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Warum Kassel die beste Stadt ist Connichi, Depression, Documenta, Kassel

Autor:  Dragonmaster_Ben
Ok, ich muss meine eigene Regel brechen: Ich wollte nichts mehr persönliches in den Weblog schreiben, um euch nicht zu Tode zu langweilen. Aber weil ich gerade in Hochstimmung bin und das Bedürfnis habe, es unbedingt nieder zu schreiben, versuche ich einfach die Sache kurz zu fassen und etwas spannendes zu schreiben.

Viele von euch waren vergangenen Donnerstag so lieb mir zum 24sten Geburtstag zu gratulieren. Was ihr nicht wissen konntet: Der Ben hatte eine Depression, die mir meinen großen Tag in diesem Jahr ein bisschen versalzen hat. Doch an dem gerade vergehenden Wochenende habe ich es geschafft, mich aus dem "Klamm der Seelen" (Zitat W. Hohlbein) herauszuziehen. Oder wurde ich gezogen?

Um es kurz zu fassen: Ich hatte Existenzängste. Den Bachelor habe ich zwar in der Tasche, dazu noch mit einem guten Schnitt, aber das Studium war total theoretisch und ich habe praktisch nichts angewandtes gelernt, womit ich in einen Beruf gehen könnte, sobald mein FSJ im nächsten September vorbei sein wird. Der Bachelor war nicht genug für irgendein Stellenangebot dass ich gesucht hatte, aber vor einem Masterstudium war ich durch den bereits entstandenen Schuldenberg abgeschreckt.. Was wenn ich nach zwei weiteren Studienjahren noch genauso unbeholfen wäre und nur noch mehr Schulden machen würde? Ich war frustriert.

Ich war ohne Perspektive und wusste nicht mehr was ich in Zukunft machen wollte oder konnte. Das fraß so stark an mir, dass ich außer Stande war, einfachste Entscheidungen zu treffen. Ich konnte mich nicht einmal entscheiden, wann und wo genau ich meine Freunde und Schwester am Samstag auf dem Weihnachtsmarkt in Kassel treffen wollte, weshalb keine verbindliche Absprache stattfand. Zwei gute Freunde boten mir an, bei hnen zu übernachten, damit ich länger mit ihnen feiern konnte, und mir keine Sorgen um die Heimfahrt machen zu müssen. Nicht mal hierbei konnte ich sagen ob ich wirklich so lange wegbleiben wollte oder ob ich nicht lieber in meinem alten Zimmer schlafen wollte. Ich zwang mich, die Zahnbürste in die Jackentasche zu stecken und ließ den Abend auf mich zukommen. Ich gab mir innerlich die Sporen und zog mich eine Viertelstunde eher zum Weggehen an als ich es normalerweise tue, denn durch meine Motivationslosigkeit tat ich die Dinge im Schneckentempo, was mich vergangene Woche schon ein paar Busse hatte verpassen lassen.

Nur gut, dass ich dieses Jahr keine große Gesellschaft geplant hatte. Offiziell war es nicht mal eine Geburtstagsfeier, sondern einfach nur ein Treffen. Ich bekam keine Geschenke, jedenfalls keine Materiellen, und das war mir völlig recht. Der Weihnachtsmarkt war brechend voll, aber dank mobiler Kommunikations-Technologie klappte das Treffen problemlos. Die Übersichtlichkeit der Gruppe machte uns wenigstens mobil und man konnte sich schneller auf den Verlauf des Abends Einigen. Es tat gut bekannte Gesichter und Orte zu sehen. Ich war in meinem Leben nicht immer froh über meinen Aufenthalt in Kassel gewesen, aber die Stadt hatte mir schon so vieles gegeben. Für einen geborenen Kasselaner kann das natürlich vieles sein, aber eine ganz wertvolle Sache wird für die meisten von euch auch nicht so unerheblich sein: Die Connichi war mein erster Kontakt zur Cosplayszene und hat mich so viele gute Freunde gewinnen lassen, die über ganz Deutschland verteilt sind. Fühlt euch alle angesprochen und geknuddelt!

Meine Schwester kam etwas verspätet, aber gerade als wir uns ins Studio B setzen wollten, unser Stammlokal, das mit einem total coolen 70er Jahre Flair aufwarten kann. Das erste Mal seit 5 Jahren (!!!) machte ich mal wieder Party mit meiner Schwester. Darum wollten wir die Nacht auch möglichst lang machen, und meine Party-erprobte Schwester ging mit mit noch bis  Uhr auf die Rolle und zeigte mir Locations, die ich noch nicht kannte. Meine Freunde waren längst zu müde geworden und nach Hause gegangen, aber ich bekam einen ihrer Schlüssel. der letzte Bus nach Hause war sowieso schon längst weg, bevor ich auch nur einen Gedanken an ihn verschwendet hatte.

Meine Schwester spielt gerade mit dem Gedanken nach Göttingen zu ziehen weil die Menschen dort fröhlicher und freundlicher seien. Ja, die Menschen in Kassel gehen nicht mit einem Lächeln durch die Straßen. Sie sind auch im Gespräch eher reserviert und es ist schwer an sie heran zu kommen. Aber man darf den Kasselaner nicht missverstehen: In Kassel gilt einfach ein härterer bzw schärferer Umgangston. Fragt man den Busfahrer nach einer Haltestelle, brüllt er einen förmlich an, aber wenigstens versteht man jedes Wort klar und deutlich, und das ist der Zweck. Bei Menschen mit berliner Dialekt hat man auch bei jedem noch so lieb gemeinten Satz das Gefühl, der gesprächspartner wolle einem in die Fresse hauen. Wir Kasselaner sind genauso, nur dass unser Dialekt weniger lustig klingt. Ihr Bürger von Rest-Deutschland müsst deswegen keine Angst vor uns haben, wir sind eben einfach Rauhbeine, zu die der Zahn der Zeitgeschichte uns modelliert hat: Wir mussten Napoleons Eroberung ertragen und französischen Parlamentariern als Sitz dienen, wurden von den Aliierten im großen Krieg in Schutt und Asche  gebombt und verloren unser geliebtes Stadtbild, aus dem gut gemeinten modernen Wiederaufbau resultierte ein Fußgängerfeindliches Stadtbild, wobei der Baustil der 50er Jahre schon in den 60ern total überholt war und nur noch Schimpf und Schande erntete, doch nun bereits an dem Ort stand, an dem die Altstadt unwiderbringlich zerstört worden war. und dann verwirrt uns auch noch alle 5 Jahre die documenta und stellt alles, was wir vom Leben zu wissen glauben in Frage. Trotz all dieser Frustrationsfaktoren treiben wir uns an, in unserer geschundenen Heimat ein erfülltes Leben zu Leben und treiben uns mit zusammengebissenen Zähnen grimmig dazu an, den Alltag zu bewältigen. Aber wer es geschafft hat, sich einen Kasselaner wirklich zum Freund zu machen, der hat jemanden mit dem er pferde stehlen kann, und der einem ohne Rücksicht auf eigene Verluste auch die Kastanien aus dem Feuer holen würde.

Nachdem ich mir von einem Taxi 11 Euro hatte abnehmen lassen konnte ich leise in die Wohnung gehen und fand ein gemachtes Bett für mich vor. ich schlief zwar kurz aber gut. Mein Kopf war frei von allem: Die beste Nebenwirkung, die ein hoher Alkoholgenuss mit sich bringt. Ich bekam die Möglichkeit zu duschen, bekam ein chinesisches Frühstück und machte mir einen schönen Sonntag Vormittag mit meinen Freunden, die mich bei sich aufgenommen hatten. Wir sprachen über vieles, und schließlich redete ich mir auch meinen Kummer vom Leib indem ich über meine Unsicherheit sprach. Aber sie sprachen mir Mut zu und ich merkte auch, dass das Gewirr an Puzzleteilen in meinem Kopf sich plötzlich von ganz allein in einen Zukunftsplan gelegt hatte. Ich hatte ienfach zu viele Bedenken gehabt, logische und emotionale, Ängste hatten mich übermannt und die Fülle an Möglichkeiten hatte mich meine eigenen Wünsche und Träume aufgeben oder aus den Augen verlieren lassen. Manchmal liegt die Wahrheit also doch am Boden eines Bierkrugs, denn die Leere in meinem Kopf hatte mir den Blick auf das Wesentliche zurück gebracht. Und wie so oft war die beste Lösung mienes Problems so simpel und offensichtlich, dass ich mir am liebsten die Hand gegen die Stirn geklatscht hätte.

Ich bedauerte zwar meine Freunde schon am späten Mittag verlassen zu müssen, aber meine Großeltern sollten auch noch etwas von mir haben und meine Reisetasche war ja auch noch nicht fertig gepackt. Auf der Heimreise genoss ich die friedliche Stille in Kassel. Böse Zungen sprechen von hochgeklappten Bürgersteigen, verkennen dabei abereine herausragende Qualtität der Stadt: in welcher anderen Stadt dieser Größe kann man tagsüber, selbst im Stadtzentrum und in den wunderschönen Parks ungestörte Spaziergänge in solcher beinahe meditativen Ruhe genießen? Kassel hat im Sonntag seinen Ruhepol. An diesem Tag lauscht die Stadt nur in sich selbst hinein und spricht kein Sterbenswort, wie ein buddhistischer Mönch in einer tiefen Meditation. nd das schönste ist, dass die Stadt dabei für ihre sonntäglichen Spaziergänger mit-meditiert. Einige meiner schönsten Spaziergänge habe ich Sonntags in Kassel erlebt. Sie sind jedes mal ein Genuss und ein Hochgefühl, weil sie einem den Frieden, in dem die Stadt sich an diesem Wochentag befindet, ins eigene Herz bringt. Ich fühle mich dann immer sehr ausgeglichen. Sollte man diesen geheimen Schatz der Stadt wirklich als eine Schwäche auslegen? Im Gegensatz zeigt die Stadt nämlich am Samstag Abend, wie ohne Rücksicht auf Verluste gefeiert wird und zieht Menschen aus dem ganzen Umland an, von denen sie viele bis Sonnenaufgang bei Laune hält. Offenbar üssen die Partys zu den intensiveren gehören, da sich Sonntags niemand auf der Straße blicken lässt, weil alle verkatert im Bett liegen. Daher macht man die besten Spaziergänge auch Sonntag Vormittags.

Die Bedenken, die ich gegenüber meiner akademischen Karriere hatte, waren finanzieller Natur. Ich beneidete  Menschen, die eine simple Ausbildung gemacht haben und fürs Lernen auch noch bezahlt wurden, anstatt wie ich Geld dafür auszugeben. Viele studieren auch erst nach ihrer Ausbildung. Noch bin ich jung, weshalb sollte ich keine Ausbildung machen können, nachdem ich den Bachelor beriets abgeschlossen habe? Ich bin ja nicht gezwungen meine Karriere als Kunsthistoriker das Klo runter zu spülen. Wenn ich erst meinen Gesellenbrief als Restaurantfachmann habe, kann ich doch immer noch den Master machen, vielleicht sogar berufsbegleitend. Und ich wäre nicht gezwungen in weit entfernte Städte zu ziehen weil ich sonst Arbeitlos bliebe. Ich könnte so lange als kellner meinen unterhalt verdienen, bis eine wissenschaftliche Stelle in der Umgebung frei würde, auf die ich mich Bewerben kann. Und wenn sie mich nihct wollen, was solls? Kellner werden überall gebraucht. Das würde mir die Freiheit geben, über meinen wohnort und meine Arbeit zu entscheiden. Und dieser Gedanke gibt mir Sicherheit. Meine Depression ist überwunden.

Danke Kassel, du großzügigste aller Städte! Danke für alle Möglichkeiten, die du mir eröffnet hast. Danke für all die lieben Freunde die ich dir zu verdanken habe, die du angezogen hast um zu studieren, Kultur zu tanken oder die Connichi zu erleben. Ich gebe zu, dass auch ich des öfteren auf dich geschimpft und deine Qualitäten verkannt habe, doch nun, da ich "endlich" weggezogen bin, packt mich des Öfteren ein starkes Heimweh nach deiner einladenden Erscheinung. Nie wieder werde ich einen ganzen Monat verstreichen lassen, ohne dich zu besuchen. Und obwohl ich jetzt in einer anderen Stadt wohne gibst du mir noch weiterhin so viel. Dies ist eine Liebeserklärung. Kassel, du bist meine einzig wahre Liebe und wirst es immer sein! Dennoch bin ich Fernbeziehungen bereits gewöhnt.

So wie auf die finsterste Nacht auch der hellste Tag folgt, hat meine scheinbar ausweglose Depression ein Ende gefunden, so dass ich im Hinblick auf meine Zukunft wieder ein Licht am Horizont sehe. Ich erlebe einen emotionalen Sonnenaufgang, so wie auf diesem Bild, dass ich von meinem Zimmerfenster in Habichtswald bei Kassel aus aufgenommen habe. Es ist wirklich das gleiche Gefühl wie verliebt sein. Ich bin verliebt in meinen neuen Plan. Wer das jetzt wirklich bis hierhin gelesen haben sollte, kann sich allein deswegen schon als einen wahren Freund von mir betrachten und diesen Titel durch einen Kommentar sichtbar machen. Mein Dank gilt auch euch, Freunde ;)

Datum: 29.11.2010 00:12
:-)
Sehr schön beschrieben, was ich auch befürchte, wenn in einem halben Jahr meine Ausbildung zu Ende ist. o.O'
Du willst nicht so viel Persönliches schreiben? Warum? Ich bin mir sicher, dass nicht nur ich deine Texte gerne lese ^^
Datum: 29.11.2010 09:20
*Schluchz* Das war total romantisch! Ich liebe dich auch!!

Trotzdem ist Bonn besser...^^ Aber Krefeld stinkt.
Avatar
Datum: 29.11.2010 21:58
toller Artikel :)
Erwartet nicht, die Antworten serviert zu bekommen.
Erwartet nicht, immer alles vorgesetzt zu bekommen.
Wir alle müssen unsere eigenen Antworten finden.

Zitat Hideaki Anno
Datum: 10.12.2010 14:26
Das Beste an Kassel ist einzig und allein der Herkules^^
Datum: 05.09.2011 20:07
Ich habe es zwar spät gelesen aber gelesen habe ich es ^^
Der grösste Trick des Teufels war es das er denn Menschen weiss gemacht hat das es ihn nicht gibt. ^^


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