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The Monster inside my Veins

von

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Besuch

Aufgewühlt lief Rye im Wohnzimmer auf und ab. Hinter der Couch blieb er ruckartig stehen und sah sich prüfend im Raum um. Ihm fiel nichts Ungewöhnliches auf. Jedoch achtete Gin bestimmt mehr auf andere Details, was also bedeutete, dass dem Silberhaarigen trotzdem etwas auffallen könnte. Obwohl sich Rye zu hundert Prozent sicher war, alle Spuren beseitigt zu haben. Mit einem analysierenden Ausdruck in den Augen musterte er den rauen Stoff des Ecksofas an genau der Stelle, an welcher er Vermouth vor drei Tagen das Leben genommen hatte. Ein zufriedenes Lächeln umspielte seine Lippen, als die Erinnerung an diese Tat vor seinem inneren Auge kurz aufblitzte. Es war wirklich seltsam befriedigend, dass sie tot war. Aber auch verwirrend, dass er seine Tat nicht bereute. Sonst tat er das immer. Immer hatte er sich elend, schuldig, oder gar abscheulich gefühlt. Doch jetzt suchte ihn keines dieser Gefühle heim. Er war sich über seine Handlungen im Klaren gewesen und hatte diese sogar noch ausführlich geplant. Vielleicht war das der entscheidende Unterschied, der ihn diesmal nichts bereuen ließ. Es war alles von seinem freien Willen ausgegangen. Er hatte sie töten wollen.

Ihre Leiche hatte er noch in derselben Nacht weggebracht. An einen sicheren, gut versteckten Ort. Also gab es doch eigentlich keinen Grund zur Sorge.

„Wieso bin ich dann trotzdem nervös?“, überlegte er. „Etwa nur, weil Gin jeden Moment auftauchen wird und er zum ersten Mal meine bescheidende Wohnung betritt?“

Dennoch blieb ihm ein Rätsel, aus welchem Grund sich sein Partner überhaupt dazu entschieden hatte herzukommen. Ein paar Fragen schienen ihm nicht die Mühe wert zu sein. Der Verdacht, es könnte etwas mit Vermouth zu tun haben, wollte nicht ganz verschwinden.

Im nächsten Augenblick läutete es auch schon. Rye verließ das Wohnzimmer und ging mit schnellen Schritten zur Eingangstür. Ohne die Sprechanlage zu betätigen, öffnete er die Tür und musste sein Erstaunen verbergen, als er Gin dahinter erblickte. Zwar hatte er seinen Partner bereits einmal ohne dessen typischen, schwarzen Ledermantel und Hut gesehen, doch der erneute Genuss dieses schönen Anblicks überraschte ihn nicht weniger. Der dunkelblaue Doppelreiher Trenchcoat und die schwarze Jeans standen ihm wirklich gut. So wirkte er nicht so ernst und fast wie ein Freund, der spontan auf einen Besuch vorbei gekommen war.

„Willst du mich nicht hereinbitten?“, fragte Gin plötzlich mit gehobener Augenbraue.

„Was-? Eh-… Ja. Komm rein.“, erwiderte Rye verdattert und wurde sich bewusst, dass er den Silberhaarigen bisher nur sprachlos angestarrt hatte.

Als Gin an ihm vorbeiging, versuchte der Schwarzhaarige unbemerkt dessen Duft einzuatmen. Er roch nach Zigarettenqualm. Aber auch irgendwie süßlich. Ob das der Geruch seines Blutes war? Oder einfach nur ein Parfüm? Letzteres hielt er für unwahrscheinlich. Er schloss langsam die Tür und folgte seinem Partner durch den Flur.
 

Gin ließ seinen Blick durch den Flur schweifen, in welchem ihm aber nichts Ungewöhnliches auffiel. Daher öffnete er zielstrebig die nächstbeste Tür und betrat das Wohnzimmer. Was ihn bereits irritierte, war Ryes abwesendes Verhalten. Aber wenn er genauer darüber nachdachte, hatte sich der Kerl ohnehin noch nie normal benommen.

„Warst du vor drei Tagen mit Vermouth hier?“, erkundigte er sich.

„Möglich.“, hörte er Rye hinter seinem Rücken mehrdeutig antworten.

„Willst du deine Jacke nicht lieber ausziehen?“

„Ich bevorzuge es, sie anzubehalten. Und ich möchte, dass du meine Fragen mit Ja oder Nein beantwortest, verstanden?“, stellte Gin klar, als er sich zu dem Schwarzhaarigen drehte und betonte seine Aussage bewusst so, dass sie sogar für Kleinkinder gut verständlich war. Er hatte wirklich keine Lust auf irgendwelche geheimnisvollen Frage-Antwort-Spielchen, über deren Bedeutung er sich noch tagelang den Kopf zerbrechen müsste. Rye nickte mit einem schelmischen Lächeln auf den Lippen.

„Sie war hier.“, beantwortete er die Frage. Natürlich nicht mit einem einfachen ‚Ja‘.

„Was habt ihr-… Für wie lange?“ Gin biss sich auf die Unterlippe. Er hatte beinahe die falsche Frage gestellt. Die Frage, deren Antwort er auf keinen Fall erfahren wollte. Ryes eindringlicher Blick machte ihn aus unerklärlichen Gründen nervös, weshalb er unauffällig den Kopf zur Seite drehte. Dabei vergaß er völlig, dass er den Schwarzhaarigen genau im Auge behalten wollte, um dessen Gesichtszüge während der Antworten zu analysieren. Doch das Blatt schien sich sehr schnell gewendet zu haben. Denn er war derjenige, der sich von Rye analysiert fühlte.

„Nach einer Stunde ist sie wieder gegangen. Warum? Ist ihr etwas passiert?“, bohrte dieser neugierig. Wer wusste schon, ob das nicht gespielt war. Gin versuchte seinem Gegenüber wieder in die Augen zu schauen und verriet: „Sie ist seit drei Tagen verschwunden. Und ich frage dich, weil du sie anscheinend zuletzt gesehen hast.“

„Ach so, du machst dir also Sorgen um sie.“ Ryes Stimme besaß auf einmal einen verärgerten Unterton und Gin konnte erkennen, wie sich die Fingernägel des Schwarzhaarigen langsam in dessen Handflächen drückten. Doch sein Blick blieb emotionslos.

„Nein.“, stellte Gin klar - wobei sich Ryes Fäuste umgehend wieder lockerten - und fügte hinzu: „Ich wurde damit beauftragt sie zu suchen.“

„Aha. Und jetzt verdächtigst du mich zuerst, nur weil ich sie zuletzt gesehen haben soll? Das kannst du doch gar nicht wissen.“, schoss Rye beleidigt im lauten Tonfall zurück und setzte abrupt einen Schritt nach vorn, sodass Gin zurückwich.

„Nun ja, nehmen wir mal an, jemand hat ihr etwas angetan. In dem Fall würde der Täter sie natürlich zuletzt gesehen haben. Also ja, das könntest nach meinem aktuellen Wissen, auch du sein.“, unterstellte er ihm, woraufhin sich die Gesichtszüge seines Partners verdüsterten und ihm eine bedrohliche Aura verliehen. Gin hatte ihn damit wohl weiter provoziert. Was aber seiner Meinung nach besser war, als sich einschüchtern zu lassen. Das kam überhaupt nicht in Frage. Er bereitete sich innerlich darauf vor von Rye wütend angeschrien oder zurechtgewiesen zu werden. Dessen Miene nach zu urteilen fehlte bis dahin nicht mehr viel. Jedoch lösten sich gegen Gins Erwartung die angespannten Gesichtsmuskeln seines Gegenübers. Kurz darauf hörte er ein leises Kichern, welches nach und nach immer lauter wurde, bis Rye schallend vor sich hin lachte.

Verdattert zog Gin die Augenbrauen nach oben und wich zur Sicherheit noch ein paar Schritte zurück. Zugegeben, er hatte bisher nie Angst empfunden, aber das war wirklich gruselig.

Rye lehnte sich gegen den Sofarücken und fasste sich mit der Hand an die Stirn. Seine Augen glänzten vor Erheiterung und schielten zu dem Silberhaarigen herüber.

„Jetzt verstehe ich.“, begann er, immer noch lachend. „Du gehst davon aus, dass ich ihr etwas Zuleide getan habe und hast mich deswegen nicht ohne Hintergedanken besucht. Die Fragen dienen nur zur Ablenkung, damit du unauffällig meine Wohnung nach Hinweisen durchsuchen kannst. Hab ich recht?

Ein Schauer durchlief Gin. Das war direkt ins Schwarze getroffen. Nun bereute er seine vorherige Aussage und würde sie am liebsten zurücknehmen. Aber hatte er sich wirklich nur deswegen verraten? Wie gerissen war dieser Kerl bitte?
 

Mit einem amüsierten Lächeln musterte Rye seinen Gegenüber. Er wusste, dass er richtig lag. Sonst hätte Gin ihm wahrscheinlich längst geantwortet. Dessen Miene war so kalt und emotionslos wie immer. Als wäre sie eine Maske der Abwehr, um das Empfinden zu verbergen und seinen Stolz zu bewahren. Aber da bemühte er sich vergeblich. Denn auch wenn Rye es Gin äußerlich nicht ansah, konnte er deutlich hören, wie das Herz des Silberhaarigen höher schlug. Ein Anzeichen für Nervosität. Doch es war besser es unkommentiert zu lassen. Gin war einfach zu gut darin sich nichts anmerken zu lassen, sodass eine abschätzige Bemerkung ungewöhnlich wirken würde.

Allerdings täuschte Rye auch nur den Unbekümmerten vor und überspielte seine wahren Emotionen genauso. In Wirklichkeit gefiel es ihm gar nicht, dass Gin ihm so schnell auf die Schliche gekommen war und bereits verdächtigte. Nur weil er Vermouth zu sich eingeladen hatte. Während Gins Anwesenheit. Vielleicht war das doch kein so kluger Schachzug gewesen.

„Aber dass er mich nur deswegen sofort verdächtigt… Er scheint mich wirklich nicht sonderlich zu mögen.“, dachte Rye und unterdrückte ein Seufzen. Was würde er alles dafür tun, um von Gin respektiert zu werden. Nicht mehr lange und er wäre gezwungen zu anderen Mitteln zu greifen. Doch das war momentan weniger von Belang. Erstmal musste es ihm gelingen, den Verdacht des Silberhaarigen zu zerstreuen. Und er hatte auch schon eine Idee, wie er das schaffen konnte.

„Na schön.“, betonte er in einem herausfordernden Tonfall. „Sieh dich in Ruhe um. Überall, wo du willst. Ich möchte ja nicht, dass du völlig umsonst hierher gekommen bist.“ Er zwinkerte Gin mit einem süffisanten Lächeln zu, welcher daraufhin stutzig die Stirn runzelte. Wenn der Schwarzhaarige ihm freiwillig anbot die Wohnung zu durchsuchen, sollte es so wirken, als hätte er ohnehin nichts zu verbergen.

„Oder er denkt, es ist nur eine Finte...“ Irgendwie schätzte er Gin so ein. Genau das würde er denken. „Weil er mir nicht vertraut.“ Der Gedanke reizte ihn.

„Ich weiß, was du vorhast. Du tust so, als sei es dir egal, um den Verdacht von dir abzulenken. Aber das funktioniert nicht.“, offenbarte sein Partner mit scharfem Unterton. Wie befürchtet. Rye hatte ihn richtig eingeschätzt. Mit geschürzten Lippen beobachtete er, wie sich Gin begann offen im Raum umzusehen. Er hatte trotzdem nicht vor, es dabei zu belassen.

„Nach was willst du denn überhaupt suchen?“, wollte er wissen, ließ den Silberhaarigen aber nicht zu Wort kommen und fing stattdessen an scherzhaft zu raten: „Ein Haar? Blutspuren? Abgetrennte Körperteile? Oder vielleicht ihre Leiche?“

Dabei wirbelte er dramatisch mit den Händen herum.

„Sei still.“, murmelte Gin genervt, der gerade ein Regal durchkramte. Dort würde er schon mal nichts finden.

„Dass du mir aber nichts durcheinander bringst, ich möchte später nicht stundenlang aufräumen.“ Rye ignorierte Gins Antwort und versuchte ihn weiterhin aus dem Konzept zu bringen. Denn auch wenn sich der Silberhaarige dadurch genervt fühlte, drauf eingehen tat er trotzdem.

„Ich hab gesagt du sollst still sein!“, erfolgte sogleich die erwartete Reaktion. Ryes Mundwinkel zuckten und er musste sich ein Kichern verkneifen.

„Entzückend, wie schnell er gereizt ist.“, dachte er amüsiert. Gin warf ihm einen bösen Blick zu, bevor er eilig das Wohnzimmer verließ. Rye sah ihm neugierig hinterher. Als er ihm folgte, stellte er fest, dass sein Partner soeben die Tür zum Schlafzimmer geöffnet hatte. Zumindest befand er sich nicht mehr im Raum des stattgefundenen Mordes, was Rye ein wenig erleichterte. In anderen Räumen war Vermouth sowieso nicht gewesen und er musste sich keine Gedanken mehr machen.

„Du musst mir nicht wie ein Hund hinterhergelaufen kommen.“, meinte Gin abfällig, während er das Zimmer betrat. Es war offensichtlich, dass er sich von Ryes bloßer Anwesenheit gestört fühlte. Dieser ließ sich davon nicht beeinflussen und entgegnete tonlos: „Das ist meine Wohnung.“

„Richtig.“, stimmte Gin ihm zu und zog zeitgleich die Decke mit einem Ruck vom Bett, nur um daraufhin auf eine leere Matratze zu blicken. „Aber du hast gesagt ich darf mich in Ruhe umsehen.“, ergänzte er betonend.

„Okay, okay. Ich bin ja schon ruhig.“, versprach Rye. Aber das glaubte er sich selbst nicht einmal. Sein Schweigen würde mit Sicherheit nicht sehr lange andauern. Höchstens nur, wenn er sich ausreichend ablenkte. Doch es gab in dieser gesamten Wohnung momentan eben nur eines, was interessant genug für ihn war: Gin. Für alles andere war ihm seine Aufmerksamkeit viel zu schade.

Also lehnte er sich an die Wand und beobachtete still, wie sich der Silberhaarige vor dem Bett hinkniete, um einen Blick darunter zu werfen. Allein dieser Anblick brachte Rye zum schmunzeln. In seinem Kopf spielte er verschiedene Möglichkeiten durch, wie er sich die Situation zu Nutze machen könnte. Der Gedanke, dass sich Gin in seinem Schlafzimmer befand, er ihm schutzlos ausgeliefert war, es keine Zeugen gab und er eigentlich mit ihm machen konnte, was er wollte, bereitete ihm unverschämtes Vergnügen. Denn da gab es zu viele, abartige Dinge, die er am liebsten ohne zu zögern tun würde. Ohne dass Gin eine Chance hätte, sich zu wehren. Und es war beinahe unkontrollierbar diese Dinge nicht in die Tat umzusetzen. Warum er es nicht einfach tat oder was ihn noch davon abhielt, konnte er sich nicht erklären.

„Ich glaube, ich erlebe gerade ein wirklich besonderes Ereignis.“, begann Rye nachdenklich, wohlwissend, sein Versprechen gebrochen zu haben. Doch er musste sich mit Worten ablenken, bevor das hier ein böses Ende nehmen würde, weil er noch tiefer in seine Fantasien versank.

„Du... auf allen Vieren... in meinem Schlafzimmer...“ Er hoffte, dass Gins bissige Antwort ihn anderweitig erheitern konnte.

„Du musst auch echt alles kommentieren, oder?“, fragte der Silberhaarige genervt und richtete sich wieder auf. Rye lächelte schelmisch und zuckte mit den Schultern.

„Ist mir nur in den Sinn gekommen.“, erwiderte er mit einer Unschuldsmiene.

„Dann behalt‘s für dich.“, konterte Gin. Seine Augen zogen sich düster zusammen.

„Kann ich versuchen.“ Diesmal versprach Rye es nicht. Denn die Garantie, dass er es einhielt, gab es nicht. „Während du deine Durchsuchung fortsetzt, werde ich dir einfach weiterhin genüsslich dabei zusehen.“ Den Satz konnte er sich dennoch nicht verkneifen. Gin ließ die Bemerkung mit einem genervten Stöhnen und Augenrollen unkommentiert.
 

Eine halbe Stunde später lehnte sich Gin erbittert und leicht überanstrengt gegen die Holztischkante in der Küche. Jetzt hatte er fast alle Räume durchsucht und sämtliche, kleinen Ecken dieser blöden Wohnung inspiziert. Natürlich vergeblich. Zwar gab es ein paar Auffälligkeiten, die ihm komisch vorkamen, aber die standen nicht zwingend in Verbindung zu Vermouth. Beispielsweise wirkte Ryes Wohnung vom Gesamteindruck her ziemlich unbewohnt. So schlicht, unpersönlich und leblos. Alles war aufgeräumt, jedoch zu aufgeräumt. Er hätte beinah daran gezweifelt, dass dies hier überhaupt Ryes Wohnung war, wenn er nicht dessen Klamotten in den Schlafzimmerschränken gefunden hätte. Selbst die Matratze des Bettes war nicht bezogen. Weiterhin befand sich an vielen Stellen etlicher Staub. Sogar an Gegenständen, die man als normaler Mensch eigentlich täglich benutzte. Gin warf einen Blick auf die Herdplatte vor sich und das daneben befindliche Spülbecken, auf welchen ebenso eine Staubschicht lag.

„Hast du schon in der Mikrowelle nachgesehen?“, hörte er plötzlich eine amüsiert klingende Stimme hinter sich.

„Es war ja schon zu lange still gewesen...“ Gin warf einen Blick über die Schulter und sah Rye im Türrahmen stehen. Den Kerl erfolgreich zu ignorieren war wirklich eine unmögliche Kunst. Er wollte gar nicht aufzählen, wie oft er sich in der letzten halben Stunde beherrschen und die Zähne zusammenbeißen musste, um nicht auf die nervigen Anmerkungen des Schwarzhaarigen einzugehen, welcher sich dabei prächtig zu amüsieren schien.

„Halt die Klappe.“, murrte Gin und verschränkte die Arme. In seinen Fingern breitete sich ein Kribbeln aus, als er die Messer gegenüber an der Wand entdeckte, welche an einer Magnetleiste befestigt waren. Am liebsten würde er eins davon nehmen, um es in Ryes Richtung zu werfen. Aber er glaubte, dass sein Partner ohnehin ausweichen würde. So, wie er beim Abend des Meetings mit unbeschwerter Leichtigkeit ein Messer gefangen hatte. Seine Reaktionsfähigkeit war unmenschlich schnell.

„Vielleicht würde es sich doch lohnen.“, überlegte er.

„Du solltest wirklich lernen netter zu mir zu sein. Schließlich bist du derjenige, der sich gerade in der Höhle des Löwen befindet.“, sprach Rye ernst und stand plötzlich fast neben Gin. Ihm war gar nicht aufgefallen, wie sich der Schwarzhaarige vom Fleck bewegt hatte. Dennoch ließ dieser Satz Gins Alarmglocken läuten. Noch dazu kam ihm Ryes schlagartig veränderte Haltung unheimlich vor. Dessen gute Laune war aufgelöst, als hätte es sie nie gegeben.

„Was willst du mir damit sagen?“, fragte Gin vorsichtig in ernster Tonlage. Doch die Reaktion seines Gegenübers jagte ihm einen unangenehmen Schauer über den Rücken. Als hätte er Gins vorherige Absichten durchschaut, griff Rye nach einem der Messer an der Wand und beobachtete den Silberhaarigen aus den Augenwinkeln.

„Nichts… aber mal angenommen ich hätte, wie du vermutest, ihr etwas angetan oder sie sogar umgebracht. Was würde mich davon abhalten dich hier an Ort und Stelle auf die gleiche Weise zu töten?“, erklärte Rye völlig gelassen. Sein Blick war eindringlich. Doch seine Worte nicht zu deuten. Was sollten diese plötzlichen Psychospielchen? Dazu fiel Gin keine passende Antwort ein. Aber anscheinend brauchte er sich auch keine mehr zurechtlegen, da Rye von allein fortfuhr: „Warst du dir dieses Risikos nicht bewusst oder warum wolltest du mich trotzdem besuchen? Oder glaubst du in Wirklichkeit gar nicht, dass ich der Täter bin?“

Die Fragen brachten Gin zum nachdenken. Ja, warum hatte er diese Wohnung überhaupt betreten? Er kannte bereits viele von Ryes Fähigkeiten und war sich darüber im Klaren gewesen, dass sein Partner im Ernstfall kein leichter Gegner wäre. Und gerade in diesem Augenblick, während er den Schwarzhaarigen schweigend musterte, wie dieser mit dem Messer in seiner Hand spielte, zweifelte er sogar an seiner eigenen Überlegenheit. Aber er spürte nicht das kleinste Anzeichen von Angst. Der Gedanke, dass Rye eine Gefahr für ihn sein könnte, war ihm nie gekommen.

„Willst du mich jetzt etwa einschüchtern?“, fragte Gin ruhig und zog unbeeindruckt eine Augenbraue nach oben. Rye lächelte breit und trat mit einem Schritt direkt vor ihn. Das Messer befand sich immer noch fest in seiner Hand.

„Das ist nicht meine Absicht.“, gab er zu. „Aber letztlich sind wir doch alle Mörder. Auch du und ich.“

„Hast du gut erkannt, Sherlock.“, erwiderte Gin sarkastisch und rollte mit den Augen. Auch um seinem Gegenüber zu verdeutlichen, dass er sich wirklich nicht im geringsten eingeschüchtert fühlte.

„Und… wie viele Menschen hast du schon getötet?“, wollte Rye wissen. Es schien ihn tatsächlich zu interessieren. Nur aus welchem Grund verstand Gin nicht.

„Mir doch egal. Seh ich aus, als würde ich meine Zeit damit verschwenden meine Opfer zu zählen?“ Es war ihm schon immer gleichgültig gewesen. Denn was hatte es für einen Sinn, sich die Namen und Gesichter der Menschen zu merken, die man tötete? Sie waren tot und man würde ihnen nie wieder begegnen.

Da fuhr Gin vor Schreck zusammen, als plötzlich eine Messerspitze neben ihm in den Tisch gerammt wurde und Ryes freie Hand sich auf die andere Seite abstütze.

„Sei doch nicht gleich so gereizt. Das war eine ganz normale Frage.“, meinte der Schwarzhaarige beleidigt. Dessen kalter Atem strich über Gins Lippen, während sein eigener stockte. Ihre Nasenspitzen trennten nur noch wenige Zentimeter. So nah war er Rye noch nie gewesen. Er spürte, wie die smaragdgrünen Augen ihn mit ihrem kalten Blick durchbohrten. Doch er konnte sich nicht abwenden. Diese Augen hielten ihn im Bann. Sein rational denkender Teil befahl ihm sich aus der Schlinge zu befreien und Rye von sich wegzustoßen. Jedoch ein anderer, unbekannter Teil hinderte ihn daran und ließ seinen Körper erstarren.

Es war wirklich ein undefinierbares Gefühl. Wenn er nicht bald antwortete, würden sie womöglich noch ewig in dieser Position verharren. Denn Rye machte keinerlei Anstalten, sich vorzeitig von ihm abzuwenden.

Also zwang sich Gin doch eine Antwort über die Lippen: „Wie soll ich bei dem ganzen Durcheinander nicht gereizt sein? Allein die bevorstehende Suche nach Vermouth ist Grund genug dazu...“ Obwohl er seinen Kopf leicht drehte, um dem Blick des Schwarzhaarigen zu entkommen, hörte sich seine Stimme beschämter als gewollt an.

Im Augenwinkel konnte er sehen, wie Ryes Lippen ein Lächeln umspielte. Er spürte ein leichtes Zupfen in seinen Haaren und registrierte, dass sich Rye eine seiner silbernen Strähnen gegriffen hatte und diese nun spielerisch um den Zeigefinger wickelte.

„Dann lass mich dir helfen. Zu zweit geht die Suche bestimmt schneller voran.“, schlug Rye vor. Unmittelbar danach schüttelte Gin den Kopf.

„Du wärst mir ganz sicher keine Hilfe.“ Er schlug Ryes Hand abweisend von seinen Haaren weg, doch im selben Moment wurde nach seinem Handgelenk gegriffen.

„Ich kann mich bemühen.“, versuchte Rye ihn zu überzeugen, was er ihm keinesfalls abkaufte.

„Erst machst du dich über mich lustig, dann versuchst du mich umzubringen.“ Gin deutete auf das Messer, welches nach wie vor im Tisch steckte. „Und jetzt willst du mir plötzlich helfen? Vergiss es.“

Kurz darauf entwich dem Schwarzhaarigen ein leises Lachen. Gin runzelte die Stirn. Er wurde aus dem Kerl einfach nicht schlau.

„Noch dazu werd‘ ich von deinen Stimmungsschwankungen auf Dauer wahnsinnig.“, sprach er seinen Gedanken laut aus. Da verstummte Rye plötzlich, bevor er endlich Gins Handgelenk losließ und ihn mit großen Augen anstarrte.

„Ist es so schlimm?“, hakte er verunsichert nach.

„Merkst du das nicht?“, erwiderte Gin genervt. Schließlich ging er davon aus, dass sich Rye mit Absicht so verhielt. Um ihn gezielt aus der Fassung zu bringen. Und so schwer es war, das zuzugeben: bisher war das noch keinem so oft und so erfolgreich gelungen.

Doch dass Rye ein gequältes Lächeln aufsetzte, überraschte ihn erneut.

„Entschuldige.“, meinte er. Gin glaubte, sich verhört zu haben.

„Meint der das ernst?“, fragte er sich. Ryes geknickten Gesichtsausdruck nach zu urteilen, entsprach es der Wahrheit. Aber bei ihm konnte man nie wissen…

Weil er nichts dazu sagen wollte - zudem fiel ihm auch nichts Passendes ein - füllte er die Stille mit einem Seufzen. Nach einer Weile begann Rye vorsichtig: „Also darf ich-“

„Nein!“, schnitt Gin ihm jedoch das Wort ab, woraufhin sein Gegenüber einen Schmollmund zog.

„Aber als Partner hilft man einander.“, brachte er als Argument hervor, wovon sich Gin nicht überzeugen ließ. Das merkte auch Rye und sprach deshalb weiter: „Und überleg‘ doch mal: Solange wir Partner sind, muss ich auf Befehl des Bosses unter deiner Beobachtung bleiben. Das hast du selbst gesagt. Wenn du allein nach Vermouth suchst, wirst du schlecht beides tun können.“

Immer noch schwieg Gin. Es fiel ihm schwer, sich einzugestehen, dass Rye nicht falsch lag. Aber dessen Erklärung würde noch lange nicht ausreichen, um seine Meinung zu ändern.

„Was würde der Boss wohl sagen, wenn ich irgendwas Dummes anstelle, ohne dass du es vorher verhindern konntest, weil du deinen Befehl missachtet hast...“, säuselte Rye in unschuldiger Tonlage, die allerdings arglistige Hintergedanken verbarg.

„Du wirst aber nichts Dummes anstellen.“, stellte Gin mit einem drohenden Klang in der Stimme klar und sah den Schwarzhaarigen böse an.

„Oh doch das werde ich.“, offenbarte dieser und gab Gin mit einem hinterhältigen Grinsen zu verstehen, dass seine Aussage ernst gemeint war. Es sei denn, er ging seiner Bitte nach...

„Soll das eine Erpressung sein?“, fragte der Silberhaarige streng. Es war ohnehin zwecklos. Rye würde auf keinen Fall nachgeben. Und Gin wollte das Risiko nicht in Kauf nehmen. Am Ende bekam er vielleicht wirklich noch Ärger, den er überhaupt nicht gebrauchen konnte. Seine Nerven lagen bereits blank genug.

„Vielleicht.“ Rye presste die Lippen zusammen, um nicht Lachen zu müssen. Nach einem weiteren Seufzen gab sich Gin letztlich geschlagen und meinte: „Okay, meinetwegen. Dann hilf mir eben. Solange du dann aufhörst mir den letzten Nerv zu rauben.“

„Du wirst es nicht bereuen, versprochen.“, beteuerte Rye und legte seine Hände auf Gins Schultern. Sein darauffolgendes Lächeln war triumphierend.

„Das tu ich bereits.“, klagte Gin gedanklich, bevor er die bleichen Hände von seinen Schultern wegnahm. Entsprechend der Farbe fühlten diese sich sehr kalt, aber auch glatt an. Irgendwie war Gin aufgefallen, dass Rye schon die ganze Zeit, wenn auch auf eine exzentrische Weise, körperliche Nähe zu ihm suchte. Hoffentlich war das nur Einbildung.

„Das glaub ich dir erst, wenn ich es sehe.“, spottete er, um Ryes fragwürdiges Versprechen nicht unerwidert zu lassen. Er hatte das Gefühl, dass schwere Zeiten auf ihn zukamen. Seine Arbeit war jetzt schon anstrengender, als er sie bisher je erlebt hatte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Centranthusalba
2021-09-11T19:30:42+00:00 11.09.2021 21:30
Neee, ne? Du lässt mich jetzt nicht zwei Wochen lang so stehen, oder? 🤪
Antwort von:  ginakai
12.09.2021 14:10
Theoretisch kann ich auch schon eher das nächste Kapitel veröffentlichen, hab ja noch mehr als genug auf Reserve 😂 mal sehen 😉
Antwort von:  Centranthusalba
12.09.2021 14:10
Wär sehr nice 🤩
Antwort von:  ginakai
12.09.2021 14:11
bestimmt hab ich morgen abend dafür noch zeit 🤭
Antwort von:  Centranthusalba
12.09.2021 18:43
😻😻😻😻


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