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Castle of lies

... are you crying?
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
So, herzlich willkommen zu einem neuen Kapitel! Hat ja überhaupt nicht lange gedauert...
Irgendwie mag ich dieses Kapitel nicht, keine Ahnung warum. Es war jedenfalls eine ziemlich schwere Geburt, denn der Schreibfluss wollte einfach nicht kommen und ich glaube, das sieht man auch.
Kritik und Verbesserungsvorschläge werden immer gerne entgegengenommen, ganz besonders in diesem Kapitel...
Viel Spaß! Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Endlich ist es da, das neue Kapitel.
Eigentlich wollte ich es ja genau an meinem Geburtstag hochladen, aber nein, mein Laptop wollte nicht.
Naja, wie auch immer. Hier ist es, mit zwei Tagen Verspätung! :D

LG AtriaClara Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
Herzlich willkommen zu einem neuen Kapitel von Castle of lies! Hat ja gar nicht lange gedauert.
Wie auch immer, auch, wenn es "nur" ein Im-Tempel-der-Stille-Kapitel ist, freue ich mich sehr, diese Geschichte endlich fortführen zu können. Was los war, könnt ihr in meinem Weblog nachlesen. Oder es lassen.
In jedem Fall wünsche ich euch viel Spaß beim Lesen! ^^ Komplett anzeigen
Vorwort zu diesem Kapitel:
I'M BACK, MOTHERFUCKERS!

... mit einem ungefähr zwei Jahre alten Kapitel zwar, aber immerhin. Irgendwo muss man ja anfangen. Enjoy. :'D Komplett anzeigen

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This is not the end...

"Ich habe gewonnen!"

Malicia klang beinahe ungläubig.

Sie stolperte ein paar Schritte rückwärts und betrachtete ihr Werk.

Midine End Morathess, die Eine, die vermeintliche Retterin der Welt- auf den Knien, Blut spuckend. Mit Malicias gebogenem Schwert zwischen den Rippen.

"Das heißt: Natürlich habe ich gewonnen." Malicias Stimme gewann wieder an Selbstsicherheit. "Was habe ich auch anderes erwartet, gegen jemanden wie dich?"

Midine hörte sie kaum, das Blut rauschte ihr in den Ohren. Der Schmerz jagte durch ihren ganzen Körper und lähmte all ihre Glieder. Ihr Atem ging rasselnd und mühselig.

Schwer atmend hockte Malicia sich auf den Steinboden und ließ für einige Sekunden den Kopf sinken. Ihre langen blonden Haare schleiften durch den Dreck, aber das schien ihr nichts auszumachen. Als sie den Kopf wieder hob, zierte ein breites Grinsen ihr Gesicht.

"Jetzt muss ich nichts mehr tun... Ich brauche dir nur noch beim Sterben zuzusehen, dann habe ich meinen Beweis. Alle haben mich ausgelacht, niemand wollte mir glauben. Aber heute werde ich euch allen beweisen, dass ich die ganze Zeit über Recht hatte!

Die Prophezeihung ist eine Lüge!"

Midine versuchte, etwas zu sagen, zu widersprechen, wenigstens ein letztes Mal noch. Aber statt Worten kam nur ein verzweifeltes Röcheln über ihre Lippen. Erneut spuckte sie Blut.

Malicia schien sie gar nicht mehr wahrzunehmen. "Ich werde wieder in meine Heimat zurückkehren können! Vielleicht sind sie alle noch da! Ich werde wieder- Entschuldige mich bitte kurz."

Malicia drehte sich zur Seite und verbarg das Gesicht in ihrer Armbeuge. Dann fing sie an, zu husten. Ihr ganzer schmaler Körper wurde durchgeschüttelt.

Als sie fertig war, wandte sie sich wieder Midine zu.

"Tut mir leid. Du weißt ja, meine Krankheit..." Die Blonde schlug die Beine übereinander, stützte den Kopf in die Hände und sah ihr Gegenüber unverwandt an.

Daran, wie sehr Malicia im Plauderton versank, erkannte Midine, dass es nun wirklich zu Ende ging. Ihre Erzfeindin neigte sonst nicht dazu, Dinge zu unterschätzen oder voreilig zu sein.

Wieder versuchte sie, etwas zu sagen, und wieder erstickten ihre Worte in einem Schwall aus Blut. Schwarze Pünktchen tanzten am Rande ihres Blickfelds und drohten, sie zu umzingeln.

"Hör auf, dich zu wehren", sagte Malicia, beinahe sanft. "Es hat keinen Sinn mehr."

Midine wollte ihr glauben, wollte aufgeben. Und sei es nur, damit es endlich vorbei war und diese grässlichen Schmerzen aufhörten. Sie musste ihre Augen nicht schließen, diese unendliche Müdigkeit kam wie von selbst.

Sie sank, sank tief hinein in ein tiefes schwarzes Loch, bis-

Ein lauter Knall erschütterte die Umgebung. Hinter Midines geschlossenen Augenlidern leuchtete etwas grell auf.

Ich will nicht wieder zurück, dachte Midine träge. Was hatte die Welt dort schon zu bieten, abgesehen von Schmerz? Sie wollte sich wieder sinken lassen, in diese tiefe schwarze Ungewissheit...

"END!"

Wer wagt es- Warte, das ist doch...

Langsam dämmerte es Midine. Alles kehrte zurück.

Das Licht, der Schmerz. Aber auch ihre Stimme.

"Midine End Morathess, du darfst nicht sterben! Ich verbiete es dir!"

Die Eine schlug die Augen auf.

Die Sonne hing tiefrot und brennend über dem bewaldeten Horizont und über die riesige, zum Teil eingestürzte Brücke strich ein leichter Windhauch.

Ein wenig orientierungslos sah Midine sich um, bis sie den Ursprung der Stimme entdeckte.

Dort hinten, in etwa fünfzig Metern Entfernung, war eine Gestalt zu sehen, die direkt auf sie zuhielt. Und obwohl Midine die Stimme sofort erkannt hatte, brauchte sie einen Moment, um sie zu erkennen.

Ett humpelte und ihre gesamte linke Gesichtshälfte war blutüberströmt, trotzdem setzte sie ihren Weg verbissen fort und brüllte dabei immer wieder Midines Namen. Sie hatte schon immer eine recht laute Stimme gehabt.

Malicia, die sie auch schon bemerkt hatte, sprang wie von der Tarantel gestochen auf und stellte sich mit ausgebreiteten Armen vor Midine.

"Dreh dich um und geh wieder, und zwar leise!", schrie sie, kam dabei aber bei Weitem nicht an Ett heran. "Sie gehört mir!"

Unbeeindruckt setzte Ett ihren Weg fort.

"Ich warne dich!" Malicias Stimme überschlug sich vor Zorn. "Bleib stehen oder ich töte dich!"

"Geh wieder? Bleib stehen? Kannst du dich nicht mal entscheiden, was du willst?", höhnte die andere.

Midine war kalt vor Angst. Lange würde Malicia sich nicht mehr provozieren lassen. Sie hatte zwar ihre Waffe nicht mehr -die steckte zwischen Midines Rippen- aber sie konnte Ett genauso gut einfach von der Brücke schubsen. Oder noch Schlimmeres mit ihr anstellen.

Die Eine musste etwas tun. Aber wie? Nach ihrer Niederlage gegen Malicia hatte diese Midines schönes, schlankes Schwert von der Brücke getreten.

In ihrem Kopf rasten die Gedanken. Mit weit aufgerissenen Augen sah sie Ett immer näher kommen. Sie musste etwas tun, sofort, oder ihre Freundin würde sterben. Ganz zu schweigen von ihr selbst...

Das ist es.

Es war so einfach. So einfach, dass Midine sich fragte, warum Malicia nicht schon längst darauf gekommen war. Ihre Erzfeindin stand nur etwa einen Meter entfernt, kochend vor Wut.

Midine griff an ihre Brust. Sie wollte nicht nach unten sehen, also ertastete sie den Griff von Malicias Schwert. Packte ihn.

Es ist, wie wenn du ein Pflaster abreißt. Nicht langsam, sondern ganz schnell, damit der Schmerz rasch vorbei ist.

Sie riss das Schwert aus ihrem Körper. Eine Blutfontäne spritzte aus der Wunde und beinahe gleichzeitig hallte ein markerschütternder Schrei über die Brücke.

Midine begriff, dass es wohl ihr eigener Schrei war, weil die beiden anderen erschrocken herumfuhren. Ett begann zu rennen, immer noch brüllend, ohne mehr auf Malicia zu achten.

Die war mitten in der Bewegung erstarrt, ihr Gesicht wurde leichenblass. In einem verzweifelten Anflug von Hoffnung versuchte sie, zurückzuweichen, aber es war zu spät. Malicias Schwert traf sein Ziel- und Ett erblasste ebenfalls.

Malicia stolperte rückwärts, sie starrte Midine ungläubig an.

Die Eine starrte zurück. Es kostete sie ihre letzte Kraft, nicht einfach umzukippen. Sie hatte das Gefühl, dass sie jetzt noch nicht einschlafen durfte, um ihrer Erzfeindin wenigstens noch etwas Ehre zu gebühren.

Malicia sah hinunter auf ihre Brust. Nur noch der Griff ihres Schwertes war zu sehen, der stählerne Rest durchbohrte ihren Körper und trat in ihrem Rücken wieder aus.

"Was für eine... Ironie...", murmelte Malicia, so leise, dass man es kaum hören konnte.

Und dann...

Midine wurde noch blasser, als sie durch den Blutverlust ohnehin schon war.

Malicia lächelte.

Sie sah auf Midine herab und lächelte. Ein seltsames, irgendwie mitleidiges Lächeln, als wüsste sie etwas, was sonst niemand wüsste.

Und für einen Moment lang, einen winzigen, schrecklichen Moment, überfiel Midine eine unerklärliche Panik.

Doch dann trat der Schmerz in Malicias Gesicht. Sie hustete, einmal, zweimal, bis ihr Ärmel rot gesprenkelt war.

Schließlich brach sie direkt vor Midine zusammen.

Die Eine schloss die Augen. Jetzt endlich konnte sie sich fallen lassen. Tief hineinsinken in das Schwarz, bis nichts mehr übrig war...

Ich habe gewonnen.

Die Ruhe vor dem Sturm

Die Sterne funkelten am nachtschwarzen Himmel, als hätte jemand Glitzersteine auf schwarzem Samt verteilt.

Der Mond hing schwermütig zwischen den schneebedeckten Berggipfeln und die Luft war kühl und still.

Es war wunderschön, fand Midine.

Sie stand ganz am Rande der Brücke, die Hände auf die Brüstung gelegt. Der Stein war eiskalt unter ihren Fingern. Der Winter war hart dieses Jahr.

Wie zur Bestätigung ging in diesem Moment ein fernes Grollen durch die Berge, dann löste sich von einem der Berge eine Lawine und polterte ins Tal hinunter. Der Schnee stob in Wolken auf, als gäbe es einen Sturm, die Bäume knickten ab wie Streichhölzer- es war immer wieder ein beeindruckender Anblick.

Midine sah zu, wie die Lawine immer schneller und schneller wurde, bis sie am Fuße des Berges ihr Ziel fand. Das Grollen verstummte.

Es war wieder still.

Midine legte den Kopf in den Nacken und starrte hinauf in den sternenklaren Himmel. Sie versuchte, einen Moment lang an gar nichts zu denken.

Momente wie diese kamen selten vor- Momente ohne stechende Schmerzen in ihrer Brust, ohne Sorge um das Königreich, ohne Lärm, ohne Albträume...

Midine schüttelte diese düsteren Gedanken ab, drehte sich einmal um sich selbst und lächelte. Wie viele Sterne das wohl sein mochten?

Sie fing hinter den Bergen im Norden an zu zählen, aber schon bei 53 verhaspelte sie sich. Midine überlegte sich eine Strategie: Im Osten wollte sie anfangen, um sich dann langsam Richtung Süden zu wenden, danach kam der Westen und danach der Norden. Sie fing erneut an zu zählen, aber schon im Südosten verlor sie den Faden, irgendwo bei 139.

Sie versuchte es noch ein paar Mal, jedes Mal mit einer anderen Strategie, aber keine schien zu funktionieren. Im achten Versuch schließlich kam sie bis 258 und kam einfach nicht mehr auf den Namen der nächsten Zahl.

Midine gab es auf und sah wieder hinab ins Tal.

Eine Brise strich sanft, aber frostig durch ihr Haar. Midine fröstelte und verfluchte sich dafür, dass sie ihren Mantel schon wieder drinnen vergessen hatte.

In diesem Moment stieg ihr ein wunderbarer Geruch in die Nase. Er war warm, klebrig und vor allem süß. Midine kannte diesen Geruch, sie hätte ihn immer und überall wiedererkannt.

"Ahornsirup?", murmelte sie verwirrt und wandte sich stirnrunzelnd nach rechts, zum Leuchtfeuerturm.

Hoch oben auf dem Kuppeldach brannte wie immer das riesige Feuer, so weit entfernt, dass man nicht einmal mehr das Knacken hörte. Aber das war es nicht.

Als Midine den Turm verlassen hatte, still und heimlich, hatte sie sich leise durch die dunklen Flure schleichen müssen, um niemanden aufzuwecken. Sie hatte kein einziges Licht angezündet, noch nicht einmal eine Kerze mitgenommen.

Jetzt allerdings war er hell erleuchtet, aus allen Fenstern drang Licht. Das Küchenfenster stand offen, und leise war geschäftiges Klappern zu hören. Verwundert ging Midine die Brücke hinunter auf den Turm zu.

Dann ging die Tür auf. Eine Silhouette stand im Türrahmen und winkte ihr zu.

Midine kniff die Augen zusammen und trat ein paar Schritte näher. Erst jetzt erkannte sie, wer da vor ihr stand.

"Ett?"

"Wen hast du erwartet?", fragte Ett und grinste. Sie lehnte sich an den Türrahmen, um Midine vorbeizulassen.

"Niemanden", gab diese zurück, zog ihre Lederstiefel aus und lief dann sofort zum flackernden Kamin, um sich zu wärmen. Sie hatte gar nicht bemerkt, wie kalt es dort draußen war, bis sie wieder hereingekommen war.

Ett verschloss die Tür wieder sorgfältig und ging ebenfalls zum Kamin, um Midine die dünne Wolljacke von den Schultern zu nehmen. Nachdenklich und sah sie auf ihre vor den Flammen kniende Freundin hinunter.

"Ich wünschte, du würdest nicht immer so lange dort draußen bleiben." Ett sah zum Kleiderständer hinüber. "Noch nicht einmal den Mantel hast du mitgenommen. Was passiert, wenn du dich erkältest? Denkst du, das würde deiner Gesundheit zuträglich sein?"

Verwundert sah Midine hoch und Ett ins Gesicht. Sie musste unwillkürlich lächeln, als sie die Sorge darin sah.

"Mach dir doch nicht immer so viele Sorgen, Ett. Mir passiert schon nichts. Und außerdem", fügte sie spitzbübisch hinzu, "hat eine Erkältung nichts mit der Temperatur zu tun."

Etts Gesichtszüge wurden wieder weicher. "Klugscheißer", sagte sie liebevoll und beugte sich hinunter, um Midine einen Kuss auf die Stirn zu geben.

Midine lächelte. "Es tut mir übrigens leid, wenn ich dich eben geweckt habe", entschuldigte sie sich. "Ich habe versucht, so leise wie möglich zu sein. Ich habe noch nicht einmal Licht angemacht!"

Etts Grinsen wurde breiter. "Und dann bist du über die Falte im Flurteppich gestolpert, hm? Du hast das ganze Haus aufgeweckt mit deinem Gepolter."

"Oh, das..."

"Geräuschlos-wie-ein-Ninja-durch-das-Haus-schleichen müssen wir wohl noch einmal üben, hm?" Ett brach in schallendes Gelächter aus. "Jetzt schau doch nicht so schuldbewusst, ich mache doch nur Spaß. Ich schlafe sowieso immer viel zu lange, da ist es ganz gut, wenn mich jemand weckt."

Erleichtert nickte Midine und schob ihre kalten Füße etwas näher zum Feuer hin.

"Und ich dachte mir, wenn wir schon einmal beide wach sind, mache ich uns Pfannkuchen", rief Ett über ihre Schulter hinweg zurück, während sie sich wieder auf den Weg in die Küche machte. "Mit Ahornsirup natürlich. Ein kleines Nachtmahl. Was hältst du davon?"

"Pfannkuchen mit Ahornsirup", hauchte Midine und ihre Augen begannen zu leuchten. "Mein absolutes Leibgericht!"

"Deswegen ja. Dachte, es freut dich bestimmt!"

"Du bist die Beste, Ett", seufzte Midine wohlig und hielt ihre kalten Hände dem Feuer entgegen.

"Ich weiß", kam die stolze Antwort aus der Küche.

Ein glucksendes Lachen stieg in Midine auf und sie prustete los.
 

"Du kannst jetzt aufhören, mich so erwartungsvoll anzustarren, Ett", kicherte Midine und schob sich einen neuen Bissen Pfannkuchen in den Mund. "Ef ift fehr lecker!"

"Sicher?", vergewisserte sich Ett. "Nicht zuviel Zucker?"

Dieses Mal kaute und schluckte Midine erst, bevor sie antwortete.

"Zuviel Zucker, gibt es das?", gab sie grinsend zurück.

"Du bist so eine...", Ett suchte nach dem richtigen Wort, "... Zuckerschnute!", beendete sie ihren Satz.

"Iff weif", mampfte Midine.

Ett schmunzelte, dann schnitt sie sorgsam ein neues Stück von ihrem Pfannkuchen ab und vertilgte es schmatzend.

"Hey, wer passt jetzt eigentlich auf das Feuer auf, Ett?", erkundigte sich Midine.

"Ich habe Avelli aus dem Bett geworfen und ihn raufgeschickt", erklärte Ett kauend.

"Und das hat er einfach so gemacht?", fragte Midine belustigt.

"Natürlich nicht", brummte Ett. "Ich musste ihm versprechen, dass er einen Pfannkuchen kriegt, der Schmarotzer."

Und als hätte er nur auf diesen Moment gewartet, ging die Tür auf und Avellis dunkelhaariger Schopf ragte aus dem Türrahmen.

"Schönen guten Abend, die Damen! Ich will euch gar nicht weiter stören, aber meine hochgeschätzte Chefin hat mir als Bezahlung für meine Überstunden einen Pfannkuchen versprochen!"

"Jaja", murrte Ett und schob ihren Stuhl zurück, um aufzustehen.

Avelli trat aus dem Türrahmen. "Hallo, Midine!", grüßte er sie fröhlich.

Gerade wollte Midine antworten, da fuhr er schon fort.

"Wie geht es dir? Also, ich hoffe ja besser. Mir jedenfalls geht es gut, von etwas Müdigkeit vielleicht abgesehen, aber dafür bekomme ich ja jetzt den Pfannkuchen!"

Midine verbarg ihr Grinsen damit, dass sie sich schnell noch ein Stück Pfannkuchen in den Mund stopfte. Das sah ihm ähnlich: Er war immer fröhlich, immer optimistisch und vor allem konnte er reden wie ein Wasserfall.

Gerade wartete er gespannt mit den Füßen wippend vor der Küchentür und beobachtete Ett dabei, wie sie umständlich einen Pfannkuchen auf einen Teller lud. Er gab sich noch nicht einmal Mühe, seine Vorfreude zu verbergen, als sie ihm den Teller mitsamt einer Serviette überreichte.

"Hoch gepriesen sei meine Chefin für diese Köstlichkeit!", jubelte er begeistert. "Mögen die Götter sie schützen und in alle Ewigkeit-"

"Schon gut, schon gut. Ist doch nur ein Pfannkuchen." Trotzdem musste nun auch Ett schmunzeln.

"Aber wie soll ich es nach oben schaffen, ohne ihn sofort aufzuessen? Könnte ich nicht noch-"

"Auf gar keinen Fall!", rief Ett übertrieben streng. "Lass dir gefälligst selbst etwas einfallen! Und jetzt zurück auf deinen Posten!"

Midine verfolgte das Streitgespräch der beiden mit einem glücklichen Lächeln im Gesicht. Es war alles so idyllisch, so vertraut, so... normal.

Als hätte es nie einen Krieg gegeben.

"Zu Befehl, Chef!", salutierte Avelli schließlich. "Ich will ja eure traute Zweisamkeit nicht weiter stören, nicht wahr?" Er warf Midine noch ein Lächeln zu, dann war er auch schon wieder weg.

Seufzend schloss Ett die Tür hinter ihm, dann setzte sie sich wieder zu Midine an den Tisch.

Eine Weile saßen sie da und aßen. Nur gelegentliches Schmatzen oder Schlucken war zu hören. Midine betrachtete ihre Freundin heimlich, musterte ihr Gesicht.

Ett sah übernächtigt aus, die tiefen Ringe unter ihrem gesunden Auge sprachen Bände. Sie sagte zwar, ihr gehe es gut und Midine brauche sich keine Sorgen zu machen, aber Midine machte sich Sorgen. Ett hatte sich verändert, nach dem Ende des Krieges und nach Midines Beinahe-Tod war sie nie mehr die ironische, lebensfrohe Person gewesen, die Midine gekannt hatte.

Midine machte sich Sorgen, dass Ett sich zu viele Sorgen um sie machte.

Midine machte sich Sorgen, dass ihr alter Beruf die neue Ett zu sehr beanspruchte.

Nach dem Krieg hatte die Königsfamilie Ett einen Orden verleihen wollen, ihr sogar einen Wohnsitz im Palast angeboten, unter der Bedingung, dass sie ihre Karriere beim Militär fortführte.

Ett hatte alles abgelehnt. Nach einer beträchtlichen Zeit im Hospital war sie in ihre alte Wohnung zurückgekehrt und hatte ihren Beruf als Leuchtfeuerturmwärterin wieder aufgenommen.

Sie hatte auf Midine gewartet. Nie die Hoffnung aufgegeben.

Lange war der Zustand der Einen mehr als kritisch gewesen. Malicias Schwert hatte einige innere Organe verletzt und die besten Ärzte des Königreiches waren an ihr verzweifelt. Was sie schließlich gerettet hatte, wusste Midine selbst nicht. Aber es war Ett gewesen, die Tag und Nacht neben ihr ausgeharrt hatte, die nie die Hoffnung auf ein Wunder aufgegeben hatte, die ihr einen Grund gegeben hatte, zurückzukommen.

Sie hatte so viel für Midine getan. Zu viel, um es jemals wieder zurückzahlen zu können. Das Mindeste, was sie tun konnte, war, keine allzu große Last mehr zu sein.

"Ett, mach dir keine so großen Sorgen um mich. Das letzte Mal, dass die Wunde aufgegangen ist, war gestern morgen und da-"

Midine verstummte. Davon hatte sie Ett eigentlich nichts erzählen wollen...

"Wie bitte?" Ett sah sie ungläubig an.

"Ähm... also... ich meine...", stammelte Midine. "Wie geht es eigentlich deinem Auge? Ist es gut verheilt?"

"Versuch nicht, abzulenken!" In Etts Stimme lag etwas Hartes, etwas, das keinen Widerspruch zuließ. Und diesen finsteren Blick beherrschte sie selbst mit nur einem Auge noch meisterhaft.

Midine sah zu Boden. "Ja, die Wunde ist wieder aufgegangen.", murmelte sie, fügte aber sofort hinzu: "Aber es hat kaum geblutet und es tat fast gar nicht weh..."

"Tat es wohl."

"Ja, schon", gab Midine kleinlaut zu.

Ett senkte den Blick und stocherte grimmig in ihrem Pfannkuchen herum, als könnte der etwas dafür.

"Ich hatte dir doch gesagt, du sollst sofort Bescheid geben, wenn etwas passiert!"

"Aber ich wollte nicht, dass du dir zu viele Sorgen um mich machst! Du tust doch schon so viel für mich und-"

"Nun, offenbar kann man sich gar nicht genug Sorgen um dich machen!" Ett stand auf und ging um den Tisch herum zum Wandschrank, um ihren Verbandskasten herauszuholen. Sie kniete sich vor Midine hin und breitete ihre Utensilien auf dem Boden aus.

"Zeig her!" Schon wieder gab sie Midine nicht die geringste Chance, zu widersprechen.

Midine löste den Gürtel um ihre Hüften und hob ihr Oberteil bis über die Rippen an, damit Ett den Verband inspizieren konnte. Der war unterhalb der Brust an mehreren Stellen von getrocknetem Blut bräunlich verfärbt.

"Aber es hat kaum geblutet!", äffte Ett Midine nach, dann krempelte sie ihre Ärmel hoch und griff nach einer kleinen silbernen Schere.

"Ich werde den Verband aufschneiden müssen. Halt still und atme nicht zu tief, sonst erwische ich noch deine Haut."

Midine wurde etwas blass. Trotzdem befolgte sie Etts Anweisungen, erstarrte und hielt den Atem an. Sie versuchte, sich abzulenken, an etwas anderes zu denken als an frisches, warmes Blut, das rot aus ihrer Wunde quoll. Ett arbeitete sich währenddessen vorsichtig durch den Verband, die Zunge zwischen die Lippen geklemmt. Die Anspannung im Raum war förmlich greifbar, doch dann atmete Ett erleichtert auf und legte die Schere weg. Sie hatte es geschafft.

Midine fiel ein Stein vom Herzen. Sie öffnete die Augen wieder, die sie zwischenzeitlich zusammengekniffen hatte.

"Jetzt tut es kurz weh", warnte Ett. "Ich muss den Verband jetzt komplett ablösen, aber wahrscheinlich hat das Blut ihn an deine Haut geklebt. Bereit?"

Midine schluckte, nickte aber zustimmend. Wieder presste sie die Augen zusammen.

"Okay, dann los." Etts kühle Finger schoben sich unter die Ränder des Verbands. "Eins... zwei... drei!"

Ein heißer, stechender Schmerz durchzuckte ihren Körper, als der Verband von der Wunde gerissen wurde. Midine schnappte instinktiv nach Luft und ließ sie zischend durch ihre zusammengepressten Zähne entweichen, blieb sonst jedoch still.

"Gut. Es ist alles gut." Vorsichtig schälte Ett Midine vollends aus dem Verband und legte ihn zur Seite, um sich ihre dünnen Handschuhe überziehen.

Sie feuchtete ein Tuch an und wischte damit sorgsam den Eiter um die schlecht verheilte Stichwunde ab. Eine tiefe Sorgenfalte hatte sich in ihre Stirn gegraben.

"Wie sieht es aus?", fragte Midine von oben.

"Besser, schon viel besser", antwortete Ett ausweichend, aber in ihrem Blick sah Midine etwas anderes.

Schweigend griff ihre Freundin zu dem Salbengefäß, schraubte es auf und tauchte den Finger hinein. Sie begann, die grünliche Salbe großflächig rund um die Wunde zu verteilen.

"Werde ich sterben?", fragte Midine nach einer Weile.

"Was?" Ett sah von ihrer Arbeit auf. "Nein, natürlich nicht. Auf gar keinen Fall. Ich lasse dich nicht sterben, ich habe es dir versprochen, damals auf der Brücke. Erinnerst du dich noch?"

Midine schmunzelte. "Ich wäre dort fast gestorben, so leicht vergisst man das nicht, weißt du?"

Ein winziges Lächeln umspielte Etts Lippen, dann senkte sie wieder den Blick und fuhr damit fort, die Salbe aufzutragen. Midine hätte es niemals ausgesprochen und Ett hätte es nicht gerne gehört, aber wie sie dort auf dem Boden kniete, wirkte sie so besorgt. So zart und so verletzlich. Manchmal fragte Midine sich, ob nicht eigentlich sie es war, die Ett beschützte, und nicht umgekehrt.

"Fertig." Ett wischte sich ihre Hände an einem Tuch ab und verschloss das Salbengefäß wieder, bevor sie eine neue Verbandsrolle aus dem Kasten nahm.

"Danke." Es war nur ein einfaches Wort, aber Midine versuchte, noch viel mehr hineinzulegen als das.

Danke, dass du mich nie aufgegeben hast.

Danke, dass du mir zweimal das Leben gerettet hast.

Danke, dass es dich gibt.

Ett sah sie einen Augenblick an.

"Halt das eine Ende des Verbandes bitte kurz fest", fuhr sie fort, aber Midine sah, dass sie es verstanden hatte.

Die folgenden Minuten verbrachten sie schweigend, jeder in seine eigenen Gedanken versunken. Midine hörte Etts regelmäßiges Atmen, das Rascheln ihrer Kleidung, das gemütliche Knacken des Kaminfeuers. Und jedes Mal, wenn Ett sich vorbeugte, um den Verband hinter Midines Rücken vorbeizuziehen, kitzelten ihre Haare Midines Haut, ein angenehmes Prickeln hinterlassend. Fast wünschte Midine sich, das hier würde niemals enden.

Doch dann war die Verbandsrolle aufgebraucht und der Moment vorbei. Ett steckte das andere Ende des Verbands mit einer Klammer fest und nickte, zufrieden mit ihrer Arbeit. "Du kannst wieder aufstehen", meinte sie, während sie ihren Verbandskasten wieder einräumte.

Midine stand auf und streckte sich versuchsweise. Der Verband saß hervorragend, wie immer.

"Danke", sagte sie noch einmal. Ett winkte nur ab.

Unsicher, wie sie darauf reagieren sollte, blieb Midine stehen.

"Es tut mir leid, falls ich dich verärgert haben sollte", fing sie an. "Ich dachte doch nur-"

"Du brauchst dich nicht andauernd bei mir entschuldigen", schnitt ihre Freundin ihr das Wort ab. "Es ist nur... Du kriegst ein Schwert durch den Brustkorb, bist klinisch tot und wachst monatelang nicht auf dem Koma auf. Und dann kommst du zu mir und kümmerst dich einen Scheiß um deine Verletzung. Du könntest immer noch sterben, weißt du das? Du könntest sterben, verdammt nochmal!"

Erschrocken wich Midine einen Schritt zurück.

Ett hatte sich zu ihr umgewandt, mit einem Ausdruck hilflosen Zorns in den Augen. Und... waren das Tränen, die da in ihren Augenwinkeln schimmerten?

Aber noch ehe sie etwas sagen konnte, ergriff Ett wieder das Wort.

"Ach, verflucht, entschuldige. Ich habe es nicht so gemeint. Ich fühle mich nur irgendwie so... müde." Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen.

Erleichtert nickte Midine. "Dann essen wir jetzt noch auf und danach gehst du sofort ins Bett."

"Klingt gut." Ett ging wieder hinüber zum Tisch und setzte sich.

"Und schlaf dich morgen schön aus, hörst du?", fragte Midine mit gespielter Strenge in der Stimme, während sie sich gegenüber von Ett hinsetzte.

Ett musste grinsen. "Natürlich. Warte, das hätte ich fast vergessen: Ich habe hier noch etwas für dich."

"Was denn?", fragte Midine neugierig.

"Hier." Ett kramte etwas aus ihrer Tasche und hielt es Midine entgegen.

Es war eine Schneekugel aus Glas, gerade einmal so groß wie Midines Handteller. Doch darin war etwas, das Midine den Atem anhalten ließ.

Ein Leuchtfeuerturm, winzig klein, aber trotzdem gut als solcher zu erkennen. Mit all seinen Säulen, Verzierungen und Erkern wirkte er ein wenig wie ein Schloss.

Midine nahm die Kugel entgegen und schüttelte sie. Ein feiner Schneesturm erhob sich in der Kugel und wirbelte um den Turm herum.

"Ist... ist das wirklich für mich?" Ehrfürchtig betrachtete sie die vielen meisterhaften Details in der Miniatur.

"Ist es."

"Und... wie viel hat das gekostet?" Midine drehte die Kugel in ihren Händen hin und her.

"Tss, das fragt man doch bei einem Geschenk nicht."

"Danke!" Midine sprang auf und drückte Ett fest an sich.

"Ich habe doch gesagt, du sollst dich nicht immer bei mir bedanken", grummelte ihre Freundin, erwiderte die Umarmung aber. Schließlich löste sie sich wieder von Midine, erhob sich und ging abermals in die Küche.

"Es ist noch ein Pfannkuchen da", rief sie ins Esszimmer hinüber. "Willst den noch haben?"

"Nein, danke. Ich bin satt", antwortete Midine.

"Hm." Unschlüssig starrte Ett den übriggebliebenen Pfannkuchen an. "Was machen wir jetzt mit dir? ... ah, ich hab's: Ich überlasse dich Avelli, als Lohn dafür, dass er den Tisch abräumt und noch den Rest der Nacht übernimmt."

Im Esszimmer fing Midine an zu kichern.

Im Tempel der Stille

Das in einen Umhang gehüllte Wesen erklomm die letzte Stufe der Treppe und atmete ein paar Mal tief ein und aus.

Dann betrachtete es den Tempel, der nun vor ihm lag, und seine Augen wurden groß vor Staunen. Aus der Entfernung schon hatte er gigantisch gewirkt, aber jetzt, wo es vor ihm stand, sah er noch viel größer aus.

Da waren vierundzwanzig Säulen, jede von ihnen so breit, dass keine vierzig Mann eine von ihnen hätten umfassen können. Sie schienen bis hinauf in den Himmel zu ragen, in Wirklichkeit aber trugen sie das ebenso gigantische Dach des Tempels, dass blass hoch oben in der Ferne erkennbar war. Waren das Wolken, die darunter vorbeizogen?

Eine Weile noch stand das Wesen so da, den Kopf staunend in den Nacken gelegt, bevor es seinen Blick senkte und die Inschrift las, die am Fuße einer Säule eingraviert war.

TEMPEL DER STILLE.

Nun, still war es hier wirklich. Seine Schritte, die tausendfach von den Wänden widerhallten, waren alles, was das Wesen hörte, während es durch den breiten Mittelgang in den Tempel hineinging. Schon von Weitem erkannte es die hüfthohe Erhebung in der Mitte des Tempels, die einmal ein Altar gewesen war. Jetzt aber hatte jemand zwei Stühle darum gestellt.

Auf einem von ihnen saß bereits eine Gestalt, ebenso in einen Umhang gehüllt wie das Wesen selbst. Als es sich dem improvisierten Tisch näherte, sprang die Gestalt auf.

"Du bist spät", sagte sie. "Ich dachte, du kommst nicht mehr."

"Ich komme immer", erwiderte das Wesen. "Freut mich übrigens sehr, dich wiederzusehen, Böse."

Das Böse deutete eine Verbeugung an. "Die Freude ist ganz meinerseits, Gut. Aber setz dich doch."

Das Gute setzte sich auf den noch freien Platz, während sich gegenüber das Böse wieder auf seinen Stuhl fallen ließ.

"Warum hast du mich hergebeten?", fragte das Gute. "Für einen Kampf? Schon wieder? Ich dachte, die Menschen hätten gerade erst Frieden geschlossen."

"Für einen Kampf? Nein, sei doch nicht immer so negativ." Das Böse winkte ab. "Nein, ich will nur mit dir reden."

"Reden?"

"Ja. Du wirkst erstaunt... Willst du nicht reden?"

"Doch, doch, ich war nur etwas... überrascht."

"Tatsächlich?" Das Böse grinste. "Aber na gut. Lass mich dir zuerst eine Geschichte erzählen über die Entstehung des letzen Weltkrieges. Sie handelt von einem Menschenmädchen, das glaubte, sich über alle anderen hinwegsetzen und sich zur Herrscherin der Menschenwelt erklären könne."

"Malicia?" Das Gute lehnte sich nach vorn. "Ich habe von ihr gehört."

Das Böse lächelte ein undefinierbares Lächeln. "Nun, warte es ab. Die Geschichte beginnt damit, dass..."

Und so verschwand die Stille aus dem Tempel der Stille.

Das Spiel beginnt


 

"Was wiegt wohl schwerer?

Die Überzeugung eines Einzelnen

oder die Überzeugung eines ganzen Königreiches?"
 

Midine erwachte um etwa neun Uhr.

Verschlafen blinzelte sie ein paar Mal, bevor sie sich gähnend streckte. Es verwunderte sie, dass sie dabei auf keinen Widerstand stieß, aber nachdem sie sich den letzten Schlaf aus den Augen gerieben hatte, erkannte sie, dass Ett nicht mehr neben ihr lag. Doch das war nicht weiter verwunderlich, denn ihre Freundin war eine echte Frühaufsteherin.

Etts Bettlaken war zerwühlt und trug noch ihren Geruch. Midine atmete ihn einmal tief ein, bevor sie sich aufrichtete und ihre Beine aus dem Bett schwang. Sie schlüpfte in ihre Stiefel, die wie immer neben ihrem Bett standen, und sah dann an sich hinunter. Sie trug immer noch dieselbe Kleidung wie gestern, weil sie viel zu müde gewesen war, sich noch umzuziehen.

Sie betrachtete sich kurz im Spiegel und befand ihre Kleidung dann als noch ausreichend. Über Nacht hatte sie nur ein paar Knitterfalten davongetragen. In die Öffentlichkeit hätte sie so etwas zwar nicht mehr angezogen, aber heute hatten sie nichts vor, also würde sie wohl den ganzen Tag zuhause bleiben.

Midine zupfte ihr Bettlaken noch etwas zurecht, dann ging sie hinter vorgehaltener Hand gähnend zur Tür.

Ihre Hand legte sich um den Türknauf, drehte ihn, zog-

Die Tür bewegte sich nicht einen Millimeter.

Midine war mit einem Schlag hellwach, hatte Ett sie etwa hier eingesperrt?

Sie zog noch einmal, aber die Tür blieb verschlossen.

"Ett?", rief sie. "Was soll das? Mach die Tür auf!"

Keine Antwort.

Jetzt bekam sie es doch mit der Angst zu tun. Sie zog noch ein paar Mal, kräftiger diesmal.

"Ett! Soll das ein Scherz sein? Das ist nicht lustig! Bitte, mach die Tür auf!"

Midine wusste, dass Ett manchmal einen ziemlich verdrehten Sinn für Humor hatte, aber sie würde dabei nicht so weit gehen, Midine in Panik zu versetzen. Also würde sie spätestens jetzt wohl die Tür öffnen, sie angrinsen und "Angsthase" nennen...

Midine lauschte hoffnungsvoll nach einer Antwort, aber die bekam sie nicht. Und die Tür blieb weiterhin verschlossen.

Nach einer Weile des Schweigens wurde Midine leicht panisch. Diese unerträgliche, erdrückende Stille machte sie fertig.

"Hallo?", schrie sie. "Ett! Irgendwer! Hilfe!" Sie hämmerte gegen die Tür, aber immer noch erhielt sie keine Antwort.

"Hilfe! Irgendjemand! Holt mich hier raus, bitte!" Midine wusste, dass sie weinerlich klang, und sie hasste sich dafür. Sie versuchte, sich mit der Schulter gegen die Tür zu werfen, um sie aus den Angeln zu brechen. Aber die blieb unnachgiebig und stabil.

Eine Welle heißen Schmerzes schoss durch Midines Brust. Sie stöhnte gequält auf und ließ sich auf den Boden sinken.

Midine lehnte sich gegen das Fußende des Bettes. Sie versuchte verzweifelt, Ordnung in ihre Gedanken zu bekommen, während die Schmerzen in ihrer Brust langsam abebbten.

Vielleicht hatte Ett sie unabsichtlich hier eingeschlossen und war dann etwas für ihr Frühstück einkaufen gegangen? Vielleicht war sie nicht im Haus und konnte Midine gar nicht hören?

Midine unterdrückte die Panik, die dieser neue Gedanke in ihr entfachte.

Irgendwo, ganz hinten in einer Ecke ihres Bewusstseins, sagte eine logisch denkende Stimme, dass Ett niemals einfach so das Schlafzimmer abgeschlossen hätte. Dass sie lieber dreimal nachgeprüft hätte, ob Midine noch drinnen lag.

Aber Midine wollte so sehr glauben, dass alles in Ordnung war, dass Ett gleich wiederkommen und sich alles als Irrtum herausstellen würde, dass sie ihr nicht zuhören wollte.

Sie saß auf ihrem Bett, den Kopf in die Hände gestützt, die Gedanken schossen ziellos durch ihr Hirn wie Flipperkugeln. Sie bekam beinahe Kopfschmerzen davon, ihre Panik im Zaum zu halten.

Ich brauche frische Luft. Dringend.

Sie stand auf, um das Fenster zu öffnen. Es war zwar ziemlich klein, aber vielleicht konnte sie auch hindurchklettern, um hier herauszukommen. Das wäre zwar nicht viel, aber immerhin ein Anfang.

Sie zog die Vorhänge auseinander- und prallte zurück.

Der Himmel war nicht blau, er war noch nicht einmal grau. Bis hin zum Horizont nur wolkenloses Blutrot.

"Das ist doch unmöglich, das k-kann doch gar nicht sein...", stammelte Midine entsetzt vor sich hin. Sie schloss die Augen und presste sich die Hände so fest darauf, dass sie rote Punkte tanzen sah. Aber als sie ihre Augen wieder aufriss, war die surreale rote Farbe immer noch da.

Surreal... war das hier vielleicht ein Traum? Midine zwickte sich in den Arm, so fest, dass ihr die Tränen in die Augen schossen, aber sie wachte einfach nicht auf.

Wieder starrte sie hinauf in den blutigen Himmel. Sie war sich nicht mehr so sicher, ob sie da wirklich hinauswollte. Vielleicht sollte sie lieber hier drinnen bleiben und warten, schließlich konnte ihr hier nichts passieren. Ja, das war wirklich eine gute-

Ein dumpfes Geräusch unterbrach sie. Jemand klopfte von draußen gegen die Tür.

Midine erstarrte. Ganz langsam drehte sie sich um. Zuckte zusammen, als das Klopfen wieder ertönte.

"Ett?", rief sie versuchsweise. Keine Antwort.

Stattdessen nur das Klopfen, energischer als vorher.

Wieder stieg die Panik in Midine auf. "Ett! Bist du das? Antworte mir doch!"

Eine Zeit lang herrschte Stille. Dann krachte etwas von draußen gegen die Tür, so plötzlich, dass Midine erschrocken zusammenfuhr.

Erneutes Krachen, lauter diesmal. Die Tür erbebte unter den Schlägen von außen.

Mit vor Panik zitternden Fingern öffnete Midine das Fenster. Sie hatte keine Wahl, sie musste hier heraus. Fast wäre sie abgerutscht, als sie sich auf das Sims schwang. Zwei bis drei Meter unter ihrem Fenster lagen die Gehsteige, die um den Turm herumführten. Vielleicht konnte sie ja-

Ein Krachen hinter ihr, das klang, als würden die Türflügel jeden Moment bersten, beseitigte all ihre letzten Zweifel. Ohne weitere Umschweife rutschte sie vom Sims und ließ sich fallen.

Die Landung war viel weicher, als sie erwartet hatte. Sollte man auf Stein nicht eigentlich viel härter landen? Und irgendwie roch es hier nach Verwesung...

Sie sah sich um und ihr stockte der Atem.

Sie befand sich inmitten eines großen Haufens aus Müllsäcken, die irgendjemand hier mit größter Sorgfalt aufeinander- und nebeneinandergestapelt hatte. Bis hin zur Brüstung wurde der gesamte Gehsteig davon eingenommen.

Millionen Maden krochen dazwischen herum und Fliegen surrten ihr um den Kopf. Als ein paar der Maden auf ihre Beine krochen, erwachte Midine aus ihrem tranceähnlichen Zustand.

Mit einem entsetzten und angewiderten Kreischen sprang sie auf, um gleich knietief einzusinken. Nur mit Mühe und einem weiteren angeekelten Aufheulen gelang es ihr, die Stiefel wieder herauszuziehen, um hier wegzukommen.

Sie lief über die Müllsacke, so gut es eben ging, und versuchte, nicht nach unten zu sehen. Aber plötzlich ertönte unter ihrem rechten Stiefel ein irgendwie matschiges Geräusch und gleich darauf ein lautes Knacksen.

Midine blieb nicht stehen, um sich zu übergeben. Sie wollte den Maden keine Gelegenheit geben, in ihre Stiefel zu kriechen und ihr grässliches Werk fortzuführen.

Ein Müllsack platzte auf, als Midine darüber stolperte. Unwillkürlich sah sie nach unten.

Sie sah einen Kopf herauskullern, dann einen Arm, und dann sah sie gar nichts mehr, weil ihre Sicht völlig verschwamm. Sie ließ ihren Tränen freien Lauf, während sie weiter durch diesen Albtraum rannte, der einfach nicht enden wollte. Nichts mehr sehen, nichts mehr hören, nichts mehr riechen. Dieser entsetzliche Gestank nach Verwesung, er war immer noch da, kroch in ihre Nase und lähmte ihr Gehirn...

Endlich.

Endlich berührten ihre Füße wieder Steinboden. Midine lief noch ein kleines Stück weiter, dann sank sie auf die Knie und weinte.

Was war nur passiert? Gestern noch hatte sie mit Ett zusammen am Tisch gesessen und genüsslich Pfannkuchen mit Ahornsirup verspeist. Sie hatten gelacht und geredet und dann hatten sie sich schlafen gelegt, wie sonst auch jeden Tag. Nichts Ungewöhnliches war passiert, nichts, was das hier auch nur im Ansatz erklären konnte.

War sie vielleicht schlicht und einfach verrückt geworden? Es erschien Midine die einzige plausible Erklärung. Aber warum dann so plötzlich? Vorher hatte Midine sich zu jedem Zeitpunkt einer hervorragenden geistigen Gesundheit erfreut. Und die verschlossene Tür hatte sie sich nicht einfach eingebildet, ebenso wenig wie die Maden. Das alles hier war einfach so real. So schauderhaft real.

Midine weinte noch etwas, dann wischte sie sich die Augen mit dem Ärmel ab und sah sich um, wobei sie es vermied, zurück auf den Gehsteig zu schauen.

Sie befand sich auf der Brücke vor dem Leuchtfeuerturm. Genau dort, wo sie gestern noch gestanden und die Sterne gezählt hatte. Seltsamerweise brannte das Leuchtfeuer hoch oben noch genau so stark wie gestern.

Jetzt, wo sie nicht mehr auf den kleinen Rahmen ihres Fensters angewiesen war, erkannte sie auch, dass wirklich der ganze Himmel blutrot gefärbt war. Wohin sie auch sah, nur waberndes Rot und keine einzige Wolke war zu sehen. Die Sonne hing unnatürlich groß und dunkelorange am Himmel, ihr Umriss flimmerte vor Hitze.

Midine merkte, dass es unnatürlich warm war. Die Berge am Horizont waren nicht mehr schneebedeckt, die Wälder zu ihren Füßen schienen braun und vertrocknet. Die Temperatur war selbst verglichen mit den hier üblichen Sommertemperaturen sehr warm und mit denen des Winters erst recht.

Midine verstand das alles nicht. Was für eine Welt war das hier? Was hatte dieser ganze Horror hier verloren? Und was hatte sie getan, dass sie nun hier war?

Midine konnte keine Zusammenhänge in all dem erkennen, nicht den geringsten. Sie hätte gerne wieder angefangen zu weinen, aber sie riss sich zusammen. Durch Heulen würde sie hier nicht wieder herauskommen.

Sie tastete ihre Taschen ab, auf der Suche nach etwas, das vielleicht nützlich sein könnte, doch sie fand nur ein paar bunte Murmeln, einige Münzen Kleingeld und Fusseln. Nichts, das sie gebrauchen konnte.

Da fiel etwas aus ihrer Seitentaschen, gerade, als sie sich wieder aufrichten wollte. Reflexartig wirbelte sie herum und bekam das Ding gerade noch zu fassen, bevor es auf dem Boden zerschellen konnte. Rund und kalt lag es in ihrer zitternden Hand.

Etts Schneekugel.

Die Schneekugel mit dem winzigen Abbild eines Leuchtfeuerturms darin, um den man mit einer einzigen Handbewegung einen ganzen Schneesturm entstehen lassen konnte.

Midine musste lächeln, egal, wie abwegig das in so einer Situation auch sein mochte.

Es war ein Anker in ihre alte Welt, eine unzertrennbare Verbindung zu Ett und Avelli und all ihren anderen Freunden, eine Erinnerung daran, wie die Welt eigentlich sein sollte.

Midine schüttelte die Kugel ein paar Mal leicht auf und ab und betrachtete dann das glitzernde Schneegestöber in ihrem Inneren. Sie schniefte unwillkürlich, aber natürlich hatte sie kein Taschentuch dabei. So wischte sie sich die Nase nach kurzem Zögern einfach an ihrem Ärmel ab, bevor sie wieder gebannt in die Kugel starrte.

Nach einigen Sekunden des Herumwirbelns sanken die weißen Flocken wieder an den Boden der Kugel zurück, das Schneegestöber war vorüber.

Midine schüttelte die Kugel ein weiteres Mal. Sie wollte einen Grund dafür haben, weiter hineinstarren zu können, einen Grund, diese ganze falsche Welt um sie herum ignorieren zu können. Vermutlich hätte sie bis an das Ende aller Tage dort gesessen und in die Schneekugel gestarrt, wäre da nicht dieses Geräusch gewesen.

Plötzlich erklang es aus der absoluten Stille heraus, klang dumpf und ließ Midine zusammenschrecken. Instinktiv hob sie den Blick und und sah sich aufgeschreckt um.

Auf den ersten Blick sah sie nichts, was dieses Geräusch hervorgerufen haben könnte, aber als sie den Kopf nach rechts drehte und hinaus auf die Brücke sah, erkannte sie es.

Dort hinten, etwa dreißig Meter von hier, lag mitten auf der Brücke... ein Mensch?

Midine runzelte die Stirn, kniff die Augen zusammen und sah genauer hin. Sie war zu weit entfernt, um Details erkennen zu können, aber sie sah die große rote Pfütze um den Körper.

Midine musste erneut würgen, aber sie zwang sich, aufzustehen. Vielleicht konnte sie der Person, wer auch immer es sein mochte, irgendwie helfen.

Langsam setzte sie den rechten Fuß vor, dann den linken. Schritt für Schritt bewegte sie sich vor, den Blick fest auf ihr Ziel gerichtet. Jede Faser ihres Körpers war bis aufs Zerreißen angespannt. Erst als sie die Schneekugel wieder zurück in ihre Tasche stecken wollte, erkannte sie, dass sie sie so fest umklammert hatte, dass ihre Fingerknöchel weiß hervortraten.

Nur noch etwa zehn Meter trennten sie von ihrem Ziel, als Midine erkannte, dass das, was sie für eine Blutpfütze gehalten hatte, in Wirklichkeit ein dunkelroter, weit ausgebreiteter Umhang war.

Gerade wollte sie aufatmen und sich wieder entspannen, als sie das Schwert sah.

Es war lang, schmal, ein wenig gebogen und schien die junge Frau an der Brücke festzunageln.

Die junge Frau in Rot hatte lange, in alle Richtungen ausgebreitete blonde Haare und war von einem gebogenem Schwert durchbohrt...

Midines Hirn stand noch unter Schock, daher dauerte es noch eine Weile, bis bei ihr der Groschen fiel.

Malicia.

Midine begann zu rennen.

Unmittelbar vor der Leiche ihrer Erzfeindin bremste sie und schaute atemlos zu ihr herunter.

Nein, Irrtum ausgeschlossen. Das war eindeutig Malicia.

Durchbohrt von ihrem eigenen Schwert, durch Midines Hand. Ihre dunklen Augen zeigten keinen Funken Leben mehr, doch auf ihrem Gesicht war der Ausdruck der Überraschung für immer festgehalten. Sie sah genau so aus, wie Midine sie das letzte Mal gesehen hatte.

Aber wie zur Hölle kam sie hierher?

Midine hob den Blick, in der Hoffnung, irgendein magisches Tor zu einer anderen Welt zu finden, etwas, das Malicias Auftauchen hier erklärte. Doch der Himmel war so rot wie auch vorher und kein magisches Tor war zu sehen.

Sie begann, nachzudenken. Vielleicht sollte Malicias Auftauchen ihr irgendwie helfen? Sofort schalt sie sich selbst für diesen Gedanken. Malicia war tot und konnte ganz sicher niemandem mehr helfen.

Da kam ihr eine Idee, wie sie trotzdem aus Malicias Leiche einen Nutzen schlagen konnte.

Zwar war es ihr zuwider, aber vielleicht konnte sie Malicias Schwert mitnehmen. Wer wusste schon, wo sie hier war und und was noch auf sie lauerte... Und Malicia schien es ja offensichtlich nicht mehr zu brauchen.

Midine hatte Mühe, ihre zitternden Hände an den Schwertgriff zu manövrieren, aber einmal darum gelegt, klammerten sie sich darum wie um einen rettenden Anker.

Einen Moment lang rang sie mit sich selbst, aber dann besiegte ihre Angst ihren Ekel und sie zog.

Midine hatte gehofft, dass das Schwert einfach aus Malicias Brust gleiten würde, sobald man daran zog, aber dem war nicht so. Das Schwert saß fest und bewegte sich keinen Zentimeter.

Vielleicht hatte das Schwert sich irgendwie in Malicias Eingeweiden verhakt, aber so genau wollte Midine das gar nicht wissen. Mit vor Ekel verzogenem Gesicht traute sie sich, etwas stärker zu ziehen, aber auch das nützte nichts und alles in Midine scheute davor zurück, noch stärker zu ziehen. In ihrem Kopf tauchten schreckliche Bilder auf, von zerfleischten Organen verteilt auf der Brücke.

Midine wollte gerade aufgeben, als-

"Könntest du damit bitte aufhören? Das zieht."

Midine fuhr zusammen, ihr Herz setzte einen Schlag aus. Reflexartig blickte sie nach unten, von wo die Stimme gekommen war. Erst, als sie direkt in Malicias dunkle und nun gar nicht mehr tote Augen starrte, erkannte sie, was das bedeutete.

Mit einem gellenden Schrei ließ sie das Schwert los und sprang zurück. Ihr erster Impuls war, wegzulaufen, aber sie musste feststellen, dass ihre Beine ihr nicht mehr gehorchten und stattdessen unkontrolliert bebten.

Gelähmt vor Angst musste Midine mitansehen, wie die vermeintliche Leiche ihrer Erzfeindin sich langsam erhob und und ihre Kleidung abklopfte. Missbilligend betrachtete Malicia einen Schmutzfleck auf ihrem Umhang, dann erst wandte sie sich Midine zu und musterte sie amüsiert.

"Schau nicht so panisch, ich fresse dich schon nicht auf. Was ist los?"

Was los war? Sollte das ein Scherz sein? Midine hob ihren zitternden Finger und zeigte anklagend auf Malicia.

"D-du bist d-doch tot!", stammelte sie.

"Aber natürlich bin ich das. Ist schließlich schwer zu übersehen." Vielsagend deutete Malicia auf das Schwert. "Hast du das wirklich jetzt erst bemerkt?"

"N-nein, aber..." Midine war noch viel zu schockiert, um sich irgendwie zu rechtfertigen. So viele ungeklärte Fragen schossen ihr durch den Kopf, dass sie glaubte, er müsse platzen.

"Pass auf, Morathess, ich beschleunige das das jetzt einmal etwas. Mir steht nur begrenzte Zeit zur Verfügung und ich werde nicht lange bleiben können. Ich gehöre eigentlich nicht in diese Welt und auch in keine andere. Und bevor du fragst: Ich bin nicht etwa aus fehlgeleitetem Mitleid hergekommen oder weil ich dir helfen will. Nein, ich muss einfach nur meine Mission zu Ende bringen und dazu brauche ich dich zufällig."

Malicia hätte genausogut eine fremde Sprache sprechen können, so wenig verstand Midine von dem, was sie sagte. Aber Malicia schien etwas über diesen Ort zu wissen, und nur das hielt Midine davon ab, einfach wegzurennen.

"Wo bin ich hier? Was soll das alles? Ist... ist das hier ein Traum?"

Malicia schnalzte mit der Zunge und sah Midine missbilligend an, ließ sich aber trotzdem zu einer Antwort herab.

"Wo du hier bist? Das müsstest du eigentlich wissen, du wohnst doch da." Mit dem Kinn wies Malicia auf den Leuchtfeuerturm hinter Midine. "Friedensbrücke, Westbezirk, Zentrum. Beantwortet das deine Frage?"

Nein, gar nicht, nicht im Geringsten. Aber Malicia ließ Midine gar keine Zeit, zu widersprechen, und fuhr einfach fort.

"Sehr schön. Also, was soll das alles hier? Sehen wir es als eine Art Spiel." Malicia sah Midine listig an. "Du versuchst, bis zum Ende zu überleben und das Spiel zu gewinnen. Sie versucht, dich davon abzuhalten. Äh... wie war nochmal deine dritte Frage?"

Doch Midine hörte schon nicht mehr zu. "Zu... überleben?" Ihr wurde eiskalt.

"Natürlich. Sagte ich das noch nicht? Das hier sieht zwar anders aus als deine gewohnte Realität, aber du kannst hier sterben. Oder den Verstand verlieren. Oder beides. Alles in Ordnung?"

Midine starrte sie aus weit aufgerissenen Augen an, während sie versuchte, ihre Atmung wieder einigermaßen unter Kontrolle zu bekommen. Ihre Beine gaben endgültig nach und sie sank auf die Knie. Gerade noch schaffte sie es, den Kopf zu schütteln.

"Ganz ruhig." Unbeholfen tätschelte Malicia Midines Schulter. "Behalte deinen Verstand noch eine Weile... bitte. Tu's für mich, hm?"

Malicia richtete sich wieder auf, nur um sich sofort den Arm vor den Mund zu halten. Sie hustete, ein ungesund klingendes, pfeifendes Husten, dann straffte sie ihren Körper wieder und wischte die Blutstropfen um ihren Mund weg.

"Das ist das Gute am Tod: Du wirst nicht kränker, als du warst. Allerdings das einzig Gute." Anklagend schaute Malicia Midine an, dann hellte sich ihre Miene wieder auf.

"Hey, ich habe hier noch etwas für dich. Sieh es als Kennenlern-Geschenk." Malicia kramte ein braunes Päckchen aus ihrem Umhang und warf es vor Midines Knien auf den Boden.

Vorsichtig hob diese es auf und drehte es in ihrer Hand hin und her. Gerade wollte sie die Schnur darum lösen, als Malicia sie stoppte.

"Halt, halt. Nicht so eilig. Mach es erst auf, wenn du dich wieder etwas gestärkt hast. Nicht jetzt auf nüchternen Magen."

Widerspruchslos steckte Midine das Päckchen in eine ihrer Manteltaschen.

"Gut." Malicia sah zufrieden aus. "Und wenn du dich wieder einigermaßen fit fühlst, könntest du das Haus dort hinten besuchen. " Sie zeigte auf ein Haus am anderen Ende der Brücke, schmal, aber hoch, mit einem Kuppeldach und und kirchenartigen Buntglasfenstern. "Da findest du-"

"Wer ist sie?" Normalerweise war es nicht Midines Art, Leute zu unterbrechen, aber sie musste diese Frage einfach stellen, solange sie noch die Chance dazu hatte.

Malicia erstarrte. "Wie bitte?"

"Na, sie. Sie versucht, dich davon abzuhalten, das hast du eben gesagt."

"Ach, sie. Nun, ich könnte es dir sagen, aber dann wäre das Spiel ja schon vorbei. Du wirst sie jedenfalls noch zu Gesicht bekommen... Noch irgendwelche Fragen? Ich muss gleich nämlich wieder weg, weißt du..."

Obwohl Midine noch Tausende Fragen im Kopf herumschwirrten, sagte sie nichts. Sie musste das Ganze hier erst einmal verarbeiten.

"Ach ja, war da nicht noch etwas? Deine dritte Frage?"

Die hatte Midine schon fast wieder vergessen, deswegen dauerte es eine Weile, bis sie sich wieder daran erinnerte.

"Ein... ein Traum. Ist das hier ein Traum?" Mit verzweifelter Hoffnung in den Augen schaute sie Malicia an und klammerte sich an den letzten Grashalm, der ihr noch blieb.

"Hm. Eine schwierige Frage. Schwierig zu beantworten, meine ich. Willst du eine beruhigende Antwort oder eine ehrliche?"

Midine schluckte. Sie spürte, wie ihr Grashalm zu wanken begann. Die Angst, die ihren ganzen Körper lähmte, sagte ihr, dass sie die beruhigende Antwort nehmen sollte, sich selbst und ihrem Verstand zuliebe. Aber da war auch noch ihr Stolz, irgendwo tief vergraben. Und der nannte sie einen Feigling und verlangte, sie solle der Wahrheit gefälligst ins Gesicht sehen.

Außerdem kniete sie schon, also was hatte sie zu verlieren?

"Die ehrliche.", sagte sie mit fester Stimme.

"Dann nein.", erwiderte Malicia fröhlich. "So, jetzt muss ich aber wirklich los. Auf Wiedersehen!"

Sie hob die Hand und winkte zum Abschied, bevor ihre Gestalt verschwamm, das blutige Rot ihrer Kleidung zusehends verblasste und sie sich schließlich vor Midines Augen einfach in Luft auflöste.

Noch eine ganze Weile starrte die Eine ungläubig auf die Stelle, an der ihre Erzfeindin gestanden hatte. Sie begann wieder zu zittern.

Nur wenige Sekunden später hallte ein markerschütternder Schrei über die Brücke.

Im Tempel der Stille

"... und damit endet die Geschichte." Das Böse sah das Gute erwartungsvoll an.

Das Gute zuckte mit den Schultern. "Das war es dann also."

Das Böse schüttelte den Kopf. "Es ist nicht vorbei. Es wird nie vorbei sein."

Das Gute schwieg.

"Weil es kein Licht ohne Schatten gibt. Weil es keinen Schatten ohne Licht gibt."

Schweigen.

"Eins kann nicht ohne das andere existieren. Ohne Gut kein Böse. Ohne Böse kein Gut. Deshalb ist jedes Happy End nur eine vorzeitig abgebrochene Geschichte, um dem Leser die Trauer zu ersparen, zu lesen, dass letztlich alles umsonst gewesen sein wird. Das Böse wird immer wiederkehren. Immer."

Weiterhin Schweigen.

"Deprimierend, nicht wahr?", fragte das Böse nach einer Weile.

"Sehr deprimierend", stimmte das Gute zu.

Dann wieder Schweigen.

Dein rechtmäßiger Platz


 

"Ohne Ziele sind wir nichts.

Wir leben ziellos in den Tag hinein, bescheiden und zufrieden.

Die Welt bleibt, wie sie ist, für immer.

Denn ohne Ziele lohnt es sich nicht, für etwas zu kämpfen."
 

Nur wenige Schritte vor der Tür blieb Midine stehen. Ihre Hand zuckte von dem Türknauf zurück.

Was, wenn hier gar keine Hilfe auf mich wartet? Was, wenn das hier eine Falle ist? Warum sollte Malicia mir denn auch helfen? Sie hat mich von Anfang an gehasst, und dann habe ich sie getötet.

Midine zögerte einen Moment, doch dann legte sie kurz entschlossen die Hand auf den Türknauf und drehte ihn.

Du solltest dich geehrt fühlen, dass ich dir so sehr vertraue, Malicia.

Vorsichtig drückte Midine die Tür auf. Sie wagte kaum zu atmen, ihr Herz pochte unnatürlich laut. Die Luft angehalten, spähte sie hinein...

Ein Seufzer der Erleichterung verließ ihre Lippen, als sie sah, dass niemand da war. Sie schlüpfte durch den Türspalt und verschloss die Tür wieder hinter sich, ehe sie sich in dem Raum umsah.

Er war sehr groß, kreisförmig und ohne erkennbar abgetrennte Zimmer. In seinem vorderen Teil befanden sich einige reich verzierte Holzbänke und ein Wasserbecken, bevor einige Stufen zum hinteren Teil hinaufführten. Midine erinnerte sich nach anfänglicher Verwunderung daran, dass dieses Gebäude einmal eine Kirche gewesen war, bevor dort jemand eingezogen war. Anscheinend war dieser Jemand ein großer Bücherfan gewesen, denn an allen Wänden waren Bücherregale aneinandergereiht, fast vier Meter hoch. Sogar auf den Bänken waren Bücherstapel zu finden.

Auf einer Art Empore in der Mitte des Raumes stand ein großer, länglicher Tisch mit einem opulenten Festmahl, das für mindestens fünfzehn Personen gereicht hätte, obwohl nur zwei Stühle darum standen. Die Braten, Salate und Torten wurden von einem achtarmigen Kerzenleuchter angestrahlt. Über der ganzen Szenerie hing ein schwerer Kronleuchter von der hohen Kuppeldecke herab. Anscheinend hatte sich irgendjemand die Mühe gemacht, alle zwölf Kerzen mühevoll anzuzünden.

Midine schauderte. Unsicher bahnte sie sich ihren Weg zwischen den Bänken hindurch auf den Tisch zu. Sie sah auf die Köstlichkeiten herab, unschlüssig, was sie jetzt machen sollte. Das leckere Essen lachte sie förmlich an und sofort begann Midines Magen zu knurren. Sie erinnerte sich daran, dass sie heute noch nichts gegessen hatte.

Aber vielleicht war das Essen vergiftet! Mittlerweile hielt Midine selbst das für möglich. Sie beugte sich über den Tisch und schnupperte an einem gebratenen Hähnchen. Kein verdächtiger Geruch, dafür begann Midines Magen umso lauter zu knurren. Gerade wollte sie sich wieder aufrichten, da entdeckte sie einen Notizzettel unter einer der Silberplatten. Neugierig zog sie ihn hervor und faltete ihn auseinander.
 

Nimm deinen rechtmäßigen Platz ein.

~M
 

Midine runzelte die Stirn. Nimm deinen rechtmäßigen Platz ein? Was hatte das denn zu bedeuten? Platz, waren damit vielleicht die Stühle gemeint?

Sie sah auf. Drehte sich einmal um sich selbst. Nein, die Stühle waren wirklich die einzigen Sitzgelegenheiten, die man als "Plätze" bezeichnen konnte. Also... sollte sie sich auf einen Stuhl setzen?

Aber auf welchen? Es gab schließlich zwei.

Rechtmäßiger Platz... also sollte sie sich auf den Platz setzen, der ihr zustand? Midine begutachtete den Stuhl links von ihr.

Es war ein ärmlich aussehender, aus verschiedenen Ersatzteilen zusammengeflickter Holzschemel. Er sah ziemlich wackelig aus und Midine beschloss, sich lieber noch den anderen Stuhl anzusehen. Sie ging zielstrebig um den Tisch herum.

Der andere Stuhl war aus reinem Silber, mit Gold überzogen und mit rotem Samt gepolstert. An der Oberseite der Stuhllehne waren sogar einige funkelnde Juwelen eingelassen. Es war der Stuhl eines Königs, zumindest aber der eines Mitglieds der königlichen Familie.

Midine ging zurück zur Mitte der Tafel, hin- und hergerissen. Wo sollte sie sich hinsetzen? Welcher war ihr rechtmäßiger Platz?

Keiner von beiden traf darauf wirklich zu. Die Stühle stellten zwei Extreme dar, zwei Welten, doch Midine pendelte irgendwo dazwischen. Natürlich war sie keine Königstochter, aber sie war auch nicht bettelarm. Sie vermisste einen normalen, soliden Holzstuhl an der Tafel.

Aber sie musste sich entscheiden, sich irgendwo hinsetzen. Nur wo? Nach alldem, was sie in dieser seltsamen Welt schon gesehen hatte, zweifelte sie nicht daran, dass eine falsche Entscheidung hier tödlich enden konnte. In ihrer Verzweiflung sah sie noch einmal auf den Zettel in ihrer Hand.

Nimm deinen rechtmäßigen Platz ein.

Wieder und wieder las sie sich die Nachricht durch, auf der Suche nach etwas, das ihr vielleicht helfen konnte. Da fiel ihr Blick auf die Unterschrift.

~M

Midine brauchte keine zwei Sekunden, um das Kürzel mit einer ihr nur zu gut bekannten Person in Verbindung zu bringen. Aber wenn Malicia wollte, dass sie sich hier auf einen der beiden Stühle setzte, warum sagte sie das nicht einfach, anstatt ihr einen so rätselhaften Zettel zu hinterlassen?

Aber Moment mal...

Midine hatte einen Einfall. Wenn diese Nachricht von Malicia stammte, würde sie vielleicht gleich wieder hier auftauchen. Es war zwar nur eine Vermutung, aber es war alles, was Midine als Anhaltspunkt nutzen konnte. Und falls Malicia wirklich hier auftauchen sollte, würde sie sich sicherlich nicht mit einem Stehplatz zufriedengeben. Sie würde sich also ebenfalls hinsetzen. Doch welchen Stuhl würde Malicia wohl als ihren rechtmäßigen Platz ansehen?

Die Frage war nicht schwer zu beantworten. Bescheidenheit hatte noch nie zu Malicias Stärken gehört.

Also ging Midine um den Tisch herum und ließ sich mit klopfendem Herzen auf dem Holzschemel nieder. Sobald sie saß, hob sie den Blick und sah sich nervös im Raum um. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt.

Einige Sekunden nun passierte gar nichts. Das beruhigte Midine jedoch nicht im Geringsten, im Gegenteil, es schürte ihre Anspannung nur noch mehr.

Plötzlich gab es einen lauten Knall. Die Eingangstür wurde fast aus ihren Angeln gerissen, als sie nach innen aufschwang und mit viel Schwung gegen die Wand prallte.

Midine gab einen erstickten Schrei von sich, rutschte von ihrem Schemel und versteckte sich zitternd hinter dem Tisch.

"Tadaa!", hörte sie eine Stimme rufen. "Freuet euch und frohlocket, meine zahlreichen Untertanen! Heute dürft ihr die Schönheit eurer geliebten Königin bewundern!"

Die Stimme schwieg eine Weile, als erwarte sie Applaus und Jubelrufe, dann fuhr sie in einem strengen Ton fort:

"Komme Er da unter dem Tisch hervor und sehe Er Ihre Königliche Majestät an, Wicht!"

Das war eindeutig Malicias Stimme, kein Zweifel, aber der Tonfall und die Wortwahl passten überhaupt nicht zu ihr. Misstrauisch spähte Midine über die Tischkante.

Die Person hinter der Tafel war tatsächlich Malicia. In ihre typische blutrote Kleidung gehüllt, stand sie da. Die Hände in die Hüften gestemmt funkelte sie Midine bedrohlich an.

Ihr Schwert steckte nach wie vor in ihrer Brust , aber sie trug eine edelsteinbesetzte Krone aus massivem Gold auf dem Kopf, die viel zu schwer für sie wirkte und ihr bereits über ein Auge gerutscht war.

Langsam richtete Midine sich auf. Sie hatte sich noch immer nicht daran gewöhnt, ihre Erzfeindin lebend zu sehen.

"Wage Er es ja nicht, Ihrer Majestät in die Augen zu sehen!", donnerte Malicia und Midine wich erschrocken zurück.

Da brach Malicia in schallendes Gelächter aus. Selbst ein sehr ungesund klingender Hustenanfall konnte sie nicht vom Weiterkichern abhalten. Sie lachte, während Blut aus ihrem Mund auf den Boden tropfte. Ihr ganzer Körper krümmte und bog sich, sie klopfte sich prustend auf die Schenkel. Die goldene Krone rutschte von ihrem Kopf und fiel mit einem dumpfen Klonk zu Boden.

Was ist denn jetzt los? Verwirrt betrachtete Midine ihre Erzfeindin, die sich gar nicht mehr einkriegte vor Lachen. Auf einmal verstand Midine all jene, die sie für geistesgestört gehalten hatten.

"Du hättest dein Gesicht sehen müssen", japste Malicia atemlos. "Dein Gesihihihihicht..." Alles Weitere ging in einem erneuten Lachanfall unter.

Mit säuerlicher Miene wartete Midine darauf, dass Malicias Lachen verstummte. Als es schließlich soweit war, hob sie die erstaunlich schwere Krone auf und hielt sie der Blonden schweigend hin.

"Danke", kicherte Malicia, nahm ihre Krone entgegen und wischte sich grinsend die letzten Lachtränen aus den Augenwinkeln. Dann begab sie sich endlich zu ihrem Stuhl, der, wie Midine vermutet hatte, der goldene Thron zu ihrer Rechten war.

Sich im Stillen für die richtige Antwort beglückwünschend, nahm Midine ihr gegenüber Platz.

"Eine gute Platzwahl", bemerkte Malicia, auf den Holzschemel deutend. "Passt zu dir."

Midine verkniff sich die bissige Antwort, die ihr auf der Zunge lag, und beschränkte sich auf einen finsteren Blick.

Malicia tat, als würde sie es nicht bemerken. "Du hast das Rätsel schneller gelöst, als ich dachte. Meinen Respekt. Es gab natürlich nur zwei Antwortmöglichkeiten, also hättest du auch einfach raten können. Aber das hast du natürlich nicht."

Es war eine Feststellung, aber es klang wie eine Frage, also schüttelte Midine wahrheitsgemäß den Kopf.

"Sehr gut." Malicia setzte sich die Krone wieder auf. "Und nun lasset Uns dieses köstliche Mahl verzehren, meine Liebe."

Sie schlug elegant die Beine übereinander, dann schüttelte sie schwungvoll ihre Serviette aus und legte sie sich auf den Schoß. Während sie sich eine bunte Mischung aus Kartoffelsalat, Apfelmus und Tortenstücken auf den Teller lud, rührte Midine nichts an.

Malicia verdrehte höchst undamenhaft die Augen, bevor sie wieder in ihre Rolle hineinfand.

"Verehrteste, nun esst doch etwas, Ihr müsst hungrig sein. Es ist alles da!" Mit der Tortengabel wies Malicia quer über den Tisch. "Feinste Ananas, frisch aus dem Süden importiert!" Sie lachte. "Kommt schon, ich werde Euch schon nicht vergiften! Erlesener Kaviar, von ausgewählten Spitzenköchen zubereitet! Fruchtige-"

"Gibt es Pfannkuchen?", unterbrach Midine ihre Ausführungen.

Malicia sah hinunter auf den Tisch, erst suchend, dann missbilligend.

"Ich fürchte nicht", sagte sie schließlich bedauernd. "Das tut mir wirklich ausgesprochen leid."

Ohne ein weiteres Wort nahm Midine einen der Hähnchenschenkel und begann vorsichtig daran zu knabbern. Erst zaghaft, aber dann, als sie spürte, wie ihr das Wasser im Mund zusammenlief und ihr Magen knurrend nach mehr verlangte, immer schneller. Und ehe sie sich's versah, hatte sie zwei ganze Hähnchenschenkel aufgegessen.

Wenn das Essen vergiftet war, dann bin ich jetzt sowieso so gut wie tot, dachte Midine überraschend zynisch. Dann kann ich auch gleich noch ein paar von diesen Köstlichkeiten probieren.

"Delikate Hähnchenschenkel", verkündete Malicia, die sie beobachtet hatte, grinsend. "Fein gewürzt und auf die Zehntelsekunde genau gebraten. Das Fleisch stammt ausschließlich aus Freilandhaltung und ist..."

Midine hörte gar nicht mehr zu. Heißhungrig vertilgte sie eine Scheibe Lachs nach der anderen, jede noch köstlicher garniert als die vorherige. Sie hätte Malicia gerne gefragt, woher sie das alles hatte, aber leider war ihr Mund zu voll für so etwas.

Nach dem Lachs kam eine Platte dampfendes Rührei mit Speck an die Reihe. Sogar der Speck, den Midine normalerweise nicht ausstehen konnte, war hier so raffiniert zubereitet, dass sie nicht Nein sagen konnte.

Und so arbeitete Midine sich langsam durch alle Speisen, die die Tafel zu bieten hatte. Hier etwas Kaviar, da etwas Kürbiscremesuppe, schließlich ein Bratapfel als kleines Dessert.... Sie hätte ewig so weitermachen können, nur leider trat bereits nach ihrem zweiten "kleinen Dessert" die Sättigung ein.

Midine hörte -wenn auch schweren Herzens- augenblicklich auf, zu essen, denn sie hatte wenig Lust, sich nachher gleich noch einmal übergeben zu müssen. Enttäuscht betrachtete Midine all die verlockend riechenden Speisen, die sie noch nicht probiert hatte. Dann riss sie sich zusammen und sah zu Malicia hinüber.

Diese spießte gerade geziert ein Stück Schweinebraten auf ihre Gabel, als sie merkte, dass sie beobachtet wurde.

"Was kann meine bescheidene Majestät für Euch tun, meine Liebe? Gibt es Beschwerden eurerseits?"

"Nein, gar nicht", erwiderte Midine rasch. "Im Gegenteil, es war vorzüglich."

"Das erfreut die königlichen Ohren Ihrer Majestät zutiefst."

"Aber wo habt Ihr... hast du diese ganzen Sachen her?" Jetzt fange ich auch noch an zu reden wie sie, schalt Midine sich innerlich.

Malicia legte einen Finger an die Lippen. "Scht. Es bedrückt Ihre Majestät sehr, Euch das auf diese Weise sagen zu müssen, doch es steht mir nicht zu, Euch das zu verraten. Es ist eine Art Berufsgeheimnis, wenn man das so sagen darf. Äußerst vertraulich und, äh... geheim."

Das hätte Midine sich eigentlich schon denken können. Sie nickte. "Warum isst du eigentlich mit, Malicia? Ich dachte, man braucht nichts mehr zu essen, wenn man tot ist."

"Das braucht man auch nicht. Ich esse diese Speisen allein des deliziösen Geschmackes wegen. Aber selbstverständlicherweise kommt ein Großteil davon nicht mehr in meinem Magen an, so durchlöchert, wie ich bin..."

Malicia grinste, aber Midine war danach der Appetit gründlich vergangen.

Nachdem sie ihren Schweinebraten aufgegessen hatte, tupfte Malicia sich mit ihrer Serviette höchst vornehm den Mund ab, faltete sie zusammen und legte sie fein säuberlich auf ihren Teller.

"Willst du mal was Tolles sehen?", wollte sie wissen, nun wieder ganz die Alte.

"Moment noch", sagte Midine. "Ich will zuerst noch etwas klarstellen."

Malicia zuckte mit den Schultern. "Fang an."

"Ich hasse Rätsel."

Malicia schien nicht im Geringsten überrascht zu sein. "Gewöhn dich dran."

Midine hätte auf solch eine Antwort gefasst sein müssen, aber dennoch spürte sie, wie der Zorn in ihr hochkochte.

Ihre Erzfeindin stand auf und legte die Krone neben ihren Teller. "Willst du jetzt was Tolles sehen?", fragte sie, fast schon hoffnungsvoll klingend.

Missmutig zuckte Midine die Achseln.

"Ich sehe schon, du hast dich wieder etwas erholt", kam es amüsiert von Malicia. "Du bist wieder genauso sturköpfig und arrogant wie früher."

Midine fuhr hoch. "Wer von uns beiden war denn bitte sturköpfig?", rief sie wütend.

Die Blonde war inzwischen an das ehemalige Taufbecken getreten und tauchte ihre Hand in das Wasser. "Reg dich doch nicht gleich so auf", kicherte sie. "Komm lieber her und sieh dir das an."

Widerwillig erhob die Eine sich und schlurfte betont genervt zu Malicia hinüber, die mittlerweile mit ihrer Hand im Wasser herumrührte.

"Was soll das denn jetzt-", fing Midine an, wurde jedoch sofort unterbrochen.

"Kssst. Ich muss mich konzentrieren."

Also wartete Midine, gelangweilt zu den verblassten Malereien an der Decke hinaufschauend.

"Ich hab's!", rief Malicia und zog ihre Hand ruckartig aus dem Wasser.

Ärgerlich fuhr die Eine herum. Zuerst wollte sie sich bei Malicia beschweren, weil ihr rechter Ärmel nun mit kaltem Wasser bespritzt war, aber dann fiel ihr Blick auf das Becken und sie stockte.

Auf der Wasseroberfläche war ihr Gesicht zu sehen.

An sich wäre das nichts Besonderes gewesen, aber etwas daran stimmte nicht.

Midine kam nicht gleich darauf, was es war, aber dann schoss ihr blitzartig ein Gedanke durch den Kopf.

Mein Scheitel. Hatte ich den nicht immer rechts?

Sie war sich eigentlich ziemlich sicher, sich heute Morgen nicht anders frisiert zu haben als sonst. Trotzdem fuhr sie sich einmal durch die Haare, nur für alle Fälle. Nein, ihr Scheitel war rechts, so wie immer.

Nun hatte die Midine auf dem Wasser aber keinen Linksscheitel, wie ihn ein normales Spiegelbild gehabt hätte, sondern auch ihr Scheitel war rechts.

Außerdem hatte die Wassermidine ihre Augen fest geschlossen, und Midine war sehr sicher, dass das bei ihr gerade nicht der Fall war.

Ihr entfuhr ein Keuchen. Was war das für ein Zauber?

"Was ist das?", stieß sie hervor, ihr vermeintlichen Spiegelbild entsetzt anstarrend.

"Du hast also gemerkt, dass es kein normales Spiegelbild ist, hm? Brav."

Wer von uns beiden war noch einmal arrogant?, schoss es Midine unwillkürlich durch den Kopf.

"Warte, ich gehe mal etwas höher."

Zu Midines Überraschung entfernte sich die Wassermidine tatsächlich ein wenig. Nun war ihr ganzer Oberkörper bis zum Bauch zu sehen.

Sie lag in einem weißen, bequem aussehenden Bett, unter dem Kopf mehrere Kissen. Ganz davon abgesehen, dass das nicht mein Bett ist, was ist...

" Oh Gott. Bin das wirklich... ich?", hauchte Midine, die sich so weit vorgebeugt hatte, dass ihre Nase schon beinahe die Wasseroberfläche berührte.

Brust und Bauch der Wassermidine waren mit einem großen, blutbefleckten Tuch verdeckt, unter dem Hunderte von Schläuchen hervorführten und außerhalb des kleinen Blickfelds verschwanden. Ihre rechte Hand war von einem dicken weißen Verband umhüllt.

Sie schien zu schlafen.

Plötzlich durchlief ein krampfartiges Zucken ihren Körper. Ihre Wirbelsäule bäumte sich auf, das Tuch rutschte von ihrer Brust herunter und enthüllte den gigantischen, fransigen Schnitt in ihrem Oberkörper, in dem die Schläuche verschwanden.

Wach auf! Alles in Midine schrie danach, flehte fast. Ohne dass sie überhaupt wusste, warum. Wach auf! Bitte!

Die Midine im Wasser riss den Mund auf, das Gesicht verzerrt wie von einem quälenden Schmerz. Ihr stummer Schrei hallte durch Midines Kopf, so laut, wie es kein Geräusch je vermocht hätte.

Doch ihre Augen blieben geschlossen.

Der Anfall war so schnell vorüber, wie er angefangen hatte. Die Midine im Wasser sank wieder in ihre Kissen zurück. Sofort eilten ein Dutzend Ärzte in weißen Kitteln in das Blickfeld und verdeckten die gewaltige Wunde wieder mit dem Tuch.

Nein! Midine wollte zu ihr, ihr irgendwie helfen. Sie streckte die Hand nach ihr aus, stieß aber nur auf das eiskalte Wasser im Becken. Bittere Enttäuschung ballte sich in ihrer Kehle zusammen.

"Warte, es wird noch besser", hörte sie Malicias Stimme, wie von weit weg.

Das Blickfeld vergrößerte sich erneut, bis die andere Midine bis zu den Hüften zu sehen war.

Midine wäre fast das Herz stehengeblieben.

Da war noch jemand, neben der Midine im Krankenbett. Jemand kniete dort, den Oberkörper halb auf die weiße Decke des Bettes gelegt und mit bebenden Schultern Midines linke Hand haltend.

Ett.

Midines Augen weiteten sich. Was machte ihre Freundin dort? Weinte sie etwa? Sie weinte doch nie. Und wer war dann die Person in dem Krankenbett, die genau so aussah wie sie selbst?

Und dann begriff sie es.

Ett weint. Sie weint um mich. Was ist passiert?

"W-was ist das, Malicia?", fragte sie. Ihre Stimme zitterte.

"Rate."

"Keine Ahnung! Was weiß ich denn?" Am liebsten hätte Midine geheult.

Malicia musterte sie eine Weile lang mit schiefgelegtem Kopf, dann ließ sie sich endlich zu einer Antwort herab.

"Na schön, aber nur, weil ich dich so gerne mag." Sie holte tief Luft. "Ich könnte dich jetzt anlügen und sagen, du brauchst dir keine Sorgen zu machen, das ist nichts von Bedeutung. Es stammt noch aus der Nachkriegszeit, als du im Krankenhaus warst und um dein Leben gekämpft hast, also ist es längst vorbei." Sie machte eine kurze Pause, in der sie Midine bedeutungsvoll ansah. "Aber natürlich würde ich meine teure Erzfeindin niemals so dreist anlügen. Deshalb werde ich dir stattdessen sagen, dass das hier die exakte Gegenwart ist."

"D-die Gegenwart?"

"Jep."

"Aber wie kann das sein, verdammt?" Midine schrie fast.

Malicia seufzte. "Ich habe dir doch eben erst gesagt, dass du dich hier in einer anderen Realität befindest als gewohnt."

"A-also passiert das da alles in meiner gewohnten Realität?"

"Jep."

Midine schluckte. Während sie versuchte, nicht auf der Stelle in Tränen auszubrechen, bemühte sie sich, das alles zu verdauen.

Dummerweise ließ Malicia ihr gar keine Zeit dazu.

"Während du in diese Realität gereist bist, ist die andere Midine drüben brav ins Koma gefallen, aus dem einfachen Grund, dass man nicht bewusst in mehreren Realitäten gleichzeitig leben kann. Das würde ja auch jeglichen Rahmen sprengen. Und dein Bewusstsein noch dazu."

Midine warf ihr einen gequälten Blick zu, aber nonverbale Konversation schien Malicia nicht zu liegen.

"Natürlich hat sich deine kleine Freundin sofort Sorgen gemacht, als sie dich so leblos daliegen sah. Sie haben dich also ins Hospital verfrachtet und versuchen seit etwa drei Stunden, dich aufzuwecken. Aber natürlich wird das nicht funktionieren, solange du noch hier bist."

Malicia hielt kurz inne und genoss den Ausdruck des Erkennens, der sich auf Midines Gesicht ausbreitete.

"So leid es mir auch tut, aber du bist hier so lange gefangen, bis du entweder stirbst oder aber das Spiel gewinnst und wieder in deine Realität zurückkehren kannst. Ganz einfach, oder?" Malicia grinste.

Wie betäubt starrte die Eine in das Becken, die Hände um den steinernen Rand gekrallt. Sie wollte das alles nicht glauben, wollte Malicia packen und sie schütteln, bis sie die Wahrheit erzählte, aber sie konnte nicht. In ihrer Schockstarre konnte sie sich keinen Zentimeter bewegen.

"Ach, und weißt du, was das Beste ist?" Schon wieder klang ihre Erzfeindin ekelerregend belustigt. "Sie denken tatsächlich, du wärst wegen deiner Kriegsverletzung ins Koma gefallen! Ist das zu glauben?" Sie fing an zu kichern. "Sie wühlen in deinem Brustkorb herum, pumpen dich mit Medikamenten voll und merken gar nicht, dass sie damit alles nur noch schlimmer machen!" Diese Vorstellung schien sie köstlich zu amüsieren, denn ihr Kichern wurde heftiger.

Ein Geräusch schallte durch den Raum, klatschend. Malicias Kichern verstummte abrupt.

"Du-du bist ein Monster!", schluchzte Midine und ließ ihre Hand wieder sinken. "Hast du überhaupt ein Herz?"

"Natürlich habe ich das!", giftete Malicia zurück, nun sichtlich verärgert. "Aber momentan ist es aufgespießt wie ein Brathähnchen, und das ist dein Verdienst!"

In einer anderen Situation hätte Midine darüber herzhaft lachen können. In einer anderen Situation, in einem anderen Leben. Sie lehnte sich an die nächste Wand und ließ sich daran hinabgleiten, bis sie auf dem Boden saß. Tränen strömten unaufhörlich über ihre Wangen, während ihr Herz sich anfühlte, als wäre jemand drauf und dran, es in zwei Teile zu zerreißen.

Das Spiel gewinnen? Ich werde nicht gewinnen. Ich werde nie wieder nach Hause kommen. Ich werde sie nie wiedersehen.

Midine bedeckte ihre Augen mit einem ihrer Ärmel. Schniefend wischte sie sich die Tränen ab. So, dachte sie, um Beherrschung ringend. Ich stehe jetzt auf der Stelle auf und mache mich auf den Weg. Wenn ich schon sterben muss, dann wenigstens mit Ehre, aber ich werde hier nicht sterben!

Aber wem wollte sie etwas vormachen? Midines Augen füllten sich mit neuen Tränen. Sie wusste genau, wie wenig wahrscheinlich das war.

"Ich verstehe es nicht."

Malicias Stimme riss Midine aus ihrer Trauer. Die Eine blinzelte sich die Tränen aus den Augen und sah hoch.

Über ihr stand Malicia, sich immer noch ihre Wange haltend und mit einem seltsamen Gesichtsausdruck.

"W-was meinst du?"

"Weinen. Ich verstehe nicht, warum man das macht." Malicia hockte sich hin, bis ihr Gesicht mit dem von Midine auf einer Höhe war. Mit zusammengekniffenen Augen starrte sie in Midines verheultes Gesicht, als hoffe sie, dort eine Antwort auf ihre Frage zu finden.

"D-du hast ja auch k-kein Herz." Trotzig zog Midine die Nase hoch.

Malicias Augen verengten sich, doch sie sagte nichts. Wortlos stand sie wieder auf und wandte sich ab.

"Monster."

Midine hatte es eigentlich gar nicht sagen wollen oder zumindest leiser, aber nun war es ihr herausgerutscht.

Malicia fuhr herum. "Halt den Mund!", schrie sie.

Midine zuckte erschrocken zusammen. So eine Reaktion hatte sie nicht erwartet.

"Du denkst also, Weinen ist nützlich?", fuhr Malicia etwas leiser fort. "Gut, dann verrate ich dir etwas: Ist es nicht!" In ihrer Stimme lag etwas Bedrohliches, etwas Lauerndes. Midine wollte instinktiv zurückweichen, aber sie saß ja bereits mit dem Rücken zur Wand.

"Tränen sind ein reiner Ausdruck der Schwäche, sie bewirken rein gar nichts. Sie heilen keine Krankheiten, sie verhindern keine Kriege, sie erwecken keine Toten wieder zum Leben. Und dich werden sie auch nicht wieder zurückbringen!" Mit ausgestrecktem Finger zeigte Malicia anklagend auf Midine.

Ihre Maske aus Gleichgültigkeit und Belustigung war kurz abgefallen und dahinter war etwas zu sehen, was sie noch nie zuvor auf Malicias Gesicht gesehen hatte.

Schmerz. Kann das sein? Ungläubig blinzelte Midine.

Was auch immer es war, gleich darauf war es wieder verschwunden und Malicia grinste.

"Unsere Zusammenarbeit endet an dieser Stelle leider vorerst", verkündete sie. "Du wirst deinen Weg von nun an erst einmal alleine fortsetzen müssen. Aber wenn ich dir einen Rat geben darf: du solltest vorher unbedingt noch etwas frische Luft schnappen." Sie zwinkerte Midine zu und winkte zum Abschied, bevor sie sich genau so wie auch letztes Mal in Luft auflöste.

Midine blieb allein zurück.

Diesmal schreie ich nicht, darauf kannst du dich verlassen!, dachte sie, als könnte ihre Erzfeindin es hören.

Im Tempel der Stille

Zwischen den himmelhohen Säulen des Tempels herrschte beinahe Stille, nur das Trommeln von Fingern auf einer Tischplatte war zu hören. Das monotone Geräusch hallte die Gänge entlang, immer leiser werdend.

Und dann auf einmal war wieder eine Stimme zu hören.

"Sag mal, Gut, weißt du, was ich glaube?", fragte das Böse nachdenklich und stützte seinen Kopf in die Hände.

Das Gute sah interessiert von seinen Fingern auf. "Nein." Es zuckte mit den Schultern. "Sag es mir."

"Wenn es kein Böse gäbe, wäre niemand in der Lage, das Gute zu erkennen."

"Stimmt." Das Gute nickte.

"Und ein Bösewicht macht eine Geschichte erst spannend."

"Mhm." Wieder ein Nicken.

"Das heißt, du brauchst mich. Genau so, wie ich dich brauche."

"Du hast Recht", gab das Gute zu.

"Ich habe immer Recht." Das Böse grinste, was wohl jeden anderen dazu gebracht hätte, kreischend sein Heil in der Flucht zu suchen. Jeden anderen, doch nicht das Gute.

"Dann sind wir wohl dazu bestimmt, das hier ewig zu machen...", seufzte eben jenes.

"Das sind wir wohl", stimmte das Böse zu.

Und wieder verfielen die beiden in Schweigen.

Das Gute fing an, auf den Tisch zu trommeln.

Das Buch der Wahrheit

Ein paar Sekunden noch blieb die Eine mit verschränkten Armen sitzen, ehe sie ihren Ärger herunterschluckte und sich zum Aufstehen zwang.

In gewisser Weise hatte Malicia ja Recht. Hier zu sitzen und zu weinen, brachte sie auch nicht wieder nach Hause. Was sie brauchte, war ein wenig Optimismus. Auch wenn das noch nie zu ihren Stärken gehört hatte.

Das Wasser in dem Taufbecken war wieder klar und zeigte kein Bild mehr, dennoch mied Midine es, in seine Richtung zu sehen. Sie trat an den Tisch und blickte grübelnd auf die Reste ihrer Mahlzeit hinunter. Was nun?

Die Eine fasste einen Plan. Malicia hatte gesagt, ihre Zusammenarbeit wäre beendet, also würde sie wohl eine ganze Weile lang allein zurechtkommen müssen. Vielleicht konnte sie etwas von den Resten einpacken und mitnehmen? Dann müsste sie sich zumindest um die Nahrung keine Sorgen mehr machen.

Aber einpacken worin? Midine hatte keine Tasche dabei und auch hier im Raum gab es nichts, worin man Lebensmittel vernünftig aufbewahren konnte. Enttäuscht verwarf Midine die Idee wieder. Sie würde wohl oder übel etwas auf Vorrat essen müssen und darauf hoffen, dass es hier noch irgendwo etwas Essbares gab.

Und diesmal setze ich mich zum Essen auf den anderen Stuhl, beschloss sie im Stillen. Ich will nie wieder auf so einem wackligen Schemel sitzen müssen.

Gerade, als sie sich auf dem Thron niederlassen wollte, fiel ihr auf, wie düster es in dem Raum geworden war. Die Kerzen in dem Kronleuchter und dem Leuchter auf dem Tisch waren alle heruntergebrannt, als wäre inzwischen sehr viel Zeit vergangen.

Mit einem Schlag fühlte Midine sich wieder verfolgt.

Unbehaglich sah sich um, konnte in dem schummrigen Licht kaum noch Konturen auszumachen. Mit jeder Sekunde schien es dunkler im Raum zu werden und Midines Nervosität stieg. Hatte es gerade dort hinter ihr geraschelt oder war das nur Einbildung gewesen?

Mit viel Mühe riss Midine sich zusammen und tastete sich mit ausgestreckten Armen hinüber zu einem der Fenster. Dabei ging ihr Malicias Rat wieder durch den Kopf.

Frische Luft schnappen? Die Idee ist gar nicht mal so schlecht.

Midine tastete sich durch die staubigen Falten des Vorhangs, bis sie die Kordel fand, die ihn geschlossen hielt. Sie schloss ihre Hand darum und zog.

Grelles Tageslicht flutete von draußen herein, sodass Midine geblendet die Augen schließen musste. Erst, als sie sich nach einigen Sekunden wieder traute, zu blinzeln, erkannte sie, was da auf der Fensterscheibe geschrieben stand.
 

Finde das Buch der Wahrheit.
 

Die Schrift war ungelenk und dunkelrot gefärbt, genau so wie der verwischte blutige Handabdruck darunter.

Midine ließ die Kordel fallen und wich einige Schritte zurück. Ihr Herz schlug rasend schnell, viel zu schnell. Und während sie noch versuchte, sich auf dieses Ereignis irgendwie einen Reim zu machen, brach um sie herum das Chaos aus.

Wie von selbst fielen die massiven Bücherregale krachend um und wirbelten Unmengen von Staub auf. Die Bücher rutschten heraus und fielen mit flatternden Seiten zu Boden. Als sie hinter sich ein bedrohliches Knarren hörte, drehte Midine sich um- und konnte sich gerade noch mit einem beherzten Sprung vor dem Erschlagenwerden retten.

Direkt neben ihren Füßen landete krachend die Regalwand und zersplitterte unter der Wucht des Aufpralls in mehrere Teile. Staub stob auf und tanzte in den Lichtstrahlen, die von draußen hereinfielen.

Midine versuchte, zur Beruhigung ein paar Mal tief durchatmen, aber der Staub kroch sofort in ihre Lunge und ließ sie kräftig husten.

Ich hätte gerade sterben können, dachte sie. Erst jetzt stieg die Panik in ihr hoch.

Aber dieses Gebäude war schon sehr alt. Wer wusste schon, wie stabil die Inneneinrichtung hier noch war? Vermutlich war es einfach Zufall gewesen und Midine hatte nur das Pech gehabt, zum falschen Zeitpunkt hier gewesen zu sein. Das erklärte zwar nicht, was diese seltsame Botschaft am Fenster sollte, aber wenn sie so darüber nachdachte, wollte sie das auch gar nicht wissen.

Midine machte einen Schritt nach vorn. Sie würde jetzt nach draußen gehen und diese andere Realität erkunden. Nichts würde sie davon abhalten können, nicht einmal-

"Aaah!"

Die Eine erstarrte. War das gerade... ein Quieken gewesen? Unter ihrem Fuß?

Eigentlich wäre sie viel lieber auf der Stelle losgerannt und nach draußen, aber ihre Neugier war größer als ihre Furcht und so wagte sie einen vorsichtigen Blick nach unten.

Doch da war nichts. Nur ein Buch.

Gerade wollte Midine sich einreden, dass das bestimmt nur Einbildung gewesen sei, da hörte sie die Stimme erneut:

"Hey, könntest du deinen Fuß von mir herunternehmen? Das tut weh!"

Einen Moment lang stand Midine einfach nur da und starrte auf das Buch unter ihrem Fuß, bis ihr Gehirn die Informationen verarbeitet hatte.

Dann sprang sie erschrocken kreischend rückwärts, stolperte über ein Regalbrett, fiel mit rudernden Armen nach hinten und landete in einem Bücherstapel.

"D-du kannst sprechen!", stammelte sie.

"Da ist sie aber nicht die Einzige." In dem Bücherstapel rührte sich etwas, dann stakste ein Lexikon auf spindeldürren Beinen zwischen Midines Beinen hervor und sah sie wichtigtuerisch an.

Die Eine gab nur ein ersticktes Quietschen von sich.

Der Bücherstapel begann zu wackeln und in sich zusammenzustürzen, einzelne Bücher rutschten zu Boden. Immer mehr Bücher wühlten sich unter Midine hervor und gesellten sich auf ähnliche Weise wie das Lexikon zu ihren Artgenossen. Midine konnte nichts weiter tun, als fassungslos zuzusehen.

Schließlich stand eine ganze Armee von Büchern tuschelnd und murmelnd in einem Halbkreis um die Eine herum. Der Bücherstapel war weg, sie saß nun auf dem nackten Boden.

Ist doch praktisch, dass sie leben. Das macht es einfacher, herausfinden, welches das 'Buch der Wahrheit' ist. Ein Teil von Midines Gehirn dachte bereits in höheren Dimensionen, während der andere Teil sich noch weigerte, zu glauben, dass diese Bücher hier lebendig waren.

Da plötzlich erklang ein Geräusch. Hart und kalt durchschnitt es die Luft.

Dann erklang es wieder. Und wieder.

Ein... Ticken?

Tick. Tack.

Suchend sah Midine sich um, konnte aber keine Uhr entdecken, die so ein Geräusch hätte hervorbringen können. Da war überhaupt keine Uhr.

Woher kommt dann-

Midine erstarrte.

Eine tickende Uhr. Zeit. Ein Zeitlimit. Meine Zeit läuft ab.

Ein Rätsel mit Zeitlimit? Midine wurde eiskalt.

Die Buchstaben am Fenster tauchten den Raum in ein blutrotes Licht. Sie schienen Midine auszulachen, zu verspotten.

Okay, okay. Alles ist gut. Stell ihnen eine Frage. Irgendeine. Dann wirst du schon herausfinden, welches das Buch der Wahrheit ist. Komm schon, du schaffst das!

Midine räusperte sich vernehmlich und wartete dann ungeduldig, bis die Bücher einigermaßen still waren.

"Also: Wer von euch ist das Buch der Wahrheit?"

Sofort brach ein Sturm der Entrüstung aus.

"Iiich!"

"Ich natürlich!"

"Nein, ich!"

"Ich bin das einzig wahre Buch der Wahrheit!"

"Du? Dass ich nicht lache! Du lügst doch, sobald du den Mund aufmachst!"

"Na, das sagt ja der Richtige!"

So fingen die Bücher an, miteinander zu streiten. Erst noch in erträglicher Lautstärke wurden ihre Anfeindungen immer lauter, bis sie sich nur noch gegenseitig anschrien.

Innerlich schlug Midine sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. Natürlich, bei so einer Frage antworten sie alle mit der gleichen Antwort. So finde ich das Buch der Wahrheit nie.

Tick. Tack.

Langsam wurde sie nervös, denn das Ticken der unsichtbaren Uhr schien immer lauter und immer bedrohlicher zu werden. Es schien sich auf sie zuzubewegen.

Gut. Gut, ich muss eine Frage finden, bei der ich leicht herausfinden kann, wer lügt und wer die Wahrheit sagt. Komm schon, Midine, du kannst das!

Aber ihr Gehirn schien wie festgefahren. Wie ein Tiger im Käfig lief sie im Zimmer auf und ab, während sich in ihrem Kopf einige wenig hilfreiche Fragen immer wieder im Kreis drehten.

Tick. Tack.

Das Ticken wurde lauter.

Verzweifelt presste sie sich die Finger gegen die Schläfen, raufte sich die Haare- da hatte sie es. Aus tiefster Seele erleichtert riss sie die Augen auf und rief:

"Welche Haarfarbe habe ich?"

Ihre Taktik ging auf. Die Bücher verstummten abrupt.

Eine Zeit lang herrschte Stille unter ihnen, dann meldete sich die näselnde Stimme eines Lexikons:

"Blond."

"Nein, Schwarz, das erkennt doch jeder", widersprach ein dicker Wälzer mit gewichtiger Stimme.

"Quatsch, Rot!", quäkte eine dünne Novelle dazwischen.

Auf einmal brach ein erbitterter Streit aus, wer von den dreien nun Recht habe. Die Bücher kreischten und keiften sich gegenseitig an, einige wurden sogar gewalttätig und fielen übereinander her. Der Lärm übertönte alles, auch das Ticken der nicht vorhandenen Uhr.

Midine hockte sich auf den Boden, den Kopf in den Händen vergraben, während um sie herum das Chaos tobte. Ihr war das alles zuviel: Sprechende Bücher, streitende Bücher, Bücher, die logen und welche, die die Wahrheit sagten... Ihr drehte sich der Kopf von alldem und und vermutlich wäre sie an Ort und Stelle wahnsinnig geworden, hätte sie nicht in diesem Moment eine weitere Stimme gehört, dünn, aber klar:

"Braun."

Alarmiert sprang Midine auf.

"Wo bist-", fing sie an, stockte dann aber, weil sie sich daran erinnerte, dass dann wieder alle Bücher antworten würden. Stattdessen lief sie, ohne weiter zu überlegen, in die Richtung, aus der die Stimme gekommen war und fand sich vor drei noch stehenden Bücherregalen wieder.

Offenbar waren sie eben verschont geblieben. Gefährlich schief standen sie da, nach vorn gebeugt, als wollten sie sich gleich auf Midine stürzen. Alle Regalbretter waren bereits leer, alle Bücher herausgefallen.

Nein. Nicht alle.

Dort oben, auf dem obersten Brett des rechten Regals lag ein dicker Wälzer, in schwarzes Leder gebunden und teilweise noch von Staub bedeckt. Natürlich gerade so weit oben, dass Midine es beim besten Willen nicht erreichen konnte.

Sie hüpfte ein paar Mal an dem Regal auf und ab, verzweifelt darum bemüht, das oberste Brett zu erreichen, aber es blieb außerhalb ihrer Reichweite. Genausogut hätte es in zehn Metern Höhe schweben können.

Zum ersten Mal in ihrem Leben bereute Midine es, keine hochhackigen Schuhe zu besitzen. Nervös wippte sie auf ihren Sohlen auf und ab, das schwarze Buch hypnotisch anstarrend, als wollte sie es mittels Gedankenkraft zur Erde befördern.

Tick. Tack.

Es musste doch einen anderen Weg geben...

Das ist es!

Euphorisch drehte Midine sich um und rannte zu der festlich gedeckten Tafel hinüber, wobei sie sorgsam darauf achtete, auf keins der immer noch miteinander streitenden Bücher zu treten.

Ich habe ja sogar noch eine Auswahl, dachte sie frohlockend, lief dann kurzerhand zum Thron und stemmte sich mit aller Kraft dagegen.

Aber der königliche Stuhl bewegte sich keinen Zentimeter.

Midine versuchte es noch einmal, stärker diesmal. Immer noch nichts.

Nun gut, damit war zu rechnen gewesen. Midine war noch nie die Stärkste gewesen und vermutlich war so ein Thron aus reinem Silber und Gold sehr schwer. Damit blieb also nur noch die zweite Option übrig: der Holzschemel. Das hatte Midine eigentlich lieber verhindern wollen, ihr war nicht wohl bei der Idee, sich auf einen derart wackeligen Stuhl zu stellen. Aber wenn sie keine andere Wahl hatte...

Tick. Tack.

Sie schluckte einmal, dann stellte sie sich mutig vor den Schemel und hob ihn mit beiden Händen an.

Das heißt, das wollte sie. Doch der Schemel war wie am Boden festgeschweißt und rührte sich nicht. Midine verlor das Gleichgewicht und wäre fast vornübergefallen. Nachdem sie sich wieder gefangen hatte, starrte sie den Stuhl ungläubig an.

Das verstehe ich nicht.

Sie wagte einen weiteren Versuch, mit demselben Ergebnis. Dabei war sie sich sehr sicher, dass der Schemel eben noch fröhlich vor sich hin gewackelt hatte und sich leicht hatte zurückschieben lassen.

Aber natürlich müssen sie es mir wieder so schwierig wie möglich machen.

Am liebsten hätte Midine an dieser Stelle vor lauter Frust gegen den dämlichen Holzschemel getreten, um ihrer Wut auf diese dubiosen "sie" Ausdruck zu verleihen.

Tick. Tack.

Doch das hätte nur Zeit gekostet und Midine hatte das Gefühl, bereits sehr spät dran zu sein.

Sie fuhr herum und lief wieder zurück zu den Regalen, wobei sie erneut gegen die aufsteigende Panik ankämpfen musste.

Was mache ich jetzt, was mache ich jetzt... ?

Es gab da eine weitere Möglichkeit, aber sie war riskant, vielleicht sogar lebensgefährlich.

Tick. Tack.

Aber andererseits wollte Midine nicht wissen, was nach dem Ticken kam. Sie ergriff das nächsthöhere Regalbrett.

Ganz ruhig. Kein Grund, hysterisch zu werden. Es ist alles genau wie früher, da hast du doch auch immer versucht, dein Spielzeugregal hochzuklettern.

Stimmt. Aber das war auch ein wenig kleiner und ein wenig freundlicher gewesen mit seinen bunt gestrichenen Holzbrettern.

Midine zwang sich dazu, den Gedanken daran nicht weiterzudenken, da auch diese Geschichte letztlich im Krankenhaus geendet hatte. Und das trug nun nicht gerade dazu bei, ihre Stimmung zu verbessern.

Vorsichtig trat sie auf das erste Brett. Schon jetzt musste sie höchste Körperspannung aufbringen, um nicht sofort herunterzufallen. Sofort schob sie ihre Füße noch ein Brett höher und hangelte sich entsprechend vorwärts, um ihrem Körper gar keine Gelegenheit zu geben, das Gleichgewicht zu verlieren.

Tick. Tack.

So ging das eine quälend lange Weile. Midine wusste nicht, wie hoch sie bereits über dem Boden war, weil sie sich entschlossen hatte, auf gar keinen Fall nach unten zu sehen. Zum Einen, weil sie dann sicher endgültig das Gleichgewicht verlieren würde und zum Anderen, weil sich nach unten sehen in dieser Welt noch nie als eine gute Idee erwiesen hatte. Alles, was zählte, war, dass sie das Buch bald erreichen würde.

Doch so einfach war das nicht. Schweißtropfen liefen ihre Stirn hinab und fingen zunehmend an, sie in ihrer Konzentration zu stören. Die Regalbretter wurden immer rutschiger unter ihren schwitzigen Fingern und ihre Bauchmuskeln schmerzten, als hätte sie einen heftigen Lachanfall erlitten. Aber das Gegenteil war der Fall, Midine war im Moment überhaupt nicht zum Lachen zumute. Sie biss die Zähne zusammen und schob sich weiter Stück für Stück das Regal hinauf.

Tick. Tack.

Da. Da endlich war es, das ersehnte Buch der Wahrheit. Es lag nur noch ein Regalbrett entfernt.

Mühsam löste Midine den Klammergriff ihrer rechten Hand um das Regalbrett und streckte sie nach dem Buch aus. Tastete blindlings und zunehmend panisch auf dem Brett herum. Ihre Finger stießen auf das Buch, ertasteten den Einband- und rutschten ab.

Midine entfuhr ein halb frustriertes, halb zorniges Knurren, zu mehr Worten war sie gerade nicht fähig.

Verzweifelt klammerte sie sich mit der linken Hand an dem Regalbrett fest, auch wenn sie wusste, dass das nichts bringen würde. Ihre Finger würden trotzdem abrutschen. Lange würde sie sich nicht mehr mit nur einer Hand halten können.

Beruhige dich, verdammt! Du schaffst das!

Midine atmete einmal tief ein und aus, dann erhob sie den rechten Arm erneut. Versuchte, den Einband des Buches mit ihren zittrigen Fingern zu ergreifen. Mit zwischen die Lippen geklemmter Zunge schaffte sie es irgendwie, das Buch aus dem Regal herauszuziehen und ihre Finger darum zu schließen.

Dann verlor sie endgültig den Halt und fiel hintenüber.

Noch im Fallen behielt sie einen erstaunlich klaren Kopf, als hätte ihr Gehirn noch überhaupt nicht begriffen, dass sie abgerutscht war. Was ihr als Erstes auffiel auf ihrem Weg nach unten, war:

Es ist so still hier. Haben sie etwa aufgehört, sich zu streiten?

Tatsächlich, es war so ruhig, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Midine wunderte sich noch darüber, als sie selbst auf dem Boden aufprallte.

Parkett krachte und Staub wirbelte auf. Ein jäher Schmerz schoss Midines Rücken hinauf. Sie wollte schreien, bekam aber nur ein heiseres Keuchen heraus. Alle Luft war bei ihrem Aufprall aus ihren Lungen gewichen.

So lag sie da, panisch nach Luft schnappend wie ein Fisch auf dem Trockenen. Ihre Augen tränten und nur undeutlich bekam sie mit, wie die Bücher sich raschelnd um sie herum versammelten. Schweigend starrten sie die Eine an.

Bis eins von ihnen das Wort ergriff.

"Sie hat es gewählt", stellte das Lexikon fest, beinahe angewidert klingend.

"Ja, es !", kreischte ein Wörterbuch aus der Mitte der Menge. "Wir hassen es !"

Ohne Vorwarnung begannen die Bücher zu toben.

"Sie hätte mich wählen sollen!", heulte die Novelle wie von Sinnen.

"Nein, MICH!"

"Michmichmichmiiiiiich!" Die Bücher kreischten alle durcheinander.

"Ruhe!", donnerte das Lexikon. Sofort verstummte die Menge.

"Uns gegenseitig zu attackieren, bringt uns keinen Vorteil. Stattdessen sollten wir all unsere Anstrengungen auf unseren gemeinsamen Feind richten!"

Es erntete zustimmendes Geheul von allen Seiten.

Midine hatte von all dem nichts mitbekommen. Noch immer dröhnte ihr Herzschlag in ihren Ohren. Als sie wieder einigermaßen Luft bekam, blinzelte sie sich die Tränen aus den Augen und sah sich um.

Die Art, wie die Bücher sie anstarrten -oder vielmehr das, was sie immer noch fest umklammert hielt- machte ihr Angst. Sofort setzte sie sich auf und drückte das Buch der Wahrheit an ihre Brust.

Das Lexikon drängelte sich nach vorne , erkletterte den Bücherstapel, zu dem sich ein paar seiner Artgenossen sofort aufschichteten und baute sich vor ihr auf.

"Gib uns das Buch.", sagte es und betonte dabei jedes Wort so sorgfältig, dass es fast bedrohlich klang.

"Warum sollte ich?" Midine hielt es für eine gute Idee, sich aufzurichten, um diesen Büchern zu zeigen, wer hier der Stärkere war. Das Buch hielt sie weiter fest an sich gepresst.

"Weil wir dich sonst töten werden."

Dieser Gedanke war nun so absurd, dass Midine ein nervöses Glucksen entfuhr. Gut so, dachte sie. Zeig diesen dämlichen Lügenbüchern, dass du über sie nur lachen kannst.

Midine dachte an Malicia und versuchte es mit einem spöttischen Lachen. Was dabei herauskam, klang aber so hysterisch, dass sie sofort damit aufhörte.

"Du hast Angst", stellte das Lexikon fest, dass sich nun genau auf der Höhe von ihren zitternden Knien befand. "Gib uns einfach das Buch, dann lassen wir dich gehen."

"I-ich habe keine Angst", sagte Midine, um eine sichere Stimme bemüht. "Ich bin total panisch."

Sie holte aus und trat das verblüffte Lexikon in hohem Bogen von seinem Bücherstapel.

"Und wenn man Panik hat, dann tut man oft Dinge, die man später bereuen wird."

Nach diesen gemurmelten Worten drehte sie sich um und rannte.

Hinter ihr ertönte ein rasendes Zischeln aus vielen Zungen, wütende Kampfschreie. Das Klackern von den spinnenartigen Beinen auf Holz. Ein Krachen, etwas fiel um. Midine wollte sich nicht umdrehen, um zu sehen, was es war.

Sie rannte, sprang mit einem Satz die Stufen zur Empore hinunter. Lief auf die rettende Eingangstür zu.

Tick. Tack.

War der Raum nicht eben noch viel kleiner gewesen? Midine hatte das Gefühl, schon seit Minuten zu laufen. Es war wie in einem dieser Albträume, in denen man rennt, aber das Gefühl hat, keinen Schritt vorwärts zu kommen. Das Zischen kam näher, immer näher. Midine glaubte, den Atem der Bücher an ihren Waden zu spüren.

Ihr eigenes dumpfes Keuchen klang in ihren Ohren wieder. Ihre Beine schmerzten noch von der Kletterpartie eben und ihr Herz hämmerte. Ihr Ziel schien zwischenzeitlich vor ihren Augen zu verschwimmen, aber sie hielt durch.

Midine war körperlich fast am Ende, als sie die Tür erreichte, geistig aber stieß sie schon Jubelrufe aus.

Sie ergriff hastig den Türknauf, drehte ihn, zog-

Die Tür war verschlossen.

Mit blutroter Farbe war auf dem Holz ein Satz geschrieben.

Es gibt kein Zurück.

Zuviel war zuviel. Das war der Moment, in dem Midines Panik ein Limit erreichte.

Nun gab es für ihr Hirn zwei Möglichkeiten: Entweder sie verlor auf der Stelle den Verstand oder aber sie rastete völlig aus.

Das Gehirn traf eine Entscheidung.

"Es gibt kein Zurück?! Ihr könnt mich alle mal!", brüllte Midine und trat gegen das Holz. Die Tür schien das nicht besonders zu stören, aber dafür schoss ein heißer Schmerz durch Midines großen Zeh und trieb ihr die Tränen in die Augen.

Von ihrem Schmerz nur noch weiter angestachelt, fuhr Midine herum.

"Und ihr!", schrie sie gegen die heranstürmende Büchermeute an.

"Ihr!"

Sie nahm Anlauf und trat ein paar Bücher in die entgegengesetzte Richtung davon.

"Werdet!"

Ein Buch sprang sie kreischend an, doch Midine holte aus und schlug es aus seiner Flugbahn.

"Mich!"

Sie schüttelte wütend die Bücher ab, die ihre Beine hochkrabbeln wollten.

"Nicht!"

Sie trat auf alle Bücher, die sich zu nah an ihre Füße wagten und stampfte sie in den Boden.

"Töten!"

Midine ergriff das Buch der Wahrheit mit beiden Händen, hielt es hoch über ihren Kopf und ließ es dann auf das Lexikon niedersausen, das nicht den Hauch einer Chance hatte.

Einen Moment lang stand sie so da und bewunderte ihr Werk. Dann sah sie auf und erblickte etwas am anderen Ende des Raumes. Die drei Bücherregale, die eben noch gestanden hatten, hatten sich offenbar in ihr Schicksal ergeben und waren ebenfalls umgestürzt.

Dahinter befand sich eine weitere Tür, über der mit derselben blutroten Farbe To happiness geschrieben stand.

"Klingt ja verlockend", murmelte Midine. Und gerade, als sie diesen Gedanken zu Ende geführt hatte, hörte sie wieder das Zischen.

Ganz langsam drehte sie sich um. Offenbar war sie nicht ganz so gründlich gewesen, wie sie gedacht hatte.

Hinter ihr hatte sich lautlos eine große Gruppe Bücher versammelt, die Midine für tot gehalten hatte. Ein paar lagen zwar immer noch mit zertretenen Gliedmaßen auf dem Boden, die meisten aber waren wieder aufgestanden und blickten sie mit Mordlust in ihren Augen an.

"Oh", entfuhr es Midine. Sie wich einen Schritt zurück.

Das wollte sie jedenfalls. Aber ihr Fuß stieß gegen die Leiche des Lexikons, das Midine völlig vergessen hatte. Sie stolperte und fiel entsetzt hintenüber. Das Buch der Wahrheit glitt ihr aus der Hand.

Sobald ihr Rücken den Boden berührte, waren die Bücher über ihr. Ein paar besonders schwere Exemplare stapelten sich auf ihren Armen übereinander, um sie am Herumzappeln zu hindern. Sofort krabbelte ein ganzes Dutzend Bücher auf ihren Körper, bohrten ihre dünnen Beine in Midines Haut.

Midine schrie in einer Mischung aus Panik und Ekel. Sie trat mit den Beinen um sich und schaffte es tatsächlich, ein paar der Kreaturen zu erwischen, ehe auch ihre Beine von den Büchern besetzt wurden.

Nun waren es nur noch vier Bücher, die auf ihrem Oberkörper herumkrabbelten.

"U-und was wollt ihr jetzt machen?", fragte Midine und schaffte es fast, spöttisch zu klingen. "Wollt ihr mich zu Tode pieksen?"

Was mache ich da?, dachte sie verzweifelt. Klar, stachle sie auch noch weiter an. Warum nicht?

Ein mageres Taschenbuch mit zerfledderten Seiten hielt inne und schaute Midine an.

"Zeig's ihr", befahl es schließlich einem seiner Artgenossen.

Gehorsam trippelte der Angesprochene von Midines Brustkorb herunter und hielt neben ihrem Oberarm. Er prüfte kurz seine Seiten, holte dann aus und schnitt einmal probeweise durch ihr Fleisch, bis Blut herauslief.

Habt ihr euch je beim Lesen oder Aktensortieren an einem Blatt Papier geschnitten? Dann wisst ihr, wie weh so etwas tut.

Midine sog zischend Luft ein und biss ihre Zähne zusammen, während Tränen in ihre Augen traten. Blut färbte ihren ehemals blauen Ärmel.

Während sie noch versuchte, sich die Tränen aus den Augen zu blinzeln, hörte sie auf einmal das Rascheln von Papier und die schemenhafte rechteckige Gestalt eines Buches tauchte direkt vor ihrem Gesicht auf.

Midine begriff.

Sie brauchen einfach nur auf meine Kehle zu zielen.

Diese Erkenntnis versetzte sie so sehr in Schock, dass sie ruckartig ausatmete - was ihr das Leben rettete.

Das Buch auf ihrer Brust verlor das Gleichgewicht und stolperte vorwärts. Seine Seiten verfehlten ihren Hals und schlitzten stattdessen ihre Wange auf.

"Halt still", sagte das Buch verärgert. "Sonst treffe ich deine Kehle nie."

Als Midine spürte, wie warmes Blut ihre Wange hinunterlief, geriet sie in Todesangst.

"Bitte!", rief sie und ihre Stimme überschlug sich. "Bitte lasst mich leben! Ihr könnt das Buch der Wahrheit haben! Alles, was ihr wollt, nur tötet mich nicht!"

Es musste jemand anders sein, der dort sprach, eine andere Person. Denn sie selbst hätte niemals so um ihr Leben gebettelt, dessen war Midine sich sicher.

Das Taschenbuch von eben tauchte über ihr auf. "Glaubst du wirklich, das Buch der Wahrheit wäre für uns jetzt noch von Bedeutung?", fragte es verächtlich. "Du hattest die Chance, es uns zu geben, und hast sie nicht genutzt. Pech."

Midine heulte verzweifelt auf und kniff die Augen zusammen. Wenn sie schon sterben musste, dann wenigstens mit geschlossenen Augen. Sie wollte niemandem zumuten, ihr die Augen schließen zu müssen. Sie bereitete sich innerlich auf ihren Tod vor, bis-

"Lasst sie in Ruhe."

Das Buch über ihr hielt in seiner tödlichen Bewegung inne.

Die Stimme, die dort sprach, war dünn, aber klar. Vorsichtig blinzelte Midine.

"Ihr werdet sie jetzt in Ruhe lassen."

Die Stimme kam von rechts neben ihrem Kopf, aber Midine wagte es nicht, ihren Hals zu bewegen.

"Ach ja?", höhnte eins der Bücher. "Wer sagt das? Wir töten sie und danach bist du dran."

"Ich sage das. Und wie jeder weiß, sage ich immer die Wahrheit."

Dann plötzlich gab es ein dumpfes Geräusch, gefolgt von verblüfften Aufschreien. Bücher polterten zu Boden und die Last auf Midines rechtem Arm war verschwunden.

"Jetzt!", schrie das Buch der Wahrheit.

Midine reagierte blitzschnell und fegte die Bücher auf ihrem Oberkörper mit ihrer Hand beiseite.

Nun brach ein Tumult aus unter den Büchern. Unter wütendem Gekreisch verließen sie ihren Posten auf Midines Gliedmaßen, was wiederum dazu führte, dass die Eine aufsprang und einige Male wütend um sich schlug, um dann umgehend die Flucht anzutreten.

Im Laufen hob sie das Buch der Wahrheit auf und drückte es fest an sich. Sie sprintete wieder die Stufen zur Empore hinauf, auf die neu erschienene Tür zu. Gerade glaubte sie, die Bücher endlich abgehängt zu haben, als ein schweres Wörterbuch von einem der Regale fiel und auf ihrem Kopf landete.

Dröhnender Schmerz hallte durch ihren Schädel und für einen kurzen Augenblick tanzten Sterne vor ihren Augen. Sie drohte kurz, gegen die Wand zu taumeln, bevor sie sich wieder fing und mit brennender Entschlossenheit auf die Tür zurannte.

Tick. Tack.

Und endlich erreichte sie sie. Hastig drehte sie den Türknauf, halb in der Erwartung, die Tür würde verschlossen sein.

Aber diesmal öffnete sie sich. Diesmal verschwendete Midine keinen Gedanken daran, sich zu beglückwünschen und sprang über die Türschwelle.

Sobald ihre Füße Steinboden berührten, fuhr sie herum und warf sich mit der Schulter gegen die offenstehende Tür, ohne auf den stechenden Schmerz in ihrer Brust zu achten.

Fauchend stürmten die Bücher von innen dagegen und schienen darauf zu brennen, die Tür aus ihren Angeln zu werfen.

Midine ignorierte ihre Verletzung und hielt mit zusammengebissenen Zähnen dagegen. Ein paar Sekunden lang hielten sich beide Seiten die Waage und die Tür schwankte irgendwo zwischen Auf und Zu.

Midine versuchte fieberhaft, an irgendetwas, an irgendjemanden zu denken, der oder das ihr Kraft gab. Ett, Avelli, Pfannkuchen mit Ahornsirup... nichts schien zu funktionieren. Die Bücher erhöhten kreischend den Druck gegen die Tür.

Da plötzlich erschien Malicia vor Midines innerem Auge. Seht sie euch an, spottete sie. Noch nicht einmal gegen Bücher kommt sie an. Soll das etwa die Eine sein?

Dir zeig ich's, dachte Midine wütend und stemmte sich gegen das Holz, die Zähne gebleckt. Mit beinahe unmenschlicher Kraft und einem bestienartigen Knurren schob sie, bis die Tür in ihr Schloss einrastete.

Ein Klacken. Sie war in Sicherheit. Ein paar Mal noch erbebte das Holz unter den Angriffen der rasenden Bücher, dann war es ruhig.

Tick. Tack.

Ein letztes Mal. Dann herrschte Stille.

Überwältigt vor Erleichterung ließ Midine sich an der Tür hinabrutschen. Sie schloss die Augen und schnappte nach Luft, atmete ein paar Mal tief ein und aus, das Buch der Wahrheit immer noch fest gegen ihre Brust gepresst. Ein Grinsen lag auf ihren Lippen, der Schmerz war für einen Moment wie weggeblasen. Sie hatte es geschafft.

Midine schwelgte immer noch in ihrer Glückseligkeit, als ein ohrenbetäubender Knall die Luft erbeben ließ und ihr rechtes Trommelfell zerschmetterte. Sie wurde von der Druckwelle der Explosion erfasst und durch die Luft geschleudert wie eine leblose Puppe, bis sie gegen einen Widerstand prallte und zu Boden fiel.

Das Letzte, was sie noch mitbekam, war ein ekelerregendes Knacksen und ein monotones Piepen in ihrem Ohr.

Dann war sie weg.

Im Tempel der Stille

"Hier. Unterbrich dein Trommeln für einen Moment und sieh dir das an." Ein Klirren schallte durch die Hallen des Tempels.

Das Gute blickte hinunter auf die improvisierte Tischplatte. "Was soll das sein?"

"Wonach sieht es aus? Eine Münze."

"Das meinte ich nicht. Warum zeigst du mir das?"

"Also, sieh mal. Gut und Böse sind untrennbar miteinander verwoben, nicht wahr?"

"Ja." Misstrauisch musterte das Gute das Böse.

"Wie... was hatten wir gesagt? Wie Licht und Schatten. Wie zwei Seiten einer Medaille oder...?"

"Einer Münze, schon verstanden." Das Gute seufzte tief.

"Genau. Eine Medaille hatte ich gerade nicht da, aber es klingt einfach besser, findest du nicht?" Das Böse grinste.

"Schon." Das Gute hob eine Augenbraue. "Aber worauf wolltest du noch gleich hinaus?"

"Ich sagte doch, Gut und Böse sind wie zwei Seiten einer Medaille."

"Münze."

"Wie auch immer! Jedenfalls, du hast eine Münze. Jetzt versuche, die beiden Seiten voneinander zu trennen."

Das Gute hielt die Münze dicht vor sein Gesicht, wog sie prüfend in der Hand und rollte sie dann zwischen den Fingern hin und her, bis es schließlich antwortete.

"Man könnte die Münze in der Mitte des Randes durchschneiden. Wenn man eine Säge hätte, die so feine Schnitte bewerkstelligen könnte-"

Das Böse ließ es gar nicht erst ausreden. "Darum geht es doch gar nicht!", rief es unwirsch und nahm die Münze wieder an sich. "Es geht nur darum, dass Gut und Böse nicht voneinander zu trennen sind."

"Wenn es nur darum geht, passt der Vergleich mit der Medaille aber nicht."

"Münze."

"Wie auch immer."

Dann wieder Schweigen.

Die Prophezeihung

"Midine."

Wo war sie? Was war passiert?

Vorsichtig öffnete Midine ihre Augen, doch es blieb tiefschwarz um sie herum.

Ich bin blind, dachte Midine. Ich kann nichts sehen. Ich werde nie wieder etwas sehen können. Ich werde Ett nie wiedersehen können. Ich werde hier sterben. Denn wie soll ich es ohne mein Augenlicht schaffen, das Spiel zu gewinnen?

Da war so viel, wegen dem Midine hätte Panik bekommen können, aber seltsamerweise spürte Midine keine Angst. Sie spürte überhaupt nichts.

Das machte sie dann doch stutzig. Mit gerunzelter Stirn blickte sie an sich herunter- und erstarrte fassungslos.

Ihre Arme, ihre Beine, ihr Körper, alles war noch da. Nur der Rest der Welt schien irgendwie... weg zu sein.

Sie war ganz alleine im schwarzen Nichts.

Midine stand nicht und sie lag nicht, sitzen konnte man es nicht nennen, aber schweben traf ihren Zustand auch nicht ganz. Es war ein wenig von allem und doch nichts davon.

Verwirrt strich Midine sich eine Haarsträhne hinter das Ohr, die ihr ins Gesicht geweht war, obwohl sie keinen Windhauch spürte. Gerade wollte sie sich umdrehen, um nachzusehen, ob auch ihr Umhang in dieser mysteriösen Sturmböe wehte, da hörte sie die Stimme von eben erneut.

"Midine!"

Alarmiert sah sie sich um, konnte aber niemanden erkennen. Ein seltsames Gefühl machte sich in ihrer Magengegend breit, ohne dass sie wusste warum.

"Hallo?", fragte sie versuchsweise in den leeren Raum hinein. "Wer ist da?"

"Ich bin die, die sich selbst sucht." Die Antwort hallte durch das endlose Schwarz, immer leiser werdend. Midine kam die Stimme merkwürdig bekannt vor, aber sie konnte sie einfach nicht einordnen. Männlich oder weiblich? Sie hörte sich nicht einmal menschlich an.

"Das ist aber keine Antwort", rief Midine, immer noch vergeblich Ausschau haltend nach einer Person, der die Stimme gehören könnte.

"Mein Name hat schon vor langer Zeit an Bedeutung verloren."

Midine wusste nicht weshalb, aber irgendwie machte sie dieser Satz extrem wütend.

"Lügner!", schrie sie zornig. "Du willst mir nur keine Antworten geben! Wie Malicia! Wie die Bücher! Wie alle hier!"

"Oh, ob ich ein Lügner bin, werden wir sehen", antwortete die Stimme und behielt dabei ihren vollkommen neutralen Tonfall bei.

"Ach, werden wir das? Werde ich das? Wenn ich nicht gerade jeden Moment getötet werden könnte, weil mir hier niemand erklären will, WAS HIER LOS IST?"

Schweigen.

Langsam verrauchte Midines unerklärliche Wut wieder. Aber bereit, diese ach-so-geheimnisvolle Stimme ohne Antworten gehen zu lassen, war sie immer noch nicht.

"Also. Wer bist du?", fragte sie mit mühsam beherrschter Stimme.

Diesmal ließ sich die Stimme Zeit mit der Antwort. "Ich bin jemand, der dir helfen will", sagte sie schließlich.

Das klang doch schon viel besser. "Aber wie willst du mir helfen?", fragte Midine, immer noch misstrauisch.

"Indem ich es dir zeige." Die Stimme klang feierlich.

"Zeigen? Was de-"

"Scht. Leise, sonst verpasst du die Show. Lehn dich einfach zurück und entspann dich... dann tut es vielleicht nicht ganz so weh."

"Hey!" Midines Stimme überschlug sich beinahe. "Was meinst du damit?"

Aber die Stimme antwortete nicht mehr.

Entgegen aller Vernunft versuchte Midine zu rennen, in die Richtung, in der sie die Stimme vermutete. Keine Sekunde dachte sie daran, wie sie sich in der Schwärze zurechtfinden sollte oder wie sie sich in dieser endlosen Leere fortbewegen sollte, wenn da doch nichts war, worauf man hätte laufen können. Oder vielleicht hatte die Stimme auch gar keinen Körper, den man so lange schütteln konnte, bis Antworten herauskamen.

Trotz all dessen versuchte sie zu rennen, nur um zu ihrem Erschrecken herauszufinden, dass sie ihren Körper nicht mehr bewegen konnte.

Unter aufsteigender Panik versuchte sie zuerst ihre Finger und Arme, dann ihre Beine zu bewegen. Ohne Erfolg.

Midine verstand das nicht. All ihre Gliedmaßen waren noch da und voll funktionsfähig, sie spürte, dass sie da waren. Aber ihr Gehirn schien den Befehl vergessen zu haben, der sie dazu brachte, sich zu bewegen.

Sie wollte den Mund öffnen, um zu schreien, aber auch der bewegte sich kein Stück. So gefangen war sie dazu verdammt, still auszuharren und darauf zu warten, dass etwas passierte.

Eine ganze Weile nun geschah gar nichts. Midine wollte nur zu gerne glauben, dass die Stimme ganz einfach gelogen hatte, aber sie konnte sich noch immer nicht bewegen, geschweige denn sprechen.

Da erschien inmitten des schwarzen Nichts plötzlich ein kleines weißes Licht. Zwar war es noch weit weg von Midine, doch es bewegte sich langsam auf sie zu, dabei immer größer werdend.

Die Eine war sich nicht ganz sicher, was sie davon halten sollte. Ein Licht in der Dunkelheit war ja allgemein eher als gutes Zeichen zu sehen, aber was, wenn es der berühmte Lichttunnel in ihren Tod war? Sie wollte noch nicht sterben!

Aber als die Lichtkugel näher kam, erkannte Midine, dass das Licht keinen Tunnel, sondern viel mehr eine Brücke darstellte, vom anderen Ende des Raumes bis zu ihr.

Erst nach mehrmaligem Blinzeln sah Midine, dass inmitten des blendend hellen Lichtscheins zwei Silhouetten nebeneinander über die Brücke aus Licht schritten, würdevoll wie zwei Könige. Sie gingen noch einige Meter, bevor sie in einiger Entfernung von Midine stehen blieben.

Die zwei Gestalten waren in schwarze, sie komplett verhüllende Kapuzenumhänge gekleidet, aber trotzdem ging von ihnen so eine gleißende Helligkeit aus, dass Midine sie nicht direkt ansehen konnte.

"Darf ich?", fragte die rechte Gestalt. Sie hörte sich an, als bestünde ihre Stimme aus vielen anderen, Silbe für Silbe auseinandergehackt.

Die linke Gestalt deutete eine Verbeugung an. "Nur zu." Ihre Stimme war nicht minder ekelerregend. Sie klang wie der rückwärts abgespielte letzte Atemzug eines Sterbenden, grausam in die Länge gezogen.

Die rechte Gestalt trat ein paar Schritte vor, bis sie nur noch etwa drei Meter von Midine trennten. Sie räusperte sich und begann, zu sprechen.
 

"In eurem Land, auf euren Erden

Der Welt, die nur den Himmel kennt

Wird ein Kind geboren werden,

Das, das ihr die Eine nennt."
 

Midine traute ihren Ohren nicht.

Das war die Prophezeihung. Die Prophezeihung.

Die Prophezeihung, die laut den Legenden von den Göttern selbst vor Tausenden von Jahren erschaffen wurde.

Die Prophezeihung, die ihre Geburt vorhergesagt hatte.

Selbst Midine hatte die Prophezeihung nur ein einziges Mal in ihrem Leben gehört, doch an ihren Wortlaut erinnerte sie sich bis heute. Aber was hatte die Prophezeihung mit all dem hier zu tun? Und woher kannten diese seltsamen Personen die Prophezeihung überhaupt? Schließlich hatten damals nur sehr wenige Leute überhaupt von ihrer Existenz gewusst.

Die Königsfamilie, die das Geheimnis um die Prophezeihung über all die Jahrtausende bewahrt hatte, kannte sie natürlich. Ihr früherer Mentor, der sie all die Jahre lang unterrichtet hatte, kannte sie. Malicia hatte sie gekannt, oder zumindest hatte sie das behauptet. Dann war da noch Ett, der Midine einmal im Vertrauen von der Prophezeihung erzählt hatte. Und wenn Ett es wusste, wusste es garantiert auch Avelli. Midine traute ihm durchaus zu, dass er es weitererzählt hatte.

Aber auch das brachte sie nicht weiter. Sie hielt es für sehr unwahrscheinlich, Avellis Exfreundinnen hier irgendwo zu begegnen, und unter diesen Umhängen hätte sich alles verbergen können. Außerdem gehörten die Stimmen sicher niemandem, den Midine kannte.

Ihre Gedanken verstummten, als die andere Gestalt, die, die sich bisher zurückgehalten hatte, vortrat und die Stimme erhob.
 

"Fremd in eurem Heimatland

Die Mutter tot, der Vater unbekannt

Gefunden 9000|1 zwischen Gut und Böse

Das Kind, das eure Welt erlöse."
 

"Was fällt dir auf, wenn du diese Strophe betrachtest?", hatte ihr Mentor sie einmal gefragt.

Midine hatte die Stirn gerunzelt. "Das Reimschema ist ganz anders als das von der ersten Strophe. In der ersten Strophe reimte sich der erste Vers auf den dritten und der zweite auf den vierten. Hier reimen sich jeweils die ersten beiden und die letzten beiden."

Ihr Mentor hatte darauf bestätigend. "Richtig, der Wechsel von Kreuzreim zu Paarreim. Gut. Was noch?"

"Hm." Midine hatte eine Weile überlegt, bevor sie geantwortet hatte. "Die zweite Strophe ist irgendwie... abgehackter. Also, sie wirkt nicht mehr wie ein Satz wie die erste Strophe, sondern klingt nach aneinandergereihten Stichworten."

Ihr Mentor hatte zufrieden gewirkt. "Sehr schön, Midine." Er deutete noch einmal auf die Steintafel, in die die Prophezeihung eingeritzt war. "Also, wie du sehr richtig bemerkt hast, unterscheidet sich die zweite Strophe sehr deutlich von der ersten, beinahe so, als wären sie gar nicht gleichzeitig verfasst worden." Ihr Mentor hatte nie wirklich an die Existenz von Göttern geglaubt und ihr immer zu beweisen versucht, dass die Prophezeihung von Menschenhand über viele Jahrtausende hinweg verfasst worden sei. Er fand es vermessen von Midine zu glauben, die Götter hätten sie erwählt. Allerdings hatte keiner der beiden jemals seinen Standpunkt beweisen können, weswegen es immer bei gelegentlichen Sticheleien geblieben war.

"Oder jemand wollte absichtlich, dass sich die Strophen so unterscheiden", hatte Midine eingewendet.

Ihr Mentor hatte sich nachdenklich über seinen Bart gestrichen. "Das wäre natürlich auch eine Möglichkeit", hatte er schließlich zugegeben.

Wenn ich mich recht entsinne, war es so, dass die zweite Strophe das Auftauchen der Einen in diesem Land beschreiben sollte, dachte Midine.

Tatsächlich war Midine nicht bei ihren leiblichen Eltern aufgewachsen, sondern bei einer Ziehfamilie. Die Frau, Tyra, und ihr Mann, Morgan, hatten ihr das auch nie verschwiegen und obwohl Midine sie nie wirklich als Eltern angesehen hatte, hatte sie sie sehr geliebt.

Tyra hatte Midine oft davon erzählt, wie sie sie damals gefunden hatten.

Eines Abends, im ersten Monat des Jahres 9000 nach Anbeginn, als die beiden gerade von einem Spaziergang heimkehrten, lag nur wenige Meter vor ihrer Haustür eine bewusstlose junge Frau. Sie trug die blutbefleckten Kleider einer Adligen und in ihrem Arm trug sie ein schreiendes Bündel. Während Tyra bei ihr geblieben war und mit vor Schock zitternden Händen versucht hatte, das Baby zu beruhigen, das einfach nicht aufhören wollte zu schreien, war Morgan zum nächstgelegenen Hospital gerannt und hatte Hilfe geholt.

Für die Frau kam jede Hilfe zu spät, sie starb noch auf dem Weg zum Hospital. Doch das Baby überlebte.

Tyra und Morgan suchten überall nach dem Vater des Kindes, ließen sogar im Königspalast nachfragen, ob jemand die Frau vermisste. Doch niemand meldete sich, auch nicht nach Jahren der Suche, und so beschlossen sie schließlich, das Kind zu behalten.

Tyra sagte, vielleicht sei die Frau aus einem anderen Königreich gekommen. Ihre Kleider hatten nicht ausgesehen, als käme sie von hier.

Damals hatte Midine es ziemlich aufregend gefunden, aus einem anderen Königreich zu stammen. Sie hatte sogar mit dem Gedanken gespielt, auszuwandern und ihren Vater zu suchen. Um ehrlich zu sein, tat sie das auch heute noch.

Midine schüttelte den Kopf. Sie war einmal wieder in Gedanken abgeschweift. Aber was von der Prophezeihung noch ungelöst blieb, war der dritte Vers. Zwischen Gut und Böse. Was konnte das bedeuten?

Midine hatte da so eine Theorie. Tyra hatte doch gesagt, sie hätten die Frau nur wenige Meter vor ihrem Haus liegend aufgefunden, oder? Nun, das Haus ihrer Zieheltern lag zwischen zwei größeren Brücken, der Efraimsallee und der Merosbrücke. Und während Efraim in der Neuzeit ein Priester und Armenhausleiter gewesen war, der überall für seine Hilfsbereitschaft und Barmherzigkeit bekannt war, war Meros ein im Mittelalter gefürchteter Tyrann gewesen.

Die Prophezeihung musste sie meinen, da war Midine sich sicher. Sie glaubte nicht an so viele Zufälle auf einmal.

Wieder wurde sie abrupt aus ihren Gedanken gerissen, als die Gestalt mit der zusammengewürfelten Stimme sich räusperte und erneut zu sprechen begann.
 

"Die Verbindung der Einen zu ihrer Welt

Ist ein untrennbares Band,

Macht sie zu eurer Königin und sie hält

Das Schicksal der Welt in der Hand."
 

Diese Strophe war wiederum im Kreuzreim geschrieben und bestand wie auch die erste aus einem einfachen Satz. Dadurch war sie auch viel einfacher zu verstehen: Die Eine würde ihre wahren Fähigkeiten erst als Königin entfalten können und ihr Land, nein, sogar die ganze Welt aus dem Dunkel heraus zurück ins Licht führen. Keine versteckte Bedeutung, keine eingebauten Rätsel. Es war beinahe schon zu einfach.

Die zweite Gestalt, die mit der Atemzug-Stimme, trat noch einmal ein paar Schritte auf Midine zu, um mit bedeutungsvoller Stimme die letzte Strophe zu deklarieren.
 

"Strahlender Engel, vom Himmel gefallen,

Begraben unter Tränen, verflucht von allen,

Das Buch der Wahrheit bring zu des Königs Thron,

Drei Milliarden warten schon."
 

Diese Strophe war immer die gewesen, die scheinbar keinen Sinn ergeben hatte. Aneinanderreihungen von bedeutungslosen Metaphern, gefolgt von einer rätselhaften Aufforderung. Die besten Kryptographen des Landes hatten versucht, darin einen Sinn zu sehen, hatten verschiedenste Entschlüsselungsmethoden und Codes darauf angewandt, aber nichts von alledem hatte funktioniert. Ihr Mentor hatte sogar die Theorie gehabt, dass eben jene vierte Strophe überhaupt nicht zu der Prophezeihung gehörte. Nie hatte jemand die Botschaft der vier Zeilen entschlüsselt.

Bis jetzt.

Das Buch der Wahrheit. Midine erstarrte. Das Buch der Wahrheit?

Natürlich! Das Buch, wegen dem sie den ganzen Horror in dem Bücherhaus auf sich genommen hatte, das Buch, das sie mit letzter Kraft nach draußen hatte retten können!

Also muss ich nur das dämliche Buch zum Königspalast bringen. Ha! Den Weg dorthin kenne ich im Schlaf! Hätte Midine sprechen können, wäre sie in diesem Moment in Jubel ausgebrochen, so erleichtert war sie. Jetzt, wo sie wusste, was sie zu tun hatte, fühlte sie sich schon wieder viel sicherer. Zwar wusste sie immer noch nicht, was die drei übrigen Verse bedeuten sollten, aber in ihrem Freudenrausch ignorierte sie das völlig.

"Schön gesagt", bemerkte die erste Gestalt, an die vor Midine stehende zweite Gestalt gerichtet.

"Ja, nicht wahr?", fragte diese und trat ein paar Schritte zurück, bis sie wieder nebeneinander standen.

"Wir bedanken uns sehr für den Applaus", erklärte die erste feierlich.

"Wir bedanken uns auch für eure ungeteilte Aufmerksamkeit", sagte die zweite mit einer angedeuteten Verbeugung.

"Aber nun müssen wir weiter", sagte die erste und griff in die Falten eines gigantischen Vorhangs aus dunkelroter Seide.

Eines Vorhangs? Midine traute ihren Augen nicht. Wo war der denn auf einmal hergekommen? Oder war er schon die ganze Zeit da gewesen?

"Weiter in die Zukunft", stimmte die zweite zu und ergriff die andere Seite des Vorhangs.

"Die Zeit vergeht und wir vergehen mit ihr."

"Kein Weg, davor zu fliehen!"

"Kein Weg zurück!"

"Viel Vergnügen!", rief die zweite Gestalt mit fröhlicher Stimme. Und bei diesen Worten traten sie beide urplötzlich auseinander und rissen mit scheinbar übermenschlicher Kraft den schweren Vorhang auseinander.

Dann waren sie verschwunden.

Verwirrt wollte Midine um sich blicken, aber sie konnte sich immer noch nicht bewegen. Also wartete sie. Wartete darauf, dass etwas passierte.

Sie musste nicht allzu lange warten.

"Ich weigere mich, das hinzunehmen!", brüllte eine Stimme wütend. Der dazugehörige Mensch erschien gleich darauf, ein junger Mann in einem weiten Gewand mit weißblonden Haaren und braun gebrannter Haut. Sein Gesicht war rot vor Wut.

Midine erinnerte sich. War das nicht der Kronprinz von Alm, dem Königreich südlich von hier? Ihr Mentor hatte ihr einmal von ihm erzählt.

"Ich sehe keinen anderen Weg, unseren Disput beizulegen", entgegnete eine andere Stimme mühsam beherrscht. Eine weitere Person erschien neben dem Kronprinzen.

Midines Herz setzte einen Schlag aus.

Es war, als würde sie in einen Spiegel blicken und sähe dort nicht sich selbst, sondern ihr zukünftiges Ich. Die Midine, die dort stand, wirkte größer, reifer, erwachsener. Ihre Haare waren länger und auf ihrem Kopf trug sie die goldene Krone einer Königin. Ihr Gesicht war blass vor Zorn und ihre rechte Hand umklammerte das Zepter so fest, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten.

"Warum steht Ihr dann noch hier und redet?" Die Stimme des Kronprinzen -Ashril war sein Name, glaubte Midine sich zu erinnern- klang beinahe höhnisch.

"Vielleicht, weil ich hoffe, dieses Schicksal doch noch abwenden zu können."

"Wer den Karren in den Dreck setzt, zieht ihn auch wieder heraus- so ging das Sprichwort doch, oder? Nun, in Eurem Falle war es ein Moor, und der Karren ist längst unrettbar versunken."

"Erspart mir Eure Sprichworte! Ihr wart es doch, der mit der ganzen Sache angefangen hat!" Jetzt war Midines Beherrschung endgültig dahin, mit sich überschlagender Stimme schrie sie Ashril an.

"Angefangen hat, Euch zu widersprechen? Allerdings!", donnerte Ashril.

"Nun, dann ist es also abgemacht?", fragte Midine durch zusammengebissene Zähne hindurch und streckte ihre rechte Hand aus.

Ashril aber sah sie nur voller Hass an und spuckte ihr ins Gesicht.

Nicht nur die ältere Midine zuckte zusammen, geschockt über dieses Ausmaß an Frechheit. Auch die jüngere Midine spürte unbändige Wut in sich hochsteigen.

Wie kann er es wagen? Wie kann er es wagen, MICH anzuspucken?

Midine die Ältere stand noch eine ganze Weile dort, zitternd vor Wut, auch noch nachdem Ashril sich längst umgewandt hatte und davonstolziert war. Die Dienstboten, die besorgt herbeigeeilt kamen, um ihr das Gesicht abzuwischen, wies sie ab.

Sie hob ihren Arm und wischte sich mit dem Ärmel sorgfältig über die Wange. Dann hob sie den Blick und sah Ashril voll rasender Wut und Rachsucht hinterher.

Doch bevor Midine die Jüngere Ashril noch mehr stumme Beleidigungen an den Kopf werfen konnte, veränderte sich das Bild.

Jetzt war sie im Krieg.

Es wirkte tatsächlich, als sei sie mitten im Kampfgeschehen. Soldaten wirbelten zu allen Seiten um sie herum, Schwerter blitzten blutig in der Sonne auf, Pfeile sirrten durch die Luft, Rüstungen klirrten, die Luft roch nach Schweiß und Blut.

Zwar war Midine damals selbst im Krieg gewesen und hatte dort um ihr Leben gekämpft, aber das hier war so viel intensiver.

Sie konnte die Gefühle von jedem einzelnen Soldaten auf diesem Schlachtfeld spüren, konnte ihre Gedanken hören, während sie sterbend am Boden lagen, während sie ihre Gegner abschlachteten.

Die alte Furcht kroch wieder in ihr hoch, die Furcht vor Kampfschreien und Waffen und Blut und Tod und-

Ruhig bleiben, beschwor Midine sich selbst. Ich bin nicht wirklich dort. Das ist nur eine Illusion.

Genau in diesem Moment erblickte sie ihr älteres Ich, wie es auf einem schneeweißen Pferd mitten durch das Kampfgetümmel ritt und zu beiden Seiten gegnerische Soldaten niederschlug. Dann riss es seinen Mund auf und ein markerschütternder Kampfschrei löste sich von seinen Lippen.

Ruhig bleiben, sagte ich!

Die Furcht wuchs zwar nicht weiter, aber sie blieb, während Midine zusehen musste, wie Blut durch die Luft spritzte, wie Köpfe mit leeren Augen über den Boden rollten, wie Soldaten qualvoll verblutend auf dem Boden lagen.

Sie hätte sich nur zu gerne übergeben, aber selbst das schien ihr nicht vergönnt zu sein.

Wieder veränderte sich das Bild.

Diesmal war ihre Heimat zu sehen, die Stadt über den Wolken. Aber etwas war... anders.

Häuser waren eingerissen oder zerbombt worden, Brücken besaßen riesige Löcher oder fehlten ganz. Nirgends war auch nur ein lebender Mensch zu sehen und der Himmel war tiefgrau, als würde selbst er die Tragödie betrauern.

Wir… haben den Krieg verloren?

Doch noch bevor der Schock einsetzen konnte, wechselte die Szene wieder.

In einem der Häuser, die noch standen, hatte sich eine kleine Gruppe von etwa fünfzig Menschen einquartiert. Alle von ihnen waren schmutzig und blutbefleckt, ob es nun ihr eigenes war oder das von jemand anderem, vermochte niemand mehr zu sagen.

Einige von ihnen waren Soldaten, die meisten aber waren ganz normale Bürger. An den Wänden lagen auf schmutzigen Decken die Kranken und Verletzten, um die die übrigen Menschen sich zu kümmern versuchten.

Ein kleines Mädchen saß neben einem groß gewachsenen Soldaten, der mit fiebrigen Augen an die Decke starrte, und versuchte unter Tränen, ihm Medizin einzuflößen. Ein reicher Händler in nunmehr zerlumpter Kleidung krümmte sich in einer Ecke, in panischer Angst vor etwas, das nur er allein sehen konnte. Eine junge Frau in schwarzer Kleidung saß einfach nur da und starrte auf den Boden.

Im Zentrum von allem stand Tyra.

Die tiefen Ringe unter ihren Augen und der Verband um ihren Kopf verrieten, dass sie selbst verletzt war, aber dennoch ließ sie es sich nicht nehmen, überall Decken und Medizin zu verteilen, Verbände zu wickeln und sich um die Verletzten zu kümmern, die sonst niemanden mehr hatten.

Eine schwarzhaarige junge Frau in ehemals weißer Militärkleidung schritt durch die Tür und ging geradewegs auf Tyra zu. Beinahe niemand im Haus schien ihr Beachtung zu schenken, aber Midines Augen klebten förmlich an ihr.

Ett.

Was machte sie denn hier?

Sobald Tyra Ett erkannte, unterbrach sie ihre Arbeit und eilte auf sie zu.

"Wo ist Midine, Ett?"

Ett blieb stumm. Tränen glitzerten in ihren Augen.

Tyra packte sie an den Schultern und schüttelte sie. "Ett! Was ist passiert? Wo ist Midine?" Auch ihre Stimme klang tränenerstickt.

"Midine ist-", begann Ett, stockte und brach ab. Sie blinzelte ein paar Mal, dann versuchte sie es erneut.

"Sie ist-" Aber sie brachte den Satz nicht zuende, sondern sank in sich zusammen und begann zu schluchzen.

Tyra drückte sie an sich, geschockt und erschüttert. Nun weinten sie beide.

Szenenwechsel.

Ett stand vor einem recht kümmerlichen Grabstein. In ihrer Hand hielt sie ein paar abgerissene Efeuranken, in dieser zerstörten Welt hatte sie wohl nichts Besseres finden können. Unaufhörlich strömten Tränen über ihr Gesicht, als sie sich bückte und die Ranken auf das Grab legte.

Nur schwach registrierte sie, dass hoch über ihr ein Loch in den schwarzen Wolken aufging und ein schwacher Lichtstrahl auf das Grab fiel.

Sie wischte sich über die Augen, wobei sich den Dreck von ihrer Uniform mit ihren Tränen vermischte, und zog die Nase hoch. Dann sah sie nach oben und erstarrte.

Der Himmel über ihr war nicht blau.

Er war rot. Blutrot.

Die Erkenntnis traf Midine im selben Augenblick, in dem der Boden unter ihren Füßen wegklappte und sie zu fallen begann.

"Na, hast du ihn genossen?", begrüßte sie die Stimme von eben wieder. "Deinen Blick in die Zukunft?"

Midine konnte ihr nicht antworten, wollte ihr nicht antworten, sie wollte nur noch schreien, schreien, schreien, wie man das normalerweise macht, wenn man irgendwo herunterfällt. Sie wollte weinen und schreien und um sich schlagen, bis irgendjemand sie aufweckte und ihr sagte, dass alles nur ein Traum gewesen sei.

"Das heißt", überlegte die Stimme, "von da aus, wo du jetzt bist, ist es eher eine Reise in die Vergangenheit. Verdammt, dieses ganze Zeitreisen ist so kompliziert!"

LÜGNER wollte Midine schreien, doch ihre Kehle war wie ausgetrocknet und sie brachte keinen Ton heraus. Selbst ihre Stimme hatte sie nun verlassen.

"Wie auch immer", sagte die Stimme. "War nett, mit dir zusammenzuarbeiten! Man sieht sich... oder auch nicht."

Und dann war das schwarze Nichts plötzlich verschwunden und alles war wieder da: die kaputten Brücken, die zerbombten Häuser, die menschenleeren Straßen.

Der blutrote Himmel.

Midine war wieder zurück in ihrer Alptraumwelt. Ihr schwirrte noch der Kopf von alldem und Tausende widersprüchlicher Gedanken schossen durch ihr Gehirn. Doch ein Wort, ein einziges Wort hob sich in dem Durcheinander über alles andere hinweg und drängte sich geradezu gewaltsam in Midines Bewusstsein.

Zukunft.

Im Tempel der Stille

Ein frostiger Wind heulte durch die riesigen Hallen aus Stein, das einzige Geräusch im Tempel der Stille. Die letzten gesprochenen Worte waren schon längst zwischen den zahllosen Säulen verhallt, als sich das Gute endlich einen neuen Satz zurechtgelegt hatte.

"Andererseits", fing das Gute an, "sind doch sowohl Gut als auch Böse in erster Linie nur Worte, deren Schreibweise und Bedeutung vor langer Zeit festgelegt wurden."

"Von den Menschen", fügte das Böse hinzu.

"Richtig. Von Menschen, die schon seit langer Zeit tot sind. Wie können wir sicher sein, dass sie damals dieselbe Bedeutung hatten wie heute?"

"Willst du damit sagen, dass Gut und Böse ursprünglich etwas ganz anderes bedeuteten?"

"Ich will damit sagen, dass so etwas im Bereich des Möglichen läge."

Das Böse schwieg eine Weile. "Wie kann es eigentlich sein, dass die Menschen glauben, so viel über uns zu wissen? Wir wissen doch noch nicht einmal selbst genau, wer oder was wir sind."

"Menschen glauben vieles", antwortete das Gute. "Heißt das, dass es wahr sein muss?"

Das Böse lächelte amüsiert.

Dann schwiegen sie wieder beide.

Der Duft nach Rosen

Am Anfang war da der Schmerz.

Er war überall und pulsierte durch Midines Adern, mit jedem Herzschlag stärker werdend. Unnatürlich laut rauschte das Blut in ihren Ohren, als brenne es geradezu darauf, ihren Körper zu verlassen. Beinahe übertönte es sogar das Piepen in ihrem linken Ohr.

Angestrengt versuchte Midine, sich zu erinnern. Was war geschehen?

Sie war in dem Haus mit den Büchern gewesen, den Büchern, die logen und versucht hatten, sie zu töten. Sie hatte es geschafft, mit dem Buch der Wahrheit zu fliehen.

Und dann... ?

Dann war da dieser laute Knall gewesen. Und dann nichts mehr.

Also war das Ticken eine Zeitbombe, dachte Midine. Aus irgendeinem Grund belustigte sie das. Vielleicht war es der Gedanke daran, was für eine verrückte Geschichte ihre Reise wohl abgeben würde.

Sie kniff die Augen zusammen und versuchte mühevoll, ihre Gliedmaßen zu bewegen. Die Schmerzen versuchte sie, so gut es ging, zu ignorieren, aber dennoch schaffte sie nur ein schwaches Anheben ihrer Arme, bevor sie aufgeben musste.

Danach waren die Beine dran.

Ihr rechtes Bein ließ sich problemlos einige Zentimeter anheben, aber als sie dasselbe mit ihrem linken Bein versuchte, schoss ein heißer Schmerz durch ihren Körper und trieb ihr Schmerzenstränen in die Augen.

Midine biss die Zähne zusammen und blinzelte ein paar Mal, um klar sehen zu können. Über ihr erstreckte sich der blutrote Himmel bis an die Ränder ihres Blickfeldes.

Zukunft.

Jetzt erinnerte sie sich wieder. Jemand in ihrem Traum hatte gesagt, das hier sei ihre Zukunft. Hatte die Stimme das gesagt? Midine wusste es nicht mehr, aber es war ihr auch egal.

Nun löste sich doch eine Träne aus ihrem Augenwinkel. Konnte ihr Traum denn wirklich wahr gewesen sein? War das hier die Zukunft? Warum war sie hierhergekommen? Und wie war so etwas überhaupt möglich?

Mit einiger Willensstärke zwang Midine sich dazu, jetzt nicht weiter darüber nachzudenken. Im Moment musste sie sich auf andere Dinge konzentrieren.

Sie beschloss, sich irgendwie aufzurichten, um einen Überblick über ihre Verletzungen zu bekommen. Sie wollte wissen, wie schwer ihre Verletzungen waren und was mit ihrem Bein passiert war.

Midine versuchte angestrengt, sich auf ihre Ellbogen zu stützen und den Oberkörper anzuheben. Aber ihre vor Muskelkrämpfen zitternden Arme waren keine gute Stütze und ihr Brustkorb rebellierte empört gegen jede Bewegung. So musste sie aufgeben und ließ sich mit einem enttäuschten und gequälten Stöhnen wieder zurücksinken.

Eine Weile lag sie so da, zum Nichtstun verdammt, und wartete darauf, dass der Schmerz endlich etwas nachließ. Ab und zu versuchte sie mit wachsender Ungeduld, ihre Gliedmaßen zu bewegen, wobei sie ihr linkes Bein sorgfältig ausließ.

Sie wartete.

Arme anheben, rechtes Bein anheben.

Es ist so still hier, dachte Midine. Normalerweise zeigte das an, dass sich keine Feinde in der Nähe befanden, niemand, der ein Geräusch hätte hervorrufen können. Aber diese Stille war keine beruhigende Stille, keine Stille, in der man sich zurücklehnen und entspannen konnte. Es war eine bedrückende, lauernde Stille, die sich so anfühlte, als könnte jeden Moment etwas geschehen.

Diese Stille macht mich noch verrückt.

Beinahe wünschte Midine sich, dass endlich etwas geschah, nur damit diese drückende Ungewissheit vorüber war.

Arme anheben, rechtes Bein anheben. Bei ihren Armen war eine gewisse Besserung zu spüren, bei ihrem Bein nicht die geringste.

Sie wartete.

Und dann geschah etwas.

Ein lautes Krachen, das einer Explosion glich, ertönte, gefolgt von den klackernden Tönen kleiner Steine, die von Fels abbrachen und zu Boden fielen.

Midine schrak zusammen. Mit einiger Mühe drehte sie den Kopf nach links, in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war.

In einigen Metern Entfernung wurde die Brücke von einem großen Haufen Geröll blockiert, aus dem einige Trümmerteile hoch in den Himmel aufragten.

Midine erinnerte sich vage, von der Explosion gegen eine Art Wand geschleudert worden zu sein. Konnte das dieser Schutthaufen gewesen sein?

Ihre Gedanken wurden jäh unterbrochen, als das Krachen ein weiteres Mal ertönte, lauter diesmal. Das Geröll erzitterte und immer mehr Stücke brachen aus dem Haufen heraus.

Da... da auf der anderen Seite ist etwas. Midines Lippe begann zu zittern. Und es... es will zu mir!

In einem Anflug von Verzweiflung versuchte sie entgegen aller Vernunft, sich irgendwie in eine sitzende Position zu begeben.

Ein greller Schmerz fuhr gleich einem Blitzschlag durch ihren gesamten Körper und ließ einen lauten Schrei ausstoßen. Nun, zumindest hätte sie gerne geschrien, um die höllischen Schmerzen irgendwie abzulassen, aber alles, was aus ihrem Mund kam, war ein heiseres Krächzen, von dem unerträglichen Klingeln in ihren Ohren übertönt. Die Welt um sie herum wurde abwechselnd schwarz und weiß. Ein grässliches Schwindelgefühl machte sich in ihrem Kopf breit.

Midine blinzelte ein paar Mal, um ihre Sehfähigkeit wiederzuerlangen. Immer noch keuchte sie von dem Schmerz, der jetzt endlich langsam abebbte.

Ein erneutes Krachen.

Verdammt. Verdammt, ich kann hier nicht weg! Was mache ich denn jetzt? Denk nach, Midine, denk nach!

Sie wühlte in ihrem Gedächtnis herum, auf der verzweifelten Suche nach etwas, das ihr jetzt helfen konnte. Zu ihrer eigenen Überraschung fand sie da tatsächlich etwas, einen Satz, den ihr Mentor früher einmal erwähnt hatte und den sie schon fast in das Reich des Vergessens verbannt hatte.

Wenn du nicht fliehen kannst - verstecke dich.

Ich muss mich verstecken, schoss es Midine durch den Kopf. Aber wo?

Ihre Haare schleiften durch den Staub auf dem Stein unter ihr, als sie ihren Kopf versuchsweise auf die andere Seite drehte.

Und erstarrte.

Der süßliche Gestank nach Verwesung und Tod schlug ihr ins Gesicht.

Midine wurde übel.

Direkt vor ihr, nur ein paar Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt, starrte ein Paar toter Augen sie an.

Das Gesicht, zu dem sie gehörten, war bereits halb verwest und hatte eine gelbliche Färbung angenommen. An einigen Stellen faulte das Fleisch bereits von den Knochen herunter. Die Augen waren tief eingefallen, die Haare hingen strähnig und blutverkrustet herunter. Fliegen schwirrten um die Leiche herum.

Midine schluckte. Dann versuchte sie, irgendwie mit dem Atmen aufzuhören und spähte an der Leiche vorbei.

Galle stieg in ihrem Mund auf, als sie sah, dass der Tote vor ihr nur ein kleiner Teil eines sehr viel größeren Leichenhaufens war.

Mindestens dreißig Tote lagen dort auf der Brücke, einfach achtlos übereinandergeworfen wie kaputtes Spielzeug.

Ein weiteres Mal ertönte das bedrohliche Krachen von links und riss Midine aus ihrer Fassungslosigkeit. Sie erinnerte sich wieder daran, was sie eigentlich vorgehabt hatte.

Ich brauche ein Versteck, verdammt! Was helfen mir denn dann die Leiche-

Eine Idee formte sich in ihrem Kopf, so plötzlich und so morbide, dass sie vor sich selbst erschrak.

Oh nein. Nein, das mache ich nicht. Ich verstecke mich auf gar keinen Fall unter dem Leichenhaufen!

Wieder das Krachen. Diesmal klang es näher. Als Midine ihren Kopf angsterfüllt nach links drehte, waren da bereits klaffende Risse im Gestein.

Am liebsten hätte sie nun angefangen zu heulen, wie es kleine Kinder taten, wenn sie nicht bekamen, was sie wollten. Am liebsten hätte sie mit den Fäusten auf den Boden eingeschlagen, geschrien und sich schlicht und einfach geweigert, das zu tun, was diese verfluchte Albtraumwelt von ihr zu tun verlangte.

Aber stattdessen streckte sie die Hand aus und krallte sie in die verblichene Kleidung des Toten, sich bemühend, kein verwesendes Fleisch zu berühren.

Sie hielt die Luft an, während sie mit all ihrer verbliebenen Kraft zerrte und zog, bis sich die Leiche mit einem Ruck aus dem Haufen löste und nun auf ihrem Oberkörper lag.

Jetzt schon war Midine speiübel, aber dennoch streckte sie ihre Hand ein weiteres Mal nach rechts aus, ertastete etwas Knochiges und packte es.

Sie wollte gar nicht wissen, was es war, das sie da in ihrer Hand hielt und zog es mit angewidertem Gesicht zu sich hin, bis sie ein Gewicht auf ihren Beinen spürte.

Schmerzen zuckten von ihrem linken Bein aus durch ihren Körper, doch Midine biss mit einem gequälten Stöhnen die Zähne zusammen und fuhr mit ihrer Arbeit fort.

Bei ihrem nächsten Fischzug griff sie in verfilzte Haare. Beinahe erleichtert darüber, dass es nichts Schlimmeres war, grub sie ihre Finger hinein und zog ein letztes Mal.

Da ertönte ein ekelerregendes Schmatzen, das Midine entsetzt in ihrer Arbeit innehalten ließ. Es klang beinahe so, als hätte sich Haut von der Schädeldecke gelös- aber so genau wollte Midine das auch gar nicht wissen.

Sie schüttelte sich kurz vor Ekel, bevor sie die Leiche in einem Akt der Verzweiflung weiterzog, bis über ihr Gesicht. Sie wollte einfach nur, dass das hier endlich vorbei war.

So lag sie da, begraben unter den Leichen, wartend, während das Krachen draußen immer lauter wurde. Der beißende Gestank trieb ihr Tränen in die Augen.

Komm schon, betete sie stumm. Beeil dich, ich will, dass es vorbei ist!

Als hätte das mysteriöse Etwas auf der anderen Seite nur darauf gewartet, ertönte in diesem Moment ein ohrenbetäubendes Krachen, das sehr endgültig klang.

Dann herrschte Stille.

Und über all den Gestank nach Blut und Tod, nach Vergänglichkeit und Verwesung, hob sich nun ein geradezu aufdringlicher Duft nach Rosen.

"Sieht ja noch genau so hässlich aus wie damals", stellte eine amüsiert klingende Stimme fest. Dann waren Schritte zu hören, Stein knirschte unter Sohlen. Mit zusammengekniffenen Augen lag Midine unter den stinkenden Leichen und betete.

Die Schritte blieben stehen.

Panisch hielt Midine die Luft an.

"Was? Nein, ich mochte das hier noch nie!", stellte die Stimme entrüstet fest.

Sie ist verrückt, dachte Midine. Sie redet mit sich selbst!

Einerseits war sie natürlich froh, noch nicht entdeckt worden zu sein. Andererseits, wenn diese Rosenduftperson verrückt war, wer wusste dann, wozu sie noch fähig war?

"Das war keine Zerstörung, das war eine kontrollierte Sprengung, verdammt!", empörte die Stimme sich.

Irgendwie kam sie Midine bekannt vor.

"Warum ich das hier überhaupt mache? Hörst du mir eigentlich nie zu? Ich habe dir doch gesagt, dass sie hier ist und ich sie finden werde!"

Und das... warum kam ihr das so bekannt vor?

"Sehen wir es als eine Art Spiel", schallte Malicias Stimme durch ihren Kopf. "Du versuchst, bis zum Ende zu überleben und das Spiel zu gewinnen. Sie versucht, dich davon abzuhalten."

Sie.

Konnte das hier diese sie sein? Diejenige, die sie töten wollte?

Wieder erhob die Rosenduftperson –sie- das Wort.

"Sie muss es gewesen sein. Glaubst du ernsthaft, dass es nach meiner Aufräumaktion hier noch einen anderen Überlebenden gibt?"

Wieder eine kurze Pause. Dann: "Jaja, schon klar. Weil Königreiche von solcher Größe sich ja auch einfach selbst vernichten. Wer bist du, dass du meine Fähigkeiten anzweifelst?"

Midines Herz krampfte sich zusammen. Ihr Mund schmeckte nach Blut, sie hatte sich auf die Lippe gebissen.

Also ist das hier diejenige, die an allem schuld ist. Diejenige, die meine Welt zerstört hat. Diejenige, die uns in diese Zukunft führen wird.

Sie versuchte, das irgendwie zu akzeptieren, zu verstehen. Aber da gab es eine Sache, die sie einfach nicht begriff.

Midine war in den Krieg gezogen. Sie hatte genug Mord und Totschlag gesehen, genug, um mindestens drei Leben damit zu füllen. Sie war in ihrem Leben auf unfassbar grausame und unfassbar brutale Personen getroffen, aber keine dieser Personen hatte sie so angewidert wie sie.

So böse Malicia auch gewesen sein mochte, wie sadistisch und grausam ihre Taten auch waren, war sie doch immer noch ein Mensch.

Nur ein Mensch, nichts weiter. Ein Mensch, den Midine schließlich getötet hatte.

Aber genau das fehlte bei der Rosenduftperson.

Sie wirkte nicht menschlich, absolut nicht. Sie wirkte wie ein höhergestelltes Wesen, jemand, dem Menschenleben völlig egal sind. Wie jemand, der diese Leben auslöschen konnte, ohne mit der Wimper zu zucken.

Und der dann im Gespräch mit einer nur für ihn selbst sichtbaren Person über seine Taten sprach, als wären sie nichts. Eine kleine Trophäe, die man sich auf den Schrank stellen und dort verstauben lassen konnte.

"Sie muss hier irgendwo sein. Ja, meine Güte, natürlich nur, wenn sie nicht schon tot ist."

Wer zur Hölle war diese Person?

Und warum kam Midine ihre Stimme so bekannt vor?

Kann es sein, dass-

"Im Leichenhaufen, sagst du?" Knirschend kamen die Schritte näher.

Panisch hielt Midine die Luft an. Bitte, komm nicht hierher, flehte sie stumm. Ich bin es nicht! Ich bin eine von ihnen! Eine von denen, die du getötet hast!

Abrupt stoppten die Schritte. Midine blieb angespannt liegen, nicht fähig, auch nur einen Finger zu rühren.

"Ist das dein Ernst? Den werde ich NICHT anfassen!"

Midine horchte auf. Hatte diese Person vielleicht doch noch einen Funken Menschlichkeit?

"Spinnst du? Das ist der Haufen mit den Leuten, die ich so hässlich fand! Die habe ich doch absichtlich hierhin gelegt, damit ich sie nie wieder sehen muss!"

Ein Würgereiz stieg hinten in Midines Rachen hoch, aber sie presste die Lippen fest zusammen und schickte ihn wieder zurück in ihren Magen. Sie durfte sich noch nicht übergeben. Zumindest noch nicht jetzt.

Schade, dachte Midine sarkastisch, während ihr wieder Tränen in die Augen stiegen. Ich hätte mich gerne jetzt übergeben, um diese Aussage angemessen zu würdigen.

"Wage es nicht, mich feige zu nennen, dämlicher Idiot!"

Eine kurze Pause.

"Selber blöd!"

Und noch eine.

"Also, das ist ja wohl die Höhe! Was glaubst du eigentlich, wer du bist?"

Stritt sie sich gerade wirklich... mit sich selbst? Aus irgendeinem Grund -vielleicht färbte der Wahnsinn der Rosenduftperson ab- stieg ein glucksendes Lachen in Midine hoch. Diese ganze Situation war doch so absurd, dass man sie einfach nicht mehr ernst nehmen konnte.

Ein prustendes Geräusch kam aus Midines Mund, noch ehe sie sich zurückhalten konnte. Erschrocken presste sie die Lippen aufeinander.

"Warte. Pssst! Gott, kannst du nicht mal eine Sekunde still sein? Ich habe da gerade etwas gehört..."

Wieder kamen die Schritte langsam näher.

Midine hätte sich am liebsten geohrfeigt. Toll. Ganz toll. Jetzt finden sie mich, nur weil ich so blöd war, hier loslachen zu wollen!

Sie konnte nichts mehr tun, konnte nur noch in hilfloser Verzweiflung warten, bis sie die Leichen über ihr beiseiteschob und alles endlich beendete.

"Meinst du nicht, es reicht jetzt?"

Midine zuckte zusammen. Die Rosenduftperson tat dasselbe, nach ihrem erschrockenen Aufschrei zu urteilen.

"Wer spricht da?", verlangte sie zu wissen, während ihre Schritte sich wieder entfernten. "Antworte mir!"

Ein amüsiertes Kichern war zu hören. "Oh, nichts lieber als das."

Jetzt, wo Midine ihren Schrecken einigermaßen überwunden hatte, kam ihr auch diese Stimme sehr bekannt vor. Dieser herablassende Tonfall, dieses amüsierte Kichern... Das war doch nicht etwa-

"Malicia?!", rief die Rosenduftperson mit fassungsloser Stimme. "Aber... du bist tot!"

Malicia seufzte. "Nicht das schon wieder... meine Güte, ja, das bin ich."

"Gut so." Die Rosenduftperson klang erleichtert. "Aber warum bist du dann zurückgekommen, hm? Um mich in den Wahnsinn zu treiben?"

Midine konnte förmlich spüren, wie Malicia die Augenbrauen hochzog. Eigentlich ist es ja erschreckend, wie gut ich sie kenne, dachte sie.

"Dich in den Wahnsinn treiben? Ich denke, das hast du selbst schon recht gut hingekriegt. Nein, ich bin hier, um dir einen Hinweis zu geben."

"Einen... Hinweis?", fragte die Rosenduftperson misstrauisch.

Einen Hinweis?

"Ja. Ich kann dir sagen, wo du die Person findest, die du suchst."

Entsetzen machte sich in Midine breit. Nun also war der Augenblick von Malicias Rache gekommen. Sie würde dieser Wahnsinnigen einfach Midines Versteck verraten und bräuchte dann nichts weiter zu tun, als zuzusehen, wie sie Midine fand und in ihre Einzelteile zerlegte. Sie würde Midine einfach beim Sterben zusehen, so, wie sie es schon einmal getan hatte.

"Und warum solltest du mir bitteschön helfen wollen?", lachte eben jene Wahnsinnige.

Malicia stöhnte genervt. "Hm, lass mich überlegen. Weil sie mir mein ganzes Leben zur Hölle gemacht hat? Weil sie dafür gesorgt hat, dass ich gedemütigt, beleidigt und schließlich verbannt wurde? Weil sie mich getötet hat?"

"... gut, klingt angemessen."

Midines Entsetzen wich und machte der immer größer werdenden Wut Platz. Sie hatte doch von Anfang an gewusst, dass man Malicia nicht trauen konnte! Warum war sie nur so blöd gewesen und hatte ihr all ihre Lügen auch noch geglaubt? So jemand wie sie konnte sich doch gar nicht so verändert haben! Verräterin blieb eben Verräterin!

"Also, wo ist sie?", wollte die Rosenduftperson neugierig wissen.

"Du suchst am falschen Ort. Sie ist schon längst aufgewacht und als sie sah, dass sie in dieser Richtung nicht weiterkommen würde, ist sie zur anderen Brücke herübergeklettert und nach Westen weitergegangen. Wenn du dich beeilst, erwischst du sie noch!"

"Ernsthaft? Da ist sie herübergeklettert?"

"Wenn ich es dir doch sage! Ich war dabei, ich habe sie gesehen!"

"Okay, okay, ich glaube es dir ja. Nach Westen also?"

"Mhm."

"Dann laufe ich ihr mal besser schnell hinterher, nicht wahr? Ach ja, danke übrigens. Vielleicht sieht man sich mal wieder."

"Wahrscheinlich, ja."

"Gut. Na dann, auf Wiedersehen!" Danach waren schnelle Schritte zu hören, die an Midine vorbeirannten und sich dann rasch entfernten. Und zusammen mit der Wahnsinnigen verschwand auch endlich der aufdringliche Duft nach Rosen.

Midine konnte es immer noch nicht fassen. Malicia hatte sie gerettet?

Dieser Gedanke war nun so abwegig, dass Midine darüber nur den Kopf schütteln konnte. Malicia würde sie nie retten, noch nicht einmal dann, wenn ihr eigenes Leben dabei auf dem Spiel stände. Vielleicht hatte sie sich getäuscht? Konnte es sein, dass hier irgendwo noch eine andere Person herumlief? Vielleicht sah sie so ähnlich aus wie Midine, das würde dann erklären, dass-

Der Einen blieb fast das Herz stehen, als plötzlich jemand die Leiche, die ihr Gesicht bedeckte, wegzog.

Über ihr stand Malicia und sah mit einem seltsamen Gesichtsausdruck auf sie hinunter.

Midines Herz klopfte wie wild. Wollte Malicia es jetzt selbst zu Ende bringen? Hatte sie die Rosenduftperson deshalb weggeschickt?

Doch Malicia tat nichts dergleichen. Ein paar Sekunden noch stand sie schweigend da und sah Midine einfach nur an, bevor sie schließlich den Mund öffnete und genau vier Worte sagte.

"Du schuldest mir was."

Dann holte sie aus. Ihr gekonnter Schlag traf Midine genau an die Schläfe.

Alles wurde schwarz.

Im Tempel der Stille

"Hey, Böse", begann das Gute. "Wir haben nun schon mehrere schwierige Themen diskutiert. Was hältst du davon, wenn ich dir eine kleine Kostprobe meiner momentanen Gedanken gebe und du mir deine Meinung dazu mitteilst?"

"Deiner momentanen Gedanken? Aber sicher doch. Fang an!" Das Böse lehnte sich auf seinem Stuhl ein Stück nach vorne und sah das Gute interessiert an.

"Also..." Das Gute dachte noch einmal kurz nach und legte sich seine Worte zurecht, bevor es begann.

"Wir sitzen hier in diesem Tempel, sitzen und diskutieren. Wir erzählen uns die Geschichten der Menschen und amüsieren uns über sie, als wären wir höhergestellte Wesen aus einer anderen Dimension, denen Menschenleben vollkommen egal sind."

"Aber... das sind wir doch auch!", warf das Böse verwirrt ein.

"Durchaus. Doch was, wenn es irgendwo da draußen noch andere Wesen gibt, die wiederum höhergestellt sind als wir? Die jetzt gerade in diesem Moment lesen, was wir sagen, und es für erfundene Geschichten halten? Was, wenn sie sich gerade über uns amüsieren? Und ihnen unsere Leben völlig egal sind?"

Das Böse schwieg eine Weile. "Du hast ja düstere Gedanken", murmelte es schließlich.

"Wie gesagt, es ist nur eine Theorie."

"Du wolltest meine Meinung wissen, richtig? Ich finde deine Theorie höchst interessant und sie wäre es wert, hunderte von Diskussionen zu führen, ohne ihrer Lösung je einen Schritt näher zu kommen. Aber sie hat einen ganz entscheidenden Schwachpunkt."

"Was für einen?", fragte das Gute neugierig.

"Selbst, wenn es eine Lösung gäbe... niemand würde sie wissen wollen. Niemand will erfahren, dass sein ganzes Leben, alles, woran er je geglaubt hat, eine Lüge war, alles nur Teil eines gut einstudierten Theaterstücks. Niemand will sein Weltbild in Scherben auf dem Boden liegen sehen."

"Aber was, wenn die Lösung nicht beinhaltet, dass das ganze Leben eine Lüge war?"

"Dieses Risiko würde niemand eingehen. Nicht für den Preis, den man zahlen muss, wenn man sich irrt."

Diesmal war es das Gute, das schwieg.

"Versteh mich nicht falsch", sagte das Böse schnell, "die Theorie ist nicht schlecht. Nur eben nicht... praxisfähig."

"Nein, nein, du hast ja Recht." Das Gute winkte ab. "Vergiss einfach, was ich gesagt habe."

"Schon geschehen."

Stille.

Ein wenig Improvisation

Als Midine erwachte, war es seltsamerweise ihr Geruchssinn, der sich als erstes wieder zurückmeldete. Es roch nicht mehr nach Verwesung oder Rosen. Es roch etwas muffig, aber vertraut.

Dann meldete sich ihr Tastsinn und sagte ihr, dass sie auf etwas Weichem lag. Es war warm.

Verwirrt strich Midine mit der Hand darüber. Das war Stoff, ganz eindeutig. Und es passte nun wirklich nicht zu dem, an was sie sich vor ihrer Ohnmacht noch erinnerte.

Du schuldest mir was. Immer noch hallten die Worte durch ihren Kopf, als wäre sie niemals bewusstlos gewesen.

Panik erfüllte Midine. Wo war sie hier? Wo hatte Malicia sie hingebracht? An welchen teuflischen Ort-

Es roch nach Ahornsirup.

Zwar nur sehr schwach, aber trotzdem wahrnehmbar. Diesen Geruch würde Midine immer und überall wiedererkennen.

Was geht hier vor? Panisch schlug sie die Augen auf.

Sie war... in ihrem Zimmer?!

Ungläubig setzte Midine sich in ihrem Bett auf, viel zu schnell. Kurz wurde ihr schwindlig und ihr Blickfeld wurde von Schwärze erfüllt, aber davon ließ sie sich in ihrer Hast nicht aufhalten.

Sie sprang auf und rannte zum Fenster, zog in verzweifelter Hoffnung die Vorhänge beiseite-

Der Himmel war blau, strahlend blau, wie ein Tag nicht schöner hätte beginnen können. Irgendwo zwitscherte ein Vogel.

Midine traten Tränen in die Augen.

Kann das sein? Kann es wirklich sein?

War das etwa wirklich alles nur ein Traum gewesen? Hatten die Götter Midine endlich erhört und sie aufwachen lassen?

Ungläubig kniff Midine sich in den Unterarm, aber bis auf einen leichten Schmerz spürte sie nichts.

Es... ist endlich vorbei?

"Midine?", fragte eine verschlafene Stimme hinter ihr. "Was machst du da?"

Midine zuckte zusammen und fuhr herum.

Neben ihr lag Ett. Auf der rechten Seite des Bettes, dort, wo sie immer lag. Sie hatte sich zur Seite gedreht und blinzelte verschlafen ins Sonnenlicht.

"Erst meckerst du mich an, ich würde zu wenig schlafen", grinste sie, "und jetzt bist du auf einmal die Frühaufsteherin, oder was?"

Midine rieb sich geschockt die Augen. "N-nein, ich habe nur... ach, nichts."

Jetzt grub sich doch eine Sorgenfalte in Etts Stirn. "Alles in Ordnung mit dir?", fragte sie vorsichtig.

Völlig überfordert schüttelte Midine den Kopf. "Nein... ich meine, ja... ich hatte einen Albtraum."

"Schon wieder?", fragte Ett alarmiert. "Was ist das Letzte, woran du dich erinnerst?"

Midine verstand die Welt nicht mehr. Was sollte die Frage denn? Wann war Ett zur Traumdeuterin geworden?

Ihr vollkommen verwirrter Gesichtsausdruck war wohl Antwort genug. Frustriert setzte Ett sich auf und massierte sich kurz die Schläfen, bevor sie Midine wieder ansah.

"Ich meine nicht deinen Traum", sagte sie eindringlich. "Ich meine dein Leben davor. Was ist an dem Abend passiert, an den du dich als Letztes erinnerst?"

Ihre Lippen bewegten sich, aber Midine verstand kein einziges Wort. War das etwa wieder einer ihrer seltsamen Scherze? Oder hatte sie den Abend zuvor wirklich vergessen?

"Gestern Abend... ? Ich bin nachts noch einmal aufgestanden, weil ich nicht einschlafen konnte. Ich wollte an die frische Luft, aber ich habe dich aus Versehen aufgeweckt. Und dann hast du mir Pfannkuchen gemacht. Mit Ahornsirup. Wir saßen zusammen, haben geredet und gegessen... ähm... ja, und du warst wütend auf mich, weil ich dir nicht gesagt habe, dass meine Verletzung wieder aufgegangen ist. Weißt du das etwa nicht mehr?"

Die Sorgenfalte auf Etts Stirn vertiefte sich. "Du meinst den 29. Januar 9021, oder?"

War das das Datum gewesen? Midine nickte unsicher.

Zu ihrer Überraschung stützte Ett auf ihre Antwort hin resigniert den Kopf in die Hände und rieb sich die Augen.

"Was ist los?", fragte Midine überrascht. "Was hast du-"

"Midine", unterbrach ihre Freundin sie und sah auf. Waren das Tränen, die da in ihren Augen glitzerten? Sie weinte doch nie!

Warum weinst du?, wollte Midine fragen, aber ihre Stimme versagte an dem Kloß, der sich in ihrem Hals zusammengeballt hatte.

"Midine", fing Ett noch einmal an, während sie versuchte, gefasster zu wirken. "Wir haben Februar. 9025."

Jetzt löste sich doch eine Träne aus ihrem Auge und rollte ihre Wange hinunter.

Midine starrte sie geschockt an, während ihr Gehirn versuchte, das irgendwie zu verarbeiten. Es war... 9025? Aber wie war das möglich?

"Die Heiler sagen, dass es eine Nachwirkung deines Nahtod-Traumas ist", fing Ett an. Immer mehr Tränen strömten über ihre Wangen. "Vor ein paar Wochen bist du aufgewacht und hattest dein gesamtes Leben nach dem Krieg vergessen. Du hast mich angesehen, als wäre ich ein Geist, in der festen Überzeugung, dass du tot wärst." Sie schüttelte den Kopf. "Das werde ich nie wieder vergessen."

Stumm wartete Midine, bis sie sich wieder einigermaßen gefasst hatte und weiterredete.

"Seitdem ist es noch ein paar Mal passiert, immer gerade dann, wenn ich dachte, du hättest dich an dieses Leben gewöhnt. Du bist am Morgen aus Albträumen aufgewacht und konntest dich an die vergangenen vier Jahre einfach nicht mehr erinnern." Sie schniefte ein paar Mal. "Und ich habe es dir erklärt. Jeden verdammten Morgen."

"D-du lügst!", stammelte Midine ungläubig, ihre Hände zitterten unkontrolliert. "D-das kann nicht sein!"

Ett winkte unter Tränen ab. "Das sagst du jedes Mal."

"Du lügst!", wiederholte Midine, diesmal lauter. "Du bist doch nur ein weiterer Teil meines Albtraums!" Und auf diesen Albtraum wollte sie nicht noch einmal hereinfallen und ihm glauben, er sei echt.

"Halt den Mund!", fauchte Ett zurück, die offenbar ihre Beherrschung wiedergefunden hatte. "Du hast ja keine Ahnung, wovon du sprichst!"

Midine zuckte erschrocken zusammen.

"Ich werde es dir beweisen", fuhr Ett etwas ruhiger fort. "Sieh dir doch mal bitte deine Wunde an."

Normalerweise hätte Midine so einer Aufforderung auf jeden Fall widersprochen, aber sie wollte sich nicht noch einmal mit Ett über ihre Verletzung streiten müssen. Also rollte ihr Oberteil hoch und trat vor den Spiegel, auf das Schlimmste gefasst.

Sie traute ihren Augen nicht. Ihre Wunde war verschwunden!

Dann entdeckte sie die Narbe.

Sie war fein, etwas heller als die Haut darum und zog sich in unregelmäßigen Wellenlinien über ihren ganzen Brustkorb.

"Es... ist verheilt?", hauchte Midine ungläubig.

"Ja", bestätigte Ett und schaffte es fast wieder, sanft zu klingen. "Es hat uns beide ziemlich Zeit und Nerven gekostet, aber irgendwann war es endlich geschafft."

"Ich bin... nicht gestorben?" Midine konnte es immer noch nicht glauben.

Ett lächelte unter Tränen. "Nein, Dummerchen. Natürlich nicht. Das habe ich dir doch verboten, weißt du noch?"

Und da huschte ein Lächeln über Midines Gesicht, das erste Mal seit Ewigkeiten, wie es sich anfühlte.

Sie war zu Hause.
 

"Und... hat sich irgendetwas verändert in den letzten vier Jahren?", erkundigte Midine sich vorsichtig zwischen zwei Bissen Brot. Sie wusste nicht, wie Ett auf so eine Frage reagieren würde. Wenn es tatsächlich stimmte, was sie sagte, hatte sie genau solche Fragen in den letzten Wochen öfter zu hören bekommen. Das musste doch jeden irgendwann innerlich zerstören, oder?

Aber ihre Freundin ließ sich nichts anmerken.

Nachdenklich kauend sah Ett in die Luft, ehe sie den Kopf schüttelte. "Nein, nicht viel. Sie haben ein paar neue Steuergesetze verfasst, das ist alles."

Midine lächelte. "Ich meinte eigentlich eher den Leuchtfeuerturm."

"Oh, ach so. Aber da könnte ich dir eigentlich dieselbe Antwort geben, es ist alles beim Alten geblieben."

"Avelli ist auch noch da?"

"Allerdings. Wo soll er auch sonst hin? Den will doch niemand haben." Ett kicherte.

Midine kicherte mit und es war, als würden ihr mit jeder Sekunde mehr Steine vom Herzen fallen. Genau das hatte sie vermisst. Dieses gegenseitige Aufziehen, dieses Gezanke.

Normalität.

"Und die Königsfamilie?", fragte Midine kauend, nachdem sie den letzten Bissen Brot in ihren Mund geschoben hatte.

"Der geht's gut. Wieso fragst du? Kannst es wohl gar nicht mehr abwarten, die Thronfolge anzutreten, was?" Ett grinste.

Midine schmunzelte. "Ich habe doch nie gesagt, dass ich die Thronfolge antrete", wandte sie ein.

Ett beugte sich vor. "Aber jeder im Königreich wartet darauf!", meinte sie aufmunternd. "Jeder wartet darauf, dass die Eine aus der Prophezeihung endlich Königin wird und das Königreich von allem Bösen befreit!"

Als sie Midines Gesicht sah, fügte sie hinzu: "Keine Angst, ich bin sicher, du schaffst das. Sonst würde es doch wohl nicht in der Prophezeihung stehen, oder? Wenn es gar nicht gehen sollte, komme ich rüber und trete dir in den Hintern." Sie lachte.

Midine lachte mit, musste aber unwillkürlich daran denken, was sie in ihren Träumen über die Zukunft gesehen hatte. Was für schreckliche Dinge passieren würden, wenn sie Königin werden würde.

Doch ihre düsteren Gedanken wurden unterbrochen, als Ett ihren Stuhl zurückschob und aufstand. "Bist du auch fertig?", fragte sie lächelnd.

"Ja", antwortete Midine und erwiderte das Lächeln ihrer Freundin.

"Dann räume ich schonmal ab", sagte Ett fröhlich, stapelte die Teller und die Becher aufeinander und ging in die Küche. In Midines Ohren klang das vertraute Scheppern des Geschirrs wie wunderschöne Musik.

Satt und zufrieden lehnte sie sich zurück und sah sich um. Die Wohnung sah noch genauso aus wie damals, wirkte gemütlich und vertraut. Der Kleiderständer neben der Tür, der Teppich, der Kamin... alles war noch da und am selben Platz. Fast so, als ob...

... als ob ich nicht in der Zukunft wäre.

Midine schrak hoch. Hatte sie das gerade tatsächlich gedacht? Ett, ihre Freundin, wirklich der Lüge bezichtigt? Ett würde sie niemals anlügen und das wusste sie auch.

Es sei denn, das hier ist gar nicht Ett.

Erneut zuckte Midine zusammen und schalt sich sofort selbst für diesen Gedanken. Sie musste unbedingt aufhören, solche grässlichen Sachen zu denken. Sie war jetzt zu Hause.

Aber diese kleine gemeine Stimme in ihrem Kopf wollte einfach nicht verstummen.

Woher willst du das wissen?

Midine führte sich ein weiteres Mal die Gründe vor Augen, weshalb das hier unmöglich ein weiterer Albtraum sein konnte: Der Himmel war blau, ihre Wunde war verheilt und... es war Ett.

Und das reicht aus, um dich zu überzeugen? In Träumen ist vieles möglich.

Diese Worte versetzten Midine einen Stich im Herzen. Die Sicherheit, in der sie sich gewähnt hatte, drohte Stück für Stück von ihr abzufallen.

Ich. Bin. Zuhause. Midine musste all ihre Anstrengung aufbringen, um alle bis auf diesen Gedanken aus ihrem Bewusstsein zu verbannen.

Aber als sie dann mit einem erzwungenen Lächeln aufsah, um ihre Umgebung ein weiteres Mal zu betrachten, war da keine Wärme mehr. Keine Gemütlichkeit und keine Zufriedenheit. Es schien, als wären innerhalb von Sekunden alle Farben aus der Wohnung gewichen und hätten nur ein trostloses Grau zurückgelassen.

Diese verfluchte Stimme hat alles kaputtgemacht!, dachte Midine zornig. Eben noch war alles gut! Warum muss ich mich überhaupt davon überzeugen, dass dies hier mein Zuhause ist? Kann ich nicht einfach hier sitzen und den Moment genieße-

Die Küchentür schwang auf und Ett trat wieder ins Zimmer. "Entschuldige, dass es so lange gedauert hat. Ab jetzt hast du meine volle Aufmerksamkeit." Sie grinste.

Midine lächelte zurück, wenn auch etwas unbehaglich. Hier war sie, die Chance, ihrem Unterbewusstsein endgültig zu beweisen, dass das hier die Realität war.

"Ähm... Sag mal, Ett", fing sie unsicher an, "Kannst du mir irgendetwas über die neuen Steuergesetze sagen?"

Ett runzelte verwundert die Stirn. "Das ist aber eine seltsame Frage. Nein, nicht wirklich, du weißt doch, wie wenig ich mich für Politik interessiere."

"Oh, ja, stimmt." Innerlich verfluchte Midine sich für so eine dämliche Frage. Sie hatte gehofft, dass Ett irgendetwas erzählen könnte, aber es war wirklich so, ihre Freundin interessierte sich kein Stück für Politik. So würde sie unmöglich herausfinden, ob das hier die Realität war.

"Hatte... hatte Avelli in der Zwischenzeit irgendwelche Freundinnen?" Aber tief in ihrem Inneren wusste Midine bereits, dass auch diese Frage kein Ergebnis bringen würde.

"Können Vögel fliegen?" Ett lachte. "Klar, und eine ganze Menge. Die letzte hieß... Rina, glaube ich, könnte aber auch Rayress gewesen sein."

Wieder war Midine ihrem Beweis kein Stück näher gekommen. Es wäre typisch für Ett, die Namen von Avellis Freundinnen zu vergessen, aber genauso gut konnte sie sich das gerade ausgedacht haben.

Midine zermarterte sich das Hirn auf der Suche nach einer brauchbaren Frage. Ihr gefiel es nicht, sich so um einen Beweis bemühen zu müssen, aber sonst würde ihr Unterbewusstsein sie nie in Ruhe lassen, das wusste sie.

Dann durchfuhr sie ein Geistesblitz.

Sofort sah sie unwillkürlich hinunter auf die Tischplatte, aber ihre Antwort fand sie dort nicht. Sie biss sich auf die Lippe.

"Ett, zeig mir deine linke Hand. Bitte." Ihre Stimme zitterte leicht, als sie das sagte.

"Meine... linke Hand? Warum das denn?", fragte Ett belustigt.

"Deine linke Hand. Zeig sie mir. Bitte!" Midines Stimme bekam einen flehentlichen Unterton.

"Okay, okay. Hier hast du meine Hand." Ett klang gleichermaßen verwirrt und besorgt, als sie ihre linke Hand auf den Tisch legte. "Warum bist du so merkwürdig?"

Ein Blick reichte Midine, um zu wissen, dass rein gar nichts in Ordnung war. All die mühsam aufgebaute Sicherheit fiel innerhalb von Sekundenbruchteilen von ihr ab und sie schnappte schockiert nach Luft.

"Was ist los mit dir? Midi?"

"Nenn mich nicht Midi!", fuhr die Eine sie an, während sie vom Tisch aufsprang und mit vor Angst geweiteten Augen zurückwich. "Du bist nicht Ett! Wer bist du? Was hast du mit ihr gemacht?!“

"Was?" Die Person, die genauso aussah wie Ett, klang entsetzt. "Wie kommst du denn darauf? Natürlich bin ich Ett! Ich habe dir doch nur meine Hand gezeigt!" Sie stand auf und streckte ihre Hände aus. "Sieh nur, da ist nichts!"

"Es geht nicht darum, was da ist", sagte Midine mit zitternder Stimme. "Es geht darum, was nicht da ist!"

"Das... verstehe ich nicht", meinte Ett hilflos und machte einen Schritt auf Midine zu. "Midine, hör zu-"

"Bleib weg von mir!", schrie Midine panisch und wich noch weiter zurück.

Wieder füllten sich Etts Augen mit Tränen. "Was hast du? Was habe ich dir denn getan?"

Midine tat es weh, das Gesicht ihrer Freundin so verletzt zu sehen, aber sie schüttelte dieses Mitgefühl ab, indem sie sich sagte, dass das hier nur eine billige Kopie von Ett war. Sie atmete einmal tief ein und fing an, der Kopie ihre Erkenntnis zu erklären.

"Damals, als ich aus dem Koma aufgewacht bin und bei Ett einzog, fragte sie mich, ob ich ihre Frau werden wolle. Natürlich sagte ich ja, aber ich sagte ihr auch, dass wir mit der Hochzeitsfeier warten müssten, bis mein Zustand wieder stabil und die Wunde verheilt ist. Ett war einverstanden. Tatsächlich besserte sich mein Zustand langsam mit der Zeit. Wäre dieser verdammte Albtraum nicht dazwischengekommen, hätten wir sicher in absehbarer Zeit geheiratet. Und das hier soll das Jahr 9025 sein, richtig? Meine Wunde ist verheilt, wie es aussieht, schon sehr lange. Wir hätten längst verheiratet sein müssen!" Midine stieß mit dem Rücken gegen die Wand, aber sie war viel zu vertieft in ihre Rede, um das zu merken.

"Und du", sie zeigte anklagend mit dem Finger auf die Kopie, "trägst keinen Ring!"

"W-warte, Midine, das kann ich erklären!", stammelte Ett. "Ich... Wir... Wir haben-"

"Du klingst wie eine Schauspielerin, die ihren Text vergessen hat!", fauchte Midine, während sie sich mit zitternden Händen an der Wand entlangtastete. Angriff war im Moment ihre beste Verteidigung. Solange diese Kreatur noch versuchte, Ett zu spielen, konnte sie ihr nicht gefährlich werden... hoffentlich.

Endlich spürte Midine den rettenden Türrahmen unter ihren tastenden Fingern. Doch noch bevor sie die Flucht ergreifen konnte, fing die Ett-Kopie an zu kichern.

Fassungslos starrte Midine sie an. Alle Anzeichen dafür, dass sie eben noch am Rande der Verzweiflung gewesen war, waren wie wegradiert, so plötzlich, als hätte sie nur eine Maske ausgezogen.

Ihr prustendes Kichern, als würde sie mit aller Macht versuchen, nicht laut loszulachen, klang genauso wie Etts Kichern, wenn Midine ihr einen Witz erzählt hatte. Es irritierte und schockierte sie gleichermaßen, dieses einst so vertraute Geräusch in einer solch unpassenden Situation wieder zu hören.

Die falsche Ett hatte Midines Entsetzen bemerkt. Sie gluckste noch ein paar Mal amüsiert, ehe sie sich wieder unter Kontrolle hatte.

"Das ist lustig", grinste die Kopie.

"Was?", fragte Midine angsterfüllt. Sofort verfluchte sie sich dafür, diese Frage überhaupt gestellt zu haben, sie würde die Antwort doch wahrscheinlich sowieso nicht wissen wollen.

"Ich musste mich wirklich zusammenreißen, um nicht früher loszulachen. Ihr Menschen seht einfach so lustig aus, wenn ihr Angst habt. Und dann noch die Bemerkung mit der Schauspielerin, ich kann nicht mehr!"

Sie fing an, schallend zu lachen, verstummte aber schon nach ein paar Sekunden abrupt. Alles, was blieb, war ein undefinierbares Lächeln auf ihrem Gesicht.

"Ja, ich bin Schauspielerin", gab sie zu, während sie das Küchenmesser vom Tisch aufhob und es durch ihre Finger gleiten ließ. "Und ja, ich habe meinen Text vergessen. Aber keine Sorge, das kriege ich wieder hin. Alles, was ich brauche, ist ein wenig IMPROVISATION!"

Das letzte Wort schrie sie so laut heraus, dass Midine erschrocken zusammenzuckte. Blitzschnell und scheinbar mühelos schleuderte die Kopie den Tisch beiseite, der ihr noch im Weg stand, bevor sie übermenschlich schnell auf Midine zurannte.

Die Eine verschwendete keine weitere Zeit mit Fragen, Flucht war jetzt die oberste Priorität. Nachdenken konnte sie später- wenn sie dann noch lebte.

Mit einem entsetzten Aufschrei fuhr sie herum und lief durch die offene Tür in den Flur. Sie warf die Tür hinter sich zu, um Zeit zu gewinnen, und stürmte weiter, am Waschraum vorbei. Ihre Schritte klangen dumpf auf dem Teppichboden, ihr Herz hämmerte vor Angst.

Hinter ihr flog die Tür auf und schlug krachend an die Wand, aber Midine drehte sich nicht um. Das wäre ein tödlicher Fehler und das wusste sie. Stattdessen rannte sie keuchend weiter.

"Weißt du, was ich mich schon immer gefragt habe?", rief Etts Stimme hinter ihr. Keinerlei Anzeichen von Anstrengung oder sogar Erschöpfung war in ihrer Stimme zu hören, als wäre das alles hier nur ein Spiel für sie. "Warum ihr Menschen solche verdammten Fluchttiere seid! Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie anstrengend es ist, seinem Essen ständig hinterherlaufen zu müssen?!"

Midine versuchte verzweifelt, ihre Stimme zu ignorieren. Sie wollte gar nicht erst anfangen, darüber nachzudenken. Sie erreichte die Treppe nach oben und sprang hastig hinauf, immer drei Stufen auf einmal nehmend.

"Nicht stolpern, kleines Dessert, sonst kriiiege ich dich!" Die Kreatur hinter ihr lachte manisch, während ihre Schritte die Treppe erzittern ließen.

Keuchend erreichte Midine das obere Stockwerk. Die Tür zu ihrem gemeinsamen Schlafzimmer stand einladend offen und so stürmte sie einfach hinein, ohne weiter darüber nachzudenken.

"Nur zu, leg dich schlafen. Du musst müde sein vom vielen Rennen!"

"Halt den Mund!", schrie Midine verzweifelt zurück und warf die Tür hinter sich zu.

Die nun folgenden Sekunden schienen sich in die Länge zu ziehen wie zähes Kaugummi. Midine klammerte sich an der Kante des schweren Wandschranks fest und stemmte sich mit all ihrer Kraft dagegen.

"Beweg dich!", presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. "Na los!"

Gerade, als ihre schwitzigen Hände von dem Holz abzurutschen drohten, bewegte sich das Möbelstück tatsächlich. Mit einem widerwilligen Knarren und einem schrillen Quietschen rutschte es über den Boden und blockierte nun die Tür.

Midine blieb keine Zeit, um ihr Werk zu bestaunen. Mit ein paar schnellen Schritten durchquerte sie das Zimmer, bis sie vor Etts Nachttisch stand. Nur einen Augenblick lang zögerte sie, dann fegte sie mit einer einzigen Armbewegung die so vertraut erscheinenden Dinge vom Tisch.

Etts Lieblingsbücher, allesamt Liebesromane, fielen polternd zu Boden, die Seiten zerknickt. Ihr heißgeliebtes Lesezeichen rutschte aus einem der Bücher und segelte zu Boden. Die paar Münzen Kleingeld, mit denen sie morgens immer zur Bäckerei ging, folgten klirrend. Die gläserne Flasche Parfüm, die Midine ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, blitzte noch einmal im hereinfallenden Sonnenlicht auf, bevor sie mit einer erschreckenden Endgültigkeit am Boden zerschellte.

Ein betörender Rosenduft breitete sich im Zimmer aus.

Midine blinzelte und merkte, dass Tränen in ihren Augen lagen.

Dafür ist keine Zeit, verdammt!

Hastig fuhr sie sich mit dem Ärmel über die Augen, dann bückte sie sich und hob den Tisch an. Er war erstaunlich schwer, doch Midine schleppte ihn mit eisernem Willen zurück zum Schrank und stellte ihn mit einiger Mühe in der Lücke zwischen dem Schrank und ihrem Bett ab.

Das war alles, was sie im Moment tun konnte, denn die Kreatur würde sicher gleich-

Ein dumpfes Krachen ertönte, als hätte etwas sehr Schweres die Tür gerammt. Der Schrank erzitterte und der Tisch wackelte, aber noch hielt Midines improvisierte Barrikade stand.

"Clever, Midi", höhnte die Kopie auf der anderen Seite der Tür. "Dich in deinem Zimmer einzusperren, meine ich. Diese lächerlichen Möbelstücke werden mich nicht lange aufhalten, weißt du? Und dann töte ich dich, Midine End Morathess. Hast du gehört? Ich TÖTE dich!"

Ein Lachen war draußen zu hören. Dann krachte es wieder, der Stuhl geriet ins Wanken und fiel klappernd zu Boden.

Verzweifelt sah Midine sich nach einem Ausweg um. Die Kopie hatte recht, wenn sie es nicht schaffte, irgendwie von hier zu fliehen, würde sie noch als Dessert enden. Es musste doch eine Möglichkeit geben-

Das Fenster! Natürlich!

So schnell sie konnte, lief Midine zum Fenster. Hektisch versuchte sie, das Fenster zu öffnen, rutschte allerdings wegen ihren schweißnassen Fingern ab und drehte deswegen innerlich fast durch.

Mach das verdammte Fenster auf! Los, mach schon! MACH SCHON!

Endlich gelang es ihr, das Fenster aufzureißen. Das Krachen wurde immer lauter, ebenso wie das manische Lachen der falschen Ett.

Midine schwang sich auf das Sims. In diesem Moment erinnerte sie sich daran, dass sie genau das schon einmal getan hatte, ganz zu Anfang des Albtraums. Es kam ihr vor, als sei das schon Wochen her, dabei war es vermutlich nicht einmal ein Tag.

Sie sah hinunter auf den Gehsteig, halb in der Erwartung, dort die Müllsäcke zu erblicken. Aber da war nichts, der Gehsteig war leer.

Natürlich, sie isst ihre Opfer. Midine war schockiert darüber, wie einfach sie das akzeptieren konnte. Was sollte dann hier noch liegen?

Kurz zögerte sie noch, aber das Geräusch von splitterndem Holz hinter ihr überzeugte sie restlos und sie stieß sich vom Sims ab.

Mit den Füßen voran fiel sie nach unten. Da sie sich dieses Mal nicht mehr auf die Müllsäcke verlassen konnte, versuchte sie, ihren Aufprall im letzten Moment noch irgendwie abzufedern. Dass das nicht funktionierte, wurde ihr spätestens in dem Moment klar, in dem das hässliche Knacksen ertönte.

Glühende Schmerzen zuckten ihr linkes Bein hoch und ließen sie gequält aufschreien. Dann knickten ihre Knie ein und sie sank zu Boden.

So lag die Eine da, wimmernd, fluchend und ihren anschwellenden Knöchel haltend. Tränen strömten ihre Wangen hinunter und fielen auf die Steinplatten des Gehsteigs. Aber diesmal waren es keine Tränen des Schmerzes oder der Wut, sondern Tränen der Verzweiflung.

Ich habe gekämpft, ich habe schon so viele Schmerzen erlitten. Ich bin gerannt. Und als ich nicht mehr rennen konnte, bin ich gesprungen. Was verlangt diese verdammte Welt denn noch von mir? Und wozu überhaupt?

Sie blieb liegen und ließ ihren Tränen freien Lauf, selbst als über ihr Glas splitterte und ein schadenfrohes Kichern ertönte.

"Was ist, hast du dir wehgetan? Zu schade."

Midine ignorierte sie einfach. Sie hatte es so satt, vor irgendetwas wegrennen zu müssen. Sich zu verstecken und jede Sekunde, die sie hier verbrachte, um ihr Leben zu fürchten.

Ich will, dass es endlich vorbei ist. Mir egal, wie. Schniefend kauerte sie sich auf den Boden und schlang die Arme um ihre Beine, während die Kopie oben auf das Sims kletterte.

Gleich ist es vorbei. Midine lächelte unter Tränen, als sie das dachte. Ihr Atem wurde wieder regelmäßig und ihr Herzschlag verlangsamte sich, als sie sich auf ihren Tod vorbereitete.

"END!"

Und dann hielt die Welt an.



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Kommentare zu dieser Fanfic (43)
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Von:  Fluffi-chan
2018-01-10T07:45:40+00:00 10.01.2018 08:45
Oh je, ich war so lange weg... wie siehts denn aus, schreibst du noch weiter? Würde mich sehr freuen :)
Antwort von:  AtriaClara
10.01.2018 16:05
Hi und willkommen zurück. Freut mich, dass du die Geschichte überhaupt noch kennst, ich kriege ja anscheinend meinen faulen Arsch nicht hoch, um hier was Neues hochzuladen... :‘D
Aber ja, es geht definitiv noch weiter. Egal, wie lange ein Projekt hier ohne Update liegenbleibt, irgendwann werde ich darauf zurückkommen, das ist sicher. Sowas wie ein Projekt einfach abbrechen kann ich praktisch gar nicht- selbst meine uralte Zelda-FF wartet noch auf einen Neubeginn. |D
Jedenfalls hatte ich mir überlegt, mich nach dem OneShot, an dem ich gerade arbeite, wieder an meine Langzeitprojekte, also Col und mein zweites MSTing zu setzen. Du kommst insofern gerade zur rechten Zeit, dass ich sogar noch ein fertiges Kapitel auf meinem Laptop haben müsste... vielleicht kommt das dann in der nächsten Zeit.
Danke jedenfalls für dein Interesse... selbst nach all der Zeit. :D
Wir sehen uns!
LG AtriaClara
Von:  _Risa_
2015-09-30T18:54:43+00:00 30.09.2015 20:54
>Am Anfang war da der Schmerz.
Er war überall und pulsierte durch Midines Adern, mit jedem Herzschlag stärker werdend. Unnatürlich laut rauschte das Blut in ihren Ohren, als brenne es geradezu darauf, ihren Körper zu verlassen. Beinahe übertönte es sogar das Piepen in ihrem linken Ohr.<
Das ist eine tolle Beschreibung von Schmerz, damit tu ich mir ja immer recht schwer. ^^"

Hach, ich weiß nicht, was ich von dem Kapitel halten soll. Es ist wie immer gut geschrieben und obwohl mir manche Dinge klarer geworden sind, sind noch so viele Fragen auf. Ich weiß jetzt nicht so recht, wohin die Geschichte gehen soll, daran liegt es vielleicht. Ich tapp da noch ein wenig im Dunklen bei dir rum. ^^
Vielleicht liegt es daran, dass diese Welt noch so surreal ist. Das war ja natürlich die Wettbewerbsprämisse und einerseits find ich das großartig, andererseits ist vieles dadurch etwas weniger greifbar.
Nun ja, ich warte natürlich und bin gespannt, was du in den nächsten Kapiteln noch bringst und womit du uns überrascht. :)


Helfer der KomMission
Antwort von:  AtriaClara
30.09.2015 22:42
Hallo und vielen Dank für deinen Kommentar! ^^
Gut zu wissen, dass die Schmerzensbeschreibungen so in Ordnung ist, in sowas habe ich noch gar nicht so viel Erfahrung, wie man meinen sollte. X)
Hach ja, ich liebe den Surrealismus und das war natürlich auch einer der Gründe, weshalb ich bei dem Wettbewerb mitmachen wollte. ^^
Im nächsten Kapitel (nicht im ITDS, im nächsten "richtigen" Kapitel :D) kommt dann vielleicht auch ein Aha-Moment. Ein kleiner. Vielleicht.
Hilfe, diese Geschichte wird immer länger und komplizierter. :'D

Wir sehen uns!
LG AtriaClara
Von:  _Risa_
2015-09-28T01:33:11+00:00 28.09.2015 03:33
Mir persönlich gefällt der Gedanke nun nicht unbedingt, daher… ich warte, was hier nun kommt. ^^
Von:  _Risa_
2015-09-28T01:31:40+00:00 28.09.2015 03:31
Hab zwei Kapiteln verpasst >.<
Hmm... Im Gegensatz zu viele anderen hier, steh ich eindeutig auf Midinis Seite, denke ich und komm mit ihr viel besser klar. Malicia ist eher die, der ich die Pest an Hals wünsche, wenn ich ehrlich bin, auch wenn sie ihr die bereits an der Kehle hängt ^^".

>Ich bin blind, dachte Midine. Ich kann nichts sehen. Ich werde nie wieder etwas sehen können. Ich werde Ett nie wiedersehen können. Ich werde hier sterben. Denn wie soll ich es ohne mein Augenlicht schaffen, das Spiel zu gewinnen?<
Sie tut mir richtig leid :/

>Ihre Arme, ihre Beine, ihr Körper, alles war noch da. Nur der Rest der Welt schien irgendwie... weg zu sein.
Sie war ganz alleine im schwarzen Nichts.
Midine stand nicht und sie lag nicht, sitzen konnte man es nicht nennen, aber schweben traf ihren Zustand auch nicht ganz. Es war ein wenig von allem und doch nichts davon.
Verwirrt strich Midine sich eine Haarsträhne hinter das Ohr, die ihr ins Gesicht geweht war, obwohl sie keinen Windhauch spürte. Gerade wollte sie sich umdrehen, um nachzusehen, ob auch ihr Umhang in dieser mysteriösen Sturmböe wehte, da hörte sie die Stimme von eben erneut.<
Die Beschreubung ist toll :)
Ich hab auch versucht das Nichts zu beschreiben, aber eigentlich mag ich deine Beschreibung lieber. XD

>"Scht. Leise, sonst verpasst du die Show. Lehn dich einfach zurück und entspann dich... dann tut es vielleicht nicht ganz so weh."
"Hey!" Midines Stimme überschlug sich beinahe. "Was meinst du damit?"<
… aufmunternd lol Wirklich aufmunternd

Endlich! Endlich gibst du uns Antworten. Dabei wäre ich bei dem ganzen Krieg gerne dabei gewesen. Also… als Leser xD
Ich glaube aber nicht unbedingt, dass das ihre echte Zukunft sein soll. Vielleicht eine Finte von Malicia? Um ihr die Hoffnung zu rauben? Ich weiß es nicht, dazu ist alles noch zu verworren.
Antwort von:  AtriaClara
28.09.2015 15:55
Hallo und herzlich willkommen zurück! Und das auch noch an meinem Geburtstag, wie nett. XD
Klar, du sagtest ja auch schon, dass du mit "bösen" Charakteren nicht viel anfangen kannst. :)
Schön zu wissen, dass ich Nichts gut beschreiben kann. *badumtss* XD
Ich weiß, nicht wahr? Wirklich herzerwärmend. :D
Das löst sich schon noch auf. Vielleicht. Wenn ich das richtig hinkriege. X)
Danke jedenfalls für deine zwei Kommentare! Ich hoffe, du vergibst mir, dass ich nicht beide einzeln beantworten kann, Geburtstagsvorbereitungen und so. ^^'

Wir sehen uns!
LG AtriaClara
Von: Platan
2015-09-14T00:49:25+00:00 14.09.2015 02:49
Nochmal ein herzliches Hallo, liebe AtriaClara, und danke für deine Teilnahme am Wettbewerb! ♥
Heute ist Tag der Auswertung und das bedeutet, jeder von euch bekommt einen letzten Bewertungs-Kommentar von mir. Ich habe bei jedem nach bestem Gewissen bewertet, ohne jemandem besondere Vorzüge zu geben (oder gar Nachteile) und war darum bemüht fair zu bleiben. Bedenkt aber, dass hierbei dennoch auch mein persönlicher Geschmack mit eingeflossen ist.
Kommen wir nun zu deinen Punkten.
Ich habe insgesamt in 7 Kategorien bewertet und die maximale Punktzahl, die man erreichen konnte, war jeweils eine 4 (ausgenommen bei der Rechtschreibung und Lesefluss). Da ich letztendlich nicht so viele Einsendungen hatte, wählte ich für mich dieses einfache System zur Auswertung.
1 = Zufriedenstellend
2 = Gut
3 = Sehr gut
4 = Awesome!
Hier nun deine Bewertung:

01. Verbund des Charakters mit der Welt: 2 Punkte
Hier habe ich dir 2 Punkte gegeben, aber das liegt größtenteils nur daran, weil du eben noch nicht mit der Geschichte fertig bist und ich so leider noch nicht genau weiß, was es mit deiner bizarren Welt auf sich hat. An sich vermute ich schon, dass dahinter sicher etwas Großes steckt und ein wenig hat man ja auch bereits erfahren, aber da ich fair sein muss, hier leider nur so eine geringe Bewertung.
02. Charakter selbst: 4 Punkte
Deine Charaktere waren wirklich großartig! Dafür kann ich dich nur loben, besonders Malicia hat es mir (wie du weißt ;D) besonders angetan. Sie hat echt einen Charakter, der im Gedächtnis bleibt und auch alle anderen besaßen ihre Eigenarten, was die Dialoge sehr lebendig gemacht hat. Bei Midine hat mich lediglich etwas irritiert, dass sie schon einen Krieg mitgemacht hatte, aber trotzdem oft so verängstigt und ein wenig unbeholfen reagierte. Hier sagte ich jedoch auch schon, dass selbst die stärksten Kämpfer bestimmte Erlebnisse nicht so leicht wegstecken und Midine besaß einen Charakter, der mir sehr gefallen hat. Also hier wohl verdiente 4 Punkte!
03. Rechtschreibung: 3 Punkte
War ebenfalls sehr ordentlich. Klar, hier und da gab es dennoch Flüchtigkeitsfehler, aber die hielten sich wirklich im Rahmen und hätten jedem passieren können. Insgesamt konnte man daran aber absolut nichts aussetzen, so dass ich dir hier die vollen 3 Punkte gebe.
04. Lesefluss: 3 Punkte
Auch daran gibt es für mich nichts zu meckern. Er war flüssig und abwechslungsreich gestaltet. Aufgrund der guten Rechtschreibung stockte man beim Lesen auch nicht. Besonders das Kapitel "Das Buch der Wahrheit" hat mir vom Stil her sehr gut gefallen, so dass du auch hier von mir die vollen 3 Punkte bekommst.
06. Extrapunkte: 4 Punkte
Da du hier eine Schneekugel und einen Leuchtturm eingebaut hast, die auch beide nicht nur so nebenbei erwähnt wurden, sondern durchaus einem Zweck dienten (besonders die Schneekugel stellt ja im Prinzip eine Verbindung zur Realität für Midine dar), darf ich dir hier ganze 4 Punkte geben~.
07. Persönlicher Eindruck: 3 Punkte
Und zu guter letzt mein persönlicher Eindruck. Hier muss ich dir leider auch einen Punkt abdrücken, weil du noch nicht fertig bist und ich daher nicht weiß, ob er auch bis zum Ende so bleiben würde, wie er jetzt ist oder wie er sich noch entwickeln würde. Trotzdem kommst du sogar hier auf gute 3 Punkte, weil ich einfach ... begeistert davon bin, was ich bisher lesen durfte. Klar, es gibt noch viele offene Fragen und Verwirrung, aber an sich sind deine Ideen bisher interessant gewesen. Außerdem hast du deine Geschichte auch gut verpackt und sie regte an vielen Stellen zum Nachdenken an oder sorgte für Spannung, deshalb halte ich 3 Punkte durchaus für fair, obwohl du noch nicht fertig bist.

Ergebnis: Mit insgesamt 19 Punkten liegst du also in der Gesamtwertung auf dem 2. Platz! Herzlichen Glückwunsch! :3
Ich hoffe, du hattest viel Spaß beim Schreiben und Lesen meiner Kommentare. Die Überweisung der KT folgt auch direkt. Nochmals vielen Dank für deine Mühe.
Antwort von:  AtriaClara
14.09.2015 16:33
Hallo und herzlich willkommen zurück bei meiner Geschichte! ^^
Vergib mir, dass ich nicht alle Kommentare einzeln beantworte, aber es sind einfach ZU VIELE. Q_Q Vielen Dank, dass du die die Mühe gemacht hast, die Geschichte bis hierhin zu verfolgen! Und natürlich auch dafür, dass du sie bis zum bitteren Ende weiterlesen willst! ^^
Deine Kommentare waren sehr interessant zu lesen, deine Theorien und dein Schwärmen von Malicia haben mir besonders gefallen. Ich mag sie nämlich auch. :'D
Freut mich sehr, dass dir meine Charaktere und die Geschichte selbst bisher so gefallen haben! Am Anfang wusste ich selbst nicht so recht, wo mich diese "Reise" hinführen würde, aber mittlerweile bin ich wirklich froh, dass ich sie begonnen habe. Das wäre natürlich nicht passiert ohne deinen Wettbewerb, daher auch an dieser Stelle noch einmal vielen Dank an dich! ;)
(Übrigens: Der zweite Platz scheint mich bei Wettbewerben zu verfolgen, du bist nun schon die Dritte, die mich da platziert hat. :'D)
Also, dann bis zum nächsten Kapitel! (Welches hoffentlich bald mal erscheinen wird. :'D)

Wir sehen uns!
LG AtriaClara
Von: Platan
2015-09-12T22:57:22+00:00 13.09.2015 00:57
Uuund letztes Kapitel für heute. :)

> "Richtig. Von Menschen, die schon seit langer Zeit tot sind. Wie können wir sicher sein, dass sie damals dieselbe Bedeutung hatten wie heute?"
Oh! Das ist ein sehr interessanter Gedanke, den das Gute hier anspricht und gleichzeitig etwas, das ich damals mit einer alten Geschichte auch mal als Thema verarbeiten wollte (mein damaliges Herzblut). Nämlich dass das "Böse" nicht zwingend "böse" sein muss, nur weil das irgendjemand mal so festgelegt hat. Daher begeistert mich das jetzt gerade~.

> "Willst du damit sagen, dass Gut und Böse ursprünglich etwas ganz anderes bedeuteten?"
Jaaa, der Gedankengang gefällt mir echt sehr. :3

Das war jetzt nochmal ein echt toller Abschluss für das, was ich bisher hier lesen konnte. Gut und Böse haben in der Geschichte eindeutig eine wichtige Rolle und auch Midine scheint mit einer großen Sache verbunden sein, wenn man die Prophezeiung und diese Zukunft betrachtet. Die Geschichte hat es zwar nicht rechtzeitig zu Einsendeschluss zu ihrem Abschluss geschafft, aber ich werde sie auf jeden Fall bis zum Ende verfolgen.
Danke an der Stelle, dass du mitgemacht hast. Wir lesen uns dann spätestens zum Tag der Auswertung wieder.
Von: Platan
2015-09-12T22:50:02+00:00 13.09.2015 00:50
Aaaah! Der Titel klingt doch endlich mal nach der Antwort, die mich schon die ganze Zeit brennend interessiert! Dann fange ich doch am besten auch sofort an zu lesen. *___*

Charaktere, die in der Schwärze, im Nichts aufwachen ... mir fällt gerade auf, dass ich das in meinen Geschichten auch gern mache. Ich glaube, sogar etwas zu oft, deshalb kommt mir das gerade hier sehr vertraut vor, der Anfang. :,D
Ich finde, du beschreibst dieses Nichts aber doch besser als ich. Besonders dass Midine am Anfang erst mal denkt, sie wäre blind, finde ich gut gemacht. Besonders weil es nach dem Ende vom vorletzten Kapitel ja auch naheliegend sein könnte.

> "Du willst mir nur keine Antworten geben! Wie Malicia! Wie die Bücher! Wie alle hier!"
Kein Wunder, dass sie langsam die Nerven verliert. Ich hätte sie schon lange verloren. ;<

> Wenn ich nicht gerade jeden Moment getötet werden könnte, weil mir hier niemand erklären will, WAS HIER LOS IST?"
Danke, Midine. Erfordere Antworten! ICH WILL AUCH WELCHE! >___<

> "Scht. Leise, sonst verpasst du die Show. Lehn dich einfach zurück und entspann dich... dann tut es vielleicht nicht ganz so weh."
... Irgendwie kommt es mir so vor, als wäre das Malicia, so von der Art her. :,D

> Oder vielleicht hatte die Stimme auch gar keinen Körper, den man so lange schütteln konnte, bis Antworten herauskamen.
Jetzt muss ich an einen Kaugummiautomaten denken. XD

> aber was, wenn es der berühmte Lichttunnel in ihren Tod war? Sie wollte noch nicht sterben!
Der Gedanke würde mir jetzt auch Panik machen. D;

> Das war die Prophezeihung. Die Prophezeihung.
Jaaaaaaaa, ENDLICH! Q___Q
Sprecht weiter! (づ ̄ ³ ̄)づ

> Das Buch der Wahrheit. Midine erstarrte. Das Buch der Wahrheit?
Aha, also hat es tatsächlich einen wichtigen Sinn, dieses Buch!

> Wie kann er es wagen? Wie kann er es wagen, MICH anzuspucken?
Anspucken ist echt absolut widerlicht ... noch deutlicher kann man kaum zeigen, dass man auf jemanden nur herabschaut.

> Zwar war Midine damals selbst im Krieg gewesen und hatte dort um ihr Leben gekämpft, aber das hier war so viel intensiver.
Schön, hier erfährt man auch endlich, dass sie tatsächlich richtig im Krieg mit dabeigewesen war. Dann muss sie dort ja wirklich einiges gesehen haben, aber so eine verzerrte Realität nimmt, wie gesagt, jeden starken Kämpfer mit.

> Wir… haben den Krieg verloren?
Ihre Zukunft scheint auf jeden Fall nicht rosig auszusehen. :(

Mir hat an dem Kapitel sehr gefallen, dass man hier endlich etwas über die Prophezeihung erfahren hat und auch, wo Midine eigentlich herkam und warum man sie für die Eine hält. Das waren ja genau die Antworten, die ich gern haben wollte und es freut mich, dass ich sie hier schon bekommen habe. Wie gesagt, ich liebe Geschichten, die vollkommen wirr erscheinen, solange alles irgendwann nach und nach aufgeklärt wird und das ist mit diesem Kapitel schon mal ein Stück passiert.
Also sieht Midines Zukunft sehr düster aus ... und anscheinend scheint diese "Alptraumrealität" sich nach ihrem Tod mit der Realität zu überlappen, so zumindest mein erster Gedanke. Oder sie befindet sich bereits in der Zukunft, eben einer anderen Realität und hat nun die Chance, etwas zu ändern. Ach, da kann man jetzt ewig alles mögliche interpretieren.
Jedenfalls hat es mir bis hierher schon mal echt gefallen. Und ich bin immer noch überzeugt, dass diese Stimme im Nichts Malicia war! XD
Von: Platan
2015-09-12T22:01:03+00:00 13.09.2015 00:01
Das ist mit Abstand meine Lieblingsstelle mit Gut und Böse. Ich weiß nicht, aber irgendwie haben die beiden hier total viel Charakter, das gefällt mir total. XD
Wie das Böse immer darauf beharrt, es für den Vergleich "Medaille" zu nennen und das Gute dann immer mit "Münze" korrigiert, ist einfach zu herrlich. Sowieso wirkt das Gute hier so ein wenig desinteressiert, während das Böse sich echt bemüht, seinen Standpunkt zu vermitteln ... was auch immer es eigentlich erreichen will. Dass sie beide voneinander abhängig sind, ist ja schon längst klar geworden. Es bleibt ein Rätsel ...
Von: Platan
2015-09-12T21:48:25+00:00 12.09.2015 23:48
> Was sie brauchte, war ein wenig Optimismus. Auch wenn das noch nie zu ihren Stärken gehört hatte.
Zu meinen auch nicht. >_<
Da können Midine und ich uns zusammentun. :,D

> also würde sie wohl eine ganze Weile lang allein zurechtkommen müssen.
Das heißt also, erst mal keine Malicia mehr? Owww ... Q_____Q

> Mit einem Schlag fühlte Midine sich wieder verfolgt.
Was mich daran erinnert: Wovon wurde sie wohl im ersten Kapitel verfolgt? Hatte ich ganz vergessen zu erwähnen. War das sie, von der Malicia sprach oder etwas anderes? Jedenfalls muss es ja noch irgendwo sein, also ist Vorsicht geboten.

> Finde das Buch der Wahrheit.
Ein weiteres Rätsel! Weil Midine Rätsel ja auch so sehr mag. :D
Und weil es ja auch nur so wenige Bücher dort zu finden gibt. #Ironie

> Die Eine erstarrte. War das gerade... ein Quieken gewesen? Unter ihrem Fuß?
Ein süßes kleines Schweinchen? 。◕‿‿◕。
(Solche Albereien sind übrigens ein gutes Zeichen bei mir, also nicht denken, ich würde mich lustig machen. >_<)
[...] Oh, nein, es war das Buch. °_°
Mit den sprechenden Büchern kommt hier nun nochmal ein richtiger Fantasy-Flair dazu, der das alles noch skurriler wirken lässt, was mir echt gefällt.

> Ein Rätsel mit Zeitlimit? Midine wurde eiskalt.
Die Buchstaben am Fenster tauchten den Raum in ein blutrotes Licht. Sie schienen Midine auszulachen, zu verspotten.

Dieser Effekt mit den Buchstaben, die alles in blutrotes Licht tauchen, ist echt cool gemacht. Bringt einfach mächtig Stimmung rein in diese Szene.

> Natürlich, bei so einer Frage antworten sie alle mit der gleichen Antwort. So finde ich das Buch der Wahrheit nie.
Genau das habe ich mir auch gerade gedacht. XD

> dass der Schemel eben noch fröhlich vor sich hin gewackelt hatte und sich leicht hatte zurückschieben lassen.
Entweder wirklich nur, um es Midine schwerer zu machen oder weil diese beiden Stühle ja zu einem anderen Rätsel gehörten und nichts mit dem neuen zu tun haben. Ich wäre an ihrer Stelle jetzt furchtbar frustriert. >_<
Btw: Das anhaltende Ticken, das fett hervorgehoben ist, bildet ein schönes Stilmittel. Dadurch spürt man den Zeitdruck förmlich selbst, der auf ihr lasten muss.

> weil sich nach unten sehen in dieser Welt noch nie als eine gute Idee erwiesen hatte.
Wahrlich weise Worte, die hier gesprochen werden!

> "Gib uns das Buch.", sagte es und betonte dabei jedes Wort so sorgfältig, dass es fast bedrohlich klang.
Hier ist wieder ein Punkt, der da nicht hingehört. :)

... Nach diesem Kapitel sieht man Bücher plötzlich in einem ganz anderen Licht.
Das war irgendwie total verstörend, aber faszinierend. Ich frage mich, was ihr dieses Buch der Wahrheit jetzt bringen soll, denn sie wird ja wohl jetzt nicht umsonst so schwer darum gekämpft haben. Außerdem ist da auch immer noch das Päckchen von Malicia, das sie öffnen muss. Was da drin ist, frage ich mich auch. Es gibt noch so viele ungelöste Fragen. °_°
Ich möchte auch gern mal wissen, wieso gerade Midine eigentlich immer als "die Eine" bezeichnet wird. "die vermeintliche Retterin der Welt" heißt es ja im Prolog. Und Malicia war da auch schon ihre Erzfeindin. Hat das alles mit der "Prophezeihung" zu tun? Bin gespannt, ob sich das noch aufklären wird (oder ob ich etwas Entscheidenes glatt übersehen habe, kann mir nämlich auch mal leicht passieren :,D).
Jedenfalls ein interessantes Kapitel. Und auch interessant, dass Midine am Ende der Gedanke an Malicia gerettet hat. >:)
Sieht aber so aus, als hätte es ihr nicht viel gebracht, den Büchern entkommen zu sein ... D;
Von: Platan
2015-09-12T20:06:14+00:00 12.09.2015 22:06
> Das Gute sah interessiert von seinen Fingern auf.
Ah, das Gute hat also mit den Fingern getrommelt. Dadurch wirkt es irgendwie so "Was mache ich eigentlich hier, wenn es eh nichts weiter zu sagen gibt?". :,D

> "Wenn es kein Böse gäbe, wäre niemand in der Lage, das Gute zu erkennen."
Jap! Ja, das ist genau das, was ich in meinem vorletzten Kommentar zum Tempel der Stille-Kapitel meinte und es stimmt auch. Da kann man nicht dran rütteln.

> "Und ein Bösewicht macht eine Geschichte erst spannend."
Dem kann ich auch nur zustimmen. *nick nick*
Besonders wenn sie Malicia heißen~. (die ich für mich noch nicht wirklich als "böse" sehen kann)

> "Dann sind wir wohl dazu bestimmt, das hier ewig zu machen...", seufzte eben jenes.
Was die beiden nicht gerade glücklich zu machen scheint. :,D
Da das Böse es ja war, das mit Gut sprechen wollte, frage ich mich, ob es zum Ziel hat etwas daran ändern zu wollen. Denn irgendetwas muss es ja mit diesem Gespräch bewirken wollen und natürlich fage ich mich auch, ob man hier davon ausgehen kann, dass Malicias Spiel mit Midine damit etwas zu tun hat.

Nun, es hat wirklich etwas, diese kurzen, ruhigen Gespräche zwischen Gut und Böse, auch wenn man natürlich nach nie vor nicht weiß, worauf das alles genau hinauslaufen soll.


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