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The Monster inside my Veins

von

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Abwesenheit

Bin ich… tot…?“, fragte sich Gin, umgeben von unendlicher Leere. Es war so still. So dunkel. Doch trotzdem passte etwas nicht. Irgendetwas war da, was ihm verriet, dass er noch am Leben war. So konnte sich der Tod nicht anfühlen. Aber fast. Er fühlte sich, als hätte man ihn aus den grausamsten Tiefen der Hölle wieder herausgezogen. Mitsamt den Qualen, die er dort hatte erleiden müssen. Wohl zu Recht. Das Feuer war noch immer nicht erloschen. Die Wunde an seinem Hals brannte. Sandte ihm unerträgliche Wellen des Schmerzes durch den Körper. Einfach alles schmerzte. Er konnte sich nicht bewegen. Egal wie sehr er es versuchte. Keiner seiner Muskeln gehorchte ihm mehr. Lediglich seine Augenlider konnte er öffnen, doch seine Augen gewöhnten sich nur langsam an das grelle Licht. Die Sonne war viel zu hell. Es schien bereits der nächste Tag angebrochen zu sein.

Dann konnte ich… das Versprechen wohl doch einhalten…“ Die kurze Erleichterung wurde schnell wieder von den Schmerzen überlagert. Selbst Worte in Gedanken zu formulieren fiel ihm schwer. Doch ihm war klar, dass er irgendwas tun musste. Andernfalls würde er wirklich sehr bald sterben. Seine Zeit lief. Sie lief ab. Jede Sekunde zählte. Jede Sekunde könnte seine Letzte sein. Aber wie sollte er etwas dagegen tun, wenn er sich nicht bewegen konnte? So kam er nicht mal an sein Handy, um einen Krankenwagen zu rufen. Also war es doch aussichtslos?

Aber wenn Rye…“, kam es ihm in den Sinn, doch die winzig kleine Hoffnung wehrte nicht lang. Erst in diesem Moment wurde er sich wieder vollständig bewusst, was letzte Nacht passiert war. Was Rye mit ihm gemacht hatte. Und wie dieser höchstwahrscheinlich darauf reagieren würde, sobald er ebenfalls erwachte. Nein. Rye würde keinen Krankenwagen rufen. Er würde davonlaufen. Vor Schock. Vor Entsetzen. Aus Angst. Aus Trauer.

Als Gin versuchte, trotz Schmerzen den Kopf zu drehen und ihm dabei kurz die Sicht verschwamm, bekam er die Bestätigung für seine Vermutung. Die Bettseite neben ihm war bereits leer. Rye schien wirklich nicht mehr da zu sein. Jedoch tat diese Bestätigung weitaus mehr weh als die bloße Vermutung.

Gin schloss die Augen. Er war allein. Reglos. Hilflos. Unfähig, irgendetwas gegen seinen Zustand zu unternehmen. Der Tod war ihm so unbeschreiblich nah. Fast glaubte er, ihn in der Dunkelheit sehen zu können. Zu spüren, wie sich alles um ihn herum auflöste und ihn der Tod in seine Arme schloss.

Doch dann hörte Gin von draußen ein Geräusch, welches ihn wieder zurück in die Realität holte. Sirenen. Die Sirenen eines Krankenwagens. Sofort waren seine Gedanken um den Tod in Vergessenheit geraten, als hätte es sie nie gegeben.

Dann hat er etwa doch…“ Gin wurde erneut von einer brennenden Schmerzenswelle überrollt, als er den Kopf langsam zum Fenster drehte. Wieder verschwamm ihm für einen Moment die Sicht, aber dennoch glaubte er am Fenster für den Hauch einer Sekunde den Umriss einer vertrauten Person zu erkennen.

„Rye…“, entwich es seinen Lippen fast lautlos. Seine Hand zitterte nur kraftlos auf dem Bett, als er sie nach dem Vampir ausstrecken wollte. Aber es war sowieso zu spät, da dieser bereits wieder verschwunden war. Wohin hatte Gin nicht sehen können. Und er würde es wohl auch nicht herausfinden. Er hörte nur, wie danach eine Tür geöffnet und nicht wieder geschlossen wurde. Kaum eine Minute später klingelte es. Gin blieb nichts anderes übrig als zu warten, was als Nächstes passieren würde. Überhaupt würden gleich womöglich lauter Dinge geschehen, auf die er ohnehin keinen Einfluss hatte. Er kämpfte jetzt schon gegen die Bewusstlosigkeit an, welche höchstwahrscheinlich bald gewinnen und ihn erneut in einen tiefen Schlaf schicken würde. Sein Leben hing nur noch an einem hauchdünnen Faden. Und er wusste nicht, wovon es letzten Endes abhing, dass dieser Faden nicht reißen würde. Er konnte nur hoffen, dass sein Lebenswille stark genug war.

Gin vernahm Schritte von mehreren Personen. Und obwohl diese immer näher zu kommen schienen und sich ein paar gedämpfte Stimmen hinzumischten, so kam es ihm dennoch so vor, als würde sich alles sehr weit von ihm entfernen. Er blinzelte benommen. Versuchte weiter gegen die Bewusstlosigkeit anzukämpfen und die Worte der fremden Frau, welche sich plötzlich vor ihm befand, zu verstehen. Aber es gelang ihm nicht. Letztlich war ihm egal, was jetzt passierte und was diese Leute mit ihm machen würden. Solange sie ihn nicht sterben ließen, spielte es keine Rolle. Zumindest das nicht. Die anderen Sorgen, die sich stattdessen in seinen Hinterkopf drängten, erloschen mitsamt dem Bild vor seinen Augen, sobald die Dunkelheit ihn wieder einhüllte.

 

 

Als Gin die Augen erneut aufschlug, schien er sich nicht mehr in seinem Schlafzimmer zu befinden. Grelles Licht blendete ihn, welches von der Decke auf ihn herabstrahlte. Ihm fiel auf, dass er auf dem Bauch lag. Die Wände um ihn herum waren weiß gestrichen und an der rechten Seite erblickte er ein Fenster mit mintgrünen Vorhängen, die ihm endgültig verrieten, dass er in ein Krankenhaus gebracht wurde. Zudem bemerkte er, dass sein Hals von einem dicken Verband umwickelt war. Generell schien er an mehreren Stellen seines Körpers einbandagiert zu sein. Die Schmerzen waren nicht mehr allzu unerträglich wie zuvor, da sie wahrscheinlich von irgendwelchen Schmerzmitteln unterdrückt wurden, die man ihm gegeben hatte. Dadurch konnte er sich wenigstens wieder ein bisschen bewegen. Er hielt vorsichtig eine Hand vor sein Gesicht, die mit mehreren durchsichtigen Schläuchen und Kabeln umwickelt war. Letzteres schien ihn mit einem Monitor zu verbinden, der irgendwo neben seinem Ohr ein monotones Piepen von sich gab. Das Bett unter ihm war ziemlich hart und das Kissen fühlte sich auch nicht sonderlich bequem an. Gin hatte jetzt schon genug von diesem Ort. Hinzu kam noch dieser ekelhafte, typische Krankenhausduft, welcher ihm längst in die Nase gestiegen war und sich dort festgesetzt hatte. Er stieß ein Seufzen aus und ließ die Hand wieder auf das Bett sinken. Zwar hasste er Krankenhäuser wie die Pest, aber diesmal war er wirklich dankbar, noch am Leben zu sein. So hatte er Rye zum Glück nicht verlassen müssen und dieser hatte sein Leben auch nicht auf dem Gewissen. Eigentlich war alles nochmal gut gegangen. Eigentlich. Rye war da mit Sicherheit ganz anderer Meinung. Doch von ihm schien wie immer jede Spur zu fehlen.

Wo ist er…“ Gins Magen zog sich zusammen. Jetzt, wo er wieder an Rye dachte, kamen plötzlich alle schrecklichen Empfindungen von gestern Nacht wieder in ihm hoch. Die Wunde an seinem Hals fing schmerzhaft an zu pochen. Es drängten sich unweigerlich Bilder in seinen Kopf, die er nicht sehen wollte. Gin schluckte und kniff die Augen zusammen, bevor er hastig blinzelte und die blutigen Erinnerungen vertrieb. Zum ersten Mal seit Langem kam er zu dem erschreckenden Entschluss, dass er Rye gerade nicht in seiner Nähe haben wollte. Zumindest nicht in diesem Moment. Denn die Angst, dass der Schwarzhaarige nie wieder in seine Nähe kam, war einfach viel zu groß, als dass er es für einen längeren Zeitraum ohne ihn aushalten würde. Rye blieb ihm wahrscheinlich nur fern, weil er ebenso Angst hatte. Jedoch vor anderen, weitaus schlimmeren Dingen.

Bestimmt geht er davon aus, dass ich ihn jetzt abgrundtief hasse und nie wieder sehen will… weil er mich… fast umgebracht hat…“ Da stieg Panik in Gin auf, als ihm auf einmal etwas Wichtiges einfiel, woran er bisher gar nicht gedacht hatte: Was sollte er den Ärzten erzählen? Oder besser gesagt: Wie sollte er das Ereignis von letzter Nacht schildern, sodass Rye kein Teil mehr davon war? Er konnte unmöglich die Wahrheit sagen, wenn ihn jemand fragen würde.

Irgendwas wird mir schon einfallen…“, versuchte sich Gin zu beruhigen. Schließlich hatte er noch eine Menge Zeit, sich eine perfekte Ausrede auszudenken. Oder auch nicht. Denn plötzlich wurde die Tür geöffnet. An den leichten, flinken Schritten erkannte Gin, dass es sich um eine Schwester handeln musste. Er überlegte, ob es besser wäre, Schlaf vorzutäuschen. Jedoch gab es da ein paar Sachen, die er gern in Erfahrung bringen würde. Vor allem wollte er wissen, wie die Lage war und wann er hier bestenfalls wieder raus konnte. Dass das wiederum nicht in absehbarer Zeit passieren würde, lag leider klar auf der Hand.

„Oh, Sie sind ja schon wach.“, begann die Schwester überrascht, als sie das Fenster anklappen wollte und Gin somit bemerkte. Sie erwiderte seinen verwirrten Blick mit einem warmherzigen Lächeln und fuhr im freundlichen Ton fort: „Sie haben fast zwei Tage geschlafen. Aber keine Sorge, die Operation haben Sie gut überstanden. Es besteht keine Lebensgefahr mehr. Sie hatten wirklich sehr großes Glück.“

„Hatte ich das…“, wiederholte Gin leise. Seine Stimme kam ihm auf einmal so fremd vor. Die Schwester hingegen antwortete sogleich: „Die tiefe Wunde an Ihrem Hals befindet sich sehr nahe an Ihrer Halsschlagader. Sie haben dadurch eine Menge Blut verloren… und dann auch noch die inneren Verletzungen…“

Ein Hauch Sorge mischte sich in ihre Stimme und sie wurde zum Ende hin leiser, bis sie im lauteren Ton noch eine Frage hinzufügte: „Sind die Schmerzen erträglich oder soll ich Ihnen noch ein Schmerzmittel verabreichen?“

„Es geht.“, log Gin. In Wahrheit war gerade nicht das Geringste erträglich. Er fühlte sich völlig miserabel. Aber das lag nicht nur an den Schmerzen. „Können Sie mir vielleicht sagen, wer den Krankenwagen alarmiert hat?“

Die Schwester überlegte kurz.

„Das war glaube Ihr Freund gewesen.“, sagte sie dann. „Wenn ich mich richtig erinnere, war es derselbe, der vorhin ein paar Ihrer Sachen vorbei gebracht hat. Darunter befanden sich zum Glück auch alle nötigen Dokumente. Ein wirklich höflicher, junger Mann… Er hatte sich als Dai Moroboshi vorgestellt. Sagt Ihnen der Name etwas?“

Also war es wirklich Rye gewesen, der den Krankenwagen gerufen hat. Irgendwie beruhigte das Gin. Jedoch wunderte es ihn, dass Rye danach nochmal hier gewesen war. „Noch dazu scheint er mal wieder in meiner Wohnung herumgekramt zu haben…“

„Ja… danke. Und wo ist er jetzt?“, wollte er wissen, hoffte aber nicht auf eine klare Antwort. Wenn Rye nicht hier bei ihm war, dann befand er sich mit Sicherheit auch nicht irgendwo im Gebäude, geschweige denn sich in der Nähe von diesem. Die Schwester zuckte wie erwartet mit den Schultern.

„Das kann ich Ihnen nicht sagen. Eine Kollegin hatte ihn zwar gebeten zu bleiben, da ein Beamter der Polizei ihn noch befragen wollte, doch dann war er plötzlich verschwunden…“ Sie schien darüber selbst verwundert zu sein. Gin blieb vor Schock der Atem stehen.

„Poli… zei…?“, hakte er mit erstickter Stimme nach. Wo kam die Polizei denn plötzlich her? Hatten die Sanitäter diese etwa zugeschaltet? Was, wenn sie schon seine Wohnung durchsucht hatten? Oder schlimmer: wenn bereits schon Ermittlungen liefen? War Rye jetzt etwa der Hauptverdächtige?

„Ja. Sobald Sie sich dazu in der Lage fühlen, werde ich den Beamten zu Ihnen schicken. Wenn das in Ordnung für Sie ist?“, fragte die Schwester. Scheinbar war es noch nicht so weit gekommen, wenn sie ihn erst mal befragen wollten.

Gin nickte. „Da komme ich eh nicht drumherum…“, dachte er. Aber er würde gewiss nicht die Wahrheit sagen oder gar Anzeige erstatten. Die Polizei sollte sich da einfach raushalten. Und in dem Fall war Gin wirklich froh, dass er das selbst entscheiden konnte. Rye durfte auf keinen Fall in irgendwelche Schwierigkeiten geraten. Und schon gar nicht seinetwegen.

„Gut. Brauchen Sie sonst noch irgendwas? Wollen Sie vielleicht jemanden anrufen?“, erkundigte die Schwester sich noch. Fast hätte Gin die Lippen zu einem ironischen Schmunzeln verzogen, als er gedanklich eine sehr kurze Liste durchging, wen er anrufen könnte. Ob Rye überhaupt gerade mit ihm reden wollte? Wahrscheinlich nicht. Und die andere Person auf der Liste, sein Boss, sollte wohl am besten erst gar nicht von diesem Vorfall erfahren.

„Später.“, entgegnete Gin.

„Die Sachen, die Ihr Freund gebracht hat, habe ich erst mal in den Schrank dort drüben gepackt. Ein Handy schien leider nicht dabei gewesen zu sein, aber das Telefon zu Ihrer Linken können Sie gern jederzeit benutzen.“

„In Ordnung.“ Natürlich war es kein Zufall, dass sein Handy nicht mit dabei gewesen war. Offensichtlich wollte Rye wirklich nicht mit ihm sprechen. Kein gutes Zeichen. Bis jetzt wies alles darauf hin, dass der Schwarzhaarige vorhatte, für längere Zeit das Weite zu suchen. Genau wie beim letzten Mal. Gin spürte, wie ihm sofort wieder schlecht wurde. Die vertraute Angst, dass Rye nie wieder zurückkommen würde, ergriff unmittelbar Besitz von ihm.

Unsinn. Er hat es versprochen. Bestimmt braucht er nur Zeit…“, hoffte er. Inzwischen war die Schwester aus seinem Sichtfeld verschwunden und wohl schon dabei das Zimmer zu verlassen. Vorher gab sie an der Tür noch Bescheid: „Das Abendessen bringe ich Ihnen dann in einer halben Stunde. Versuchen Sie sich auszuruhen.“

Gin erwiderte nichts. Durch die Angst hatte sich ein unüberwindbarer Klos in seinem Hals gebildet. Er merkte, wie sein Körper begann zu zittern und alle Schmerzen sich verstärkten. Während er stillschweigend wieder zum Fenster starrte, realisierte er erst dann, wie spät es schon war. Draußen war es dunkel. Zudem hatte die Schwester eben von Abendessen gesprochen. Gin seufzte und schloss die Augen. Ihm war der Appetit längst vergangen. Womöglich würde er keinen Bissen herunter bekommen. Er überlegte, wie er die Zeit hier stattdessen am sinnvollsten totschlagen könnte und wie er dabei möglichst nicht ständig an Rye dachte. Allerdings stand wohl ohnehin schon fest, dass ihn wegen dieses Vampires eine schlaflose Nacht erwartete.

 

 

Am nächsten Tag

 

Wie vermutet hatte Gin die ganze Nacht kein Auge zu bekommen. Und jedes Mal, wenn er in einen nicht sehr lang andauernden Minutenschlaf gefallen war, hatten ihn furchterregende Albträume heimgesucht, an die er sich nicht zurückerinnern wollte.

Nun war er vollkommen übermüdet und versuchte sämtliche Schmerzen mit Schmerzmitteln zu unterdrücken, während er sich im Fernsehen irgendwelche langweiligen Serien anschaute und zwischenzeitlich zum Nachrichtenkanal wechselte, welcher aber nichts Interessantes berichtete.

Das Gleiche hatte er gestern Abend auch getan, nachdem man ihn zum Essen zum Glück wieder auf den Rücken gedreht hatte. Jedoch saß er jetzt auf gefühlt hundert unbequemen Kissen und musste nebenbei noch aufpassen, dass diese nicht verrutschten. Andernfalls wäre die Matratze für seinen Hintern einfach zu hart. Generell war diese Verletzung das, was seinem Körper am meisten zusetzte. Er konnte weder richtig sitzen, geschweige denn laufen oder vernünftig auf Toilette gehen, ohne dass er dabei nicht wieder zusammenbrach. Jedoch wollte er nicht ständig eine Schwester deswegen belästigen, wobei er sich dabei wohl mehr belästigt fühlen würde, wenn ihm jemand Fremdes auf Toilette half.

Des Weiteren hatte er hin und wieder versucht Rye zu erreichen. Selbstverständlich erfolglos. Entweder der Schwarzhaarige drückte ihn sofort weg oder ließ die Mailbox rangehen. Zwei Mal hatte Gin auf diese eine Nachricht hinterlassen, doch selbst das schien Ryes Meinung nicht geändert zu haben. Egal, wie oft er ihm versucht hatte zu versichern, dass er nicht sauer war und dass bald alles wieder gut werden würde.

Gewiss glaubte ihm Rye das nicht. Für ihn würde wohl nie mehr alles gut werden. Die Verletzungen, die Gin erlitten hatte, würden irgendwann verheilen und höchstens Narben hinterlassen. Doch die unermesslich schwere Schuld, die sich Rye dafür gab und all die Vorwürfe, die er sich für sein Vergehen machte, würden ihn bis auf ewig verfolgen. Da war sich der Silberhaarige absolut sicher.

Inzwischen hatte er es aufgegeben Rye anzurufen. Wahrscheinlich würde er es in ein paar Stunden weiter versuchen, da seine Sorgen und Ängste um seinen Geliebten ihn niemals in Frieden lassen würden, doch das war Gin im Moment auch egal. Vorhin war der Arzt bei ihm gewesen, welcher ihm allerdings auch keine guten Neuigkeiten übermittelt hatte. Seine Entlassung stand wie befürchtet noch in den Sternen. Nicht, dass Vater doch noch von seinem Krankenhausaufenthalt erfuhr. Dann hätte nicht nur seine letzte Stunde geschlagen.

Auf einmal hörte Gin ein Klopfen an der Tür. Er hatte fast vergessen, dass er heute Morgen eingewilligt hatte, mit dem Polizeibeamten zu sprechen. Das musste er wohl sein.

„Herein.“, sagte Gin etwas lauter, während er nach der Fernbedienung griff und den Fernseher ausschaltete. Kurz darauf wurde die Tür geöffnet.

„Guten Tag Herr Kurosawa. Mein Name ist Daichi Tanaka von der Kriminalpolizei Tokio. Es tut mir aufrichtig Leid, Sie in Ihrem Zustand stören zu müssen, doch die gegebenen Umstände erfordern es, dass ich Ihnen ein paar Fragen stelle. Haben Sie kurz Zeit?“, stellte sich der Polizist im Anzug vor, bevor er die Tür hinter sich schloss und etwas näher herantrat.

Gin nickte. Leider hatte er hier alle Zeit der Welt. Und das würde sich so schnell nicht ändern. Der Polizist holte einen Notizblock mit Kugelschreiber aus seinem Jackett hervor und fuhr fort: „Danke. Ich wurde bereits von den Ärzten über das Ausmaß Ihrer Verletzungen informiert und habe erfahren, in welchem Zustand man Sie am Morgen vor drei Tagen aufgefunden hat, nachdem ein gewisser Dai Moroboshi, der sich als Ihr Freund entpuppte, den Krankenwagen alarmiert hat. Es handelt sich hierbei offensichtlich um ein Gewaltverbrechen und ich würde gern von Ihnen erfahren, wie es dazu kommen konnte und was genau passiert ist. Laut Aussage einer Schwester ist Ihr Freund gestern hier gewesen, jedoch habe ich ihn nicht angetroffen. Wäre es möglich, dass Sie mir seine Kontaktdaten geben, damit wir seine Aussage ebenso aufnehmen können?“

„Das wird nicht nötig sein.“, lehnte Gin schnell ab. Das kam gar nicht infrage. Der Polizist schaute ihn überrascht an, bevor er nachhakte: „Und aus welchem Grund, wenn ich fragen darf?“

„Ich möchte nicht, dass er da mit reingezogen wird. Er hat mit dem Vorfall nichts zu tun und mich lediglich gefunden. Er wird Ihnen nicht mehr sagen können.“, erklärte Gin, womit er seine Aussage mit einer ersten Lüge geschmückt hatte. Und es würden noch viele weitere folgen. Denn zu lügen und sich dabei nichts anmerken zu lassen, war eine seiner leichtesten Übungen. Der Polizist schien ihm bereits zu glauben. Jedoch konfrontierte er ihn sogleich mit anderen Fragen: „Verstehe. Dann hoffe ich, dass Sie mir dafür umso mehr sagen können. Was ist am Tag zuvor passiert? Wer hat Ihnen das angetan? Kannten Sie die Person?“

„Ich erinnere mich nicht mehr genau. Aber ich kannte ihn nicht.“, log Gin weiter. Die Nummer, sich vor Schock nicht mehr an ein traumatisches Ereignis erinnern zu können oder diesbezüglich ein paar Gedächtnislücken aufzuweisen, sollte eigentlich immer funktionieren. Der Polizist nahm das scheinbar auch so hin.

„Es handelte sich also um einen Mann?“, fragte er.

„Ja…“

„Nicht kennen im Sinne von Sie haben ihn zum ersten Mal getroffen oder Sie können mir noch nicht mal einen Namen sagen?“

„Beides. Er hat mir glaube seinen Vornamen verraten, doch ich bezweifle, dass das sein Richtiger war.“, erwiderte Gin, während er sich in Gedanken bereits einen Vornamen ausdachte. Denn das würde der Beamte mit hoher Wahrscheinlichkeit als Nächstes wissen wollen, egal ob der Name falsch war oder nicht.

„Sagen Sie es mir trotzdem. Und beschreiben Sie mir bitte auch sein Aussehen.“, lautete seine Antwort, wie Gin es vorausgesehen hatte.

„Er hieß… David… etwas stabil gebaut, blaue Augen, blonde, kurze Haare und 3 Tage Bart… wahrscheinlich war er ein bisschen älter als ich, schätzungsweise um die 40.“, beschrieb er seinen imaginären Peiniger grob, was der Polizist alles ordentlich in seinem Notizblock notierte.

„Klingt wie ein Ausländer.“, meinte er. „Und wo haben Sie diesen David getroffen?“

„In einer Bar.“

„Welche Bar?“

„Keine Ahnung. Ich war an dem Abend in mehreren Bars… und mir waren die Namen von denen ziemlich egal…“, entgegnete Gin ausweichend. Wenn er keinen genauen Ort nannte, würde die Polizei auch nicht nachforschen oder gar Leute befragen können, über ein Ereignis, das gar nicht stattgefunden hatte.

„Und warum?“

Gin zuckte mit den Schultern, rollte aber innerlich mit den Augen. Der Kerl war eindeutig viel zu neugierig. „Einfach so. Verspüren Sie nie das dringende Bedürfnis, jemand Neues kennenzulernen?“

Im Nachhinein bemerkte Gin, dass das jetzt eher so rüberkam, als hatte er vorgehabt, seinem Freund fremdzugehen. Aber auch egal. Sollte der Beamte doch über ihn denken, was er wollte. Dieser erwiderte nach einem verlegenen Räuspern: „Ich verstehe schon.“ Dann senkte er den Blick und fügte hinzu: „Waren die Motive des Mannes von Anfang an erkennbar? Oder ist Ihnen das erst im Nachhinein klar geworden?“

Da verlor sich Gin plötzlich für einen Moment in seiner Rolle und fand sich gedanklich mit Rye in der Toilettenkabine auf dieser Veranstaltung wieder. Er erinnerte sich, wie Rye versucht hatte, ihn zu überzeugen. Wie er ihn zuvor verführt und keinen Zweifel an seinen Absichten gelassen hatte.

„Ich wusste schon, was er wollte… aber ich hatte es mir anders überlegt und wollte einen Rückzieher machen, was er nicht akzeptiert hat…“, antwortete Gin abwesend. Die halbe Lüge kam ihm schwerer über die Lippen.

„Sie meinen, er hat Sie vergewaltigt?“

Gin durchlief ein Schock. Fast glaubte er, sein Herz würde stehenbleiben. Zwar bezog sich der Polizist damit auf die erfundene Version des Ereignisses, jedoch kam es dem Silberhaarigen dennoch so vor, als sei von Rye die Rede. Der winzig kleine, wahre Kern hinter der Frage ließ ihn erschaudern.

Nein. Das stimmt nicht. Er konnte nichts dafür. Es ist meine Schuld. Nur meine Schuld. Nicht seine. Er wollte das nicht. Er wollte mich nicht verletzen…“

Der Polizist schien zu bemerken, dass sich Gins Haltung schlagartig veränderte und er zunehmend in eine Gedankenspirale versank, weshalb er sich entschuldigte: „Verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht kränken. Sie müssen dazu nichts weiter sagen, wenn Sie nicht möchten.“

Gin schüttelte hastig den Kopf, wobei die Wunde an seinem Hals schmerzhaft anfing zu brennen. Doch der Schmerz ließ ihn allmählich wieder zu Vernunft kommen. Er fasste sich an den Verband und versuchte seine Gefühle wieder unter Kontrolle zu bringen. Dabei bekam er eine Idee, die sich vielleicht als wirksam erweisen könnte.

„Allerdings ist es mir ein Rätsel, wie diese Bisswunde am Hals dabei zustande gekommen ist.“, kommentierte der Polizist die Geste. Gin wusste nicht, wie er das erklären sollte. Aber das musste er auch nicht.

„Ich weiß es nicht mehr. Ich hab… irgendwann das Bewusstsein verloren…“, redete er sich einfach raus, was eigentlich der Wahrheit entsprach. Im Augenwinkel bemerkte er, wie der Polizist ihn misstrauisch musterte. Gin nutzte die Gelegenheit, um das Gespräch in die Richtung zu lenken, in die er es schon von Anfang an hatte lenken wollen.

„Offensichtlich gehen Sie davon aus, dass ich will, dass man den Täter schnell findet. Doch da irren Sie sich. Ich habe nicht vor, Anzeige zu erstatten.“, offenbarte er, woraufhin die Augen des Beamten sich erstaunt weiteten.

„Nicht?“, hakte er ungläubig nach.

„Was würde das bringen? Das, was geschehen ist, lässt sich sowieso nicht mehr rückgängig machen. Außerdem… ist es meine eigene Schuld…“, erklärte Gin mit leiser Stimme. Der Polizist sah ihn noch ungläubiger an, sodass sich tiefe Falten auf seiner Stirnen bildeten.

„Sie geben sich selbst die Schuld für das, was Ihnen zugestoßen ist?“ Er schien es wirklich nicht wahrhaben zu wollen.

„Ja. Ich hätte nicht so naiv sein dürfen. Das hab ich jetzt davon.“, erwiderte Gin. Das, was passiert war, hatte er sich zweifellos selbst zuzuschreiben. Er würde Rye niemals die Schuld dafür geben. Wenn er die Gefahr von Anfang an erkannt und die Warnungen seines Geliebten nicht immer auf die leichte Schulter genommen hätte, dann hätte er seinem Schicksal vermutlich entgehen können. Aber so war er nun mal. Rye hatte damals womöglich mit seinem Vorwurf recht damit gehabt, dass er stets zu viele unnötige Risiken einging. Und nun hatte er seine gerechte Strafe dafür erhalten.

„Sagen Sie so etwas doch nicht. Ich kann verstehen, wie Sie sich fühlen. Sie sind nicht der Erste, dem das passiert ist. Die meisten Opfer-“

„Hören Sie bitte auf damit. Sie verstehen mich überhaupt nicht.“, unterbrach Gin den Beamten mit einem bewusst gewählten hysterischen Tonfall. Er war also das Opfer? Na schön. Dann würde er sich auch wie eines verhalten.

„Herr Kurosawa-“

„Nein! Ich möchte Sie dringlichst bitten, jetzt zu gehen. Wenn Sie das nicht tun, werde ich eine Schwester rufen.“, fiel er dem Kerl erneut ins Wort. Das war wohl der einfachste Weg, ihn am schnellsten wieder loszuwerden. Es schien zu funktionieren. Der Polizist ließ sein Notizblock sinken.

„Schon gut. Ich werde Sie nicht länger belästigen. Und Sie sind sich sicher, dass Sie wirklich keine Anzeige erstatten wollen?“, wollte er sich vergewissern.

„Bin ich. Und ich wünsche, dass in meinem Fall nicht ermittelt wird. Das können Sie ihren zuständigen Kollegen auch ausrichten.“, stellte Gin klar, woraufhin dem Polizisten ein Seufzen entwich.

„Wie Sie meinen.“ Er ging endlich in Richtung Tür. „Dann noch gute Besserung.“

Gin schwieg und wartete, bis die Tür geschlossen wurde und er wieder allein war. Dann lehnte er sich erleichtert im Bett zurück. Immerhin wäre das jetzt erledigt. Inwieweit der Polizist ihm letztlich Glauben schenkte und ob dessen Kollegen seiner Aufforderung nachkommen würden, war erst mal nicht so wichtig. Zumindest würde man ihn fürs Erste in Ruhe lassen und keine Ermittlungen aufnehmen. Eine Sorge weniger. Blieb nur noch seine größte Sorge mit dem Namen Rye übrig.

Sollte ich ihm von dem Gespräch erzählen? Vielleicht hatte er auch einfach am meisten Angst vor der Polizei… Wenn ich ihm sage, dass er aus dem Schneider ist, kommt er vielleicht wieder…“ Gin beschloss, ihm heute Abend nochmal auf die Mailbox zu sprechen, da der Schwarzhaarige höchstwahrscheinlich wieder nicht ans Handy gehen würde. Die Nachrichten hörte er bestimmt dennoch alle ab. Aber ob ihn diese letzten Endes auch umstimmen würden, wagte Gin zu bezweifeln. Missmutig wanderte seine Hand zur Fernbedienung, um den Fernseher wieder einzuschalten. Es war alles echt zum kotzen. Ihm fiel hier drin beinahe die Decke auf den Kopf. Und allein der Gedanke, dass er noch mehrere Tage in diesem Bau schmoren musste, brachten ihn fast dazu, sich aus dem nächstbesten Fenster stürzen zu wollen.

Das kann ja noch heiter werden…“, dachte er deprimiert.

 

 

5 Tage später

 

Gin atmete erleichtert auf, als er endlich wieder in seiner Wohnung angekommen war. Zum Glück war der Weg vom Krankenhaus hierher nicht allzu weit gewesen, denn ganz so gut auf den Beinen war er noch immer nicht. Längere Strecken waren noch sehr mühselig und nicht jede Bewegung konnte er problemlos ausführen, ohne dass er nicht von Schmerzen gequält wurde. Von den Tabletten würde er sich daher nicht so schnell verabschieden können. Es war auch nicht wirklich einfach gewesen, den Arzt von seiner etwas frühzeitigen Entlassung überzeugen zu können. Am Ende schien er wohl aufgegeben zu haben und hatte den Silberhaarigen nach einer langen Predigt bestehend aus Anweisungen und Hinweisen zur Vorsicht nach Hause geschickt. Die fünf Tage hatten sich eher angefühlt wie fünf Jahre. Insbesondere weil Gin nichts anderes hatte tun können, außer fernzusehen und nebenher Löcher in die Luft zu starren. Selbst die Mahlzeiten hatte er nach zwei Tagen nicht mehr sehen können und das tägliche Wechseln des Verbands an seinem Hals, welchen er gerade unter einem Rollkragen verbarg, hatte ihm auch irgendwann den letzten Nerv genommen. Nachts ein Auge zu zubekommen war nahezu unmöglich gewesen. Zum einen wegen des unbequemen Bettes und der Schmerzen, zum anderen wegen der ständigen Gedanken um Rye, welcher nach wie vor kein Lebenszeichen von sich hören ließ.

Gin hatte versucht, damit zurechtzukommen, und die Abwesenheit des Schwarzhaarigen zu ignorieren. Doch je länger dieser fort war, umso schlechter fing Gin an, sich zu fühlen. Es war ein ganz seltsames, unbeschreibliches Gefühl. Als befände sich ein schwarzes Loch in seiner Brust, welches ihn von innen zerfraß und nichts als eine einsame Leere zurückließ, die Gin beinahe den Verstand raubte. Er begriff es einfach nicht.

Bevor er Rye kennengelernt hatte, war er fast sein ganzes Leben lang allein gewesen. Nie hatte er irgendwelche Freunde gehabt. Nie hatte sich jemand für sein Wohlergehen interessiert oder gar Liebe für ihn empfunden. Genau aus diesem Grund war Gin der festen Überzeugung gewesen, das Alleinsein ertragen zu können. Weil er geglaubt hatte, daran gewöhnt zu sein. Doch offenbar hatte er sich geirrt.

Er war nicht im geringsten dazu in der Lage, es ertragen zu können. Nicht, wenn es um Rye ging. „Er hat mir beigebracht zu lieben… aber auch, wie es sich anfühlt, Angst zu empfinden… schreckliche Angst… jemanden zu verlieren…“

Gin stellte seine Sachen im Schlafzimmer ab und lehnte sich gegen die Tür. Da stand er nun. War zurück am Ort des Geschehens. Es hatte sich rein gar nichts verändert. Alles sah noch genau wie vor einer Woche aus, als er aus diesem Zimmer transportiert wurde. Nur mit dem Unterschied, dass Ryes Kleidungsstücke nicht mehr da waren. Erst jetzt wurde sich Gin eigentlich bewusst, wie viel Blut er verloren haben musste. Sein Bett ließ den Eindruck entstehen, als sei dort drin jemand auf brutale Weise gestorben. Und so war es für ihn nicht mehr schwer zu erahnen, wie sich Rye gefühlt haben musste, als er neben ihm an jenem Morgen aufgewacht war.

Gin wandte den Blick vom Bett ab, da sich sein Magen plötzlich verkrampfte.

Ich muss… dringend die Bettwäsche wechseln… und wahrscheinlich auch eine neue Matratze kaufen…“, dachte er frustriert. Zweiteres könnte er später erledigen, doch das Blut sollte er lieber gleich beseitigen, bevor ihm noch der letzte Rest von dem widerlichen Krankenhausessen hochkam. Eigentlich hatte er noch nie Probleme mit Blut gehabt. Und eigentlich ging es auch gar nicht um das Blut an sich, sondern darum, wie es zustande gekommen war.

Gin kniff die Augen zusammen und ging mit schnellen Schritten zum Bett, bevor er hastig das Bettlaken von der Matratze zog. Er verstaute darin sowohl Kissen als auch Decke und verknotete das Ganze am Ende zu einem riesigen Sack. Dann verharrte er und bemerkte dabei seine zitternden Hände. Blut. So viel Blut. Gin wich vom Bett zurück.

Ich mache es doch später…“, beschloss er und drehte sich anschließend zum Nachtschrank, um sein Handy zu nehmen. Dessen Akku schien mittlerweile leer zu sein, da es sich nicht mehr anschalten ließ. Gin kramte das dazugehörige Ladekabel aus dem Schrank und ging danach eilig aus dem Schlafzimmer. Die Übelkeit nahm sofort wieder etwas ab, sobald er dieses hinter sich gelassen hatte und stattdessen das Wohnzimmer betrat. Dort schloss er sein Smartphone an eine Ladestation an, sodass er es wieder einschalten konnte. Jedoch bereute er dies im folgenden Moment auch schon. Das Gerät vibrierte vor verpassten Anrufen. Allerdings handelte es sich keineswegs um verpasste Anrufe von Rye.

Scheiße.“ Gin vergrub sein Gesicht in den Händen. Er war erledigt. Der Boss würde ihn lebendig begraben lassen.

Was soll ich ihm sagen…? Was, wenn er schon alles erfahren hat…“ Vater hatte überall seine Quellen und in den meisten Fällen entging ihm nichts. Gin konnte nur hoffen, dass der Ältere nicht so sehr an seinem Verbleib interessiert gewesen war, dass er Nachforschungen hatte anstellen lassen.

Vielleicht war es nichts Wichtiges gewesen… außerdem bin ich ihm egal… ich war ihm… schon immer egal gewesen…“ Nie hätte Gin geglaubt, dass ihn das eines Tages mehr beruhigen als verletzen würde. Er atmete tief durch. Doch die einkehrende Ruhe in seinem Körper hielt nicht lange an. Ihn durchbebte ein gewaltiger Schock, als das Smartphone an seinem Ohr auf einmal zu vibrieren begann.

Das ist doch ein schlechter Witz…“, dachte er, während er auf das Display starrte. Annehmen oder vibrieren lassen? Beide Entscheidungen waren nicht sonderlich klug. Besser ich stelle mich dem einfach, sonst wird es noch schlimmer.“

Er nahm den Anruf an und begann mit möglichst fester Stimme: „Was ist los?“

„Was los ist? Das wagst du mich auch noch zu fragen, nachdem du tagelang nicht erreichbar warst?“, schoss der Boss sogleich in einer finsteren, strengen Tonlage zurück, die Gin einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Er konnte sich auf die Schnelle keine plausible Ausrede ausdenken. Während seines Krankenhausaufenthalts hatte er das auch nicht versucht, jedoch überwiegend aus dem Grund, weil er Vater nur sehr ungern anlog. Denn die Folgen einer aufgedeckten Lüge wären schlichtweg zu fatal, als dass er es riskieren wollte.

„Es gab gewisse… Komplikationen… nicht weiter wichtig.“, wich er daher aus, wofür er gleich darauf die Quittung bekam.

„Du wirst mir jetzt sofort sagen, wo du gewesen bist.“, verlangte der Boss. Es war jedes Mal erschreckend, wie man den Zorn aus seiner Stimme deutlich heraushören konnte, ohne dass er wirklich wütend dabei klang, sondern stets beherrscht. Gin versuchte sich nicht davon beirren zu lassen.

„Und warum willst du das wissen? Es ist immer noch meine Angelegenheit, wo ich mich wie lange aufhalte.“, entgegnete er.

„Wo du bist und für wie lange, entscheide am Ende immer noch ich. Das weißt du ganz genau. Insbesondere wenn du tagtäglich von einer blutsaugenden Bestie umgeben bist. In der aktuellen Situation können wir es uns nicht leisten, unvorsichtig zu sein.“, wies der Boss ihn zurecht. Gin biss sich auf die Unterlippe. Er kam nicht umhin, sich zu fragen, ob sich Vater vielleicht ein bisschen um ihn gesorgt hatte. Und was meinte er mit ‚in der aktuellen Situation‘? War etwa irgendwas passiert, wovon Gin noch nicht wusste? Etwas, was die aktuelle Situation zu einer hochgradig gefährlichen Situation machte?

„Ich war aber nicht unvorsichtig. Und er ist keine blutsaugende Bestie.“

„Es ist mir egal, was er ist. Wo ist er?“ Die eiserne Tonlage drang tief zu Gin durch und weckte in ihm unweigerlich die Befürchtung, dass Rye etwas Dummes angestellt hatte. Vaters Stimme nach zu urteilen, würde er diesen am liebsten in Stücke reißen wollen. Gin schwieg. Er konnte die Frage nicht beantworten. Auch wenn er es noch so sehr selbst wissen wollte.

„Gin.“, drängte der Boss ihn nach ein paar Sekunden, weshalb sich der Silberhaarige doch zu einer Antwort zwang.

„Ich… weiß es nicht…“, gab er schließlich zu.

„Wie du weißt es nicht? Er ist doch sonst immer bei dir.“

„Nicht mehr… Er ist weg, schon seit einer Woche.“ Gin war sich dessen bewusst, dass er Rye jetzt gewiss keinen Gefallen tat. Was auch immer der Boss dem Schwarzhaarigen im Moment vorwerfen wollte – damit hatte Gin diesen Vorwurf nur noch untermauert.

„Wirklich seltsam, dass du genau so lange nicht erreichbar warst.“ Es war offensichtlich, dass Vater bereits mit Bestimmtheit wusste, dass das eine mit dem anderen zusammenhing. Natürlich lag er richtig. Doch das würde Gin niemals direkt zugeben.

„Ich konnte ihn ebenso wenig erreichen.“, meinte er nur, um ein wenig vom Offensichtlichen abzulenken.

„Na schön. Dann weiß ich jetzt wenigstens, wer hinter all dem steckt. Aber das war ja zu erwarten gewesen.“ Die Worte des Bosses erfüllten Gin unerwartet mit Schrecken. Also doch. Irgendwas musste passiert sein.

„Wovon sprichst du?“, wollte er wissen.

„Von dem Grund, weshalb ich dich versucht habe zu kontaktieren. Ich wollte dir mitteilen, dass wir Cognac und seine Familie gefunden haben.“

„Das ist doch aber-“

Tot.“

Gin erstarrte. Warum schockierte ihn diese Neuigkeit so dermaßen, obwohl es von Anfang an zu erwarten gewesen war? Doch nun, wo er es erfahren hatte, konnte er es nicht glauben.

„Wie…“, brachte er hervor. Vaters Antwort war noch schockierender.

„Das solltest du lieber deinen Vampirfreund fragen.“

In Gins Kopf begann sich automatisch ein schleierhaftes Puzzle zusammenzufügen, welches ihn Antworten auf Fragen lieferte, die er sich weigerte, in Gedanken zu stellen. Weil er Rye diese Tat nicht zutraute und bereits unbewusst jemand anderen verdächtigte.

„Warum sollte er dafür verantwortlich sein?“ Wenn es auch nur irgendeinen, ansatzweise logischen Grund gab, dann wollte er ihn wissen. Auch wenn es längst völlig sinnlos war, nach einem zu suchen. Rye hatte Cognac nie kennengelernt. Und zum Zeitpunkt von dessen Verschwinden war er wiederum noch nicht verschwunden gewesen. Cognacs Tod konnte schlichtweg nichts mit Rye zu tun haben. Aber mit etwas anderem, das eine weitaus größere Gefahr ausstrahlte und dessen Name Gin nicht einmal gedanklich aussprechen wollte…

„Gin.“, ermahnte ihn der Boss plötzlich. „Hör endlich auf dir einzureden, es würde auch nur einen Funken Gutes in dieser Kreatur stecken. Das war zweifellos sein Werk. Die Zurichtung aller Leichen beweist es. Kein anderer Täter würde seinen Opfern Blut entnehmen und sie am Ende so hinterlassen, als seien sie von einem wilden Tier zerfetzt worden. Das kann nur er gewesen sein.“

Gin schluckte. Obwohl Vater ihn mit diesen Worten von Ryes Schuld überzeugen wollte, erreichte er damit das komplette Gegenteil. Gin spürte, wie sein Herz anfing zu rasen und ihn eine unbeschreibliche Angst beschlich. Angst vor etwas, dessen Macht er nicht vollständig einschätzen konnte.

„Nein. Er muss es nicht gewesen sein.“, sagte er und machte somit unausgesprochen deutlich, wen er stattdessen verdächtigte. Der Boss brach daraufhin in Schweigen aus. Als er antwortete, hatte sich seine Tonlage auf seltsame Weise verändert: „Du weißt, welche Alternative es nur noch geben kann, oder?“

„Ja…“ Wahrscheinlich musste es so sein. Sie hatten es beide auf der Veranstaltung bereits in Erwägung gezogen. Und letzten Endes war es ohnehin nur eine Frage der Zeit gewesen, bis Eclipse aus seinen dunklen Schatten heraustreten und sich in Bewegung setzen würde. Und niemand wusste, wie sie agierten und welches Ziel sie dabei verfolgten. Doch eines stand fest: Es handelte sich ohne Zweifel um Kreaturen, die Rye problemlos das Wasser reichen konnten und vielleicht sogar viel stärker als er waren.

„Glaub mir, in diesem Fall sollten wir uns wünschen, dass er dafür verantwortlich ist.“, erwiderte der Boss trocken, womit Gin ihm nur ungern recht gab. Inzwischen wünschte er sich wirklich, dass Rye die Tat begangen hatte. Dann würde er zumindest nicht in ernster Gefahr schweben.

„Aber wir können es dennoch nicht einfach ausschließen.“

„Mag sein, dass du damit recht hast.“

Danach breitete sich Stille aus. Gin würde nur zu gern wissen, was der Ältere in diesem Moment dachte. Aus welchem Grund auch immer schien er Eclipse zu kennen oder irgendeine Verbindung zu dieser Organisation zu haben. Aber warum? Und warum hatte Gin dann noch nie zuvor von ihnen gehört?

„Und was sollen wir jetzt tun?“, fragte er nach einer Weile, um das angespannte Schweigen zu brechen. Er selbst hatte überhaupt keine Idee. Was sollte man auch gegen solche Kreaturen ausrichten können? Sie waren wie Rye unbesiegbar. Nichts konnte sich ihnen in den Weg stellen.

Ich werde der Sache nachgehen. Irgendwohin werden meine Nachforschungen mich schon führen und dann entscheide ich, wie weiter vorgegangen wird. Du hingegen wirst gar nichts tun. Bleib da, wo du bist. Das ist ein Befehl.“

Gins Augenbrauen zogen sich entrüstet zusammen. Das verstand er nicht. Was sollte das auf einmal? Seit wann wollte Vater ihn aus solchen Angelegenheiten raushalten?

„Was? Wieso? Ich könnte doch-“, wollte er protestieren, wurde jedoch von der schneidenden Stimme des Bosses unterbrochen.

„Du wirst deine Wohnung nicht verlassen, haben wir uns verstanden? Ich werde dich informieren, sobald das hier erledigt ist. Und falls Rye in der Zwischenzeit wieder auftauchen sollte, wirst du mir das unverzüglich mitteilen.“, stellte er klar und Gin erkannte an seiner Tonlage, dass kein weiterer Widerspruch gestattet war. Ihm blieb trotz wachsender Verwirrung keine andere Wahl, als den Anweisungen Folge zu leisten. Er wollte Vater nicht noch mehr verärgern.

„Verstanden…“, erwiderte er.

„Das hoffe ich doch. Und wage es nicht, diesen Befehl zu missachten.“

Nach diesen Worten legte der Boss auf. Gin ließ die Hand sinken und starrte ins Leere. Was nun? Was sollte er tun? Konnte er überhaupt etwas tun?

Verdammt Rye, wo steckst du…“ Er fuhr sich über die Stirn. Alles wäre bei weitem unkomplizierter, wenn Rye wenigstens hier wäre. Dann könnten sie gemeinsam nach einer Lösung suchen. Doch jetzt war sich Gin nicht einmal sicher, was er glauben sollte. Es gab nur zwei Möglichkeiten. Entweder Rye hatte die Tat begangen oder nicht. Und wenn dem nicht so war, kam nur Eclipse infrage. Dann würde sein Geliebter in sehr großen Schwierigkeiten stecken.

Verzweifelt tippte Gin Ryes Nummer auf seinem Smartphone ein. Er lauschte dem gleichmäßigen Tuten an seinem Ohr, bis schließlich die Mailbox ertönte. Während die altbekannte Frauenstimme sprach, dass der Gesprächsteilnehmer zurzeit leider nicht erreichbar war, drängte sich ein neuer, angsteinflößender Gedanke in Gins Kopf.

Und was, wenn er nicht rangehen kann? Wenn sie ihn bereits…“ Er tat einen zittrigen Atemzug. Nein. Rye würde sich bestimmt nicht so leicht fangen lassen.

Aber falls doch… und wenn Eclipse die Nachrichten liest und abhört…“ Gin legte schnell auf. Es machte ihn zunehmend fertig, vollkommen im Dunkeln zu tappen. Er könnte noch zig Vermutungen über Ryes Verbleib anstellen und würde dennoch zu keiner Antwort gelangen. Doch wenn der Schwarzhaarige in Gefahr war, dann musste er ihm helfen. Egal, ob er letztlich eine Chance gegen Eclipse hätte oder nicht. Er musste es wenigstens versuchen. Andernfalls würde er sich das niemals verzeihen, wenn sie Rye etwas antaten.

Ob ich sein Handy noch einmal orten kann?“ Zwar hatte sein Geliebter es ihm beim letzten Mal ausdrücklich verboten, aber Gin tat einfach bewusst so, dieses Verbot nie gehört zu haben und probierte, den Standort von Rye zu ermitteln.

War ja klar…“ Zwecklos. Es funktionierte nicht. Ryes GPS war ausgeschaltet. Gin stieß ein Seufzen aus und setzte sich vorsichtig auf das Sofa. Also konnte er wirklich nicht das Geringste ausrichten und nur hoffen, dass es Rye gut ging und er bald wieder zurückkehren würde. Jedoch bezweifelte der Silberhaarige, dass er lange genug imstande wäre, dieser Tatsache tatenlos ins Auge zu blicken.



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