Ein sonderbarer Patient
Zweiter Teil
Ein weiterer kalter Windhauch der Anspannung, dann die Rettung durch seinen Onkel. Law ließen seine Worte nur allzu deutlich erkennen, dass alle drei nun so tun würden, als hätte er niemals die kleine Dummheit begangen und den Mund geöffnet. „Du warst die letzten drei Wochen nicht hier“, stellte der Psychiater fest, fixierte den Jungen mit den feuerroten Haaren und verschränkte die Arme vor der Brust. Die Mimik seines Patienten entspannte sich, dann auch der Rest des Körpers, bevor er begann an der Wand entlang zu schlendern, den Finger weiterhin auf allen Bücherrücken an denen er vorbeikam und von denen er sich nur löste, um das Regal zu wechseln. Er war größer, als Law gedacht hätte, mindestens zwei Meter, dafür aber auch dünn, jedoch keinesfalls schlaksig, eher athletisch. Nach wenigen Metern hatte ‚Kid‘, wie sein Onkel ihn nannte, tänzelnden Schrittes das Whiteboard erreicht und betrachtete die abgebildeten Zahlen. „Hatte Ferien“, erklärte er mit breitem Grinsen.
„Ferien? Willst du davon erzählen, Kid?“, tastete sich der Arzt voran und langweilte seinen Neffen bereits mit der indirekten Beiläufigkeit seiner Vorgehensweise. Unbeeindruckt ließ sich Law auf den zweiten Ledersessel fallen und begutachtete ebenfalls die Zahlen an der Tafel, die für ihn nicht mehr als eine willkürliche Anordnung darstellten. Nur nebenbei beschäftigte er sich mit dem Gedanken, was der Kerl mit ‚Ferien‘ meinte, denn zur Schule ging er ganz sicher nicht mehr. Der Rotschopf zog die Mundwinkel nach unten, während er nach einem Stift griff. „Nope“, spuckte er entschieden aus und begann etwas zu schreiben.
„Und warum bist du dann hier?“
Diese Frage gefiel Law schon eher. Neugierig wartete er auf die Antwort, während er verwundert verfolgte, wie ‚Kid‘ einige Striche auf das Board malte und wahllos Zahlen untereinander schrieb. „Ich hab' da wen getroffen“, erzählte der Junge, griff an sein Ohr und setzte sich seine Sonnenbrille auf. Laws Onkel verzog in einer undeutlichen Geste den Mund: „Magst du ihn? Sie?“ Kaum war die Frage formuliert, ergab sich Kid einem lauten, unkontrollierten Lachen, als hätte sein Psychiater den größten Witz des Jahrhunderts losgelassen. Law hob irritiert eine Augenbraue, während er sich nachdenklich durch die Haare fuhr und darauf wartete, dass der Lachanfall ein Ende nahm. „Nicht wirklich“, prustete der Rotschopf schließlich hervor, schrieb eine Kombination aus Buchstaben und Zahlen in die Mitte des Boards und umkreiste sie.
„Hmm…“, erklang ein Raunen neben Law, interessanterweise ohne jede Wertung des unnatürlichen Verhaltens vor ihnen. „Nimmst du deine Medikamente?“, fragte der alternde Arzt in ruhigem Ton, doch kommentierte dabei nicht, dass sein Patient den benutzen Stift, ohne ihn zu schließen, achtlos auf den Boden fallen ließ. Der Junge gluckste. „Alle…“, wurde in einer Art Singsang geantwortet, der jedoch schwer zu deuten war. Am Verhalten, das Law in den letzten 15 Minuten beobachten durfte, schloss er allerdings mit unumstößlicher Sicherheit, dass der Kerl nicht ein einziges seiner Medikamente nahm und auch die schwere Atmung seines Onkels schien seine Vermutung zu bestätigen.
„Ich kriege gleich einen Patienten, aber morgen habe ich Zeit. Komm morgen noch einmal wieder“, bat sein Onkel förmlich und ließ Law dabei automatisch verwundert die Augenbrauen zusammenkneifen. „Hmm…“, erwiderte Kid und wackelte an seiner Sonnenbrille. „Neue Aufgabe?“, fragte er und wurde durch ein: „Neue Aufgabe“, bestätigt. Ohne ein weiteres Wort des Abschieds, tänzelte er zwischen den beiden Sesseln hindurch, wuselte im Gehen durch Laws schwarzen Haare, wobei dieser durch die unterwartete Berührung erschrocken zusammenzuckte, was der Rotschopf mit einem belustigten Kichern kommentierte. Dann verschwand er auf den Klinikflur. Zwei graublaue Augenpaare beobachteten schweigend, wie die Tür ins Schloss fiel.
„Seid ihr zwei auch auf dem besten Wege?“, fragte der Neffe schließlich und genoss dabei den Sarkasmus, den er liebevoll unter jedes seiner Wörter mischte. „Scheiße…“, murmelte sein Onkel und schüttelte besorgt den Kopf, während er in seine Tasche griff, ein Bild von dem Board machte und irgendetwas auf dem Display tippte, sodass Law sich fragte, ob sein Onkel inzwischen auch einen Stich hatte. „Alles ok? Ist da irgendeine geheime Nachricht? Rorschach-Mathematik?“, witzelte er daher weiter.
Sein Onkel schüttelte ernst den Kopf. „Das ist eine Aufgabe von einem Freund, der in Physik promoviert hat. Ich möchte ihn fragen, ob die Lösung richtig ist.“ Auf die Antwort hin setzte sich sein Neffe ungläubig auf, starrte noch einmal auf das Durcheinander an Zahlen, Buchstaben und Strichen. „Bitte was?“, hakte er nach. „Das ist so ein Spiel“, setzte sein Onkel direkt zur Erklärung an. „Kid kommt hier hin und spricht mit mir, ich biete ihm dafür…“, er suchte nach einem Wort, „Herausforderungen. Der Junge ist nicht dumm, nur krank. Du solltest den Unterschied kennen, wenn du hier arbeiten willst.“
„Ich will hier gar nicht arbeiten“, beklagte sich Law, doch war seine Neugierde unbestreitbar entfacht. Er wollte der Sache auf den Kern gehen. „Dann ist er ein Autist?“, mutmaßte er und sah vom Sessel zu seinem Onkel auf, der weiterhin auf sein Handy starrte. Erschreckender Weise war dessen fachmännische Meinung ein Zucken mit den Schultern. „Dein Ernst?“, Law konnte es nicht fassen.
„Ich habe den Fall vor fünf Jahren übernommen, als ich noch im Strafvollzug gearbeitet habe“, sprach der Psychiater und schaute endlich vom Bildschirm seines Mobiltelefons auf. „Ein Siebzehnjähriger, der ohne einen ersichtlichen Grund das Gesicht seines besten Freundes in Brand gesetzt hat. Ein Jahr Geschlossene, weil er noch minderjährig war, dann durfte er gehen, denn der Freund hatte nicht einmal Anzeige erstattet. Tja, und seitdem…“, kurz deutete er auf die Tafel, „seitdem versuche ich eine Antwort zu finden.“ Sein Neffe verzog das Gesicht zu einer Fratze. „Seines besten Freundes? Du willst wohl eher sagen, du versuchst die richtige Dosierung zu finden.“ Der Psychiater lachte frustriert: „Ja, das auch…“
Was den Rest seiner Patienten anbelangte, hatte sein Onkel trauriger Weise Recht behalten. Alle waren irgendwie auf ‚dem besten Wege‘ und einer langweiliger als der andere, durfte Law zu seiner Unzufriedenheit feststellen. Um das Ganze auf die Spitze der Unerträglichkeit zu treiben, waren tatsächlich alle mit seiner Anwesenheit einverstanden – Es wäre ja auch zu schön gewesen, hätte er sich das ein oder andere Mal verdrücken können.
Um kurz vor sechs räumte sein Onkel dann endlich seine Akten ein. Law streckte sich müde im Sessel. „Und?“, fragte er schließlich, denn eine fehlende Antwort hatte ihn den gesamten Nachmittag über begleitet und nicht mehr losgelassen. Der Gefragte hob seine Brauen in einer Geste des Unverständnisses. „Die Aufgabe. War sie richtig?“, spezifizierte Law seinen Gedanken und beobachtete, wie sich ein Lächeln auf die Lippen seines Onkels legte. „Die Lösungen sind immer richtig“, beteuerte er und setzte sich seinen Rucksack auf. Law verharrte, dachte nach, dann zeigte er selbst ein zufriedenes Grinsen.
„Ich will ihn“, warf er schwerwiegend in den Raum. Blaue Augen trafen ein gleiches Paar. Stille, dann ein Lachen untermalt mit einem Kopfschütteln. „Law… Ich habe nicht an Kid gedacht, als ich…“, begann er, doch wurde schnellstens von seinem Neffen unterbrochen: „Du hast gesagt, ich soll mir jemanden aussuchen.“ Sein Onkel schüttelte nur noch energischer den Kopf. „Ich weiß doch selbst nicht, wie ich mit dem Kind umgehen soll, so unberechenbar…“, beteuerte er, brach ab und seufzte. „Dann gib mir einen Versuch“, bat der Medizinstudent und spürte dabei, wie sein spielerischer Entdeckertrieb ihn übermannte. Unberechenbarkeit, das war genau das, was er suchte, egal ob eine spröde Aorta oder ein exzentrischer Soziopath.
„Du wirst doch dabei sein“, fügte er beschwichtigend hinzu, als ihm eine weitere Idee kam. „Ich denke, so ein Fall könnte mich für die Psychiatrie begeistern.“ Wenn es in seiner Familie einen Schwachpunkt gab, dann war es ihr aller Ehrgeiz und der Wille zu Gewinnen um jeden Preis. Pläne schmieden, Pläne verfolgen… Wenn es nach Plan lief und sie gewannen, dann war der Tag gerettet. Dies galt auch für seinen Onkel, denn auch dieser wollte Laws Vater im Wettstreit um den Fachbereich des Kindes schlagen. Letztendlich konnte Law nicht sagen, ob sein Onkel die Finte entlarvte, jedoch bezweckte seine Aussage, was er erhofft hatte. Der Plan ging auf. Ein guter Tag.
„Na schön“, setzte der Psychiater nach einer Pause des Schweigens und Abwägens an, „Ich werde ja schließlich dabei sein, aber natürlich muss auch er damit einverstanden sein. Und Law! Keine Provokationen, du liest vorher die Akte - und um Himmels Willen! – sprich den Jungen nicht auf den Vorfall von vor fünf Jahren an, verstanden?“ Seine Augen fixierten mit einem warnenden Flimmern den Medizinstudenten, welcher allerdings unbeeindruckt nickte.
„Geht klar“, murrte er und spürte die freudige Erregung, die durch seinen Körper zuckte. In seinem Kopf formten sich bereits allerhand Szenarien für die morgige Sitzung. Als sie das Sprechzimmer abschlossen und den Flur entlanggingen, entlockte es seinem Onkel ein langes, lautes Schnauben, wobei er sich erschöpft und doch irgendwie belustigt übers Gesicht fuhr. „Alles in Ordnung?“, fragte Law verwundert. Der Psychiater lächelte schwach. „Von all den sonderbaren Wesen, die durch mein Wunderland hoppeln“, entgegnete er mit zweifelndem Blick, „suchst du dir den Hutmacher aus.“
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