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Der eine zählt des anderen Tassen

von

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Mach dich nicht so klein, du bist

Nur mit Mühe konnte sie den Drang, sich zu entfernen, unterdrücken, wandte den Blick ab und sagte sich, dass sie eigenes des Bildervortrags gekommen sei, doch da hörte sie ihn sagen: „Es ist mir ein großes Vergnügen, heute, hier spielen zu dürfen.“ Wieder gab’s Applaus von allen Seiten. „Allerdings“, fuhr er fort, „muss ich gestehen, dass es mir darüber hinaus auch eine persönliche Freude ist, eine ganz bestimmte Frau unter den Gästen dieses Vortrags zu wissen.“
 

Noch während er sprach, spürte sie, wie sich ihr Magen zusammenzog, ihr Herz zu rasen begann und sie rot zu werden drohte. Noch dazu wusste sie seinen Blick auf sich gerichtet. Sie selbst senkte den ihren und sah auf ihre sich verknotenden Hände. Warum?, schoss es ihr durch den Kopf und augenblicklich begann sie zu schwitzen – in letzter Zeit keine Seltenheit, wenn sie sehr erregt war oder sich in stickigen Räumen aufhielt. Manchmal überkam es sie auch einfach so. Dann stand sie sprichwörtlich unter Wasser. Jede Frau machte das ab einem bestimmten Alter durch, die eine früher, die andere später. Sie versuchte sich darauf einzustellen, so gut sie eben konnte. Lästig war es dennoch, wenn sie beispielsweise vor der Klasse stand, gerade dabei war, etwas zu erklären und dann diese aufsteigende Hitze spürte. Dann musste sie sich sehr stark zusammennehmen, um nicht einfach hinauszugehen. Eine Freundin, selber Lehrerin, hatte ihr geraten, sich einige Minuten lang ans geöffnete Fenster zu stellen. Manchmal half das tatsächlich, später in den Pausen, fühlte sie sich jedoch trotzdem wie durchs Wasser gezogen und hatte den Wunsch, die Kleidung zu wechseln, denn sie schwitzte, schwitzte, schwitzte. Ebenso wie hier und jetzt, da sie im Festsaal des Hallighus’ saß. Nicht besser wurde es, als er an ihr vorbei, nach hinten zu seinem Notenständer ging und sie wieder seinen Blick auf sich gerichtet wusste, wenn auch nur für einen Moment. Ihr schien es, als nickte er ihr lächelnd zu. Sie zwang sich dazu, nicht nach hinten zu sehen.
 

Was sie so plötzlich getroffen hatte, wusste sie nicht. War es sein doch recht selbstgefälliges Auftreten gewesen, die Betonung, im Grunde kein Geiger zu sein? Was wollte er damit erreichen? Dass ihm die Menschen nur umso mehr zujubelten, nachdem sie Zeugen seiner Kunst geworden waren? War es das? Und war ihr sein Auftreten nicht einfach nur peinlich gewesen? Hatte sie sich sozusagen fremdgeschämt? Da ihr dieser Gedanke gut einging, klammerte sie sich an ihn. Ja, genau, das war es. Sie hatte sich wieder einmal an seinem seltsamen Verhalten gestoßen.
 

Es galt indes, dass sie sich in jeder anderen Situation über diese außergewöhnliche Darbietung gefreut hätte, die ja geradezu eine Überraschung war. Denn, wo gab es das schon, dass ein Musiker eigens zur Untermalung von Impressionen geladen war? Gut, vielleicht bei der Eröffnung einer Vernissage, aber doch nicht zu einem einfachen Lichtbildervortrag. Aber da er auf der Hallig bereits bekannt war, bot sich das wohl einfach an, ihn, den falschen Geiger, auftreten zu lassen.
 

Sie starrte noch immer auf ihre Hände und fragte sich wieder und wieder, was sie plötzlich gepackt hatte. Warum die Heftigkeit der Reaktion? Es gab im Grunde keine Veranlassung dazu. Außer, dass er anwesend war und sie sich an seinem Verhalten stieß, das, wenn man einmal von all den gestanzten Phrasen, die er geprägt hatte, absah, im Grunde nur seine Großmäuligkeit und Selbstverliebtheit bezeugte. In der Schule hatte sie es überdies tagtäglich mit solchen Kindern zu tun. Da waren die Lauten, die, die immer nach vorne drängten und ihr Wissen preisgeben mussten. Das Ich, ich ich eines Christoph hatte sie ebenso im Ohr wie das ständige: Frau Laux, ich weiß es! einer Hannah. Doch dieser Gruppe gehörten auch jene Schüler an, die sich dem Schein nach stets zurückhielten und ein äußerst bescheidenes Wesen an den Tag legten. Kinder, die fast unsichtbar waren und ihr Wissen stets herunterspielten, gar verheimlichten, um sich dann, wenn es Zeit war, als die Opfer jener hinzustellen, die ihnen in Lautstärke überlegen waren. Gerade diese Kinder besaßen ein weitaus größeres manipulatives Potential als andere, weil sie aus einer Art defensiver Haltung heraus letztlich äußerst offensiv agierten. Sie besaß mindestens zwei kleine selbst ernannte Opfer in der Klasse, denen sie nicht nur einmal ein: Mach dich nicht so klein, du bist nicht so groß, an den Kopf knallen wollte und es dann doch nur in Gedanken tat. Denn dieses, von Golda Meir stammende Wort, passte ihrem Empfinden nach perfekt, gleichwohl es ursprünglich eher eine selbstironische Betrachtung der Juden war, à la: Ihr müsst uns nicht klein machen, das schaffen wir schon ganz allein – und auch viel besser und zeigen euch damit, dass wir gewitzter sind als ihr. Doch besaß dieses Wort eben auch eine Mehrdeutigkeit, die jene kleinen Opfer und Menschen einschloss, die, um Aufmerksamkeit zu erhalten, dazu neigten, sich selber möglichst klein zu machen, indem sie Bescheidenheit und Demut heuchelten, hinter denen sich jedoch ein gerüttet Maß an Eigenliebe und Selbstvertrauen vielleicht sogar Selbstüberschätzung verbarg. Insofern galt es ihr als Möglichkeit, sich zu beruhigen, wenn sie von diesen um Anerkennung heischenden Kindern genervt und gestresst in die Pause ging. Mach dich nicht so klein, du bist nicht so groß. Und so begann sie es auch hier im Festsaal des Hallighus’ zu murmeln – immer und immer wieder. Nur, dass dieser Gottfried-Jakob Praetorius tatsächlich ein Großer war. Er hatte am letzten Sonntag bezaubernd gespielt – und so konnte sie es nicht verhindern, dass ihr Herz wieder schneller zu schlagen begann, als sie erste leise klopfende Töne in ihrem Rücken vernahm, jedoch sogleich wissend, dass er sein Instrument nur stimmte. Aber beinahe hätte sie es hingerissen und sie hätte sich umgewandt, um ihm bei seinem Werk zuzusehen, doch im letzten Moment hielt sie der Veranstalter davon ab, denn der löschte das Licht im Saal. Und augenblicklich fühlte sie sich etwas entspannter. Und sie holte tief Luft.
 

Die Bildershow begann und mit ihr das Geigenspiel – und sie konnte nicht anders, als sich einzugestehen, dass es diese leicht schwingenden, leicht hüpfenden Töne waren, die ihr das erste Bild, das einen Teil des Sommerdeichs im Frühling zeigte, so lebendig werden ließ, dass sie das weiche Wollgras tatsächlich unter den Fußsohlen zu spüren meinte. Und während sie in Gedanken über den Sommerdeich ging, war ihr zeitweilig so, als spielten zwei Geigen in ihrem Rücken, denn schon schien sich wieder ein sachtes Schwingen mit ebenso leichten, fast schüchtern anmutenden Hüpfern zu überlagern. Und als sie die Augen schloss, sah sie sich tatsächlich für Momente mit ausgebreiteten Armen tanzen, indem sie Schwingung und Hüpfer gedanklich nachzubilden versuchte. Gar nicht einfach – und doch … Ihr Herz raste. Sie ließ es zu, lauschte weiter auf diese scheinbare Zweistimmigkeit, die plötzlich in einen Dialog überzugehen schien. Hier eine recht tiefe, krächzende Stimme, dort eine hohe, leise fiepend, die sich jedoch in einem schrillen Schrei ergehen konnte und die tiefe gleichsam mit sich fortriss. Kein Zweifel, die Diskussion artete in einen Machtkampf aus. Und so als nähme sie selbst an diesem Schauspiel teil, ballte sie die Hände zu Fäusten und presste sie sich gegen den Mund. Auch meinte sie dann die Peitschenhiebe zu spüren, während er, das ahnte sie, den Bogen auf die Seiten niedergehen ließ. Sie holte wieder tief Luft, nahm sich zusammen und öffnete die Augen: zu sehen war eine Sturmflut, die die Hallig vollkommen in ihrem Griff zu haben schien. Die Wassermassen schlugen wütend an den Deich und jagten in Fontänen über ihn hinweg auf die Fennen. Und er, in ihrem Rücken, schlug dazu auf seine Geige ein, drosch förmlich auf die Saiten, so sehr, dass sie meinte, sie müssten unter der Belastung reißen. Auch hörte sie den Schmerz des Instrumentes, das körperlich so gepeinigt, ihm dennoch ergeben diente. Ihr Herz raste, raste so sehr, dass sie nach Luft schnappen musste. Und just in diesem Moment, da sie es nicht mehr auszuhalten meinte, wandte sie sich um. Fiebrig und vollkommen verschwitzt erwartete sie ihn rasend zu sehen, oder sich wenigstens in zackigen, abgehackten Bewegungen ergehend, doch er stand ganz still da und hielt, sie konnte es aufgrund des kleinen Lichts an seinem Notenständer erkennen, die Augen geschlossen, während er seinen Bogen noch einmal auf die wehrlosen Saiten niederfahren ließ und dann von seinem Instrument abließ, die Augen öffnete und sich, heftig atmend mit der, den Bogen haltenden Hand über die Stirn fuhr. Er war erregt, kein Zweifel, erregt, ebenso wie sie. Und ein Schauer lief ihr den Rücken hinab. Sie fröstelte sogleich und wollte sich schon wieder umwenden, als er wieder ansetzte und den Bogen leicht, fast zärtlich auf die Seiten niedergleiten ließ, um ganz sacht über sie zu streichen, so als wolle er für die erlittene Pein um Verzeihung bitten.
 

Das nächste Bild zeigte die Kirchwarft bei Sonnenuntergang. Weich waren die Klänge, die derweil an ihr Ohr drangen und sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und konnte sich dazu bringen, etwas ruhiger zu werden. Sie versuchte sich vollkommen, auf dieses Bild zu konzentrieren: Bäume, Fennen, das Pastorat, das der Kirche vorgelagert war, erschienen dunkel, während sich die Strahlen der Sonne im Hintergrund golden auf den Priel ergossen – und dem Ganzen ein beinahe irreales Flair verliehen.
 

„Wunderbar“, hörte sie sich plötzlich murmeln und bemerkte augenblicklich eine Regung neben sich. Sie wandte sich zur Seite und wurde von einem Nicken ihres Nachbarn empfangen. „Tatsächlich wunderbar“, flüsterte dieser und deute kurz nach hinten, so als wolle er seiner Äußerung zusätzlich Gewicht verleihen.
 

„Aber die Bilder sind auch wundervoll“, beeilte sie sich zu flüstern.
 

„Beides“, bestätigte ihr Nachbar und die neben ihm sitzende Dame, wohl seine Ehefrau, neigte sich etwas vor und nickte. „Ich bewundere solche Menschen“, flüsterte sie.
 

Lene nickte ebenfalls, verschränkte die Arme vor der Brust und versuchte sich wieder auf die Bilder zu konzentrieren – und weniger auf die Musik, denn die, so fürchtete sie, löste in ihr Emotionen aus, derer sie kaum frau werden konnte. Vor allem schwitzte sie noch immer.
 

Am Ende der Veranstaltung erhob sie sich – kaum, dass der Applaus verklungen war – unversehens von ihrem Platz. Sie bemerkte, dass zahlreiche Menschen nach vorn zur Bühne eilten, wo der Veranstalter nun zusammen mit diesem Gottfried-Jakob Praetorius stand, um dankende Worte, aber auch Lobeshymnen zu empfangen. Da sah sie ihre Chance gekommen, den Raum so schnell wie möglich zu verlassen. Doch als sie gerade an der Tür war und sich bereits in Sicherheit wähnte, klang ein Ruf an ihr Ohr: „Helena!“ Sie zuckte augenblicklich zusammen, wandte sich jedoch nicht um. „Helena, warten Sie doch!“ Wieder durchzuckte es sie und ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Noch dazu stand ihr der Schweiß noch immer auf Stirn und Nase. Sie selbst fühlte sich wie aus dem Wasser gezogen. „Helena!“
 

Sie eilte in den Gang hinaus und die Treppe hinauf. Mochten die Leute, die plötzlich in ihre Richtung gesehen hatten, von ihr halten, was immer sie wollten. Sie jedenfalls wollte nur weg – und das so schnell wie möglich. Doch wieder erklang dieses Helena, diesmal dicht an ihrem Ohr und dann spürte sie eine Berührung an der Schulter. Einem inneren Impuls folgend drehte sie sich nun doch um und sah ihm ins ebenfalls gerötete Gesicht. Seine Augen, das konnte sie überdies erkennen, waren geweitet und besaßen wohl einen leicht feuchten Schimmer. Dazu war ihm eine Strähne in die Stirn gefallen.
 

„Helena“, wiederholte er. „Es ist schön, dass Sie gekommen sind.“
 

„Warum nennen Sie mich Helena?“, stieß sie hervor. „Ich heiße Lene.“
 

„Wie? Aber das stimmt doch gar nicht. Sie heißen Helena“, erwiderte er umgehend und kam ihr näher, ehe er flüsterte: „Und wissen Sie, ich mag diesen Namen. Sehr sogar.“
 

„Das gibt Ihnen noch lange nicht das Recht, mich …“
 

„Würden Sie mir die Freude machen, Sie zum Abendessen einladen zu dürfen?“, unterbrach er sie hastig. Und sie erkannte auf seiner Nase und Oberlippe kleine Schweißperlen. „Ich würde Ihnen gerne danken.“
 

Sie entfernte sich einen Schritt von ihm, schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe bereits gegessen und jetzt würde ich gerne ...“
 

„Das ist sehr schade“, unterbrach er sie neuerlich, kam ihr wiederum näher, berührte sie am Oberarm, neigte sich leicht zu ihr hinab und sagte leise: „Sie müssen wissen, dass ich heute Abend nur für Sie gespielt habe.“
 

Sie drehte sich auf dem Absatz um.
 

„Helena …“
 

Erst als sie sich draußen in der sternklaren Nacht wusste, tief Luft holte und dann den Weg zu ihrer Ferienwohnung einschlug, eilte, ja raste, löste sich die Spannung etwas von ihr, machte jedoch einem Gefühl der Leere Platz, das sie seit langem überwunden geglaubt hatte.



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