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Der eine zählt des anderen Tassen

von

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In einem Raum jenseits

Sie hatte genau zwei Möglichkeiten: entweder versuchte sie sich daheim bei einer heißen Tasse Tee zu beruhigen und sah dabei wieder in die Flamme der Kerze oder sie machte kehrt und ging hinaus auf die Fennen, um sich dort durch den Blick in die Sterne abzulenken. Sie spürte, dass sich ihr Magen zusammenzog und sich der Herzschlag wieder beschleunigte – kein Zweifel, ihr Blutdruck stieg. Sie selbst fühlte sich fürchterlich: müde, abgeschlagen, doch gleichzeitig so unruhig, zapplig, nicht recht bei sich. Der Abend war ihr gar nicht gut bekommen. Dass sie allerdings in letzter Zeit ziemlich reizbar war und auch bei kleinsten Dingen ausflippte, war wohl auch so eine Sache, durch die viele Frauen ab einem gewissen Alter durchmussten. Und vielleicht lag ihre jetzige Erregung tatsächlich daran? Denn früher hätte sie wohl gelassener reagiert, wenn ihr so etwas zugestoßen wäre wie heute Abend. Nun aber hatte sie sich während dieser Veranstaltung emotional verausgabt, hatte sogar einmal mit Tränen zu kämpfen gehabt. Alles so Sachen. Und dazu schwitzte sie noch immer, zitterte gleichzeitig und meinte, tatsächlich in ihre Ferienwohnung gegen zu müssen, doch schon bei dem Gedanken daran, dann allein zu sein, überkam sie so etwas wie der Anflug einer Panikattacke. Sie hatte mit der Heftigkeit dieses Ausbruchs nicht gerechnet und musste sich erst einmal an die Hauswand lehnen, Luft holen und Percy, der vorbeikam, auf den Arm nehmen, um ihn einen Moment lang an sich zu drücken, ehe er wieder hinunterwollte. Nein, sie konnte nicht in ihre Wohnung. Noch nicht einmal die Stufen schaffte sie hinauf. Sie wollte – sie musste wieder umkehren und, auch wenn sie noch immer fror, auf die Fennen hinaus, um sich wieder zu finden. Über ihr war der Sternhimmel, so klar, so deutlich, allerdings sah sie nur einige Male hinauf. Sie konnte nicht – oder zumindest war es ihr unmöglich, sich auf diese unzählig vielen leuchtenden Punkte zu konzentrieren. Auch, dass die Milchstraße heute in einer Intensität über ihr erschienen war, nahm sie vorerst nur am Rande wahr. Indes vergrub sie die Hände in den Taschen ihrer Jacke, denn sie zitterte am ganzen Körper – auch das eine in ihrer Heftigkeit zuvor nicht gekannte Reaktion. Petra, ihre Kollegin und Freundin, hatte ihr gesagt, dass man sich zeitweilig wie ein in die Schleuder gestopfter Teddy vorkommen würde, wenn man diese Schwitz-Frost-Attacken hätte. Und bisweilen auch sonst, eben wie in der Pubertät. Sie hatte dazu gelächelt und mit den Schultern gezuckt. Ja, Petra hatte bisweilen ein Gemüt wie ein Schaukelpferd. Denn, dass sie auch etwas fülliger geworden war, störte sie wohl ebenso wenig, wie die Tatsache, dass auch ihr ab und zu die Erschöpfung ins Gesicht geschrieben stand. Gereizt war sie jedoch nie, auch schlief sie nach eigenen Angaben nicht schlechter als früher. Nur Sport, den könnte sie wieder treiben, doch, tja, wer hatte schon Zeit dazu?
 

Aber daran wollte Lene nun nicht denken, auch nicht daran, dass dieser Abend … mein Gott! Und nun sah sie doch in den von funkelnden Punkten übersäten Himmel, holte noch einmal tief Luft und lenkte ihre Schritte dann hinaus auf eine der Fennen. Der Abend war … Und plötzlich bestürmten sie Fragen: Woher hatte er ihren Namen? Aus dem Internet? Sicher. Woher denn sonst? Also hatte er nach ihr gesucht? Und war auf der Homepage ihrer Schule gelandet? Warum? Warum hatte er das getan? Als Revanche für ihr doch sehr grenzwertiges Verhalten von vor einer Woche? Ja? Oder? Und seine Bemerkung, ganz besonders glücklich zu sein, sie unter den Gästen zu wissen … Und dann dieses Helena … Gerade das hatte sie sehr getroffen, denn diesen Namen, den hatte sie vor fünf Jahren abgelegt. Sie hieß jetzt Lene, einfach nur Lene.
 

Nein, es war zu viel für sie und so versuchte sie ihre Gedanken wieder einzufangen und ging weiter, beschleunigte gar ihre Schritte, um dann doch unverhofft stehenzubleiben. Es nützte ja nichts, vor allem wegzurennen. Auch ihr Therapeut hatte ihr dazu geraten, ab und an innezuhalten, vor allem dann, wenn der Drang des Wegrennens und Flüchtens zu groß wurde. Dem einfach standzuhalten – es wenigstens zu versuchen, auch wenn es nur wenige Momente waren. Schon allein das war ein Erfolg, der ihr ein gutes Gefühl bescheren sollte. Sie wollte sich ja beruhigen, irgendwo Halt finden und nun war es eben der Sternhimmel. Und über ihrem Kopf zog die Milchstraße ihr weißes Band, dessen Dreidimensionalität sie beinahe zu sehen glaubte. Es war einfach wunderbar. So unvorstellbar. Einzigartig. Ihr fehlten die Worte. Und so blieb sie stehen und sah weiter hinauf in diese schier unendliche Schar an Sternen. Wie lang, das wusste sie nicht zu sagen. Doch plötzlich meinte sie etwas zu hören, feine Töne, die sie, dem Himmelszelt vollkommen ergeben, von dort kommend vermutete. Es schien ihr alles möglich zu sein, sogar die seltsamsten Dinge. Warum sollten die Sterne, die so herrlich funkelten, nicht auch singen und klingen können? Na, warum nicht in einem riesigen Orchester musizieren? Und da fiel ihr Ronja ein, eine 9jährige, die zwei Klassen übersprungen hatte. Sie war in Lenes Klasse gelandet und hatte ihr einmal erzählte, dass sie die Sterne reden hören könnte. Was sie denn sagten, wollte Lene daraufhin wissen und die Kleine hatte in vollstem Ernst geantwortet: „Dass sie mich in einen Raum jenseits allen Seins und Verstehens mitnehmen würden.“ Lene war geschockt und hatte lange überlegt, wie sie damit umgehen sollte und sich schließlich dafür entschieden, die Eltern, beide Wissenschaftler, zu kontaktieren. Diese hatten jedoch die für ein Kind dieses Alters befremdlich anmutende Formulierung abgetan. Ronja sei schon immer so gewesen, so phantasievoll. Und sie wolle später sogar Astrophysik studieren – das wüsste sie schon seit ihrem fünften Lebensjahr. Sie als Lehrerin müsse sich keine Gedanken machen. Ronja sei speziell, würde manchmal auch anecken, wäre jedoch wohl ein leicht zu nehmendes Kind – ganz im Gegensatz zu gewissen anderen Herrschaften in der Klasse, die, das hatte Lene zugeben müssen, nur allzu sehr den Unterricht störten. Ronja fiel tatsächlich nur wenig auf, doch Lene kam lange nicht über diesen seltsamen Satz hinweg: ein Raum jenseits allen Seins und Verstehens – dachte dieses Kind tatsächlich schon an den Tod? Beängstigend. Sie hatte lange gebraucht, um über dieses kindliche Geständnis hinwegzukommen und sich auch dabei ertappt, wie sie Ronja bisweilen zu ignorieren versuchte. Im Nachhinein tat ihr das leid, sehr sogar, denn Ronja konnte ja nichts für ihre Gedanken. Sie hatte sie eben … Und wenn die Sterne zu ihr sprachen …
 

Auch zu Lene sprachen sie nun, jetzt, da sie sie so unmittelbar über sich wusste. Aber sie wollten sie ganz bestimmt nicht in diesen Raum jenseits allen Seins und Verstehens mitnehmen, sondern schienen sie mit ihren hunderten, gar tausenden von zarten Stimmen trösten zu wollen. Und schließlich vernahm sie eben auch eine feine Melodie, der sie sich jedoch erst vollkommen bewusstwurde, als sie sich plötzlich mit der Frage konfrontiert sah, ob die Sterne tatsächlich Bach spielen könnten? Konnten sie? Für Ronja wahrscheinlich, ja, aber sie war nicht Ronja, sie war … und unwillkürlich wandte sie sich vom Himmel ab und ihr Blick blieb an einer schlanken Gestalt hängen, die wenige Meter von ihr entfernt auf der Fenne stand – vollkommen in Dunkelheit gehüllt, so, wie sie selbst. Aber sie konnte Geige und Bogen deutlich erkennen. Und obwohl sie der soeben erloschenen Aufregung wieder zu erliegen drohte, zwang sie sich, diesen klaren, reinen Tönen zu lauschen und dazu wieder in den Himmel hinauf zu sehen, so als wäre nichts. Und es war ja auch … nichts. Und nach einer Weile, die ihr gar nicht einmal als so lang erschien, war’s ihr so, als wäre dieses gesamte Sternzelt ein Abbild dieser so wundervollen Bach’schen Musik, die sich dieser einen Geige Ton um Ton entwand, um in den Himmel aufzusteigen und von dort, tausendfach reflektiert, wieder zur Erde hinab zu kommen. Tränen traten ihr in die Augen und sie ließ sie einfach laufen.



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