Zum Inhalt der Seite

Mallory

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Die bittere Wahrheit

Mallory erreichte einen heruntergekommenen Kinderspielplatz, wo sie Finnian und Ilias fand. Ilias lag auf dem Boden und schien sich kaum bewegen zu können und sein bester Freund stand Todesängste aus, während er am ganzen Körper zitternd in einer Ecke kauerte. Sein Vater war da und er hatte den Gürtel in der Hand, mit dem er immer wieder auf Finnian eindrosch, während dieser versuchte, mit den Armen sein Gesicht zu schützen. „Du verdammter Bengel“, brüllte der Säufer, während er wieder und wieder auf seinen Sohn einschlug, der vor lauter Angst völlig unfähig war, sich zu wehren. „Hör auf zu flennen und tu endlich, was man dir sagt. Bist du ein Mädchen, oder was? Na los, jetzt mach endlich!“

„Nein, bitte hör auf. Ich will das nicht!“ Immer und immer wieder drosch er auf Finnian ein, um ihn endgültig zu brechen. Er würde nicht eher aufhören, bis er ihm gehorchte und dann würde die wahre Tortur noch beginnen. So weit durfte es nicht kommen! Da Ilias nicht imstande war, aufzustehen und seinen besten Freund zu beschützen, musste Mallory es selbst tun. Und sie war fest entschlossen, alles zu tun, damit dieses Schwein endlich damit aufhörte. Solange sie noch etwas tun konnte, würde sie nicht zulassen, dass er Finnian noch mal anfasste. „Aufhören“, rief sie und griff sich die Brechstange, die einer der beiden vorhin fallen gelassen haben musste. „Lassen Sie auf der Stelle Finny in Ruhe!“ Doch der stämmige Mittvierziger ignorierte sie völlig und packte schließlich Finnian an den Haaren und zerrte ihn hoch. „Du weißt, was du zu tun hast, also mach es gefälligst, oder ich schlag dir die Zähne einzeln raus!“ „Dad, bitte hör auf…“

„Nun mach schon, oder soll ich dir den Schädel genauso einschlagen, wie deinem Bruder?“ Mallory holte aus und schlug mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, die Brechstange auf den Kopf des Mannes und dieser Schlag war stark genug, um ihm den Rest zu geben. Wie ein nasser Sack fiel er zu Boden und erneut schlug sie zu, um auch wirklich sicher zu sein, dass er nicht mehr aufstehen würde. Pechschwarzes Blut spritzte, während sie auf ihn eindrosch und schließlich ließ sie die Brechstange sinken, um sich das Blut, falls es überhaupt welches war, aus dem Gesicht zu wischen. Ihre Lunge schmerzte und sie hatte Mühe, Luft zu holen. Sie war völlig außer Atem und ihre Arme taten von den kräftigen Schlägen weh. Außerdem bekam sie schon wieder Kreislaufprobleme, denn der Anblick des Toten begann schon wieder Angst bei ihr auszulösen. Schon jetzt spürte sie wieder, wie ihr Kreislauf zu rebellieren begann und ihr wurde schwindelig. Außerdem kehrten die Kopfschmerzen wieder zurück und wieder spürte sie diesen brennenden Stich in der Schläfe. Aber sie ignorierte den Schmerz, denn es gab jetzt viel wichtigere Dinge: Sie musste sich um die anderen kümmern, insbesondere um den armen Finnian, der sicher die Hölle durchgemacht haben musste, während sie nicht da gewesen war. Er hatte ziemlich viele Schläge abbekommen und starrte apathisch ins Leere, die Augen waren matt und starr und sein Blick war vollkommen leer geworden. Weder auf Mallory selbst, noch auf irgendwelche Worte reagierte er überhaupt noch. Er stand völlig neben der Spur. Also wandte sie sich zuerst an Ilias, der neben ihm auf dem Boden lag und drehte ihn auf den Rücken. Als sie seinen Arm dabei zu fassen bekam, bemerkte sie mit leisem Schrecken, dass er sich ganz kalt und hart anfühlte, als wäre er aus Marmor. „Ilias, was ist mit dir? Sag doch etwas!“ Ihre Blicke trafen sich, doch dieses Mal leuchteten seine Augen nicht mehr so wunderschön grün wie sonst. Nein, sie waren glasig und wirkten trüb, ja schon fast farblos. In seinem Gesicht war nichts als unendliche Verzweiflung und Todesangst zu sehen. „Mallory…“ Er streckte seine Hand nach ihr aus, doch bevor er sie berühren konnte, erstarrte seine leichenblasse Hand in der Bewegung und auf der Haut begannen sich Risse zu bilden. Ein hässliches Knirschen ertönte und dann zerbrachen seine Finger wie Stein. Dabei verzerrte sich sein Gesicht, als würde er von einer Welle unvorstellbarer Schmerzen erfasst werden. Er stöhnte gequält auf und atmete schwer, während der Prozess immer weiter fortschritt. Mallory konnte nicht fassen, was da gerade passierte und ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. Sie hielt seine Hand, spürte aber nur hartes und kaltes Gestein. Ilias begann vor ihren Augen zu versteinern und zu zerfallen. „Ilias, was passiert mit dir? Du… du verwandelst dich in eine Statue!“

„Hilf mir Mallory… bitte…“ Er hatte Angst, entsetzliche Angst sogar und wusste, was da gerade mit ihm passierte. In seinen Augen erkannte sie, dass er genau wusste, warum er versteinerte und zerfiel. Er hatte genauso wie Lewis und Dean die Antwort gefunden, was unweigerlich seinen Tod zur Folge hatte. Und er erlitt das Schicksal, das er am Meisten fürchtete. Das war für ihn noch schlimmer als die Tatsache, dass er sterben würde. „Ich… ich will nicht sterben, ich will keine Statue werden. Bitte hilf mir, ich will keine Statue werden, ich hab Angst!!!“ Doch Mallory wusste nicht, was sie für ihn tun konnte und ob es überhaupt etwas gab, was sie tun konnte, um diesen Prozess aufzuhalten. Stattdessen musste sie hilflos mit ansehen, wie Ilias’ restlicher Arm zerbröckelte und auch der Rest seines Körpers versteinerte. Seine Arme, seine Beine, wirklich alles wurde hart und kalt. Und auch als Mallory um Hilfe zu rufen begann, tat sich nichts. Kein rettendes Wunder geschah, stattdessen begann nun auch Ilias’ restliche Körperhälfte nach und nach zu zerfallen. Er starb langsam in ihren Armen und musste dabei entsetzliche Schmerzen ertragen. Schluchzend drückte sie ihn an sich und vergoss still ihre Tränen. Gab es denn gar nichts, was sie für ihn tun konnte, um ihm zu helfen? War denn wirklich alles zu spät? Wieso überhaupt verwandelte er sich langsam in eine Statue und zerfiel vor ihren Augen? Selbst sein Gesicht begann sich kalt anzufühlen und dunkle Risse zogen sich über seine Haut, als wäre sie zerbrechendes Porzellan. Wieso nur musste Ilias sterben und dann auch noch auf diese Weise? Das hatte er nicht verdient. „Ilias… bitte lass mich nicht alleine. Du darfst nicht gehen, hörst du? Bleib bei mir, ich brauche dich!“ Doch sein Blick verriet, dass es bereits zu spät war. Nichts und niemand konnte ihn jetzt noch retten. Sein Gesicht wurde nun auch so hart und kalt wie Marmor und verlor an Farbe. Die Risse wurden größer und sein Atem wurde immer schwerer. Dieser furchtbare Prozess musste unendlich schmerzhaft für ihn sein. „Es… tut mir Leid, Mallory. Dabei wollte ich dich und Finny beschützen und jetzt… jetzt lasse ich euch alle im Stich. Ich bin für niemanden eine Hilfe, immerzu versage ich auf ganzer Linie. Ich konnte Lewis nicht retten, ebenso wenig wie meine Mutter und meine Schwester.“

„Das stimmt nicht, bist kein Versager. Für mich warst du ein großartiger Mensch, genauso wie Lewis und Finny. Keiner von euch war je ein Versager oder ein Feigling. Ich bin hier diejenige, die versagt hat. Wegen mir ist Lewis gestorben und ich konnte nicht einmal Dean retten.“ Wie sehr wünschte sie sich, dass Ilias sie noch ein allerletztes Mal in den Arm nehmen und sie trösten würde. Sie wollte seine Wärme und seinen Herzschlag spüren und wissen, dass es in Ordnung war, auch mal schwach zu sein. Aber es würde nie wieder so sein. Seine Arme waren zerbrochen, ebenso wie seine linke Körperhälfte. Was von ihm übrig blieb, war ein kläglicher Rest, der unter furchtbaren Schmerzen langsam versteinerte. Und Mallory wurde auf schmerzliche Art und Weise klar, dass es nichts mehr gab, was sie noch für Ilias tun könnte. Er war verloren… genauso wie es Lewis und Dean waren. Sanft strich sie über sein Haar und küsste ihn ein allerletztes Mal. Es war ein trauriger Abschiedskuss und durch die vielen Tränen konnte sie kaum noch etwas sehen. Und doch… obwohl Ilias so starke Schmerzen hatte und wusste, dass er gleich sterben würde, lächelte er und ein kleiner Lebensfunke kehrte in seine wunderschönen grünen Augen zurück. „Mallory, ich… ich liebe dich. Eigentlich wollte ich dir das schon die ganze Zeit sagen, aber ich habe bis jetzt nie den Mut dazu aufgebracht, weil ich noch nie wirklich verliebt gewesen war. Und auch wenn die Zeit mit dir nur sehr kurz war, fand ich sie doch sehr schön. Die Zeit mit dir und den anderen hat mein Leben erst wirklich lebenswert gemacht. Und dafür möchte ich dir noch danken. Du bist meine erste große Liebe…“

„Und du die meine…“ Diese Worte brachte Mallory nur mit Mühe zustande, denn sie begann heftig zu schluchzen und konnte diesen Blick kaum ertragen. Sie konnte es nicht ertragen, Ilias so leiden zu sehen, geschweige denn, ihn sterben zu sehen. Insgeheim hoffte sie immer noch, dass ein Wunder geschehen und das Leben wieder in ihn zurückkehren würde. Dass die Versteinerung aufhören und er bald wieder ganz der Alte sein würde. Aber tief in ihrem Herzen wusste sie, dass es so etwas wie Wunder nicht gab. Happy Ends gab es nur in Romanen und Filmen, wo im allerletzten Moment noch eine Tragödie abgewendet werden konnte. Und als sie sah, dass Ilias’ Blick nun gänzlich leer geworden und sein Gesicht völlig erstarrt war, wusste sie, dass es nun vorbei war. Ilias war tot… Vorsichtig legte sie sie ihn auf den Boden, damit nicht auch noch der Rest seines Körpers zerfiel, dann verbarg sie das Gesicht in den Händen und weinte bitterlich. Sie fühlte sich vollkommen allein gelassen und all ihr Schmerz und Kummer brach mit einem Male hervor. Nach und nach ging jeder von ihr und sie hatte es nicht aufhalten können. Weder Lewis, noch Dean und Ilias hatte sie retten können. Warum nur hatte auch noch Ilias auf solch eine schreckliche Art und Weise sterben müssen? Das war einfach nur grausam. Und während sie weinte, realisierte sie, dass sie ihn niemals wieder sehen würde. Er würde nicht mehr mit seinem Fahrrad durch die Stadt rasen und sie verlegen ansehen, weil er zu schüchtern war, um ihr seine Gefühle zu gestehen. Er würde sie nie wieder in den Arm nehmen und ihr das Gefühl geben, dass sie auch mal schwach sein durfte und sich von anderen beschützen und halten lassen konnte. Zwar war sie schon in der Vergangenheit verliebt gewesen, aber sie hatte nie das Gleiche gefühlt wie bei Ilias. Im Grunde war er tatsächlich ihre erste wahre Liebe. Doch nun war er nicht mehr da und sie hatte nichts tun können, um ihn vor diesem grausamen Tod zu bewahren. Sie war genauso machtlos wie damals, als sie nicht einmal ihre Familie beschützen konnte. Wirklich alles war schief gelaufen. Warum nur hatte sie unbedingt nach Dark Creek kommen müssen? Wäre sie niemals hierher gekommen, dann hätte das alles nicht passieren müssen. Ilias würde täglich seine Botengänge machen und mit seinem besten Freund Finnian Tennis oder mit dem kleinen Dean Fußball spielen. Dean könnte ausgelassen spielen und sein Leben als normaler kleiner Junge leben und wäre glücklich. Vielleicht wäre auch Lewis glücklich gewesen, wenn er sich nie erinnert hätte. Womöglich war alles tatsächlich allein ihre Schuld, weil sie sich unbedingt überall einmischen und alte Wunden wieder aufreißen musste. Ja, es war alles ihre Schuld gewesen. Sie hatte den Anfall von Finnian verschuldet, weil sie ihn an den Mord an seinen Bruder und die unzähligen Misshandlungen und Vergewaltigungen durch seinen Vater erinnern musste. Hätte sie nicht so viel gefragt, hätte Lewis nicht den Entschluss gefasst, in den Vergnügungspark zu gehen und dann wäre er vielleicht noch hier. Hätte sie nicht auf diese Statuen geschossen, wäre Dean vielleicht noch am Leben und hätte sie Ilias und Finnian nicht mitgeschleppt, dann hätte das alles auch nicht passieren müssen. Dann wäre Finnian diese Konfrontation mit seiner schlimmsten Angst erspart geblieben und Ilias hätte nicht zu einer Statue werden müssen. Allein ihretwegen mussten sie diese Hölle erneut durchleben. Was war sie doch bloß für ein rücksichtsloser und egoistischer Mensch, dass sie das Leben der anderen aufs Spiel gesetzt hatte, nur weil sie wissen wollte, was aus ihrer Familie wurde und wer sie wirklich war. „Mallory…“ Als sie diese schwache und gebrochene Stimme hörte, wandte sie sich um und sah Finnian, der immer noch in der Ecke kauerte, nun aber den Blick erhoben hatte und ins Leere starrte. Er weinte nicht, es gab keinerlei Gefühlsregungen bei ihm. Und Mallory wusste auch warum: Er hatte keine Tränen mehr, die er noch hätte vergießen können. In der Vergangenheit hatte er einfach zu oft geweint. Aber sie selbst konnte nicht aufhören und in dem Moment fühlte sie, als müsste sie auch für ihn weinen. „Finny… es tut mir so Leid… es ist alles meine Schuld.“ Apathisch starrte Finnian ins Leere, innerlich schien er gänzlich gebrochen zu sein. Aber dann schaute er sie an und es schien so, als würde er dieses Mal gezielt ihren Blick suchen. In diesem Moment wirkte er plötzlich wie ein ganz anderer Mensch und nicht wie der Finnian, den sie gekannt hatte. Er war nicht mehr der allzeit gut gelaunte, witzige und fröhliche Finny McKinley, den sie kennen gelernt hatte und der in einer Welt voller Selbstlügen lebte. Nun war er der Finnian, der er wirklich war: Ein hoffnungsloser und gebrochener Junge, der zu viel in der Vergangenheit ertragen musste und wirklich alles verloren hatte, was er besaß. Seine Unschuld, seine Hoffnung, seinen kleinen Bruder. „Nein“, sagte er mit tonloser Stimme und sah sie weiterhin an. Er war in diesem Moment einer Leiche ähnlicher als einem Menschen. „Du kannst nichts dafür, was passiert ist. Ich… ich habe es nun endlich verstanden. Was Lewis uns sagen wollte und wieso er Selbstmord beging. Und auch, warum Dean und Ilias gestorben sind. Wir alle haben es tief in unserem Herzen gewusst, aber solange wir es verdrängt hatten, konnten wir so unbeschwert weitermachen wie bisher. Die Wahrheit ist, dass uns so oder so nichts und niemand hätte retten können.“

Fassungslos starrte Mallory an und glaubte zunächst, es wäre die Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, die da aus ihm sprach. „Warum sagst du so etwas?“ Unter dem Verband, den er am Hals trug, begann sich ein dunkelroter Fleck zu bilden. Er presste eine Hand an die Stelle und sah, dass an seiner Hand Blut klebte, doch selbst das rührte ihn nicht mehr. „Die Wahrheit ist, dass wir schon verloren waren, als wir nach Dark Creek kamen. Und jetzt kann ich mich auch endlich wieder an alles erinnern. Auch an das, was damals passiert ist.“

„Was ist passiert?“

„Als Keenan geboren wurde, war ich gerade 13 Jahre alt. Unsere Mutter starb bei seiner Geburt und war schon mit mir völlig überfordert gewesen, weshalb sie nie wirklich eine Mutter für mich war. Nach ihrem Tod verlor Dad seinen Job und wurde Alkoholiker. Er hat sich nie um Dean oder mich gekümmert, weshalb ich meinen Bruder letztendlich selbst großgezogen habe. Schließlich wurde mein Alter gewalttätig, er schlug mich fast jeden Tag grün und blau und drückte seine Kippen auf meinem Arm aus. Wenn er richtig sauer war, hatte er mich mit dem Gürtel verdroschen. Und dann, als er von einer Kneipentour zurückkam, schleifte er mich zum Bett. Er sagte, er würde mich und meinen Bruder umbringen, wenn ich nicht tun würde, was er sagt. Also habe ich still gehalten und mir in die Hand gebissen, damit ich nicht schrie oder weinte. Manchmal war er dabei so brutal, dass ich zwei Tage nicht mehr stehen konnte und wenn ich es konnte, stand ich fast zwei Stunden unter der Dusche und hab mir die Seele aus dem Leib geheult. Ich hab mich so schmutzig und abstoßend gefühlt, aber ich hatte gleichzeitig entsetzliche Angst, dass er seine Drohung wahr macht und Keenan etwas antut. Als er schließlich auf den Trichter kam, sich auch an Keenan zu vergreifen, wurde mir klar, dass ich für uns beide stark sein musste und ertrug damit auch all dies, was er ihm antun wollte. Mein Alltag bestand aus Angst, Schmerzen, Selbsthass, Scham und Selbstmordgedanken. Allein die Sorge um meinen kleinen Bruder hielt mich davon ab, mir die Pulsadern aufzuschneiden, oder vor den nächsten Zug zu springen. Ich wusste, dass Keenan das Gleiche durchleben würde wie ich, wenn ich ihn im Stich lasse. Da ich wegen alledem kaum zur Schule ging, brach ich sie letztendlich ab und hielt mich mit Aushilfsjobs über Wasser. Alles, was ich an Geld entbehren konnte, sparte ich zusammen, damit ich mit meinem Bruder abhauen konnte. Mir war klar, dass wir unbedingt von zuhause weg mussten. Ich wollte, dass Keenan es besser haben wird als ich und dass er irgendwo aufwächst, wo er nicht diese schrecklichen Dinge miterleben muss. Tagsüber arbeitete ich im Kiosk und nachts an der Tankstelle. Wenn ich zuhause war, dann setzte es meist Prügel oder er verging sich an mir. Aber ich hielt durch, weil ich Keenan unbedingt aus dieser Hölle rausholen und selbst vor den Übergriffen meines Vaters flüchten wollte. Vor sechs Monaten war alles bereit und ich hatte genug zusammengespart. Ich musste nur ein paar Sachen besorgen gehen und dann konnten wir los. Als ich nach Hause kam und Keenan mitnehmen wollte, fand ich ihn in einer Blutlache liegend in seinem Zimmer. Dad stand mit einem Müllsack da und wollte seine Leiche entsorgen gehen. Er hatte einen Ausraster gehabt, nachdem seine Lieblingsmannschaft das Match verloren hatte und dabei hatte er zu heftig zugeschlagen und Keenan zu Tode geprügelt. Das war zu viel für mich in dem Moment. Ich habe nur noch rot gesehen und wollte diesen Bastard endlich büßen lassen für das, was er mir und letztlich auch Keenan angetan hat. Ich wollte ihn umbringen.“ Finnian begann nun schwerer zu atmen und presste wieder seine Hand gegen den Hals. Die Blutung wurde immer stärker und Mallory wollte schon hin und ihm helfen, doch er hielt sie zurück. Er war bereit, genauso wie Lewis bereit gewesen war und wollte vorher wenigstens noch Mallory die Wahrheit wissen lassen, auch wenn es für sie schrecklich sein würde. „Ich war in dem Moment so voller Wut, dass ich ihn einfach so angriff und versuchte, ihn genauso zu verprügeln, wie er mich immer verprügelt hatte. Aber er war einfach zu stark für mich. Als er genug auf mich eingeschlagen hatte, nutzte er meinen wehrlosen Zustand aus, um mich wie schon viele Male zuvor zu vergewaltigen. Als er fertig war, holte er das Taschenmesser aus seiner Hose und schnitt mir den Hals auf. Und dann bin ich gestorben.“ Stille trat ein, fassungslose Stille. Mallory starrte Finnian entsetzt an und konnte nicht glauben, was sie da hörte. Er war gestorben? Aber wie konnte es sein, dass er hier vor ihr war? War er etwa ein Geist? „Ilias, Dean und Lewis… sie alle sind auch gestorben, bevor sie nach Dark Creek gekommen sind. Ilias hatte eine seltene Erbkrankheit, genauso wie seine Schwester Sarah und seine Mutter. Sie wird Fibrodysplasia ossificans progresssiva genannt und ist eine Art Defekt. Der Körper beginnt nach und nach die Muskelzellen in Knochen umzuwandeln, wodurch sich eine Art zweites Skelett im Körper bildet. Das hat zur Folge, dass die Betroffenen zu lebenden Statuen werden. Ilias’ Mutter starb bereits an dieser Krankheit und als auch Sarah die Symptome bekam, wurde Ilias bewusst, dass auch er und seine Schwester genauso krank waren. Er wollte mit aller Macht dagegen ankämpfen und trieb exzessiv Sport, um zu verhindern, dass er genauso bewegungsunfähig und bettlägerig wird wie seine Mutter. Dank seiner sportlichen Leistungen kam er an ein Stipendium und begann in den USA Medizin zu studieren. Er wollte ein Heilmittel für diese Krankheit entwickeln, um sich selbst und seine Schwester zu retten. Aber es gibt kein Heilmittel für die Verknöcherung und egal wie sehr Ilias auch kämpfte, er kämpfte letzten Endes auf verlorenem Posten. Der Krankheitsverlauf und die damit verbundene Verknöcherung der Muskeln war äußerst schmerzhaft und Ilias kämpfte trotz der vielen Niederlagen weiter. Sarah, die das alles nicht ertragen konnte und nicht so elendig sterben wollte wie ihre Mutter, beging schließlich Selbstmord, indem sie eine Überdosis Schlaftabletten schluckte. Ilias versuchte noch, ihr Leben zu retten, spritzte aber in seiner Panik das falsche Mittel, sodass Sarah nicht mehr rechtzeitig gerettet werden konnte. Nach dem Selbstmord seiner Schwester war auch er mit seiner Kraft am Ende und brach schließlich während seines Trainings zusammen, wobei er sich ein Bein brach. Dies führte dazu, dass der Verknöcherungsprozess noch schneller voranschritt und Ilias schließlich genauso ans Bett gefesselt war wie seine Mutter. Er starb schließlich nach zwei Jahren unter starken Schmerzen, als seine Organe sich genauso verhärteten und sein Herz deshalb aufhörte zu schlagen.“ Mallorys Brust schnürte sich zusammen, als sie das hörte. Es tat ihr in der Seele weh, zu hören, was wirklich passiert war. Aber nun verstand sie auch, was es mit Ilias’ Verhalten auf sich hatte und wieso er solch eine panische Angst vor Statuen hatte. Sie erinnerten ihn an diese Erbkrankheit, die ihn dazu verurteilt hatte, genauso zu einer lebenden Statue zu werden wie seine Mutter. Zwar hatte er sich nicht mehr erinnern können, was mit ihm und seiner Familie passiert war, aber die Gefühle waren immer noch geblieben. Diese hatte man ihm nicht nehmen können, was auch dazu geführt hatte, dass in Dark Creek wieder einige Symptome aufgetreten waren. Ilias’ steife Gelenke waren der Beweis, dass man niemals diese Erinnerungen gänzlich entfernen konnte, weil diese damit verbundenen Emotionen unauslöschlich waren. Deshalb hatte auch Finnian all die Zeit in einer von ihm geschaffenen Illusion gelebt, in der sein kleiner Bruder noch am Leben war. Und nun wusste sie auch, wieso Ilias so furchtbare Angst gehabt hatte, als er seinem besten Freund die Injektion geben musste: Er hatte seiner Schwester in seiner Angst um ihr Leben ein falsches Mittel gegeben, weshalb sie letztendlich durch die Schlafmittelüberdosis starb. Hätte er nicht versagt, dann hätte er sie vielleicht retten können. Er musste sich bis zu seinem Tod schreckliche Vorwürfe gemacht haben, dass er seine Schwester nicht retten konnte und dass er nicht imstande war, ein Heilmittel für ihre Krankheit zu finden. Mallory wischte sich die Tränen aus den Augen und beobachtete, wie Finnians Blutverlust höher wurde. „Und was ist mit Lewis und Dean passiert?“

„Dean wurde von seiner älteren Schwester immer schikaniert, genauso wie von seinen Mitschülern. Seine Eltern hatten ihn immerzu unter Druck gesetzt, weil er nicht so gut in der Schule war und er war oft unglücklich deswegen. Drei Male lief er von zuhause weg, oder kam gar nicht erst von der Schule wieder. Stattdessen trieb er sich alleine auf dem Spielplatz herum und dabei lernte er schließlich Anna kennen, die auf ihre Weise genauso traurig und einsam war wie er. Sie wurden Freunde und Dean kam sie oft besuchen. Anna und Josephine waren die einzigen Freunde, die er hatte und bei ihnen fand er Halt und Trost. Aber dann kam es in der Schule zu einem Amoklauf. Ein Mann kam mit einem Sturmgewehr in die Schule und erschoss mehrere Kinder, darunter auch Lehrer. Dean hat mit ansehen müssen, wie seine Klassenkameraden und Lehrer vor seinen Augen erschossen wurden. Es brach schließlich Panik in der Schule aus und viele versuchten wegzulaufen, wobei sie erschossen oder verletzt wurden. Dean stürzte zu Boden und versteckte sich in einem Spind in der Hoffnung, dass man ihn nicht finden würde. Doch der Mann fand ihn, zerrte ihn heraus und brachte ihn mit anderen Geiseln in die Sporthalle. Dort fand eine regelrechte Exekution statt, bei der nach und nach jeder erschossen wurde, bis die Polizei die Halle stürmen und den Mann töten konnte. Für Dean kam diese Hilfe leider zu spät und er wurde direkt ins rechte Auge getroffen. Er war sofort tot, als der Schuss ihn traf. Lewis hat das Zugunglück, in welches er geraten war, nicht überlebt. Als der Tunnel einstürzte, wurden sie verschüttet und dabei brach sich Lewis beide Beine. Aber er ist als Einziger von uns bis zu seinem Tode stark geblieben und hat bis zuletzt nicht den Mut und nicht eine Sekunde lang seinen Willen verloren. Obwohl er sich kaum bewegen konnte, tat er alles, um den Verletzten zu helfen und die verängstigten Menschen aufzumuntern. Er versprach ihnen, bis zu ihrer Rettung durchzuhalten und alles zu tun, um sie zu retten. Aber er selbst wusste, dass er nicht lange durchhalten würde. Bei dem Unglück hatte er sich auch starke innere Blutungen zugezogen und hätte dringend ins Krankenhaus gemusst. Da er nicht wusste, ob er es überhaupt ins Krankenhaus schaffen würde, verfasste er eine Nachricht, in der er sich als Organspender bereit erklärte, falls er sterben sollte. Er versprach den anderen Verunglückten, dass er nichts unversucht lassen würde, um ihnen zu helfen und wenn eine Organspende die letzte Möglichkeit sein würde. Dies führte dazu, dass seine Nachricht für die Ärzte und Sanitäter zu einer Liste wurde. Fast alle, die ebenfalls im Zug feststeckten, waren so bewegt, dass sie sich ebenfalls als Organspender eintrugen, wenn sie es nicht schaffen sollten. Lewis schaffte es tatsächlich, den Verletzten Mut zu machen und die ganze Gruppe zusammenzuhalten. Und dank seinem Engagement konnte die Zahl der Toten deutlich niedrig gehalten werden und mit seiner Idee hatte er bewirkt, dass selbst nach seinem Tod Menschen gerettet werden konnten. Und er schaffte es tatsächlich, bis zu ihrer Rettung durchzuhalten, aber er starb dann, bevor er überhaupt den Rettungswagen erreichte. Trotzdem war er glücklich. Er ist genauso wie in Dark Creek mit einem glücklichen Lächeln gestorben, weil er letztendlich doch unter dem freien Himmel sterben durfte.“ Mallory hatte den Blick gesenkt und schwieg. Alles ergab nun endlich Sinn und sie verstand auch, was es mit diesen ganzen Ungereimtheiten auf sich gehabt hatte. Deans fehlendes Auge erklärte sich auf die gleiche Weise wie Ilias’ Gelenksteifheit in Dark Creek und deshalb war er auch im Spiegellabyrinth gestorben. Als die Beretta abgefeuert wurde und er die Schüsse hörte, hatte er sich wieder an den Amoklauf an seiner Schule erinnert und dass er dabei ums Leben gekommen war. Und nun klärte sich auch auf, wieso Lewis am Vorabend so starke Schmerzen hatte und wieso seine Beine gebrochen waren, als er herunterstürzte. Sie alle starben auf die gleiche Weise wie sie zuvor gestorben waren. Dean starb durch die Verletzung an seinem Auge, Ilias wurde zu einer lebenden Statue und Finnian verblutete durch die Schnittwunde, die sein Vater ihm zugefügt hatte. Und Lewis wäre an seinen inneren Blutungen gestorben, doch bevor das passieren konnte, hatte er seine letzten Kräfte mobilisiert und wollte vom Dach springen, bevor es dazu kam. Als seine Beine erneut brachen, stürzte er und hatte sich instinktiv festgehalten. Aber dann hatte er realisiert, dass er noch die Chance und die Freiheit besaß, seinen Tod selbst zu bestimmen und hatte daraufhin losgelassen. Und weil er wusste, dass er damals bei seinem Tod alles richtig gemacht und vielen Menschen geholfen hatte, konnte er ohne Reue und ohne Angst dem Tod ins Auge sehen. Mallory erinnerte sich an die Fotos in dem abgeschlossenen Zimmer seines Hauses. „Die Personen auf den Fotos… sind das die Menschen, die er gerettet hat?“

„Ja. Indem er sich schriftlich als Organspender gemeldet hat, konnte er einigen Menschen ein neues Leben schenken. Und ohne sein Engagement nach dem Zugunglück hätten einige vielleicht nicht überlebt. Ich habe mich geirrt… Lewis war wirklich ein unglaublicher Kämpfer. Bis zu seinem Tode hat er gekämpft und war immer stark für andere gewesen, selbst in Dark Creek. Im Grunde war er trotz seines Selbstmordes der Glücklichste von uns gewesen, denn er hat den Mut besessen, seinen Tod selbst zu bestimmen und sein Schicksal zu akzeptieren, ohne etwas bereuen zu müssen. Auch wenn er den Menschen, den er über alles liebt, niemals wiedersehen wird.“ Finnian klang sehr unglücklich, als er das sagte und er senkte traurig den Blick. Er hatte immer zu Lewis aufgesehen und jetzt, da er seine ganze Geschichte kannte, umso mehr. Und selbst kam er sich schwach vor, weil er es nicht geschafft hatte, seinen kleinen Bruder zu retten. Mallory ging zu ihm hin und umarmte ihn, um ihm im Augenblick seines Todes beizustehen und ihm nicht das Gefühl zu geben, er wäre genauso alleine wie vor sechs Monaten, als sein Vater ihn umgebracht hatte. Wenn er schon sterben musste, dann sollte er wenigstens das Gefühl haben, dass es auch mal okay war, schwach zu sein. Genauso wie sie sich immer gefühlt hatte, wenn Ilias sie in den Arm genommen hatte. Diese Umarmung war zwar rein freundschaftlicher Natur, aber sie hatte dennoch etwas sehr Emotionales und Inniges. Und sie spürte, wie Finnian innerlich bebte und am liebsten geweint hätte. Aber er konnte es nicht mehr. Stattdessen begann er nach Luft zu schnappen und hustete, als der Schnitt so tief wurde, dass Blut in seine Luftröhre floss und er dadurch kaum noch atmen konnte. Und obwohl der Blutverlust bereits lebensbedrohlich war und er fast zu ersticken drohte, kehrte doch etwas Leben in ihn zurück und er drückte sie zum Abschied fest an sich. „Danke für alles, Mallory. Die Zeit mit dir und den anderen war die schönste, die ich in meinem Leben jemals hatte. Dank euch hatte ich zum ersten Mal richtige Freunde. Und gib dir bitte nicht die Schuld dafür, dass es mit uns so endet, okay? Eigentlich müssten wir dir sogar dankbar sein. Wir sind endlich frei und sowohl Ilias als auch ich konnten einen angenehmeren Tod sterben, als das letzte Mal. Lewis ist genauso glücklich gestorben wie zuvor und auch Dean war nicht alleine. Und wir hatten die Chance, auch mal so etwas wie Glück zu erfahren, nachdem es das Leben schon nicht gut mit uns meinte. Ilias war zum ersten Mal verliebt und ich hatte endlich so etwas wie eine richtige Familie. Aber wirf du dein Leben bitte nicht weg, ja? Du hast es noch vor dir, du bist die Einzige von uns, die noch ein richtiges Leben zu leben hat und damit die Chance, das Beste daraus zu machen. Du kannst Dark Creek verlassen, aber du musst dafür selbst mit dir ins Reine kommen. Lauf nicht länger vor deiner Angst davon, sondern akzeptiere sie als einen Teil deiner Vergangenheit. Und was war, das ist Vergangenheit und du kannst dein Leben selbst bestimmen, dazu musst du nur die Angst in dir selbst bekämpfen. Versöhne dich mit deiner Familie und lebe dein Leben, dass du nichts zu bereuen hast! Versprichst du mir das?“

„Ich verspreche es!“ Es fiel ihr unsagbar schwer, überhaupt noch ein Wort zu sprechen, denn sie spürte, dass sie selbst dazu kaum noch die Kraft aufbringen konnte. Aber sie wollte es Finnian noch vorher versprechen, denn wenn er schon sterben sollte, dann auch glücklich. Er sollte nicht so einsam und würdelos sterben müssen wie damals, als sein Vater ihn getötet hatte. Was auch immer in ihrer Macht stand, sie wollte, dass sein Ende so angenehm wie möglich gemacht wurde. „Ich werde alles tun was nötig ist, um nach Hause zu meiner Familie zurückzukehren. Und dieses Mal werde ich nicht wieder alles verdrängen, sondern mich an die Zeit mit euch allen erinnern, das verspreche ich. Aber… kann ich noch etwas für dich tun, irgendetwas?“

„Könntest du mich bitte noch so im Arm halten? Weißt du, es ist das allererste Mal in meinem Leben, dass mich jemand so gehalten hat, ohne dass es gleichzeitig mit irgendwelchen Schmerzen verbunden war.“ Und Mallory erfüllte ihm diesen letzten bescheidenen Wunsch. Sie spürte, wie sie selbst am ganzen Körper zitterte und wie alles in ihrem Inneren bebte. Aber sie blieb stark und fühlte, wie Finnian selbst immer schwächer wurde. Und als seine Kräfte ganz gewichen waren und sein Kopf nach hinten fiel, legte sie den Toten vorsichtig zu Boden, so als würde sie einen Schlafenden zu Bett legen. Und tatsächlich sah Finnian so aus, als schliefe er bloß. Seine Augen waren geschlossen und obwohl er nicht so lächelte wie Lewis oder Ilias, so wirkte er dennoch glücklich. Denn im Augenblick seines Todes war er nicht alleine gewesen und hatte stattdessen Wärme und Nächstenliebe erfahren, was ihm damals immer fremd gewesen war. Er hatte einen würdevollen Tod finden können und dieses Mal ohne Angst gehen können. Denn im Augenblick seines Todes hatte er es geschafft, seine trostlose und traurige Vergangenheit zu akzeptieren und damit auch die Tatsache, dass sein jetziges Leben in Dark Creek nur geliehen war. Nun war Mallory die Letzte, die noch übrig war. All ihre Freunde hier waren tot und sie lebte noch. Sie hatte als Einzige noch eine Zukunft außerhalb von Dark Creek…



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück