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Spiel ohne Limit

von

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Bereits eine gefühlte Ewigkeit klingelte das Telefon, als er endlich doch abnahm. Rin atmete erleichtert auf. Die kratzige Stimme auf der anderen Leitung bestätigte jedoch ihre Befürchtungen: Yamato war krank. Vielleicht nicht ernsthaft krank, aber angeschlagen genug, dass er Zuhause ans Bett gefesselt war und den halben Tag nicht ans Telefon gehen konnte.
 

Alles fing damit an, dass Yamato eine Nachricht geschrieben hatte, in welcher er ihr zu erklären versuchte, beim morgigen Duell nicht dabei sein zu können. Ausgerechnet das Duell gegen Yuta. Rin hätte etwas moralische Unterstützung gebrauchen können - auch wenn sie das niemandem sagen wollte. Schließlich versprach das nächste Spiel eines der Härtesten in diesem Turnier zu werden. Und seit dem letzten irren Viererduell nahm sie die unterschwellige Drohung des grünhaarigen Duellanten sehr ernst.
 

Nachdem Yamato von einer fiesen Grippe schrieb, die er sich wohl von einem seiner Kollegen zugezogen hatte, waren bei Rin sofort die Alarmglocken losgegangen. Sie konnte einfach nicht anders. Seit ihre Mutter damals wegen einer schweren Lungenentzündung ins Krankenhaus hatte gehen müssen, weil Yukiko wieder einmal eine ihrer grippalen Infekte heruntergespielt hatte, war Rin sehr sensibel, wenn es um das Thema Krankheiten ging. Zu gut waren ihr die Wochen in Erinnerungen geblieben, in denen ihre Mutter - die feste Säule der Familie Yamamori - wie ein Häufchen Elend im Krankenzimmer gelegen hatte, bleich wie ein Stück Kreide und zu nichts fähig gewesen war.

Es verstand sich von selbst, dass sie dem Schwarzhaarigen ihre Hilfe anbot.

"Das ist wirklich lieb von dir", hustete Yamato ins Telefon, "aber ich will nicht, dass du dich ansteckst."

"Ach was", winkte die junge Frau sofort ab und beugte sich zu ihrer Lieblingskassiererin herüber, welche ihr gerade ein Sandwich belegte, dabei ganz nebenbei dem Gespräch lauschte und die Augenbrauen anhob. "Mach' dir um mich keine Sorgen. Ich bin robust." Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. So leicht würde sie sich von dem Schwarzhaarigen nicht abwimmeln lassen. "Aber ich werd' dich ganz sicher nicht im Stich lassen…oder in deinem Fall...verhungern."

"Rin, das ist wirklich nicht nötig-"

"Keine Widerworte", sie hörte selbst, wie die Mutterrolle in ihr durchkam. Wenn es hart auf hart kam, konnte Rin in die Fußstapfen von Yukiko Yamamori treten. Lumina hatte dies nur zu genüge am eigenen Leib erfahren müssen. "Ich mach' mich sofort auf den Weg. Den Ersatzschlüssel habe ich ja noch von dir. Ist doch eine super Gelegenheit, ihn dir wiederzugeben."

"Mach' dir bitte keine Umstände-"

Aber Rin ignorierte ihn. "Ich besorg' noch ein paar Zutaten und komm' dann zu dir. Bis gleich."

"Rin-"

Die junge Frau hatte aufgelegt. Yamato brauchte sich nun wirklich nicht als Helden aufzuspielen. Seine Stimme klang mehr als kläglich. Wenn sie sich dazu noch sein Gesicht vorstellte…wie könnte sie ihm da nicht ihre Hilfe anbieten? Nicht nur, weil er sie die letzten Wochen so selbstlos unterstützt hatte; er war ihr Freund - sie ertrug es nicht, jemanden leiden zu lassen, der ihr wichtig war.
 

"Alles gut bei Yamato?", fragte Makoto, die Rin das fertige Sandwich vor die Nase schob. Mit einem Kopfschütteln nahm die junge Frau ihr Mittagessen entgegen, das eigentlich noch in die Kategorie Frühstück eingeordnet werden konnte. Seit sechs Uhr war sie bereits in der Kaiba Corporation, hatte trainiert, bis ihr der Kopf zu platzen gedroht hatte, und musste dann schließlich resignieren, nachdem ihr Magen sämtliche Funktionen auf Standby gestellt hatte.

Das Sandwich war ihre erste Mahlzeit des Tages. Wenn sie so früh das Haus verließ, war Lumina noch in eine Art Schlafkoma, dass Rin es nicht wagte, mit Geschirr zu klappern oder mit einer Packung Müsli herum zu rascheln. Daher blieb die Kaffeemaschine das einzige, mit dem sich Rin am frühen Morgen auseinandersetzen konnte. Aber Kaffee stillte nun einmal nicht den Magen - was sie nicht zum ersten Mal schmerzlich zu spüren bekam.
 

"Ihn scheint's ziemlich erwischt zu haben", meinte Rin und Besorgnis klang in ihrer Stimme mit. Irgendwie wollte ihr das Bild eines Yamatos, der krank das Bett hütete, überhaupt nicht in den Kopf gehen. Er wirkte nicht so, als ließe er sich von ein bisschen Schnupfen in die Knie zwingen. Noch vor ein paar Wochen war er doch so stolz auf sein Immunsystem gewesen - und jetzt das. Vielleicht würde sie noch einen kurzen Halt in der Apotheke machen. Ein paar Erkältungsmittel besorgen - ein paar Nutschbastillen könnten auch nicht schaden. Wie sie Yamato kannte, war er auf diese Situation nicht vorbereitet gewesen.

"Hoffentlich ist es nur eine Erkältung", murmelte Rin und kaute hastig ihr Sandwich zu Ende. Ihre Mutter hatte doch erst neulich von der Grippewelle erzählt, die in Domino herum gehen sollte.

Welchen Tee nimmt nochmal Tante Nanami bei Grippe….?

Die Tür wurde aufgerissen, kalter Wind zog durch das Café. Doch das merkte die junge Frau nicht, die im Geiste bereits die Einkaufsliste durchging.

"Yamato liegt schon die ganze Woche flach. Da will ich nicht wissen, wie es um seine Versorgung steht. Der Ärmste kann sich nicht einmal eine Tütensuppe warmmachen."

"So schlecht geht es ihm?", fragte Makoto etwas kleinlaut, während sie nervös an ihrer Kaffeemaschine herum hantierte. Rin spürte einen großen Schatten neben sich, dazu einen weißen Mantel, der einmal flüchtig ihre Beine streifte. Aus dem Augenwinkel konnte sie Seto Kaibas Züge ausmachen. Kurz sahen seine eiskalten Seelenspiegel ungläubig zu der jungen Frau, als könnte er nicht fassen, dass sie hier leibhaftig neben ihm stand. Rin hingegen wunderte sich nicht weiter über Kaibas Präsenz, dafür war sie mit den Gedanken viel zu sehr bei Yamato. Sie redete einfach weiter: "Nein, aber soweit ich weiß, ist es besser, wenn er die Küche nur von außen bewundert. Der Kerl hat es doch tatsächlich mal geschafft, einen Herd abzufackeln." Makoto unterdrückte sich zu lachen. Neben ihr hörte sie ein Schnauben, dem sie keine weitere Beachtung schenkte, da sie sich nicht vorstellen konnte, dass der junge Firmenchef zuhörte - oder gar das Gespräch kommentieren würde.

"Deswegen", sie legte das Geld passend auf den Tisch und zog sich den Trenchcoat über, "deswegen werde ich mich auch sofort losmachen. Yamato kann mal schön vergessen, dass ich mich da einfach raushalten werde. Ich werde ihm meine berühmte >Alles-Wird Gut-Suppe< vorsetzen und dann wird es ihm ganz schnell besser gehen."

"Bestell' schöne Grüße", entgegnete Makoto und ließ eine frische Tasse Kaffee über den Tresen wandern.

"Mach ich. Bis bald", sie nickte ihrer Freundin zu, strich beim Vorbeigehen Kaibas Oberarm und verließ das Café.

Moment

Unweit der Tür blieb sie stehen.

Das hast du jetzt nicht ernsthaft getan…und was stehst du hier noch so blöd rum? Er kann dich schließlich noch sehen

Mechanisch eilte sie davon, die Straße hinunter, bis das Geschäftsviertel allmählich verblasste. Das hatte sie ja mal wieder toll hingekriegt! Und überhaupt, was hatte Seto Kaiba um diese Zeit im Café zu suchen? Das brachte ihren gesamten Tagesrhythmus aus dem Konzept. Immerhin waren seine Pausenzeiten so verlässlich wie das Amen in der Kirche.

Sie marschierte in den ersten Lebensmittelladen und wuselte sich durch die einzelnen Gänge.

"Guck mal, ist das nicht-"

Rin klemmte sich eine Packung Nudeln unter den Arm, ungeachtet der Blicke, die sie von allen Seiten verfolgten.

"Ja, Mann, voll krass!"

Eilig steuerte sie die Kasse an - hinter ihr, im Gänsemarsch, fünf Mittelschüler.

"Das ist doch die Gelegenheit für ein Autogramm!"

"Nein, Mann: weißt du noch, wie Ryuzaki einmal ausgetickt ist…"

"Davon hab ich auch schon gehört…"

Den Blick nach vorne gerichtet, marschierte Rin aus dem Laden - unbemerkt der ungläubigen Blicke und aufgerissenen Münder.
 

Noch immer kämpfte sie mit den Gedanken in ihrem Kopf, dass sie alles um sich herum ausblendete.

Es war ja nicht so, als hatte es nicht schon genug seltsame Augenblicke mit ihrem Boss gegeben. Trotzdem hätte sie auf Weitere verzichten können.

Dass das ausgerechnet immer ihr passieren musste - und dann auch noch heute, wo sie ihn nachher wiedersehen sollte. Verdammter Schlafmangel! Ließ sie doch nicht ernsthaft wie eine verpeilte Weichbirne durch die Weltgeschichte laufen! Zumal sie mit hochrotem Kopf durch die Gegend spazierte, dass selbst Rin die Hitze mit den Fingerspitzen ertasten konnte.

Erst jetzt bemerkte sie, dass einige die junge Frau beobachteten.

Sie musste schleunigst auf andere Gedanken kommen.

Konzentrier' dich auf Yamato

Sie besorgte die letzten Zutaten, kaufte noch ein Carepaket aus der Apotheke und nahm den Bus, der schließlich das Wohnviertel des Schwarzhaarigen ansteuerte. Im Inneren des Busses wurde ihr das Ausmaß ihres Alleingangs erst so richtig bewusst. Aus allen Winkeln wurde sie angestarrt. Einige begannen aufgeregt mit ihrem Sitznachbarn zu tuscheln, andere zückten ihre Smartphones, dass Rin lediglich das Gesicht zur Tür drehen konnte. Als einige auch noch um ein Autogramm baten und die Menschenmenge einen immer engeren Kreis um sie zog, huschte die junge Frau bei nächster Gelegenheit aus dem Bus, ließ dabei knapp fünfzig Passagiere verwirrt zurück und rannte weiter die Straße hinunter. Noch während der Bus seine Türen schloss, drückte sich die Meute an die Fensterscheibe, winkte und knipste weitere Bilder, bis Rin endgültig abgetaucht war. Weiter ging es über eine Kreuzung. Sie wusste, dank Yamatos damaliger Beschreibungen, wo sie langgehen konnte, um möglichst ungesehen zu seinem Apartment zu gelangen. Die Straßen waren um diese Zeit gut besucht. Hier herrschte ein so reger Betrieb wie im Zentrum oder der Hafen-City. Da waren die Seitengassen jetzt genau das Richtige für die junge Frau. Einmal den Kragen ihres Trenchcoats hochgeklappt, versuchte sie unbemerkt das Wohnhaus zu erreichen.

Dass ich das einmal sagen würde…Nie wieder ohne Chauffeur!

Als sie vor seiner Haustür stand, fiel ihr Blick auf die dunkle Wolkendecke über dem Wolkenkratzer. Diese versprach hoffentlich kein Gewitter. Auch wenn sie gut in der Zeit lag, hätte sie keine Lust, klitschnass zur Kaiba Corporation zurück zutrotten - mit der einzigen Option, dort ein paar Wechselsachen aus ihrem persönlichen Spind zu bekommen, die lediglich aus einem Unisex-Shirt mit der Aufschrift >Kaiba Corp.< und dem rückenfreien Badeanzug bestanden; und ein Zuspätkommen war zu keinem Zeitpunkt eine Option. Ihr bliebe demnach nichts anderes übrig, als zu beten, dass der Wettergott sie verschonte.
 

Schließlich zückte sie aus ihrer Jackentasche einen dicken Schlüsselbund. Neben ihren eigenen Schüsseln hatte sie den zu Yamatos Wohnung dazu gehängt - in der Hoffnung, dem Schwarzhaarigen bei nächster Gelegenheit den Ersatzschlüssel auszuhändigen. Bisher hatten beide so viel um die Ohren gehabt, dass es seit Rins Auszug vor drei Wochen zu keinem weiteren Treffen gekommen war. Stattdessen hatten sie und Yamato viel telefoniert. Hauptsächlich zwischen den jeweiligen Pausen, wenn Yamato eine Auszeit von seinen stressigen Meetings und Besprechungen brauchte oder Rin der Kopf von all den Wichtigtuern und Quaksalbern rauchte. Yamatos lockere Art brachte sie sofort runter - selbst wenn die Kommunikation manchmal nur für ein paar kurze Textnachrichten reichte, genügte das, ihre Laune so weit anzuheben, um den Rest des Tages zu überstehen. Neben Lumina war sie noch nie einem Menschen begegnet, mit dem sie über so viele Belanglosigkeiten reden und dabei den Alltagsstress um sich herum vergessen konnte. Ein wenig musste sie ihrer besten Freundin recht geben; als ihr fester Freund wäre Yamato perfekt.

Das haben wir doch schon hundertmal durchgekaut…
 

Den Schlüssel ins Schloss gesteckt, machte sie sich mit einem ruhigen, aber bestimmten >Hallo< bemerkbar. Kaum die Wohnung betreten, fiel ihr der große Karton neben den ordentlich drapierten Schuhen auf. So präsent wie er da stand, nahm er den gesamten Flur ein. Geradeso hatten seine Schuhe genügend Platz, dass sie diese penible Symmetrie beibehalten konnten.

"Rin?", krächzte es am anderen Ende des Flures.

"Ja", antwortete die junge Frau und zog sich die Schuhe aus, bevor sie mit dem Einkaufsbeutel in Richtung Schlafzimmer lief. Kurz bevor sie das Zimmer erreicht hatte, steckte der Schwarzhaarige seinen Kopf aus der Tür. Yamato sah furchtbar aus. Bleiche Haut, die einer Kalkwand Konkurrenz machen konnte, versuchte sich unter dem Mundschutz zu verbergen. Die sonst so strahlenden Augen blickten glanzlos zu ihr herüber. Rin sah die roten Stellen, als hätte sich Yamato versehentlich Shampoo ins Auge gerieben. Seine schwarzen Haare hatte er unter einer Mütze versteckt, dass er geradezu ausgehungert wirkte.

"Ist 'n blöder Tick von mir, wenn ich krank bin", entgegnete er und zeigte auf die Beanie, als Rins Blick an der besagten Mütze hängen blieb. "Keine Ohrenentzündung oder so", er fasste sich an den Kopf. In diesem Zustand hatte er kaum noch etwas von dem smarten, charmanten Mann - beinahe wie ein anderer Mensch.

Was denkst du denn da?! Yamato ist krank und du interessierst dich nur für sein Äußeres?!

Es war ja schließlich nicht so, als wäre Yamato nicht mehr attraktiv - nur eben anders…

Schnell schüttelte Rin ihre Gedanken ab. Sie stellte sich vor Yamato und fühlte seine Stirn. Nur widerwillig ließ es der Schwarzhaarige über sich ergehen. Rins strenger Blick schien auch ihn ein wenig einzuschüchtern - zumindest in seinem derzeitigen Zustand.

"Keine Sorge. Mir geht's schon besser", meinte er, als ihre kalte Hand von ihm ließ.

"Du bist etwas warm…aber Fieber scheinst du nicht mehr zu haben."

"Sag' ich doch", sie sah ihn unter dem Mundschutz lächeln, "mir geht's schon besser."

"So einfach wirst du mich nicht los, Yamato Shiba", Rin wedelte mit dem Carepaket vor Yamatos Gesicht. "Und jetzt zurück ins Bett", damit gab sie ihm einen sanften Schubs, der ihn zurück ins Schlafzimmer befördern sollte, überreichte ihm ein paar Halsbonbons und befahl ihm, alles Weitere Rin zu überlassen. Mit einem unverständlichen Laut gab der Schwarzhaarige nach, trottete zurück ins Bett, nachdem Rin mehr als deutlich auf die Matratze gezeigt hatte, und zog einen der Bonbons aus der Verpackung. Es raschelte und Rin nickte ihm zufrieden zu. Anschließend eilte sie ins Wohnzimmer, riss sämtliche Fenster auf und atmete die frische Herbstluft ein. Yamato musste seit Tagen nicht mehr gelüftet haben, geradezu wohlwollend nahm die kühle Brise sämtlichen Mief aus der Wohnung. Dann machte sie sich daran, Wasser für den Tee aufzukochen. Zwischendrin hörte sie, wie Yamato ins Kissen nieste oder ein plötzlicher Hustenanfall selbst den Wasserkocher übertönte. Vorsichtig stellte sie den Tee neben dem Beistelltisch ab, schüttelte sein Bett zurecht (was nach heftigen Protesten mit peinlich berührter Miene hingenommen wurde) und huschte breit grinsend durch die Tür. Zurück in der Küche stemmte Rin die Hände in die Hüften. Ihr Entschluss stand fest: für Yamato würde sie die beste Hühnersuppe überhaupt kochen. In ihrem Element begann die junge Frau richtig aufzublühen. Lange war ihre Fürsorge nicht mehr von Nöten gewesen, dass sie sich sogar ein wenig freute, endlich wieder nützlich sein zu können. Das Vibrieren ihres Handys ließ sie kurzzeitig innehalten. Sie nahm das Smartphone aus ihrer Hosentasche. Auf dem Bildschirm hatte sich ein neues Chatfenster mit einer fremden Nummer geöffnet. Ihr erster Gedanke war Crawford, der Rins Absage nicht akzeptieren wollte, dass sich ihr bei der Vorstellung sofort der Magen verzog (oder lag es doch am Hunger?). Mit gekräuselten Lippen entriegelte sie ihr Smartphone und las den kurzen Text.
 

Siebzehn Uhr - in meinem Büro
 

Die junge Frau blinzelte.

Hat mir Seto Kaiba gerade eine SMS geschrieben?! Woher-

Ihr Unglaube wich schnell der Erkenntnis, dass der junge Firmenchef natürlich an ihre Handynummer herankommen konnte. Einmal durch ihre Akte geblättert, würde sich ihm wohl ihr gesamtes Leben offenbaren. Dass Kaiba gerade seine eigene Nummer dadurch preisgegeben hatte, verwirrte sie dennoch. Schließlich kommunizierten die beiden ausschließlich über Mails, noch dazu mit ihren Geschäftsadressen - noch unpersönlicher war überhaupt nicht möglich.
 

Mit aufgerissenen Augen starrte sie zwischen der Textnachricht und der Uhrzeit hin und her. Verdammt! Sie wollten sich doch erst neunzehn Uhr treffen. Gleich zwei Stunden, die er ihr genommen hatte.

Klasse Timing, Kaiba

Das Smartphone auf den Küchentisch geknallt, begann Rin, die nötigen Kochutensilien zusammen zu suchen. Ihr blieb knapp eine Stunde. Ein Glück hatte Rin Übung in Sachen schneller Essenszubereitung. Das Gemüse klein geschnibbelt, die Hühnerkeulen mariniert und angebraten, ging der Rest beinahe wie von selbst. Sie fuhr sich über die Stirn und wischte sich einen imaginären Schweißtropfen von der Schläfe. Die vielen Kochstunden mit ihrer Mutter, die sie manchmal tatsächlich zum Schwitzen gebracht hatten, zahlten sich aus. Ein deftiger Duft benebelte die Küche, zog sich bis ins Schlafzimmer, aus dem sich Yamato heraus gewagt hatte. Neugierig sah er zu dem Topf herüber, als ihn Rin bemerkte und bereits wieder zurück ins Bett scheuchte.

"Du bist ja schlimmer als meine Mutter", witzelte der Schwarzhaarige.

"Damit musst du leben", entgegnete sie nur und schob ihn durch den Flur.

"Aber echt, Rin. Deine Fürsorge ist wirklich nicht nötig. Ich fühle mich schon ganz furchtbar, weil ich dich gerade nur aufhalte." Er setzte sich aufs Bett und sah zu ihr hinauf. Der treue Blick kehrte in seinen Augen zurück. Rin schüttelte den Kopf, aber Yamato blieb beharrlich. "Du musst wirklich nicht bei mir bleiben", er unterdrückte sich das Husten und fuhr fort, "ich weiß, dass du noch arbeiten musst. Ich hab doch gesehen, wie panisch du aufs Handy gestarrt hast. Lass' dich nicht von mir aufhalten."

"So ein Unsinn", erwiderte sie ernst, "du hältst mich nicht auf. Ich bin freiwillig hier, schon vergessen?" Sie sah sanft zu ihm hinunter, "und nicht, weil ich ein schlechtes Gewissen habe oder so. Ich will nur, dass du ganz schnell wieder gesund wirst." Dabei lächelte sie. "Außerdem habe ich noch eine halbe Stunde - die lasse ich mir auch nicht nehmen."

Seine Augen blieben weiterhin auf Rins Seelenspiegeln, während er sich ans Kopfende lehnte und die Beine ausstreckte.

"So ist das eben bei Freunden", fügte sie mit einem Nicken hinzu, bevor sie mit einem Schwung aus dem Zimmer hüpfte und sich weiter um die Suppe kümmerte. Eine ordentliche Portion Nudeln dazu gekocht, kramte sie aus dem mitgebrachten Beutel drei verschließbare Becher hervor und befüllte diese mit der Brühe. Zum Schluss gab sie die Nudeln hinzu, verschloss die beiden ersten und lief mit dem dritten Becher zurück ins Schlafzimmer. Sie setzte sich an den Bettrand und beugte sich zu dem Schwarzhaarigen herüber. Dieser wedelte mit aufgerissenen Augen vor dessen Gesicht.

"Wehe, du fütterst mich", richtete er seine freundliche Drohung an Rin, die lediglich mit den Schultern zuckte.

"Wenn du dich fit fühlst-"

"Ja! Ja…definitiv ja!" Er nickte heftig und schnappte sich den Becher voll Nudelsuppe.

"Du bist wirklich…"

"Nervig?", ergänzte die junge Frau und lächelte breit.

"Nein", entgegnete Yamato. Er zog sich die Maske herunter und begann die Nudeln mit den Stäbchen aufzufangen. "Ich wollte sagen: >süß<." Da war es wieder. Dieses verschmitzte Lächeln, das Rin ebenfalls zum Schmunzeln brachte. Langsam kehrte der alte Yamato zurück. Zumindest war sie guter Dinge, dass es ihm bald besser ginge. Vielleicht erwies sich seine Grippe als klassischer Männerschnupfen. Gerüchteweise hatte sie von diesem Phänomen gehört. Dann wäre er in wenigen Tagen wieder fit.
 

Während der Schwarzhaarige seine Nudeln verputzte, versuchte Rin ihn auf andere Gedanken zu bringen. Sie erzählte von peinlichen Meetings, einem nervigen Yoshihiko Taba, der wie ein bockiges Kind in der Firma unverwandelte und dem letzten Gewitter, das Rins Haare in eine wütende Tolle verwandelt hatte. Letzteres war von Luminas Smartphone verewigt worden, dass Rin ihr eigenes Handy zückte und die Beweisfotos Yamato präsentierte. Beinahe wäre dem Schwarzhaarigen die Brühe aus der Nase gekommen. Er konnte sich kaum mehr vor Lachen halten, während er sich tausendmal dafür entschuldigte.

Als er auch den letzten Tropfen Brühe heruntergeschluckt und ein strahlendes Gesicht aufgesetzt hatte (so strahlend wie eine Kalkwand eben aussehen konnte), lächelte Rin ihn ebenfalls an.

"Ich kenne wirklich niemanden, der so einen abgedrehten Job hat wie du und dann auch noch so kocht, als würdest er nichts anderes machen."

"Schleimer", knuffte ihn Rin in die Seite, dabei huschte ein roter Schimmer über ihre Wangen. Dann änderte sich ihr Blick. Sie sah die Uhr auf dem Beistelltisch - wenn sie sich jetzt nicht losmachte, würde sie es nicht rechtzeitig in die Firma schaffen. Ein leichter Seufzer entfleuchte ihr. "Und ich kann dich wirklich alleine lassen?", fragte sie und fühlte sich schlecht bei dem Gedanken, nicht mehr für ihn getan zu haben.

"Ich krieg' das schon hin. Ich bin doch schon ein großer Junge", zwinkerte er ihr zu, dass sie lächelnd mit dem Kopf schüttelte. Sie wollte sich aufrichten, als eine Hand sie am Handgelenk packte. Yamato zog sie an sich, seine beiden Arme schlangen sich um die junge Frau, die für einen Moment nicht wusste, was sie tun sollte. Er war nahe an ihrem Gesicht, seine Nase streifte ihr Ohr, dass sich eine ihrer Strähnen an seiner Wange verfing.

"Pass' auf dich auf", murmelte er, dass Rin überrascht die Augen aufriss.

"Ich meine das Duell", fügte er hinzu, ohne seinen Griff zu lockern. Daraufhin legte auch Rin eine Hand behutsam auf sein Schulterblatt. Die Nähe fühlte sich einerseits gut an - aber nicht richtig. Gerne hätte sie sich an ihn geschmiegt. Seine Sorge um sie tat gut und sie wollte auch genauso für Yamato da sein. Aber seine Gefühle hingen bedrohlich über ihren Köpfen. Wenn sie ihm damit falsche Signale sendete, wenn er sich Hoffnungen machte - wobei Rin das Thema bereits für sich abgeschlossenen hatte.

"Mach' dir keine Gedanken. Ich pack' das schon", sagte sie und spürte, wie ihr Körper vor Scham immer heißer wurde.

"Du weißt, dass ich das nicht meine", entgegnete er mit ruhiger aber fester Stimme, "ich weiß, dass du stark bist. Aber", er machte eine kurze Pause, Yamato schien selbst mit seinen Worten zu ringen, "ich will nicht, dass dir jemand wehtut."

Rin zuckte zusammen.

"Das wird nicht noch einmal passieren", hauchte sie, "ich verspreche, dass ich mir von niemandem das Hirn wegblasen lasse…oder was für Ideen diese Spinner sonst so haben."

"Sei trotzdem vorsichtig, okay?"

"Ich werde auf mich aufpassen."

Damit ließ er von Rin, die innerlich einen tiefen Atemzug tat. Sie verabschiedete sich von Yamato, erteilte ihm noch ein paar letzte Instruktionen, die er in den nächsten Tagen einhalten sollte und ging anschließend zurück in die Firma. Den gesamten Weg über dachte sie über seine Worte nach. Bisher hatte sie die Ereignisse um das Viererduell weitestgehend von sich schieben können. Ihrem Kopf ging es prima, ihr Gehirn hatte auch keine Schäden davon getragen - also warum weiter darüber nachdenken? Aber Yamato hatte recht. Sie musste auf der Hut bleiben. Wusste sie doch bereits, zu was ihr morgiger Gegner fähig war, mit welchen Methoden er vorging und - was viel entscheidender war - mit welcher Technik er selbst ausgestattet wurde. Eine Technik, die Kaibas modernem System sehr nahe kam, wenn sie sich an ihre letzte Auseinandersetzung mit Paradius' Wunderknaben zurückerinnerte.
 

In der Kaiba Corporation angekommen haderte sie mit ihren Gefühlen. Da waren Wut, Angst und noch etwas anderes. Etwas, das sie nicht so richtig benennen konnte, aber im völligen Kontrast zu den ersten beiden stand. Sollte sie sich womöglich über diesen Kampf freuen?



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