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Geliebter Blutsbruder

von

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Noch mehr Fortschritte

Nach einer ruhigen und für alle erholsamen Nacht begann der sechste Tag, den wir auf Helmers Home weilten. Ich hatte mir da wirklich so meine eigene kleine Zeitrechung zurechtgelegt; ich unterteilte die nähere Vergangenheit nur noch in die Zeit vor und nach der Ankunft des Apatschen. Er und seine Gesundheit waren im Moment das Einzige, das für mich zählte, alles andere war zur absoluten Nebensache geworden.
 

Ich erwachte, weil mich die Strahlen der aufgehenden Sonne kitzelten; mein erster Blick galt natürlich wieder Winnetou. Er schlief. Sein Atem ging tief und regelmäßig und sein Herz schlug zwar ziemlich langsam, aber viel kräftiger als noch vor zwei Tagen. Man konnte sogar wieder einen leichten Bronzehauch in seinem Gesicht erahnen, es war nicht mehr so wachsbleich. Zärtlich glitt mein Blick über sein Angesicht, und plötzlich, ohne vorherige erkennbare Anzeichen, schlug er die Augen auf und sah mich lächelnd an. War er etwa schon wach gewesen? Bemerkt hatte ich davon nichts - doch der ganze Vorgang schien ihn nicht mehr so sehr anzustrengen, er wirkte im Gegenteil sogar ganz entspannt.
 

Ich begrüßte ihn mit einem Kuss auf die Stirn: „Guten Morgen, mein Freund!“ und er erwiderte den Gruß, nicht mehr flüsternd, aber noch mit leiser Stimme. „Hat mein Bruder Schmerzen?“ Ich hatte beschlossen, bei seinem nächsten Erwachen ihn dieses als erstes zu fragen, da er von selbst niemals etwas Derartiges erwähnen würde, und wenn es ihm noch so schlecht ging.

Er verneinte meine Frage natürlich auch jetzt wieder durch entschiedenes Kopfschütteln. Dann aber begann er zum ersten Mal seine nähere Umgebung richtig bewusst wahrzunehmen und fing an, sich interessiert im Zimmer umzuschauen. Schade, dass jetzt die anderen nicht hier waren! Seine nächste Frage konnte ich vorhersagen, und richtig, da kam sie auch schon: „Wo ... wo sind wir hier, Scharlih?“ Er konnte sogar schon ohne große Pausen zwischen den einzelnen Worten sprechen! Ich antwortete: „Auf Helmers Home, mein Bruder!“ Ein leises Erstaunen trat in seinen Blick; er schloss kurz die Augen, als wolle er über etwas nachdenken. Kurze Zeit später begann er erneut: „Winnetou.....kann sich nicht erinnern, wie er hier eintraf....?“ Sofort erklärte ich ihm: „Mein Bruder war auch ohne Bewusstsein, als er hier ankam - sein Iltschi aber hatte wohl instinktiv gewusst, wohin er sich wenden musste, um Hilfe für Winnetou zu bringen!“ Seine Lider fielen ihm wieder zu, während ein Lächeln über sein Antlitz glitt; er dachte wohl, wahrscheinlich sogar mit einem Anflug von Stolz, an seinen treuen Iltschi.
 

Ich nutzte diese Pause, damit er mit meiner Hilfe ein Glas Wasser trinken konnte.

Da er mir jetzt kräftig genug erschien, um längere Antworten zu geben, glaubte ich, diese Fragen stellen zu können: „Was ist denn nur geschehen, Winnetou? Wer hat dich angegriffen?“ Es folgte ein kurzes, nochmaliges Kopfschütteln, dann eine kleine Pause, in der er wohl versuchte, sich an die letzten Ereignisse zu erinnern. Nach einer Weile fing er an, langsam und leise zu erzählen: „Winnetou ritt fort, um in der Oase neues Wasser für den Treck zu holen. Er hätte vielleicht noch eine Stunde zu reiten gehabt, als er im Westen viele Reiter auf sich zukommen sah, mehr als vier mal zehn. Es waren Llano-Geier. Diese hatten den Apatschen auch gesehen und ritten schnell auf ihn zu. Winnetou erkannte, dass sie ihm in der offenen Wüste überlegen sein würden und....“. „....und du jagtest in die entgegengesetzte Richtung, um sie an einer geeigneten Stelle in eine Falle zu locken, ist es nicht so?“ unterbrach ich ihn, denn ich an seiner Stelle hätte es jedenfalls so gemacht, und außerdem wollte ich nicht, dass ihn der Bericht zu viel Kraft kostete. Er nickte. „Ich wollte zu der Bodensenke, in der wir damals....“ Auch jetzt ließ ich ihn aus dem genannten Grund nicht ausreden. „....in der wir damals die Kommantschen einschlossen, richtig? Konntest du diesen Platz noch erreichen?“ Er verneinte. „Kurz vorher erschien ein Gewehrlauf aus einem Kaktusfeld auf Winnetous rechter Seite. Er wich schnell nach links aus und wollte sich zwischen den auch dort stehenden Kakteen in Sicherheit bringen, als....“ Hier brach mein Freund ab, da er sich anscheinend nicht mehr ganz sicher war, was dann tatsächlich geschehen war. „Ich kann nicht sagen, was genau.....Es war so etwas wie ein Schlag, der meinen Kopf traf....?“ Jetzt war er sich wirklich unsicher, aber da konnte ich ja Aufklärung geben: „Richtig! Jemand hat von hinten links auf dich geschossen, wahrscheinlich gerade in dem Moment, als du die Ausweichbewegung tatest. Zum Glück, denn dadurch wurdest du nicht richtig getroffen, es war nur ein Streifschuss, allerdings ein sehr tiefer, der stark blutete. Ich nehme an, du hast dann das Bewusstsein verloren?“ „Ich denke es,“ erwiderte er. „die Sonne stand plötzlich wieder höher, als ich im Sand liegend erwachte, also musste der Überfall vor fast einem ganzen Tag geschehen sein....“
 

Jetzt erschrak ich sogar noch nachträglich über das Gehörte. Er hatte mit diesen schwersten Verletzungen fast vierundzwanzig Stunden teils in der sengenden Sonne, teils in der bitterkalten Wüstennacht ohne Besinnung gelegen! Und hatte von diesem Ort aus, den ich genau kannte, dann nochmal gute vierundzwanzig Stunden bis zu Helmers Home gebraucht, da Iltschi ja nur langsam mit seinem halb bewusstlosen Reiter vorwärts kommen konnte! Um so unfassbarer war es somit, dass er diese furchtbaren Strapazen tatsächlich überlebt hatte - für dieses Wunder würde ich ewig dankbar sein!

„Hattest du denn da auch schon die zweite Verwundung?“ fragte ich weiter. Er antwortete: „Winnetou hatte kaum noch Kraft, sein Pferd zu besteigen, er hatte sich deshalb nicht darum gekümmert. Aber da er Schmerzen in der Brust verspürte.....Hat das auch eine Gewehrkugel verursacht?“ Ich verneinte. „Es ist ein tiefsitzender Messerstich. Da du ja nicht mehr in der Lage warst, dich zu wehren, haben es diese feigen Banditen natürlich gewagt, Hand an dich zu legen. Vielleicht glaubten sie, dass dich der Schuss schon tötete, und als sie entdeckten, dass noch Leben in dir war, wollten sie mit dem Messer den Rest erledigen.“ An dieser Stelle hatte ich meine Stimme nicht mehr ganz unter Kontrolle, sie zitterte etwas - obwohl die Gefahr für ihn längst vorüber war, fiel es mir immer noch schwer, von diesem gemeinen Attentat zu sprechen.
 

Jetzt schwiegen wir beide, Winnetou, weil er eine Atempause benötigte, und ich, weil ich mir nicht sicher war, ob ich ihm jetzt schon von seinem Schutzengel berichten sollte. War er mittlerweile so stabil, dass ich ihn damit nicht überforderte? Nach ein, zwei Minuten forschte er aber sogar selbst nach: „Sie haben nicht gut gezielt, nicht wahr?“ „Doch,“ antwortete ich, „das hatten sie. Aber mein Bruder hatte etwas in seiner Brusttasche....“ hier unterbrach ich mich, griff nach seinem Jagdhemd, welches sich, immer noch verschmutzt und voller Blut, in der Nähe des Bettes befand und zog die silberne Büchse hervor. Ich drückte ihn etwas fester an mich, als ich fortfuhr: „....was ihn in diesem Moment vor dem sofortigen Tod rettete.“ Er besah sich die Büchse mit dem deutlichen Messerabdruck auf dem Deckel einen Moment, dann nahm er sie selbst in die Hand, öffnete sie und zog die Haarlocke N'tscho tschis heraus. Ich sah deutlich, wie ihn die Rührung übermannte und ihn daran hinderte, weiter zu sprechen. „Sie war und ist dein Schutzengel.“ flüsterte ich ihm leise zu, und er nickte.

Wir befanden uns jetzt beide in einem solch emotionalem Zustand, dass wir für einige Zeit nicht mehr weitersprachen. Ich hatte beide Arme fest um ihn geschlungen und mein Kinn ruhte auf seiner Schulter. Irgendwann aber lächelte er mit einem Male leise vor sich hin und erzählte: „Als ich in der Wüste erwachte, lag Iltschi neben mir auf dem Boden. Ich glaubte zuerst, sie hätten ihn erschossen, aber er bemerkte meine Bewegung und sprang sofort auf. Als ob er sich tot gestellt hätte, damit ihm nichts geschah.....“ „Das traue ich diesem treuen Tier durchaus zu!“ versicherte ich ihm. Winnetou fuhr fort: „Er hatte sich sogar so gelegt, dass meine Silberbüchse unter ihm zu liegen kam, so dass die Geier diese nicht sehen konnten!“ Jetzt warf ich ihm einen erstaunten Blick zu. „Richtig! Ich hatte mich schon gewundert, wieso man dir dieses kostbare Gewehr nicht geraubt hatte! Das ist ja nicht zu fassen! Was für ein unglaublich kluges Tier!“
 

Während ich die letzten Worte sprach, ging die Tür auf und Old Surehand, Emery, Hobble Frank und Entschah-koh kamen herein. Sie hatten schon auf dem Flur gehört, dass ich mich mit Winnetou etwas länger unterhalten hatte, zwar leise und mit kleineren Pausen, aber dadurch war deutlich zu erkennen, dass er schon wieder einen großen gesundheitlichen Fortschritt getan hatte. Old Surehand hielt sofort auf den Apatschen zu und küsste ihn überglücklich auf Stirn und Wangen. Er war ja noch nicht bei Winnetous vorherigen Wachphasen dabei gewesen und freute sich um so mehr, ihn wieder bei Bewusstsein zu sehen, was seine immer noch vorhandene Angst um ihn mehr als minderte. Dieser ergriff Old Surehands Hand, drückte sie an sich und sprach: „Mein Herz ist froh und glücklich, meinen berühmten weißen Bruder wiederzusehen. Es ist sehr lange her, dass dein Weg dich zu den Apatschen führte!“
 

Entschah-koh hatte sich stumm neben Winnetou gesetzt, aber seine Augen leuchteten vor Freude über die fortschreitende Genesung seines geliebten Häuptlings und er hielt ihm lange die Hand. Dieser wunderte sich zwar, seinen Unterhäuptling hier zu sehen, ließ sich aber nichts anmerken und wurde von Entschah-koh auch gleich über den Grund seines Hierseins unterrichtet.

Emery dagegen blieb einfach stehen, wo er war und lächelte selig.
 

Der Hobble-Frank war allerdings jetzt völlig aus dem Häuschen. Auch er küsste meinen Freund und wollte ihn dann mit einem solchen Übermut in seine Arme schließen, dass ich aus berechtigter Besorgnis um Winnetous Verletzungen dazwischen gehen musste. Erschrocken zuckte er auch sofort zurück, begann aber dafür sofort, in großer Lautstärke, untermalt mit gestenreichen Armbewegungen und aus vollem Herzen sächselnd, dem Apatschen von den Erlebnissen mit den anderen Westmännern und seinen Mescaleros im Llano zu berichten.

Winnetou hatte zwar von mir etwas deutsch gelernt, aber von diesem Redeschwall verstand er natürlich kein Wort. Lachend unterbrach ich mit einiger Mühe den überschwänglichen Gefühlsausbruch des kleinen Mannes und machte ihn auf Winnetous immer noch vorhandener Herzschwäche und körperlicher Instabilität aufmerksam. Erschrocken schlug er sogleich seine Hand vor den Mund, aber Winnetou legte diese lächelnd in die Seinige und sagte leise: „ Winnetou freut sich sehr, den berühmten Hobble-Frank wiederzusehen, und er wird glücklich sein, wenn dieser ihm von den letzten Ereignissen genau berichtet!“

Na, das ließ sich der Sachse aber nicht zweimal sagen! Er begann seinen Bericht nochmal von vorne, diesmal langsam und auf englisch. In dieser Sprache waren seine Erzählungen zwar nicht ganz so konfus und zusammenhanglos, aber, verursacht durch seine übergroße Freude, immer noch verworren genug, dass es den Apatschen alle Mühe kostete, ihm auch nur halbwegs zu folgen.

Trotzdem machte ihm der Kleine offenbar heimlichen Spaß, er lächelte ein übers andere Mal und als seine Kräfte ihn endgültig verließen, schlief er inmitten der spannendsten Stelle vor Erschöpfung wieder ein, gerade als der Hobble-Frank seine Heldentaten, durch die er seiner Meinung nach den Treck fast im Alleingang gegen die Llanogeier verteidigt hatte, wortgewaltig ausführte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: haki-pata
2015-07-29T14:21:43+00:00 29.07.2015 16:21
Es ist wunderbar zu lesen.
Den nachträglichen Schrecken empfand ich auch. Die Große Mutter und die Geister hatten es gut mit Winnetou gemeint, eine solche Tortur zu überstehen - sogar zu überleben!


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