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Doors of my Mind 2.0

Ihr Freund. Mein Geheimnis
von

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Wie Schafe auf der Wiese

Kapitel 4 Wie Schafe auf der Wiese
 

Ich bringe den Rest des absurden Kammerspiels hinter mich, beteilige mich notgedrungen und scheinwahrend an den Konversationen und mache gute Miene zum bösen Spiel. So wie es sich meine Mutter gewünscht hat. Mayas Blicke wünschen mir durchweg brennende Qualen.

Ich helfe dabei den Tisch abzuräumen und mache freiwillig den Abwasch. Ich sammele die Tassen ein und greife nach der von mir benutzten Teetasse. Darauf ist ein wolleweiches Schaf abgebildet, welches einem 'Du bist schaaaf' zu mäht und zwinkert. Papa schenkte sie Mama vor etlichen Jahren zum Hochzeitstag. Für Maya und mich war es ein Moment des abgrundtiefen Fremdschämens. Doch unserer Eltern haben dabei gekichert, wie zwei Teenager. Mittlerweile kann auch ich darüber schmunzeln. Ich sehe zu meiner Mutter, die den Rest der Tassen in die Küche stellt. Ihr Blick strotzt vor Enttäuschung und dass sie sauer ist, zeigt sie mir mit deutlichem Schweigen. Ich bin ein Idiot und wieder einmal selbst schuld. Könnte ich mich doch nur besser zusammenreißen.
 

Das Wasserrauschen lässt mich einen Moment lang in der Monotonie meiner Gedanken ertrinken. Ich stelle es ab und tauche meine Finger in das Becken. Das warme Abwaschwasser um meine kühlen Finger ist wohltuend. Sie malen kleine Kreise und wirbeln mehr Schaum auf. Ich räume ein paar Teller ins klare Nasse und höre wie Porzellan auf Glas trifft. Ich entscheide mich für den Schwamm und beginne die ersten Teller zu reinigen. Kreisend. Hier und da rubbelnd. Ich wende den Teller. Es hat etwas Hypnotisches. Ich beginne leise zu summen und genieße die Ruhe. So lange bis ich leises Gemurmel und gedämpftes Gelächter höre. Ich achte nicht auf die Stimmen, die aus dem Esszimmer zu mir dringen. Auch das Zersplittern des Glases unter Wasser ist nicht zu hören als ich gedankenlos weiter das Geschirr schrubbe. Doch als ich versehentlich in das kaputte Glas greife, kann ich es spüren. Ein kurzer Schmerz, der durch meine Hand zuckt.

Erschrocken ziehe ich sie aus dem Wasser raus und fluche. Die rote Flüssigkeit mischt sich mit dem Wasser. Sofort läuft mir Blut den Arm hinab und ich sehe mich suchend nach einem Handtuch um. Derweil betropfe ich die Arbeitsplatte. Ich bewege mich hektisch suchend umher. Nach kurzer Zeit sieht es aus, wie nach einer Notschlachtung. Viele rote Tropfen am Boden. Auf meinem T-Shirt und es bildet sich eine kleine Lache auf der Arbeitsplatte. Ich finde nichts zum Abbinden und lasse meine Hand sinken. Mein Puls pumpt heftig und heiß Blut durch meine Adern. Trotzdem wird mit kalt. Plötzlich greift jemand nach meinem Arm. Ich höre, wie klappernd etwas Geschirr auf die Anrichte gestellt wird und spüre Raphaels festen Griff um mein Handgelenk. Er fasst direkt in das Blut. Ich beginne heftig und laut zu atmen.

„Bleib ruhig und halt die Hand oben." Raphaels leise und ruhige Stimme dringt zu mir durch. Sein bestimmtes und sicheres Handeln beruhigt mich. Er zerrt meine Hand in eine aufrechte Position und zieht ein sauber gefaltetes Stofftaschentuch aus seiner Tasche. Schnell und fest drückt er es auf die lädierte Stelle. Ich zucke zusammen, als ein heftiger Schmerz meinen Körper durchfährt.

„Halt still, Mark", höre ich Raphael sagen, doch dann geben meine Beine nach. Erschrocken hält er mich fest, sodass ich nicht vollkommen zu Boden gehe und lehnt mich vorsichtig an den Küchenunterschrank. Kalter Schweiß steht auf meiner Stirn. Mir ist schummerig. Ich höre, wie Raphael nach meinen Eltern ruft. Er nennt meine Mutter bei ihrem Vornamen. Nur das fällt mir auf. Was er noch sagt, kriege ich nicht mit. Mein Blick verschwimmt und das Rauschen in meinen Ohren wird lauter.

Es dauert einen Moment bis ich alles um mich herum wieder klar mitbekomme. Das erschrockene und besorgte Gesicht meiner Mutter. Die Aufregung in den Stimmen meines Vaters und meines Onkels, die sich darüber streiten, ob sie einen Krankenwagen holen sollen. Meine Tante, die schnell und gekonnt meine Hand abbindet. Raphaels warme Hand, die in meinem Nacken liegt. Wohltuend und angenehm. Es beruhigt mich und ich spüre es so deutlich. Ich fühle, wie seinen Daumen über meine Haut streicht und dabei auch die Kette berührt. Nun weiß er, dass ich sie noch immer trage. Ich spüre, wie sie auf meiner schwer atmenden Brust hin und her schwingt. Ich höre sie weiterhin diskutieren.

„Beruhigt euch endlich. Nicht um sonst belegen die Statistiken, dass 40% aller Todesfälle bei der Hausarbeit passieren", sage ich leise und schmunzele mit Galgenhumor. Den Anderen ist leider nicht nach Lachen zu mute.

„Nicht witzig", flüstert mir Raphael zu.

„Was ist passiert?", fragt meine Mutter sorgenvoll und ich deute zur Spüle.

„Ich denke, da drin ist ein Glas kaputt gegangen. Beim Reingreifen habe ich mich wohl geschnitten."

„Und wieso fällst du bei einer kleinen Schnittwunde gleich um?" Ein Kommentar von Maya, die missmutig am Tisch lehnt und ihre Fingernägel anschaut. Ihr Mitleid hält sich in Grenzen und ihr Blick ist seltsam genervt. Ihre verschränkten Arme verdeutlichen die Abwehr. Sie erträgt es nicht, dass ich im Mittelpunkt stehe und wahrscheinlich geht es ihr gegen den Strich, dass Raphael sich um mich kümmert. Ein triumphales Gefühl in meiner Brust.

„Maya, halte dich zurück", gibt unsere Mutter streng von sich und sieht nicht zu Maya auf.

„Wieso? Das ist doch eine berechtigte Frage? Fällt um wie die bulimischen Mädchen in meiner Klasse." Der Kommentar bringt mich dazu aufzublicken. Für einen Moment sprachlos schaue auf die klapprige Gestalt meiner Schwester und kann mir eine hochgezogene Augenbraue nicht verkneifen.

„Schließe nicht immer von dir auf andere, Maya. Ich weiß, dass ein Body-Mass-Index unter 17 nicht erstrebenswert ist. Du anscheinend nicht.", kommentiere ich ihre dämliche Aussage. Meine Mutter zieht das Tuch an meiner Hand fester. Schmerzerfüllt zucke ich etwas zusammen und sehe sie beleidigt an. Sie schüttelt ihren Kopf und ich beiße mir kurz auf die Unterlippe.

„Sagt der Richtige", sagt Maya abschätzig und ich sehe, wie sie mich mustert. Ich verabscheue sie für diese Übertreibung.

„Oder hast du irgendwelche widerlichen Geschlechtskrankheiten? So was holen sich doch Leute, wie du...", setzt meine Schwester abschätzig fort. Hat sie das gerade wirklich gesagt? Diese Anspielungen sind ungeheuerlich.

„Maya es reicht!", fährt sie nun Raphael an und sie zuckt merklich zusammen. Ihre Arme verschränken sich beleidigt vor der Brust. Mein Herz rast. Ihre Äußerungen sind die Retourkutsche für die Beleidigungen von vorhin, doch das lässt mich schwer schlucken.

„Es ist einzig deine Anwesenheit, die mich krank macht", kontere ich spitz, aber wenig effektvoll, während mir zwei Leute aufhelfen. Meine Stimme zittert vor Fassungslosigkeit.

„Jetzt ist aber Schluss. Alle beide", bellt mein Vater laut. Seine Stimme schallt in den stillen Wänden der Küche wieder. Wir zucken alle derart zusammen, dass wir keinen Ton mehr von uns geben. Es ist Jahre her, dass er so aus der Haut gefahren ist.

„Mark, Couch. Maya, Zimmer. Unglaublich, dass ihr es mit euren ewigen Streitereien schafft, einen gemütlichen Nachmittag zu ruinieren." Erst die sanft aufgelegte Hand meiner Mutter auf seinen Arm, lässt ihn durchatmen und leiser werden.

„Raphael, es tut mir sehr leid, so, sollte dein Willkommen nicht ablaufen." Raphael nickt verständnisvoll und ich traue mich nicht, ihn anzusehen. Zu meinem Glück scheint niemand über den tieferen Sinn von Mayas Aussage nachzudenken. Dennoch wird mir ein wenig flau. Meine Tante begleitet mich zur Couch, während die anderen die Sauerei in der Küche beseitigen. Mein Onkel holt Verbandszeug aus dem Bad und Elli begutachtet meine Hand. Es ist ein Schnitt, der sich zwischen Zeigefinger und Ballen des Daumens zieht. Er ist nicht übermäßig tief, aber lang und blutig. Ich darf nicht so lange drauf starren, denn schon jetzt wird mir wieder schummerig. Als Krankenschwester erkennt sie sofort, dass ich wieder wanke und drückt mich in die Kissen. Elli begutachtet alles fachmännisch. Der Schnitt ist zwar unschön, aber er muss nicht genäht werden.

„Glück gehabt. Aber du solltest trotzdem einen Arzt aufsuchen und musst dich in der nächsten Zeit vorsehen", murmelt sie und lässt ihre braunen Augen über die Wunde gleiten.

„Mist, dann muss ich den Eintritt in die unieigene Handballmannschaft wohl verschieben", witzele ich und ernte einen bösen Blick.

„Mit deiner Tagliatellemuskulatur ist das auch besser so", kommentiert mein Onkel, setzt sich neben mich und grinst. Ich werfe ihm einen beleidigten Blick zu, während er meiner Tante dabei zu zieht, wie sie nach dem Verbandszeug greift.

„Urkomisch. Aber immerhin habe ich jetzt einen Grund jemand anderes für mich mitschreiben zulassen", sage ich und bekomme diesmal an berechtigtes Nicken von beiden Parteien.

„Mark, dass du so empfindlich auf den Blutverlust reagierst, ist nicht gut. Hast du viel Stress? Fühlst du dich kränklich oder hast du irgendwas eingenommen?" Ich weiß, dass ihre Fragen aus dem Standardrepertoire der Medizin sind, doch ich fühle mich angegriffen. Sie kennen mich und wissen, dass ich nichts Derartiges zu mir nehme.

„Nein, nur die üblichen Muntermachen, die alle Studenten so konsumieren", gebe ich bissig von mir und seufze, „Nein, ich bin einfach nur unausgeschlafen und ich gebe zu, dass in der letzten Zeit mein Speiseplan nicht sehr reichhaltig war, aber mehr nicht."

„Okay, okay", beruhigt meine Tante und fährt mir fürsorglich über die Stirn. Sie verbindet meine Hand perfekt und geht dann zu meiner Mutter in der Küche. Mein Onkel bleibt bei mir sitzen und sieht mich an.

„Was ist los? Stress? Probleme in der Uni?", erfragt er ein weiteres Mal, aber mit einer so warmherzigen Stimme, dass mir ganz zahm zu Mute wird. Ich weiß, dass jegliches Herausreden keinen Sinn macht.

„Nicht wirklich, in der Uni läuft alles gut. Viel zu tun, aber noch kein Stress. Ich habe Spaß und viele nette Leute kennen gelernt."

„Unglücklich verliebt?", vermutet er weiter. Er trifft den Nagel auf den Kopf. Nur nicht so, wie er es sich denkt.

„Seit Jahren, aber das halte ich aus. Schlimmer sind die ständigen Date-Anfragen, die ich habe. 7 Tage sind einfach zu kurz für eine Woche", sage ich verschmitzt. Doch mein Onkel springt widererwartend nicht auf den Komikerzug auf.

„Willst du darüber reden?"

„Eigentlich nicht."

„Okay." Er nimmt mich sachte in den Arm. Ich bin ihm dankbar, dass er nicht weiter bohrt.

„Ich hole uns etwas zu trinken."

„Jo, 10 Bier für die Männer vom Sägewerk, bitte.", sage ich hebe beide Hände in die Luft und klappe beim Hochhalten an beiden Händen zwei Finger ein, sodass ins gesamt nur sechs erhoben sind. Ein alter Kneipenwitz. Ich bekomme ein kehliges Lachen, schaue ihm nach.

Unwillkürlich legt sich meine Hand in den Nacken. Noch immer fühlt sich die Stelle seiner Berührung warm und liebkost an. Ich schließe meine Augen und lasse meinen Kopf nach hinten auf die Lehne fallen. Ich bin wirklich müde. Nicht nur physisch.

Mein Onkel bringt mir ein Glas Cola und schaltet den Fernseher ein. Eine Weile sitzen wir still nebeneinander. Meine Eltern diskutieren in der Küche, während meine Tante beruhigend auf beide Parteien einredet. Ich entschuldige mich und gehe nach oben. Vor dem Bad schwenke ich um und stehe mit einem Mal in meinem alten Zimmer.
 

Ich seufze leise in die Stille des relativ leeren Raumes hinein. Mein Blick wandert über die zurückgelassenen Möbel. Das Bett. Einer Kommode und erschreckend vielen Stühlen. So viele waren vorher definitiv nicht hier drin. Genauso wenig, wie die Kisten mit den alten Spielsachen. Ich begutachte den zerzausten Puppenkopf, der durch den Spalt der Verschlussseite lugt. Auf der anderen Kiste steht groß das Wort 'Lego'. Ich weiß nicht, warum meine Eltern das Zeug aufheben. Ein feines Seufzen perlt von meinen Lippen. Mein Zimmer wird zum Abstellraum. Welch seltsame und bedrückende Vorstellung. Ich höre leise Stimmen im Nebenzimmer diskutieren. Erinnerungen an vergangene Zeiten. Ich verstehe nicht, warum sich Maya nicht einfach an seiner Anwesenheit erfreuen kann. Ich tue es auch. Irgendwie jedenfalls. Na ja, auch meine Begrüßung war nicht sonderlich liebevoll gewesen, aber ich glaube er hat auch nichts anderes erwartet. Aber vielleicht erhofft.

An Mayas Stelle wären Streit und Diskussionen das Letzte, woran ich in dem Moment seiner Rückkehr denke würde. Alles nur nicht das. Erneut streichen meine Fingerspitzen über meine leicht trockenen Lippen. Sein Geschmack breitet sich darauf aus. Doch ich bin nicht an ihrer Stelle. Unwillkürlich ziehe ich meine Finger zurück und greife mir an den Hals. Ich spüre das kühle Metall und merke nicht, wie sich hinter mir die Tür öffnet.

Seine warme Hand legt sich an meine Schulter und ich schrecke zurück. Raphael steht hinter mir im Raum und sieht mich mit seinen tiefgrünen Augen an. Unergründlich, aber gefühlvoll funkeln sie mir entgegen. Ich habe das Gefühl zu ersticken. Sein liebevolles Verhalten mir gegenüber macht mich wahnsinnig und bringt mich durcheinander. Warum auf einmal? Nicht, dass er je wirklich unfreundlich zu mir gewesen war. Vor seiner Abreise jedoch war er durcheinander und abweisend. Das hatte mich sehr getroffen, aber mich jetzt dieser liebevollen Freundlichkeit gegenüberzusehen, macht alles noch schlimmer. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Warum kann er mich nicht einfach meiden? Warum kommt er wieder auf mich zu? Was hat sich geändert?

„Ich glaube, du hast dich im Zimmer geirrt. Deine Freundin hat das Zimmer neben an", sage ich ungewöhnlich scharf und verschränke die Arme vor der Brust. Der Schnitt an meine Hand pocht. Raphael kommt näher und bleibt neben mir stehen. Ich erwarte eine verärgerte Antwort und starre weiter auf die Kartons vor meinen Füßen. Nichts. Meine Hand liegt noch immer über der Kette um meinem Hals. Warum kann er nicht einfach gehen? Die Frage echot durch mein Inneres und das stille Flüstern in mir antwortet, dass ich es gar nicht will.

„Ist Maya sauer?", frage ich stattdessen leise und schaue ihn an.

„Wann ist sie das nicht?", antwortet er verschmitzt. Ich sehe, wie seine Schultern leicht nach oben zucken und wie sich ein winziges Lächeln auf seinen Lippen bildet. Ein komischer Ausdruck. Er zeugt nur minimal von Belustigung, sondern eher von verspäteter Erkenntnis. Das gesamte Haus ist aufgebracht und das wegen Mayas und meiner Streitereien. Der Grund ist Raphael. Auch, wenn das für meine Eltern und dem Rest meiner Familie nicht deutlich ist.

„Wie geht es deiner Hand?" Seine Stimme gleicht einem Flüstern und doch habe ich das Gefühl. dass sie durch den gesamten Raum hallt. Sie vibriert in meinen Knochen, in meiner Brust.

„Keine Amputation nötig, Herr Doktor!", entfährt es mir flapsig. Die Wut wird stärker mit jedem zärtlichen Wort, welches er an mich richtet.

„Sonst alles okay?", fragt er einfühlsam und ich bekomme Gänsehaut. Ich rede und rede mir ein, dass das mit Raphael nicht funktionieren kann und das Alles falsch ist, so wie er es mir vor seinem Abgang eingebläut hat. Doch nun steht er neben mir und bringt alles in mir durcheinander. Seine alles umfassende Zuneigung irritiert mich. Die Zärtlichkeit seiner Berührungen wühlt mich auf. Wieso schenkt er sie mir plötzlich? Es macht mich wütend. Ich bin so wütend über die Hilflosigkeit und den Zwiespalt, die ich empfinde, weil er erneut Hoffnung in mir weckt. Ich will sie nicht, weil sie schmerzhaft sind.

„Was glaubst du?" Diesmal sind meine Worte voller Verärgerung. Ich höre ein leises Seufzen.

„Mark" Mein Name perlt über seine Lippen. Weder wütend, noch mahnend. Er klingt verzweifelt. Seine Fingerspitzen berühren meinen nackten Arm.

„Nichts ist okay, Raphael. Du hast mich abgewiesen. Du hast mich verletzt. Und.. und damit hätte es gut sein sollen, aber nein, du...", breche ich ab, weil ich zu laut werde. Ich wende mich zur Tür und drücke sie zu. Ich ziehe mir beim Zurückkommen kurzerhand die Kette vom Hals. Ich blicke sie an und spüre, wie sie mit jeder Sekunde schwer zu werden scheint. Wie eine Last.

„Du gibst mir die hier. Ohne eine Erklärung oder irgendwas, was mir sagt, warum du eine Kette mit diesem Datum hast. Nein, nichts ist okay. Gar nichts!", fahre ich fort. Raphaels Kopf neigt sich nach unten. Er streicht unruhig mit den Fingern über seine Jeans. Ich sehe, wie sein Adamsapfel hüpft als er schwer schluckt.

„Und weil es anscheinend noch nicht genug ist, kommst du in meine Wohnung, bist nett zu mir und sagst diese Dinge und heute herzt du meine Schwester. Wenn du keine Entscheidung getroffen hast, warum bist du zu mir gekommen?"

„So ist das nicht."

„Du bist Mayas verdammtes Überraschungsbonbon..."

„Mark, das heute war nicht meine Idee...Ich wollte es nicht..."

„Du bist aber hier und du bist es für sie..." Raphael schweigt und es ist für mich Zustimmung genug.

„Warum bist du zu mir gekommen?"

„Ich habe dir den Grund genannt." Ja, das hatte er, aber ich will mich von ein paar netten Worten nicht erneut blenden lassen.

„Ja, aber dein blöder Grund ändert nichts. Auch die Kette ändert nichts an der Tatsache, dass du heute wegen meiner Schwester hier bist. Also, was willst du eigentlich?" Meine letzten Worte betone ich besonders. Ich sehe ihn bitterernst an und höre von ihm das, was ich im Grunde immer hören wollte, nur nicht jetzt.

„Dich...ich will dich nicht verlieren." Ich kann es ihm nicht glaube. Ich bin selten sprachlos, doch in diesem Moment scheinen alle Worte in meinem Kopf formlos und ungreifbar. Die Emotionen in meinem Bauch fahren Achterbahn. Erregung paart sich mit Glück, Sehnsucht mit Anspannung. Ungläubigkeit fragt nach Verständnis. Doch vor allem spüre ich Wut. Ich bin verdammt wütend. Wie kann er das sagen? Jetzt und nach alledem? Fassungslosigkeit umarmt den Starrsinn.

„Was?", entflieht es meinen Lippen ungläubig, „Ich fasse es nicht. Wie kannst du mir das jetzt einfach so sagen?" Raphael rührt sich nicht. „Glaubst du wirklich, dass ich all das, was du vorhergesagt hast, dadurch vergesse? Eine Verirrung. Ein Fehler. So hast du es genannt, weißt du noch? Erinnerst du dich, du kannst mir nicht geben, was ich will, Raphael. Wieso also sollte ich jetzt etwas anderes annehmen."

„Ich weiß, dass ich das gesagt habe, aber lass es mich..."

„Du hältst vor meinen Augen mit meiner Schwester Händchen", ranze ich ihn fassungslos an uns schneide ihm damit das Wort ab. Ich sehe, wie er zusammenzuckt, weil es stimmt. Shari hat Recht. Ich muss von ihm loskommen. Ich muss es vergessen und mehr Abstand gewinnen, bevor er ich nochmals die Kontrolle verliere. Besonders jetzt, wo er wieder in der Stadt ist. Ich unterbreche einen weiteren Erklärungsversuch und halte ihm die Kette entgegen.

„Hier, ich weiß nicht, was ich mir dabei gedacht habe, sie zu tragen. Wirklich, keine Ahnung. Weißt du, ich kann das genauso wenig, wie du. Ich bin kein Spielzeug, was man rausholt, wenn man gerade lustig ist und ich will es nicht abermals werden", frustriert mache ich eine fordernde Geste mit meiner Hand. Raphael reagiert nicht sofort. Erst als mein Blick und meine Körpersprache eindringlicher werden, streckt er seine Hand aus. Die silberne Kette gleitet auf seinen Handteller. Er starrt sie an und schließt die Augen, während er leise einatmet. Enttäuschung, ich höre sie deutlich, aber sie muss mir jetzt egal sein. Ich will einfach keine weiteren Ausflüchte mehr. Keine fadenscheinigen Erklärungen. Wieso das und das nicht. Er ist noch immer der Freund meiner Schwester.

„Verstanden", sagt er tonlos und mit seinem Blick auf das silberne Häufchen in seiner Hand. Mein Herz verkrampft sich. Ich weiß, dass es richtig ist, doch mein Inneres brennt. Ich öffne die Tür.

„Geh am besten zu Maya und lass dich trösten", kommt es bitterböse über meine Lippen.

„Ich will es doch nur richtigmachen", flüstert er, als ich an ihm vorbeigehe. Richtigmachen. Ich verstehe nicht, was er damit meint. Dennoch schaffe ich es nicht, noch einmal zu dem anderen Mann zu schauen und zu fragen. Ich gehe, bleibe hinter der Tür stehen, atme ein und sehe auf. Mein Vater steht am oberen Treppenabsatz. Ich weiß nicht, ob er meine letzten Worte gehört hat, doch im Moment ist es mir egal. Ich weiche seinem Blick aus und biege ab um ins Badezimmer zu gehen.
 

Nachdem ich meiner Mutter noch wiederholte Male versichere, dass es mir gut geht, darf ich endlich gehen. Sie packt mir eine Ladung Kuchen ein und versucht mich noch drei weitere Mal davon zu überzeugen, dass ich zum Abendbrot bleiben soll. Doch ich bin so müde, dass ich nur noch ins Bett möchte. An der Tür drückt sie mir den Brief in die Hand von dem sie am Telefon gesprochen hat. Er ist von meiner Krankenversicherung. Nichts Interessantes also. Ich schiebe ihn in die Innentasche meiner Jacke und steige ins Auto. Mein Onkel fährt mich nach Hause. Unsere Unterhaltung ist lustig und heitert mich auf, aber trotzdem denke ich dauernd an Raphael.

Ich danke Tom und verschwinde in meine Wohnung. Die Wunde an meiner Hand pocht und ich genehmige mir eine Schmerztablette, lasse mich aufs Bett fallen. Sofort schließen sich meine Augen. Ich bin so müde. Mein Handy beginnt zu vibrieren und ich sehe Sharis Namen auf dem Display. Sie ist wirklich die einzige Person, mit der ich jetzt noch sprechen würde. Ich nehme den Anruf an.

„Dia duit", sage ich ermattet, aber fröhlich und denke an die schöne grüne Insel. Schafe kommen mir in den Sinn und ich frage mich, ob es wirklich mehr von den Tieren als Menschen in Irland gibt. Ich kichere noch bevor sie antworten kann.

„Namasté. Alles okay bei dir?", fragt sie argwöhnisch.

„Entschuldige, ich stelle mir gerade vor, wie es wäre, eine Horde Schafe zu hüten."

„Willst du unter die Züchter gehen?"

„Ja, warum nicht. Nur ich und tausend Schafe auf der Weide. Sie sind ganz flauschig und weich. Wir stehen kauend im Gras. Keine Probleme und keine Sorgen mehr. Schöne Vorstellung, oder?" Während ich das sage, ziehe ich mein Kissen in die Arme und beginne es zu umarmen. Ich zerdrücke es regelrecht.

„Stehst du unter Drogen? Mark, du sollst doch keine Süßigkeiten von Fremden annehmen", sagt sie halb scherzhaft, halb ernst.

„Aber sie sahen aus wie Smarties!", sage ich gespielt entsetzt und schniefe theatralisch.

„Oh nein, das sind die Schlimmsten!" Shari beginnt zu kichern.

„Ein irisches Sprichwort besagt: Versammeln sich die Schafe oben auf dem Berg, kommt schönes Wetter. Ob das auch gilt, wenn ich meine Schafe auf den Berg trage?", frage ich geistesabwesend und umschlinge nun das Kissen auch mit beiden Beinen.

„Ähm, Mark, im Ernst alles gut?", fragt sie weiter. Shari klingt ein wenig verstört.

„Ja, der Spruch steht heute auf meinem Tischkalender und ich habe wirklich Schmerzmittel geschluckt", plaudere ich ehrlich aus.

„Oh, was? Warum?", gibt Shari erschrocken von sich.

„Ich habe mich beim Abwaschen geschnitten und bin daraufhin glatt umgefallen. Ich habe allen einen ziemlichen Schrecken eingejagt. Vor allem Raphael", giggle ich.

„Ernsthaft? Wie Raphael" Ungläubig.

„Raphael hat mich festgehalten, sonst hätte ich mir auch noch den Kopf angeschlagen. Oh, falls du es noch nicht erraten hast, aber er war der wunderbare Überraschungsgast der zuckersüßen Kuchenparty. Maya hat sich riesig gefreut und ich natürlich auch", sage ich zwischen zusammengebissenen Zähnen und setze mich auf.

„Wie schrecklich. Was hast du gemacht?"

„Nichts. Was es noch schlimmer gemacht hat, denn nun glaubt meine Mutter, dass ich Raphael nicht leiden kann und ihn deshalb meide." Shari schweigt. Ich sacke in mich zusammen und seufze schmerzerfüllt.

„Hat er etwas wegen seines Auftauchens in deiner Wohnung gesagt?" Ich überlege, ihr von dem Streit in meinem Zimmer zu erzählen und entscheide mich dagegen.

„Nein, er war ja mit Maya beschäftigt. Shari, das macht mich alles so fertig. Ich weiß nicht, was ich meinen Eltern noch sagen soll."

„Es ist doch egal, was deine Eltern denken."

„Das sagst du so leicht, aber ich möchte auch nicht, dass sie glauben, dass ich darauf Eifersüchtig bin, dass Maya eine Beziehung hat und ich nicht. Denn so klingt es für mich. Und das ist Blödsinn. Mir ist doch egal, was Maya macht. Nur nicht die Tatsache mit wem sie zusammen ist." Ich lasse mich zurück ins Bett fallen und drücke noch immer das Kissen an mich.

„Hast du jemals in Betracht gezogen deinen Eltern zu erzählen, dass du schwul bist?"

Ich drehe mich in dem Moment, in dem sie das sagt, auf den Bauch. Mein Gesicht drücke ich in das Kissen. Meine Antwort ist nur ein unwirsches, unverständliches Gebrabbel.

Ich frage mich, ob das etwas ändern würde, denn selbst wenn meine Eltern über meine sexuelle Neigung Bescheid wussten, wäre Raphael noch immer Mayas Freund. Also resultiert daraus kein positiver Effekt für mich, somit ist der Gedanke nichtig.

„Ja, genau Mark, das habe ich jetzt auch verstanden." Ich wiederhole das Gebrabbel und beginne zu kichern, drehe dann meinen Kopf wieder zur Seite.

„Das würde doch nichts ändern, aber ja, habe ich und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass jetzt noch nicht der richtige Zeitpunkt ist"

„Warum? Was macht einen späteren Zeitpunkt besser?" Berechtigte Frage.

„Ja. Nein. Vielleicht. Ich weiß auch nicht. Ich habe das dringende Bedürfnis erst zu beweisen, dass ich etwas auf die Reihe bekomme bevor ich ihnen offenbare, wie verkorkst ich wirklich bin und wie Maya sagen würde, Schande über das Haus Dima bringe." Ich seufze leicht und drehe mein Gesicht erneut ins Kissen.

„Ich glaube nicht, dass deine Eltern, dass schlecht aufnehmen werden. Sie lieben dich, egal, ob du auf Männer stehst oder auf Frauen."

„Und was ist mit den Enkelkindern?", frage ich.

„Dafür gibt es noch Maya."

„Lauter blonde Barbie-Klone! Gruselig. Danke für diesen Albtraum." Bei dem Gedanken beginne ich mich angewidert zu schütteln.

„Jetzt übertreibst du, aber ganz gewaltig. Du kannst dich, übrigens auch noch fortpflanzen."

„Nein, ich habe meine Fortpflanzungsfähigkeit an der Schlange zur Homosexualität abgegeben", sage ich flapsig und weiß selbst, dass das totaler Schwachsinn ist. Nun reicht es sicherlich auch Shari. Warum habe ich bei der Verteilung idiotischer Eigenschaften so laut schreien müssen? Ich seufze in mich hinein.

„Ich glaube, du solltest dringend ein paar Stunden schlafen und morgen, wenn du aufstehst und die Sonne scheint, sieht alles wieder besser aus. Vielleicht funktioniert dann auch dein Verstand wieder. Dann darfst du mich auch noch einmal anrufen, okay?" Eine klare Abfuhr und Maßregelung.

„Okay, aber...", sage ich und Shari unterbricht mich.

„Mund halten. Bett. Schlafen.", kommentiert sie mein Aber. Ich atme geknickt aus und weiß, dass sie Recht hat. Ich bin ihr dankbar für ihre Ehrlichkeit. Trotzdem kitzelt ein aller letzter Versuch in mir.

„Das ist der immense Blutverlust", versuche ich mich zurechtfertigen, doch ich höre Shari nur kurz lachen.

„Mark. Schlafen. Jetzt."

„Shari?"

„Ja?"

„Ich hab dich lieb", murmele ich leise und stelle mir ihr schönes Lächeln vor.

„Ich dich auch und jetzt schlaf ein bisschen."

„Ja, wohl! Ma'am"

„Fir milenge"

„Slán", brabbele ich noch und lege das Handy neben meinem Kopfkissen ab. Ich drehe mich auf die Seite und bin schnell eingeschlafen.

Ich träume von dem Abend, an dem ich vor Raphaels Tür stand. Unser Abschied. Seine Worte und der Ausdruck in seinem Gesicht. Flehend und um Verständnis bittend. Wahrscheinlich haftete dem auch ein wenig Verzweiflung an. Der Anblick verschmilzt mit seinem Gesichtsausdruck von vorhin. Ist es die richtige Entscheidung gewesen? In meinem Traum frage ich mich das immer wieder.

Ich schrecke hoch und fahre mir mit der verbundenen Hand über den Hals. Ich bin schweißgebadet und merke, wie sich meine Vene heißpochend gegen meine Finger drückt. Mein ganz eigener Albtraum. Ich drücke mir das Kissen gegen den Mund und beiße in den Baumwollstoff. Das seltsame Gefühl auf meiner Zunge lenkt mich ein bisschen ab. Ich fahre mir über die Zähne und plötzlich sind meine Gedanken wieder bei Raphael. Sein sorgenvoller Blick in der Küche. Die sanfte Berührung in meinem Nacken. Die Wärme, die von seiner Hand ausging und so tief in mich hinein drang. Ob sich vielleicht doch etwas geändert hat? Warum sonst sollte er zuerst zu mir kommen? Was will er richtigmachen? Ich habe seine Erklärung nicht abgewartet. Vielleicht hatte er eine? Ein hoffnungsvolles Gefühl breitete sich in meiner Brust aus, welches aber schnell von der anhaltenden Ernüchterung überschattet wird. Er hätte es mir einfach sagen könne. Ich greife mir unbewusst erneut an den Hals und taste diesmal nach etwas ganz bestimmten. Nichts.
 

Erneut kommen mir die Schafe in den Sinn. Weiß und Wuschelig. Die tiefen schwarzen Augen sprühen vor Genügsamkeit. Ich sehe mich auf einer saftig grünen Wiese liegen. Mein Kopf liegt auf dem weichen Fell eines Schafes. Ich schließe die Augen und in diesem Moment hüpft das erste Schaf über mich. Eins. Ich beginne zu zählen. Zwei. Drei. Vier. Fünf. Diesmal schlafe ich traumlos bis zum nächsten Morgen.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Onlyknow3
2014-11-22T14:04:57+00:00 22.11.2014 15:04
Mark hat sich richtig entschieden, denn Raphael kann nicht von diesem erwarten das er sich auf sein erscheinen bei ihm in der Wohnung, und dann bei seinen Eltern freut nach allem was er Mark an den Kopf geworfen hat. Raphael muss um ihn kämpfen wenn er Mark nicht verlieren will. Was Maya da noch für eine Rolle spielen wird, vielleicht das Zünglein an der Waage das es die Eltern erfahren das Mark schwul ist. Mach weiter so, freue mich auf das nächste Kapitel.

LG
Onlyknow3
Von:  Morphia
2014-11-16T23:35:27+00:00 17.11.2014 00:35
Ob Mark sich nun selbst ins aus katapultiert hat?
Recht hat er ja, wenn er sagt, dass er kein Spielzeug ist.
Ich hoffe Raphael kämpft trotzdem um Mark, obwohl er eine abfuhr bekommen hat... >.<


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