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The Monster inside my Veins

von

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Namenlose Gesichter

Benommen öffnete Rye seine Augen, woraufhin er sofort von einem grellen Weiß geblendet wurde. Es wunderte ihn, dass er sich erst an das helle Licht gewöhnen musste. Scheinbar lag er auf etwas Hartem. Er wollte aufstehen, was jedoch feste Schnallen um seine Hand- und Fußgelenken verhinderten. Selbst sein Hals schien an den Untergrund festgeschnallt zu sein, sodass es ihm nicht einmal möglich war, den Kopf zu heben, um sich genauer im Raum umzusehen. Er konnte ihn lediglich leicht nach links und rechts drehen und erblickte daraufhin eine schlichte Einrichtung mit vielen komplizierten Geräten, die einem OP-Saal glich und ihm seltsam vertraut vorkam.

Diese Vertrautheit machte ihm Angst. Er glaubte, dass er tatsächlich schon öfters hier gewesen war. Doch an den Grund wollte er sich nicht erinnern. Stattdessen startete er einen neuen Versuch, sich von den lästigen Schnallen loszureißen, was ihm doch eigentlich mit Leichtigkeit gelingen sollte. Doch warum jetzt nicht mehr? Was war auf einmal los? Warum war er so schwach? Zudem bemerkte er, dass irgendwas an seinen Schläfen klebte. Nicht nur dort. Auch an anderen Stellen seines Körpers schien etwas zu kleben, das ihn mithilfe von dünnen Kabeln mit einem Gerät verband, welches er in dieser Position nicht sehen konnte.

Sind das… Elektroden…?“, fragte er sich begleitet von einem eiskalten Schauer über den Rücken, obwohl er die Antwort bereits wusste. Denn er lag hier nicht zum ersten Mal. Sie hatten dieses Horrorspiel schon mehrmals mit ihm gespielt. Auch wenn man es nicht wirklich als ein Spiel bezeichnen konnte. Es war viel mehr eine Strafe. Eine ganz besondere Strafe, in deren Genuss nur er kommen durfte.

„Du kennst die Regeln.“, sagte plötzlich jemand. Ja. Das stimmte. Er kannte die Regeln. Aber sie waren ihm allesamt egal.

„Doch wenn du sie jedes Mal mutwillig brichst, musst du die Konsequenzen tragen.“, fügte die Stimme mit einem bedrohlichen Unterton hinzu. Im Augenwinkel sah Rye, wie eine verschwommene Gestalt neben dem Tisch herlief, bevor sie wieder aus seinem Sichtfeld verschwand. Die Befürchtung, was jeden Moment auf ihn zukommen würde, versetzte ihn mehr und mehr in Panik. Doch warum? Warum hatte er solche Angst? Diese Menschen konnten ihm doch gar nichts anhaben. Sie konnten ihm keine physischen Schmerzen zufügen. Niemand konnte das.

Irgendwas stimmt hier nicht…“, wurde Rye klar. Und als er kurz darauf seinen Puls wahrnehmen konnte, welcher ihm bis in die Fingerspitzen schlug, realisierte er auch, was das war: Er war selbst ein Mensch. Das hier war nur ein Traum.

Aber wann bin ich eingeschlafen…?“ Er wusste es nicht mehr. Doch wenn er wirklich gerade schlief, dann war das erst der Anfang. Seine Albträume schickten ihn meist immer hierher zurück. Zurück nach Eclipse. Und all die Qualen, die er in dieser Organisation hatte durchleben müssen, würden sich trotz des Traums unweigerlich real anfühlen. Dazu zählten auch die Schmerzen, die ihn gleich ereilen würden.

„Bitte nicht…“, flüsterte er mit zittriger Stimme. Er wollte das nicht. Er wollte nicht hier sein. Er wollte wieder aufwachen. Die Stromschläge taten immer so unerträglich weh, dass er sie schon lange nicht mehr aushalten konnte und oft am Ende das Bewusstsein verlor. Hinzu kam, dass diese Schweine auch noch jedes Mal die Voltzahl erhöhten. Wie lange er das wohl noch überlebte?

„Hast du jetzt etwa Angst? Dabei warst du doch vorhin noch so übermütig.“, sprach die Stimme ihn erneut in einem schadenfrohen Tonfall an. Er sah, wie eine fremde Hand sich seinem Mund näherte, um ihm scheinbar eine Art Mullbinde einzuführen. Instinktiv riss Rye den Kopf zur Seite und presste die Lippen fest zusammen. Er wollte nicht, dass diese widerlichen Kerle ihm in den Mund fassten. Doch er konnte es wohl nicht verhindern, da plötzlich zwei andere Hände seinen Kopf gewaltsam wieder in die richtige Position brachten, bevor jemand die Finger von Außen zwischen sein Gebiss drückte, sodass sich sein Mund automatisch wieder öffnete.

„Sei schön brav, wir wollen doch nicht, dass du dir versehentlich deine freche Zunge ausbeißt.“, kommentierte die Stimme seinen kläglichen Widerstand belustigt. Rye würde ihm am liebsten eine reinhauen. Vielleicht könnte er das später auch noch, wenn sich der Traum ausnahmsweise zu seinen Gunsten fortsetzen würde. Jedoch bezweifelte er das. Denn diese Träume existierten lediglich, um ihn zu foltern und ihm nebenher Erinnerungen an die Vergangenheit aufzuzwingen, die er einfach für immer vergessen wollte. Beides würde er nicht kampflos zulassen.

Inzwischen war die Mullbinde fest zwischen seinen Kiefer geklemmt. Obwohl er die Gesichter der Gestalten um sich herum nicht erkennen konnte, glaubte er dennoch, ihr niederträchtiges Grinsen sehen zu können. Rye warf ihnen einen finsteren Blick zu.

Doch im nächsten Moment wurde all sein Hass nebensächlich, als qualvolle Schmerzen seinen Körper ohne Vorwarnung überrollten. Seine Muskeln verkrampften sich durch die Wirkung des Stroms und er fing an, wie wild zu zittern, während sich sein Gesicht verzog und er einen gedämpften Schrei ausstieß. Sein Sichtfeld verschwamm und wurde letzten Endes schwarz.

Sobald Rye die Augen erneut aufschlug, stellte er fest, dass er sich längst in einer anderen, lebhafteren Räumlichkeit befand. Auch dieser Ort kam ihm bekannt vor.

„Ist dir etwa kalt oder warum zitterst du so?“

Rye wandte erschrocken den Blick zur Seite, woraufhin er eine weitere, verschwommene Traumgestalt erblickte. Der Größe und der hellen Stimme nach zu urteilen, schien es sich um ein kleines Mädchen zu handeln. Er wollte ihr gerade antworten, als sich plötzlich noch jemand anderes in das Gespräch einmischte.

„Du siehst auch ganz blass aus. Nicht, dass du uns noch krank wirst. Sollen wir lieber zurück aufs Zimmer gehen?“ Die Stimme war männlich, weich und ganz warmherzig. Die Person selbst schien auch eine angenehm ruhige Warmherzigkeit auszustrahlen, sodass sich Rye in ihrer Nähe automatisch sicherer und geborgen fühlte. Obwohl er nicht mal wusste, wer diese Person überhaupt war, die ihn scheinbar gut kannte und ihm nun besorgt auf die Schulter fasste.

„Was ist los, 12?“, wollte die Person wissen. Rye fühlte sich auf wundersame Weise zu ihr hingezogen. Warum übermannte ihn auf einmal ein unüberwindbares Verlangen, herauszufinden, welches Gesicht sich hinter dieser schönen Stimme verbarg? Er war drauf und dran, die Erinnerung zuzulassen… dieser Person eine Bedeutung zu geben und ihrem Gesicht einen Namen zuzuordnen…

Doch bevor das passieren konnte, stand Rye ruckartig auf und meinte abweisend: „Nichts. Mir geht es gut.“

Anschließend entfernte er sich von den beiden Gestalten und ging zur Tür. Als er sie öffnen wollte und sich noch einmal umdrehte, sah er, wie plötzlich mehrere dunkle Schatten am Tisch saßen, die ihn alle anzustarren schienen. Rye riss schnell die Tür auf, verließ den Saal und schlug sie hinter sich zu.

Draußen im Gang waren sämtliche Wärme und Vertrautheit mit einem Mal verschwunden, als wären sie nie da gewesen. Der Traum nahm wieder seine altgewohnte, düstere Form an, die drückend auf Rye wirkte und ihm Angst einjagte. Prüfend ließ er seinen Blick durch die Dunkelheit wandern, darauf wartend, welche Gefahr ihn als Nächstes heimsuchen würde. Doch nichts geschah. Es blieb totenstill. Allmählich fing Rye an, den Sinn dieses Traums zu hinterfragen.

Vielleicht sollte ich in mein Zimmer gehen…“, überlegte er. Ob der Traum genau das bezwecken wollte? „Es ist ohnehin nirgends sicher…“

Vorsichtig tastete er sich durch die Finsternis. Zwar hatte er keine Ahnung, wo sich sein Zimmer befand, jedoch hoffte er auf dem richtigen Weg zu sein. Nach einer Weile fiel ihm auf, dass seine Schritte nicht die Einzigen im Gang waren. Rye erstarrte und blieb auf der Stelle stehen. Es war nichts zu hören. Er drehte langsam den Kopf nach hinten, woraufhin ihn ein Schock durchfuhr. Am anderen Ende des Gangs standen mehrere Schatten von Personen. Rye beobachtete sie für ein paar Sekunden, doch sie regten sich nicht.

„Was wollt ihr?!“, schrie er dann. Wieder Stille. Nichts passierte. Er verengte misstrauisch die Augen.

Da fingen die Schatten auf einmal an zu rennen. Rye machte augenblicklich auf dem Absatz kehrt und lief so schnell er konnte davon. Auch solch eine Situation war ihm nicht neu. Er wurde schon öfters verfolgt. Mal hatten sie ihn erwischt, mal konnte er ihnen entkommen. Wie es wohl heute ausgehen würde?

In den Kurven rutschte Rye beinahe aus und musste sich an den Wänden abfangen. Zwischenzeitlich versuchte er ein paar Türen, an denen er vorbeilief, aufzureißen, um sich ein mögliches Versteck suchen zu können. Bisher jedoch erfolglos. Die Türen waren alle verschlossen und je mehr er versuchte zu öffnen, desto dichter waren ihm die Schatten auf den Fersen. Erst bei der letzten Tür im Gang hatte er zum Glück Erfolg. Er stürmte in den Raum dahinter und presste sich mit aller Kraft gegen die Tür, damit die Schatten nicht hereinkommen konnten.

Während er verzweifelt seine Atmung wieder beruhigte, rüttelte die Tür hinter ihm mehrere Male. Dabei hielt er die Augen geschlossen und betete gedanklich, dass seine Kraft ausreichen würde.

Als das Rütteln irgendwann stoppte, entfernte er sich vorsichtig von der Tür und behielt diese wachsam im Blick. Erst dann sah er sich genauer in dem kleinen, hohen Raum um, bei welchem es sich um ein schlichtes Schlafzimmer mit einem Hochbett handelte, sodass höchstens zwei Personen hier Platz zum Schlafen fanden. Der Rest der Einrichtung bestand lediglich aus einem Tisch mit zwei Stühlen, einem Waschbecken und einem Kleiderschrank. Ganz oben, sodass man einen der Stühle auf den Tisch stellen müsste, um hinaussehen zu können, befand sich ein kleines Fenster. Rye glaubte sich zu erinnern, dass sich die Fenster nur anklappen ließen. Er hatte öfters versucht, sie komplett zu öffnen und beim ersten Mal wäre er fast vom Stuhl gefallen. Generell hasste er dieses Zimmer, obwohl er wahrscheinlich sehr viel Zeit hier drin verbracht hatte. Mit seinem unbekannten Mitbewohner, welcher stets oben im Bett geschlafen hatte, da es Rye zu umständlich gewesen war, jedes Mal die dünne Leiter benutzen zu müssen. Doch der Schlafplatz unten war auch mit einem Nachteil verbunden gewesen.

Rye setzte sich auf die Matratze und musste den Oberkörper leicht krümmen, damit er sich nicht den Kopf stieß. Genau das war ihm nämlich hin und wieder nach dem Aufwachen passiert.

Und dann hat er sich immer über das Geländer gebeugt und mich ausgelacht…“, fiel es Rye dann auch wieder ein. Ein Schmunzeln umspielte seine Lippen. Doch wer war er? Etwa die Person von vorhin, die so vertraut mit ihm geredet hatte? Rye schüttelte hastig den Kopf. Wieder versuchte dieser verdammte Traum, ihn auf die Probe zu stellen.

Ich will mich nicht erinnern.“, redete er sich ein und wiederholte den Satz mehrere Male, bis plötzlich ein Klopfen seinen Gedankenfluss unterbrach. Rye schaute unsicher zur Tür. Würde jemand, der ihm etwas zuleide tun wollte, vorher anklopfen? Bestimmt nicht. Oder das war gerade der Trick.

Im nächsten Moment klopfte es erneut. Rye schluckte, bevor er sich überwand und „Herein“ rief. Er kniff die Augen zusammen, als die Tür begleitet von einem Knarksen geöffnet und danach geschlossen wurde.

„Hier bist du also.“, sprach jemand. Schon wieder eine neue, männliche Stimme, die Rye irgendwoher kannte. „Ich hab mir schon Sorgen gemacht.“

Scheinbar hatte die Person nicht vor, ihm Schaden zuzufügen, weshalb Rye die Augen langsam öffnete. Wie erwartet war auch dieses Gesicht verschwommen und er konnte nicht erkennen, um wen es sich handelte. Doch dieser Mann schien einen langen, weißen Kittel zu tragen. Seine Gestalt war komplett weiß. Selbst seine Haare besaßen eine weiße oder graue Farbe. Rye würde es für ungewöhnlich halten, wenn er nicht wüsste, dass Gins Haare die gleiche Farbe hatten. Aber das hier war nicht Gin.

„Ich wurde verfolgt.“, erwiderte Rye. Warum er dieser Person das erzählte, wusste er selbst nicht genau. Doch der Mann schien es zu verstehen. Er kam näher.

„Dachte ich mir. Was hast du diesmal angestellt?“, fragte er. Rye drehte den Kopf zur Seite und zuckte mit den Schultern.

„Weiß nicht…“

Daraufhin musste der Mann leise lachen, bevor er heiter entgegnete: „Du machst wirklich nichts als Ärger.“

Ryes Augen wurden groß. Doch er sah den Mann nicht an. Diesen Satz hatte er eben nicht zum ersten Mal gehört. Meistens hatte genau dieser Mann das zu ihm gesagt, welcher plötzlich direkt vor ihm stand und ihm ein paar Strähnen hinters Ohr strich.

„Mein Schöner…“, flüsterte er verträumt, während er seine Wange entlang strich und dann sein Kinn anhob, um ihn zu…

„Lass mich in Ruhe!“, schrie Rye ihn an und wollte unmittelbar zurückweichen, wobei er mit dem Hinterkopf an das Gestell des Bettes knallte. Die stechenden Schmerzen ignorierend, rutschte er bis zur Wand und funkelte die Person von dort aus wütend an. Allerdings schien diese über die abweisende Reaktion überrascht zu sein.

„Was hast du denn?“ Traurigkeit und Enttäuschung lagen in der Stimme des Mannes. Rye ließ sich davon nicht täuschen. Wenn der Kerl ihm nochmal zu nah kommen würde, dann…

„Hey, Rye…“, fügte die Stimme besorgt hinzu. Gins Stimme. Das vor ihm war Gin. Ryes Augen weiteten sich. Wie war das möglich?

„Gin…?“, hakte er verunsichert nach, woraufhin sich sein Geliebter zu ihm auf das Bett gesellte. Rye atmete erleichtert auf. Auch wenn er es noch immer nicht verstand.

„Hab ich dir irgendwas getan?“, fragte Gin mit gehobener Augenbraue. Der Schwarzhaarige schüttelte schnell den Kopf und ergriff Gins Handgelenk.

„Nein, natürlich nicht… tut mir leid…“ Jetzt bereute er es, zuvor so abweisend reagiert zu haben. Er rückte noch näher an seinen Geliebten heran und legte seinen Kopf auf dessen Schulter ab. „Ich verstehe nur nicht, warum du hier bist…“

Gin streichelte ihm über den Haaransatz.

„Das solltest du dich am besten selbst fragen.“, meinte er leise.

Stimmt… Es ist immerhin mein Traum…“ Rye schmiegte sich fester an Gin, während er schweigend nach einer Erklärung suchte. Er hatte ihn seit einer Woche nicht mehr gesehen. Die Zeit ohne ihn war ihm so schrecklich lang vorgekommen. Voller Leere und Einsamkeit. Doch es musste sein. Zu wissen, dass sein Geliebter noch lebte und auf dem Weg der Besserung war, genügte ihm. Er durfte Gins Leben unter keinen Umständen nochmal in Gefahr bringen, was nur möglich war, wenn er ihm fernblieb. Aber dennoch…

„Ich vermisse dich…“, murmelte Rye. Es war kaum auszuhalten.

„Dann komm wieder zurück.“ Selbst im Traum schien Gin die Dinge einfacher zu sehen, als sie es eigentlich waren. Oder er vermisste ihn in Wahrheit noch viel mehr, dass ihm alles andere egal war. Doch wieso nur? Wie konnte Gin ihn nach allem, was passiert war, immer noch lieben? Wie konnte er ihm überhaupt noch in die Augen schauen, ohne dabei nicht das Monster zu sehen, welches Rye in Wirklichkeit war?

„Das kann ich nicht.“, antwortete er.

„Warum?“

„Du weißt, warum…“

„Etwa, weil du mich umgebracht hast?“

Rye erschrak. Nein. Das war nicht wahr. Gin ging es besser. Der Krankenwagen war noch rechtzeitig gekommen…

„Nein, nein, das hab ich nicht…!“, behauptete Rye im aufbrausenden Tonfall, erstarrte jedoch, als er plötzlich eine Bisswunde an Gins Hals entdeckte, die unaufhörlich blutete. Der Silberhaarige starrte ihn emotionslos an und erwiderte: „Doch, hast du.“

Seine Stimme klang wie ein Echo. Als Rye zitternd eine Hand ausstreckte und ihm widersprechen wollte, wurde plötzlich alles ringsherum schwarz. Sein Blick schoss panisch in verschiedene Richtungen und zuletzt nach unten, wo er seinen Geliebten blutüberströmt am Boden wiederfand.

„Gin!“ Rye fiel auf die Knie. Er drehte Gin auf den Rücken und wich unmittelbar darauf verstört zurück, als er dessen blasses, erkaltetes Gesicht sah. Wie das einer…

Nein, er ist nicht…“, dachte er kopfschüttelnd, bevor er begann, Gin an den Schultern zu rütteln. Doch dieser blieb trotz aller Bemühungen Ryes reglos.

„Bitte wach auf! Ich wollte das nicht! Verzeih mir!“, schrie er verzweifelt. Aber seine Worte erreichten Gin nicht mehr. Es war zu spät. Er war tot. Seinetwegen.

Rye verharrte und verkrampfte seine Hände in Gins Schultern. Sie hätten sich niemals kennenlernen dürfen. Damals, in der Bar, hätte er einfach den Blick von ihm abwenden und stattdessen einen anderen Partner auswählen sollen. Doch obwohl Rye wusste, dass Gin schon immer besser ohne ihn dran gewesen wäre, so wollte er die Ereignisse dennoch nicht rückgängig machen. Selbst dann nicht, wenn er es könnte. Dafür liebte er ihn viel zu sehr.

Rye beugte sich zu Gin herunter und vergrub sein Gesicht in dessen Brust.

„Lass mich nicht allein…“, flehte er wimmernd.

 

 

„Hey, Sie! Was machen Sie hier?!“

Rye wurde von einer wütenden, kratzigen Männerstimme geweckt, die seine ohnehin schon schlechte Laune noch mehr in den Keller sinken ließ. Er öffnete die Augen und erblickte einen alten Greis mit Latzhose und Bart über sich.

„Können Sie nicht lesen?! Das hier ist Privatgelände!“, fuhr dieser ihn erneut wütend an, sobald er zu merken schien, dass Rye wach war. Seine große Gestalt wurde von der hellen Nachmittagssonne umrandet und warf einen Schatten auf den Schwarzhaarigen, welcher auf einer löchrigen Plane neben einigen Blechtonnen lag. Er stützte sich auf den Händen ab und blinzelte den alten Mann unbeeindruckt an.

Anscheinend ist dieser Industriepark doch nicht so verlassen.“, stellte er fest. Er hatte gehofft, hier seine Ruhe zu haben. Allerdings hatte diese Ruhe nur noch mehr dazu beigetragen, dass er wohl versehentlich eingeschlafen war. Müde war er definitiv nicht gewesen. Nur, wenn man fast zwei Stunden am selben Fleck verbrachte und es nichts gab, womit man sich die Zeit vertreiben konnte, dann konnten einem vor Langeweile auch mal die Augen zufallen. Womöglich begleitet von der Annahme, der Tag würde so schneller vergehen.

„Verschwinden Sie gefälligst oder ich ruf die Polizei!“ Offensichtlich schien Ryes Schweigen den Greis nur noch mehr zu provozieren. Er seufzte und richtete sich auf.

„Ist ja gut.“, meinte er genervt im Vorbeigehen. Dann musste er sich eben ein neues, stilles Plätzchen suchen.

Als er dem alten Mann den Rücken zukehrte, hörte er von diesem noch gereizt in leiserer Tonlage: „Lästiges Obdachlosengesindel…“

Rye blieb stehen und ballte die Hände zu Fäusten. Irgendwie war er heute auch sehr leicht zu provozieren. Es schien sonst niemand weiter in der Nähe zu sein und der Kerl machte nicht den Eindruck, als würde es jemanden in seinem familiären Umfeld geben, der ihn vermissen würde, wenn er verschwand…

Rye schüttelte den Kopf und versuchte seinen Zorn zu vertreiben.

Der ist es nicht wert…“, dachte er, bevor er davon sauste und das Gelände verließ.

Anschließend ging er zurück in die Innenstadt und schlenderte dort ziellos durch die Straßen, wie er es an den vorherigen Tagen auch getan hatte. Je nachdem, wie ihm gerade zumute war, hielt er sich an unterschiedlichen Orten auf. Beispielsweise auf Dächern von Hochhäusern, in Parks, in unbewohnten Gebäuden oder auch in der Kanalisation. Eigentlich spielte es keine Rolle, wo genau er sich herumtrieb. Wichtig war nur, dass er weit genug von Gin entfernt war, um ihm nicht wehtun zu können. Allerdings auch nicht zu weit weg, damit er ihm im Ernstfall noch zur Hilfe eilen konnte. Denn Gefahren lauerten an jeder Ecke, weshalb der Schwarzhaarige lieber auf Nummer Sicher gehen wollte. Doch solange Gin ihm noch SMS schickte oder versuchte, ihn anzurufen, brauchte sich Rye keine Sorgen zu machen. Auch wenn es ihm zunehmend schwerer fiel, die Anrufe seines Geliebten zu ignorieren. Besonders die hinterlassenen Nachrichten auf der Mailbox ließen ihn schwach werden. Aber sie machten ihn auch ein bisschen wütend, weil Gin die ganze Zeit versuchte, das Geschehene herunterzuspielen und dabei so tat, als sei alles wieder in Ordnung. Doch dem war überhaupt nicht so. Rye hätte ihn um ein Haar getötet. Er würde Gins Anblick von jenem Morgen niemals vergessen: Regungslos, kreidebleich, blutüberströmt und von blauen Flecken übersät. Zu oft war es so geendet, dass Rye frühs neben einem Toten aufgewacht war. Es hatte nahezu an ein Wunder gegrenzt, dass Gin noch geatmet hatte. Wenn auch nur sehr schwach.

Nichtsdestotrotz hatte Rye eine ganze Weile benötigt, um zu realisieren, was er getan hatte. Dass er für Gins lebensbedrohlichen Zustand verantwortlich gewesen war. Dass die Bisswunde an dessen Hals wirklich von ihm gestammt hatte. Doch spätestens als er das getrocknete Blut an seinen Händen und um seinem Mund bemerkt hatte, war es ihm klar geworden: Er hatte von Gins Blut getrunken.

Dessen erregender Geschmack war noch immer so stark in seinen Kopf eingebrannt, dass er allein bei der bloßen Erinnerung sofort wieder durstig wurde. Nur zu gern hätte er jeden Tropfen für sich beansprucht. Dieser Rausch war anders als die Vorherigen gewesen. Tiefer und viel mehr von Lust erfüllt. Er hatte sich noch nie so vollkommen gefühlt. Und genau für diese Empfindungen würde sich Rye am liebsten in Stücke reißen. Warum musste sich ausgerechnet Gins Blut von das all der anderen Menschen so sehr unterscheiden? Warum musste es besser schmecken? Wobei das noch untertrieben war. Der Geschmack war nahezu einzigartig. Zudem wurde Rye das seltsame Gefühl nicht los, dass sich seither irgendwas in ihm verändert hatte. Aber das war vermutlich nur eine Einbildung oder gar ein Streich, den sein Verlangen nach Blut ihm spielte, um ihn dazu zu bringen, noch mehr von Gins verlockendem Blut zu kosten. Als sei es beim letzten Mal nicht genug gewesen…

Genug jetzt. Denk an was anderes.“, ermahnte sich Rye in Gedanken und biss vor Wut die Zähne fest zusammen. Aber wie sollte er an etwas anderes denken? Alles, woran er dachte, bereitete ihm irgendwie nur Schmerzen, Kummer und Sorgen. Es gab keine Ablenkung, die lang genug anhielt.

Wie spät ist es überhaupt… Es ist schon eine Weile her, seit sich Gin das letzte Mal gemeldet hat…“ Rye suchte in den Jackentaschen nach seinem Handy, um die Uhrzeit und seine Nachrichten zu überprüfen. Da er nicht sofort fündig wurde, blieb er kurz auf dem Gehweg stehen und kramte alle Taschen intensiver durch. Nichts.

Das kann nicht sein…“ Wieso war es nicht mehr da? Hatte es ihm etwa jemand gestohlen? Eigentlich spürte Rye meist sofort, wenn ein Mensch ihm zu nah kam oder ihn gar berührte. Selbst im Schlaf gelang es niemandem, sich unbemerkt an ihn heranzuschleichen. Also fiel die Option schon mal weg.

Wahrscheinlich hab ich es irgendwo liegen lassen…“ Rye schlug sich gegen die Stirn. Das könnte zum Problem werden. Er musste sein Handy so schnell wie möglich wiederfinden, bevor es in die Finger einer fremden Person geraten konnte.

Heute Morgen war es definitiv noch da gewesen, da Gin mich kurz vor Mittag zuletzt angerufen hat… danach habe ich es glaube nicht mehr benutzt…“, überlegte er gründlich. Er ging gedanklich alle Orte durch, wo er heute Morgen gewesen war oder sich länger aufgehalten hatte. Auf Anhieb fiel ihm sofort der Sumida Park ein, wo er am gleichnamigen Fluss einen kurzen Spaziergang gemacht und zwischenzeitlich mehrere Minuten auf einer der Bänke dort verweilt hatte. Er erinnerte sich, dass er von seinem Platz aus den Skytree hatte beobachten können.

Wenn ich es wirklich da vergessen habe, ist die Chance wohl leider sehr gering, dass es noch dort liegt.“, dachte Rye frustriert. Aber es schadete auch nicht, sich zumindest zu vergewissern und nachsehen zu gehen. Zur Not musste er eben die Fundbüros in der Nähe abklappern.

 

Im Park angekommen, suchte Rye nach der Bank, auf welcher er gesessen hatte. Sonderlich leicht war das nicht, da sich viele Umgebungen sehr ähnlich sahen und es ihm ein paar Mal so vorkam, als würde er manche Stellen doppelt und dreifach absuchen. Während er unter den inzwischen halb verblühten Kirschbäumen entlang ging, behielt er den Skytree zur Orientierung stets im Blick. Heute Morgen waren weit weniger Menschen hier gewesen, womöglich aus dem Grund, weil die meisten erst jetzt von der Arbeit kamen. Doch das beeinträchtigte Rye nicht wirklich bei der Suche. Nur wuchs damit die Wahrscheinlichkeit, dass jemand das Handy vor ihm fand und mitnahm. Allerdings glaubte der Schwarzhaarige im nächsten Moment, tatsächlich ein Smartphone auf einer leeren Bank liegen zu sehen, die sich etwas abseits befand.

Seltsam…“, schoss es ihm durch den Kopf, bevor er gezielten Schrittes auf die Bank zuging und das Smartphone in seine Hand nahm.

Es liegt bestimmt schon seit mehreren Stunden hier, warum hat es noch niemand mitgenommen…?“ Er starrte das Gerät ungläubig an, als würde es ihm nicht gehören. Doch es war zweifellos seins. Er wischte mit dem Finger über den Bildschirm, sodass sich das Handy entsperrte und ihm kurz darauf sein Hintergrundbild von Gin zeigte, welches er heimlich mal im Einkaufszentrum von diesem gemacht hatte. Abgesehen davon, dass der Akku etwas weniger geworden war, hatte sich nichts verändert. Neue Anrufe oder SMS hatte er auch nicht bekommen.

Rye runzelte misstrauisch die Stirn. Wie selten kam es vor, dass er in seinem Dasein mal Glück hatte? Da ging eindeutig etwas nicht mit rechten Dingen zu.

Ich sollte aufhören, mir schon wieder so viel unnötige Gedanken zu machen und es einfach so hinnehmen, wie es ist…“ Seufzend steckte er das Handy zurück in seine Jackentasche. Von jetzt an würde er besser darauf aufpassen. Der Sache auf den Grund gehen konnte er ohnehin nicht mehr. Er sollte sich viel lieber auf seine nächste Mahlzeit konzentrieren und sich danach eine geeignete, von Menschen befreite Bleibe für die Nacht auswählen. Wie viel Zeit noch vergehen musste, bis ihn seine Beine letzten Endes wieder zurück zu Gin trugen, konnte er noch nicht genau sagen. Bis dahin wusste er hoffentlich, wie er ihm am besten gegenübertreten sollte, ohne dass er gleich darauf den Boden unter seinen Füßen verlor.



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