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Heute war ein schöner Tag, eigentlich wie geschaffen um sich draußen die Beine zu vertreten. Darius blickte aus dem Fenster seines kleinen Häuschens. Da er am Rande der Stadt auf einer leichten Anhöhe wohnte, sah er die wunderbar leuchtenden Farben der Bäume, deren Grüntöne im Sonnenlicht strahlten. Diese Aussicht war einmalig, und er liebte sie, doch es kam zu häufig vor, dass er sie nur von drinnen aus sah.
Mittlerweile hatte er sich daran gewöhnt, dass er nicht einfach, wann er wollte, vor die Türe treten konnte, um spazieren zu gehen oder über den Marktplatz zu schlendern.
Zuerst hatten ihn seine Eltern bis zu ihrem Tod unter Verschluss gehalten, eingesperrt in sein Zimmer, da er für sie eine zu große Schande war. Danach war er freiwillig in seinem Käfig geblieben.
Geistesabwesend berührte Darius seine rechte Schläfe, fuhr am Haaransatz entlang über die Wange zum Ohr und konnte die Unebenheiten, die sich wie geschmolzenes Wachs unter seinen Fingerspitzen anfühlten, spüren. Es waren viele Jahre vergangen, seit er sich dieses Narbengeflecht zugezogen hatte; viele Jahre und viele Schmähungen. Es schien unmöglich, mit solch einem entstellten Gesicht von den Mitmenschen akzeptiert zu werden, selbst seine Eltern hatten es nicht über sich gebracht, ihn weiterhin als ihren Sohn anzuerkennen.
Zunächst hatte ihn das wütend gemacht, auch wenn er den Zorn in sich hineingefressen und ihn deswegen vermutlich niemand bemerkt hatte, dann war er traurig gewesen. Noch heute stellte er sich oft die Frage, wie viel Bedeutsamkeit die Menschen wirklich den inneren Werten eines anderen beimaßen, und wie wichtig im Gegensatz dazu ein ansprechendes äußeres Erscheinungsbild war. Diese Gedanken waren aber selten geworden. Er hatte bemerkt, dass er, egal was er tat, nichts daran ändern konnte und hatte sich seinem Schicksal gefügt. Oder zumindest fast.
Darius wandte sich vom Fenster ab und schlurfte zu seinem Sekretär in der Ecke des Raumes. Auf der Ablageplatte lag eine kleine Holzschachtel, die er jetzt öffnete. Vorsichtig griff er hinein und holte eine weiße Gipsmaske hervor. Irgendwann, als er es leid gewesen war, dass die Leute mit ausgestreckten Armen auf ihn zeigten und hinter seinem Rücken tuschelten, hatte er sie anfertigen lassen. Sie war genau an seine Gesichtsform angepasst, schneeweiß und glänzte im Licht. Natürlich konnte er so seine Narben verstecken, doch unauffälliger war er damit nicht. Statt Ekel schlug ihm lediglich unverhohlene Neugierde entgegen. Kein wirklich guter Tausch.
Er hielt sich die Maske vor sein Gesicht. Sie wurde am rechten Ohr befestigt, verlief am Haaransatz nach oben bis fast in die Mitte der Stirn, dann rechts an der Nasenwurzel vorbei, über die Wange und am Kiefergelenk zurück zum Ohr. Außerdem hatte sie ein Loch für sein Auge. Wenn er sie aufsetzte spürte er sie kaum, es war nur ein wenig ungewohnt, durch das kleine Loch zu schauen, wenn er gleichzeitig doch mit dem linken Auge ganz normal um sich blicken konnte.
Seufzend setzte Darius die Maske wieder ab legte sie sorgfältig zurück in die Schachtel. Weil er heute weder einkaufen gehen musste noch sonst etwas zu erledigen hatte, würde er sie nicht aufsetzen.
Vor einigen Jahren, als er als Kind gezwungenermaßen viel Zeit allein in seinem Zimmer verbracht hatte, hatte er eine Unmenge an Büchern gelesen und viel nachgeforscht. Schon immer hatte er die alten Geschichten, die die Leute heutzutage als Märchen und Sagen und manchmal sogar als Lügengeschichten titulierten, gemocht, hatte sich für das Leben von früher interessiert und auch für die Magie, die Jahrhunderte zuvor noch weitaus verbreiteter gewesen war als nun. Es gab noch immer Magier, das wusste jeder, doch irgendwann hatten die Menschen gemerkt, dass die Magie natürliche Grenzen hatte. Die Grenzen der Wissenschaften waren dagegen noch nicht erreicht; also hatte ein Interessenwandel stattgefunden, den Darius zwar durchaus verstehen, aber nicht unbedingt unterstützen konnte. Damals in seinem Zimmer hatte er natürlich noch nicht so einsichtig darüber gedacht.
Es hatte lange Zeit gedauert und ihn endlose schlaflose Nächte gekostet, bis er endlich dazu in der Lage gewesen war, was ihn in den Büchern seit jeher am meisten fasziniert hatte: Verwandlungen.
Es war weder seine Absicht, Wasser in Wein, noch Stroh in Gold zu verwandeln – wenn auch beides manchmal durchaus nützlich sein konnte – sondern er wollte sich selbst verwandeln. Er wollte sich verwandeln, sodass er zumindest für kurze Zeit aus seiner eigenen Haut in einen anderen, unversehrten Körper schlüpfen konnte.
Und er hatte Glück gehabt. Denn wie er erst später erfahren hatte, war für solch eine Art Magie weniger Übung und Zauberkraft notwendig, als vielmehr eine natürliche Veranlagung. Es war nämlich so, dass sich nicht jeder Mensch verwandeln konnte; diese Gabe war ein Geschenk, wenn auch niemand so recht wusste, woher dieses Geschenk kam und wer es warum bekam.
Vielleicht war es bei ihm ja der Ausgleich dafür, dass er den Großteil seines Lebens mit einer verunstalteten Gesichtshälfte verbringen musste.