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neko

von

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1

Heute war ein schöner Tag, eigentlich wie geschaffen um sich draußen die Beine zu vertreten. Darius blickte aus dem Fenster seines kleinen Häuschens. Da er am Rande der Stadt auf einer leichten Anhöhe wohnte, sah er die wunderbar leuchtenden Farben der Bäume, deren Grüntöne im Sonnenlicht strahlten. Diese Aussicht war einmalig, und er liebte sie, doch es kam zu häufig vor, dass er sie nur von drinnen aus sah.

Mittlerweile hatte er sich daran gewöhnt, dass er nicht einfach, wann er wollte, vor die Türe treten konnte, um spazieren zu gehen oder über den Marktplatz zu schlendern.

Zuerst hatten ihn seine Eltern bis zu ihrem Tod unter Verschluss gehalten, eingesperrt in sein Zimmer, da er für sie eine zu große Schande war. Danach war er freiwillig in seinem Käfig geblieben.

Geistesabwesend berührte Darius seine rechte Schläfe, fuhr am Haaransatz entlang über die Wange zum Ohr und konnte die Unebenheiten, die sich wie geschmolzenes Wachs unter seinen Fingerspitzen anfühlten, spüren. Es waren viele Jahre vergangen, seit er sich dieses Narbengeflecht zugezogen hatte; viele Jahre und viele Schmähungen. Es schien unmöglich, mit solch einem entstellten Gesicht von den Mitmenschen akzeptiert zu werden, selbst seine Eltern hatten es nicht über sich gebracht, ihn weiterhin als ihren Sohn anzuerkennen.

Zunächst hatte ihn das wütend gemacht, auch wenn er den Zorn in sich hineingefressen und ihn deswegen vermutlich niemand bemerkt hatte, dann war er traurig gewesen. Noch heute stellte er sich oft die Frage, wie viel Bedeutsamkeit die Menschen wirklich den inneren Werten eines anderen beimaßen, und wie wichtig im Gegensatz dazu ein ansprechendes äußeres Erscheinungsbild war. Diese Gedanken waren aber selten geworden. Er hatte bemerkt, dass er, egal was er tat, nichts daran ändern konnte und hatte sich seinem Schicksal gefügt. Oder zumindest fast.

Darius wandte sich vom Fenster ab und schlurfte zu seinem Sekretär in der Ecke des Raumes. Auf der Ablageplatte lag eine kleine Holzschachtel, die er jetzt öffnete. Vorsichtig griff er hinein und holte eine weiße Gipsmaske hervor. Irgendwann, als er es leid gewesen war, dass die Leute mit ausgestreckten Armen auf ihn zeigten und hinter seinem Rücken tuschelten, hatte er sie anfertigen lassen. Sie war genau an seine Gesichtsform angepasst, schneeweiß und glänzte im Licht. Natürlich konnte er so seine Narben verstecken, doch unauffälliger war er damit nicht. Statt Ekel schlug ihm lediglich unverhohlene Neugierde entgegen. Kein wirklich guter Tausch.

Er hielt sich die Maske vor sein Gesicht. Sie wurde am rechten Ohr befestigt, verlief am Haaransatz nach oben bis fast in die Mitte der Stirn, dann rechts an der Nasenwurzel vorbei, über die Wange und am Kiefergelenk zurück zum Ohr. Außerdem hatte sie ein Loch für sein Auge. Wenn er sie aufsetzte spürte er sie kaum, es war nur ein wenig ungewohnt, durch das kleine Loch zu schauen, wenn er gleichzeitig doch mit dem linken Auge ganz normal um sich blicken konnte.

Seufzend setzte Darius die Maske wieder ab legte sie sorgfältig zurück in die Schachtel. Weil er heute weder einkaufen gehen musste noch sonst etwas zu erledigen hatte, würde er sie nicht aufsetzen.

Vor einigen Jahren, als er als Kind gezwungenermaßen viel Zeit allein in seinem Zimmer verbracht hatte, hatte er eine Unmenge an Büchern gelesen und viel nachgeforscht. Schon immer hatte er die alten Geschichten, die die Leute heutzutage als Märchen und Sagen und manchmal sogar als Lügengeschichten titulierten, gemocht, hatte sich für das Leben von früher interessiert und auch für die Magie, die Jahrhunderte zuvor noch weitaus verbreiteter gewesen war als nun. Es gab noch immer Magier, das wusste jeder, doch irgendwann hatten die Menschen gemerkt, dass die Magie natürliche Grenzen hatte. Die Grenzen der Wissenschaften waren dagegen noch nicht erreicht; also hatte ein Interessenwandel stattgefunden, den Darius zwar durchaus verstehen, aber nicht unbedingt unterstützen konnte. Damals in seinem Zimmer hatte er natürlich noch nicht so einsichtig darüber gedacht.

Es hatte lange Zeit gedauert und ihn endlose schlaflose Nächte gekostet, bis er endlich dazu in der Lage gewesen war, was ihn in den Büchern seit jeher am meisten fasziniert hatte: Verwandlungen.

Es war weder seine Absicht, Wasser in Wein, noch Stroh in Gold zu verwandeln – wenn auch beides manchmal durchaus nützlich sein konnte – sondern er wollte sich selbst verwandeln. Er wollte sich verwandeln, sodass er zumindest für kurze Zeit aus seiner eigenen Haut in einen anderen, unversehrten Körper schlüpfen konnte.

Und er hatte Glück gehabt. Denn wie er erst später erfahren hatte, war für solch eine Art Magie weniger Übung und Zauberkraft notwendig, als vielmehr eine natürliche Veranlagung. Es war nämlich so, dass sich nicht jeder Mensch verwandeln konnte; diese Gabe war ein Geschenk, wenn auch niemand so recht wusste, woher dieses Geschenk kam und wer es warum bekam.

Vielleicht war es bei ihm ja der Ausgleich dafür, dass er den Großteil seines Lebens mit einer verunstalteten Gesichtshälfte verbringen musste.

2

Darius stieg die Leiter zu seinem Schlafzimmer durch eine Bodenluke empor. Oben angekommen zog er sich aus, legte seine weiße Alltagstunika ordentlich zusammengefaltet auf das Bett und setzte sich kniend daneben. Ihm fiel gerade noch ein, das Band, das seine langen Haare zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammenhielt, zu lösen und auf seine Kleidung zu legen.

Da er so selten das Haus verließ, war er recht blass, und sein Haar hatte ebenfalls eine fast weiße Farbe. Die hellbraunen Sommersprossen auf der Nase und auf der Wange seiner gesunden Gesichtshälfte stachen regelrecht hervor und ließen ihn nicht ganz wie ein fahles Gespenst aussehen, wenn er auch vielleicht eines war. Wer konnte das schon sagen, wenn er sich so selten draußen blicken ließ? Lebte er nicht wie eines?

Darius stützte die Hände vor sich auf das Laken, schloss die Augen und schüttelte alle Gedanken ab, die ihm durch den Kopf geisterten. Es war mittlerweile ein Kinderspiel; sobald er einmal den Dreh heraus gehabt hatte, war es so simpel, sich zu verwandeln. Er konnte sich nicht mehr vorstellen, wie es vor dem Augenblick gewesen war, als er diesen selbstverständlichen Mechanismus in sich entdeckt hatte, der ihm die Verwandlung ermöglichte. Er atmete tief ein und stieß den Atem dann in einem langen Zug wieder aus. Während die Luft aus ihm strömte, konnte er spüren, wie er zusammenschrumpfte. Die Augen hielt er geschlossen, nachdem ihm mehrmals ein wenig schwindlig dabei geworden war, als er dabei zugesehen hatte, wie sich sein Blick veränderte. Dass seine Organe sich ebenfalls verschoben, war ein seltsamer Gedanke und ein noch seltsameres Gefühl. Seine Arme und Beine verkürzten sich, aus den Poren in der Haut wuchs ein dichtes Fell, die Fingernägel krümmten sich zu kleinen Spitzen und aus dem Steißbein spross ein behaarter Schwanz. Die denkwürdigste Veränderung war vielleicht die Tatsache, dass die vernarbte Haut in seinem Gesicht sich in eine völlig gesunde wandelte, verborgen unter weichem Fell. Seine Ohren wurden spitz und wanderten etwas am Kopf nach oben, und eine Schnauze mit Schnurrhaaren schob sich dort nach vorn, wo vorher sein Mund und seine Nase gewesen waren. Die Verwandlung war vollbracht und er schlug die Augen auf.

Der Vorgang an sich war nicht besonders schmerzhaft, auch kein inniges Ritual, das nur unter bestimmten Umständen vollzogen werden konnte. Der Augenblick aber, in dem er die Augen öffnete, verschlug ihm jedes Mal kurz den Atem. Wie blind ein Mensch doch im Vergleich zu einer Katze war! Seine Sicht war einzigartig, tagsüber noch nicht einmal so beeindruckend wie nachts. Darius stand auf und sprang leichtfüßig auf vier Pfoten vom Bett. Er konnte ganz genau den Staub auf seinem Boden erkennen. Trotz all seiner tierischen Vorzüge und Nachteile war er doch er selbst, lediglich seine Hülle hatte sich gewandelt.

Er lief über den Holzboden zu dem kleinen runden Dachfenster, hüpfte auf den Sims und drückte mit seinem Kopf gegen die nur angelehnte Fensterscheibe. Sie öffnete sich einen Spalt breit, sodass er hindurchschlüpfen konnte, dann sprang er in einem eleganten Satz auf einen Ast der großen Platane, die gleich vor dem Fenster aufragte. Dieser Ausgang war wie geschaffen für ihn.

3

Auf der Straße herrschte geschäftiges Treiben. Es war Markttag, was bedeutete, dass beinahe das gesamte Dorf auf den Beinen war. Kinder tollten durch die engen Gassen, Frauen feilschten mit den Händlern um ein noch günstigeres Angebot als den angepriesenen Sparpreis und Männer schleppten die ergatterten Waren nach Hause. Karren ratterten lautstark über die plattgetretenen Straßen des Dorfes. Die Händler, die es sich leisten konnten, hatten ein Pferd vor ihren Wagen gespannt. Die anderen mussten ihre Karren selbst ziehen.

Darius beobachtete das Spektakel zunächst vom Baum aus sicherer Entfernung. Dann sprang er behände in zwei Sätzen auf den Boden und wagte sich näher heran. Dabei hielt er sich, so gut es ging, entlang von Hauswänden oder Zäunen auf. In seiner momentanen Gestalt als Katze fiel er niemandem besonders auf und es war eine Freude für ihn, ungestört durch die Gassen seines Heimatdorfes zu trotten. Lediglich Kinder bückten sich manchmal nach ihm, um ihm mit ihren kleinen, zarten Händen über das Fell zu streichen. Er hielt sich jedoch nie lange bei ihnen auf, zu sehr hatte er sonst die Befürchtung, etwas zu verpassen.

Die Verkäufer, die am Markttag die Straßen verstopften, waren zum Teil fahrende Händler aus umliegenden Ortschaften oder von noch weiter weg, die Stoffe, Schmuck oder besonderen Wein bewarben, oder auch hiesige Bauern, die ihre geernteten Früchte oder ihr Vieh anboten. Es gab so viel zu sehen, da konnte Darius seine Zeit einfach nicht vertrödeln. Außerdem hielt er momentan noch nach einem bestimmten Wagen Ausschau. Von Zeit zu Zeit war nämlich ein fahrender Buchhändler im Dorf, der oft wunderbare Bände dabei hatte – Geschichtenbücher, Bücher über Magie oder auch Kochbücher. Auch wenn Darius mittlerweile seiner eigenen Meinung nach ziemlich gute Speisen zustande brachte, so war er doch immer neugierig auf fremdländische Gerichte, auch wenn er diese nur für sich selbst zubereitete. Besonders gerne aß er Fisch, den es ebenfalls auf dem Markt zu kaufen gab und der frischer nicht sein könnte – aus dem nahegelegenen Fluss, dessen Gurgeln er mit seinen Katzenohren selbst jetzt in der aufgeregten Menge wahrnehmen konnte.

Mit seinen Katzenaugen konnte er für gewöhnlich die Auslage des Buchhändlers genau unter die Lupe nehmen und, wenn er etwas interessantes entdeckte, später am Nachmittag noch einmal wiederkommen, wenn weniger los war. Die Aussicht auf ein gutes Buch ließ ihn dann, trotzdem er in Menschengestalt zum Marktplatz musste, nach draußen gehen.

Und womit verdiente er das Geld, das diese Bücher und seine sonstigen Anschaffungen wie Essen oder ab und zu neue Kleidung kosteten? Zum einen hatte er das Geschäft seines Vaters übernommen, welches darin bestand, die Felder, die sich im Besitz der Familie befanden, an Bauern zu verpachten. Seit Jahren erforderte diese Beschäftigung jedoch wenig Aufwand. Die Bauern waren zufrieden mit der vergleichsweise günstigen Pachtgebühr und Darius, wie vor ihm auch schon sein Vater, hatte relativ wenig Mühe mit ihnen. Er notierte allmonatlich die eingehenden Zahlungen, die ihm von Boten vorbeigebracht wurden, und ab und an wurde ein Pachtvertrag verlängert. Darius glaubte, dass es sein Großvater, den er allerdings nie kennengelernt hatte, gewesen war, der diese Felder einmal erstanden hatte. Das war der eine Teil seiner Arbeit. Die Verpachtung lief mehr oder weniger nebenher. Der andere Teil bestand darin, dass er übersetzte. Hauptsächlich waren das Bücher. Ab und zu aber auch Briefe, die von vornehmen Herrschaften aus dieser Gegend in einen anderen Teil des Landes oder sogar der Welt geschickt wurden oder die von weit her hier eintrafen. Die vornehmen Herrschaften waren zwar des Lesens und Schreibens mächtig, allerdings konnten viele von ihnen nur eine Sprache – ihre Muttersprache. Und nicht alle hatten eine fähige Schreibkraft angestellt. So war eines Tages vor Darius‘ Haustür ein Bote aufgetaucht mit dem Ersuchen, den mitgebrachten Brief zu übersetzen. Der Bote habe sich im Dorf umgehört und sei nach einigem Hin und Her zu ihm geschickt worden. Durch Mundpropaganda hatte sich Darius‘ Übersetzungstätigkeit dann herumgesprochen – und dieses Geschäft war durchaus lukrativ. An der Akzeptanz unter der Dorfbevölkerung hatte sich deswegen aber nichts geändert.

Nun schlängelte er sich auf vier Pfoten zwischen den Beinen der Marktbesucher hindurch auf der Suche nach dem fahrenden Buchhändler.

Auf dem großen Platz um den Brunnen konnte Darius den Karren und den alten Kauz, der der Buchhändler war, nicht entdecken. Er sollte doch nicht gestorben sein? Darius lief weiter die Hauptstraße in Richtung Dorfeingang, weg von seinem Haus, entlang. Der Lärm und das Getümmel wurden etwas weniger. Da die Straße auch hier leicht abschüssig und relativ geradlinig war, hatte er einen guten Blick aus dem Dorf heraus und sah dann tatsächlich eine gekrümmt laufende Gestalt, die einen vollbeladenen Karren hinter sich her den Weg zum Dorf hinaufzog. Das war der Buchhändler! Unbewusst stieß Darius ein lautes Miauen aus, schaute sich im selben Moment erschrocken um und musste feststellen, dass eine miauende Katze niemanden verwunderte. Er verzog sich dennoch unter einen nahen Busch und wartete auf das Eintreffen des fahrenden Buchhändlers.

4

Der Buchhändler trudelte nach kurzer Zeit dann bei den anderen Händlern auf dem Marktplatz ein. Obwohl er reichlich spät dran war und manche der Marktbesucher ihren Einkauf sogar schon komplett erledigt hatten, baute er in aller Ruhe seinen Stand am Rande des Geschehens auf. Darius schlich bereits ungeduldig in einiger Entfernung um den Bücherkarren herum, dessen Plane gerade zurückgeschlagen wurde. Die oberste Reihe der Bücher auf dem Karren wurde heruntergehoben und auf eine auf dem Boden ausgebreitete Decke gelegt. Die restlichen Bücher standen fein säuberlich aufgereiht in dem zu einem Bücherregal hergerichteten Gefährt, das von zwei Seiten zugänglich war, wie zwei Bücherregale, die mit der Rückseite aneinander geschoben waren. Der Karren sah wirklich aus wie eine kleine Bibliothek auf Rädern, der Aufbau bestand aus ziemlich dunklem Holz mit einigen filigranen Schnitzereien in den Trennbrettern. Die Plane war ein mit Wachs überzogenes Leinentuch, denn nass werden durften diese Schätze bei ihrer Wanderung durch die Lande auf keinen Fall.

Nun, nachdem der Buchhändler seinen Stand hergerichtet hatte, begann für Darius der schwierige Teil. Irgendwie musste er sich unauffällig die Bücher anschauen, was natürlich nur von außen möglich war, denn zu nahe durfte er nicht herangehen, da eine Katze, die sich für Bücher interessierte, nicht alltäglich war. Er wollte keine Aufmerksamkeit, sonst könnte er sich die ganze Sache mit dem Verwandeln schenken.

Darius trippelte einmal in mäßigem Tempo an der Auslage auf dem Boden vorbei. Ließ seinen Blick dabei leicht zur Seite geneigt, um die Titel der ausgestellten Werke begutachten zu können. Es war ein buntes Sammelsurium, das er zu Gesicht bekam. Vor allem waren es die besser erhaltenen Bücher, die dort lagen. Darius wusste nicht, ob man einer Katze ein Schmunzeln ansehen konnte. Was ihn interessierte waren nicht die aalglatten Buchrücken, die schon andeuteten, dass es sich bei den jeweiligen Büchern um welche neueren Datums handelte, mit zarten Liebesgeschichten oder pseudo-philosophischen Wortergüssen darin. Er war auf der Suche nach etwas Altem und so hielt er nach einer Erhöhung Ausschau, auf die er klettern konnte, um die Bücher in dem fahrenden Bücherregal zu inspizieren.

Auf der einen Seite war ein Baum relativ günstig gelegen und so krallte er sich kurzerhand am Stamm nach oben, balancierte auf einem Ast so weit wie möglich in Richtung des Buchverkäufers und spitzte durch das spärliche Blattwerk.

Das, was Darius auf dieser Seite des Buchkarrens sah, war jedoch ernüchternd. Einen Großteil der Bücher kannte er schon von vorherigen Besuchen des Verkäufers und die wenigen Exemplare, die neu im Sortiment zu sein schienen, waren für ihn nicht interessant. Also blieb noch die andere Seite, die auf den Marktplatz hinaus zeigte. Er könnte auf den Brunnenrand springen, das wäre vielleicht eine gute Aussichtsposition. Oder auf einen Karren eines anderen Händlers. Dort war aber die Wahrscheinlichkeit größer, schnell verscheucht zu werden.

Darius sprang also mit einem Satz zu Boden, was als Katze eine mehr als leichte Übung war, und zwängte sich zwischen vielen Beinen hindurch in die Mitte des Marktplatzes, wo sich der Brunnen befand. Von hier aus wurde seine Sicht zwar oft durch vorbeilaufende Dorfbewohner behindert, aber nach kurzer Zeit hatte er dennoch die gezeigten Buchrücken überblickt. Und bei einem der letzten in der obersten Reihe blieb seine Aufmerksamkeit lange Zeit hängen. Er erkannte das verschnörkelte Zeichen, das in den Ledereinband geprägt war, zwei in sich verschlungene Schlangen und ein Federkiel, ein magisches Symbol. Ein Titel war nicht genannt, aber für jeden, der in diesem Symbol eine Bedeutung erkannte, war klar, dass es sich um ein Buch über Magie handelte. Darius merkte erst nach kurzer Zeit, dass er aufgeregt mit dem Schwanz hin und her wedelte und gegen die Brunnenmauer schlug. Behände machte er einen Satz auf den Boden und lief grübelnd in wirren Bahnen über den Marktplatz.

Er befand sich in einer Zwickmühle. Er könnte sofort nach Hause zurück, seine menschliche Gestalt wieder annehmen und das Buch gleich kaufen. Momentan waren aber noch wirklich viele Leute da und unglücklicherweise fiel er in jeder noch so großen Menschenansammlung immer irgendwann auf. Oder er könnte warten, bis es etwas ruhiger wurde. Es war unwahrscheinlich, dass sich sonst noch jemand für dieses Buch interessierte, aber sicher sein konnte er sich da nicht. Was sollte er tun? Er wollte dieses Buch unbedingt haben.

Durch ein lautes Knurren wurde Darius auf einmal aus seinen Gedanken gerissen. Langsam hob er den Kopf, legte ihn in den Nacken und sah sich einem unwirsch dreinblickenden, zotteligen Hund gegenüber. Reflexartig fauchte er, duckte sich und machte einen Satz zur Seite. Im gleichen Moment sah er, dass der Hund am Pfosten eines Obststandes angekettet war. Er wollte gerade aufatmen, als der Hund nach vorn sprang, durch die Kette auf halbem Weg in der Luft zurückgerissen wurde und dabei den Verkaufsstand gefährlich zum Wackeln brachte. Der Hund bellte auf, ob aus Schmerz oder aus Zorn war Darius egal. Er nahm die Pfoten in die Hand und sauste davon. Einmal quer über den Marktplatz führte ihn sein Reißausnehmen, doch er blieb nicht stehen, denn er konnte noch immer den Hund an der Kette zerren hören. Dann eine menschliche Stimme, die den Hund zu beruhigen versuchte. Nun wurde Darius doch langsamer. Während er beruhigt weiter trabte, blickte er zurück, konnte aber wegen der vielen Leute den Obststand nicht mehr sehen. Stattdessen durchfuhr ihn auf einmal greller Schmerz. Er wollte aufspringen, doch es ging nicht. Sein Schwanz und eines seiner hinteren Beine waren irgendwie… Panisch schaute er um sich. Etwas Dunkles war über ihm, ein Wagen. Und er konnte aus den Augenwinkeln wahrnehmen, wie eines der eisenbeschlagenen Räder über ihn rollte. Er gab einen Schmerzenslaut von sich, ein verzerrtes Miauen. Seine Sicht wurde trübe, als er merkte, dass etwas knackte und der Schmerz ihm wie eintausend Nadelstiche durch den Körper fuhr. Das Rad war weitergerollt, es wurde wieder hell, jedoch nur für kurz. Darius schleppte sich voran, auf drei Beinen, doch seine Sicht schwand zusehends. Eine merkwürde Lähmung breitete sich von seinem Hinterlauf in ihm aus, bis es schwarz vor seinen Augen und in seinem Kopf wurde.

5

Er spürte Wärme. Das war das erste, was er wahrnahm. Eine wohlige Wärme. Gleichzeitig fühlte er aber auch, dass etwas nicht stimmte, mit ihm, mit seinem Körper. Er wollte sich strecken, doch das funktionierte nicht. Er wollte sich bewegen, kam sich aber wie eingeschnürt vor. Dann lauschte er. Es klang nur ein fernes, gleichmäßiges Rauschen in seinen Ohren, fast wie die Wellen des Meeres an einem ruhigen Tag. Dabei war er noch nie am Meer gewesen. Er schlug die Augen auf, blinzelte ein paar Mal, um seine verschwommene Sicht zu klären. Langsam drangen die visuellen Eindrücke zu ihm durch.

Er befand sich irgendwo drinnen, in einem Wohn- oder Schlafzimmer, wobei nur gedämpftes Licht von draußen durch die Fenster einzufallen schien. Vielleicht Vorhänge, die vorgezogen waren.

Es war jedenfalls nicht sein eigenes Schlafzimmer. Ein heller Holzschrank stand an der Wand gegenüber, im Raum ein runder Tisch mit zwei Stühlen. Der Boden war mit einem weinroten, geknüpften Teppich ausgelegt, das Bett weich und weiß. Er lag zusammengerollt auf einem mit kuscheligen Dauen gefüllten Kissen auf diesem Bett. Und er war noch immer in seiner Katzengestalt.

Darius versuchte sich zu rühren. Seine Vorderpfoten zuckten, dann konnte er den Kopf ein wenig anheben. Er stieß einen klagenden Laut aus.

Wo war er? Wie war er hierher gekommen? Was war passiert? Und war da niemand, der ihn hören konnte?

Eine unterschwellige Panik stieg in ihm auf. Er bemühte sich, mehr zu erkennen. Mehr davon, was mit ihm los war. Sein kleines Herz klopfte schneller und bei jedem Atemzug pfiff und keuchte es ganz leise mit. Ihm gelang es, den Kopf über die Schulter zu strecken und er sah, dass die obere Hälfte seines Schwanzes dick mit Verband eingewickelt war, genauso wie sein rechtes Hinterbein. Hier lugte zusätzlich noch ein Stück Holz unter den schmalen Stoffbahnen hervor, das es unmöglich machte, dieses Bein zu beugen.

Er erinnerte sich wieder. Bei seiner Flucht vor dem wütenden Hund war er buchstäblich unter die Räder gekommen. In seiner Schreckhaftigkeit hatte er für einen Moment nicht auf die Umgebung geachtet und es war passiert. Was danach allerdings geschehen war, daran konnte er sich nicht erinnern. War da wirklich niemand?

Er schrie erneut. Sein verzweifeltes Miauen klang ihm selbst noch in den Ohren nach. Er war allein, unfähig sich zu rühren in einer ihm unbekannten Umgebung. Irgendwie musste er aufkommen. Er strampelte, verfing sich dabei jedoch lediglich mit den Krallen seiner Vorderpfoten im Kissenbezug. Er strampelte stärker, bis ihn ein gedämpftes Klappern innehalten ließ. Er lauschte über das Rauschen hinweg, das noch immer in seinen Ohren lag. Dann öffnete sich die Tür links von ihm und jemand betrat den Raum. Unwillkürlich duckte er sich, machte sich auf dem Kissen ganz klein.

„Ah, du bist ja schon wach. Das ging aber schnell. Ich dachte, die Betäubung würde etwas länger wirken.“

Darius kannte diesen Menschen, der da halb mit ihm, halb mit sich selber sprach, nicht, hatte ihn noch nie gesehen. Ein Mann, groß und schlank, aber nicht dürr, leicht gebräunte Haut. Nicht älter als dreißig, vielleicht auch erst Mitte zwanzig. Die schlichten Hosen und das helle Schlupfhemd ließen ihn unscheinbar wirken. Das ovale Gesicht wurde eingerahmt von kurzem, dunklem Haar. Neben den bernsteinfarbenen Augen bildeten sich kleine Fältchen, als der Mann näher kam und sich lächelnd zu Darius hinunterbeugte.

„Nicht kratzen, hörst du? Das haben wir gleich.“

Etwas misstrauisch beobachtete Darius, wie sich ihm kräftige Hände näherten und behutsam seine verhedderten Krallen aus dem Kissenstoff befreiten. Er selbst hatte keine Kraft dazu. Dann streichelten ihm diese Hände noch kurz über den Kopf, eher der Mann sich wieder aufrichtete und mit einem „Schön liegenbleiben, ich bin gleich wieder da, Katze“ das Zimmer verließ.

Darius blinzelte. So langsam wurde das Taubheitsgefühl, das die ganze Zeit über noch auf ihm gelegen hatte, schwächer. Dadurch nahm er nun zwar seine Umwelt deutlicher wahr, auch das Rauschen in seinen Ohren schwoll ab, doch dafür spürte er mehr und mehr die Schmerzen in seinen verletzten Körperteilen. Er ließ sich ins Kissen zurücksinken und bemühte sich, das Stechen und Pochen so weit wie möglich auszublenden, was ihm nur bedingt gelang. Seine Gedanken ließen sich einfach zu leicht von den Schmerzen ablenken.

Sein Retter kehrte zurück, jedoch nicht mit leeren Händen. Eine Schüssel stellte er auf dem runden Tisch ab, ehe er mit noch etwas anderem in der Hand wieder ans Bett trat. Darius rührte sich nicht, verfolgte den Mann lediglich mit seinen Blicken. Ihm wurde etwas vors Gesicht gehalten, eine kleines, dunkelgrünes Etwas. Darius schnüffelte daran, roch frische Kräuter. Das mussten zu einer Kugel gerollte Blätter sein.

„Irgendwie müssen wir das jetzt in dich rein bekommen“, murmelte der junge Mann nachdenklich. „Es schmeckt sicherlich nicht gut, ist aber gegen die Schmerzen.“

Darius leckte zaghaft an das grüne Kügelchen. Es schmeckte fürchterlich bitter und keine normale Katze hätte dieses Ding gefressen, aber er war schließlich keine normale Katze. Bevor sein Retter ihm das runde Ding zwanghaft zuführen musste, fraß er es kurzerhand freiwillig. Genauer gesagt, er nahm es in den Mund und würgte es irgendwie hinunter. Es war ihm egal, dass dieses Verhalten womöglich ungewöhnlich war.

In der Tat wirkte der junge Mann zunächst verblüfft, lächelte im nächsten Moment jedoch gleich wieder und kraulte Darius hinter den Ohren. „Sehr schön. Dafür gibt’s jetzt den Nachtisch.“ Er ging zum Tisch und holte das Schälchen. Noch im Näherkommen roch Darius, was darin war: Milch. Natürlich, er war ja eine Katze. Das Schälchen wurde ihm direkt neben den Kopf gehalten, aber zum Trinken musste er ihn doch wieder anheben. Die Milch war sogar angewärmt worden. Er schlabberte ein bisschen von der angenehm warmen Flüssigkeit auf, dann ließ er sich wieder zurück in die weichen Daunen sinken. Eine schwere Müdigkeit legte sich über ihn und die Augen fielen ihm zu.

6

Darius erwachte, hatte keine Ahnung, wie lange er geschlafen hatte und wie spät es war. Und er merkte, dass er so langsam einmal auf Toilette musste. Doch er lag immer noch im Bett auf dem Kissen, konnte sich kaum bewegen und schon gar nicht auf den Abort oder nach draußen laufen. Er begann zu miauen. Was blieb ihm auch sonst anderes übrig? Er war bislang noch nie so lange in Katzengestalt geblieben, um an diesen Punkt zu gelangen. Aber auch Katzen mussten schließlich irgendwann ihr Geschäft verrichten. Er miaute lauter, bis der Mann zu ihm kam.

Darius schaute ihm in die Augen, versuchte, ihm klar zu machen, dass er mal musste, blickte dann zur Tür und versuchte, aufzustehen, wobei er ein wirklich unbeholfenes Bild abgeben musste. Irgendwie gelang es ihm, sich auf seine Vorderbeine zu stellen, aber seine Hinterbeine wollten es ihnen einfach nicht gleichtun. Sie und sein Hinterteil blieben schwer auf dem Kissen liegen. Darius versuchte noch einmal mit einem Blick in die Augen seines Retters, ihm seine Lage begreiflich zu machen. Und tatsächlich schien dieser zu verstehen. Der Mann lachte auf, wobei sich wieder kleine Fältchen in seinen Augenwinkeln bildeten. „Tut mir leid, daran hab ich gar nicht gedacht. Warte, ich bringe dich kurz nach draußen.“

Sorgfältig darauf bedacht, das verletzte Bein nicht unnötig zu berühren, hob er Darius vom Kissen hoch und trug ihn auf seinen Armen aus dem Raum, durch die Küche, die Darius momentan nur am Rande begutachtete, und hinaus in einen kleinen Garten, der sich direkt an die Küche anschloss. Die Sonne strahlte hell vom Himmel und Darius musste erst einmal die Augen zusammenkneifen. Dann zappelte er unruhig auf dem Arm, der ihn hielt. Es wurde langsam wirklich dringend.

Der Mann setzte ihn auf dem Boden im Gras ab, hielt ihn jedoch noch kurz fest. Darius wankte zunächst, nachdem er bemerkt hatte, dass sein rechtes Hinterbein den Boden aufgrund der Schienung nicht berührte. Auf drei Beinen fand er dann sein Gleichgewicht und die Hände ließen ihn los. Er schaute sich um und bemerkte, wie er aufmerksam beobachtet wurde. Herrje, war das peinlich! Er konnte sein Geschäft doch nicht vor fremden Augen verrichten. Vielleicht wäre das einer normalen Katze egal gewesen, aber ihm war es das nicht. Er entdeckte einen Busch nicht weit weg und humpelte darauf zu. Dabei blickte er immer wieder zurück um zu überprüfen, dass der Mann ihm auch nicht folgte. Zum Glück blieb dieser, wo er war, schaute ihm nur halb besorgt, halb belustigt hinterher. Offenbar ging er nicht davon aus, dass Darius weit kommen würde. Womit er vermutlich auch recht hatte.

Nach kurzer Zeit war alles erledigt und Darius kam wieder hinter dem Busch hervor. Was für eine seltsame Erfahrung und gar nicht so einfach, wenn man kaum Kraft und nur ein Hinterbein zur Verfügung hatte. Nach der Aktion spürte er, wie die Verletzung wieder stärker pochte. Außerdem begann sein intaktes Hinterbein zu zittern. Er machte einige hüpferartige Schritte auf den Mann zu – wohin sollte er sonst auch? – dann knickte sein Hinterteil einfach weg und er saß im Gras.

„Was bist du doch für ein komischer Kater.“ Der junge Mann nahm ihn wieder auf die Arme und trug ihn zurück ins Haus.

Komischer Kater? Darius schien einen prima Eindruck hinterlassen zu haben.

„Ich fürchte, du musst noch etwas hierbleiben.“

Darius wurde wieder ins das Zimmer gebracht, das er schon kannte, und auf das Kissen gelegt.

Na super, das wurde ja immer besser. Er war also nicht nur in diesem Haus, sondern auch in seiner Katzengestalt gefangen. Er konnte sich hier unmöglich zurückverwandeln. Außerdem hatte er keine Ahnung, was bei einer Rückverwandlung mit seiner Verletzung geschehen würde. Seine Narben im Gesicht waren zwar, wenn er sich von Mensch in Katze wandelte, verschwunden, aber wie und ob das umgekehrt genauso funktionierte und wie sich gebrochene Knochen auswirkten, wusste er nicht. Und er war grundsätzlich zu übervorsichtig, um so etwas einfach auszuprobieren.

Also fügte er sich seinem Schicksal. Er konnte froh sein, dass ihn ein so hilfsbereiter Mensch aufgelesen hatte. Dafür musste er sich hinterher auf jeden Fall revanchieren. Aber nein … Er war für den Mann doch einfach nur eine Katze. Wenn er sich vielleicht als Besitzer ausgab und sich bedankte? Dann müsste er ihm aber in seiner menschlichen Gestalt gegenüber treten.

Darius schob den Gedanken, in der Schuld dieses aufmerksamen Menschen zu stehen, erst einmal von sich. Er wurde in diesem Moment wieder hinter den Ohren gekrault, und das fühlte sich, im Gegensatz zu den Schmerzen, richtig gut an. Er drückte seinen Kopf gegen die Fingerspitzen, die ihn streichelten, und schnurrte. Er schnurrte! Egal – er war eine Katze, das war vollkommen normal.

7

„Kätzchen, ich muss heute auf die Arbeit.“

Darius spitzte die Ohren. Dabei fiel ihm auf, dass er immer noch nicht den Namen seines Retters kannte, auch nicht, als was dieser arbeitete.

„Also sei schön brav und verwüste mir bitte nicht das Zimmer, alles klar?“

Auf diese Frage musste er als Katze wohl nichts entgegnen. Darius legte den Kopf schief, um zumindest irgendein Zeichen einer Antwort zu geben.

„Ich stelle dir hier ein Schälchen Milch hin. Und hier“, der Mann deutete auf einen mit Sand gefüllten Holzkasten in einer Ecke, der, als Darius vergangenen Abend eingeschlafen war, noch nicht da gestanden hatte, „kannst du dein Geschäft verrichten. Verschone, wenn es geht, den Teppich, ja?“

Nun war Darius froh, in Gestalt einer Katze zu sein. Er wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte. Also legte er scheinbar gelangweilt den Kopf wieder auf dem Kissen ab und beobachtete, wie sich sein Retter fertig machte.

Der Mann ging zum Schrank an der Wand gegenüber und suchte einige Kleidungsstücke heraus, außerdem ein Paar schwerer Stiefel. Dann zog er die leichte Stoffkleidung, die er im Moment noch trug, erst einmal aus. Als Darius bewusst wurde, was er da sah, konnte er sich nicht entscheiden, ob er zuschauen oder den Blick abwenden sollte.

Er kannte lediglich seine eigene, blasse Haut, seine schmale Gestalt. Ein bisschen fragte er sich schon, wie der restliche Körper, von dem er bisher nur die Hände, die sich so selbstlos um ihn gekümmert hatten, und das Gesicht kannte, aussah. Seine Neugierde siegte über seinen Anstand. Ein wenig verstohlen und mit leicht schlechtem Gewissen beäugte er von seiner erhöhten Position aus die Szenerie.

Der Mann hängte zuerst das Hemd, dann die Hose, die er getragen hatte, fein säuberlich glattgestrichen über eine Stuhllehne. Er stand nun vollkommen nackt mit dem Rücken zum Bett gewandt da. Spätestens jetzt könnte es Darius wohl niemand mehr verübeln, dass er nicht die Aussicht aus dem Fenster gewählt hatte.

So unscheinbar durchschnittlich der Mann in der schlichten Stoffkleidung gewirkt hatte, so sehr strafte der Anblick nun diesen ersten Eindruck Lügen. Er war nicht übermäßig kräftig, aber er hatte starke Schultern, seine Wirbelsäule beschrieb einen anmutigen Bogen hin zu seinem wohlgeformten Gesäß und die Beine sahen sportlich aus. Über ebendiese zog er nun eine abgenutzte, schwarze Hose aus Leder und zog einen Gürtel durch die Schlaufen am Hosenbund, anschließend bedeckte er den Oberkörper mit einem ärmellosen, enganliegenden Hemd und einer dunklen Jacke aus dickem Stoff. Fasziniert beobachtete Darius, wie sich mit jeder Bewegung die Muskeln und Sehnen unter der Haut abzeichneten. Was war das für eine Arbeit, die der Mann ausführte? Für einen Arbeiter hatte er zu glatte Hände, aber diese Art Kleidung wirkte sehr robust. Nachfragen konnte Darius in seinem momentanen Zustand eher schlecht, also blieb das wohl noch für einige Zeit ein Geheimnis. Zuletzt steckte sein gut gebauter Retter die Füße in die bereitgestellten Stiefel. Er war jetzt offenbar bereit, aufzubrechen.

„Also dann, ruh dich schön aus. Bis später.“ Mit einem kurzen Tätscheln von Darius‘ Kopf verabschiedete sich der Mann und verschwand.

Darius ließ sich erst einmal tiefer ins Kissen sinken. Er tat die ganze Zeit doch schon nichts anderes, als sich auszuruhen. Wenn er wenigstens etwas zu lesen hätte. Er dachte an den Buchhändler und den verpassten Folianten. Welch ungeheure Schande. Vielleicht hatte er Glück und das Buch wäre beim nächsten Besuch des fahrenden Händlers noch verfügbar. Eventuell könnte er ihm auch hinterherreisen. Darius seufzte innerlich auf. Aber er hatte keinen Schimmer, wie lange sich seine Heilung noch hinzog und wie lange er deshalb noch hierbleiben würde.

Darius‘ Gedanken kehrten zu den wohlgemeinten Maßnahmen seines Retters zurück. Das Schälchen mit Milch war ja in Ordnung, aber er würde auf keinen Fall etwas tun, was den Mann dazu veranlasste, hinter ihm sauber machen zu müssen. Das ging eindeutig gegen sein Selbstwertgefühl. Also durfte er auch das Milchschälchen nicht anrühren. Aber wenn er schon gerade ans Essen dachte… Was hätte er jetzt für einen gebratenen Fisch mit Zitrone und frisch angerührtem Weizenkornsalat gegeben. Aber schloss kurz die Augen und stellte sich Geruch und Geschmack dieses Gerichtes vor. Er nahm sich vor, das als erstes zu kochen, wenn er wieder zu Hause wäre.

Dann versuchte er, um sich abzulenken, aus dem Fenster zu spähen, sah aber lediglich die zugezogenen Vorhänge. Seit seinem Ausflug in den Garten am vorigen Tag lag er durchgehend auf diesem Kissen, was eindeutig zu lange war. Er hielt es schon jetzt nicht mehr aus. Und da er die Verletzung momentan lediglich als ein dumpfes Pulsieren, das durch seinen Körper wanderte, spürte, beschloss er, dass es Zeit war, einen weiteren Versuch aufzustehen zu wagen. Überhaupt… Wenn er die ganze Zeit auf dem Kissen im Bett gelegen hatte, wo hatte dann sein Retter die Nacht über geschlafen? War dies etwa doch nicht sein Bett?

Mit dieser Frage im Hinterkopf stemmte sich Darius zunächst mit den Vorderbeinen in die Höhe. Das ging noch relativ einfach, allerdings merkte er schon, wie er tief in die weichen Daunen einsank. Jetzt musste er nur noch mit seinem intakten Hinterbein sein Katzenhinterteil anheben, was nicht mehr ganz so einfach ging. Das geschiente rechte Hinterbein sperrte sich irgendwie dagegen, und mit seinem verbundenen Schwanz, der zwar eigentlich nicht weh tat, aber trotzdem nicht so richtig beweglich war, konnte er das Gleichgewicht nicht vernünftig austarieren. Irgendwann, nach einer gefühlten Ewigkeit, stand er dann auf drei wackligen Beinchen in dem flauschigen Kissen. Daraus musste er sich noch befreien, dann konnte er sich frei bewegen, zumindest innerhalb dieses Zimmers und soweit es sein Zustand eben zuließ. Also kämpfte er sich aus der weichen Umarmung und machte dann einen schmerzhaften Hopser vom Bett auf den Boden. Er landete nicht so elegant, wie er es gewohnt war, und fühlte sich beim Aufprall, als würde ihm eine Nadel in den Körper gerammt. Ein Quieken entrang sich seiner Kehle, das aber zum Glück niemand sonst hören konnte.

Dann machte er sich auf Erkundungstour. Vom Boden aus sah das Zimmer noch einmal ganz anders aus. Und außer dem Schrank, dem Tisch und den Stühlen entdeckter er am Fußende des Bettes eine niedrige Kommode, auf die ihm die Sicht bislang wegen des bauschigen Bettzeugs versperrt gewesen war.

Die Kommode hatte zwei Schubladen, doch die beachtete Darius kein bisschen, als er oben auf der Kommode eine Handvoll Bücher stehen sah. Er sprang darauf zu, hatte es zumindest vor, als sich seine Verletzung beißend bei ihm meldete. Also tappte er dann doch etwas gemächlicher hin zu dem Möbel. Die Buchrücken sagten ihm nichts, aber er vermutete, dass allesamt Novellensammlungen waren, nicht ganz das, worauf er gehofft hatte, aber immerhin besser als nichts. Wie kam er jetzt nur da hin, um mal einen Blick hinein zu werfen? Oder sollte er erst einmal schauen, ob es hier sonst noch etwas Interessantes gab?

Darius tigerte weiter den Raum ab. Es gab einfach nichts hier, was einigermaßen interessant war, mit Ausnahme vielleicht der Bücher, aber da müsste er erst einen Blick hinein werfen. Nicht einmal unter dem Bett fand er etwas und beinahe jeder versteckte etwas unter seinem Bett. Vielleicht sollte er doch einmal in Betracht ziehen, wieder in seinen richtigen Körper zurück zu kehren. Vielleicht sollte er das einfach mal probieren, trotz seiner Ängste, was dabei schief gehen könnte. Wollte er sich hier wirklich von einem namenlosen Mann umsorgen lassen, der ihn für eine Straßenkatze hielt? Der keine Ahnung hatte, was mit ihm los war? Aber er war nun einmal keine Katze, er konnte für sich selbst sorgen und allein zu einem Heiler gehen, wenn er verletzt war.

Er setzte sich auf den Teppich, entschlossen, wieder Herr seiner Möglichkeiten zu werden. Als Katze kam er hier nicht raus. Die Tür war geschlossen, die Klinke zu weit oben, als dass er mit seinem verletzten Bein hätte hinaufspringen können.

Seine Entschlossenheit wurde zu Konzentration. Darius lenkte seine Aufmerksamkeit auf die Rückverwandlung, so, wie er es sonst auch immer tat. Er schloss die Augen und spürte die Veränderung, wie sich sein Körperbau umformte, wie das Fell sich in seine Haut zurückzog, der Schwanz verschwand, die Finger sich herausbildeten. Und er spürte auch, wie die Schmerzen auf einmal schlimmer wurden. Sein kaputtes Bein schien in Flammen zu stehen, von innen heraus zu verglühen. Er schrie auf, kippte vornüber auf den Boden, fiel zur Seite. Die Schmerzen trieben ihm Tränen in die Augen und heftige Atemstöße entrangen sich seiner Kehle.

8

Eine Tür fiel ins Schloss, dann näherten sich Schritte und jemand betrat den Raum.

„Ach du … Was ist denn hier passiert?“ Der Mann ließ seinen Blick erst einmal schnell durch das Zimmer schweifen, bevor er in der nächsten Sekunde neben Darius am Boden kniete.

„Was hast du denn angestellt? Dein Verband ist …“ Der Mann klaubte die zerfetzten Stoffbahnen und das Holzstückchen, das als Schiene gedient hatte, vom Teppich auf. Seine freie Hand hatte er dabei vorsichtig auf das weiche, zitternde Fellbündel gelegt, als das Darius auf dem Boden kauerte.

Darius hatte es irgendwie geschafft, wieder in Katzengestalt zurückzukehren, nachdem seine Rückverwandlung schmerzhaft schief gegangen war. Seiner Verletzung hatte der Versuch eindeutig geschadet, denn er lag seitdem unkontrollierbar zitternd auf dem Teppich und der quälende Schmerz hatte seine Gedanken dumpf gemacht.

„Dummes Kätzchen. Komm erst mal mit.“

Darius wurde behutsam aufgehoben und in die Küche getragen. Das war das zweite Mal, dass er diesen Raum sah, doch auch jetzt konnte er sich nicht richtig umschauen. Er wollte einfach nur, dass es aufhörte.

Der Mann breitete ein Handtuch auf dem kleinen Küchentisch aus und platzierte Darius darauf. Er zog sich einen Hocker heran, setzte sich daneben und begann, Darius‘ Bein zu untersuchen. Er fuhr über das Fell, hinauf, hinab, drückte ab und zu leicht an bestimmten Stellen sanft mit den Fingerspitzen.

Darius spürte die Bewegungen, die ab und zu kleine Blitze durch seinen Körper sandten, aber er versuchte, still zu halten, versuchte auch, das Zittern zu unterdrücken. Er glaubte daran, dass der Mann ihm helfen konnte.

„Ah, hier …“, murmelte der Mann auf einmal in die Stille hinein. Er stand auf, ging an einen der Küchenschränke und suchte etwas darin. Mit Stoffbahnen und zwei Holzschienen kehrte er zurück. Dann drückte er mit einem Unterarm Darius fest auf die Tischplatte, packte mit beiden Händen das verletzte Bein und schob mit einem Ruck etwas in dem Bein zurecht. Darius schrie auf, zuckte und strampelte, doch der Ellbogen hielt ihn an Ort und Stelle. Geschwind legte der Mann die neuen Schienen an und umwickelte sie mit den Verbänden.

„Geschafft.“ Er nahm den Druck von Darius und blickte zufrieden auf sein Werk. „Es sollte so wieder anwachsen … hoffe ich.“ Er begegnete Darius‘ Blick. „Was machst du nur für Sachen? Eigentlich hatte ich dir etwas Leckeres mitgebracht, jetzt bin ich mir aber nicht sicher, ob du überhaupt Appetit darauf hast. Es dürfte wieder ziemlich wehtun.“ Der Mann fuhr kurz über Darius‘ Kopf, dann ging er hinaus in den Garten.

Darius atmete schwer, doch das Zittern hatte aufgehört. Die Verletzung spürte er jetzt als dumpfes Pochen überall im Körper. Es stach und brannte jedoch nicht mehr so sehr, wie noch vor ein paar Minuten. Er war froh, dass sein Retter zurückgekehrt war und ihn erneut beschützt hatte.

Darius drehte den Kopf, als der Mann aus dem Garten zurückkehrte, ein paar grüne Blätter zwischen den Finger drehend. Wie am vorigen Tag wurden die Blätter zu einer kleinen Kugel gepresst, die Darius hinunterschluckte. Er fragte sich dabei, ob sein Retter vielleicht auch etwas von Magie verstand.

Der Retter ließ ihn erst mal wieder allein und verschwand im Zimmer nebenan. Darius blieb still liegen und wartete, nein, hoffte darauf, dass die Wirkung der Medizin einsetzte. Jedenfalls hatte er jetzt eine neue Erkenntnis, dachte er bitter. Frische Knochenverletzungen verschwanden durch eine Verwandlung nicht. Wie lange würde er wohl noch hierbleiben, bis er wieder einigermaßen gerichtet sein würde?

„Von der Milch hast du gar nichts angerührt. Du musst etwas essen, kleiner Kerl.“ Der Mann kam zurück. Er hatte sich umgezogen, trug nun wieder die leichte Stoffhose vom Morgen. Das Schlupfhemd legte er neben Darius auf dem Tisch ab und trug das Milchschälchen zur Anrichte neben dem Herd. Darius begutachtete erneut den nackten Oberkörper des Fremden, dachte an seine schmächtige Gestalt, in die er momentan nicht zurückkehren konnte. Wäre er in menschlicher Gestalt diesem Mann begegnet, hätte dieser ihn womöglich nicht einmal wahrgenommen.

Der Mann machte Feuer unter dem Herd, suchte einen Topf und eine Pfanne und machte sich daran, eine Handvoll Kartoffeln zu schälen und in Scheiben zu schneiden. Außerdem holte er etwas, dessen Geruch Darius nur allzu bekannt vorkam, aus einem Beutel, einen frischen Fisch.

Darius beobachtete den Mann, wie er so herumwerkelte mit den Zutaten, Topf und Pfanne, Wasser aus einem großen Bottich in eine kleinere Schüssel umfüllte, um es zum Kochen zu verwenden, wie er Holz für das Ofenfeuer nachlegte. Der Mann blieb dabei ruhig und gelassen. Darius erkannte, dass der Mann nichts Besonderes für das Gericht machte; er verwendete das, was man im Dorf bekam und bereitete es so zu, wie es jeder im Dorf tun würde. Trotzdem ließ der Duft Darius sich gleich etwas wohler fühlen und er spürte, wie das Leben in ihn zurückkehrte. Die Verletzung, besonders die damit verbundenen Schmerzen, traten in den Hintergrund und er konnte sich selbst etwas entspannen.

Irgendwann war der Mann dann fertig und richtete direkt neben Darius auf dem Tisch an. Er schien keine Angst zu haben, dass sich Darius im nächsten Moment auf den voll beladenen Teller stürzen würde, gebratener Fisch mit Kartoffeln. Für Darius stellte er ebenfalls etwas auf den Tisch. Die Milch, die er angewärmt hatte, und einen Teller mit dem Kopf des Fisches drauf, dessen Augen Darius direkt anzuglotzen schienen, was ihm einen leichten Schauder über den Rücken jagte.

„Guten Appetit, Kätzchen.“ Der Mann ließ sich auf dem Hocker nieder, nicht, ohne sich vorher wieder sein Hemd überzuziehen, und begann zu essen. Darius schielte auf den Teller mit den gebratenen Filets. Er stemmte sich etwas in die Höhe und streckte den Kopf so weit, dass er gerade zu dem Milchschälchen gelangte und ein wenig davon aufschleckte. Zu dem rohen Fischkopf reichte er nicht ganz hin. Er ließ sich zurücksinken und stieß ein leises Miauen aus. Der Mann blickte auf, seufzte. Dann zog er mit den Fingern ein Stück Haut des Fischkopfes ab und hielt es vor Darius‘ Schnauze. Darius nahm die Haut vorsichtig mit seinen Zähnen, kaute eine halbe Ewigkeit eher lustlos darauf herum und miaute dann, als er das zähe Stück hinuntergewürgt hatte, erneut, diesmal aber den Kopf in Richtung des gebratenen Fisches gereckt.

„So, du bist also ein Feinschmeckerkater.“ Der Mann, der die Geste offenbar richtig interpretiert hatte, zupfte ein kleines Stück von seinem Fischfilet ab und reichte es Darius. Das war doch mal ein Service! Darius schnappte sich das hingehaltene Stück und schlang es hinunter. Erwartungsvoll fixierte er den Mann, wartete auf mehr.

„Sag mal, wäre es dir lieber, wenn wir tauschen?“, lachte der Mann und hielt Darius ein weiteres Stück von seinem Filet hin. Auf diese Weise aßen sie den Teller leer und der rohe Fischkopf stierte hinterher immer noch unverwandt in Richtung Decke.

Anschließend wurde aufgeräumt. Darius schlabberte währenddessen noch ein wenig Milch. Jetzt gerade, mit vollem Bauch und der Wärme des Ofens, fühlte er sich pudelwohl. Er musste zugeben, dass er die Aufmerksamkeit, die ihm geschenkt wurde, durchaus genoss. Das war er sonst einfach nicht gewöhnt. Nachdem die Küche blitzblank war, wurde er, wie am Tag zuvor, in den Garten hinausgetragen. Es war eine laue Nacht, und nachdem er kurz ausgetreten war und humpelnd das Grün ein wenig erkundet hatte, war er sich sicher, dass er nicht mehr in seinem Dorf war. Das überraschte ihn.

9

Darius saß auf dem Teppichboden und beobachtete den Mann dabei, wir er das Bettzeug aufschüttelte, ohne die Decke und die Kissen jedoch neu zu beziehen. Was hatte der Mensch vor? Am vergangenen Abend hatte er das nicht gemacht.

„Kätzchen, ich fürchte, du musst die Nächte ab jetzt auf dem Boden verbringen. Eine weitere Nacht auf dem Küchenstuhl, und ich kann mich morgen gar nicht mehr bewegen. Tut mir leid.“ Er packte eines der Kissen - das, auf dem Darius bislang gelegen hatte - und drapierte es vor dem Schrank. Das Milchschälchen stellte er daneben.

Darius war verdutzt. Der Kerl hatte auf dem Küchenstuhl geschlafen? Etwa nur wegen ihm? Das wurde ja immer besser. Sollte er diesem Menschen jemals von Angesicht zu Angesicht begegnen, würde er bestimmt kein Wort herausbringen, wenn er dabei an die Umstände dachte, die er ihm gerade bereitete.

Nachdem der Mann das Katzenbett offenbar zu seiner Zufriedenheit hergerichtet hatte, setzte er Darius behutsam darauf, dann legte er sich selbst schlafen. Darius starrte zu ihm hinüber. Er hatte sich nicht gewehrt, als er umgebettet worden war, nun aber kam er sich irgendwie ausgesetzt vor. Mit seinen Katzenaugen konnte er trotz der Dunkelheit die Details im Raum erkennen, als wäre es Tag. Insbesondere sah er die Gestalt im Bett, die sich unter der weichen Decke deutlich abzeichnete. Der Mann lag auf der Seite und hätte Darius direkt angeschaut, wenn er nicht sofort eingeschlafen wäre. Er musste wirklich müde gewesen sein.

Zögernd legte sich auch Darius hin und bemühte sich wieder, eine Position zu finden, in der sein ungelenkes Bein genügend Platz hatte. Dabei ließ er das Bett auf der anderen Seite des Raumes nicht aus den Augen. Die Bettdecke hob und senkte sich ganz leicht mit den Atemzügen des Mannes. Was sein Retter wohl den Tag über arbeitete? Darius erinnerte sich an den kräftigen Oberkörper. Bestimmt war es etwas Physisches, etwas Anstrengendes. Etwas, das Darius selbst nicht fertigbringen würde. Er kam sich deswegen nicht schlecht vor, schließlich war er sich sicher, dass es auch Dinge gab, zu denen er, aber nicht sein Retter imstande war. Verwandlungen zum Beispiel. Auch wenn Darius sich so langsam wieder in seinen richtigen Körper zurück wünschte.

Er wollte den Kopf auf seine Vorderpfoten legen, aber die Schiene drückte in dieser Haltung unangenehm in seine Hüfte. Wäre er in diesem Augenblick in seinem menschlichen Körper gewesen, hätte er ein genervtes Seufzen von sich gegeben. So blieb ihm jedoch nichts anderes übrig, als eine andere Position zu finden, was gar nicht so einfach war. Wenn er sich flach auf die Seite legte, drückte die Schiene zwar nicht mehr, sein Kopf kam allerdings tiefer als der Rest seines Körpers zum Liegen, weil er dann nahe am Rand des Kissens war. Das war doch frustrierend. So konnte er niemals einschlafen. Wenn er wenigstens wieder die warme Hand auf seinem Kopf hätte, die ihm die Ohren kraulte. Das hatte sich schön angefühlt.

Ruckartig hob Darius den Kopf wieder an und mühte sich auf seine vier Pfoten, die drei gesunden und die lädierte. Anschließend humpelte er Richtung Bett. Ob er es hinbekommen würde, hinaufzuspringen? Vielleicht, wenn er sich auf sein gesundes Hinterbein verließ. Aber ohne sich allzu sehr weh zu tun und ohne das Bettzeug mit seinen Krallen zu ruinieren? Unwahrscheinlich. Aber so, auf dem Boden mit dem einzelnen Kissen, konnte er die Nacht nicht verbringen. Nein … So ganz stimmte das nicht. Vermutlich konnte er schon, aber er wollte nicht. In diesem Moment war er ganz und gar egoistisch.

Er brachte sich in eine Position, in der er dachte, springen zu können, ohne sein verletztes Bein zu belasten, und drückte sich nach oben ab. Er streckte die vorderen Krallen weit von sich aus und bekam die Decke zu fassen. Jetzt hing er senkrecht in der Luft, langgestreckt wie ein nasses Stück Wäsche zum Trocknen an der Leine. Und nun? Darius zappelte mit den Hinterbeinen, weil er spürte, dass die Krallen seiner Vorderpfoten langsam aber sicher Löcher in den Stoff rissen. Er musste schnell machen. Wie ein Kletterer befreite er abwechselnd seine vorderen Pfoten aus dem Bettzeug und setzte sie jeweils ein Stück höher wieder an. Das funktionierte ganz gut und so gelangte er innerhalb weniger Sekunden über die Bettkante. Ein wenig war er außer Atem, wobei er sich nicht sicher war, ob da nicht sein menschliches Ich durchschlug. Eine Katze konnte eine solch kleine Kletterpartie bestimmt nicht dermaßen beanspruchen.

Darius‘ Blick heftete sich nun auf den schlafenden Menschen. Viel sah er allerdings von seiner Position neben den Beinen des Mannes aus nicht. Er stakste auf leisen Pfoten am Oberschenkel entlang, quetschte sich unter dem Arm hindurch, den der Mann abgewinkelt vor seinem Oberkörper abgelegt hatte, und bemühte sich, vom oberen Ende aus unter die Decke zu kriechen. Er wollte einfach ein bisschen Wärme. Der Mann schlief wie ein Stein und blieb von Darius‘ Anstrengungen offenbar komplett ungestört. Bald schon schmiegte sich Darius an die sich von der Atmung sanft auf und ab bewegende Brust und schnurrte zufrieden. Sein eigenes Herz klopfte dabei schneller als gewöhnlich und ein sehr menschlicher Schauer rieselte sein Rückgrat entlang. So vergaß er sogar beinahe seine Verletzung.

10

Ein Schubs weckte Darius. Er hörte einen leisen, überraschten Aufschrei, der nicht von ihm stammen konnte, der er ja, soweit er wusste, immer noch eine Katze war, und spürte, wie sich ein kräftiger Griff um seinen Brustkorb legte. Verwirrt öffnete er die Augen und sah den Boden des Zimmers, in dem er seit ein paar Tagen lebte, ein ganzes Stück unter sich schweben. Besser gesagt schwebte er über dem Boden.

„Kätzchen!“

Das war die Stimme des Mannes. In dem Moment wurde Darius zurück auf das Bett gesetzt und der Griff lockerte sich.

„Das wäre fast ins Auge gegangen.“ Noch etwas verschlafen wirkend blickte der Mann Darius an. Der Mensch saß auf der Bettkante und hob nun wieder seine Hand, um Darius einen leichten Klaps auf den Kopf zu geben. „Wie du es nur geschafft hast, überhaupt hier herauf zu kommen mit deinem Bein.“ Kopfschüttelnd stand er auf und Darius konnte abermals einen Blick auf die kräftige Gestalt erhaschen, als der Mann das Stoffhemd, das er während des Schlafens getragen hatte, ablegte. Ein wirklich schöner Körper … Darius war sich sehr wohl bewusst, dass er kaum Vergleichsmaterial für diese Aussage hatte, war sich in dem Punkt aber ziemlich sicher. Er spürte ein Kribbeln, diesmal in seiner Magengegend, und ein leichtes Stechen in seiner Brust, das ihm das Atmen erschwerte. Unwillkürlich stieß er einen leisen Katzenlaut aus und der Mann, der gerade auf dem Weg in den Raum nebenan gewesen war, drehte sich zu ihm um.

Oh nein, was war bloß los? Darius zwang sich, den Blick zu senken und machte sich ganz klein. Wenn er diesen Menschen direkt ansah, wurde das merkwürdige Gefühl in ihm sogar noch stärker. War es das, was eine Katze gegenüber ihrem Besitzer empfand? Das konnte er kaum glauben.

Darius hörte, wie der Mann nun doch nach nebenan ging, hielt seinen Blick aber weiter beschämt auf die Matratze gerichtet. Irgendetwas stimmte da doch nicht. Vielleicht lag es tatsächlich daran, dass er sich schon zu lange im Körper einer Katze befand. Das musste es sein.

Darius hörte das Plätschern von Wasser, was seine Aufmerksamkeit wieder von der Matratze weg lenkte. Das Geräusch kam von draußen, es klang aber nicht wie Regen. Regen … Das war etwas, das er als Katze nur schwer ertragen konnte. Bei Regen war er lieber in seinem richtigen Körper, als triefendes Fell überall auf der Haut kleben zu haben.

Nur ein paar Augenblicke später kehrte der Mann zurück ins Schlafzimmer. Ganz offensichtlich hatte er sich gewaschen, denn Darius nahm nur allzu deutlich die feinen Wasserperlen auf dessen Haut wahr. Statt der Hose hatte der Mann nun ein rechteckiges Stück Stoff um die Hüften gewickelt. Er ging zu seinem Schrank und holte dieselben Kleidungsstücke hervor, die er schon tags zuvor getragen hatte, als er das Haus verlassen hatte. Darius überlegte immer noch, welcher Arbeit der Mann wohl nachging.

Der Mensch stand nun mit dem Rücken zu Darius und ließ das Tuch von den Hüften gleiten. Und obwohl Darius damit gerechnet hatte, schaute er nicht weg. Wie gebannt sog er den Anblick der Wirbelsäule in sich auf, die in einem sanften Schwung in einen festen Hintern überging. Ihm fiel auf, wie sich die Gesäßmuskeln bei jedem Schritt unter der Haut bewegten und er wurde das Gefühl nicht los, diesen perfekten Körper einmal berühren zu müssen, um sich seiner Realität zu versichern. Darius merkte erst nach einiger Zeit, dass er die Luft anhielt, während er darauf wartete – darauf hoffte – dass der Mann sich herumdrehte und er noch mehr von ihm sehen konnte. Als er sich dieser Gedanken bewusst wurde, war er zunächst wie gelähmt, was allerdings dazu führte, dass er den Mann weiterhin nicht aus den Augen ließ. Dieser drehte sich jetzt tatsächlich zu ihm, hatte die abgetragene Lederhose aber bereits übergezogen und so blieb Darius nur, erneut die Bauchmuskeln, die sich leicht unter der Haut abzeichneten, zu bewundern.

„Dann komm mal mit.“ Der Mann trat zu Darius ans Bett, hob ihn auf und trug ihn nach nebenan in die Küche, wo er ihn auf den Tisch setzte. Sanft aber bestimmt drückte er ihn nach unten, sodass er auf der Seite zum Liegen kam und sein geschientes Hinterbein oben war. Darius fügte sich, empfand den Druck nicht einmal als unangenehm – eigentlich sogar als recht angenehm. Der Mann prüfte den Sitz der Schiene und die Knoten der Stoffbahnen, die sie an Ort und Stelle halten sollten. Als er vorsichtig das Bein anhob, weckte das Darius aus seiner wohligen Träumerei. Nicht, weil es weh getan hatte, aber wenn er sich vorstellte, dass der Mann ihn dort ansah, war ihm das mit einem Mal mehr als peinlich. Sicher, er war eine Katze – ein Kater – aber trotzdem … Er strampelte mit den Pfoten, um die Hände des Mannes abzuschütteln, doch der hatte keine Probleme, ihn weiter festzuhalten. Vor allem, da die Bewegung wieder dazu führte, dass er die Verletzung als scharfes Ziehen spürte.

„Ganz ruhig“, murmelte der Mann mit tiefer Stimme. „Ich meine es nur gut. Es ist gleich vorbei.“ Er kraulte Darius kurz an der Seite, was diesen sofort wieder umstimmte und ihn sämtliche Gegenwehr vergessen ließ. Es war aber auch zu angenehm, auf diese Weise gestreichelt zu werden. Wobei … Wenn er so darüber nachdachte, musste er sich mehr wehren, um mehr Aufmerksamkeit zu erhalten, oder? Andererseits wollte er sich auf keinen Fall unbeliebt machen, nicht, dass ihn der Mann noch vor die Tür setzte. Das würde er sowieso irgendwann tun …

Wieder in seinen Grübeleien versunken bemerkte Darius erst, dass die Kontrolle vorüber war, als der Druck der Hände von ihm abließ und stattdessen der Geruch von altem Fisch in seine Nase stieg. Unwillkürlich rümpfte Darius die Nase, wobei er keine Ahnung hatte, wie das bei einer Katze aussah. Es handelte sich ganz offensichtlich um Reste von gestern Abend, die ihm der Mann vorsetzte. Reste, die Darius als Mensch nicht gegessen hätte und – ja, vermutlich einer Katze gegeben hätte. Der Kopf des Fisches lag bei den Resten und glotzte ihn nun noch leerer an als beim letzten Mal. Kritisch schaute Darius zu dem Menschen, der sich selbst eine Scheibe Brot abschnitt und etwas Butter darauf verteilte. Das war zwar auch kein Festmahl, aber doch besser als alter Fischkopf. Darius zwang sich, den Kopf zu recken und zumindest ein paar der weichen Teile der Fischreste zu schlucken. Jede normale Katze hätte dieses Essen so schnell wie möglich hinuntergeschlungen.

Es war ein schnelles Frühstück. Der Mann musste offenbar heute wieder das Haus verlassen und machte sich bereits fertig zum Gehen, während Darius noch immer etwas lustlos an seinem Fisch herumkaute.

„Schmeckt‘s dir nicht?“, fragte der Mann mit einem schiefen Lächeln, als er aus dem Schlafzimmer kam und nun komplett angezogen war. Außerdem hatte er die Milchschale in der Hand, die die Nacht über dort gestanden hatte und aus der Darius nicht wirklich etwas getrunken hatte. So langsam merkte der aber, dass er Durst hatte; auf die Toilette musste er demnächst auch. Er gab dem Menschen ein kurzes Miauen als Antwort, das diesen kurz innehalten ließ.

„Ich glaube manchmal fast, dass du mich verstehen kannst“, murmelte der Mann mit einem Stirnrunzeln. Dann ging er weiter, am Tisch vorbei, auf dem Darius saß, und nach draußen. Dort stellte er die Milchschale ab, kam zurück, nahm Darius in die eine und den Teller mit den Fischresten in die andere Hand und setzte beides ebenfalls vor der Tür im Freien ab. Darius war verdattert. War es nun etwa schon so weit? Wurde er mit einem letzten, kargen Essen einfach so ausgesetzt? Er wollte schon etwas sagen, was vermutlich wieder nur als Miauen zu hören gewesen wäre, als ihm der Mann zuvorkam.

„So ist es besser, nicht wahr? Heute musst du nicht den ganzen Tag im Haus bleiben.“ Er zog die Tür zu und ging vor Darius in die Hocke. „Pass auf dich auf. Wenn ich am Abend wieder da bin, gibt‘s was Leckeres zu essen.“



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Kommentare zu dieser Fanfic (10)

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Von:  ReinaDoreen
2022-01-31T15:55:12+00:00 31.01.2022 16:55
Schreibst du denn diese Geschichte noch weiter?
LG reni
Von:  Laila82
2018-05-17T19:07:53+00:00 17.05.2018 21:07
Ich freu mich so das du weiter schreibst, ich mag die FF sehr.
Antwort von:  michischreibt
17.05.2018 21:49
Oh, das ist lieb von dir! :-)
Tut mir leid, dass die Pause so lang war ... Ich hoffe und bemühe mich, dass es nun wieder zügiger vorangeht ;)
Von:  Misaki1
2017-08-14T18:18:04+00:00 14.08.2017 20:18
Ich finde die Geschichte so interessant ,dass ich es kaum abwarten kann das nächste Kapitel zu lesen und das jedes mal bisher >~<
Antwort von:  michischreibt
22.08.2017 21:10
Vielen lieben Dank! Dann sollte ich schleunigst mal eine Fortsetzung hier hochladen, nicht wahr? ;)
Von:  Laila82
2017-05-19T09:34:46+00:00 19.05.2017 11:34
Oje. Und jetzt wieder zurück zur Katze oder so bleiben und gefunden werden. Nackt, ohne Maske, verletzt. Wird er dann wegen Hexerei angeklagt? Tausend Fragen in meinem Kopf.
Von:  Laila82
2017-04-12T18:52:45+00:00 12.04.2017 20:52
Sein Retter ist wohl Arzt oder gab es damals schon Tierärzte? Wo wohnt sein Retter überhaubt, kommt er von dort so einfach wieder heim? Ich bin gespannt...
Von:  Ginnybread
2016-12-17T09:51:44+00:00 17.12.2016 10:51
Oh je, der arme Darius! Hoffentlich findet sich jemand, der dem Kätzchen hilft. Und hoffentlich verwandelt er sich nicht unkontrolliert zurück... Bin gespannt ;)
Antwort von:  michischreibt
06.01.2017 11:04
Er ist schon ein bisschen ein Tollpatsch ... auch wenn er das selbst wohl nicht so sieht.^^ Bei seinem Pech könnte das echt passieren, dass er sich unkontrolliert zurückverwandelt ... Abwarten, wie's im nächsten Kapitel weitergeht. :-)
Von:  silvana
2016-09-15T20:27:10+00:00 15.09.2016 22:27
Also ich finde es jetzt schon sehr interessant. Wie hat sich Darius die verletzung im Gesicht zugefügt? Hoffe doch auch das es später ein gutes Ende hat so das Darius nicht mehr so alleine ist. Freue mich schon wenn es ein neues Kapitel gibt.
Antwort von:  michischreibt
15.09.2016 22:35
Freut mich, wenn es dir ein bisschen gefällt :D
Ja, das mit der Verletzung kommt auf jeden Fall noch...
Und alleine ist er vielleicht schon bald nicht mehr^^
Bin leider momentan nicht so schnell im Schreiben, dafür ist es noch zu warm...
Viele Grüße!
Von:  CharlieBlade1901
2016-09-08T19:47:35+00:00 08.09.2016 21:47
Interessanter Anfang muss ich sagen. In welchem Jahr spielt denn die Geschichte? Und in was für Tiere abgesehen von einer Katze kann er sich denn verwandeln
Antwort von:  michischreibt
09.09.2016 11:38
Danke für dein Interesse an der Geschichte! Da sie in einer Fantasiewelt spielt, kann ich dir gar nicht genau sagen, um welches Jahr es sich handelt. Es sind bestimmt viele Elemente in der Geschichte mit drin, die so niemals stattgefunden haben. Was ich aber sagen kann, ist, dass es Strom auf jeden Fall noch nicht gibt, auch keine motorisierten Gefährte oder fließend Wasser. Bücher dagegen, auch gedruckte, gibt es schon. Und natürlich Magie :-)
Da die Hauptfigur sich die Verwandlung, die ja, wie die gesamte Magie, eher in Vergessenheit geraten ist, selbst beigebracht hat, schafft er es momentan nur, sich in eine Katze zu verwandeln ^^ Zu mehr reicht es erst mal nicht... Armer Kerl...
Antwort von:  CharlieBlade1901
09.09.2016 13:26
Das wäre Literaisch gesehen so wie es klingt irgendwo in den Jahren vor dem richtigen Expessionismusses also da wo man sagte nicht mehr im Dorf wohnen und auf dem Land arbeiten sondern in die Stadt ziehen und das große Geld machen also ungefähr und den Jahren vor dem Expreessionismus sagen wir 20 Jahre davor also 1891
Antwort von:  CharlieBlade1901
09.09.2016 13:27
Aber ich will Wölfe Tieger Löwen oder was anspruchsvolleres Drachen
Antwort von:  michischreibt
09.09.2016 14:49
Was die Zeit angeht, würde ich sogar sagen, noch ein bisschen früher. Aber ja, etwas in die Richtung.
Wolf oder Tiger würde mir auch gefallen^^ Aber ich fürchte, der gute hat noch nie einen lebendigen Tiger gesehen. Wolf wäre eher machbar, schätze ich... Warten wir's ab ;)


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