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The Monster inside my Veins

von

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Das Spiel beginnt

Es war erst kurz nach Mittag, als sich Gin müde auf dem Sofa hin und her wälzte. Obwohl er sich wegen der Schmerzen und dem ganzen Stress erschöpft fühlte, gelang es ihm nicht einmal, wenigstens für einen kurzen Moment einzuschlafen. Sein Kopf war voll von Sorgen und Ängsten, die allesamt entweder Rye, Eclipse oder beides betrafen. Doch er konnte nichts dagegen tun, geschweige denn den Gedankenspiralen, die ihn beinahe in die pure Verzweiflung trieben, entkommen. Es kam ihm fast so vor, als hätte sich ein riesiger schwarzer Schatten über ihn ausgebreitet, welcher ihm jegliche Hoffnungen raubte und versuchte, ihn mitsamt seiner negativen Gefühle und Gedanken gefangen zu halten. Einen Lichtblick oder gar einen Ausweg gab es nicht mehr. Einzig und allein Rye könnte es schaffen, ihn aus dieser Finsternis zu befreien.

Wenn er doch hier wäre.

Einen Tag noch. Einen Tag würde Gin noch warten. War Rye bis dahin nicht zurückgekehrt, würde er ausgiebig nach ihm suchen. Egal, ob sich sein Weg dann mit dem von Eclipse kreuzte oder andere Gefahren auf ihn warten würden. Vielleicht ließ sich ein Zusammentreffen mit Eclipse ohnehin nicht vermeiden. Vielleicht war es von Anfang an unvermeidbar gewesen und es stand bereits schon seit seiner ersten Begegnung mit Rye fest, welches Ende ihre Beziehung zueinander nehmen würde. Vielleicht war sogar ein mögliches Ende davon, dass einer von ihnen sterben würde. Aus diesem Grund hatte sich Gin in den vergangenen Stunden gefragt, ob er wirklich bereit dazu wäre, sein Leben für Rye zu opfern. Er dachte an die Konsequenzen und an die Möglichkeit, ob es für Rye vielleicht noch Hoffnung gab und er irgendwann wieder ein normales Leben führen könnte. Egal ob als Mensch oder Vampir. Hauptsache, er wäre glücklich.

Jedoch hat er nie den Eindruck gemacht, als könnte er in irgendeiner Weise glücklich werden, wenn ich nicht mehr da bin… selbst wenn er die Chance hätte, kann ich mir nicht sicher sein, dass er sie nutzen würde… und dennoch…“ Gin würde es riskieren. Sein Leben für das von Rye. Aber nur wenn alle Stricke rissen und es keine andere Wahl mehr gäbe. Niemals würde er es drauf anlegen oder es gar so weit kommen lassen, dass er solch eine Wahl treffen musste. Er würde bis zum bitteren Ende kämpfen. Und das nur, weil er diesen dummen Vampir so sehr liebte, der innerhalb weniger Monate sein striktes, eintöniges Leben vollkommen verändert hatte. Sowohl positiv als auch negativ.

Gin musste sich eingestehen, dass Vater letztlich doch recht hatte. Liebe machte tatsächlich blind. So blind und naiv, dass man die richtigen Entscheidungen vor Augen nicht mehr sehen konnte. Und selbst wenn man sich dieser Liebe bewusst war, konnte man sich nicht mehr von ihr losreißen. Stattdessen nahm man das Risiko in Kauf, eine falsche Entscheidung zu treffen, die einen für immer in ein tiefes Unglück stürzen konnte. Auf einmal handelte man nicht mehr aus eigenen Beweggründen, nicht mehr aus Egoismus, sondern einzig und allein für die Person, die man liebte. Doch was war falsch daran, nicht aus Egoismus handeln zu wollen? Wer bestimmte, welches Leben am Ende wichtiger war? Zudem machte Liebe nicht nur blind. Sie war auch in gewisser Weise ein Rätsel, welches jeder Mensch unterschiedlich lösen und für sich definieren konnte - und Rye war Gins Definition von Liebe. Das würde sich niemals ändern. Egal, was in Zukunft noch geschah.

Gin legte die Hand auf seine Stirn. Das Alleinsein und das daraus resultierende, häufige Nachdenken, tat ihm einfach nicht gut. Besonders, wenn er zu keiner Lösung kam. Er atmete tief durch und versuchte sich der Stille im Raum hinzugeben.

Doch diese wurde im folgenden Moment durch das Vibrieren seines Handys auf dem Tisch unterbrochen. Ein Anruf. Gin richtete sich sofort mit einem Ruck auf.

Ist es etwa…“ Er spürte, wie sich neue Hoffnung in ihm aufbaute, während seine Hand zum Tisch wanderte, um das Smartphone zu greifen.

Rye!“ Gin konnte es nicht glauben, dass der Bildschirm ihm wirklich den Namen seines Geliebten zeigte. Eine Welle der Erleichterung überkam Gin. All die Sorgen und der Schmerz in ihm verblassten. Wenn es Rye gut ging und er nun wieder mit ihm reden wollte, würde sich bestimmt bald alles klären und der dichte Nebel um das Problem Eclipse würde sich hoffentlich ebenso auflösen. Doch dieses Problem vorerst nach hinten geschoben, war es gerade viel mehr Gins sehnlichster Wunsch, einfach nur Ryes Stimme wieder zu hören. Er nahm den Anruf an und wollte etwas sagen. Aber seine Stimme erstarb, noch bevor Worte seinem Mund überhaupt entweichen konnten. Am anderen Ende der Leitung schrie jemand. Vor Schmerzen. Nach Hilfe.

„Rye…? Rye?!“, unterbrach Gins panische Stimme die Schreie, die ihn bis ins Mark erschütterten. Das konnte unmöglich Rye sein. Was war passiert? Wie konnte das passiert sein? Und warum reagierte er nicht?

„Nein, bitte! Macht das rückgängig! Lasst mich wieder gehen!!“

„Rye? Was ist los? Antworte!“ Gin biss sich fast die Unterlippe auf, während er auf eine Reaktion wartete, die nie kam. Seine Hand schloss sich zitternd fester um sein Smartphone. Ihm fiel auf, dass Ryes Stimme klang, als sei sie nicht in unmittelbarer Nähe seines Handys. Scheinbar konnte er ihn nicht hören.

„Ich will nicht sterben!“, schrie sein Geliebter aus voller Kehle, erfüllt von Angst und Not. Diesmal blieb Gin still. Er hörte, wie Ryes Stimme etwas leiser wurde, als würde sich jemand von ihm entfernen. Bis plötzlich ein lautes Knallen ertönte, als wäre eine Tür zugeschlagen worden.

„Das ist wirklich Musik in den Ohren, nicht wahr? Ich glaube jedoch, lange hält er das nicht mehr durch.“, meldete sich eine helle, unbekannte Stimme, welche Gin auf eine anonyme Art vertraut vorkam und ihn durch ihren Klang ein wenig an die von Rye erinnerte. So schön und rein – nur mit dem Unterschied, dass der hämische Unterton einen unbeschreiblichen Hass in Gin auslöste.

„Du brauchst nicht schüchtern zu sein. Mit einem einseitigen Telefonat ist leider niemandem geholfen. Von daher wäre es besser, du redest mit mir.“, fügte die Stimme des fremden Mannes nach ein paar Sekunden des Schweigens amüsiert hinzu.

„Wer sind Sie?“, fragte Gin mühsam beherrscht.

„Ich wusste, dass du das fragst. Aber kannst du es nicht auch erraten?“

Gin glaubte, ein selbstgefälliges Grinsen aus der Tonlage herauszuhören. Er schluckte. Die Antwort lag klar auf der Hand. Doch er wollte es nicht wahrhaben.

„Eclipse…“, flüsterte er benommen.

„Dann hat er dir schon von uns erzählt. Sehr gut, das macht es um einiges unkomplizierter.“, erwiderte der Mann zufrieden.

„Was wollt ihr von mir?“ Gin verstand es nicht. Wenn sie Rye bereits in ihrer Gewalt hatten, wozu riefen sie ihn dann noch an? Etwa, weil er Bescheid wusste? Doch wieso beseitigten sie ihn dann nicht einfach? So, wie sie es vermutlich auch mit Cognac getan hatten…

„Ich werde gleich zur Sache kommen: Wie viel bedeutet er dir?“, wollte der Mann wissen. Gin verengte die Augen, während ihn innerlich ein schockartiges Gefühl durchlief. Was sollte der Blödsinn?

„Ich habe gefragt, was ihr von mir wollt.“, wiederholte er in strenger Tonlage.

„Ganz ruhig. Beantworte meine Frage, dann werde ich es dir sagen.“ Für den Mann schien die Antwort von hoher Wichtigkeit zu sein. Aber aus welchem Grund? Gin bekam die Befürchtung, dass Eclipse bereits von ihrer Beziehung zueinander wusste. Sonst würde der Kerl diese Frage nicht stellen oder gar auf die Idee kommen, dass Rye überhaupt irgendeine Bedeutung für ihn hatte.

„Wenn er dir rein gar nichts bedeutet, sollte es wohl kein Problem für dich sein, wenn wir ihn einfach töten. Schließlich wäre das aufgrund seines Verrats mehr als angebracht.“, fuhr der Mann fort, um Gin scheinbar zu einer Antwort zu ermutigen. Aber das Ganze ergab für diesen noch immer keinen Sinn, weshalb er tonlos erwiderte: „Wenn ihr dieser Meinung seid, dann verstehe ich nicht, was gerade ich daran noch ändern könnte.“

Was zur Hölle bezweckte der Kerl mit seinem Gerede? Erwartete er etwa, dass Gin um Ryes Leben betteln würde? Nur wozu?

Vielleicht wollen sie irgendwas von mir, aber ich wüsste auch nicht, was das sein soll. Außerdem könnten sie es sich dann auch einfach holen…“ Gin dachte deshalb an eine Art Spiel, dass sie womöglich mit ihm spielen wollten. Oder was auch immer. Doch er glaubte nicht im geringsten daran, dass sie ihm wirklich eine Chance geben würden, Rye in irgendeiner Weise zu retten.

„Du wirst es verstehen, sobald du meine Frage beantwortet hast. Wie viel bedeutet er dir?“ Der Mann sprach nach wie vor in Rätseln, was Gin allmählich begann, aufzuregen. Aber wenn er dahinter kommen wollte, müsste er sich wohl vorerst auf dieses Spiel einlassen und zumindest antworten.

„Viel…“, brachte er leise hervor. Es war so schwer, seine Gefühle für Rye vor jemand anderem preiszugeben. Eigentlich hatte er nie vorgehabt, das jemals zu tun. Aber dem Fremden schien es nicht auszureichen.

„Viel ist gut… aber nicht gut genug.“, sagte er bedauernd. Gin presste die Lippen zusammen. Er hätte längst aufgelegt, wenn von diesem Telefonat nicht Ryes Leben abhängen würde. Vielleicht war das jetzt die einzige Verbindung, die ihm noch zu Rye blieb. Und wenn diese Verbindung abbrach, würde er ihn nie wieder sehen.

„Willst du dich nicht lieber nochmal korrigieren?“ Die Stimme des Mannes nahm einen drohenden Tonfall an, sodass die Frage eher einem Befehl glich.

Nach weiteren etlichen Minuten des Schweigens gestand Gin schließlich: „Alles… er bedeutet mir alles…“ Dabei fühlte er sich, als würde seine Seele seinen Körper verlassen.

„Das klingt schon besser. So können wir miteinander ins Geschäft kommen.“, erwiderte der Mann jetzt wieder freundlicher in einer helleren Tonlage. Gin verstand nicht, was er damit meinte. Wollte Eclipse etwa mit ihm verhandeln? Das schien dem Silberhaarigen völlig absurd. „Wie?“

„Was, wenn ich dir sage, dass er nicht sterben muss und du ihn noch retten kannst, wenn du unseren Anweisungen Folge leistest?“ Der Mann schien diese Option selbst spannender zu finden, als sie es womöglich in Wirklichkeit war. Bestimmt handelte es sich nur um eine Finte. Auch wenn Gin so langsam der Gedanke kam, dass doch mehr dahinter steckte. Aber dafür konnte er diese Leute nicht gut genug einschätzen. Er wusste rein gar nichts über ihre Vorgehensweisen, geschweige denn über das Motiv, welches sie gerade verfolgten. Nur, dass sie ihre Arbeit anscheinend sehr gründlich verrichteten und dabei nicht davor zurückschreckten, ihre sonderbaren Fähigkeiten einzusetzen, gegen die absolut niemand eine Chance hatte. Nicht einmal Rye. Es wäre besser, sich nicht so leicht auf das Angebot einzulassen.

„Warum solltet ihr ihn davonkommen lassen? Und was hab ich damit zu tun?“

„Eins nach dem anderen. Unser Boss war gewiss nicht von dem Verrat von 12 erfreut, aber er würde zur Not davon absehen, ihn dafür zu bestrafen. Das wiederum hängt von dir ab.“, erklärte der Mann. 12 – das hatte also Ryes Tattoo 0012 zu bedeuten. Anstelle von einem Namen, schien er in Eclipse diese Nummer zu tragen. Doch sie sollte mit Sicherheit wohl nicht denselben Zweck erfüllen, wie für den fiktiven MI6-Geheimagenten James Bond. Eher das komplette Gegenteil.

„Von mir?“, hakte Gin nach.

„Unser Boss möchte mit dir über etwas verhandeln. Er kann es kaum erwarten, dich kennenzulernen.“, verriet der Mann und an seiner Tonlage erkannte der Silberhaarige, wie sehr sein Boss dieses Kennenlernen erwartete. Also doch. Es ging um eine Verhandlung. Allerdings gab es da aus Gins Sicht einen Haken.

„Ich habe nichts, was euer Boss wollen könnte.“ Diesbezüglich machte er sich keine Illusionen. Was sollte Eclipse schon von ihm wollen können, was sie sich nicht auch selbst besorgen konnten?

„Das glaubst du. Er wird es dir hier vor Ort sagen. Vorausgesetzt, du bist bereit dazu, mit ihm zu verhandeln und willst, dass das Leben von 12 verschont bleibt?“ Die strenge Tonlage des Mannes verdeutlichte Gin, dass ihm keine andere Wahl blieb: Entweder er ließ sich auf eine Verhandlung mit dem Boss ein oder sie würden Rye umbringen. Alles oder nichts. Selbst wenn es doch nur ein Spiel war und Ryes Todesurteil in Wirklichkeit längst gefällt war, gab es keine andere Möglichkeit, ihn noch zu retten. Wenn Gin ihn lebend wiedersehen wollte, musste er alles auf eine Karte setzen und darauf vertrauen, dass diese Leute es ernst meinten. Alles andere würde sich ohnehin erst vor Ort entscheiden.

„Wo soll ich euch treffen?“, fragte Gin. In der kurzen Sprechpause glaubte er zu sehen, wie ein zufriedenes Lächeln die Lippen des Fremden umspielten.

„Wie wäre es heute Abend um 9 bei deiner alten Oberschule? Den Weg solltest du sicherlich noch kennen.“, schlug er dann vor. Gin blieb der Atem stehen.

„Woher wisst ihr-“

„Wir wissen eine Menge über dich. Weitaus mehr, als du dir vorstellen kannst, Jin Kurosawa. Als ich vorhin sagte, dass unser Boss es kaum erwarten kann, dich kennenzulernen, meinte ich damit lediglich persönlich.“, unterbrach der Mann ihn mit schneidender Stimme. Gin konnte dessen Worte nicht fassen. Woher wussten sie seinen richtigen Namen? Woher hatten sie all diese Informationen und warum hatten sie überhaupt erst danach gesucht? Etwa nur um ihn einzuschüchtern?

Doch bevor Gin dem Mann diese Fragen stellen konnte, kam dieser ihm zuvor: „Achja und eins noch: Du wirst allein kommen. Komm bloß nicht auf die Idee, irgendjemanden in dieses Treffen einzuweihen. Falls du das doch tust oder anderweitig versuchst, uns reinzulegen, wird 12 für diesen Fehler bitter bezahlen, verstanden? Wir beobachten jeden deiner Schritte.“

Danach legte er auf und ließ Gin mit einem vor Schock versteinerten Gesicht zurück. Der Silberhaarige starrte wie gebannt auf den Bildschirm seines Handys, in der Hoffnung, das sei alles nur ein Traum gewesen. Doch da stand wirklich Ryes Nummer. Dieses Telefonat eben hatte wirklich stattgefunden. Es war die bittere, beängstigende Realität, dass sich sein Geliebter in der Gewalt von Eclipse befand.

Nur ganz, ganz langsam drangen die ersten klaren Gedanken durch den Schmerz, der nach und nach Gins Körper erfüllte. Ihm wurde übel und plötzlich fing sich alles um ihn herum an zu drehen. Was hatte er getan? Wie hatte er diesem Treffen nur zusagen können?

Die werden mich umbringen…“, wurde ihm bewusst. Das waren immerhin keine Menschen, sondern Kreaturen wie Rye. Selbst wenn sie seinen Tod wirklich nicht beabsichtigten, wurden sie womöglich vollständig von ihrem Blutdurst kontrolliert. Und das konnte kein gutes Ende nehmen. Höchstens ein Ende, wo er als Mahlzeit enden würde. Bei dieser Vorstellung überkam Gin ein weiterer Schauer der Übelkeit. Auf solch eine Weise wollte er bestimmt nicht sterben. Doch was blieb ihm anderes übrig? Er konnte Rye nicht im Stich lassen. Niemals.

Noch über sieben Stunden…“, stellte Gin nach einem kurzen Blick auf die Uhr an der Wand fest. Genügend Zeit, um alle notwendigen Vorkehrungen zu treffen. Aber bei Weitem nicht genug, um den Tatsachen ins Auge blicken zu können. Wie gern würde er jetzt einfach die Zeit zurückdrehen. Wenn diese Nacht vor einer Woche nicht stattgefunden hätte, dann wäre Rye auch nicht abgehauen und die Situation wäre vielleicht nicht ganz so drastisch, wie sie es im Moment war.

Gin wankte mit langsamen Schritten zur Balkontür und warf einen Blick nach draußen. Der Mann hatte mit hoher Wahrscheinlichkeit die Wahrheit gesagt, als er meinte, sie würden jeden seiner Schritte beobachten. Wenn sie sogar seinen Namen wussten und herausfinden konnten, welche Schule er früher besucht hatte, dann war es für sie auch ein Leichtes, ihn zu beschatten.

Doch wenn dem so ist, warum dann der ganze Aufwand?“ Zu viele offene Fragen. Aber keine einzige Antwort. Gin wusste nicht einmal, welche Vorbereitungen er zu seinem Schutz treffen konnte. Es war ihm nicht erlaubt, jemanden um Hilfe zu bitten. Und das wollte er zugegebenermaßen auch nicht. Denn jeder, den er mit einweihen würde, wäre am Ende genauso chancenlos wie er. Genau da lag das Problem: Er hätte nie eine Chance. Egal, wie viele Vorkehrungen er traf.

Womit sollte er sich denn schützen? Hier in seiner Wohnung gab es nichts zur Bekämpfung von Vampiren. Sämtliche Schusswaffen waren nutzlos, ebenso wie Messer oder Ähnliches. Um sich Curare zu besorgen, müsste er wieder zum Labor der Organisation fahren, doch auch das konnte er nicht riskieren, falls er wirklich beobachtet wurde. Die Lage war schlichtweg eine endlose Zwickmühle.

Gin stieß ein Seufzen aus und zog hastig die Vorhänge zu, bevor er zurück zum Sofa ging.

 

Er dachte eine ganze Weile nach. Ohne Ergebnis. Die Zeit schien noch viel langsamer als sonst zu vergehen, da er überwiegend auf die Gefühle, die in ihm tobten, fixiert war. Angst. Trauer. Verzweiflung. Gin versuchte diese Gefühle so gut es ging zu unterdrücken. Es half ohnehin nicht. Seine Entscheidung war gefällt. Sich noch von etwas wie Angst beeinflussen zu lassen, machte keinen Sinn mehr. Auch wenn das Treffen umsonst war und er vielleicht dabei sterben würde, musste er es probieren.

Für Rye.

Gin durchsuchte zwischenzeitlich sämtliche Zimmer seiner Wohnung. Dabei hoffte er auf ein Wunder, dass er noch irgendwas Brauchbares finden würde.

Im Schlafzimmer nahm er seine Beretta aus dem untersten Schubfach einer Kommode und steckte diese in die Innentasche seiner Jacke. Auch wenn sie letztendlich nutzlos sein würde, gab sie ihm dennoch ein kleines, gewohntes Gefühl von Sicherheit. Er durchsuchte auch die anderen Schubfächer. Ohne einen wirklichen Grund. Doch bei der Obersten angekommen, weiteten sich seine Augen überrascht.

Das ist doch… aber wie kommt die hierher?“ Dort drin lag tatsächlich eine gefüllte Spritze. Es war genau die Spritze, die er damals bei sich getragen hatte, als er Rye konfrontiert und dessen wahres Wesen enthüllt hatte. Er griff vorsichtig nach ihr, woraufhin ihm ein gefalteter Notizzettel ins Auge fiel, welcher darunter gelegen hatte. Auf diesem stand handgeschrieben mit Kugelschreiber:

 

Ich weiß, was da drin ist. Und ich weiß, dass du es gegen mich verwenden wolltest. Aber ich werde dir das nicht übel nehmen. Vielleicht solltest du es wirklich lieber bei dir tragen, sobald du das hier gefunden hast. Das würde mich tatsächlich ein wenig beruhigen. Es tut mir leid.

 

- Rye

 

Du brauchst dich doch nicht zu entschuldigen…“ Gin konnte nicht anders, als zu lächeln. Das Geschriebene gab ihm irgendwie neue Kraft. Auch wenn sich Rye damals wahrscheinlich nichts weiter bei gedacht hatte. Jetzt waren sowohl die Spritze als auch die kurze Notiz für Gin eine Art Zeichen von diesem Wunder, wonach er wohl gesucht hatte. Vielleicht würde es ihm helfen. Er steckte beides ebenso in seine Jackentasche.

Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass es an der Zeit war. Wenn er rechtzeitig da sein wollte, musste er sich allmählich auf dem Weg machen. Diesen würde er allerdings zu Fuß zurücklegen, da er sich aufgrund der Unruhe und der Konzentrationsschwäche, die in ihm herrschten, keinesfalls zum Fahren in der Lage fühlte. Bis zu seiner ehemaligen Schule war es ohnehin von hier aus nicht sehr weit.

Auf dem Weg zur Tür bog Gin kurz in das Badezimmer ein, wo er sich ein paar Mal Wasser ins Gesicht spritzte. Er musterte sein Gesicht im Spiegel, wie die Tropfen an seiner blassen Haut herabliefen. Seine Hände wanderten zum Rollkragen seines schwarzen Pullovers, um diesen weiter nach oben zu ziehen, sodass der Verband an seinem Hals nicht mehr hervorlugte. Dann richtete er seine Jeansjacke und trocknete sein Gesicht ab. Aber seine Beine wollten ihn anschließend einfach nicht wieder aus dem Raum tragen.

Er redete sich ein, dass nichts schief gehen würde. Dass sie Rye nichts mehr antun und vielleicht sogar frei lassen würden. Aber das waren letztlich nichts weiter als hoffnungslose Vorstellungen. Was auch immer der Boss von Eclipse von ihm wollte, er würde dessen Forderungen wahrscheinlich ausnahmslos nachkommen, solange er Rye damit retten konnte. Alles andere war nicht wichtig. Darunter fiel auch sein eigenes Leben. Zwar würde er sich bemühen, nicht zu sterben, doch wenn es wirklich so kommen sollte, dann würde er sich damit abfinden können. Vielleicht gab es noch eine andere Lösung. Doch das würde er erst herausfinden, wenn er am Ort des Treffens angekommen war.

Und so schob Gin auch seine letzten Sorgen nach hinten und machte sich mit neuer Entschlossenheit auf dem Weg zu seiner alten Oberschule. Oder besser gesagt: Er startete seine Reise zurück in die düstere Vergangenheit seiner Jugend.



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