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Ich, er und die Liebe

von

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Von sicheren Häfen und offensichtlichen Tatsachen

Geht weg!

 

 

 

Nein wirklich, ich mein das ernst. Ich will heute nichts erzählen. Echt nicht. Ich hab Kopfschmerzen und verstecke mich gerade unter der Bettdecke, damit mich die Welt nicht findet. Also tut mir einen Gefallen und Geht. Einfach. Weg.

 

 

 

 

 

Boah, seid ihr immer noch da? Kann ja nicht sein. Also schön, ich steh auf. Scheiße, seid ihr hartnäckig. Ist ja eklig. Ebenso eklig wie der Geschmack in meinem Mund, der so furchtbar gut zu dem Hämmern in meinem Kopf passte. Außerdem hatte ich Durst und musste mal auf die Toilette. Vermutlich war es am besten, wenn ich das Ganze gleich mit einer Dusche verband, um den Nebel da oben ein wenig zu lichten und diese komischen Träume auch noch mit wegzuspülen.

 

In der Nacht war ich nämlich Gast bei so einer abstrusen Talkshow gewesen. Julius’ Mutter hatte dem Ganzen in einer Richterrobe vorgesessen – jetzt wusste ich endlich, an wen sie mich erinnert hatte; Barbara Salesch lässt grüßen – und mich nach Strich und Faden verhört, wie ich eigentlich dazu käme, meine dreckigen Hände an ihren unschuldigen, kleinen Julius zu legen. Alle Versuche, ihr irgendwie klarzumachen, dass das nicht meine Schuld gewesen war und mir auch furchtbar leid täte, scheiterten daran, dass in meinem Mund eine riesige Frühlingsrolle steckte. Ich war echt froh, dass ich aus diesem abartigen Witz von einem Albtraum irgendwann aufgewacht war, auch wenn ich mich jetzt stattdessen mit imaginären Haustieren herumschlagen musste. (Ich meine meinen Kater, falls ihr das nicht verstanden habt.)

 

 

Während das warme Wasser auf mich herab prasselte, wurde sowohl das Pochen hinter meinen Schläfen wie auch die Übelkeit ein bisschen besser. Leider fing dafür mein Gehirn an, seinen Dienst wieder aufzunehmen. Fuck, was hatte ich getan? Ich hatte Julius geküsst, einfach weil … weil es sich in dem Moment richtig angefühlt hatte. Weil ich ihn mochte. Sehr sogar. Und weil er nicht unbedingt hässlich war, wenn ich das mal so sagen darf. Er hatte ausdrucksstarke Augen, tolle Lippen, mit denen er echt super küssen konnte, und dass er auch eine sehr attraktive Kehrseite hatte, darüber mussten wir uns wohl nicht unterhalten. Aber Julius war mehr als nur eine hübsche Hülle. Er war nett, höflich, zuvorkommend. Ein richtiger Gentleman. Er hatte mich ausgeführt, zum Essen eingeladen, war mit mir tanzen gegangen. Ja, er hatte sich sogar dazu überreden lassen, meinetwegen das Gesetz zu brechen. Und ich hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als seine Gutmütigkeit auszunutzen und über ihn herzufallen. Ich war ein schlechter Mensch.

 

Frustriert lehnte ich mich an die Wand der Duschkabine und hätte am liebsten ein paar Mal mit dem Kopf dagegen geschlagen. Verdient hätte ich es. Ich war so dumm. Warum war ich nur immer so dumm? Es war …

 

„Guten Morgen, Schatz!“

 

Ich schreckte aus meinen Gedanken hoch und starrte den undeutlichen Schatten an, der vor der Duschkabine entlanglief.

 

„Entschuldige bitte, ich wollte nicht einfach so reinkommen, aber du hast nicht geantwortet, als ich geklopft habe, und ich brauche wirklich ganz dringend eine Kopfschmerztablette.“

 

„Ja, okay“, antwortete ich lahm und sah dem Schatten meiner Mutter beim wieder rausgeistern zu. Anscheinend war ich nicht der Einzige, der ein bisschen zu tief ins Glas geschaut hatte. Das konnte ja heiter werden. Vor allem weil ich nicht wollte, dass meine Mutter etwas davon mitbekam. Aber wenn ich mich jetzt mit ihr an den Frühstückstisch setzte, würde sie es rauskriegen. Bestimmt. Ich würde es ihr nämlich erzählen … von dem Essen, den Cocktails und schlussendlich auch von Julius und dem Kuss. Ich wusste es. Und gerade jetzt war ich dazu so überhaupt nicht bereit. So gar nicht. Aus diesem Grund blieb nur noch eine Möglichkeit und die hieß: Flucht.

 

Ich stahl mich also in mein Zimmer, zog mich an und war schon an der Tür, bevor meine Mutter überhaupt mitbekam, was los war.

 

„Hey, wo willst du denn hin?“, hörte ich sie fragen, während ich meine Schuhe anzog.

 

„Bin verabredet. Muss weg. Tut mir leid, Mama.“

„Verabredet? Aber mit wem denn?“

„Mit Anton.“

 

Ja, es war eine Lüge. Natürlich hatte ich keine Verabredung mit meinem besten Freund. Aber ich brauchte Zeit. Zeit weit weg von einer zum Plaudern aufgelegten und viel zu aufmerksamen Mutter, die mir womöglich mehr aus der Nase zog, als ich eigentlich wollte.

 

Ich schaute zu ihr hoch, wie sie da im Morgenrock in der Tür stand, noch die Reste eines schönen Abends im Gesicht, den sie bestimmt gehabt hatte. Ich war mir bewusst, dass ich gerade ein ganz fürchterlicher Sohn war, aber ich konnte gerade nicht. Wirklich nicht. Ich …

 

„Ich muss gehen. Bin eh schon spät dran.“

 

Sie wirkte ein wenig geknickt, rang sich aber ein Lächeln ab.

 

„Okay, Schatz, dann viel Spaß. Und ruf an, wenn es später wird.“

„Natürlich, Mama.“

 

Ich gab ihr noch einen Kuss auf die Wange, was ich sonst in tausend Jahren nicht gemacht hätte, aber ich hatte wirklich ein reichlich schlechtes Gewissen. Sie ruft bestimmt gleich Diana an, um ihr von ihrem Date zu erzählen, versuchte ich mir einzureden. Das war ohnehin viel besser, denn meine Schwester hatte von Beziehungen so viel mehr Ahnung als ich. Sollte man wenigstens annehmen bei den vielen Typen, die sie schon durchhatte. Und was da für welche dabei gewesen waren. Mein lieber Schwan.

 

 

Draußen schnappte ich mir mein Fahrrad und fuhr einfach los. Wohin genau, wusste ich nicht. Hauptsache weg. Ich legte lediglich einen kleinen Zwischenstopp beim Bäcker ein, der trotz des Feiertags geöffnet hatte, und kaufte mir eine Schokomilch. Danach fuhr ich in den Wald – den gleichen, in dem ich mich schon vor meinem Posaunenunterricht versteckt hatte – und setzte mich dort auf einen großen Stein, um die erste Hälfte der Flasche zu vernichten.

 

 

Um mich herum war nichts als Wald und Stille, wenn man mal vom Gesang der Vögel absah und einem nimmermüden Specht, der einen Stamm nach dem anderen auf der Suche nach Insekten bearbeitete. Die Maisonne beschien das üppige Blätterdach und sandte hier und da einzelne Strahlen durch Lücken im dichten Grün. Ein Stück weit unter mir verlief eine Zugstrecke, die diesen Teil des Waldes von dem auf der anderen Seite abtrennte. Wenn man hinüberwollte, musste man erst ein Stück an den Bahnschienen entlangfahren, bis man zu einer Überführung kam. Die Überführung war Teil des Wegs, den ich morgens nahm, wenn ich mit dem Rad zur Schule fuhr.

 

„Und was mach ich jetzt?“, fragte ich den Baum neben mir, der natürlich nicht antwortete. Wäre aber gut gewesen, wenn er das getan hätte. Ich hatte nämlich keinen blassen Schimmer. Einerseits wollte ich zu Julius. Ich wollte ihm sagen, dass … ach keine Ahnung. Was sollte ich ihm denn sagen? Dass es mir leidtat? Dass es ein Versehen gewesen war? Dass es nur am Alkohol gelegen hatte und dass er nicht befürchten musste, dass das nochmal vorkam? Das wäre sicherlich eine Möglichkeit gewesen, aber irgendwie war das auch nicht so ganz die Wahrheit. Denn soweit ich mich erinnerte, war es schön gewesen, und für einen Moment hatte ich sogar das Gefühl gehabt, dass Julius es auch gewollt hatte.

 

Aber was, wenn das eben nur ein kurzer Anflug von … was auch immer gewesen war. Ebenfalls der Situation geschuldet. Wenn er kurz schwach geworden war, nur um sich im nächsten Moment daran zu erinnern, wer ich war. Ein dummer Junge, ganze fünf Jahre jünger als er, naiv und blauäugig. Ein Küken, wie er es genannt hatte. Ein notgeiler Teenager, der sich bei der erstbesten Gelegenheit vollaufen ließ und ihm anschließend an die Wäsche ging. Damit hatte ich definitiv eine Grenze überschritten, die ich nicht hätte überschreiten dürfen. Mit anderen Worten: Ich hatte es voll verkackt.

 

Und jetzt? Was machte ich jetzt? Irgendwann würden wir unweigerlich aufeinandertreffen. Schließlich hatte ich nicht vor, mich jetzt für immer vor ihm zu verstecken, auch wenn mir diese Möglichkeit gerade echt attraktiv erschien. Natürlich würde ich mich bei ihm entschuldigen und ihm versprechen, dass das nie wieder vorkam, aber … würde ich mich daran halten können? Und würde er dieses Risiko überhaupt eingehen wollen? Was, wenn er jetzt lieber auf Abstand ging? Wenn er gestern festgestellt hatte, dass ich eben einfach doch noch zu unreif für ihn war? Oder wenn wir zwar weiter etwas zusammen unternahmen, aber es in Zukunft irgendwie anders war als vorher. Wenn wir anfangen würden, Umarmungen zu vermeiden und unser scherzhaftes Geplänkel einzustellen, damit so etwas nicht noch einmal passierte. Was dann? Würde ich das aushalten? Wollte ich das überhaupt?

 

„Ich muss es irgendwie wieder hinkriegen“, sagte ich zu dem Baum, der immer noch beherrlich schwieg. „Aber wie? Wie kittet man eine Freundschaft, die man mit seiner eigenen Dämlichkeit fast kaputtgemacht hat?“

 

Erneut sah ich zu dem Baum hinauf. Oben in der Krone regte sich etwas und auf einmal kam ein kleines, rotbraunes Tierchen den Stamm hinunter gehuscht. Es sah mich von oben mit dunklen Knopfaugen an und ich hob grüßend die Hand.

 

„Hey, Eichhörnchen.“

 

Das puschelige Vieh stieß einen warnenden Laut aus und war im nächsten Moment verschwunden. Na toll, nicht mal irgendwelche Nagetiere wollten sich mit mir abgeben. Ich war eben ein Arsch. Und hier im Wald verkriechen funktionierte nur halb so gut, wie ich gehofft hatte. Es gab einen Ort, an dem ich mich sonst sicher fühlte, aber da konnte ich heute auch nicht hin. Wobei ja vielleicht weniger der Ort wichtig war, sondern vielmehr die Person, die sich sonst noch dort befand. Ob er mir helfen konnte? Aber das würde heißen, dass ich ihm die ganze Geschichte erzählen musste inklusive aller Fakten. Auch die, die mich betrafen und die ich bisher geheim gehalten hatte.

 

„Ach scheiß drauf“, murmelte ich und rutschte von dem Stein herunter. „Bei irgendwem muss ich ja anfangen. Warum also nicht bei ihm? Viel schlimmer kann es ja nicht mehr werden.“

 

Entschlossen schwang ich mich auf mein Rad und trat kräftig in die Pedalen. Wenn ich mich beeilte, kam ich vielleicht noch vor dem Mittagessen an. Je schneller, desto besser. Sonst verließ mich am Ende noch mein Mut und das konnte ich einfach nicht riskieren. Ich würde das jetzt durchziehen.

 

 

Als ich am Haus von Familie Wischnewsky ankam, geriet ich kurz ins Trudeln. Immerhin war heute ein Feiertag, quasi ein Sonntag, und ich hatte meinen Besuch nicht angekündigt. Wenn ich uneingeladen das Grundstück betrat, würden sich möglicherweise irgendwelche Selbstschussanlagen aktivieren oder tollwütige Hunde losgelassen. Wobei letzteres eher unwahrscheinlich war. Immerhin war Anton gegen Hunde allergisch.

 

„Na los, nur keine Müdigkeit vorschützen“, trieb ich mich an und trat mich quasi selbst durch den peniblen Vorgarten auf die Haustür zu. Der Türgong erschien mir unwahrscheinlich laut in der feiertäglichen Stille.

 

Die Tür ging auf und ich blickte in das Gesicht von Antons Vater. Er sah mich an und schob seine Brille nach oben.

 

„Ja bitte?“, fragte er und war dabei nicht ganz so abweisend, wie ich befürchtet hatte.

 

„Guten Tag, Herr Wischnewsky“, grüßte ich artig. „Ich wollte zu Anton. Ist er da? Ich bin Benedikt, sein … Mitschüler.“

 

Ich wusste ja nicht, ob Anton das zwischen uns auch als Freundschaft definierte, aber dass wir zusammen zur Schule gingen war schließlich ein nicht widerlegbarer Fakt.

 

Antons Vater nickte kurz, bevor er doch tatsächlich die Treppe rauf nach seinem Sohn rief. Kurz darauf hörte ich Schritte und Anton kam an die Tür.

 

„Benedikt?“, fragte der einigermaßen erstaunt.

 

„Hi“, sagte ich und lächelte ein bisschen schief. „Ich hab da ein Problem und brauch deine Hilfe. Kann ich reinkommen?“

 

Anton musterte mich einen Augenblick lang, bevor er mir ein Zeichen gab einzutreten. Sein Vater, der anscheinend beschlossen hatte, dass sein Spross die Situation ohne weitere Schützenhilfe durchstehen konnte, verabschiedete sich von uns in sein Arbeitszimmer. Ich durchlief die üblichen Desinfektionsroutinen, bevor ich Anton nach oben folgte. Dort angekommen schloss er die Tür hinter mir und bot mir den Platz auf seinem Bett an, während er selbst sich auf seinem Schreibtischstuhl niederließ.

 

„Mit Straßenklamotten?“, fragte ich vorsichtshalber nach.

 

Anton schob seine Brille nach oben. „Es ist zwar richtig, dass an Kleidung, die einen Tag lang im alltäglichen Umfeld getragen wurde, eine Konzentration von etwa 72 verschiedenen Viren- und Bakterienkolonien nachweisbar ist, aber du siehst nicht aus, als wärst du schon so lange wach. Zudem bist du mit dem Fahrrad gekommen und nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Ich denke daher, dass ich das Risiko eingehen kann. Außerdem ist meine Mutter heute nicht zu Hause.“

 

Ich musste ein bisschen lächeln. Für Antons Verhältnisse war das vermutlich gerade so etwas wie eine Liebeserklärung gewesen. Immerhin machte ihm dieses blöde Asthma wirklich manchmal ganz schöne Probleme.

 

„Also?“, fragte er und schob seine Brille nach oben. „Was kann ich für dich tun?“

 

Mein Blick lag auf Antons Bettwäsche, während ich antwortete. „Ich … ich muss mal mit jemandem reden und ich dachte mir, dass du da vielleicht der geeignete Kandidat bist. Hoffe ich zumindest. Ich meine, wenn du was Besseres vorhast, ist das auch okay. Dann geh ich wieder.“

 

„Benedikt.“ Er klang ein bisschen ungeduldig.

 

Ich sah auf und in Antons Augen, die mir hinter der Brille leicht vergrößert erschienen. Das hieß vermutlich, dass er weitsichtig war. Ich hatte das inzwischen mal gegoogelt. Wenn er mal ne Freundin hatte, würde er die wohl mit Brille küssen müssen, damit er auch nicht die falsche erwischte. Oh man, Gehirn, bei der Sache bleiben. Los jetzt!

 

„Also ich … ich muss dir was sagen.“

„Ich höre?“

„Weißt du, die Sache ist die …“

 

Ach scheiße. Ich würde das jetzt einfach machen wie beim Pflaster abreißen. Augen zu und durch. Kein langes Drumherumgerede, das konnte Anton eh nicht leiden. Einfach nur die nackten Fakten auf den Tisch. Okay, vielleicht nicht ganz nackt, aber …

 

„Ich bin schwul.“

 

Zur Sicherheit hatte ich tatsächlich die Augen zugekniffen und wartete mit klopfendem Herzen darauf, dass er etwas sagte. Als eine Reaktion ausblieb, öffnete ich vorsichtig wieder ein Auge. Anton saß immer noch auf seinem Stuhl und sah mich an. Ohne zu blinzeln oder sonst irgendwas zu tun. Atmete er überhaupt noch? Ich war mir nicht sicher. Vielleicht war das mit dem Abreißen doch keine so gute Idee gewesen. Seine Mutter nahm für die Entfernung seiner extra sensitiven Pflaster vermutlich immer einen Lappen und warme Seifenlauge und löste sie ganz, ganz vorsichtig Stück für Stück von der Haut. Und ich? Ich versetzte ihm hier einfach mal eben so den Schock fürs Leben und jetzt war es tatsächlich passiert. Ich hatte Anton kaputtgemacht.

 

„Äh, willst du … willst du nicht mal was dazu sagen?“, fragte ich vorsichtig. Nur so für den Fall das vielleicht doch noch Reste von Lebenszeichen vorhanden waren.

 

„Warum sollte ich?“ Anton schien nicht im Mindesten beunruhigt.

 

Ich zuckte ein bisschen hilflos mit den Schultern. „Na weil ich dir gerade gesagt habe, dass ich auf Jungs stehe.“

 

Anton seufzte und setzte diesen Gesichtsausdruck auf, den er manchmal hatte, wenn ich etwas in der Schule nicht wusste, oder besser gesagt, wenn ich zu faul war darüber nachzudenken und stattdessen ihn fragte. (Kam aber wirklich nur ganz selten vor. Ich schwör!)

 

„Die Bekanntgabe dieser Tatsache allein versetzt mich noch nicht in die Lage, adäquat auf deine Aussage zu reagieren. Da du sicherlich nicht erst seit heute weißt, wie es um deine sexuelle Orientierung bestellt ist, nehme ich an, dass es einen Anlass gibt, aus dem du dich mir anvertraust. Ich warte daher auf den Rest der Geschichte. Wenn du dennoch eine Reaktion wünschst, so könnte ich dir eröffnen, dass ich bereits Kenntnis von deiner Homosexualität hatte.“

 

Jetzt war ich baff. „Du wusstest das?“

 

„Es war ziemlich offensichtlich.“

 

Offens…? Also da hörte sich doch echt alles auf. Ich machte hier voll den Hermann, damit niemand was merkte, und Anton wusste es bereits. Aber woher? Warum?

 

„Möchtest du eine vollständige Liste?“, fragte er zurück.

 

„Äh, nein danke. Ich muss das nur gerade erst mal verdauen.“

„Lass dir Zeit. Wenn du möchtest, kann ich derweil am Computer arbeiten. Diese Verhaltensweise scheint eine beruhigende Wirkung auf dich zu haben.“

 

Ich sah ihn an wie ein belämmerter Pudel. „Was? Wie kommst du denn darauf?“

 

„Immer, wenn du ein Problem hast, über das du mit niemandem reden willst, kommst du zu mir in die Bücherei. Ich habe mir daher angewöhnt, die Arbeit am Code für die Datenbank für diese Zeiten aufzusparen. Ich dachte mir, das wäre in deinem Sinne, auch wenn ich anders wesentlich effizienter gewesen wäre.“

 

Für einen Moment sagte ich einfach mal gar nichts. Das waren jetzt nämlich gerade wirklich ein paar Informationen zu viel. Nicht nur, dass mein allererstes Outing quasi keins war, da die Info für Anton schon eine olle Kamelle war, nein, er hatte auch noch den Rest meines Verhaltens zielsicher analysiert, obwohl nicht mal ich eine Ahnung gehabt hatte, warum ich das eigentlich tat. Das war gruselig. Und vielleicht genau das, was ich jetzt brauchte. Jemand, der menschliches Verhalten entschlüsseln, vor allem aber erklären konnte, ohne sich von irgendwelchen Gefühlen ablenken zu lassen.

 

Ich holte tief Luft. „Nachdem du die Grundlagen ja anscheinend bereits kennst, könnten wir da vielleicht in die Sphären der höheren Mathematik vordringen?“

 

Anton lächelte. „Natürlich. Was möchtest du wissen?“

 

Also fing ich an. Ich erzählte ihm, dass ich mich bereits ein paar Mal mit Julius getroffen hatte, dass wir uns gut verstanden und im Kino gewesen waren und was alles am Abend zuvor passiert war. Auch dass Julius mich zuerst zurückgeküsst, dann aber damit aufgehört hatte und was ich vermutete, woran das lag. Anton stellte hier und da einige Zwischenfragen, ließ mich ansonsten aber einfach reden. Als ich fertig war, sah ich ihn unglücklich an.

 

„Jetzt weiß ich nicht, was ich machen soll. Ich meine, ich mag Julius und wäre gerne weiter mit ihm befreundet, auch wenn … na ja. Ich mag ihn halt wirklich sehr. Und ich hab ein bisschen Angst, dass er mir jetzt entweder die Freundschaft kündigt oder es nochmal zu so einer Situation kommt.“

 

„Mhm“, machte Anton. „Es war zu erwarten, dass du ihn attraktiv findest. Er entspricht deinem bevorzugten Typ.“

 

„Was?“ Jetzt war ich also nicht nur schwul, sondern hatte zudem auch noch einen „ bevorzugtenTyp“? Das wurde ja immer besser.

 

„Aber Manuel war doch ganz anders“, protestierte ich, selbst wenn ich nicht leugnen konnte, dass „groß und blond“ durchaus auf mehr als einen Kerl zutraf, den ich schick fand.

 

Anton schob seine Brille nach oben. „Ich nehme an, dass dieser Manuel derjenige ist, dessen Nachrichten ich auf deinem Handy gesehen habe? Er war somit wohl auch der Grund, aus dem Mia-Marie fälschlicherweise angenommen hat, dass du mit einem Mädchen liiert wärst. Aufgrund der Tatsache, dass er dich geblockt hat und du von ihm in der Vergangenheit sprichst, vermute ich, dass ihr jetzt nicht mehr zusammen seid.“

 

„Äh ja.“ So langsam wurde Anton mir echt unheimlich. Derart intelligent zu sein, sollte verboten werden.

 

„Mhm“, machte er und musste anscheinend das erste Mal überlegen. Als er damit fertig war, runzelte er die Stirn.

 

„Wie hat Julius darauf reagiert, dass du einen Freund hattest?“

 

Ich blies die Backen auf. „Wie Julius reagiert hat? Uff, keine Ahnung. Also er mochte Manuel nicht besonders, weil … na ja. Der Typ war ein ziemlicher Arsch, muss ich leider zugeben. Julius hat das wohl geahnt und wollte mich warnen, aber …“

 

„Woran hat er das festgemacht?“

„Was?“

„Dass dieser Manuel 'ein Arsch war', wie du es ausdrückst.“

 

Mir wurde schlagartig ein bisschen warm. Solche Details konnte ich Anton doch nicht anvertrauen. Oder doch? Immerhin war mit ihm zu reden ungefähr so wie mit einem Arzt. Oder einem Anwalt.

 

„Na ja, ich hab Julius vielleicht so ein ganz kleines bisschen von Manuel und mir erzählt.“

„Und wie hat er reagiert.“

„Eigentlich hat er immer gesagt, er freut sich für mich, aber manchmal da war er ganz komisch. Meistens wenn es um … Sex ging. Wahrscheinlich ist er einfach ein bisschen prüde.“

„Warum hast du ihm dann davon erzählt?“

„Na weil … weil er der Einzige war, dem ich davon erzählen konnte. Außerdem hat er danach gefragt.“

„Und was denkst du, warum er das getan hat?“

„Weil …“

 

Ich stockte. Eigentlich schien die Frage nicht so schwer zu beantworten, aber jetzt, wo ich darüber nachdachte, wusste ich es nicht so recht. Warum hatte sich Julius so für Manuel interessiert? Oder für Theo? Und warum war er manchmal so ungehalten gewesen?

 

Anton seufzte. Es war ein Corinna-Seufzen.

 

„Du sagst doch selbst, dass Julius dieses aggressive Verhalten nur gezeigt hat, wenn es um das unleugbare Vorhandensein eines alternativen Sexualpartners ging. Ist dir mal in den Sinn gekommen, dass er vielleicht eifersüchtig sein könnte?“

„Eifersüchtig? Julius?“

 

Ich schüttelte den Kopf. Anton ebenfalls, auch wenn das bei ihm wohl andere Gründe hatte.

 

„Ich kenne Julius ja nicht so besonders gut", sagte er, „aber ich weiß, dass er sehr zurückhaltend und zuweilen auch etwas unsicher ist. Er würde sich nie jemandem aufdrängen, was vielleicht auch an seinen Erfahrungen liegt. Wenn er so aus sich herausgeht, um auf dich zuzukommen, muss er dich sehr gerne mögen.“

„Aber er hat doch nie …“

„Vielleicht, weil du vergeben warst?“

„Oh.“

 

Ich ließ mir das Ganze ein bisschen durch den Kopf gehen, bis ich zu einem Punkt kam, der nicht so ganz in die Sache zu passen schien.

 

„Aber wenn Julius, wie du sagst, etwas für mich empfindet, warum hat er mir das dann gestern nicht gesagt, als er wusste, dass ich … frei bin.“

 

Und zwar von mehr als einer Liebschaft.

 

„Vielleicht wollte er erst herausfinden, ob du auch etwas für ihn empfindest, bevor er dir seine Gefühle offenbart. Oder er hat auf den richtigen Moment gewartet. Eine romantische Abschiedsszene nach einem gemeinsam verbrachten Abend etwa.“

 

Antons Vermutungen waren so passend zur Realität, dass es mir glatt einen Schauer über den Rücken jagte. Etwas daran verstand ich jedoch immer noch nicht.

 

„Aber wenn das alles so war, warum hat er dann nicht … also … als wir uns geküsst haben. Warum ist er da dann trotzdem gegangen?“

 

Anton hob die Schultern. „Ich nehme an, dass er dir in deinem Zustand kein rechtsgültiges Urteil zugetraut hat. Wahrscheinlich wollte er, dass du dich im Vollbesitz deiner geistigen Kräfte für ihn entscheidest, damit du es dir nicht am nächsten Morgen anders überlegst. Diese Erfahrung musste er ja schon einmal in ähnlicher Form machen.“

„Aber warum …“

 

Anton unterbrach mich mit einer entschiedenen Geste. „Meinst du nicht, dass du all diese Fragen besser Julius stellen solltest?“

 

Ich klappte meinen Mund wieder zu und starrte für einen Augenblick ins Leere. Anton hatte, wie schon mit allem zuvor, vollkommen recht. Ich musste mit Julius reden und zwar auf der Stelle. Sofort. Oder ich würde tot umfallen.

 

Wild entschlossen sprang ich auf. „Du hast recht. Ich muss zu Julius gehen und ihn fragen, ob er in mich verliebt ist.“

 

Anton sah mich ein wenig tadelnd an. „Das habe ich so nicht gesagt. Ich habe nur gesagt, dass die Möglichkeit besteht.“

 

„Aber es spricht doch alles dafür. Ich verstehe nicht, wie ich so blind sein konnte.“

 

Anton verzog den Mund zu einem vage spöttischen Ausdruck. „Ich habe gelesen, dass Liebe manchmal zu nicht unerheblichen Sinnestrübungen führen soll.“

 

Ein bisschen überheblich grinste ich ihn an. „Du liest zu viel. Am besten probierst du es selbst mal aus.“

 

Anton schob noch einmal seine Brille nach oben. „Nach dem, was du mir gerade berichtet hast, denke ich, dass ich fürs Erste Abstand davon nehmen werde. Du hast nun wirklich genug Drama für uns beide in deinem Leben.“

 

Ich lachte und dann … dann trat ich auf Anton zu und schlang meine Arme um ihn zu einer mehr als merkwürdigen Umarmung. Immerhin saß er immer noch auf dem Stuhl, während ich … ach lassen wir das. Ihr könnt es euch vorstellen, ja? Ich habe jetzt nämlich keine Zeit mehr, euch noch lange zu erzählen, wie ich mich von einem etwas verdatterten Anton verabschiedete, um dann wie eine angestochene Hummel auf meinem Rad durch die Stadt zu rasen. Ich musste zu Julius. Zum wunderbaren, aber so was von dummen Julius. Wobei er ja nicht der einzige Dummkopf in dieser Geschichte war. Ich kannte da nämlich jemanden, der in dieser Beziehung ganz wunderbar zu ihm passte. Und vielleicht nicht nur in dieser. Jetzt musste ich nur noch herausfinden, ob er das genauso sah.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  z1ck3
2020-07-25T10:41:23+00:00 25.07.2020 12:41
So, woher kriegt man so einen Anton? Ich brauch den. Der soll mich 24/7 begleiten und mir menschliches Verhalten aufschlüsseln!!
Antwort von:  Maginisha
25.07.2020 14:42
Ja, so ein Anton wären in mancher Situation sicherlich hilfreich. Ich hätte auch gerne einen. ;)
Von:  KaffeeFee
2020-07-25T10:22:09+00:00 25.07.2020 12:22
Gnarf... ich war soooo gespannt auf das Gespräch mit Julius und was machst du? Mich bis zum nächsten Kapitel zappeln lassen! Ich hoffe zumindest aufs nächste Kapitel! Wer weiß, was Benefikt da noch alleszwischen kommen könnte... nen Theo oder so... wehe!☝️

Der Anfang war super! Ich musste echt mehrmals laut lachen und giggelte dann weiter xD
Anton erinnert mich an einen menschlichen Sheldon... analytisch aber der zwischenmenschlich Interaktion fähig. Ich mag Anton. Auch seine trockene Analyse. Hätte nur gerne mal einen Blick auf die Liste der Fakten geworfen 😉
Jetzt aber schnell zu Julius! Uuhhh was bin ich neugierig!

Bis dahin, koffeeinhaltige Grüße, die KaffeeFee ☕☕
Antwort von:  Maginisha
25.07.2020 14:44
Ach, ich hatte mich doch schon so auf die Szene gefreut, von daher musst du da jetzt leider durch. Zumal es das Gespräch mit Julius unter Umständen weniger umständlich macht. ;)

Ich muss bei Anton eigentlich immer eher an Data denken. :D

Ich verspreche aber an dieser Stelle, dass kein Unfall oder Theo dazwischen kommt, bevor Benedikt und Julius miteinander reden. :P

Zauberhafte Grüße
Mag
Von:  Snowprinces
2020-07-25T05:29:29+00:00 25.07.2020 07:29
hey tolle Geschichte
schreibst du bitte das nächste Kapitel ich bin so neugierig was aus den beiden wird das wäre Mega lieb von dir

lieben Gruß da lass
Antwort von:  Maginisha
25.07.2020 08:01
Hey Snowprinces!

Das nächste Kapitel kommt natürlich. Ich breche niemals Geschichten ab. ;)

Zauberhafte Grüße
Mag


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