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Kontrolle

Urban Fantasy Thriller
von

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Chancen

Pakhet wusste, dass mit jeder vergangenen Stunde, mit jeder neuen Verletzung ihre Chancen zu fliehen schwanden. Sie würde hier sterben, wenn sie nicht bald entkam. Selbst jetzt waren ihre Gedanken schwergängig. Ihr Kopf schmerzte. Würde sie überhaupt allein stehen können? Sie war sich nicht sicher. Dennoch: Sie konnte hier nicht sterben. Sie musste entkommen. Sie würde sich nicht von so einem Arsch töten lassen. Nicht so. Sie konnte nicht die Kontrolle verlieren.

Dabei hatte sie diese in Wahrheit bereits schon lange verloren.

Sie wusste nicht einmal mehr, wie lang sie schon hier war. Immer wieder hatte Li ihr Drogen gegeben. Irgendetwas, das er in ihre Nase gesprüht hatte und das ihre Gedanken hatte wirr werden lassen. Selbst jetzt war es noch, als säße sie auf der Rückbank in ihrem eigenen Kopf, während jemand anderes die Kontrolle hatte.

Jemand, der weinte, der Li anflehte, sie zu lassen, während er wieder nicht von ihr abließ.

Wie lange ging das schon so? Da die Jalousien heruntergelassen waren, hatte sie die Zeit nur schätzen können und selbst das fiel zwischen Drogen und Schmerzen schwer. Es mussten mindestens zwei Tage sein, selbst wenn es sich wie mehrere Wochen anfühlte.

Wieder vergewaltigte er sie und sie konnte nichts tun. Gar nichts. Sie war eingesperrt in ihrem Kopf, während jemand anderes die Kontrolle über ihren Körper hatte. Dass sie überhaupt wach war, dass sie selbst überhaupt dachte, war neu. Alles war so fern. Der einzige Vorteil an der Droge. Mit ihr waren die Schmerzen weit von ihrem eigentlichen Geist entfernt. Doch war es ihr eigentlicher Geist, der mehr und mehr den Halt verlor.

Sie musste hier raus.

Sie musste …

Wieder ließ er sie zurück. Er hatte sie seit mindestens einem Tag mit den Fesseln an der Decke fest gemacht. Ein Seil schnitt permanent in ihren Hals – jedoch nicht genug, um ihr ganz Blut und Atem abzuschnüren. Das wäre zu einfach.

Sie blutete. Sie wusste, dass sie blutete. Da waren mehrere Wunden. Zu viele. Wie lange würde es dauern, bis sie starb?

Zumindest hatte er ihr Essen und Trinken gegeben. Selbst wenn sie immer weniger bei sich behalten konnte. Es war letzten Endes nur eine Geste von ihm, um ihr Leiden zu verlängern. Dennoch nahm sie es an. Ohne fehlte ihr die Energie. Ohne würde sie nicht entkommen.

Sie musste entkommen.

Zeit verging. Sie war nicht allein. Immer war da jemand, beobachtete sie. Manchmal mehrere. Manchmal sprachen sie. Manchmal folterten sie sie. Da war auch eine Kamera. Sie filmten das hier. Als Abschreckung? Oder um sich daran aufzugeilen.

Nein. Nein. Nein. Sie wollte so nicht enden. Sie durfte so nicht enden.

Sie musste entkommen.

Sie wollte nicht weinen. Doch sie hatte keine Kontrolle. Das war nicht sie. Sie selbst war kaum mehr als ein kleiner Funke im Hinterkopf, der darauf wartete, dass die Wirkung der Droge nachließ.

Wie lange noch? Wie lange konnte sie noch überleben?

Aktuell war da ein recht muskulöser Mann im Raum. Er saß auf dem Sofa, rauchte. Er schien abgelenkt zu sein, doch das brachte ihr nichts. Sie war komplett gefesselt. Es gab nichts, was sie tun konnte, um zu entkommen.

Wenigstens hörte das, was auch immer sie kontrollierte, mit dem Weinen auf. Wenigstens das.

Sie hing da nur. Stumm. Still. Ausgeliefert. Wenn sie nur schlafen könnte. Doch was, wenn sie nicht mehr aufwachte?

Zeit verging. Der Typ kam zu ihr rüber, drückte die Zigarette an ihrer Schulter aus. Das hatten sie so oft getan. Sie sagte nichts. Sie rührte sich nicht. Sie konnte ihnen nicht die Genugtuung geben.

Moment. Das hieß, sie kam langsam wieder in die Kontrolle über den Körper. Das musste heißen die Wirkung ließ nach. Gut. Oder auch nicht. Denn es hieß auch die Schmerzen würden nach und nach zurückkehren.

Tatsächlich taten sie es. Und es waren so viele Schmerzen. Die blauen Flecken, die ihren Körper bedeckten. Die zwei Beulen, an ihrem Kopf. Da waren die Brandwunden, die angebrochenen Rippen. Schnitte. Und was auch immer in ihrem Inneren gerissen war.

Unter ihr hatte sich ein kleiner Pool aus Blut, aber auch anderen Körperflüssigkeiten gebildet.

Raus. Sie musste raus.

Die Tür wurde geöffnet. Aber es war nicht Li. Stattdessen wieder die Frau, die Pakhet ursprünglich für Lis Bodyguard gehalten hatte. Doch was auch immer sie war: Es war mehr als nur das. Denn auch wenn sie vor Li duckte, so hatten die anderen Respekt vor ihr. Ja, sie schienen sie beinahe zu fürchten. Pakhet hätte es nicht gewundert, wenn sie auch in irgendeiner Form magisch gewesen wäre. Mehr als ein einfacher Mensch.

Mit flötender Stimme sagte die Frau etwas zu Pakhets Wache. Sie trug ein Kleid, war fein herausgeputzt wie die ganze Zeit schon. Da sollte man meinen, dass die Leute schlechtere Dinge anzogen, wenn sie jemanden foltern wollten.

Die Frau wechselte ein paar Worte mit dem Wächter, ehe sie zu Pakhet hinüberstolzierte.

„Lebst du noch, Gweimui?“, fragte sie und sah ihr ins Gesicht. Da war eine kaum unterdrückte Freude in ihrem Blick. Was auch immer sie daran so spannend fand.

Verdammt. Pakhet fiel es schwer zu sprechen. Sie wollte etwas erwidern, wollte etwas sagen, doch das Seil, dass gegen ihre ohnehin raue Kehle drückte, schnürte ihr die Worte ab. Dennoch bemühte sie sich, soweit möglich, um einen widerspenstigen Blick, durch das nicht zugeschwollene Auge.

„Du hältst länger durch, als viele andere.“ Die Frau drehte sich zum Tisch, nahm den Taser, der ihr die meiste Freude zu bereiten schien. „Wir haben gewettet, weißt du?“

Pakhet schwieg. Sie schloss die Augen, erwartete den neuen Schmerz. Was konnte sie nur tun? Sie würden sie nicht losmachen, solange sie lebte, oder?

Ihr Körper zitterte, als die Frau die Kontakte des Tasers gegen ihren Bauch drückte. Für einen Moment schwanden ihr die Sinne, doch es war nicht mehr als ein Moment. Wahrscheinlich hatten sie das Gerät extra so eingestellt.

Pakhet atmete schwer. Sie würde es echt nicht viel länger ertragen können.

Jetzt betrachtete die Frau sie enttäuscht. „Mit Drogen machst du mehr Spaß“, murmelte sie und seufzte. „Schrei wenigstens mal.“

Pakhet fiel es schwer sie durch den dichten Dialekt hindurch zu verstehen. Letzten Endes war es eh egal. Sie würde nicht antworten. Das Weib verdiente keine Antwort. Sie war genau so sadistisch wie Li. Wahrscheinlich war sie nur eine der Personen, die sich hinter jemanden Mächtigen versteckten, der es ihnen erlaubte, ihre Fantasien, ihre Gelüste auszuleben.

Scheiße. Es war echt egal.

Sie kam hier nicht raus. Nicht lebend.

„Hast du nicht gehört, Gweimui?“, schnauzte die Frau jetzt. „Du bist langweilig.“ Wieder ratterte der Taser, ehe sie ihn gegen Pakhets Unterleib rammte.

Der Schmerz schoss durch Pakhets Körper und doch gab sie nicht mehr als ein leises Stöhnen von sich. Sie zog die Beine unterbewusst an oder versuchte es zumindest, doch waren auch diese gefesselt und an den Boden gebunden.

Verdammt.

Sie konnte wirklich nichts machen. Außer zu hoffen …

Nein. Es gab etwas. Es gab etwas, das funktionieren konnte. Und selbst wenn nicht hatte sie nicht mehr viel zu verlieren.

Wieder sah sie die Frau an, soweit ihre Augen es ihr noch erlaubten. So gut sie konnte, leckte sie sich über die Lippen. Sie schluckte, versuchte sich zu beherrschen, bemühte sich ein einzelnes Wort über ihre Lippen zu bringen.

„Was war das?“, zischte die Frau und beugte sich vor.

Pakhet holte tief Luft. „Bitch“, hauchte sie dann.

Das Wort hatte die erhoffte Wirkung. Wut funkelte in den Augen der Frau aus. „Wie lange willst du dich noch wehren?“

Pakhet antwortete nicht, fixierte sie nur mit ihrem Blick.

„Du …“ Sie fluchte auf Chinesisch, ehe sie das Gerät in ihrer Hand wieder anschaltete. Nur kurz traf es auf Pakhets Haut, ehe sie es wegzog, nur um eine Sekunde später wieder zuzustoßen. Dann wieder. Erst beim vierten Kontakt ließ sie es länger liegen.

Das Zittern lief durch Pakhets Körper, ließ sie keuchen. Die Muskulatur in ihrem Körper verkrampfte sich, ließ sie unkontrolliert zittern. Es gab nichts was sie dagegen tun konnte, doch spielte sie dieses Mal mit. Mit all ihrer Macht brachte sie sich dazu einen übertrieben langezogenes Keuchen hören zu lassen. Mit all ihrer Macht klammerte sie sich an ihr Bewusstsein. Sie musste genug behalten, als dass sie überzeugend spielen konnte.

Trotz der Schmerzen, trotz des Zitterns versuchte sie irgendwie bei sich zu bleiben, bis die Frau endlich den Taser sinken ließ.

Ruhe. Pakhet brauchte Ruhe. Sie ließ die Augen geschlossen, versuchte sich zu kontrollieren. Es war schwer. Der Schmerz bohrte sich von zu vielen Stellen wie ein glühender Nagel in ihren Geist. Aber es war die einzige Chance. Die einzige Chance. Denn wenn sie starb, würden sie irgendetwas machen, oder?

Also atmete sie hörbar ein. Krächzend. Keuchend. Röchelnd. Sie bemühte sich so viel Sauerstoff wie möglich zu speichern, ehe sie ebenso übertrieben ausatmete. Sie hatte diesen Atemzug oft genug gehört. Den letzten Atemzug, den ein Mensch nahm. Das seltsame letzte Entweichen der Luft.

Sie sammelte ihre Energie, konzentrierte sie nur auf zwei Dinge: Darauf irgendwie ohne die Luft bei Bewusstsein zu bleiben. Darauf ihren Herzschlag so weit möglich langsamer werden zu lassen. Das hatte sie nie versucht, doch es musste irgendwie funktionieren. Ihre Energie war ein warmes Kribbeln in ihrem Körper, dass sie mit ausreichend Konzentration bewegen konnte. Und jetzt bewegte sie es zu ihrem Herzen, in ihre Brust, nutzte sie, um dort zuzudrücken.

„Na, was sagst du jetzt?“, zischte die Frau.

Natürlich sagte Pakhet nichts.

„Hey“, rief die Frau.

Es war nicht überraschend, dass der Taser erneut die Haut traf. Es brauchte so viel Konzentration, so viel Willen – mehr als sie eigentlich haben sollte – nicht die Luft einzuziehen, als ihre Muskeln erneut zu zittern begannen.

Dieses Mal war der Kontakt nicht lange. Die Frau wirkte verwirrt. Pakhet konnte ihre Schritte hören. Sie stolperte zurück.

„Hey“, rief die Frau noch einmal aus. Mit der freien Hand versetzte sie ihr eine Ohrfeige.

Ein Rascheln. Der Mann stand auf. Er kam zu ihr hinüber, sagte etwas auf Mandarin. Sorge klang aus seiner Stimme heraus.

Die Frau protestierte. Ihre Schritte waren weiter unsicher, als sie rückwärts stolperte.

Jetzt war der Mann bei ihnen. Er hielt eine Hand vor Pakhets Mund, wollte ihren Atem spüren. Nach einigen Sekunden tastete er nach ihrem Hals, ihren Puls. Er wartete – wartete so endlos lange. Dann wandte er sich wieder der Frau an.

Pakhet erlaubte sich einen knappen, flachen Atemzug, der hoffentlich unbemerkt blieb.

Der Mann klang ängstlich, beinahe panisch, als er mit der Frau sprach.

Sie wiederum fluchte.

Pakhet hörte das Wort Gweimui erneut heraus.

Wenn sie richtig lag, hatte Li angeordnet, dass sie am Leben bleiben musste. Er hatte sie wahrscheinlich selbst töten wollen.

Die beiden diskutierten.

Dann wandte sich die Frau ihr zu, tastete selbst nach Pakhets Puls. Ihre Hand war angespannt. Ja, sie war wirklich panisch. Panisch und wütend.

Eine weitere kurze Diskussion, dann wurde etwas von dem Tisch genommen.

Innerlich flehte Pakhet, dass sie das taten, was sie hoffte. Mit der Panik hatte sie nicht gerechnet, doch es gab ihr vielleicht einen Vorteil. Wer panisch war, machte eher Fehler.

Tatsächlich. Jetzt lief die Frau zur Wand, machte das andere Ende des Seils los, das Pakhet aufrecht hielt. Sie würden sie losmachen, wahrscheinlich in einem Versuch sie wiederzubeleben. Gut. Ausgezeichnet.

Ein kurzer, weiterer Atemzug, gerade genug, um etwas Sauerstoff aufzufüllen. Tatsächlich war der Mann recht vorsichtig, als er sie zu Boden ließ. Wahrscheinlich wollte er verhindern, dass sie ihr das Genick brachen und damit Wiederbelebung ziemlich unmöglich machten.

Die Frau war auch da, befreite die Beine von den Fesseln am Boden. Gut. Das lief besser, als gedacht.

Ha. Offenbar hatte einer von beiden zumindest formale erste Hilfe gelernt. Es war nahezu lächerlich, dass sie es offenbar wirklich versuchten. Jedenfalls zog die Frau einen Stuhl hinüber, versuchte Pakhets Beine draufzulegen.

Jetzt war der Mann da. Es folgte wieder eine Diskussion. Offenbar waren sie einander nicht einig. Lis Titel fiel. Ob die beiden wohl Angst hatten in derselben Situation zu enden? Von der Decke baumelnd?

Letzten Endes gab der Mann trotzig klingende Worte von sich, schnitt das Seil an Pakhets Hals, dann die an ihrer Brust durch. Es lockerte ihren Arm ein wenig. Genug?

Noch einmal fühlte er ihren Puls, fluchte wieder.

Pakhet bewegte vorsichtig ihre Hand. Ja, etwas Bewegung war da. Ihre Hand fühlte sich so taub an. Aber zumindest hatte er sie nicht gebrochen. Offenbar hatten sie sie nicht wieder bekämpfen wollen, hatten die Fesseln daher die ganze Zeit nicht gelöst.

Jetzt legte der Mann die Hände über ihre Brust, drückte zu. Großartig. Dabei waren ihre Rippen mindestens angebrochen. Doch zumindest gab es damit einen Grund für ihn sie weiter loszumachen. Denn der Arm hinter ihrem Rücken reichte, als dass ihr Körper sich mit seinen Bewegungen bewegte.

Er hielt inne. Wahrscheinlich griff er nach dem Messer.

Die Frau sagte etwas. Ihre Stimme war warnend. Gut. Ja. Er würde sie losmachen. Er würde ihre Fesseln lösen. Worauf wartete er noch?

Den Geräuschen nach rangelten die Beiden ein wenig, doch letzten Endes wurde die Stimme des Mannes lauter und er riss sich los. Er durchschnitt das Seil an Pakhets Oberarm. Alle drei Schichten, um ihren Arm neben den Körper zu ziehen.

Gut.

Sie lenkte die Energie um, leitete sie in den Arm. Nach der Zeit so gefesselt war es schwer, die Muskeln zu kontrollieren, doch jetzt mussten sie ihr gehorchen. Nur kurz, doch sie brauchte volle Kontrolle. Und so leitete sie die Energie in ihre Muskeln, in ihre Sehnen, in ihre Nerven, hatte so etwas wie Gefühl in dem Arm. Schmerzen, ja, aber sie konnte sich beherrschen.

Tief zog sie die Luft ein, ehe sie die Augen öffnete. Da. Er hatte das Messer in seiner Hand. Gut. Ausgezeichnet. Bevor sie bemerkt hatten, dass die vermeintliche Leiche weniger tot war, zog sie die Beine an, griff nach seinem Handgelenk und trat gegen seinen Unterarm.

Ein unschönes Knacken erklang, dann hielt sie das Messer in der Hand.

Er schrie auf, während sie sich zittrig bemühte, die Beine unter sich zu bringen. Nur kurz. Nur kurz

Sie stieß das Messer in seine Kehle, schnitt sie ihm durch und damit seinen Schrei ab.

Die Frau rief etwas auf Mandarin, doch hatte sie einen Fehler gemacht: Sie hatte den Taser abgelegt. Pakhet ließ das Messer fallen, warf nur einen kurzen Blick darauf. Ja, da war ein Regler. Bestens. Sie stellte ihn höher, schlug damit nach der Frau. Doch wie vorher zeigte sie, dass sie wusste, was sie tat. Sie war Kämpferin. Allerdings hatte ein Taser einen Vorteil: Eine Berührung genügte. Und so drehte Pakhet den Taser. Kurz kämpften sie, aber dann schaffte es Pakhet den Taser gegen den Oberschenkel der Frau zu drücken. Sie kreischte kurz, zitterte, verkrampfte sich. Gut.

Pakhet ließ den Taser sinken und griff nach dem Messer, um es in den Bauch der Frau zu rammen. Sie dachte nicht wirklich darüber nach. Es gab nur eine Sache, die wichtig war: Sie musste hier heraus.

Die Schreie hatte wahrscheinlich jemand gehört. Selbst wenn sie vermutete, dass der Raum gegen Geräusche leicht isoliert war. Wahrscheinlich waren da draußen irgendwo Leute. Diese sollten besser nicht hierher kommen.

Sie sah sich um. Jetzt was?

Ihr Körper schmerzte. Dennoch zog sie das Messer aus dem Bauch der Frau und schnitt die Fesseln, die ihre Fußgelenke aneinanderhielt damit auf. Dann Egal wie sehr es weh tat: Sie kämpfte sich auf die Beine, schaute zur Tür hinüber.

Irgendwas um diese zu versperren …

Dankbarerweise öffnete sie sich nach innen. Der Tisch. Der Tisch könnte funktionieren.

Sie musste den Schmerz ignorieren. Nur etwas. So kämpfte sie sich zum Tisch hinüber und schob ihn. Ihr Kopf pochte und immer wieder bildeten sich dunkle Flecken in ihrem Blickfeld. Aber verdammt. Sie durfte sich nicht aufhalten lassen. Das hier war die beste Chance. Und so stellte sie den Tisch vor die Tür.

Was draußen wohl gerade los war? Sie musste irrsinniges Glück gehabt haben, dass soweit niemand da war. Vielleicht hatte es doch niemand gehört.

Und jetzt?`

Raus.

Es gab nur eine Methode. Die Fenster.

Also gut. Jalousien waren dafür gemacht mit zwei Händen geöffnet zu werden, nicht mit einer halb tauben Hand. Dennoch kämpfte sie das Rollo weit genug auf, als dass sie hindurchpassen würde.

Sie sah hinaus. Es war Nacht. Die wievielte Nacht auch immer.

Doch das war nicht das Problem. Das größere Problem war, dass sie in einem oberen Stock war. Zehnter, elfter, zwölfter Stock. Es ging ein ganzes Stück in die Tiefe.

Scheiße.

Aber es war egal. Es musste egal sein. Besser in der Tiefe sterben, als hier. Sie brauchte die Kontrolle. Und vielleicht … sie war magisch. Sie hatte Möglichkeiten. Sie hätte mehr, würde ihr Körper nicht so schmerzen.

Sie sah an sich hinüber. So viele Wunden. Blut lief zwischen ihren Beinen hinab. Wahrscheinlich aus ihrer Vagina. Li hatte nicht lang gebraucht, um zu merken, dass er damit die meisten Reaktionen von ihr bekam. Er war ein kranker Bastard. Fakt war: Sie hatte zu viel Blut verloren und wenn sie den dumpfen Schmerz in ihrem Bauchraum richtig deutete, waren da auch innere Blutungen. Vielleicht ihre Nieren. Vielleicht ihre Eierstöcke …

Sie würde sterben, wenn sie nicht schnell Hilfe bekam.

Hilfe, die nicht in einem Krankenhaus sein durfte. Einmal davon abgesehen, dass sie nicht sicher war, ob Li sie dort finden konnte … was auch immer es war, sie würden es entfernen. Das war, wie menschliche Ärzte damit umgingen.

Nein. Nein. Falscher Ansatz! Sie musste erst hieraus kommen.

Sie brauchte Kleidung. So nackt würde sie auffallen, würde man sie festnehmen. Kleidung.

Sie wandte sich zu den beiden um. Seine Kleidung wäre etwas passend, vielleicht etwas klein. Es würde reichen. Für den Moment würde es reichen.

So rasch sie konnte, zog sie ihm das Hemd aus. Es war Blutdurchtränkt, doch das konnte sie im Moment nicht ändern. Wenigstens fand sie in seinen Taschen ein Portemonnaie, gefüllt mit einigen Yuan-Scheinen. Gut. Es würde ihr helfen.

Vielleicht auch die Frau?

Erst einmal schlüpfte Pakhet in Hemd und Hose des Mannes. Seine Schuhe konnte sie vergessen.

Jemand rüttelte an der Tür.

Scheiße.

Ein Ruf von draußen.

Pakhet schnappte sich die Handtasche der Frau, schaute hindurch. Ja. Auch etwas Geld. Gut. Wenigstens etwas.

Sie atmete durch, ging zum Fenster. Eine Waffe mitzunehmen machte keinen Sinn. Sie würde aktuell kaum kämpfen können. Dann öffnete sie das Fenster, lehnte sich hinaus. Sie war im zweitobersten Stockwerk. Ob sie es schaffen konnte das Dach zu erreichen? Aber was von da?

Nein. Sie brauchte einen anderen Plan.

Es sei denn …

Da über ihr war das Ende eines Krans. Ja. Eventuell konnte sie das als Brücke benutzen.

Aber was dann?

Egal. Erst dahin kommen.

Sie zog die Jalousien gänzlich hoch. Ihre Beine zitterten vor Schwäche, aber das durfte nicht sein. Sie wollte nicht sterben. Nicht so. Nicht …

Mühsam kämpfte sie sich auf die Fensterbank, bemüht sich mit dem noch immer halbtauben Arm zu balancieren. Dann sammelte sie die Energie. Ob sie überhaupt reichen konnte? Wäre sie wenigstens ein Blutmagier …

Aber so hatte sie keine Möglichkeit, als zu hoffen. Was war schon das schlimmste, was passieren konnte?

Sie schloss die Augen, ging in die Hocke und stieß sich ab.

Ihre Energie, die Magie in ihren Muskeln katapultierte sie gut drei Meter empor. Ja, es reichte gerade. Sie streckte die Hand auf, stöhnte, als ihr Gewicht an dem einen Arm hing.

Sie würde nicht aufgeben. Sie würde nicht loslassen. Sie würde das hier überleben. Irgendwie.

Wie sie es schaffte wusste sie nicht genau, doch am Ende zog sie sich aufs Dach, blieb für einen Moment liegen, verschnaufte. Smog und Lichtverschmutzung sorgten dafür, dass die Sterne nicht zu sehen waren.

Dann kämpfte sie sich auf die Beine.

Stimmen erklangen von unten. Schreie. Rufe. Sie suchten nach ihr. Bald würden sie die ganze Gegend absuchen. Spätestens wenn sie ihre Leiche nicht fanden.

Das Dach war mit Schotter belegt, der unsanft in ihre Fußsohlen drückte, als sie das Dach entlang Richtung Kran humpelte. Dieser stand nur knappe zehn Meter oder so vom Haus entfernt. Das konnte sie schaffen. Sie musste es einfach schaffen. Es brachte sie zumindest auf die andere Seite des Hauses. Da hinten war der Fluss. Dahinter ein anderer Distrikt.

Was würde man wohl sagen, wenn sie so ein Taxi rief?

Blieb ihr eine andere Wahl?

Sie schaffte es zu Fuß nicht zum Hotel. Nicht so. Sie hatte nicht genug Zeit. Selbst mit dem Taxi war es schwer. Doch wen hatte sie, den sie hier fragen konnte? Tenzien war entweder tot oder ein Verräter. Sonst kannte sie niemanden hier. Sie brauchte Michael und Michael konnte sie nur von ihrem Handy aus erreichen.

Also nahm sie Anlauf, rannte, sprang, schlug unsanft gegen das Metall des Krans. Zumindest war sie weit genug gewesen. Doch sie rutschte ab, klammerte sich nur mühselig fest. Die schwarzen Flecken vor ihren Augen breiteten sich aus.

Sie schloss die Augen, während sie sich an das kühle Metall klammerte. Sie durfte nicht loslassen. Sie wollte nicht sterben, verdammt … Sie wollte nicht sterben. Nicht hier. Nicht jetzt. Nicht bevor sie … ja, was eigentlich?

Es war egal.

Einige Male atmete sie tief durch. Atmete die Luft ein, die in ihrer Kehle brannte. Dann schob sie sich zwischen den Streben des Krans hindurch, um zur Leiter zu gelangen. Sie musste überleben. Irgendwie. Ja. Irgendwie.



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von:  Thrawni
2021-04-05T15:22:31+00:00 05.04.2021 17:22
Puh. Ich weiß zu Beginn nie so wirklich, was ich schreiben soll, wenn die Thematik so heftig ist. Aber ich denke, ich verstehe nach diesen Kapiteln jetzt schon ein bisschen besser, was gemeint ist, wenn es darum geht, dass sie ein "kaputter" Mensch ist. Ich meine, ein bisschen etwas konnte ich mir vorstellen, aber ... Ja. Ich habe tbh nicht mit dem gerechnet, was ihr in dieser Geschichte (bis jetzt) passiert ist. Dass sie dann auch nicht gerne über ihre Vergangenheit redet und auch Probleme mit dem Zwischenmenschlichen hat, wundert dann nun nicht.
Davon ab habe ich mit diesen beiden Kapiteln die Leute, die ihr all das antun, wirklich zu hassen gelernt - und auch Michael, der sie in diese Situation gebracht hat; btw debunkt das meine eine Theorie zu ihm vollkommen, aber da hattest du ja im Rekommi im BB schon etwas zu geschrieben. Jedenfalls sind diese Leute einfach nur widerlich.
Zugleich wiederum - gut, das ist irgendwie vielleicht auch selbstverständlich - finde ich es hier aber auch erneut gut gemacht, wie du ihre Gedanken beschreibst. Wie sie bei ihrem Ausbruch eben auch Optionen durchgeht und hier und da etwas verwirft oder aber sich erst einmal auf das konzentriert, was unmittelbar vor ihr liegt, anstatt sich zu sehr mit dem Danach zu beschäftigen - das zeigt eben auch ihr Training, denke ich. Wobei dahingehend wohl auch bezeichnend ist, dass sie sich nicht zu viel mit der Zukunft befasst (sondern sich erst einmal auf die Flucht fokussiert), sondern sich auch nicht ... Okay, ich weiß nciht genau, wie ich das sagen soll - nicht alllzu stark auf einer emotionalen Ebene mit dem auseinandersetzt, was mit ihr passiert ist? Soll heißen, sie lässt sich davon eben auch nicht paralysieren (was btw angesichts allem nur verständlich wäre), sondern macht eben weiter. Ich weiß nicht, ob sie sich später gegen Ende der Geschichte (oder später in MOSAIK) mit all dem dahingehend noch auseinandersetzt, aber ... Ja. Hier scheint es eben auch Teil des Umstands zu sein, dass sie sich erst einmal auf das nächste Ziel konzentriert und sich eben nicht von anderen Dingen ablenken lassen will/darf.
Von:  Taroru
2020-04-13T19:02:19+00:00 13.04.2020 21:02
kämpferin, durch und durch o.o
mehr kann man da einfach nicht sagen, ich mag mir nicht mal vorstellen, was sie durch gemacht hat o.o
Antwort von:  Alaiya
13.04.2020 22:23
Ja, ist es.
Das ist ein Grund, warum ich die Geschichte ausgeschrieben habe. Weil ich halt so ein wenig Referenz dafür geben wollte, warum sie so "fucked up" ist.
Antwort von:  Taroru
13.04.2020 22:27
ich finde diesen input gut, so lernt man sie auch besser kennen. und lässt mich ein paar dinge auch ganz anders betrachten als vorher, wo das immer nur kurz angerissen wurde, wenn überhaupt
Antwort von:  Alaiya
13.04.2020 22:32
Ja. Bis sie über diese Erlebnisse in Mosaik redet, dauert es ewig. ^^"
Weil sie halt sehr verschlossen ist und alles.
Antwort von:  Taroru
13.04.2020 22:38
kann ich nach vollziehen, ist ja auch keine thematik über die man gerne spricht, also das kann ich echt gut nach vollziehen!
Antwort von:  Alaiya
13.04.2020 23:41
Und sie hasst es halt allgemein ihre eigenen Schwächen einzugestehen.


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