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Der eine zählt des anderen Tassen

von

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Bach, immer nur Bach

Es tat ihr gut, den Tränen freien Lauf zu lassen. Und auch wenn sie ihn in ihrer Nähe wusste, war es ihr doch so, als wäre sie allein – allein mit sich, allein mit der Musik. Zwar wunderte sie sich kurz darüber, dass sie seine Anwesenheit ausblenden konnte, doch war sie gleichzeitig von diesen feinen, klaren Tönen gepackt, die in ihrer Intensität und Höhe fast denen einer Piccolo-Flöte glichen. Dies einer Violine entlocken zu können – ein Wunder, ebenso, wie diese abertausenden von Sternen, die sich über ihrem Kopf zu diesem so intensiv leuchtenden Band verflochten hatten. Nur ab und an rieb sie sich die Augen, um besser sehen zu können. Doch immer wieder drängten Tränen nach und so konnte sie ihnen irgendwann nicht mehr standhalten. Sie wandte sich ab, fingerte ein Taschentuch hervor, schnäuzte sich und lauschte dann nur noch der Musik, die sich nun fontänenhaft zu ergießen schien und sich in rascher Folge in immer neuen Variationen ein und desselben Themas erging. Unschwer erkannte sie, dass es sich wohl um eine Bearbeitung aus einem der Violinkonzerte von Bach handelte. Und einem Drang folgend, wandte sie sich kurz um, sah ihn, wie er ganz ruhig, fast in sich gekehrt wirkend, dastand und den Bogen über die Saiten, kaum, dass er sie berührte, tanzen ließ. Am liebsten wäre sie zu ihm gegangen, um eben dies genauer sehen zu können. Sie blieb jedoch und erging sich mehr in Ahnungen. Da seine Bewegungen jedoch so feine, hauchzarte Töne gebaren, meinte sie auch zu erkennen, dass er die Augen geschlossen hielt, während er so musizierte, als sprächen aus seinem Instrument all die Sterne, die sich da über ihren Köpfen versammelt hatten. Mitunter dünkte es sie, dass die Töne ebenso funkelten wie die hellsten unter den Sternen, und dann war es ihr plötzlich so, als fassten sie sich bei den Händen und begannen miteinander zu schwingen und zu tanzen, leicht, beinah schüchtern zuerst. Und wenn sie ehrlich war, dann spürte sie bei eben dem Stück, das er gerade spielte, eine große Lust, es den Sternen gleichzutun. Schon lang nicht mehr getan – doch … Wann zuletzt getanzt? Mit Franz … Sie schnappte nach Luft, denn daran wollte sie nicht denken. Nicht jetzt, da sie ihn, den Geiger, noch immer ansah. Für ihr Auge, das sich an die Dunkelheit inzwischen gewöhnt hatte, kein Fremder mehr. Sie griff sich an die Brust und tat einen kleinen Schritt auf ihn zu, und sofort wusste sie wieder um ihre Lust, sein anmutiges Spiel körperlich nachzuempfinden, es gleichsam in Bewegungen, ihre Bewegungen zu übertragen und sich damit selbst Ausdruck zu verleihen. Wie wichtig das war, davon hatte ihr Therapeut nur allzu oft gesprochen. Sich selbst Ausdruck zu verleihen, sich selbst erfahr- und erlebbar zu machen. Und das eben nicht nur durch den Blick in den Spiegel, sondern auch … Aber, ach, daran wollte sie jetzt auch nicht denken, sondern allein daran, dass sie diese Schwingungen der Saiten tief in sich spürte und einfach einen Fuß vor den anderen setzen wollte, leicht tänzelnd dabei, die Arme ausgestreckt, zu schreiten und jede Wendung der Musik nachempfindend. Dabei biss sie sich zuerst auf die Unterlippe – voll der Konzentration, auch ja im Takt zu bleiben und das schwebende Timbre einfangen zu können. Gleichzeitig spürte sie jedoch, dass sie diese Kunst durch jede ihrer Regungen unweigerlich profanisieren würde. Und schon wollte sie wieder innehalten. Aber was dann? Es zog sie doch zu dieser Musik hin – und sie wusste auch, dass das Allegro nur allzu schnell einem Adagio Platz machen würde. Nein, sie wollte, musste gar, und so tat sie auch weiter, drehte sich – ein wenig so, wie eine Ballett-Tänzerin, oder zumindest wie eine, die einmal neben solch graziler Frau gestanden. Das wichtigste war für sie, die Musik in sich zu erspüren und ihr so gut, sie konnte, Ausdruck zu verleihen – und plötzlich war es ihr so, als ließe sie einfach los und werde von den Tönen, die sich aneinandergereiht zu einer so wundervollen Melodie verflochten, getrieben und könne gar nicht anders, als zu tanzen, um schließlich Hitze- und Kälteschauer vergessend eins mit ihr zu werden. So sehr, dass sie meinte zu schweben. Ihr Herz raste. Und da sein Spiel recht drängend wurde, hob auch sie an, sich intensiver zu bewegen – und plötzlich fand sie sich bei ihm. Er hielt die Augen tatsächlich geschlossen, als er den Bogen lang über die Saiten zog – länger als einen Atemzug während – und sich dabei leicht nach hinten neigte, nur, um sich dann wieder in einer Flut an Tönen zu ergehen, die sie dazu brachten, sich erneut zu drehen und die Arme auszustrecken. Sie wusste dabei ein Lächeln in ihrem Gesicht und ein leichtes Zucken im gesamten Körper. Ihre Füße, so schien es ihr, berührten den Boden kaum. Das war … ach, sie wollte darüber gar nicht nachdenken, wie sich das anfühlte. Sie wollte gar nicht denken und so holte sie, die Musik nachempfindend, tief Luft, ging dann leicht in die Knie, um sogleich wieder in die Höh zu hüpfen. Sie wusste, dass dies einem Barock-Tanz kaum gerecht wurde, und vielleicht auch recht lächerlich wirkte. Doch auch das … Himmel … Sie war hier auf einer Wiese, weit draußen – wer konnte sie in ihrem Tun sehen? Er? Er spielte doch – und wie er spielte … Sie hielt kurz inne, betrachtete ihn, den Geiger, der den Bogen noch immer so selbstvergessen über die Saiten hüpfen ließ, sich jedoch selbst – anders als sie – kaum bewegte. Nur ab und an schien er, indem er den Oberkörper leicht nach hinten neigte, neuen Schwung zu holen, um der eigenen Geschwindigkeit, mit der er den Bogen über die Saiten tanzen ließ, standhalten zu können – und da, wieder … der Eindruck, dass er statt die Violine zu spielen, in eine winzig kleine Flöte blies, deren Töne zu Höhen aufstiegen, die, für das menschliche Ohr kaum hörbar, nur zu erahnen waren. Ein einziges Springen und Hüpfen und Schweben war das. Und wieder schloss sie die Augen und setzte gerade zu einer Pirouette an, als die Musik mitten im Ton verstummte und sie meinte, von der plötzlich einsetzenden Stille getroffen, aus unermesslicher Höhe zu Boden gestoßen zu werden. Im ersten Moment packte sie Verwirrung und sie wandte sich nach ihm um. Da stand er, einige Meter von ihr entfernt, leicht schräg, Bogen und Geige zu Boden geneigt und betrachtete sie ebenfalls.
 

„Warum?“, nuschelte sie.
 

„Warum was?“, erwiderte er.
 

„Warum haben Sie mit dem Spiel aufgehört?“
 

Er schwieg, schien kurz Anstalten zu machen, die Geige wieder anzusetzen, unterließ es dann jedoch und sagte leise: „Ich kann nicht.“
 

„Wie?“, hörte sie sich fragen und reckte den Hals. „Sie können nicht mehr?“
 

Hierauf schüttelte er den Kopf. „Nein, nein, ich kann nicht weiterspielen, weil ich das Stück nur bis zu dieser Stelle auswendig kann … Es tut mir leid, Sie dadurch verschreckt und ihren Tanz vorzeitig beendet zu haben. Aber …“ Er unterbrach sich, senkte den Kopf und murmelte: „… meine Fähigkeiten sind sehr beschränkt.“
 

„Was? Das … das …“, stammelte sie. Er hatte also gesehen, wie sie … Ein Anflug von peinlicher Bestürzung machte sich in ihr breit. Aber was hatte sie sich denn gedacht? Dass er es nicht bemerkte? Wie naiv von ihr.
 

„Es wird wohl noch eine Weile brauchen“, fuhr er fort, „ehe ich das gesamte Stück frei werde spielen können und ich würde Sie an dieser Stelle nur allzu gern um Geduld bitten …“
 

Er unterbrach sich und auch sie schwieg, denn was sollte, was konnte sie darauf erwidern, zumal er es diesmal, schien ihr, in solch tiefer Demut gesagt hatte, dass sie dem Drang kaum widerstehen konnte, sich ihm zu nähern und seine Hände, die so Wundervolles geschaffen hatten, zu berühren. Doch sie hielt dem Wunsch stand, nickte ihm stattdessen zu und murmelte ein: „Dankeschön. Es war …“
 

„Sie tanzen gut“, unterbrach er sie und suchte ihren Blick.
 

„Ach“, erwiderte sie und spürte, dass sie wieder rot zu werden drohte.
 

„Ja …“
 

„Ich liebe diese Musik“, gab sie von sich und rieb sich die Stirn, nicht recht wissend, was sie noch sagen sollte. „Ich liebe sie einfach. Bach …“
 

„Ja, Bach …“
 

Beide schwiegen einen Moment, in dem sie sich nur in die Augen sahen, dann setzte er, wie aus dem Zusammenhang gerissen, wieder an: „Zugegebenermaßen ist dies die einzige Sprache, die ich ein wenig beherrsche …“
 

„Wie?“, fragte sie verwundert.
 

Als Antwort hob er die Hand, in der er die Geige hielt, und murmelte: „Das Violinspiel.“
 

„Ach …“ Sie spürte ihren Herzschlag.
 

Er nickte, senkte wieder den Blick und sagte mehr zum Boden als zu ihr: „Mutter hat mir immer wieder gesagt, dass ich sie mir bewahren solle, diese Sprache.“
 

Sie vernahm seine Worte, wusste jedoch nicht, mit ihnen umzugehen, zu aufgewühlt war sie nach alldem und so schwieg sie. Er hob den Kopf, sah sie an, zuckte dann mit den Schultern, ehe er sich hinhockte, sich seinem Geigenkasten zuwandte und sein Instrument nebst Bogen darin verstaute. Sie sah ihm dabei zu, sah, wie er den Kasten schloss und sich erhob. Wieder fanden sich beider Blicke.
 

„Ich … ich danke Ihnen sehr für diese Darb …“
 

„Nichts zu danken. Mir war so, als ich Sie da habe stehen sehen. So allein … Und da bin ich Ihnen, Sie mögen mir verzeihen, gefolgt, gleichwohl ich eigentlich nach Haus wollte“, unterbrach er sie, kam auf sie zu und reichte ihr die Hand. „Also, dann, Helena …“
 

„Nennen Sie mich nicht so“, entfuhr es sofort. „Ich heiße …“
 

„Verzeihen Sie mir, Lene, also dann …“ Und noch einmal reichte er ihr die Hand, die sie nur zögernd ergriff.
 

„Möchten Sie wirklich schon gehen?“, hörte sie sich fragen.
 

Er zuckte mit den Schultern, legte den Kopf leicht schräg, ließ seinen Blick kurz ins Weite schweifen, ehe er den ihren wiederfand. „Ich bedauere, ja, denn ich muss etwas zu mir nehmen, ich verspüre nämlich ein nicht unerhebliches Hungergefühl.“
 

„Oh … das … das …“ Sie geriet ins Stammeln, suchte nach Worten, doch noch immer war sie zu aufgewühlt.
 

„Oder darf ich es wagen“, fuhr er ihr in die Gedanken, „dem Wunsch nach einem gemeinsamen Abendessen mit Ihnen, noch einmal Ausdruck zu verleihen?“



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