumünster, Süßer. Dann fahr ich ab und alles ist okay.“

Ich fürchte, er feuert gleiche eine weitere Salve an Beschimpfungen ab, aber er verschränkt nur die Arme und lehnt sich in seinem Sitz zurück. Abfahrt Neumünster. Wir verlassen die Autobahn.

„Jetzt sei nicht sauer,“ bitte ich, als wir schon eine ganze Zeit Landstraße fahren und er noch immer nichts gesagt hat.

„Was ist, wenn man uns raus gewunken hätte?“

„Das kann uns hier auch passieren und so haben wir ziemlich viel Zeit gewonnen.“

„Und diese Meinung hast du seit wann genau? Immerhin haben wir die Autobahn bisher penibel gemieden!“ Dann schweigt er, ehe er vorwurfsvoll anhängt: „Du hättest mich wenigstens fragen können, ob ich damit einverstanden bin.“

„Du hast geschlafen!“

Er sieht mich wütend an, im nächsten Moment reißt er die Augen auf. Ich frage mich, was jetzt kommt. Ich rechen sogar damit, dass er sich auf mich stürzen könnte, tatsächlich ist aber das Einzige, was er tut, sich in meinen Arm zu krallen und zu schreien: „BREEEEEMS!“

Und ich bremse. Oh, und wie ich bremse. Es quietscht, es ruckelt, dann stehen wir. Drei Meter vor uns… eine Kuh. Ich starre sie an, die Kuh starrt mich an und Jan starrt zwischen uns hin und her. Dann setzt sich die Kuh in Bewegung und trottet wieder auf die Wiese am Straßenrand. Weit und breit keine andere Kuh zu sehen. Und auch kein Bauer oder sonst was.

Jan fordert mich auf, weiter zu fahren, aber ich würge ganze fünf Mal ab, ehe ich langsam wieder ins Rollen komme.

Danach fahre ich so langsam, dass wir die Zeit, die wir auf der Autobahn gewonnen haben, sicher wieder verlieren.

Jan lässt das ganze unkommentiert und dafür bin ich ihm dankbar. Irgendwann fragt er vorsichtig nach, ob er fahren soll und ich halte an und mache ihm Platz. Eigentlich würde ich mich mit Händen und Füßen wehren, dass wir uns schon wieder einem Risiko aussetzen, aber mittlerweile ist uns alles egal. Die Kuh… was soll jetzt noch Schlimmeres passieren?
 

Tatsächlich werden wir heute nicht mehr viel davon haben, in Kiel anzukommen. Es ist bereits später Nachmittag und es ist noch eine ganz schön große Strecke bis zu unserem Ziel. Und nicht nur das macht uns nervös. Auch die Tatsache, dass wir die Zeit im Rücken haben. Die Uhr tickt unaufhörlich. Um sieben Uhr wird der Bus an der Schule halten und dann wird alles auffliegen. Wir versuchen, nicht daran zu denken und das ist auch nicht schwer. Die Vorfreude auf unser Ziel überwiegt im Moment. Ich schließe müde die Augen, um nicht nachdenken zu müssen, was noch auf uns zukommt.

Nach einer kurzen Zeit des Schlafes löse ich Jan wieder vom Fahren ab. Nun geht es mir wieder gut. Ich fahre, Jan sagt den Weg an. Irgendwann schläft er wieder. Ich glaube, er hat nachts nicht viel geschlafen. Wegen mir und meinem Kuss. Aber das ist jetzt unnötig zu erwähnen, denn wir haben alles geklärt, was wir so zu klären hatten.
 

Irgendwann sinkt das Auto im weichen Boden ein und ich halte den Wagen an und schnalle mich ab, starre nach vorne. Ich will das Auto nicht ausgerechnet jetzt schrotten, als lasse ich ihn hier, ehe noch Sand ins Getriebe kommt. Der Köpke würde uns töten. Ich habe noch gar keinen Blick für meine Umgebung, als ich Jan wachrüttle und dieser ein verschlafnes „Wasn?“ nuschelt und sich gegen die Fensterscheibe kuschelt.

„Wir sind da.“

Und schon ist er hellwach, öffnet die Augen und richtet sich auf. Dann blickt er nach vorne. Vor uns: Sand. Sand, Sand, Sand und dann das Meer.

Wir starren darauf und der Moment ist überwältigend. Ich traue mich kaum zu atmen oder etwas zu sagen, aus Angst, dass ich plötzlich aus diesem Traum erwache. Aber es ist kein Traum, also muss ich auch nicht aufwachen, sondern kann es ganz und gar genießen.

Die Ostsee. Ich starre sie an, sehe ihr zu, wie sie Wellen an den Strand wirft und diese gemächlich zurück gleiten. Das rauschend ist deutlich zu hören und es geht ein sanfter Wind. Es sieht aus, wie ich es mir immer vorgestellt habe. Mit großen Wellen, weichem Sand und einigen Grasbüscheln.

Jan strahlt mich an, ich grinse zurück.

Ich habe schon oft das Meer gesehen, auch wenn es immer wieder auf Neue eine Faszination in mir auslöst, aber für Jan ist all das ganz neu.

„Lass uns aussteigen,“ schlage ich deshalb vor und öffne die Türe. Wir ziehen die Schuhe aus. Ich spüre den Sand an meinen Füßen und eine Weile stehe ich nur da und grabe meine Zehen noch weiter in den Sand, während ich auf das Wasser gucke. Ob Jan das gleiche Macht, weiß ich nicht. Aber er wirkt rundum glücklich. Und das ist das Wichtigste.

„Es ist wunderschön hier,“ flüstert er mir zur und ich nicke. Und dann rennt er los und ruft: „Komm! Nun komm schon!“

Und ich folge ihm schnell, renne über den ganzen aufgewärmten Sand, bis meine Füße im Wasser stehen und die Wellen gegen meine Beine schlagen.

Jan ist schon weiter, hat sich von Shirt und Röhrenjeans befreit und ist ins Wasser gestürmt. Ich tue es ihm gleich, folge ihm. Dann umhüllt das Meer mich und ich denke, egal, was jetzt noch kommt, für diesen einen Augenblick würde ich alles noch einmal durchleben. Alles und noch viel mehr.

Ich kämpfe mich zu Jan durch und packe seine Schultern, fahre zu seinen Hüften. Ich ziehe ihn zu mir und küsse ihn. Er schmeckt salzig. Er riecht salzig. Noch nie hat jemand so gut geschmeckt, so gut gerochen.

Wir lösen uns wieder, albern eine ganze Weile im Wasser herum. Die ganze Zeit, bis wir den Anruf erwarten, verbringen wir dort. Als es, unserem Gefühl nach, langsam Zeit wird, zurück zum Auto zu gehen, schwimmt Jannis langsam zu mir und schlingt die Arme erneut um meinen Hals.

„Ich hätte nie gedacht, dass wir das wirklich schaffen. Und jetzt sind wir tatsächlich hier.“

Ich stimme zu und gestehe: „Ich habe echt gedacht, dass sie uns spätestens nach Hessen schnappen.“

Wir grinsen. Es ist so schön, hier mit ihm zu sein. Das sage ich ihm auch.

Er lächelt. „Ich hätte nie gedacht, so eine Reise mit dir zu machen. Mit dir…“

„Das sagtest du bereit,“ necke ich ihn.

„Aber damals habe ich nicht gesagt, dass ich froh bin, sie mit dir gemacht zu haben.“

Ich lächele. Er lächelt.

„Ich dachte echt, ich bin nicht schwul. Aber ich habe noch nie so viel für einen Menschen empfunden, als gerade für dich.“

„Geht mir genauso,“ wispere ich und meine Lippen nähern sich den seinen.

„Ist das die Magie des Roadtrips?“

Er muss lachen. „Keine Ahnung,“ flüstert er zurück und kommt meinen Lippen entgegen. Sie berühren sich hauchzart. „Aber ich hoffe, die Magie hält noch ein wenig an.“

Ich überwinde den letzten Milimeter, ziehe ihn zu mir. Das wir zurück zum Auto wollten, haben wir verdrängt. Es interessiert uns nicht mehr. Das einzige, was jetzt noch interessant ist, sind unsere Körper, die sich umschlingen, berühren, verschmelzen.
 

Eine geraume Zeit später, es bläst nun ein deutlich kühlerer Wind, liegen wir auf den zurück geklappten Rücksitzen im VW, nur in Shorts, und kuscheln uns aneinander. Nicht wie Verliebte, nicht wie ängstliche Kinder… eher… eine Mischung aus Beidem.

Die Wellen rauschen noch immer. Sicher hören sie niemals auf.

Wir müssen eingeschlafen sein, zumindest haben wir gedöst, denn so richtig in die Wirklichkeit finden wir erst, als Jannis' Handy laut und eindringlich zu klingeln beginnt. Trotz unseres kleinen Intermezzos im Wasser, haben wir noch genug Zeit gehabt, um uns ein wenig auszuruhen. Vielleicht auch, weil der Bus der Anderen wohl Verspätung hatte, erst vor kurzem angekommen ist. Das zumindest denke ich mir, denn als eben jenes schreckliche Klingeln ertönt, ist es schon nach halb Acht.

Mühsam greift Jan nach dem unliebsamen Ding, irgendwo in den Untiefen seiner Reisetasche und hält es sich ans Ohr.

Er hat noch nicht mal die Chance „Ja“ zu sagen, da kreischt seine Mutter uns laut entgegen: „JANNIS! Wo zur Hölle bist du?“

Wir sehen uns an. Ich greife nach seiner Hand und er atmet tief durch.

„Na ja… Ich bin in… Kiel,“ stammelt er dann und ich denke nur, dass es für die Idee, die Handys in der Ostsee zu versenken und nach Sibirien abzuhauen, noch immer nicht zu spät ist.

Wie man wohl fahren muss, um nach Sibirien zu kommen? Wie lange es wohl dauert?

Schweigen am anderen Ende der Leitung. Sicher muss seine Mutter die Nachricht erst verdauen. „In Kiel?“, wiederholt sie dann ungläubig.

Wäre doch lustig, wenn sie alle uns nicht glauben würden. Wenn wir hunderte Male sagen würden, wir wären in Kiel und sie doch verlangten, dass wir hinter dem nächsten Busch hervorspringen und lachen.

Meine Mutter drängt nun ans Telefon. Ich höre sie mit Jans Mutter diskutieren, die ihr Handy nicht loslassen will. Jetzt fragt sie Jan nach mir und er nickt, was sie natürlich nicht sehen kann. „Ja, er ist hier,“ fügt er deshalb hinzu. Wieder eine Diskussion am anderen Ende.

Wir sehen uns an und die Situation nimmt langsam bizarre Formen an. Die Schlacht um das Telefon ist geschlagen und ich höre nun die Stimme meiner Mutter. „Gib mir Sam!“, verlangt sie nicht gerade freundlich von Jan und ich verziehe missbilligend das Gesicht, während das Handy an mich weitergereicht wird. Ich wünsche mir nichts mehr, als das der Akku – ohne hin schon so gut wie tot – absäuft und sie gleich nur noch ein ‚Tut, Tu, Tut’ hören. Stattdessen hören sie weiterhin meine Stimme - oder auch nicht, denn ich schweige -, weil der Akku eben noch nicht ganz leer ist.

„SAM! VERDAMMT!“, kreischt meine Mum, so laut, dass Jan neben mir noch zusammen zuckt und ich das Handy ein Stück vom Ohr weghalte.

„Bist du verrückt? Was macht ihr in Kiel?“, fährt sie nun leiser fort. Sicher sind noch mehr Leute an der Bushaltestelle und sie möchte nicht unangenehm auffallen. „Wie seid ihr überhaupt nach Kiel gekommen?“, fügt sie hinzu, weil ich nicht antworte.

„Na ja,“ druckse ich unglücklich herum und Jans Finger umschließen meine fester. „Mit dem Auto.“ Und trotz der ernsten Lage muss ich auf einmal grinsen. Jetzt wird’s erst richtig lustig.

„Ach so,“ sagt meine Mutter. „Mit dem Auto,“ gibt sie an die anderen weiter. Dann stutzt sie. Dann zieht sie scharf die Luft ein. „Mit dem Auto?“, vergewissert sie sich. Ich mache nur ein ‚Hm’. Stille. Dann: „MIT DEM AUTO?“

Ich höre sie schnaufen, dann fragt sie: „Mit welchem Auto?“

Ich schweige. Ich lausche. Im Hintergrund ist Stimmengemurmel zu erahnen, aber ich höre nichts Genaues. Weil ich erneut nicht antworte, fragt sie: „Doch nicht mit Köpkes Auto?“

Mir wird schlecht, aber ich presse ein „Doch“ über die Lippen.

Stille, die mich dazu treibt, weiter zu quasseln. „Er hat seinen Ersatzschlüssel im Handschuhfach liegen gelassen.“ Ich sage das in einem Ton, als würde das alles rechtfertigen, als wäre es Grund genug, den Wagen aufzubrechen und damit weg zu fahren. Nach Kiel.

„DAS HAT KONSEQUENZEN!“ Das ist nicht meine Mutter, die das brüllt, sondern wieder die von Jan. Sie scheint wieder die Kontrolle über das Telefon zu haben und klingt reichlich hysterisch. Im Hintergrund ruft meine Mutter dem Köpke zu, er solle aufhören, die Abschleppfirmen anzurufen, sie wisse, wo sein Auto ist.

Das höre ich klar und deutlich. Entweder steht sie noch neben Jans Mutter oder sie ist einfach so laut, dass man es dennoch hört.

„Wir holen euch morgen ab,“ meint Jans Mutter. „Bis dahin verhaltet ihr euch ordentlich.“ Ich muss grinsen. Wir haben schon so große Scheiße gebaut. Denken sie, es könnte noch schlimmer werden?

„Ja, Mum,“ ruft Jannis – natürlich hat er bei ihrer Lautstärke alles gehört – und ich nicke, obwohl sie es immer noch nicht sehen können.

Dann höre ich tatsächlich ein Lachen, dass nur das von Micha sein kann und muss breit grinsen. Jan sieht mich fragend an und ich forme lautlos mit den Lippen ‚Micha’. Daraufhin lacht er laut los und ich falle mit ein, weil ich nun doch nicht mehr an mich halten kann. Ich presse das Handy gegen meine Brust, damit sie uns nicht hören.

„Was habt ihr euch dabei gedacht?“, fragt meine Mutter dann wieder und ich bin mir nicht sicher, ob sie unser Lachen nicht gehört hat oder nur ignoriert.

„Na ja,“ meine ich unglücklich, weil ich ihr nicht sagen kann, was wir uns dabei gedacht haben. Ich glaube, wir haben gar nicht gedacht. Aber das sage ich nicht. Stattdessen sage ich: „Ich denke, wir waren einfach auf der Suche.“

Eine wirklich blöde Ansage, das findet sie auch. Zynisch meint sie: „Auf der Suche? Nach was? Nach Freiheit?“

Und weil mir nichts Besseres einfällt, sage ich: „Ich denke.“

„Und?“, nun klingt sie immer noch zynisch, aber so, als würde sie das gleich ablegen und gänzlich explodieren, „Habt ihr eure Freiheit gefunden?“

„Ja. Und nicht nur das,“ meine ich mit fester Stimme, weil das stimmt. Ich sehe zu Jan, beuge mich vor, küsse ihn. Das Telefon klappe ich noch währenddessen zu. Wir haben alles gesagt, was es zu sagen gibt.

Lächelnd schlingt er die Hände um meinen Hals und entnimmt mir das Telefon, um es in die nächste Ecke zu werfen. Es klingelt, aber wir ignorieren es. „Wir haben morgen noch den ganzen Tag Zeit, ehe sie ankommen," stellt er fest.

„Zeit genug, uns Kiel anzusehen,“ meine ich. Zeit genug für uns.

No risk, no fun

Die Wellen lullen uns am Abend in den Schlaf und wecken uns am Morgen. Die Sonne steht hell am Himmel und wir beschließen, nicht lange zu warten, sondern gleich los zu gehen und irgendwo in der Stadt zu frühstücken.

Also fahren wir los, nach Kiel. Der Wagen hat zum Glück keinen Schaden davon getragen und wir können ihn auf einem Parkplatz abstellen, der nahe der Innenstadt ist und dann zu Fuß Kiel erkunden. Wir haben keine Ahnung, ob es in Kiel Sehenswürdigkeiten gibt, und wenn ja, welche, und ob diese auch sehenswert sind. Aber es ist uns auch egal. Wir bummeln durch die Straßen und bestaunen jedes noch so langweilige Haus, weil die Stadt, und somit auch jedes dieser Häuschen, uns gehört. So fühlt es sich zumindest an…

Wir wollen uns später mit unseren Eltern am Hafen treffen. Also meiden wir diesen, da er uns nur daran erinnern würde, was bald bevorsteht. Weggefahren wollen unsere Eltern am Vormittag und wir schätzen, dass sie sechs Stunden brauchen, bis sie hier sein werden. Zeit genug.

Allen Überlegungen zum Trotz, kommen wir nicht umhin, uns ein paar Schiffe anzusehen, ehe wir weitergehen und irgendwann in einem kleinen Café Halt machen, um zu Frühstücken.

„Was glaubst du, wie deine Eltern reagieren, wenn sie hier sind?“ Jan stopft sich Rühreier mit Krabben in den Mund, während ich ein normales Wurstbrötchen Essen. Ich mag keinen Fisch und war auch noch nie so dankbar, Fleisch zu mir nehmen zu dürfen.

„Na ja, sie sind ziemlich streng.“ Ich zucke mit den Schultern. „Sicher strafen sie mich schon bei ihrer Ankunft mit Wutausbrüchen und Drohungen.“ Ich zucke mit den Schultern und erzähle ihm ein wenig von ihnen. Davon, dass sie eigentlich ganz in Ordnung sind, wenn man sich nur an ihre Regeln hält. Davon, dass ich früher nicht mit anderen Schülern spielen durfte, sondern immer nur lernen sollte. „Eine Stunde durfte ich unter der Woche am Tag nach draußen. Nicht mehr.“

Dann erzähle ich ihm, dass sich Michas und meine Mutter schon kennen, seit wir geboren wurden und seit dem ein gutes Verhältnis habe. Und dass das der Grund ist, warum ich nur mit Micha eine richtig dicke Freundschaft habe. Weil sie die einzigen waren, die öfters zu Besuch kamen, weil Micha der einzige war, mit dem ich spielen durfte.

Wir haben fertig gegessen und trinken in Ruhe unseren Kaffee aus.

„Meine Mum wird wohl ziemlich hysterisch sein, aber letztlich wird sie wohl keinen großen Aufstand machen,“ überlegt Jan und ich frage ihm nach seinem Dad. Man hört so viele Schauermärchen über seine Familie, aber nie, was wirklich geschehen ist. Ich kenne jedermanns Version, nur seine eigene nicht.

„Mein Dad ist vor einigen Jahren mit seiner Sekretärin durchgebrannt. Warum, weiß keiner. Sie ist nicht mal jünger oder hübscher wie Mum. Aber ich denke, es war ihm egal, mit wem er gegangen ist. Hauptsache, er konnte gehen.“

Ich frage ihn, ob er Kontakt hat und er meint, sie würden telefonieren. Mehr nicht.

„Sie hatten nur Streit. Immer. Es ist eigentlich besser, dass sie jetzt nicht mehr zusammen sind.“

Er rührt in seinem Kaffee herum. Sicher ist er schon kalt.

„Leider ist er weit weggezogen. Deshalb kann ich ihn nicht sehen.“

„Du könntest ihn besuchen.“

„Ich will nicht. Ich finde es gut, wie es ist. Am Telefon kann ich mit ihm reden, wie mit einem guten Freund. Ich habe Angst, wenn ich ihm gegenüber sitze, dann werde ich das nicht mehr können. Dann werde ich ihn nur ein paar Dinge fragen.“

„Was fragen?“

„Ob er jetzt glücklich ist?“

„Ich dachte, davon gehst du aus.“

„Nein. Ich meinte, es ist besser so. Aber nicht, dass es uns alle glücklich macht. Nicht alles, was richtig scheint, ist auch richtig.“

Ich muss ziemlich verwirrt ausgesehen haben, denn er meint: „Er fragt ständig nach meiner Mutter, will aber nicht mit ihr reden. Dennoch erzählt er mir viel von ihr. Wie sie früher war. Er hängt noch immer an ihr. Seine Sekretärin ist schon lange seine Ex.“

„Und deine Mum?“

„Ihr Neuer ist das Ebenbild meines Vaters. Er sieht genauso aus, spricht ähnlich wie er, er ist sogar in der gleichen Branche tätig, wie mein Dad.“

Und plötzlich verzieht er den Mund. „Aber er ist ein Arsch. Kontrolliert meine Mum aus Eifersucht, stellt ihr nach. Mich hasst er. Er geht mir aus dem Weg. Sie streiten, fast öfter, als Mum je mit Dad gestritten hat.“

„Warum verlässt sie ihn nicht?“

„Ich glaube, dafür fehlt ihr das letzte bisschen Mut.“

Ich nicke. „Was wird ihr Lover zu der ganzen Sache sagen?“

„Entweder rastet er aus oder es interessiert ihn nicht.“ Er zuckt mit den Schultern. Es scheint ihm egal zu sein. „Ich ignoriere ihn,“ bestätigt er diesen Verdacht. „Wir ignorieren uns gegenseitig und so wird es fast erträglich.“
 

Irgendwann sind wir wieder am Parkplatz und machen die restlichen Dosen leer. Wir haben überlegt, Essen zu gehen, aber wir sind noch zu voll vom Frühstück und beschließen, unsere Suppendiät tut es auch.

Danach sind unsere Vorräte fast aufgebraucht. Nur ein paar Wasserflaschen sind noch übrig. Jan will den restlichen Tag am Strand verbringen und so fahren wir zurück zu unserem Fleckchen Erde.

Es ist kein einsamer Strand, wie gestern Abend vermutet. Aber hier gibt es kaum Touristen und die wenigen Menschen hier, sind verstreut.

Wir finden einen ruhigen Platz zwischen ein paar Büschen, hinter denen wir es uns gemütlich machen. Hier ist es fast, als wären wir doch alleine.

Wir schlafen ein wenig und wir reden. Wir reden so viel, dass ich glaube, es gibt kaum noch etwas, was unausgesprochen ist. Dabei gibt es noch so viel, wir finden immer wieder neues.

Ich erzähle Jan von meinem Hund, den ich mit drei Jahren hatte und auf dem ich immer im Garten herumgeritten bin. Er erzählt mir, wie er sich als Kind einen Arm gebrochen hat, als er auf einen Baum geklettert und dann abgestürzt ist.

Ich erzähle ihm von den wenigen Erinnerungen, die ich noch an unseren Urlaub nahe Worpswede habe und von den vielen anderen im Ausland.

Er erzählt mir von seinem Campingurlaub, den einzigen, den seine Eltern und er je gemacht haben und davon, wie sein Dad auf diesem Ausflug von einem Pferd gebissen worden ist.

Wir reden auch über ganz banale Dinge. Darüber, was unsere Lieblingsfächer sind und welche wir hassen. Ich erfahre, dass Jan ziemlich gut in Fremdsprachen ist, während ich eher in den Fächern glänze, in denen man nicht denken muss, sondern alles auswendig lernt. Wir hassen beide Mathe, was nicht nur an Köpke liegt, sondern tatsächlich an den verwirrenden Zahlen.

Ich erfahre, dass Jan Gitarre spielen kann und er erfährt, dass ich als Kind zwei Jahre zum Ballettunterricht geschleift wurde, ehe mein Dad meinte, das wäre für einen Jungen irgendwie zu mädchenhaft.

„Er hat zu meiner Mum gemeint: Willst du, dass er schwul wird? Und sie hat gesagt: Wenn er mal ein berühmter Tänzer ist, kann er auch schwul sein!“

Wir lachen beide. „Jetzt bist du kein Tänzer, aber du hast trotzdem einen Freund.“

„Bist du denn mein Freund?“

„Darf ich denn dein Freund sein?“

Ich lächle. Ich küsse ihn. Damit ist alles gesagt.
 

„Noch eine Stunde, bis sie wohl ankommen,“ meint Jan irgendwann. Wir haben uns aufgesetzt und sehen den Wellen zu. Wenn wir über die Sträucher gucken, können wir einer Familie beim Baden zusehen. Aber das tun wir nicht. Wir sind mit uns beschäftigt.

Ich gehe zum hundertsten Mal in Gedanken durch, wie meine Mum sicher reagiert und auch Jan meint: „Ich glaube, sie rastet doch aus. Wenn ich Glück habe, gibt sie ihrem Lover Schuld.“

„Meine wird sich grausame Strafen einfallen lassen,“ meine ich noch einmal. Wir haben schon ein schweres Los.

„War es ein Fehler, her zu kommen?“, will Jannis wissen. Ich blicke auf das Meer. „Sieht das für dich wie ein Fehler aus?“, frage ich und mache eine umschweifende Handbewegung.

„Nein. Ich glaube, das ist sogar das erste Mal, dass ich nichts anders machen würde.“

Ich lächle und sehe ihn an. „Außerdem würden wir uns jetzt immer noch gegenseitig verwünschen,“ füge ich hinzu und bin mehr als dankbar, diesen Ausflug mit ihm gemacht zu haben. Ich küsse ihn, er zerrt mich zu sich.

Nicht mehr Herr meiner Sinne, befreie ich ihn von seinen Klamotten und drücke ihn nach hinten, in den Sand.

Dann schlafen wir miteinander. Nicht nur einmal, während die Wellen rauschen und der Sand uns im Rücken kitzelt.

Und irgendwann liegen wir einfach nur da und warten auf das, was als nächstes passieren wird.
 

Das nächste, was passiert, ist, dass mein Handy klingelt. Ich gehe ran und meine Mutter verkündet: „Wir sind jetzt am Hafen. Kommt ihr?“

„Wir kommen,“ stimme ich zu. „In einer halben Stunde sind wir bei euch.“

Dann höre ich auch schon das Tuten, offenbar will sie nicht länger mit mir reden. Ich stehe auf, helfe Jan hoch und wir ziehen uns ordentlich an und gehen zum Auto zurück. Wir haben das Auto von all den leeren Packungen und Abfällen befreit und jetzt sieht es nicht mehr aus, wie eine zugemüllte Schrottkiste sondern nur noch wie eine Schrottkiste. Also überbringen wir Köpke sein Auto so, wie wir es vorgefunden haben. Wir räumen auch sonst alles auf, packen unsere Taschen wieder ordentlich und legen Köpkes Dinge an den Ort zurück, an dem wir sie vorgefunden haben. Letztlich ist es nur der Strich auf der Landkarte, den wir nicht rückgängig machen können. Aber vielleicht wird er ihn irgendwann bemerken und dann lachen müssen. (Oder er wird die Karte wütend in der Luft zerfetzen.) Wer weiß das schon.

Die Pfandflaschen haben wir heute Morgen alle abgegeben und nun sind nur noch ein paar volle Flaschen übrig, die neben unseren Taschen einen Platz finden, als wir losfahren.

Wir parken nicht direkt am Hafen, sondern ein Stück entfernt, und beschließen, die letzten Meter lieber zu laufen, um uns noch einmal seelisch und moralisch vorbereiten zu können. Das sieht dann so aus, dass wir uns noch ein Eis zur Stärkung kaufen, ehe wir den beschwerlichen Weg antreten.

Als wir fast dort sind, klingelt mein Handy erneut und, die Stirn runzelnd, erkenne ich Michas Nummer. Von ihm habe ich noch nicht wieder etwas gehört, was mir schon den ganzen Tag Spanisch vorkam.

„Wo seit ihr denn? Die sind alle schon ganz ungeduldig,“ erklärt er mir und meine Miene erhellt sich, als ich den Sinn hinter den Worten verstehe. „Du bist mit hergekommen?“

„Klar, man. Glaubst du, ich verpass das freiwillig?“ Er lacht und ich grinse und erzähle Jan die Neuigkeit. Auch er scheint erfreut, was schon komisch ist. Hätte ich ihm das am Montag erzählt, wäre er sicher schreiend weggerannt.

„Wenigstens einer, der nicht feindlich gesinnt ist,“ meine ich, als ich aufgelegt habe und Jan nickt, ehe er freudlos „Juheee“ macht.

Wir seufzen erneut, dann biegen wir zum Hafen ab – das Eis ist bereits aufgegessen – und dann sehen wir sie auch schon.

Ein paar Meter von uns entfernt stehen sie und unterhalten sich. Wir bleiben stehen und warten, bis sie zu uns blicken.

Meine Mum sieht aus, als würde sie mich am liebsten in den Arm nehmen, aber ihre wütende Mimik verrät mir, dass sie das nicht tun wird.

„Warum habt ihr das getan?“, will sie wissen, kaum fällt ihr Blick auf uns. Wir sehen uns an, wechseln ein paar Blicke. Was sollen wir darauf sagen? Ein wenig ratlos, denke ich, dass es sinnvoll ist, sich an die Wahrheit zu halten.

„Wir hatten wohl Angst,“ gestehe ich. „Angst?“, wiederhol Jans Mutter ungläubig. „Wovor denn?“

Ich schätze, mit dieser Aussage haben wir sie schon aus dem Konzept gebracht. Wahrscheinlich haben sie mit einem anderen Grund gerechnet. Drogen oder eine Persönlichkeitsstörung…

„Das ihr ausrastet, weil man uns vom Ausflug ausgeschlossen hat,“ erklärt Jan ihr nun und zuckt mit den Schultern. „Eigentlich wollten wir den Anderen nur nachfahren“

Ich springe ihm bei: „Aber dann dachten wir, es wäre sinnvoller, irgendwo hin zu fahren, wo es so richtig cool ist.“

„Und dann wollten wir einfach nur ans Meer,“ beendet Jan die Erzählung.

Es ist mein Dad, der als nächstes das Wort ergreift und mir damit Angst macht. Wenn er schon etwas sagt, statt meiner Mum das Reden zu überlassen, muss es echt schlimm sein.

„Weißt du, was wir uns für Sorgen gemacht haben?“ Er sieht mich fragend an. Aber nicht einfach normal-fragend, sondern furchtbar-wütend-fragend.

„Ihr wart nicht im Bus und euer Lehrer sagte uns, er hätte euch nach Hause geschickt, wo ihr nie angekommen seid.“

Nun fuchtelt er wild mit den Händen. „Was, wenn euch was passiert wäre? Was, wenn die Polizei euch angehalten hätte?“

Was ich darauf sage, bereue ich schon, da hat es noch nicht ganz meinen Mund verlassen: „No risk, no fun.“

„NO RISK, NO FUN!“, brüllt er sogleich und meine Hand zuckt automatisch nach der von Jan und ich halte sie warm und tröstend in meiner. Ich weiß nicht, ob sie das registrieren und ich weiß nicht, was sie davon halten. Jedenfalls sagen sie nichts dazu. Stattdessen sehen sie uns nur wütend und enttäuscht an und Jan versucht, sie zu besänftigen: „Wir sind extra Umwege gefahren, um nicht aufgegriffen zu werden. Und wir haben uns penibel an alle Geschwindigkeitsbegrenzungen gehalten.“ Ich nicke zustimmend

Ob es die Aufregung ist, oder ob wir nur allgemein weniger denken, als die Erwachsenen, weiß ich nicht. Aber Jans Mum hört etwas heraus, was wir gar nicht bemerkt hätten.

„Was willst du mit ‚wir’ sagen?“

„Na ja… nichts…“ Es ist sinnvoller, nicht zu sagen, dass Jan auch gefahren ist, aber wir sehen ziemlich ertappt aus. „Sam halt,“ fügt er dennoch hinzu, in der Hoffnung, es noch retten zu können.

„Ich sehe doch, was hier gespielt wird,“ mischt sich nun der Lover seiner Mum ein und legt ihr eine Hand auf die Schulter. „Dein missratener Sohn ist gefahren, obwohl er keinen Führerschein hat.“

Und jetzt erlebe ich auch endlich mal live mit, was für ein Arsch er ist.

„Mein Sohn?“, ruft Jans Mutter jedenfalls – das ‚missratener’ ignoriert sie – „Jetzt ist es wieder nur mein Sohn?“

„Ist es meiner?“, will er nun wissen.

„Natürlich nicht, aber du bist für seine Erziehung ebenfalls verantwortlich.“

Jannis und ich sehen uns an, dann blicken wir beide zu Micha, der bisher nur schweigend neben unseren Eltern und Köpke – ja, der ist auch dabei – stand.

„Ich find’s jedenfalls cool,“ meldet er sich nun zu Wort und fängt an zu lachen, während er auf uns zukommt und uns umarmt.

Und wir sind so unendlich erleichtert, dass er das tut. Das er uns in die Arme schließt und uns kurz glauben lässt, alles wäre wieder gut.

Dann löst er sich von uns und wirft einen Blick auf unsere Finger, die sich nun gänzlich miteinander verhakt haben. Er sagt nichts dazu, sondern stellt sich nur neben uns, um uns still beizustehen.

„Aber ich bin wahnsinnig sauer, dass ihr mich nicht mitgenommen habt,“ fügt er hinzu und das bringt das Fass zum Überlaufen, zumindest was uns betrifft. Wir lachen laut los und es tut so gut. Auch, wenn es zur Folge hat, das unsere Eltern aussehen, als würden sie gleich Amok laufen. Aber es muss einfach sein.

„Noch lachst du,“ verkündet meine Mutter auch sogleich, „Aber du wirst schon sehen, wenn wir zu Hause sind, junger Mann!“

Und Jans Mutter stimmt ihr zu: „Du wirst dir noch wünschen, das hier niemals getan zu haben, Jannis.“

„Jetzt reicht es aber!“, greift in dem Moment der Köpke ein, tritt vor und sieht uns sauer an. „Was ihr getan habt, hat uns allen nur Ärger eingebracht!“

Seine Stimme klingt sehr streng.

Wir blicken leidend drein und frage uns, womit wir das verdient haben. (Eigentlich ja klar, womit…)

„Aber wenn ich so höre, warum ihr das getan habt, kann ich kaum fassen, dass Sie,“ und nun wendet er sich an unsere Eltern, „es überhaupt noch wagen, ihren Mund aufzumachen.“

Ganz ehrlich? In dem Moment klappt mir die Kinnlade runter, denn der Köpke fängt nun tatsächlich an, eine Moralpredigt zu halten. Aber nicht uns.

„Wenn Kinder lieber Autos knacken, statt ihren Eltern zu beichten, dass sie von einem Ausflug ausgeschlossen wurden, dann kann etwas nicht stimmen. Da hat ihre Erziehung wohl deutlich versagt.“

Jan guckt mich an wie ein Auto und ich blicke überrascht zurück und klappe den Mund zu.

„Was die Jungs getan haben, ist nicht zu entschuldigen. Aber der Grund, warum sie es getan haben, sind dennoch Sie!“

Dann sieht er wieder zu uns. „Ich erwarte bis Montag einen zwanzig Seiten langen Aufsatz darüber, was ihr an Erfahrungen gesammelt habt.“

„Zwanzig Seiten?“, keuchte ich atemlos.

„Ihr habt ganz sicher genug zu erzählen. Da füllen sich die Seiten von ganz alleine.“

Er sieht uns mit strenger Miene an, aber ich glaube, einen Funken milde in seinen Augen zu erkennen. „Wenn ich die Aufsätze bekomme, sehe ich von einer Anzeige ab.“

Jan strahlt und ich denke, dass der Köpke wohl doch nicht ganz so blöd ist…

Er ist fertig mit uns, wendet sich wieder an unsere Eltern. „Ich kann ihnen nicht verbieten, ihre Söhne zu bestrafen. Das haben sie auch verdient. Aber sie sollten ihre Energie vielleicht mal dafür nutzen, zu überlegen, was sie tun können, dass dies nicht noch mal passiert.“
 

Ich lasse Jans Hand nicht los, während wir Köpke, unsere Eltern und Micha zum VW führen. Sie wollten alle unbedingt mit, sehen, ob der Wagen auch noch am Leben ist.

Und sie sind ganz überrascht, dass dem dann tatsächlich so ist.

Er hat nur ein paar kleine Kratzer, von denen ich nicht mal sagen kann, woher sie kommen und von denen Köpke meint, es wäre nicht so schlimm.

Wir holen unsere Reisetaschen und die Wasserflaschen aus dem Auto und überreichen Köpke den Schlüssel.

Und in dem Moment wird uns klar, dass unser Ausflug vorbei ist. Das Abenteuer ist zu Ende, das Ziel erreicht.

Irgendwie fühle ich mich plötzlich leer und der Gedanke, am Montag wieder in die Schule zu gehen, ist mir mehr als zuwider.

Der Köpke nickt uns allen noch mal zu, ehe er den Motor startet. Micha winkt ihm nach, wir anderen stehen nur da und warten, bis der VW mit seinem eigentlichen Besitzer davon gefahren ist. Ich vermisse sie, die alte Schrottkiste. Es ist fast, als wäre sie in der kurzen Zeit zu einem Teil von mir geworden. Genau wie Jannis.

Ich wende mich meinem Freund zu, dessen Hand ich kaum noch fühle. Fast ist es, als wäre sie mit meiner verschmolzen. Ich muss darauf blicken, um zu sehen, dass sie noch zwei Individuen darstellen, die aneinander kleben.

Ich berühre seine Schulter mit der anderen Hand, er meinen Arm.

Eigentlich unbedeutende Gesten, doch für uns bedeutend sie die Welt, spenden Trost.

Wir kehren zu den Autos meiner Eltern zurück und ab hier folgt das schwerste von allen, wie mir klar wird, als wir zwischen dem bonzigen BMW meiner Eltern und dem alten Fiat von Jans Mum stehen.

Der Abschied von einander. Es ist fast, als müsste ich mir einen Teil von mir weggeben. Mir eine Hand abhacken oder so.

Ich bringe es nicht fertig, Jannis’ Hand loszulassen.

Micha ist schon eingestiegen, sitzt im schwarzen BWM und sieht durch die Scheibe zu, wie Jan und ich in die Augen blicken und unsere Eltern genervt neben uns stehen.

„Denkt ihr nicht, dass ihr euch jetzt lange genug gesehen habt?“, fragt meine Mum. Ich glaube, sie weiß nicht, was sie davon halten soll.

Ich will Jan küssen, ihn an mich pressen. Aber das kann ich nicht. Stattdessen umarme ich ihn nur, intensiver, als man einen Freund normalerweise umarmt und hauche ihm ins Ohr, ihn am Abend anzurufen.

Am liebsten würde ich seine Hand mitnehmen, aber da das nicht möglich ist, lasse ich sie nun langsam aus meiner gleiten und er entzieht sie mir ganz.

Dann sehen wir uns noch mal in die Augen - Kaffeebraun auf Wasserblau – ehe wir in unsere Autos steigen und losfahren.

Bis zur Autobahn fährt der Fiat hinter uns her, auf der Autobahn ist Dads BMW zu schnell und wir verlieren die Anderen.

Ich frage mich, ob sie auf der Hinfahrt die ganze Zeit in den Rückspiegel gesehen haben, um einander nicht zu verlieren, oder ob sie einen Treffpunkt ausgemacht haben und getrennt voneinander ankamen. Aber ich frage das nicht laut.

Ich sage gar nichts laut, meine Eltern auch nicht. Nur Micha redet. Er erzählt von dem langweiligen Klassenausflug, lässt kein Detail aus, damit nicht eine Sekunde Schweigen herrscht. Und obwohl es langweilig ist, interessiert es mich brennend. Es bringt mir die Realität zurück.

Die Hälfte der Strecke können wir so überbrücken. Den Rest füllt das Autoradio. Es funktioniert, nicht so wie das von Köpke.

Aber ich vermisse das alte Radio im VW. Ich vermisse dessen Rauschen. Ich bitte meine Mutter, eine CD einzulegen und sie kommt meiner Bitte sogar nach. Aber das macht es nicht besser. Während ich auf Phil Collins höre – ihre CD –, vermisse ich My chemical romance und Dead by April und die Streits darüber. Und über alles hinaus vermisse ich Jan.

Ich krame nach meinem Handy, aber mein Akku ist leer. Ich bitte Micha um sein Handy, klingle Jan an. Aber auch dessen Akku ist leer.

Das alles bleibt von meiner Mum nicht unbemerkt: „Was ist das zwischen euch?“

„Ich vermisse ihn,“ sage ich nur.

Sie und Dad scheinen zu wissen, was ich damit sagen will. Sie unterhalten sich leise. So leise, dass es im Klang des Radios untergeht. Ich glaube, etwas von ‚schwarzen Fingernägeln’ und ‚stand doch mal auf Mädels, nicht?’ zu verstehen. Nun versuche ich angestrengt, etwas Genaures herauszuhören und glaube, mein Dad sagt: „Daran ist nur dein Ballett Schuld.“

Ich muss grinsen und in dem Moment ist ein Song zu Ende und ich höre, wie meine Mum sagt: „Ich mag den Jungen jedenfalls.“

Dann erklingt der nächste Song und alle schweigen wieder.

Wundersame Welt

Ich bemerke Jannis bereits, als er in die Aula tritt. Ehrlich gesagt habe ich die Türe seit Minuten angestarrt, ohne zu blinzeln, um ihn ja nicht zu verpassen.

Wir haben samstags nicht mehr telefoniert, weil es schon sehr spät war, als wir wieder zu Hause ankamen. Stattdessen habe ich ihn Sonntagmorgen angerufen und wir haben kurz über die Autofahrt gesprochen. Mehr nicht. Danach habe ich ewig an meinem Aufsatz geschrieben und, als ich damit fertig war, ein langes Gespräch mit meinen Eltern geführt.

Nun entdeckt er auch uns und kommt her. Ich sitze mit Micha an der Treppe und eben jener liest gerade meinen Aufsatz und kichert ab und an, wenn er eine witzige Stelle findet.

„Hey,“ lächle ich Jan an und er lächelt zurück. „Hey.“

Eine ganze Zeit lang sehen wir uns einfach nur an, dann seufzt er: „Und? Wie war es bei dir noch?“

Ich zucke mit den Schultern. „Ich darf die nächsten Wochen den Haushalt fast komplett alleine erledigen. Als Strafe. Aber das ist eigentlich ziemlich milde, wenn ich an ihre sonstigen Strafen denke.“ Ich muss grinsen. „Sie meinten zu mir, sie würden sich bessern. Komisch, oder?“

Er zuckt ebenfalls mit den Schultern. „Irgendwie schon.“

„Bei dir?“, hake ich nach und Jan beginnt zu grinsen. „Meine Mum weist alle Schuld von mir und gibt sie ihrem Lover. Oder eher Ex-Lover. Sie haben sich gestern getrennt und sie hat ihn aus dem Haus gejagt und seine Sachen aus dem Fenster geworfen. War ein ziemlicher Aufstand und die Nachbarn haben die Polizei gerufen, als er ein paar Mülltonnen umgeworfen hat.“

Er grinst noch breiter. „Jetzt ist er weg.“

Ich muss lachen. Das hätte ich gerne gesehen.

Dann aber wird meine Miene ernster. Es gibt etwas Wichtigeres zu klären: „Was ist jetzt mit uns?“

„Ich dachte wirklich, es lag daran, dass wir so viel aufeinander saßen.“

Er sieht mich an, ich blicke zurück. Und mir geht der Arsch auf Grundeis. So viel Panik wie jetzt, habe ich nicht mal geschoben, als wir am Samstag meinen Eltern gegenüber standen. Ich habe wirklich Angst, ihn zu verlieren.

„Aber es hört nicht auf,“ meint er dann und ich könnte freudestrahlend durch die Aula rennen.

„Bei mir auch nicht,“ meine ich stattdessen unglaublich erleichtert und strahle ihn an. Er lächelt zurück: „Dann passt ja alles.“

„Ja,“ gebe ich ihm Recht, „Dann passt ja alles.“

Dann sehe ich keinen Grund mehr darin, dass wir hier stehen, wie die letzten Trottel. Ich packe seine Hände und ziehe ihn zu mir. Als ich ihn endlich auf meinem Schoß sitzen habe, küsse ich ihn gierig. Oh Gott, dass habe ich so sehr vermisst.

„Ich finde den Aufsatz genial,“ wirft Micha ein und sieht uns belustigt zu, wie wir uns gegenseitig auffressen. Es scheint ihn nicht zu überraschen. Aber er hat die Situation sicher schon auf am Hafen in Kiel realisiert und wenn nicht, hat er sie gerade nachgelesen, denn ich habe auch diese unfreiwillige Lovestory in meinem Aufsatz erwähnt.

„Dann habe ich ja etwas, worauf ich mich freuen kann,“ ertönt die Stimme Köpkes und wir lösen uns voneinander und sehen ihn an. Ich reiche ihm meinen Aufsatz und auch Jan kramt nach seinem und übergibt ihn.

„Dann wird es wohl keine Anzeige geben,“ versichert Köpke uns, während er flüchtig die Seiten durchblättert.

„Danke, Herr Köpke. Sie sind echt cool,“ sage ich und meine es auch so. Ich habe nicht erwartet, dass er so cool reagieren würde.

„Ja. Und es tut uns wirklich Leid, dass wir ihr Auto genommen haben,“ fügt Jan hinzu.

„Ich hoffe nur, ihr tut das nie wieder. Auch nicht mit einem anderen Auto!“

Er sieht uns an und wir schütteln wild die Köpfe.

„Nun. Ich glaube, ihr habt in der Woche mehr gelernt, als die anderen Schüler,“ grinst er. Wahnsinn, er grinst. „Wie wundersam die Welt doch ist,“ meint er und wir müssen ihm Recht geben.

„Mein Erfahrungsbericht ist jedenfalls nicht wirklich spannend,“ warnt Micha ihn nun vor. Sie mussten auch einen schreiben, allerdings nur über drei Seiten. Da ich jedes langweilige Detail kenne, weiß ich, dass es sicher schwer war, drei Seiten voll zu schreiben.

„Das kann ich mir vorstellen,“ lacht der Köpke, ehe er mit einem „Man sieht sich später im Geschichtsunterricht.“ verabschiedet.

Er nickt uns zu und zieht von dannen.

„Krass Alter,“ meint Micha. „Eigentlich sollte er euch hassen. Aber ich glaube, jetzt mag er euch erst.“

„Sicher ist er neidisch, weil er nicht dabei war,“ lache ich.

„Nächstes Mal nehmen wir ihn mit,“ grinst Jan.

„Nächstes Mal?“ Fragend sehe ich ihn an.

Er grinst. „Ich habe gehört, Sibirien soll schön sein.“

Dann lachen wir los, ehe er abwinkt. Natürlich machen wir so was nicht wieder. „Aber vielleicht können wir ja irgendwann noch mal nach Kiel. Ganz legal,“ überlegt er und sieht mich fragend an. „Ich würde da nämlich gerne noch mal hin.“

„Mhm,“ mache ich zustimmend. „Ich auch.“

Wir lächeln uns an.

„Aber nur mit dir,“ füge ich noch hinzu. Dann ziehe ich ihn zu mir und küsse ihn, während es zum Unterricht klingelt.



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Von:  Finniwinniful
2020-10-21T18:23:02+00:00 21.10.2020 20:23
Die FF ist toll!!
Hab nu auch lust einfach los zu düsen und einmal durchs Land zu fahren...wäre bei mir nur in die andere Richtung, da ich nur knapp 45 Minuten von Kiel entfernt wohne...also würds für mich runter nach Bayern gehen :D

Mir hat die Story jedenfalls gefallen, aber eine Frage hab ich dann doch...auch wenn man keine Autobahn fährt, braucht man wirklich 5 Tage (+ - n missel) von Süden in den Norden? :o

LG Finniwinni

Antwort von:  Jeschi
27.05.2021 07:51
Ich danke dir sehr für deinen Kommentar, auch wenn mein Dank erst Monate später kommt. Man glaubt es kaum, aber ich bin hier nicht mehr wirklich aktiv. Trotzdem freue ich mich, wenn meine FF nach so vielen Jahren noch jemanden gefällt und Freude bereitet.

Nein, theoretisch braucht man keine 5 Tage, um von Süden in den Norden zu kommen, theoretisch reicht da ein Tag, wenn man einfach durchführt. Aber es kommt ja auch darauf an, was man an diesen Tagen so alles treibt. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, wenn man sich Zeit lässt und sich einiges auf dem Weg anschaut, dann kann man auch 10 Tage brauchen.
Was jetzt diese FF angeht, mussten sie leider ein wenig länger brauchen, sonst hätte ich ja keine Story aufbauen können.

LG
Von:  Ryuuen
2015-05-16T12:50:34+00:00 16.05.2015 14:50
Super süße Geschichte. :-) Bei der Szene als die Mütter angerufen haben, konnte ich nicht mehr vor lachen. Zum brüllen komisch, trotz der ernsten Situation.
Ich mag deinen Schreibstil. Er liest sich sehr flüssig und lässt einen nicht los.
Antwort von:  Jeschi
16.05.2015 15:01
Vielen Dank für den Kommi. :)
Es freut mich, dass es dir gefallen hat. Die Geschichte ist schon alt und vermutlich würde ich sie - würde ich sie nochmal schreiben - jetzt noch besser hinbekommen, aber wenn ich dann höre, dass sie trotzdem so gut ankommt, freut mich das sehr. :)
Von:  Tajuja-chan
2013-01-09T18:57:16+00:00 09.01.2013 19:57
Und wieder ne FF durch =D
Bin stolz auf mich *sich selber auf die Schulter klopf* XD
Manchmal isses schon schwer was zu schreiben, weil ich nich immer die richtigen Worte finde um zu beschreiben wie toll ich deine Storys finde.

Ich hasse es Kommis zu Epilogen zu schreiben.
Es deprimiert mich immer eine schöne Story somit i-wie "abzuharken"
Weißt du was ich mein?

Ganz ehrlich, wenn ich 100%ig wüsste, dass meine Eltern und mein Lehrer auch nur ansatzweise so reagieren würden, würd ich direkt auch mal so nen Trip starten =D
Aufregung, Abenteuer und Freiheit X) *Träum*

Die Gefühle wie immer bombig beschrieben, aber du hast da ja eh Talent für ;)
Süß, aufregend, witzig und manchma auch ein bissel erschreckend. Tolle Kombination =)
Sam und Jan sind richtig knuffig zusammen X3
Das Micha das einfach so hinnimmt find ich gut, aber das er nichma frag oder so wundert mich ein bissel.
Und der Köpke war am Ende eh das Beste XD
Hat wohl eingesehen das die Beiden es nich grad leicht haben und hat Mitleid oder so XD
Möglicherweiße versteht er sie jetz auch einfach nur ein bissel besser =)

Wie immer ne wundervolle FF, auf das noch viele weitere kommen ^^
Als nächstes mach ich dann mit Kaffee & Vanille weiter, damit ich mit denen auch i-wann mal fertig werd XD (JoshixValli <3)
Vill fang ich schon morgen ein paar Kappis an, wenn nich, dann bestimmt nächste Woche ;)

LG Tajuja-chan =)
Von:  Tajuja-chan
2013-01-09T18:10:33+00:00 09.01.2013 19:10
Da wird einem der Lehrer doch gleich sympatisch =D
Was die Eltern wohl gedacht haben als er aufeinmal sie anmeckert anstatt die Kinder? Aber ich find seine Ansicht cool =)
Und am Ende war er mit 20 Seiten ja noch gnädig ^^
Schade das jetz nur noch der Epi kommt, hab mich schon an die beiden Schnuffis gewöhnt ._. *knuffel*

Zitate =) :

"weil die Stadt, und somit auch jedes dieser Häuschen, uns gehört." - Wie romantisch *_*

"Wenn er mal ein berühmter Tänzer ist, kann er auch schwul sein!" - `kay ~ XD

LG Tajuja-chan =)
Von:  Tajuja-chan
2013-01-09T17:47:20+00:00 09.01.2013 18:47
Die Kuh XD

Joar zu dem Kappi kann ich nich viel sagen.
Is voll süß und so <3
Aber die Reaktion von Sams Mutter als sie zum Lehrer meint er soll aufhören sein Auto zu suchen XD
So voll locker: "Hören sie auf, die Jungs ham das Auto" Haha XD
Hätte nur zu gern das Gesicht vom Köpke gesehen XD

Auf zum letzten Kappi o.o

LG Tajuja-chan =)
Von:  Tajuja-chan
2013-01-09T17:16:59+00:00 09.01.2013 18:16
Waaaahhhh... Wassn ekliges Motel >.<
Wie mega süß *_*


Zitate =) :

„Ja, aber eine hübsche Vogelscheuche,“ - Ich stell mir grad vor wie er schmollend im Auto sitzt und diesen Satz sagt XD Süß <3

LG Tajuja-chan =)
Von:  Tajuja-chan
2013-01-09T16:34:36+00:00 09.01.2013 17:34
Armer Jannis *pat*
Ich hasse es auch wenn mein Freund, die Lieder die ich hasse, extra laut aufdreht, nur um mich zu ärgern -.-
Hab auch mal versucht mich beim Fahren zu schminken XD ... hat nich so dolle geklappt ^^°
Das mit dem Handy war fies =D
Was gibst du denen denn zu essen? Die armen Kerle XD


Zitate =) :

„Was zur Hölle tust du da?“ „Ich rasiere meine Beine“ - Na was denn sonst X´D

„Könntest du vielleicht aufhören, zu reden? Das lenkt mich vom Schminken ab.“ - Haha XD

„Sag mir lieber, ob ich das Glätteeisen irgendwie am Zigarettenanzünder anstecken kann.“ - Die Idee kam mir auch schon XD. Soll mit nem bestimmten Adapter (?) sogar funktionieren O.O

LG Tajuja-chan =)
Von:  Tajuja-chan
2013-01-09T16:08:35+00:00 09.01.2013 17:08
Wie süß die Beiden einfach nur sind <3
Also ich weiß ja nich ob ich in der Stau-Situation hätte so locker bleiben können. Ich wäre wahrscheinlich voll hysterisch geworden und hätte alles gestanden vor Angst XD
Ich kann sowas einfach nich ^^

Zitate =) :

"Jetzt sitzen wir hier im gleichen Boot und verstehen uns plötzlich gut, können normal miteinander reden. Wer hätte das jemals gedacht?" - Wundert mich auch o.o

„In Bad Nauheim ist ne nackte Oma auf die Straße gerannt, aber sonst war nichts…“ - Hätt ich gern gesehen XD

„Keine Ahnung. Ich will ein Eis,“ unternehme ich einen erneuten Versuch, der gekonnt ignoriert wird. Irgendwie komme ich mir vor, als wäre ich das bettelnde Kind und Jannis die Mummy." - *sich das vorstell* XD

"Ich könnte ihn abknutschen! Naja… nicht wirklich…" - Schade ._.

LG Tajuja-chan =)
Von:  Tajuja-chan
2013-01-09T14:23:08+00:00 09.01.2013 15:23
Ich kann Jannis verstehen... Bushido *schüttel* X(
In Frankfürt kann man sich wirklich sau leicht verfahren, selbst mit Navi!
`kay, kann auch daran liegen das das Navi von meinem Freund einfach nur uralt ist und uns Wege angezeigt hat die es schon längst nich mehr gibt XD
Mich wunderts doch schon ein bissel, das die Beiden sich so viele Gedanken über das erwischt werden machen. Schon klar warum, aber Ärger bekommen sie doch so oder so, spätestens wenn sie zurück sind ^^

Ne interessante Story ;)

LG Tajuja-chan=)

Von:  Tajuja-chan
2013-01-09T14:03:08+00:00 09.01.2013 15:03
Heyo =)
Ich hab beschlossen erstmal mit den Kommis hier weiter zu machen ;D

Sam und Micha sind ja schon fies und so ~
Warum hat eigentlich jeder ein Problem mit Emos? Die wollen doch auch nur verstanden werden =)
Wassn Lehrer... Muss der in dem Alter nich mal in Rente???
Klauen die einfach mal son Auto XD
Und das auch noch von dem schlimmsten Lehrer aller Zeiten, also ich hab ja auch manchmal bescheuerte Einfälle, aber sowas? XD
Das sich Sam aber so schnell wandelt und auf einmal freundlich zu Jannis is find ich etwas seltsam, aber ok =)


Zitate =) :

"Wir sind zwar Arschlöcher, aber nicht unmenschlich." - Wenigstens wissen sie wie scheiße sie eigentlich sind XD

"Aber höchstwahrscheinlich hat Jesus sich gedacht, dass er das einzige Wunder auf Erden bleiben möchte und so geht dieser Schuss nach hinten los." - Wie kommst du immer auf solche Sprüche? XD

LG Tajuja-chan =)


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