Fluchtversuch!
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56. Fluchtversuch!
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~Joey´s Sicht~
Keine Ahnung, wie ich es geschafft habe, das verrostete Schloss von der Eisenkette zu lösen, das um meinen Fuß gewickelt ist, aber klar ist, dass ich mächtig aus der Übung bin. Früher hab ich dafür nur wenige Minuten gebraucht und jetzt brauchte ich über eine viertel Stunde für ein winziges Vorhängeschloss und dabei hab ich auch noch das verdammte Messer verbogen! Mist! Wütend und leicht frustriert befreie ich meinen Fuß von der Eisenkette und reibe mir das aufgescheuerte Fußgelenk. Fehlt jetzt eigentlich nur noch die Gittertür und die dürfte wohl leichter zu öffnen sein, hoffe ich jedenfalls. Ich erhebe mich unsicher von meiner Liege, greife das verbogene Messer fester mit meiner rechten Hand und schleiche an die Tür, immer darauf bedacht, auf irgendwelche Geräusche zu achten, die aus dem Gang kommen könnten.
Es ist ruhig, beinahe etwas zu ruhig, als wäre das die perfekte Falle für mich, sollte ich versuchen, aus meinem Gefängnis zu fliehen. Doch was habe ich für eine Wahl? Soll ich abwarten und zusehen, wie Jimmy stirbt, weil er mich nicht zum Sex zwingen wollte? Nein, das kann ich nicht. Das kann ich einfach nicht.
Mit einem entschlossenen Seufzen versuche ich mit dem verbogenen Küchenmesser das Schloss der Gittertür zu öffnen und schaffe es tatsächlich nach wenigen Minuten. Ich öffne die Tür so leise wie möglich und schleiche in den halbdunklen Gang. Wo stecken die Wächter? Und wie spät ist es jetzt? Ist es Tag oder schon Nacht? Ich drücke mich an die Lehmwand und lausche in die Stille hinein. Das gefällt mir nicht! Es ist zu ruhig! Nach der Sache mit Jimmy müsste dieser Ort vor Wachen nur so wimmeln, aber hier ist nichts zu hören oder zu sehen!
Ich ziehe meine Augenbrauen zusammen und schleiche mit dem Messer in der Hand den Gang entlang, immer darauf bedacht, kein Geräusch zu machen. Wenn ich Jimmy befreien will, darf ich mich jetzt nicht erwischen lassen, selbst wenn es eine Falle sein sollte, die es ganz sicher ist. Kashi weiß nicht, dass ich weiß, dass es eine Falle ist, oder? Es wäre nicht das erste Mal, dass mich jemand unterschätzt und meine Intelligenz anzweifelt, nur aufgrund meiner blonden Haarfarbe und meines manchmal etwas naiv erscheinenden Verhaltens. Ich mag zwar manchmal ziemlich unüberlegt handeln, aber ich bin nicht dumm und auch nicht lebensmüde, obwohl Tristan ständig das Gegenteil behauptet und Tea mir immer Vorwürfe macht, dass ich nie nachdenke, bevor ich etwas tue. Yugi hat sich nie beschwert, wenn ich ihm zur Hilfe kam und Kaiba hat sich nie bei mir bedankt, nicht dass ich das irgendwie von ihm erwartet hätte, oder so.
Wieso denke ich eigentlich schon wieder an Kaiba? Ich hab doch jetzt wirklich etwas Besseres zu tun! Ich muss einen Weg hier raus finden und Jimmy befreien! Ich schleiche eine dunkle Treppe hoch und lausche angespannt, ob ich ein Geräusch hören kann, aber außer meinem schnellen Atem und meinen leisen Schritten auf den Stufen höre ich nichts. Ein Lichtschein dringt durch einen kleinen Spalt unterhalb einer Holztür und ich bleibe direkt davor stehen. Ich drücke mein rechtes Ohr an die Tür und lausche erneut, aber kein Geräusch dringt an meine Ohren. Ich drücke die Eisentürklinke hinunter und öffne die Tür einen winzigen Spalt weit. Die Tür knarrt leise, ich halte angespannt den Atem an, doch nichts passiert, ich öffne die Tür ein wenig weiter und stecke vorsichtig meinen Kopf hindurch.
Ich schaue direkt in einen Raum, der aussieht als wäre hier seit Jahren kein Staub mehr gewischt worden. Überall Regale mit alten Flaschen und Fässern, alte Kartons, ein paar angezündete Fackeln neben der zweiten Holztür am andren Ende des Raumes. Scheint ein altes Lager zu sein. Es riecht sehr verdächtig nach saurem Wein und altem Käse, eine verdammt widerliche Mischung, hier wurde auch seit Jahren nicht gelüftet, denn ein Fenster scheint es hier nicht zu geben. Was ist das für ein Gebäude, das keine Fenster hat und nur aus Lehm und Holz zu bestehen scheint? Sind alle Gebäude in Ägypten so? Oder handelt es sich hier um ein antikes Model? Ein altes Gemäuer mitten in der Wüste? Ich hätte Schandir danach fragen sollen!
Ich betrete das alte Lager und schleiche leise an die andere Tür. Ich lausche erneut, ob ich hinter der Tür ein Geräusch ausmachen kann, doch alles ist ruhig. Ich versuche die Tür zu öffnen und stelle fest, dass sie nicht verschlossen ist. Diese Tatsache verwundert mich sehr, allerdings habe ich keine Zeit, mir darüber Gedanken zu machen, weil auf dem Gang von links eine junge Frau in meine Richtung kommt. Hastig schließe ich die Tür und halte die Luft an. Nur wenige Sekunden später verstummen die Schritte der jungen Frau direkt hinter der Tür.
„You, go back into the kitchen. You mustn’t be here! (Du, geh zurück in die Küche. Du darfst hier nicht sein!)“, höre ich eine männliche Stimme und ich erstarre vor Schreck.
Da ist noch jemand hinter der Tür! Ein Wächter wahrscheinlich! Vielleicht sogar mehr als einer!
„But the meal for the prisoner. (Aber das Essen für den Gefangenen.)“, höre ich die Stimme der jungen Frau direkt auf der anderen Seite der Tür.
„Bring it back into the kitchen and tell the others that nobody may enter the cellar! That is an instruction of sheikh Kashi! (Bring es zurück in die Küche und sag den Anderen, dass niemand den Keller betreten darf! Das ist ein Befehl von Scheich Kashi!)“, antwortet der Mann, der sich anscheinend rechts der Tür in einem Gang befinden muss.
Niemand darf den Keller betreten? Anweisung von Scheich Kashi? Aber wie ist Schandir in den Keller gekommen, wenn hier ein Wächter rum steht? Ob das der Wächter ist, den sie mit dem Schlafmittel betäubt hatte? Shit, wie komm ich jetzt an dem Kerl vorbei?
Erneut ertönen Schritte hinter der Tür, diesmal jedoch in die andre Richtung. Die Küche müsste demnach irgendwo links sein, ob sich dort auch ein Ausgang befindet? Oder irgendein Fenster, das man vielleicht als Ausgang benutzen kann? Irgendwie muss ich den Wächter von der Tür wegbekommen. Solange er sich rechts von der Tür befindet, kann ich ihn nicht sehen, wenn ich die Tür öffne, weil sich die Tür nach außen in den Gang öffnet und mir das Türblatt die Sicht nach rechts versperrt. Der Wächter würde sofort sehen, wenn ich die Tür öffne, ich muss ihn also irgendwie zu mir ins alte Lager locken, hier könnte ich ihn überraschen, niederschlagen und verstecken. Vielleicht unten in eine von den Gefängniszellen. Wenn sich die Sache mit Kashis Befehl herumspricht, wird niemand mehr hierher kommen und keiner wird entdecken, dass der Wächter nicht mehr vor der Tür steht und Wache hält.
Also ist der Plan, den Wächter ins Lager zu locken, doch wunderbar genial, oder? Ich drücke erneut ein Ohr an die Tür und lausche. Die Schritte der jungen Frau sind verstummt und es ist absolut nichts zu hören. Was ist, wenn an meinem Plan ein winziger Haken ist? Was ist, wenn es nicht nur ein Wächter ist, sondern gleich zwei oder drei?
‚Du hast mehr Glück als Verstand.’
Wer hat das mal zu mir gesagt? Ist es wirklich so? Hab ich wirklich mehr Glück als Verstand?
‚Nur mit Glück allein kann man nicht gewinnen. Das ist auch der Grund, warum Du niemals gegen mich gewinnen wirst.’
Wer das gesagt hat, weiß ich hundertprozentig. Das ist hundertprozentig kaibatypisch, aber ich werd dem Kerl schon noch beweisen, dass man sehr wohl mit Glück gewinnen kann. Außerdem besitze ich nicht nur Glück, auch wenn mein Duelldeck hauptsächlich aus Glücksspielkarten besteht.
Ich schüttle den Kopf und schließe sekundenlang die Augen. Ich sollte aufhören, mir über Kaiba Gedanken zu machen, ich hab dafür wirklich keine Zeit. Mit einem leisen Seufzen wende ich mich von der Tür ab und schau mich im Lager ein wenig um. Der Geruch von dem sauren Wein und diesem alten Käse hängt widerlich stinkend im Raum. Auf der rechten Seite des Lagers stehen die alten Fässer, zwei große, in denen man locker einen Menschen verstecken könnte und drei kleinere, die durch Holzwürmer schon so zerlöchert wurden, dass sie aussehen wie Schweizer Käse. Links im Raum stehen Regale mit alten modrigen Kartons, in denen sich anscheinend dieser alte Käse befindet, der die Luft verpestet. Auf einem der Regale entdecke ich ein altes Seil, das noch einigermaßen stabil aussieht und ein altes Leinentuch, das ich wunderbar als Knebel für den Wächter verwenden kann.
Fragt sich jetzt nur, wie ich den Kerl zu mir ins Lager locken kann, ohne mich zu verraten.
~Rebecca´s Sicht~
Ich bewundere Kaiba. Selbst jetzt scheint er absolut alles unter Kontrolle zu haben. Sein kleiner Wutanfall spiegelt sich nicht einmal in seinem Gesicht wieder. Er versteckt seine wahren Absichten hinter einer undurchdringbaren Fassade und dennoch habe ich mir dieses fast traurige Glitzern in den blauen Augen nicht eingebildet, als Ashaiya ihn gefragt hat, ob er Joey genug hasst, um ihn sterben zu sehen.
„Talan to headquarters, Talan to headquarters, Haroun are you there? (Talan an Hauptquartier, Talan an Hauptquartier, Haroun bist Du da?)“, höre ich ganz plötzlich eine leicht verzerrte Stimme und ich stelle Sekunden später fest, dass die Stimme aus dem alten Funkgerät kommt, dass am Ende das Raumes steht.
„Haroun to Talan. What happened? (Haroun an Talan. Was ist passiert?)“, antwortet Haroun und ich höre sofort, dass er besorgt ist. Es war eigentlich eine Funksperre ausgemacht, es sei denn, es handelt sich um einen Notfall.
„Kamir was killed, one of his men came to us and told us that the group was lured into a trap. He died a little later at his injuries. (Kamir wurde getötet, einer seiner Männer kam zu uns und hat uns erzählt, dass die Gruppe in eine Falle gelockt wurde. Wenig später ist er an seinen Verletzungen gestorben.)“, ertönt die Stimme von Talan Nazim aus dem Funkgerät.
Ein vielfach wiederholtes Aufkeuchen geht durch den Raum und ich presse mir die Hände vor den Mund, um nicht ebenfalls laut aufzukeuchen.
„Kamir is dead? The Gebel al-Mawta is a trap? (Kamir ist tot? Der Gebel al-Mawta ist eine Falle?)“, fragt Haroun verstört und erschrocken.
„Yes a trap, Kashi is at the Gebel al-Mawta, the Mountain of the Dead, in the north of Shali the old town of Siwah! (Ja eine Falle, Kashi ist auf dem Gebel al-Mawta, dem Berg der Toten im Norden von Shali, der alten Stadt von Siwah!)“, antwortet Talan und ganz plötzlich ertönt rechts von mir ein beinahe grausames Lachen.
Ich dreh mich um und erkenne schockiert, dass dieses Lachen von Seto Kaiba höchstpersönlich kommt. Ist er jetzt völlig verrückt geworden? Ist ihm diese ganze Rettungsaktion jetzt zu Kopf gestiegen?
„Hey, Alter, nun beruhig Dich mal, ja? Was ist denn plötzlich los mit Dir?“, fragt Tristan verwirrt, während Duke nur mürrisch den Kopf schüttelt.
Das Lachen von Seto verstummt ebenso ruckartig, wie es begonnen hat und sein eisiger Blick wandert über die Anwesenden hinweg und bleibt nur für ein paar Sekunden an mir hängen.
„Gebel al-Mawta, the Mountain of the Dead. That is an extremely fitting place for a man, who stops at nothing. My stepfather surely would be inspired. (Gebel al-Mawta der Berg der Toten. Das ist ein äußerst passender Ort für einen Mann, der über Leichen geht. Mein Stiefvater wäre sicherlich begeistert.)“, meint er kühl und erst jetzt verstehe ich sein ironisches Lachen.
Der Berg der Toten ist ein Friedhof, der schon seit ewigen Zeiten besteht. Seit über 2000 Jahren haben die Bewohner von Siwah dort ihre Toten begraben, so dass es dort heute keinen Platz mehr für weitere Gräber gibt! Der ganze Berg ist von Tunneln und Gräbern durchlöchert. Es ist der perfekte Platz für einen Hinterhalt und beinahe uneinnehmbar, wenn man sich dort oben verstecken will. Es existieren wahrscheinlich auch Geheimgänge, die hinunter in die Siwah-Oase führen. Wenn Scheich Kashi tatsächlich dort oben auf diesem Berg der Toten ist, besteht kaum eine Chance, dass wir noch vor Mitternacht hinaufkommen können, um Jimmy vor dem Tod zu retten.
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