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Chihiro und Kohaku

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Chihiro und Kohaku, Teil 1

Hallo ihr alle,
 

habe ich es endlich geschafft. Aber das ist eigentlich erst die erste Hälfte des neuen Kapitels, aber ich habe es geteilt, weil es wohl sonst noch einen Monat gedauert hätte. Ist aber auch so schon lang genug geworden ^^.
 

Viel Spass beim Lesen,
 

Pazu
 


 

Chihiro und Kohaku, Teil 1
 

Chihiro räkelte sich wohlig auf dem Sofa im Wohnzimmer ihres Hauses. Es war etwa halb sechs Uhr am Abend und sie war erst vor wenigen Minuten vom Schulbus heimgebracht worden. Ihre Eltern waren noch nicht nach Hause gekommen und für die Hausaufgaben fühlte sie sich im Moment einfach zu gut. Dieses gute Gefühl wollte sie jetzt genießen.
 

Vor etwas mehr als einem Monat hatte die Schule wieder begonnen und es war zunächst alles wie zuvor gewesen, außer dass sie nun in die achte Klasse in der Mittelschule ging. Aber vor fünf Tagen hatte sich dann doch etwas geändert, etwas Entscheidendes: Sie hatte keinen Hunger mehr. Es war nicht so, dass sie gar nichts mehr essen musste; sie musste nur nicht mehr andauernd etwas essen.
 

Das war am Samstag passiert. Zunächst war es ihr kaum aufgefallen, bis ihre Mutter sie darauf aufmerksam gemacht hatte, als sie von ihrem Mittagessen nicht mal die Hälfte gegessen hatte. Mehr hatte sie einfach nicht herunterbekommen. Nicht dass es ihr nicht geschmeckt hätte, sie war nur pappsatt gewesen, sodass sie nichts mehr herunter bekam. So etwas war ihr seit drei Jahren nicht mehr passiert.
 

Das nächste, was ihr dann auffiel, hatte sie am Sonntag entdeckt. Nach dem Frühstück wollte sie auf ihr Zimmer hochgehen. Oben angekommen bemerkte sie dann, dass ihr die Treppe überhaupt nichts ausgemacht hatte und die übliche Schwäche ausblieb. Es war ganz leicht gegangen. Probeweise lief sie die Treppe noch einmal hinunter, um erneut hinauf zu gehen. Es ging genauso leicht wie zuvor.
 

Sie konnte zuerst überhaupt nicht glauben, dass ihr die Kraft nicht ausging, sodass sie es wieder und wieder machte. Das Ganze artete schließlich darin aus, dass die eine halbe Stunde lang immer die Treppe rauf und wieder herunter rannte, bis ihre Beine anfingen zu schmerzen, die Lunge zu brennen begann, ihr Herz raste und ihr die Knie zitterig wurden. Schließlich wurde ihre Mutter darauf aufmerksam und stoppte sie. Viel länger hätte sie ohnehin nicht durchgehalten, denn ihr begann von der ungewohnten Anstrengung übel zu werden.
 

Den ganzen Rest des Sonntags konnte sie sich wegen eines Ganzkörpermuskelkaters kaum noch rühren, sodass sie sogar die Verabredung mit Ayaka und Ichiyo zum Baden am Waldsee absagen musste. Trotzdem hatte ihr die Sache ungeheuren Spaß gemacht und bereits am nächsten Morgen waren die Schmerzen wieder wie weggezaubert, sodass sie mit einem leichten, ja fast euphorischen Gefühl in die Schule ging. Jetzt konnte sie auch wieder richtig mit den anderen Kindern spielen.
 

Am nächsten Morgen, dem Dienstag, wurde sie dann von ihren Eltern, wegen ihrer Besorgnis erregenden "Appetitlosigkeit", in das Krankenhaus zu Dr. Ito verfrachtet, der dann den ganzen Tag Untersuchung für Untersuchung an ihr durchführte, sie piekte, durchleuchtete, vermass und sie zum Schluss sogar wieder auf das Fahrradergometer setzte, um ihren Sauerstoffbedarf zu messen.
 

Das Ergebnis des ganzen Untersuchungsmarathons war, dass sie außer ihrem drastischen Untergewicht und ihrem Minderwuchs in perfekter körperlicher Verfassung war. Nur ihr abnorm hoher Kalorienverbrauch war verschwunden; er war nur noch leicht erhöht, wie Dr. Ito sich ausdrückte, als wenn sie zwei Persönchen wäre, aber auf jedem Fall noch im oberen Normbereich für ihr Alter und Körpergewicht.
 

Wie sie nun alleine war, stellte sie jedoch fest, dass eine gewisse Leere in ihr war, die zuvor immer von ihrem Dauerhunger überdeckt worden war. Sie spürte, dass ihr etwas fehlte, etwas, dass sie nicht genau identifizieren konnte, als wäre sie auf merkwürdige Weise unvollständig, und das führte zu einer zunehmenden inneren Unruhe. Chihiro streckte sich deshalb noch einmal, bevor sie zu Fernbedienung griff und die Glotze einschaltete, um diese Leere irgendwie zu füllen.
 

"Sie sollten wissen, dass ich mich mit ganzer Kraft dafür einsetzen werde, dass die mehr als berechtigte Forderung eines jeden nach Teilhabe am sozialen Fortschritt, eine noch zielstrebige Hinwendung erfordert auf einen Plan, der endlich den legitimen Forderungen aller gerecht wird", schmetterte der Politiker mit pathetischem Gestus. "Übrigens kann ich heute mit voller Kenntnis der Sachlage behaupten, dass die Dringlichkeit der Probleme des Alltagslebens sich einfügen muss, in die globale Zweckbestimmung einer raschen Lösung, die den großen sozialen Anliegen gerecht wird." *
 

* Georges Charpak (Nobelpreis Physik), Henri Broch; Was macht der Fakir auf dem Nagelbrett; Piper; ISBN 3-492-04518-9, S. 43 (Baukastensystem für politische Reden, die absolut Nichts sagen XD)
 

Schnell zappte Chihiro weiter. Auf Politiker hatte sie im Moment überhaupt keinen Bock. Im nächsten Programm waren gerade die Sumoringer der Juryo-Division zugange und wenn nachher die besten Kämpfer der Makuuchi-Division, würde ihr Vater sicher wieder zusehen und hoffen, dass dieser Ausländer, dieser Mongole, der neue Yokozuna Asashoryu, endlich aus dem Ring geschubst werden würde. Einen Gefallen, den ihm dieser Asashoryu * allerdings nur zu selten tat.
 

* Asashoryu hat die ersten beiden Turniere 2004 jeweils mit 15:0 gewonnen!!
 

Dann schwärmte ihr Vater immer von den Zeiten, als die Taka-Waka-Brüder immer mit den hawaiianischen Panzern aufgeräumt hatten, diesen fetten Amerikanern, Konishiki, Akebono und Musashimaru, den größten und vor allem dicksten Rikishi aller Zeiten. *
 

* Konishiki: 284 kg, Akebono: 238 kg, Musashimaru: 236 kg; (+- 10 kg); oft genug haben die japanischen Heldenbrüder, Takanohana und Wakanohana, aber auch gegen die Hawaiianer verloren: siehe "Sumo: Kampf der Giganten"; Alexander v. d. Gröben und Simone Mennemeyer; Verlag Dieter Born
 

Das wollte Chihiro aber auch nicht sehen, denn Sumo langweilte sie, weshalb sie eine Weile weiterzappte, ohne jedoch ein Programm zu finden, welches ihr zusagte. Sie blieb dann an dem Film "Das Millionending" * hängen, wie sie aus dem Videotext erfuhr, von dem sie zwar nur das Ende sah, der sie aber dennoch kurzfristig ein wenig aufheiterte.
 

* in stillem Gedenken an Sir Peter Ustinov, der immer ein großes Herz für alle Kinder (und sicherlich auch für einen kleinen Drachen) gehabt hat; von 1968 (mein Geburtsjahr); mit Sir Peter, Karl Malden (die alte Kartoffelnase, Lt. Mike Stone aus "Die Strassen von San Francisco"), Robert Morley (Edelkomparse und lebendes Inventar des britischen Films) und Maggie Smith (-> Minerva McGonagall aus Harry Potter); Drehbuch: Sir Peter; Regie: Eric Till
 

Nach Ende des Filmes kehre ihre innere Unruhe aber zurück und es wollte ihr einfach nicht gelingen, ihr körperliches Wohlbefinden zu genießen, sodass sie dann frustriert auf ihr Zimmer ging. Das hatte sie mit ihrem Vater zusammen noch vor den Sommerferien so umgestaltet, dass sie sich nun viel wohler darin fühlte.
 

Aus dem Umbau eines Hauses, welches ihr Vater verwaltete, hatte dieser nämlich einige, fast neue Tatamimatten entsorgen sollen, die durch pflegeleichtes Parkett ersetzt werden sollten. Doch anstatt sie wegzuwerfen, hatte er sie statt dessen Chihiro geschenkt.
 

Damit hatte sie nun ihr Zimmer so eingerichtet, wie sie es seit ihrem Umzug hierher vorhatte, nach traditioneller japanischer Art. Ihr altes Bettgestell flog zusammen mit der Matratze heraus, ebenso wie die Stühle. Die Tischbeine ihres Schreibtisches wurden so weit gekürzt, dass sie auch auf dem Boden sitzend problemlos daran arbeiten konnte und von ihrer Mutter bekam sie einen Futon geschenkt, den sie tagsüber in ihrem alten Kleiderschrank verstaute.
 

Auf diese Weise hatte sie nun viel mehr Platz in ihrem Zimmer und auf dem Futon schlief sie auch deutlich besser, als auf ihrem Bett, genau so wie sie sich es erhofft hatte. Ihre Freunde, Ichiyo und Ayaka, waren völlig baff gewesen, als sie das Zimmer in dieser neuen Ausstattung erlebten.
 

Vor diesen Schreibtisch hockte sie sich jetzt hin, um die Hausaufgaben zu machen, was sie jedoch auch nicht ruhig stellte. Noch vor einer Woche hatte sie immer etwas knabbern, mampfen oder schlecken können, was sie dann abgelenkt und befriedigt hatte.
 

Das entfiel jetzt glattweg, weil sie einfach nichts mehr herunter bekam und dieses Gefühl, dass etwas fehlte, machte Chihiro fast wahnsinnig. Für die Hausaufgaben brauchte sie weniger als eine hektische Stunde, bevor die wieder in die Luft starrend dasaß. Wenn doch endlich der fünfte Harry Potter Band auf Japanisch erscheinen würde, dann hätte ihr das sicherlich Erleichterung verschafft, aber ihr Englisch war für die britische Originalausgabe, die vor kurzem erschienen war, immer noch zu schlecht.
 

Eifrig schnappte sie sich daraufhin ihr Englischbuch und begann ungeduldig zu lernen, doch auch das bewirkte keinerlei Verbesserung ihres Gemütszustandes. Fast war sie zuguterletzt bereit, zum See zu eilen, Manami zu besuchen und dieser ihr Leid zu klagen. Doch was sollte das ändern. Lieber sollte sie glücklich sein, dass es ihr jetzt so gut ging.
 

Mit einer Geste ihrer Hand ließ sie die Schulbücher Pirouetten in der Luft tanzen, genau so, wie Manami es ihr gezeigt hatte. Was hatte sie früher nur für einen Unsinn gemacht, als sie versuchte die Flugbahn der Gegenstände vollständig mit ihrem Willen zu kontrollieren, als würde sie so etwas wie Telekinese benutzen. Magie funktionierte jedoch anders. Manami hatte sie dann gelehrt, dass die den Sachen nur eindeutige Befehle zu geben brauchte, die diese dann ohne ihr Zutun ausführten, weil sie ihrer Zauberkraft gehorchen mussten.
 

Kein Wunder, dass sie von diesem Versuch, Dinge auf eine Bahn zu zwingen, Kopfschmerzen bekommen hatte, bedeutete es doch, wie Manami ihr erklärt hatte, dass sie Millimeter für Millimeter dem Gegenstand, den sie bewegen wollte, Befehle aufzwang und damit ihre eigene Magie immer wieder selber behinderte und blockierte.
 

Lustlos nahm sie später am gemeinsamen Abendessen mit ihren Eltern teil, die versuchten, sie über ihren Tag in der Schule auszufragen, ihre Freunde oder ihre Interessen, aber sie blockte all dies ab, so gut sie konnte, und zog sich danach in ihr Zimmer zurück. Spät in der Nacht versuchte Chihiro dann einzuschlafen, doch ihre innere Unruhe verhinderte dies, sodass sie bis in die frühen Morgenstunden wach liegend nachdachte.
 


 

Es regnete in Strömen. Haku ignorierte das, so gut es ging, bei dem Versuch zu meditieren, um die Wartezeit nicht wahrnehmen zu müssen. Die äußeren Umstände machten ihm nicht viel aus, zumal es ihm, seitdem er das Bergwerk verlassen hatte, Tag für Tag immer besser ging. Sein Ohr war nach nur einer Nacht narbenlos verheilt gewesen, ebenso wie die Platzwunde an der Stirn und auch seine Fingerkuppen.
 

Dennoch störten ihn die Regentropfen, die auf ihn herniederprasselten, so sehr in seiner Konzentration, dass es ihm nicht gelang, in die Versenkung zu gelangen. Er würde noch viel üben müssen, aber er hockte ja auch bereits seit sechs Tagen hier, langsam daran zweifelnd, ob Zeniba jemals wieder erscheinen würde.
 

Yubaba musste seine Flucht längst entdeckt haben, sicherlich schnaubend und tobend vor Wut. Dieser Gedanke verbesserte seine Stimmung kurzfristig, doch dann musste er wieder an sein eigentliches Ziel denken: das Versprechen, das er Chihiro gegeben hatte. Je länger er jedoch darüber nachdachte, um so größer wurden seine Zweifel, ob ihn Chihiro überhaupt wiedersehen wollte.
 

Bestimmt hatte der Zauber des Tores ihr beim Verlassen der Geisterwelt damals das Gedächtnis gelöscht, sodass sie sich nicht mehr an ihn erinnerte. Würde sie ihn akzeptieren in einer Situation, in der sie nicht in Not war, nicht von ihm abhängig? Wie würde die Begegnung mit Chihiro verlaufen, wenn er plötzlich in ihr Leben hineinbrach?
 

Wenn sie ihn zurückwies, was dann? Nun, er hatte sich noch geschworen, Torooru aus dem Bergwerk zu befreien, aber eigentlich musste er dieses ganze Bergwerksunternehmen von Yubaba stoppen. Den Schlüssel dazu hatte ebenfalls Zeniba in der Hand, denn auf dem Streit zwischen den Hexenschwestern beruhte die ganze Miesere im Badehaus.
 

Und falls es ihm gelang, was danach? Ein großer Zauberer wollte er nicht mehr werden, wie vor acht Jahren, als er zornig und wütend auf die Menschen, die ihm seinen Fluss genommen hatten, zu Yubaba gegangen war. Seit Chihiro ihn aus Yubabas geistiger Umklammerung befreit hatte, war Friede in sein Herz eingekehrt; er wollte keine Rache mehr an den Menschen nehmen.
 

Gerade dieser Hass war es gewesen, der es der Hexe ermöglicht hatte ihn unter ihre Kontrolle zu bringen, ihn letztendlich zu versklaven. Wie dumm war er damals nur gewesen, zu glauben, man könne Probleme mit Magie lösen, wie ein großer und mächtiger Gott. So war er zu einem kleinen Würstchen in Yubabas Fängen geworden, die ihn benutzt hatte, um vielen Leuten zu schaden und weh zu tun.
 

In der zweiten Nachthälfte hörte es allmählich auf zu regnen und der Himmel klarte sogar auf, sodass die Sterne sichbar wurden, sodass der Sumpf in das fahle Licht des fast vollen Mondes getaucht wurde. Leider wurde es dadurch auch so kalt, dass sein Atem zu Wölkchen zu bilden begann und er, völlig durchnässt, wie er war, zu Zittern anfing.
 

Erneut begann Haku zu meditieren, wobei er sich vorzustellen versuchte, dass in seinem Inneren ein warmes Feuer brennt, das die Kälte vertreibt. Es funktionierte zu seiner Erleichterung ganz gut, sodass er sich entspannen und versonnen den herrlichen, klaren Sternenhimmel betrachten konnte.
 

Direkt über ihm war das Sternbild Orion zu sehen, mit den beiden hellen Hauptsternen, oben links, dem tiefroten Beteigeuze, und unten rechts, dem hellblauen Riegel. Darunter konnte man wunderbar den Hasen erkennen und links davon den großen Hund mit dem gleißenden Stern Sirius. Doch dann erblickte Haku etwas, was nicht dort hingehörte. Zuerst dachte er es wäre eine Sternschnuppe oder so etwas Ähnliches, doch dazu bewegte sich das Objekt viel zu langsam.
 

Vielleicht war es ja einer dieser närrischen Satelliten der Menschen, dachte er, um dann zu bemerken, dass das Objekt rhythmisch blinkte. Also wohl doch nur ein Flugzeug! Aber Moment mal, hier von der Geisterwelt aus, waren die Satelliten und Flugzeuge der Menschen doch unsichtbar, fiel ihm dann mit einem Mal ein. Es konnte demnach nichts Künstliches, von den Menschen Erschaffenes sein!
 

Aufmerksam verfolgte er, wie das Objekt immer langsamer wurde, bis es letztendlich am Himmel still zu stehen schien, nur noch heller werdend. Wenn etwas still steht und heller oder größer wird, so bedeutet das in den allermeisten Fällen, dass sich dieses Objekt direkt auf einen zu bewegt und man besser den Beobachtungsort wechselt, wenn man nicht getroffen werden will.
 

Doch das mittlerweile brillant blinkende und blitzende Objekt faszinierte Haku so sehr, dass er daran nicht dachte und still sitzen blieb. Inzwischen konnte er erkennen, dass das Ding offenbar ein scheibenförmiges Aussehen hatte, mit mehreren umlaufenden, bunten Lichterreihen, die ein farbenfrohes Spektakel boten, indem sie schillernde Lichtstrahlen in den dunklen Himmel warfen.
 

Fast unmittelbar über seinem Standort verharrte das Ding kurz in der Luft, um sich dann, die ganze Umgebung in flackerndes Leuchten tauchend, majestätisch abzusenken und mit dem flachen Unterboden leise auf der Wiese aufzusetzen, die mit dem Abwehrzauber geschützt wurde. Nun konnte er auch sehen, dass auf der Oberseite des diskusförmigen Fluggerätes eine Halbkuppel mit darin eingelassenen Bullaugen aufgesetzt war, aus denen ein leicht flackerndes, gelbliches Licht herausdrang, wie von einer Kerze.
 

Schon öffnete sich in dieser Halbkuppel eine Luke mit dumpfem metallischem Geräusch und eine verzauberte Laterne, mit einer einzelnen Kerze in sich, hüpfte auf ihrer weißen Hand heraus, die sich am Ende eines langen Stiels befand. Haku erinnerte sich, dass Chihiro ihm von dieser Laterne auf dem Rückflug von Zeniba damals erzählt hatte.
 

Der Laterne folgte direkt das Ohngesicht, welches die Arme voll mit einem Stapel Bücher hatte, dies es kaum tragen konnte. Leicht schwankend ging es zum Rand des Diskus', wo nun mit einem hydraulischen Summen eine Treppe ausfuhr, die zum Boden herunterführte. Diese Treppe wäre das Ohngesicht fast heruntergefallen, weil es ja wegen der Bücher nicht nach unten sehen konnte, hätte es die Laterne im entscheidenden Augenblick nicht gestützt.
 

Haku erwartete, dass nun auch Zeniba dem merkwürdigen Gefährt entsteigen würde, aber Nichts dergleichen geschah. Im Gegenteil. Die Luke schloss sich automatisch, die ausgefahrene Treppe verschwand wieder in dem Diskus und die Lichter erzeugten ein neuerliches Leuchtfeuerwerk, sodass Haku dachte, dass sich das Gefährt erneut in die Luft erheben würde.
 

Doch zu seinem Erstaunen gingen die Lichte plötzlich aus, woraufhin das Gebilde im hellen Mondlicht auf einmal zu schrumpfen begann. Das glatte, metallische Silbergrau der nahtlosen Hülle verwandelte sich allmählich in etwas anderes, nahm eine mehr strähnige Beschaffenheit an, die ihn eher an etwas Faseriges, wie Fell erinnerte. Weiter und weiter schrumpfte das Gebilde, bis Haku dachte, dass es bei diesem Tempo gleich verschwinden müsse.
 

Doch dann wurden Füße unter der sich nun labberig durchbiegenden Scheibe sichbar und kurz darauf auch der Saum eines blauen Rüschenkleides. Flugs hatte sich die Verwandlung auch schon vollendet und aus dem diskusförmigen, metallischen Fluggerät war Zenibas Haarknoten geworden.
 

Sie machte eine gebieterische Geste, die kleine Funken von ihrer Hand springen ließ, sodass es wie eine Welle ringförmig über die Wiese lief. Von der Mitte ausgehend wurden nach außen hin zuerst ihr Bauernhaus, dann links die Scheune und die anderen Nebengebäude sichtbar, ebenso wie die bereits abgeernteten Gemüsebeete und der das gesamte Areal umschließende Zaun.
 

Dem Ohngesicht bedeutend, ihr in das Haus zu folgen, öffnete sie die Tür und verschwand im innereren, wo rasch darauf die Beleuchtung anging und sich emsige Aktivität entfaltete. Das Ohngesicht betrat ebenfalls das Haus, den Bucherstapel balancierend. Im Inneren hörte man dann einen Rumms, als Ohngesicht offenbar die Bücher ablud, gefolgt von einem lauten Gepolter und Zenibas lautstarkem Ausruf: "Ohngesicht, du Tollpatsch. Kannst du nicht aufpassen, die Bücher sind sehr wertvoll!"
 

Nachdem sich kurz darauf die Tür wie von alleine schloss, kehrte Ruhe im Haus ein. Haku gab sich einen Ruck und versuchte aufzustehen, doch seine Beine gehorchten ihm nicht, weil er sechs Tage still hier gesessen hatte. Nach mehreren Versuchen und dank seiner Übung, jeden Tag mit eingeschlafenen Gliedmaßen aus jener Kiste aufzustehen, schaffte er es schließlich doch, zu Zenibas Haus herüber zu staksen.
 

Noch bevor er dort gegen die Tür klopfen konnte, öffnete sie sich plötzlich und Zeniba erschien im Türrahmen, die Hände in die Hüften gestemmt, abschätzig zu ihm herüberblickend. "Was bist du denn für einer? ... Wenn du etwas zu essen willst, dann gebe ich dir etwas und schlafen kannst du in der Scheune, wenn du magst", sagte sie in spontanem Mitleid zu der abgerissenen mageren Gestalt, die sie erblickte. "Dann können wir weitersehen. Warte einen Moment, ja!" Damit wollte sie nach innen verschwinden, wohl um das in Aussicht gestellte Essen zu holen.
 

"Nein danke, ich möchte nichts zu essen", gab Haku sofort zurück, "ich wollte sie nur etwas Fragen, verehrte Frau Zeniba."
 

"Nanu, du weißt ja, wie ich heiße." Sie drehte sich wieder zu ihm hin, diesmal mit offener Neugier. "Du hast eine Frage, sagst du. Gut, dann stell sie mir. Vorher sag mir aber, wer du bist."
 

"Mein Name ist Haku, verehrte Frau Zeniba", sagte er, sich höflich vor ihr verbeugend, "und ich wollte sie fragen, wie ich Chihiro finden kann."
 

Vor Überraschung riss Zeniba weit ihre Augen auf, bevor sie einen Schritt auf Haku zu trat und ihm skeptisch direkt in die Augen blickte. Konnte es wirklich sein, dass dieses armselige Etwas der stolze Drache Haku war, der Lehrling ihrer Schwester. Doch der Blick in diesen ruhigen und unglaublich grünen Augen sagten ihr, dass es wahr sein musste. Es waren die gleichen Augen, in dies sie schon mehrfach gesehen hatte, zuletzt als er das bezaubernde kleine Menschenkind Chihiro von hier abgeholt hatte.
 

In seiner menschlichen Gestalt hatte sie ihn allerdings zuvor noch nie gesehen, weshalb sie bei seinem Anblick nicht sofort geschaltet hatte, ebenso wie damals, als sie die eigenartige Beziehung der beiden zueinander nicht erkannt hatte. Doch jetzt hatte sie eine unerwartete Gelegenheit, Licht in die Sache zu bringen. Hastig trat sie deshalb jetzt ins Freie, einen wachsamen Blick auf den Himmel und die Umgebung werfend, um Haku dann in ihre Stube zu schieben.
 

"Los, komm schnell herein", drängte sie ihn, "man sucht nach dir. Ich hoffe, niemand hat dich gesehen, wie du hergekommen bist."
 

"Sie suchen nach mir?", fragte Haku leicht verwirrt, als er von Zenibas Schubser zum Stehen kam, "wer und warum?"
 

"Na du machst mir Scherze. Jahrelang hast du doch für meine Schwester gearbeitet!", erwiderte sie ein wenig barsch. "Ich hoffe doch nur, dass nicht sie dich hierher geschickt hat."
 

Haku musste schlucken. Was er unter Yubabas Kontrolle getan hatte, wusste er ja, zumindest so ungefähr. Also war jemand auf diese Aktivitäten aufmerksam geworden und wollte nun ihn dafür zur Rechenschaft ziehen. Sein erster Impuls nun war, sich zu stellen, wer auch immer ihn da suchte. Tief atmete er einmal durch, um einen klaren Gedanken zu fassen. Wenn er sich stellte und für Yubabas durch ihn begangene Verbrechen mit dem Leben büßen musste, dann konnte er sein Versprechen nicht mehr halten.
 

Zuerst musste er Chihiro wiedersehen und sich bei ihr verabschieden, danach noch dafür sorgen, dass Torooru freikam, dann konnte er sich immer noch stellen. "Nein, Yubaba hat mich nicht zu ihnen geschickt. Im Gegenteil, ich bin vor ihrer Schwester geflohen, aber ich bin bereit, für meine Untaten zu bezahlen. Doch sie müssen wissen, dass ich Chihiro ein Versprechen gegeben habe, welches ich zuerst erfüllen muss, auch wenn es mich mein Leben kostet! Danach muss ich noch etwas anderes in Ordnung bringen und dann können sie mit mir machen, was sie wollen."
 

"Na, nun mach aber mal halblang. Dass ihr jungen Leute aber auch immer gleich so ungestüm sein müsst. Ich weiß doch, was meine Schwester mit dir angestellt hat. Dazu kenne ich sie ja schließlich gut genug", beschwichtigte Zeniba. "Jetzt setz dich erst einmal und trink eine Tasse Tee mit mir, wenn wir uns ein wenig unterhalten. ... Ohngesicht! Würdest du uns bitte Tee machen?"
 

Aus dem Nebenraum erschien Ohngesicht, bereitwillig den Tee am Herd zubereitend, während Haku sich mit leicht widerstreben auf einer der Holzbänke an Zenibas Bauerntisch niederließ.
 

"Willst du mir erzählen, wie es passiert ist, dass du in diesen Zustand gekommen bist?", begann sie das Gespräch. "War das meine Schwester oder jemand anderes? Vor drei Jahren hat sie ja schon mal versucht, dich umzubringen." Leicht überrascht blickte Haku daraufhin die Hexe an.
 

"Ich kann auch eins und eins zusammenzählen. Meine Schwester wusste von dem Schutzzauber auf dem Siegel. Ich hab's ihr ja extra gesagt, damit sie auf keine dummen Gedanken kommt. Wegen des Fluchs darauf konnte sie damit nichts anfangen. Dass sie es dich hat stehlen lassen, kann nur bedeuten, dass sie wollte dass der Fluch dich umbringt. Nur war ich damals zu wütend, um das zu erkennen. Ich weiß nur bis heute nicht, wie du dem Fluch entgangen bist, denn selbst ich kenne keinen Gegenzauber."
 

"Chihiro hat den Fluch gebrochen. Sie hat mir eine Kräuterkugel gegeben", berichtete Haku. "Woher sie die hatte, weiß ich aber nicht; sie hat es mir nicht erzählt."
 

"Eine Kräuterkugel? Ja, das könnte möglich sein. Ich habe davon gehört. Sie sollen starke fluchbrechende Eigenschaften besitzen, aber nur sehr mächtige Götter können sie herstellen", bestätigte Zeniba, "doch jetzt erzähl mir doch, was du in den letzten drei Jahren gemacht hast."
 

Haku erzählte es ihr, woraufhin Zeniba mit der Zeit einen sehr ernsten und traurigen Gesichtsausdruck bekam. Nachdem er geendet hatte, sank sie mit einem Seufzer in ihrem Stuhl zurück, den Kopf schüttelnd. "Ich hätte nicht gedacht, dass sie so weit geht. Aber nach dem, was sie mit dir angestellt har, war damit wohl zu rechnen. Und das nur, weil sie nicht bereit ist, auch nur einen fußbreit nachzugeben. Ich denke, ich werde sie wohl stoppen müssen."
 

Haku blickte sie fragend an, überlegend, was sie wohl damit meinen mochte. "Aber lassen wir das jetzt. Ich habe sehr viel über dich und deine Chihiro nachgedacht, seitdem du sie vor drei Jahren hier abgeholt hast, und je mehr ich das tue, umso unmöglicher erscheint mir das alles. Dabei habe ich mittlerweile den Eindruck, dass die ganzen Ereignisse von damals damit zutun haben, mit der Beziehung zwischen dir und Chihiro. Deshalb erklär mir doch erst mal, warum du Chihiro finden möchtest?", fuhr Zeniba fort, als der Tee fertig war. Genießerisch schlürfte sie demonstrativ an ihrer Tasse.
 

"Ich hab es ihr versprochen", murmelte Haku nach einer Denkpause verlegen, mit gesenktem Kopf lustlos in seinem Tee rührend.
 

"Ja wenn du es versprochen hast, dann musst du dein Versprechen auch halten", meinte die Hexe, hakte dann jedoch nach, weil sie Hakus Zögern bemerkt hatte: "Sag, findest du sie schön?"
 

Erschrocken musste Haku schlucken, denn er fühlte sich ertappt. Weshalb fragte sie so etwas? "Wenn sie's genau wissen wollen: Chihiro ist das schönste Mädchen der Welt!", entgegnete er deshalb trotzig.
 

"Ach so ist das. Ich habe es mir ja fast gedacht", erwiderte Zeniba gelassen. "Weist du, wenn man ein kleines Kind fragt, ob seine Mutter schön ist, dann antwortet es zweifelsohne, dass seine Mama die schönste Frau der Welt sei. Das ist die übliche Antwort. Sie bedeutet letztendlich: Das Kind hat keine Ahnung, ob sie schön ist, aber es liebt seine Mutter aus tiefster Seele!"
 

Zeniba stand von ihrem Stuhl am Kopf des Tisches auf und setzte sich direkt neben Haku, der am liebsten im Boden versunken wäre, weil ihm bewusst wurde, dass sie recht hatte. Ob Chihiro schön war, oder nicht, darüber hatte er nie nachgedacht, und was noch schlimmer war, er hatte auch nicht die geringste Vorstellung von menschlicher Schönheit. Allenfalls konnte er sagen, ob ein anderer Drache schön war.
 

Er erinnerte sich da an einen Vorfall, als er für einen besonderen Gast die schönsten Yuna des Badehauses aussuchen sollte. Das Ergebnis seiner Wahl war sehr fragwürdig gewesen, der Gast indigniert abgereist und Yubaba fuchsteufelswild geworden. Noch wochenlang hatten die Frösche sich hinter seinem Rücken darüber lustig gemacht und die Yuna ihre Nasen gerümpft, wenn er gerade nicht hingesehen hatte. Danach hatte er niemals mehr eine ähnliche Aufgabe von Yubaba bekommen.
 

"Du liebst sie und weiß gar nicht, wieso eigentlich. Haku, du bist ein Drache und du solltest dich für Menschen eigentlich kaum interessieren. Dass du Chihiro liebst, ist vollkommen widersinnig und unlogisch. Deswegen kann ich nur vermuten: Mit dir und Chihiro stimmt etwas nicht!"
 

"Warum soll das widersinnig sein? Und unlogisch? So ist das nun Mal, vollkommen unlogisch! Und für Menschen habe ich mich schon immer interessiert, seit ich ganz klein war. Was soll mit mir und Chihiro also nicht stimmen?", entgegnete Haku widerborstig. "Könnten sie mir nicht einfach nur sagen, wie ich sie finden kann? Bitte Frau Zeniba."
 

"Die meisten Götter bringen den Menschen bestenfalls so etwas wie freundliche Indifferenz entgegen, aber dass jemand wie du sich in ein ganz normales Mädchen verliebt, ist vollkommen ungewöhnlich, zumal du offensichtlich zu den Göttern gehörst, die nichts mit menschlicher Schönheit anfangen können. Und das sind die meisten!", holte Zeniba aus. "Dass du in sie so gerne hast, muss einen besonderen Grund haben."
 

"Ist sie denn schön? Bitte sagen sie es mir", entfuhr es Haku.
 

"Naja, ich will dir die Wahrheit nicht verschweigen", antwortete die Hexe sanft. "Sagen wir einmal so, Chihiro ist nicht unbedingt hässlich, aber eine große Schönheit wird sie wohl nie werden. Vor einiger Zeit habe ich mich eingehend mit Schönheits- und Liebeszaubern beschäftigt und daher weiß ich, wovon ich rede. Du Haku, wirst dergleichen aber nie nötig haben, das kann ich dir versichern."
 

Etwas verwirrt blickte er neben sich zu Zeniba. Dass Chihiro nicht schön sein sollte, berührte ihn zu seiner Verwunderung nicht weiter, doch was meinte sie damit, dass er keine Liebes- und Schönheitszauber benötigen würde? Und außerdem, was sollte das Ganze? "Bitte Frau Zeniba, das ist doch alles völlig unwichtig. Wichtig ist doch nur, dass ich zu ihr gelange", sagte er deshalb flehentlich. "Wenn sie mir nicht helfen wollen, dann ist das auch in Ordnung, aber dann möchte ich jetzt lieber gehen."
 

"Im Gegenteil, Haku, ich möchte dir helfen, aber ich glaube, dass es sehr wichtig ist, diese Sache zuerst zu klären. Ich habe beobachtet, wie die Kleine dich in deiner Drachengestalt erkannt hat, nachdem du mir das Siegel geraubt hattest, obwohl sie vorher offensichtlich gar nicht wusste, dass du dieser Drache bist. Intuitiv hat sie dann sogar gespürt, dass du von dem Fluch des Siegels tödlich verwundet warst, woraufhin sie Kopf und Kragen riskiert hat, um dich zu retten. Schließlich hat sie dich wie eine Löwin vor mir verteidigt", antwortete die alte Frau. "Daraus und aus dem, was sie mir später erzählt hat, muss ich schließen, dass du ihr vorher entscheidend geholfen hast."
 

"Worauf wollen sie denn hinaus?", wollte Haku verwundert wissen. "Aber sie haben recht, ich habe Chihiro geholfen. Als ich sie damals auf der Brücke zum Badehaus fand, konnte ich nicht anders. Ich musste ihr einfach helfen."
 

"Ja, siehst du. Eben gerade das ist so merkwürdig", sagte Zeniba. "Du standest damals unter dem Einfluss des schwarzen Wurms meiner Schwester. Ich kenne den Zauber, der dahinter steckt, sehr gut und weiß daher, dass du nicht in der Lage hättest sein dürfen, dem Mädchen zu helfen! Du hättest dich niemals dem Willen Yubabas widersetzen können, auch wenn du ein Gott bist, es sei denn, sie hätte etwas verlangt, was deinem Wesen als Gott widerspricht, also zum Beispiel dem Fluss Schaden zuzufügen, dessen Wächter du bist. Du bist doch ein Flussdrache, oder doch ein Seegott oder etwas anderes?"
 

"Doch, ich bin, nein ich war ein Flussdrache", bestätigte Haku traurig. "Nur gibt es meinen Fluss nicht mehr. Die Menschen haben ihn zugeschüttet, also konnte Yubaba nichts von mir verlangen, was meinem Wesen zuwider handelt."
 

"Pffffft. Du bist ein Flussdrache ohne Fluss?", entfuhr es Zeniba überrascht und sie ließ sich gegen die Lehne der Sitzbank sinken. "Wie kann es dann sein, dass du hier neben mir sitzt und dich mit mir unterhältst? Du dürftest gar nicht nicht mehr leben, wenn das wahr wäre. Deine Lebenskraft ist doch an den Fluss gebunden und mit ihm, wäre auch dein Leben versiegt."
 

"Ich weiß, dass es besser wäre, ich wäre tot, denn ich habe es nicht geschafft, meinen Fluss zu beschützen und verdiene es nicht anders. Aber vielleicht gibt es unterirdisch noch eine Strömung oder die Quelle hat noch ein wenig Wasser und ich bin deshalb noch am leben", sagte Haku, in sich zusammensackend vor Scham.
 

Zeniba seufzte und dachte eine Weile nach, bevor sie fragte: "So langsam beginnt die Sache, richtig interessant zu werden. Ich glaube allmählich, meine Schwester hat doch etwas von dir verlangt, was deinem Wesen widerspricht. Anders kann ich mir dein Verhalten nämlich nicht erklären. Sag mal, Haku, wie war das damals, als du Chihiro an der Brücke zum Badehaus entdeckt hast?"
 

Haku war jetzt sehr betroffen, von dem, was Zeniba sagte und brauchte eine Weile, um seine Gedanken zu ordnen. Seinem Wesen als Flussgott widersprochen? Und was hatte denn Chihiro damit zu tun? Schließlich hatte er sich so weit gesammelt, um mit seinem Bericht zu beginnen:
 

"Es war damals im Sommer, da gab es auf einmal eine große Aufregung im Badehaus. Menschen waren in unsere Welt eingedrungen und hatten sich an den Speisen für die Götter gütlich getan. Yubaba war sehr böse deswegen. Zwei Menschen waren bereits durch ihren Zauber gefangen, in Schweine verwandelt, aber da war noch ein Dritter, ein Kind. Ich erhielt von ihr den Auftrag, es zu fangen und zu sich zu bringen. Da ich Yubaba kannte, wusste ich, dass das Kind entweder in der Grube unter ihrem Büro verschwinden oder als Schwein im Stall landen würde, zum Mästen und Schlachten freigegeben. Auf jeden Fall aber würden alle drei Menschen sterben. Das war mir aber zu diesem Zeitpunkt egal, ich wollte nur Yubaba gehorchen. Doch dann fand ich das Kind auf der Brücke und ich sah, dass es Chihiro war. Es war, als würde ich plötzlich aus einem langen dunklen Traum erwachen. Mein einziger Gedanke war nur noch, entgegen Yubabas Befehl, dass ich das Mädchen retten musste, doch der Wunsch Yubaba zu gehorchen war immer noch sehr stark in mir, sodass ich es zuerst nur schaffte, sie fort zu schicken, fort aus Yubabas direktem Machtbereich. Dabei fasste ich sie an, um sie in die notwendige Richtung zu stoßen, und in dem Moment, als ich sie berührte, war es als wäre ein Blitz in mich gefahren, sodass mein Verstand auf einmal ganz klar und ruhig wurde. Seitdem sehne ich mich immer stärker und stärker nach Chihiro, immer nur nach ihr. Ich kann sie nicht vergessen."
 

"Das bestätigt meinen Verdacht", meinte Zeniba, die sah, dass es Haku große Überwindung gekostet hatte, ihr dieses zu erzählen, nach einer kleinen Pause. Wenn dieser Verdacht sich bestätigte, konnte es schlimm werden, für Haku und Chihiro, viel schlimmer, als es jetzt bereits war. Aber nur, wenn jemand es herausfand, jemand aus der Geisterwelt und es an die Behörden meldete. Doch vorher musste sie sicher gehen.
 

"Also gut, Haku. Nichts von deinem Bericht lässt mich darauf schließen, dass bei deiner Begegnung mit Chihiro an der Brücke, etwas wirklich Entscheidendes passiert ist. Daher muss ich vermuten, dass es bei eurer ersten Begegnung passiert ist, von der mir Chihiro erzählt hat. Was ist damals genau passiert? Und lass bitte kein noch so unwichtig erscheinendes Detail aus! Das kann von entscheidender Bedeutung für euer beider Zukunft sein."
 

"Nein Bitte, Frau Zeniba, das können sie nicht von mir verlangen. Das war damals, äh, sehr persönlich und geht nur mich und Chihiro etwas an. Aber bitte glauben sie mir, dass ich mich damals ganz bestimmt nicht in sie verliebt habe; sie war doch noch ein kleines Kind. Wenn überhaupt, ist das auf der Brücke oder kurz danach passiert", sträubte sich Haku, dem dieses ganze Gespräch zunehmend peinlich wurde.
 

"Trotzdem muss ich darauf bestehen, Haku, und es müsste auch deinem Anliegen zugute kommen. Wenn es so ist, wie ich jetzt vermute, dann kann es uns einen guten Hinweis geben, wie du deine Chihiro finden kannst", drängte Zeniba den Jungen weiter. "Und glaub mir, es kann lebenswichtig für dich und Chihiro sein, dass wir Klarheit darüber bekommen."
 

"Lebenswichtig für mich und Chihiro? Und es kann mir helfen, sie zu finden?", zweifelte Haku. "Können sie mir nicht einfach sagen, was sie für eine Vermutung haben? Dann sage ich ihnen, ob sie richtig liegen, wenn ich kann."
 

"Lieber nicht Haku. Allein der Verdacht macht mir Sorge, sodass ich erst Gewissheit haben will", erwiderte Zeniba sanft. "Erzähl mir von eurer ersten Begegnung, bitte."
 

Jetzt seufzte Haku. So langsam bekam er den Eindruck, dass ihm Zeniba nichts weiter sagen würde, wenn er ihr diese Sachen nicht berichtete. "Also gut, wenn sie es unbedingt erfahren wollen. Werde ich es ihnen erzählen, auch wenn es wirklich nicht glorreich von mir gewesen ist." Damit begann Haku seine Erzählung.
 

Es war ein wunderbarer Spätsommertag vor gut zehn Jahren, und es war nun fünf Jahre her, seitdem Kohaku in diesem Fluss erwacht war. An das, was vorher gewesen war, falls vorher überhaupt etwas gewesen war, konnte er sich nicht erinnern und soweit es ihn betraf, hatte er seine gesamte bisherige Existenz in diesem Fluss verbracht. Alles was er wusste, war sein Name, Nigihayami Kohaku Nushi, und dass er der Wächtergott dieses Flusses war, des Kohakugawa.

Allmählich begann er nun, sich in seine Aufgabe als Wächter des Kohakugawa hineinzufinden, sich seiner Verantwortung bewusst zu werden, den Fluss, alle seine Bewohner und alle die zum Fluss hinkamen, zu beschützen. Deswegen gab er sich besonders große Mühe, dieser Verpflichtung gerecht zu werden.
 

An einer Biegung seines Flusses gab es eine große Zone ruhigen, seichten Wassers, wo sich am Ufer eine große Wiese anschloss. Dort versammelten sich häufig am Nachmittag viele Eltern aus dem nahen Tokyo mit ihren kleinen Kindern, um das schöne Wetter bei einem Picknick zu genießen und ihren Nachwuchs sich austoben zu lassen.
 

Kohaku sah es nun als seine Aufgabe an, zu verhindern, dass den Kindern am Fluss etwas zustößt, aufzupassen, dass keines von ihnen darin ertrinkt. Zuerst hatte er deshalb begonnen, das Treiben der Menschen an seinem Ufer zu beobachten, um dann vor zwei Jahren damit zu beginnen, seit es ihm gelungen war, menschliche Gestalt anzunehmen, sich unerkannt direkt unter die Kinder zu mischen.
 

Mit den Kindern zu spielen, die ihn vorbehaltslos als eines der ihren akzeptierten, machte ihm immer großen Spaß, sodass er sich den ganzen Winter hindurch wieder den Sommer und mit dem Sommer die Kinder zurücksehnte. Die ganze Zeit über war es jedoch zu keinem schwerwiegenden Unfall gekommen, weil die Eltern, wie Kohaku festgestellt hatte, ebenfalls gut auf ihre Kinder aufpassten.
 

An diesem Tag spielte er gerade mit einigen Kindern Fangen, wobei er sich wie immer stark zurückhalten musste, da die anderen Kinder sich so ungeschickt und langsam bewegten. Mühsam hatte er am Anfang lernen müssen, dass die Kinder viel schwächer waren, als er, viel zerbrechlicher und empfindlicher. Wenn es in der Hektik des Spiels mal zu einem Puff oder Schubser kam, den er selbst kaum registrierte, fingen die Kinder sofort an zu heulen, was dann sofort deren Eltern auf den Plan rief.
 

Wenn diese dann ansetzen, um mit ihm zu schimpfen, verpuffte dann aber meistens spontan ihr Ärger und vor Entzücken strahlten sie ihn an, direkt in seine Augen blickend. Sie vergaßen dann unwillkürlich das Gejammer ihrer eigenen Kinder, streichelten ihn am Kopf und sagten solche Sachen, wie: "Na, was bist du denn für ein Hübscher?" oder "Schau mal Schatz, was für ein süßes Kerlchen. Und er hat grüne Augen!" oder so etwas Ähnliches.
 

So war nie etwas passiert. Trotzdem wurde er vorsichtiger, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, zumal er nicht verstand, was die erwachsenen Menschen an ihm fanden, was ihn von den anderen Kindern unterschied. Öfters betrachtete er sein Spiegelbild auf der Wasseroberfläche, aber er konnte keinen signifikante Besonderheit bei sich erkennen. Vor allem aber wurde er deshalb vorsichtiger, weil er den anderen Kindern nicht weh tun wollte, denn er hatte sie sehr gerne.
 

Dann spürte er mitten beim Fangenspiel, dass etwas nicht stimmte. Jemand war in großer Not, sich verzweifelt nach Hilfe sehnend. Erschrocken blickte Kohaku sich um, den Ursprung dieses Hilferufs nachgehend, doch keines von den Kindern hier auf der Wiese und keines der im flachen Wasser Badenden schien in Schwierigkeiten geraten zu sein.
 

Er konzentrierte sich auf das Gefühl, um dann festzustellen, dass es seinen Ursprung etwa einen Kilometer flussaufwärts nahm. Fieberhaft blickte er sich um, um einen Weg zu finden, wie er sich möglichst schnell und unauffällig verdrücken konnte. Schließlich konnte er ja nicht einfach ins Wasser springen, untertauchen, seine Drachengestalt annehmen und dann den Fluss hinauf schwimmen. Das hätte wohl für einen heftigen Aufruhr unter den Menschen gesorgt und er hätte nie wieder mit den Kindern spiele können.
 

In diesem Moment fing ihn ein kleiner Junge, der vor Triumph kreischend umherhüpfte, weil Kohaku nicht aufgepasst hatte. Jetzt war er an der Reihe, musste bis 10 zählen, bevor er losstürmen durfte. Diesmal nutzte er seine ganze Schnelligkeit, sodass er fast sofort ein anderes Kind gefangen hatte, um sich dann, wären dieses an der Reihe mit zählen war, unauffällig in ein Gebüsch am Ufer zu verdrücken, von wo er unbemerkt in den Fluss gleiten konnte.
 

Im Wasser wurde die Empfindung, dass jemand um sein Leben kämpfte, so übermächtig, dass Kohaku fast in Panik geriet. Schnell wechselte er in seine Drachengestalt zurück, seine Gestalt konnte er nur im Wasser seines Flusses wechseln, schoss die Strömung hinauf, nach der Quelle der Pein suchend.
 

Auf einmal fand er ein kleines rosa Schühchen, das unschuldig in der Mitte der Strömung dahinschwamm. Kurz hielt Kohaku inne, um das Objekt zu untersuchen, denn möglicherweise hatte es etwas mit dem Hilferuf zu tun, der nun Besorgnis erregend rasch schwächer wurde.
 

So nahm er die Witterung von dem Schuh auf, folgte dem Geruch durch die Strömung, bis sie an den Ursprung des Problems führte: Ein kleines Mädchen trieb, Gesicht nach unten, etwa einen Meter tief unter der Wasseroberfläche und schien nicht mehr zu atmen. Schleunigst eilte Kohaku zu dem Mädchen hin, dessen Herz zwar noch schlug, wie er feststellte, das sich jedoch nicht mehr bewegte.
 

Mehrfach versuchte Kohaku, es an die Wasseroberfläche zu drücken, doch das Mädchen wollte und wollte nicht mehr atmen, sank immer wieder leblos unter die Wasseroberfläche zurück. Verzweiflung und Panik ergriffen immer mehr von dem jungen Drachen Besitz, dem einfach keine Möglichkeit einfallen wollte, wie er das Kind retten konnte.
 

Regelrecht konnte er fühlen, wie das Leben aus dem kleinen Körper strömte, wie es schwächer und schwächer wurde, jeden verstreichenden Augenblick, wie die Lebenskraft es verließ, doch er war hilflos und konnte nichts tun.
 

In seiner Ratlosigkeit versuchte er schließlich, ihre schwindende Lebenskraft zu stärken, indem er probierte, die Kraft der Flussströmung durch sein Selbst in Lebenskraft zu transformieren, um sie durch ihren kleinen Körper hindurchzuleiten. Doch es war, als würde etwas in ihrem Inneren sich dagegen sträuben, ein Widerstand, der seine Absicht vereitelte, den er, wie er fühlte, nur durch Gewalt hätte überwinden können. Dann mit einem Mal verschwand dieser Widerstand und es gelang.
 

Staunend öffnete das kleine Mädchen öffnete seine Augen, ihn unverwandt anstarrend, spuckte eine große Luftblase aus und ließ sich danach mühelos zur Oberfläche befördern. Wie selbstverständlich ergriff das Mädchen dort die Hörner des kleinen Drachen, zog sich auf seinen Rücken, um sie sich von ihm an das Ufer befördern zu lassen.
 

An der Uferböschung, vor einem kleinen Bambusgestrüpp angelangt, ließ sich das Kind fröhlich giggelnd ins flache Wasser platschen, wo es sich hinsetzte und mit seinen Patschehändchen Kohakus Kopf auf den Schoß zog. Intensiv begann das Mädchen nun ihn hinter den Ohren und zwischen den Augen zu kraulen, wobei es kichernd immer wieder "Dache, Dache!" rief.
 

Kohaku wusste nicht, wie ihm geschah. Es sah sich nicht nur völlig außerstande sich gegen die Knuddelattacke des Mädchens zu wehren, sondern genoss dessen Streicheleinheiten, die ihm eine wohlige Wärme im gesamten Körper verursachten, ihn ganz schwach machend. Hinzu kam seine unendliche Erleichterung darüber, dass es ihm in letzter Sekunde doch noch gelungen war, das Leben des Kindes zu retten.
 

Er hatte nicht versagt, doch in Zukunft würde er wachsamer sein müssen. Viel zu viel Zeit hatte er damit vergeudet, sich von dem Spiel mit den anderen Kindern zu lösen und ins Wasser zu gelangen. Das durfte nicht wieder passieren. Deshalb schwor sich Kohaku, die Wasser des Kohakugawa nie mehr ohne triftigen Grund zu verlassen. Diesmal hatte er noch einmal Glück gehabt, doch beim nächsten Mal konnte es auch anders ausgehen.
 

Wie lange er nun dort lag, verwöhnt von dem kleinen Mädchen, konnte er nicht genau sagen, doch plötzlich hörte er leise die besorgte Stimme einer Frau, die aufgeregt rief: "Chihiro, Chihiiiiiiiro, wo bist duuuuu. Komm her zu Mamiiiiiii!" Näher und näher kam die Stimme, systematisch das Flussufer absuchend, sodass Kohaku sich gut ausrechnen konnte, wann die Frau bei ihnen anlangen würde.
 

Widerwillig entzog er sich dem kleinen Mädchen, in die Mitte seines Flusses gleitend, von wo aus er den Rest der Szene beobachtete. Die Frau brach, dem Gekicher des kleinen Mädchens folgend, letztlich durch das Schilfdickicht am Ufer, wo sie das Kind im seichten Wasser sitzend vorfand.
 

"Chihiro, was machst du denn nur?", schimpfte sie los, "musst du denn immer verschwinden? Ach du je, wo hast du denn nur deinen linken Schuh gelassen? Na wenigstens ist dir ja nichts passiert." Damit hob sie das ziemlich nasse kleine Mädchen ein wenig unsanft auf den Arm, welches seiner Mutter daraufhin mit großem Ernst erklärte: "Mami, ich hab Dache sehen. Lieben weißen Dachen. Hat mich reiten lassen."
 

Die Frau blickte das Kind ein wenig missmutig an. "Was erzählt du denn da nur wieder für einen Unsinn, Chihiro. Wenn Papi davon erfährt, wird er bestimmt wieder böse, also halt deinen Brabbel, ja?", motzte sie weiter, stapfte durch das Schilfdickicht zurück, wo die Beiden letztendlich aus Kohakus Seh- und Hörweite verschwanden.
 

Bevor er sich zurück auf den Weg zu der großen Wiese machte, verharrte Kohaku noch eine Weile in der Mitte der Strömung an dieser Stelle. ,Chihiro, Chihiro ist also dein Name, kleines Mädchen', dachte er. ,Chihiro, ich werde dich niemals vergessen. Du wirst immer willkommen sein, an meinen Ufern.'


 

Hiermit endete Hakus Bericht und Zeniba schwieg eine Weile, das Gehörte sortierend, während es draußen bereits hell wurde. Alle ihre Vermutungen hatten sich bestätigt und zudem hatten sich noch einige weitere Fragen ergeben.
 

"Das war sehr aufschlussreich, Haku, oder möchtest du lieber, dass ich dich Kohaku nenne?", sagte Zeniba, nachdem sie die Erzählung rekapituliert hatte. "Schließlich ist das dein richtiger Name."
 

"Nein, lassen sie nur. Nennen sie mich ruhig weiter Haku", meinte er daraufhin hastig. "An den Namen Haku habe ich mich so sehr gewöhnt, dass dieser andere Name nicht mehr der Meinige zu sein scheint. Habe ich ihnen denn weitergeholfen, mit meiner Schilderung, Frau Zeniba? Ich habe Chihiro mit viel Glück das Leben gerettet und sie hat mich dafür gestreichelt. Weiter ist nichts passiert! Also lassen sie uns das Ganze einfach vergessen, ja?"
 

"Nein Haku, du hast es immer noch nicht begriffen. Alles ist passiert! Weißt du, du hast damals keineswegs Chihiros Leben gerettet. Bevor ich dir aber erkläre, was damals mit dir und Chihiro passiert ist, möchte ich dir noch einige Fragen stellen", entgegnete die Hexe schlicht. "Du bist wirklich erst fünfzehn Jahre alt? Ich frage das, weil ich noch nie von einem Gott gehört habe, den man gewissermassen schon als Baby mit einer Wächteraufgabe betraut hätte. So etwas geschieht doch erst, wenn ein junger Gott von seinen Eltern gründlich ausgebildet und zudem eine Position frei ist. Also frühestens, wenn er 200 bis 300 Jahre alt ist und seine Eltern gute Beziehungen haben. Kennst du eigentlich deine Eltern?"
 

Haku blickte die Hexe ratlos an. Über solche Dinge hatte er weder jemals nachgedacht, noch sich mit einem anderen Gott darüber unterhalten. "Ich weiß nur, als ich im Kohakugawa erwacht bin, war ich als Drache vielleicht so groß:" er hielt zur Demonstration seine Hände etwa einen knappen Meter auseinander. "Und nein, meine Eltern kenne ich nicht, und die können mir auch gestohlen bleiben. Sagen sie doch bitte lieber, wieso ich Chihiro damals nicht gerettet haben soll? Immerhin lebt sie ja noch, also muss ich sie doch gerettet haben!"
 

"Ach Haku, wenn deine Eltern oder meine Schwester dir ein wenig mehr über Magie beigebracht hätten, dann wärst du ganz von alleine darauf gekommen. Wahrscheinlich hättest du als erfahrener Wächtergott ganz anders gehandelt, denn das was du getan hast, ist eigentlich streng verboten und unter den Göttern allgemein geächtet, weil es mehrfach in böser Absicht gemacht worden ist", sagte Zeniba. "Ich habe jedoch nicht gesagt, dass du sie nicht gerettet hättest, ich habe nur gesagt, dass du ihr Leben nicht gerettet hast, denn in Wahrheit hast du ihr nämlich ein neues Leben gegeben!"
 

Jetzt war Haku völlig perplex. Zweifelnd blickte er Zeniba an, die immer noch neben ihm saß, gutmütig auf ihn hinabblickend. "Das kann doch nicht sein. Wie soll ich ihr denn ein neues Leben gegeben haben? Ich weiß doch überhaupt nicht, wie so etwas geht, noch hätte ich die Macht, etwas zum Leben zu erwecken."
 

"O Haku, du hast es immer noch nicht begriffen. Du hast Chihiro nicht irgendein neues Leben gegeben, du hast ihr dein eigenes Leben gegeben", entgegnete Zeniba. "Lass es mich dir erklären. Du hast versucht, Chihiros versiegende Lebenskraft mit der Energie aus deinem Fluss zu stärken. Doch ihre und deine Lebenskraft sind nicht miteinander vereinbar, sie stoßen einander ab. Das war der Widerstand, den du gespürt hast. Doch dann versiegte ihr Leben, Chihiro starb."
 

Gequält blickte Haku zu Zeniba auf. "Sie sagen, dass Chihiro gestorben ist? Das kann nicht sein, das darf nicht sein!"
 

Doch Haku, sie ist in dir ertrunken! In diesem Moment, dem kurzen Augenblick, der das Leben vom Tor trennt, konntest du ihren noch lebensfähigen Körper mit der Lebenskraft deines Flusses, die damals identisch war, mit der deines Flusses, zu neuem Leben erwecken. Dies ist nur in diesen kurzen Augenblicken nach Eintritt des Todes möglich, bevor sich die Seele verflüchtigt, oder unter Anwendung von magischer Gewalt, wenn du dein Opfer in eine seelenlose Puppe verwandeln möchtest, die deinem Willen bedingungslos gehorcht."
 

Es brauchte eine Weile, bis Haku das Gesagte verarbeitet hatte. Sein Kopf schwirrte von sich überstürzenden Gedanken und sein Herz hämmerte wie verrückt. Doch wenn er sich die Ereignisse in das Gedächtnis zurückrief, ließ die Erinnerung keine andere Interpretation zu. Er hatte Chihiro mit seiner eigenen Lebenskraft zurück ins Leben geholt. "Ich glaube, ich verstehe, Frau Zeniba, doch was hat dies alles jetzt für konkrete Bedeutung? Ich meine, ändert das etwas zwischen Chihiro und mir?"
 

"Du hast es noch immer nicht begriffen, nicht wahr Haku?", ächzte Zeniba. "Mann, die Menschen haben deinen Fluss zerstört und damit deine Lebensgrundlage vernichtet. Trotzdem stehst du hier quicklebendig vor mir. Das liegt daran, weil ein Teil deiner Lebenskraft übrig geblieben ist, nämlich genau der Teil, mit dem du Chihiro damals ins Leben zurückgeholt hast. Das bedeutet, Haku, dass du jetzt kein Flussgott mehr bist, sondern gewissermassen der Gott von Chihiro; sie ist die Trägerin deiner Lebenskraft. Man könnte auch sagen, Chihiro ist jetzt dein Fluss! Ihr Beiden teilt euch ein Leben. So etwas Verrücktes!"
 

"Ja aber Chihiro. Ich meine, sie kann doch nicht ...? Aber wenn sie stirbst, was ...?", sabbelte Haku zusammenhanglos, dem das Herz vor Freude zu platzen schien. Sein Leben hatte jetzt auf einmal wieder einen Sinn und dieser Sinn bestand ausgerechnet in dem, was er ohnehin tun wollte: zu Chihiro zu gehen und sie zu beschützen. "Warum hat mir das denn keiner ... Und Chihiro hat doch auch Nichts gemerkt!"
 

"Haku, beruhige dich. Ich denke, du solltest jetzt ein Stück Kuchen essen", sagte Zeniba verständnisvoll, bevor sie aufstand, um das Gebäck zuzubereiten. Innerhalb nur weniger Minuten hatte sie im wahrsten Sinne des Wortes aus den Zutaten eine herrliche Sahnetorte gezaubert, die sie Haku vor die Nase setzte.
 

Dieser starrte den Kuchen ungläubig an. "Was soll das, Frau Zeniba, ich habe keinen Hunger. Ich will jetzt nur noch möglichst schnell zu ihr."
 

"Na, mein Junge, an das Essen solltest du dich gewöhnen", meinte Zeniba leicht spöttisch. "Ich habe davon gehört, dass insbesondere Flussgötter nur wenig essen, weil sie ja genügend Energie aus ihrem Fluss bekommen. Aber was glaubst du, wo die Energie herkommt, die du jetzt zum Leben brauchst? Von Chihiro! Willst du vielleicht, dass Chihiro immer für dich mitessen muss? Schau dich doch nur an, wie dünn du bist. Chihiro müsste genauso dünn sein, wie du!"
 

Ungestüm schnappte sich Haku eine Gabel, um den Kuchen in sich hinein zu schaufeln, doch hatte er schon Mühe, überhaupt das erste Kuchenstück herunter zu bekommen. Das lag daran, dass er die Jahre im Bergwerk nur sehr wenig gegessen hatte und seit einer Woche überhaupt nichts, sodass Nichts mehr in seinen Magen hineinpassen wollte. Vorher, als Flussgott, hatte er sowieso nie etwas gegessen; es war einfach nicht notwendig gewesen.
 

Während Haku nun an dem Kuchenstück arbeitete, überlegte Zeniba weiter: "Lass uns mal darüber nachdenken, was das Implikationen hat, diese Verbindung zwischen dir und dem Mädchen. Chihiro jetzt ist also die Trägerin deiner Lebenskraft, der Lebenskraft, an die auch deine magischen Fähigkeiten gebunden sind. Daher sollte sie im Prinzip über dieselbe Zauberkraft verfügen, wie du. Möchtest du noch ein Kuchenstück?"
 

Mit großen Augen glotzte Haku verzweifelt auf seinen gerade mühsam geleerten Teller. Noch ein Stück Kuchen? Er war jetzt pappsatt, doch eingedenk Chihiros mutmaßlicher Nahrungsmangels nickte er eifrig. Nachdem Zeniba ihm ein weiteres Stück auf den Teller platziert hatte, fuhr sie fort: "Deine Drachenlebenskraft sollte sie auch immun gegen nahezu jede Krankheit machen, ebenso wie sie für eine schnelle Wundheilung sorgen sollte."
 

Sie schenkte sich eine weitere Tasse Tee ein, bevor sie weitermachte. "Wenn ich es so recht überlege, glaube ich jetzt auch verstanden zu haben, wie Chihiro mit ihren Eltern zusammen überhaupt in die Geisterwelt gelangen konnte. Das Tor muss sie, mit deiner Lebenskraft in sich, für einen Gott gehalten und sie deshalb zusammen mit ihren Eltern passieren lassen haben. Es passt alles zusammen. Da Chihiro beim Durchqueren des Tors sich bestimmt kein vorgestellt hatte, hat das Tor vermutlich die Verbindung zwischen euch erkannt und sie dorthin gebracht, wo du dich gerade aufhieltest: zum Badehaus meiner Schwester. Dass Chihiro dort auftauchte, war also letzten Endes kein Zufall!"
 

In diesem Augenblick durchzuckte Haku eine Idee. Wenn das bei Chihiro funktionierte, warum nicht auch bei ihm? "Frau Zeniba. Wenn ich nun ein Tor in die Menschenwelt passieren würde, ohne mir ein Ziel vorzustellen, könnte es dann sein, dass mich das Tor ebenfalls in Chihiros Nähe bringt?", fragte er deshalb hoffnungsvoll.
 

"Nun ja, das ist anzunehmen", meinte Zeniba, nach einer kurzen Denkpause, "nur ergibt sich hier ein weiteres Problem. Wenn jemand ein Tor in die Menschenwelt ohne Zielangabe benutzt, wird ein Gedächtnislöschzauber aktiv, der vermutlich auch das Gedächtnis eines Gottes beeinträchtigt. Der Zauber wird jedoch erst aktiv, sobald man den unmittelbaren Bereich des Tores verlässt. Du könntest also hindurchgehen, dir merken, wo du herauskommst, zurückgehen und dann noch einmal gezielt dorthin steuern. So könntest du den Löschzauber umgehen. Ja, das müsste funktionieren."
 

"Dann wäre es ja ganz einfach, Chihiro zu finden. Nur durch das Tor gehen und an nichts denken ... schon bin ich bei ihr", jubelte Haku, Zeniba vor Freude anstrahlend.
 

"Nur Haku, so einfach ist das leider nicht. Vielleicht ist Chihiro mitten aus einer der Riesenstädte der Menschen gekommen. Aus Tokyo, zum Beispiel", bremste Zeniba seinen Überschwang. "Wusstet du, dass in Tokyo und Umgebung mehr als 30 Millionen Menschen leben? Es ist die größte Stadt der Welt. Und in ganz Japan leben fast 130 Millionen Menschen."
 

So rasch, wie sie gekommen war, verflog nun seine Hoffnung auf eine einfache Möglichkeit, Chihiro zu finden und vor der möglichen Größenordnung seines Problems wurde ihm bang. "Kann man denn da nichts machen? Vielleicht gibt es ja eine Möglichkeit, Chihiro dort in der Menschenwelt zu orten. Sie haben ihr doch diesen Talisman gegeben ..."
 

"Hm ja, möglicherweise geht das. Doch müssen wir uns auch um das Problem kümmern, dass du nicht in der Lage sein wirst, deine physische Gestalt beizubehalten, sobald du die Geisterwelt verlassen hast. Dein Körper wird sich auflösen, sodass nur noch dein geisterhaftes Selbst übrig bleiben wird", gab Zeniba zusätzlich zu bedenken. "Erst, wenn du Chihiro berührst, wirst du dich wieder verwandeln und nur in ihrer Nähe deine Gestalt beibehalten können."
 

"Ich weiß, sonst wäre ich auch nicht zuerst zu ihnen gekommen", sagte Haku leise. "Es wird genauso sein, wie damals, als ich meinen Fluss verloren habe. Ohne Augen und Ohren bin ich dann auf meine magischen Sinne reduziert, die in der Menschenwelt kaum von Nutzen sind, weil Magie dort so schlecht funktioniert."
 

"Das liegt daran, weil in der Welt der Menschen die Dinge viel, ... äh, realer sind, als hier in der Geisterwelt. Man benötigt einfach riesige Energiemengen, um eine bestimmte Wirkung zu erzielen", erklärte Zeniba. "Hier in der Geisterwelt, funktioniert die Magie ja einfach so." Zur Untermalung ihrer Aussage schnippte sie mit den Fingern, woraufhin sich die Torte in einen Apfelkuchen verwandelte.
 

"Hinzu kommt, dass das, was die menschlichen Wissenschaftler Raumzeit nennen, magische Schwingungen nur sehr schlecht überträgt. Du wirst dich immer in einem Umkreis von vielleicht 100 bis maximal 200 Metern um Chihiro aufhalten müssen, sonst wird das Energieband zwischen dir und dem Mädchen zu schwach, als dass du deinen Körper erhalten könntest", erläuterte sie weiter. "Einzig die Tatsache, dass die Barriere zwischen dieser und der anderen Welt nur sehr dünn ist und somit die Energie von ihr problemlos in diese Welt übertreten kann, wo sie fast ohne Widerstand fließt, sorgt dafür, dass du hier ausreichend mit Lebenskraft versorgt wirst. Aber lassen wir das, ich gleite ein wenig zu sehr in die Theorie ab."
 

Dieser kurze, beiläufige Exkurs Zenibas machte Haku wieder einmal klar, wie wenig er immer noch über Magie wusste und was Yubaba ihn alles nicht gelehrt hatte. "Das bedeutet also, mein Hauptproblem ist immer noch, Chihiro zu finden", stellte Haku sachlich fest. "Wenn ich in ihrer Nähe bin, hat sich das andere Problem ja wohl erledigt."
 

"Du hast Recht, wir müssen deine Chihiro jetzt nur noch aufspüren. Ich schätze am einfachsten würde es sein, es auf direktem Weg zu versuchen. Die Menschen haben nämlich so genannte Telefonbücher, in denen sie ihre Adressen und eigenartige Zahlenkombinationen hinterlegen, um sich gegenseitig zu finden", bestätigte Zeniba. "Hach, aber ich fürchte ohne Körper wirst du diese Telefonbücher kaum benutzen können. Da Chihiro in ihrem Alter vermutlich in eine der Schulen der Menschen geht, könnte man zum Beispiel alle diese Schulen in der Umgebung um das Tor absuchen, an dem du herauskommst. Das denke ich, wäre eine einigermassen vielversprechende Taktik. ... Nein, um es ehrlich zu sagen, es wäre reines Glück, das Mädchen auf diese Weise zu finden. Wir werden wohl auf deine Idee mit dem Talisman zurückkommen müssen."
 

Zeniba stand von der Bank auf, öffnete die kleine Truhe neben der Eingangstür, aus der sie eine kleine hölzerne Schatulle herausholte, welches sich als ein Nähkästchen herausstellte. Aus diesem entnahm sie eine Garnrolle, auf der nur noch ein wenig Garn aufgewickelt war, die sie vor Haku auf den Tisch stellte.
 

"Dies ist der Rest des Garns, welches Boh, der Yu-Vogel, das Ohngesicht und meine Wenigkeit vor drei Jahren gesponnen haben, um daraus jenen Talisman Form eines Haarbandes für Chihiro zu machen, von dem sie dir erzählt hat", erklärte sie freundlich. "Durch die Mitwirkung von Boh und insbesondere des Ohngesichts, ist der Zauber, den wir in das Garn hineingewoben haben, dann sehr stark geworden, stärker als ich eigentlich beabsichtigt hatte. So stark, denke ich, dass man aus diesem Rest tatsächlich eine Art Kompass machen könnte, der die Richtung zu Chihiro, beziehungsweise zum Talisman anzeigt, zumindest wenn man bis auf ein paar Kilometer an sie herangekommen ist."
 

Mit großen Augen schaute Haku auf das unscheinbare, beschfarbene Garn. "Es wäre wundervoll, wenn das wirklich funktionieren würde. Chihiro hat mir von dem Haarband erzählt, und ich habe auf dem Rückflug damals die Kraft gespürt, die davon ausging. Dieser Talisman, sagen sie, warum haben sie ihn Chihiro gegeben?"
 

"Ja warum habe ich ihn ihr gegeben. Ich konnte ihr damals nicht direkt helfen, weil sie bei meiner Schwester unter Vertrag war, also habe ich ihr den Talisman gegeben, damit Yubaba sie nicht einfach so in ein Tier oder etwas anderes verwandeln, nur um ihre Macht auszukosten", seufzte Zeniba.
 

"Trotzdem haben wir immer noch ein Problem", fuhr sie dann fort. "Wenn dein Körper sich in der Menschenwelt auflöst, dann kannst du diesen Kompass nicht halten. Du kannst ihn also nur in unmittelbarer Nähe des Torausganges benutzen, solange das Tor geöffnet ist. Solange es nämlich noch offen ist, durchdringen sich ihre und unsere Welten teilweise, sodass du deine physische Gestalt beibehalten und den Kompass benutzen kannst. Wenn du dort aber keinen Ausschlag bekommst, ist sie nicht in der Nähe und wir müssen uns etwas anderes einfallen lassen."
 

"Also gut, lassen sie mich zusammenfassen", sagte Haku wild entschlossen. "Ich muss durch ein Tor in die Menschenwelt gehen, ohne an ein Ziel zu denken. Wenn wir mit unserer Vermutung richtig liegen, sollte mich das Tor dann in die Nähe von Chihiro bringen, weil es die Verbindung zwischen uns erkennt. Dort soll ich mir den Ausgang einprägen, um dann sofort durch das Tor in die Geisterwelt zurückzukehren, sodass der Gedächtnislöschzauber nicht aktiv wird. Dann muss ich erneut das Tor benutzen, diesmal mit dem Ziel im Kopf, welches ich mir zuvor gemerkt habe. Nun muss ich, ohne den Torausgang ganz zu verlassen, damit sich mein Körper nicht auflöst, den Kompass verwenden und mir die Richtung merken, in die er zeigt, bevor ich dann diese Richtung in gerader Linie nach Chihiro absuchen kann."
 

"So in etwa sollte das gehen", pflichtete Zeniba, die aufmerksam zugehört hatte, ihm bei. "Das Ganze hört sich doch ziemlich verrückt an, wenn ich ehrlich bin. Tatsächlich würde es mich wundern, sollte das wirklich funktionieren. Wer weiß denn, ob sie das Haarband noch hat? Trotzdem, ein Versuch kann ja nicht schaden." Damit begann sie, aus dem Garnrest kunstvoll eine kurze Schnur zu flechten, welche sie in ein kurzes hohles Bambussegment applizierte, dass sie an einem Faden aufhing.
 

Weil das Flechten jedoch einige Zeit in Anspruch nahm, sah sich Haku derweil neugierig die Bücher an, die das Ohngesicht vorhin in Zenibas Haus getragen hatte und die nun einen Stapel auf dem Tisch rechts neben ihm bildeten. Das oberste Buch, es war klein, mit sandgrauem Einband, ziemlich unscheinbar und abgegriffen, hatte einen Titel, der mit Romajis in einer Sprache geschrieben war, die Haku nicht kannte. Doch zumindest den Namen des Autors konnte er entziffern: "Erich von Däniken".
 

Da er mit dem Buch nicht viel anfangen konnte, legte er es zur Seite, sich dem nächsten Werk zuwendend, welches den vielversprechenden Titel "Handbuch der Quantenmagie" trug. "Dieses Buch hat mich auf die Idee gebracht", sagte Zeniba plötzlich, während sie den Faden flocht.
 

"Auf welche Idee? Dieses Buch?", fragte Haku, indem er auf das kleine sandgraue Buch deutete.
 

"Ja genau. Das Buch!", bestätige die Hexe. "Ich meine vorhin, als ich von dem Kongress über angewandte Zauberkunst zurückgekehrt bin. Du hast doch meine Ankunft beobachtet, nicht wahr? Hast du dich nicht gefragt, als was ich da gelandet bin? Die Menschen nennen so was ein UFO. Die Idee habe ich aus diesem interessanten Buch von diesem Herrn v. Däniken, einem Schweizer, aber manchmal frage ich mich, wie die Menschen mit derartig abstrusen Schlussfolgerungen eine so fortgeschrittene Zivilisation errichten konnten. Hah, wenn die wüssten!"
 

Haku verstand zwar nicht ganz, was Zeniba meinte, dazu würde er wohl erst schweizerisch lernen und dann das Buch lesen müssen, aber neugierig geworden nahm er es erneut in die Hand, um ein wenig darin zu blättern und sich die Abbildungen anzusehen. Eine davon zeigte tatsächlich ein solches Gebilde, wie das, in welches Zeniba sich für die Reise verwandelt hatte.
 

Diese hatte mittlerweile ihre Arbeit fertig gestellt. Probeweise hielt sie den "Chihiro-Kompass" an dem Faden vor sich in die Luft. Nun nahm sie das letzte, nur einen Zentimeter lange Garnstück, es um den "Kompass" herumbewegend, der dem Garnstück wie einem Magneten immer sauber folgte. Das Ende des Holzstücks, welches auf den Garnrest zeigte, markierte sie mit etwas roter Farbe, damit Haku wusste, in welcher Richtung er zu suchen hatte.
 

"Hier, es ist fertig" sagte sie schließlich, es vor Haku, der immer noch in dem kleinen Buch blätterte, auf den Tisch legen.
 

Dieser legte das Buch sorgfältig auf den Stapel zurück, nahm den "Kompass" in die Hand, ihn interessiert untersuchend. "Es sieht völlig unscheinbar aus", bemerkte er, das Bambusstück träumerisch hin und her kreisen lassend.
 

"Haku, bevor du dich jetzt aufmachst, sollte ich dich noch einmal darauf hinweisen, dass du gesucht wirst, zumindest du in deiner Drachengestalt", ermahnte ich Zeniba, die seine Gedankenverlorenheit bemerkt hatte. "Vor nur einem Monat war jemand von der Geheimpolizei hier und hat mir viele unangenehme Fragen zu meiner Schwester und eben auch zu dir gestellt. Ich kann dir versichern, dass mir diese Person richtig Angst eingeflößt hat und mir macht normalerweise niemand so schnell Angst. Fast hatte ich den Eindruck ... Aber nein, es gibt ja keine Großdämonen mehr. Jedenfalls solltest du dich hüten, dich in Drachengestalt sehen zu lassen, auch in der Menschenwelt. Man weiß nie, von wem man gesehen wird. Vielleicht möchtest du ja noch ein paar Tage bleiben und dich ausruhen?"
 

"Nein, ich möchte mich lieber sofort auf den Weg machen", lehnte Haku ihr Angebot voller Ungeduld ab; er wollte jetzt nur noch so schnell wie möglich zu Chihiro. "Wenn sie mich in der Geisterwelt suchen, bin ich wohl in der anderen Welt besser aufgehoben. Zeigen sie mir doch bitte, Frau Zeniba, wo sich das nächste Tor in der Umgebung befindet."
 

"Na, na, na, du bist ja vielleicht stürmisch", sagte Zeniba nachsichtig. "Willst du dich denn nicht ausruhen. So wie du aussiehst, machst du auf mich nicht den Eindruck, als würde es dir besonders gut gehen und an deinem Aufzug müssen wir auch etwas machen. So kannst du dich jedenfalls nirgendwo sehen lassen."
 

"Nein bitte, Frau Zeniba", entgegnete Haku. "Wie ich aussehe, ist mir egal, und ausgeruht habe ich mich schon in der Woche, die ich hier auf sie gewartet habe. Es geht mir wirklich gut, bitte glauben sie mir doch. Wenn sie mir das Tor nicht zeigen möchten, dann will ich mich herzlich bei ihnen für alles bedanken und werde mir selber ein Tor suchen."
 

"Haku, jetzt stell dir doch mal vor, du tauchst in diesen Sachen bei Chihiro auf", versuchte Zeniba es ihm auf andere Weise klar zu machen. "Als du vorhin hier aufgetaucht bist, habe ich dich zuerst für eine Art Bettler gehalten und weil du so jung und ausgemergelt warst, hatte ich sofort Mitleid mit dir. Wenn du zu Chihiro gehst, wird es ihr vielleicht egal sein, aber auf Dauer wirst du dein Vorhandensein ihrer Umgebung nicht verheimlichen können. Was werden ihre Eltern von dir halten? Du wirst dich irgendwie mit Chihiros Leben arrangieren müssen, wenn du bei ihr bleiben willst, oder dich für immer verstecken müssen!"
 

Das gab Haku zu denken. Bis jetzt hatte er immer nur vorgehabt, sein Versprechen gegenüber Chihiro zu halten, um danach zu sehen, wie es weitergehen konnte, um Torooru und den anderen aus dem Bergwerk zu helfen und Yubaba in ihre Schranken zu verweisen. Sein eigenes Leben war ihm dabei zuletzt völlig gleichgültig gewesen, doch jetzt war die Situation eine ganz andere.
 

Sein Eigenes war gleichzeitig auch Chihiros Leben und das schon seit vielen, vielen Jahren. Schlagartig wurde ihm seine ganze Verantwortung bewusst, sodass ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief, als er an seinen Selbstmordversuch im Bergwerk zurückdachte und die anderen Gelegenheiten, bei denen er fast den Tod gefunden hatte. Wenn er damals umgekommen wäre, im selben Moment wäre auch Chihiro gestorben, denn sie beide zusammen teilten sich eine Lebenskraft, vereint im Leben, wie im Tod.
 

Machte das Chihiro für ihn nicht zu so etwas Ähnlichem, wie zu seiner Schwester, oder war er doch mehr ihr persönlicher Schutzgott? Je mehr er darüber nachdachte, desto verwirrender wurde das alles für ihn. Seine Lebenskraft steckte in Chihiro, also hatte sie das Sagen und es war seine Pflicht, ihr zu gehorchen, sie zu beschützen, was auch einschloss, sein eigenes Leben zu erhalten, um jeden Preis.
 

Aber war es dann tatsächlich Liebe, die seine Sehnsucht nach dem Mädchen erklärte, oder einfach nur der Instinkt eines Naturgottes, seine Wohnstatt zu beschützen. Wenn es nun gar keine Liebe war, wenn Chihiro ihn nicht akzeptierte, was dann? Haku kam zu dem Schluss, dass das Nichts ändern würde. Er würde bei ihr sein müssen, so lange sie lebte, und wenn sie starb, würde auch er vergehen.
 

"Also gut, Frau Zeniba", sagte er deshalb, "was meinen sie, sollten wir mit meiner Kleidung machen, damit ich für die Menschen akzeptabel bin?"
 

"Du solltet auf jeden Fall etwas anziehen, womit du dich unauffällig unter ihnen bewegen kannst", sagte Zeniba. "Junge Menschen tragen heutzutage häufig etwas, dass man Jeans und T-Shirt nennt. Mal schauen, ob ich nicht irgendwo ein Bild davon in meiner Bibliothek davon habe."
 

Sie ging durch die Tür neben der Küchennische in einen Nebenraum, in welchem sich anscheinend diese Bibliothek befand, wie Haku an den Regalen darin erkennen konnte, ging kurz die Regalzeilen durch, bis sie zielstrebig ein Buch herausholte. Dann kehrte sie zurück an den Küchentisch, schlug das Buch auf einer bestimmten Seite auf und legte es vor Haku offen hin.
 

"Hier, sieh mal", meinte sie zu Haku, auf das großformatige farbige Foto deutend. "So scheinen sich junge Menschen momentan anzuziehen."
 

Neugierig nahm Haku das Bild in Augenschein, welches einen jungen Mann zeigte, der rosa gefärbte Haare hatte, die ihm wild vom Kopf abstanden, wie die Stacheln eines Igels. Durch die Augenbraue hatte der Junge einen Ring, ebenso wie durch die Unterlippe und seine Ohrläppchen.
 

Die Kleidung, die der Junge trug, waren ein weißes T-Shirt, in welches wie zufällig mehrere Löcher hineingeschnitten waren, und eine in Oliv- und Grüntönen gescheckte Hose mit etlichen aufgesetzten Taschen, die an den Knien ebenfalls aufgerissen war. Was für Schuhe er trug, war leider nicht zu erkennen.
 

Nachdem er ein wenig in dem Buch geblättert hatte, die mehr oder weniger fantasievollen Outfits der abgebildeten jungen Menschen betrachtend, kam er zu dem Schluss, dass er am liebsten einen Sommerkimono oder wieder einen Suikan, wie im Badehaus tragen wollte. Aber was er selbst wollte, war jetzt nicht wichtig, denn die Kleidung, die er jetzt brauchte, musste dazu geeignet sein, sich unauffällig unter Menschen zu bewegen.
 

"Meinen sie wirklich, dass ich so etwas tragen sollte, Frau Zeniba?", fragte er ein wenig unsicher, "ich meine, was der Junge das trägt und wie er sich zurechtgemacht hat, erscheint mir etwas eigenartig. Und sollte ich mir auch die Haare bunt zaubern und die Ringe durch mein Gesicht bohren?"
 

"Nein, nein, Haku", gab die Hexe zurück, "ich dachte nur, wir könnten die Kleidung auf diesem Bild als Vorlage, für deine Kleider verwenden. Ich gebe zu, was die jungen Menschen heute so alles Tragen ist, naja, gewöhnungsbedürftig, aber wir müssen ja auch nicht alles Nachahmen. Deine unfreiwillig asymmetrische Haartracht hat mich allerdings auf den Gedanken gebracht, in genau diesem Buch nachzuschauen."
 

Sie tippte kurz gegen Hakus umgenähte Jacke und seine Hose, die sich sofort in exakte Kopien der dargestellten Kleider verwandelten, inklusive aller Löcher und Flecken.
 

"Na, das sieht doch nicht so schlecht aus", meinte sie und beäugte Haku kritisch von allen Seiten. "Es steht dir jedenfalls besser als dem Jungen auf dem Foto, aber ich habe den berechtigten Verdacht, dass du in jeder Kleidung besser aussiehst, als der. Wenn du willst, machen wir uns jetzt auf den Weg zum Tor."
 

Haku stand auf, um an sich herunterzublicken. Die Kleidung fühlte sich eigenartig an, ein Gefühl des Unwohlseins bei ihm erzeugend. Wenn junge Menschen so etwas trugen, dann musste es wohl sein. Jedenfalls hatten die Kinder, die früher an seinen Ufern gebadet und gespielt hatten, immer Anderes angehabt, leichte Sommerkleider, wie sie auch Chihiro getragen hatte, und wenn sie sich ausgezogen hatten, Badesachen oder manchmal auch gar nichts.
 

Probehalber bewegte er sich in den Sachen, zu dem Schluss kommend, dass ihn die Hose, obwohl sie nicht eng anlag, weil er selbst so mager war, ihn in seiner Bewegungsfreiheit einschränkte. Doch was sollte es. Wenn er in der Menschenwelt nicht auffallen wollte, würde er sich an diese Kleidung gewöhnen müssen.
 

"Also gut, Frau Zeniba", meinte er letztendlich, "ich glaube, wir können jetzt gehen."
 

Bevor sie das Haus verließen, instruierte Zeniba noch schnell das Ohngesicht, bevor sie das Haus als Ganzes verschwinden ließ, ohne jedoch diesmal den Ablenkungszauber zu aktivieren. Das Ohngesicht passte ja auf das Haus auf und sie würde ja auch nicht lange wegbleiben.
 

Über den Feldern hatte sich durch den Regen in der Nacht ein leichter Bodennebel gebildet, der aber bald von den Strahlen der gerade aufgehenden Sonne aufgelöst werden würde. Unter dem lauten Gezwitscher der Vögel machten sie sich auf den Weg in den Wald hinein, folgten kurz dem Pfad zur Haltestelle der Eisenbahnlinie, um dann links abzubiegen und tiefer in den Wald vorzudringen.
 

Nach etwa einem halben Kilometer erreichten sie eine kleine Lichtung mit einem riesenhaften Kampferbaum in der Mitte, der den umgebenden Wald Haushoch überragte. Genau auf diesen Baum marschierte Zeniba zielstrebig zu, um ihn dann, am Fuß des Baumes angelangt, zu umrunden.
 

Schon wurde das Ziel ihres Ausflugs sichtbar, denn der Baum hatte, was von der Seite, aus der sie die Lichtung betreten hatten, zunächst nicht sichtbar gewesen war, ein großes Loch in seinem Stamm, welches eine tiefe Höhlung bildete, in der selbst Torooru aufrecht hätte stehen können.
 

"Hier, Haku, das ist das Tor in die Menschenwelt", sagte Zeniba auf die Öffnung im Stamm weisend. "Ich werde hier eine Weile warten, falls du auf der anderen Seite nichts erreichst. Und nun geh zu deiner Chihiro."
 

"Vielen Dank für ihre Hilfe und ihr Verständnis, verehrte Frau Zeniba", erwiderte Haku, indem er sich vor der alten Hexe verneigte. Damit wandte er sich der Öffnung zu, sich bereitmachend, für den Übergang.
 

"Warte noch einen Moment", sagte Zeniba dann mit einem Male. "Irgendwie fühle ich mich mitverantwortlich für die Taten meiner Schwester und wie wenig sie dir über Magie beigebracht hat, ist einfach unverantwortlich. Deshalb biete ich dir an, bei mir die Magie zu erlernen, als mein Schüler und ohne jede Verpflichtung. Ach ja, und Chihiro als meiner Schülerin selbstverständlich, falls du sie findest. Überleg es dir, denn ich verstehe mindestens ebenso viel von Magie, wie meine Schwester."
 

Haku nickte ihr zum Zeichen des Verständnisses kurz zu, bevor er seinen Geist leerte, um dem Tor beim Durchgang kein Ziel zu geben. Dann betrat er entschlossen vorangehend das Innere des Baumes, welches sich plötzlich immer weiter tunnelartig in die Tiefe weitete und dessen Wände nach und nach von Hölzernen in Steinerne wechselten.
 

Das andere Ende des Tunnels erreicht, hütete Haku sich davor, den Durchgang zu verlassen, damit das Tor sich nicht verschloss. Bereits jetzt verspürte er eine lähmende Schwäche, die durch die Magieunverträglichkeit dieser Welt verursacht wurde. Schnell prägte er sich deshalb den Anblick ein, der sich ihm nun darbot, den Anblick eines Laubbedeckten und friedlichen, gepflasterten Waldwegs, und dem markanten Grinsenden, doppelgesichtigen Steingeist direkt vor ihm, mit dem das Tor in der Menschenwelt gekennzeichnet wurde.
 

Zur Probe holte er dann noch Zenibas "Kompass" hervor, um zu sehen, ob Chihiro, bzw. ihr Talisman sich irgendwo in der Nähe befand. Langsam, nervtötend langsam drehte sich das Bambusstöckchen an dem Faden in eine bestimmte Richtung, doch das konnte ja auch nur Zufall sein. Er verdrillte deshalb den Faden ein wenig, gab dem Stöckchen einen kleinen Stups, sodass es rasch um sich selbst rotierte.
 

Mit Spannung verfolgte Haku, wie sich die Bewegung des Kompasses verlangsamte, schließlich zum Stillstand kam, um wieder in dieselbe Richtung zu weisen wie zuvor. Was er auch ausprobierte, immer zeigte er nach einiger Zeit in diese Richtung, etwas schräg nach links. Die Aufregung darüber ließ Haku seine Vorsicht vergessen und er trat hinaus aus dem Torbogen auf das Kopfsteinpflaster des Waldweges.
 

Im selben Moment schloss sich das Dimensionstor, die Verbindung zur Geisterwelt wurde gekappt und Haku wurde mit einem Mal ganz schwindelig. Erschrocken blickte er an sich herunter, um festzustellen, dass seine Füße bereits verschwunden waren und auch seine Hände wurden bereits durchsichtig. Nur wenige Augenblicke später hatte er seinen Körper komplett verloren, sodass der Kompass, nun nicht mehr von einer Hand gehalten, kurz vor dem grinsenden Steingeist zu Boden fiel.
 

Nur auf seine magischen Sinne reduziert, denn Augen, Ohren oder jedwede andere Sinnesorgane besaß er nun nicht mehr, versuchte er verzweifelt sich zu orientieren und einen klaren Gedanken zu fassen. Er musste sofort wieder zurück in die Geisterwelt, sonst würde bald der Gedächtnislöschzauber bei ihm wirksam werden, fuhr es ihm siedend heiß in den Sinn. Am Rande seines Wahrnehmungsradius', der vielleicht gerade fünf Meter groß war, konnte er noch so gerade den Eingang zum Tunnel des Tors ausmachen, auf welchen er sofort zuschwebte.
 

In seiner Panik und Verwirrung stellte er sich beim Durchqueren des Tors allerdings das Ziel vor, welches ihm am vertrautesten war und deshalb als Erstes in den Sinn kam: den Wartesaal von Yubabas Fährstation. Dort angelangt nahm er sofort wieder seine menschliche Gestalt an, bevor er sich auf eine der Bänke setzte, um seiner Aufregung wieder Herr zu werden.
 

Er hatte, in dem Moment als er festgestellt hatte, dass Chihiro in der Nähe sein könnte, einfach alles vergessen, was Zeniba ihm gesagt hatte und er hatte auch vergessen, wie unangenehm es war, ohne Gestalt zu sein. Diese Schwäche, Hilflosigkeit und fast völlige Blindheit, die jede Orientierung stark erschwerte. Wie hatte er das nur verdrängen können, wo er es doch, nachdem sein Fluss zugeschüttet worden war, fast zwei Monate hatte erdulden müssen, bevor er endlich einen Zugang zur Geisterwelt gefunden hatte.
 

Doch es half nichts, wenn er zu Chihiro wollte, dann würde er es erneut durchstehen müssen. Entschlossen stand Haku wieder auf, ging energisch auf den mittleren Durchgang zu, sich auf das Bild konzentrieren, welches er vom Ausgang auf Chihiros Seite noch frisch im Kopf hatte.
 

Wieder dort angelangt, blickte er kurz auf den Kompass, der jetzt kaum von anderen Aststückchen zu unterscheiden im Laub vor dem Steingeist lag. Doch ein Versuch, den Kompass mit Magie zu ihm herüberschweben zu lassen, schlug wegen der erneut einsetzenden Schwäche fehl. Das Bambusstückchen wollte einfach nicht auf seinen Zauber reagieren.
 

Bald sah Haku ein, dass es zwecklos war. An den Kompass konnte er jetzt nicht mehr herankommen, also würde er sich auf die Erinnerung an vorhin verlassen müssen, als er den Kompass noch in der Hand gehabt hatte. Im Tunnelausgang stehend, drehte er sich nach links, bis er genau in die Richtung blickte, in die der Kompass vorhin gezeigt hatte, um dann ein paar Schritte auf das Kopfsteinpflaster hinaus zu machen.
 

Schon setzte der Auflöseprozess erneut ein, doch diesmal war Haku darauf vorbereitet. Als er seine physische Gestalt vollständig verloren hatte, begann er nun in gerader Linie weiter zu schweben, in der Hoffnung auf diese Weise das Mädchen, die Trägerin seiner Lebenskraft, in der Menschenwelt zu finden.
 

Es stellte sich alsbald als schwierig heraus, einen geraden Weg durch den Wald zu nehmen, denn einige der Bäume, die auf seinem Pfad lagen, waren von närrischen Baumgeistern bewohnt, die ihn partout nicht vorbeilassen wollten. Diesen Bäumen auszuweichen und dann wieder die genaue Richtung zu finden war fast unmöglich, insbesondere da seine Wahrnehmung gerade einmal von einem Baum zum nächsten reichte.
 

Nachdem er zweimal von vorne beginnen musste, weil er deswegen die Richtung verloren hatte, fand er einen Ausweg, indem er einfach über dem Wald hinwegschwebte. Auf diese Weise gelangte er nach vielleicht einem Kilometer an den Waldrand, an den sich eine abschüssige Wiese anschloss. Hier hielt Haku kurz inne, um sich zu orientieren, doch er konnte nichts in seiner unmittelbaren Nähe wahrnehmen, ebenso wenig, wie er in der Lage war, die Größe der Wiese auszumachen. Das Einzige was er mit Sicherheit sagen konnte war, dass die Wiese sich über mehr als als fünf Meter erstreckte.
 

Sein Gefühl allerdings sagte ihm, da er bereits über einen Kilometer weit gekommen war, dass Chihiro nicht mehr weit sein konnte. Weiter seiner Richtung folgend, schwebte er nun über die Wiese, bis er auf eine kleine Straße traf, auf deren gegenüberliegender Seite sich ein Haus befand, welches er aufgeregt zu untersuchen begann. Immerhin fand er den Briefkasten des Hauses, wo er den Namen der Bewohner lesen konnte: Abe.
 

Chihiro trug den Nachnamen Ogino, also schien sie hier nicht zu wohnen. Etwas enttäuscht schwebte Haku zum Nachbarhaus rechts daneben weiter, wo er ebenfalls den Namen las: Shikishima. Auch hier wohnte Chihiro offenbar nicht und so machte Haku weiter, bis er das Ende der Häuserzeile erreicht hatte, dass von einer Querstraße begrenzt wurde. In keinem der Häuser wohnte eine Familie Ogino. Verzweifelt wünschte sich Haku, den Kompass benutzen zu können.
 

Doch möglicherweise war sie ja bei jemandem zu Besuch, bei jemandem der nicht Ogino hieß. Um das festzustellen, würde er jedes dieser Häuser einzeln durchsuchen müssen. Mit einem geistigen Seufzer schwebte Haku zum Haus der Abes zurück, um sich dessen Bewohner genauer anzusehen. Hier bemerkte er dann, dass sich links von diesem Haus sich noch ein weiteres Gebäude befand, bei welchem er noch nicht nachgesehen hatte.
 

Gerade wollte er auf den Briefkasten dieses Anwesens zuschweben, als die Haustür aufging. "Schatz, willst du denn gar nichts zu essen mitnehmen", drang eine weibliche Stimme heraus, die Haku merkwürdig vertraut vorkam.
 

"Nein Mama, ich habe keinen Hunger mehr", erwiderte Chihiro, "aber wenn es noch lange dauert, verpasse ich den Schulbus! Auf Wiedersehen, Mama. Bis heute Abend. Du weißt ja, Ayaka hat nach der Schule noch ein Ligaspiel und da muss ich hin." Damit trat Chihiro rückwärts aus der Tür heraus und wurde für Haku sichtbar.
 

Gerade zwei Meter von ihm entfernt stand sie in der Eingangstür ihres Hauses und ihr ganzer Körper strahlte so hell vor magischer Energie, dass er hätte blinzeln müssen, wenn er Augen gehabt hätte. Mit ihren Abschiedworten, die Haku nicht direkt gehört, sondern mehr als geistige Schwingungen vernommen hatte, wirbelte Chihiro herum, um den Gehweg von der Tür zur Grundstücksgrenze herunterzustürmen, genau durch Haku hindurch, der dort unsichtbar schwebte.
 

Das Gefühl, das er in diesem kurzen Moment der Berührung mit Chihiro hatte, war unbeschreiblich intensiv, als würde auf einmal alle Schwäche und Hilflosigkeit von ihm abfallen. Er kannte dieses Gefühl, doch es schien lange vergessen. Es war das Gefühl, das er früher immer gehabt hatte, wenn er in seinem Fluss gewesen war, ein Gefühl unbeschreiblichen Glücks, das für immer verloren schien.
 

Doch bei Chihiro war es anders, irgendwie noch viel lebendiger, schöner als er es in Erinnerung hatte.
 

Nachdem das Mädchen durch ihn hindurchgerannt war, hielt es plötzlich inne, sich verwirrt umblickend, als hätte es etwas gespürt. "Hallo, ist da jemand?", rief sie verwirrt. Doch dann besann sie sich wieder und rannte weiter zu diesem Schuldings.
 

Haku überlegte, ob er ihr folgen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Er wollte Chihiro begegnen, wenn sie alleine war, sodass er sich entschloss Haku zu warten, bis sie aus dieser Schule zurückkam.



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Kommentare zu diesem Kapitel (30)
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Von:  DemonLady
2005-08-19T14:37:23+00:00 19.08.2005 16:37
Tach auch
Das heißt also, dass Chihiro mit Kohaku in Verbindung steht ( wegen dem Hunger ). Das war toll überlegt!
Und das mit dem neuen Leben war toll. Nur eines stört mich ein wenig. Im Anime wird ja gesagt, dass ihre Mutter Chihiro die Geschichte erzählt hat, sie sei in den Fluss gefallen. Und sie weiß doch auch, dass Chihiro beinahe ertrunken wäre. Hier hat Haku aber erzählt, die Mutter hat sie nur am Fluss spielend gefunden.
Dass sie übrigens Dache anstatt Drache sagt is ja wohl voll süß!
... "Ihr beiden teilt euch ein Leben. So etwas Verrücktes!" ...
Da muss ich Zeniba Recht geben. Das ist wirklich verrückt, aber schön.
Und wie er sie findet ist auch toll gewesen. Klasse.
Ich freu mich aufs nächste Kap zum lesen. ^^
Keep smile!
Your Demon
Von:  Yvi
2005-03-28T15:42:25+00:00 28.03.2005 17:42
Ich muss sagen, dass die Sache sich immer mehr verzweigt.
So viele Sachen, einfach unglaublich!!!
Die Seiten zerrinner nur so unter meinen Augen, man hat das Gefühl, als sähe man einen Film, anstatt nur Buchstaben!!
Freu mich schon auf das letzte T.T Drittel

dewa máta
Von: abgemeldet
2004-08-06T15:06:15+00:00 06.08.2004 17:06
mach weiter so, ich habe es erst jetzt gemerkt, das das kapi on ist, aber es war einfach spitze, 10 meiten, so lang habe ich noch nie ein kapi gehabt, höchstens 2 seiten.
war wieder voll cool und ich freu mich schon auf das nächste was ich jetzt auch lesen werde^^
Von:  dat_vege
2004-08-02T13:06:53+00:00 02.08.2004 15:06
waah T__T
ich hab jetzt die ganze FF zum dritten mal gelesen *xD*
und...ich will das es weiter geht ~ToT
du kannst uns doch nicht sio lange warten lassen Uu
*schon heftig unter entzug leidet*
*knuffelz*
baba vegetafan_14
Von:  bakamon
2004-07-23T13:20:29+00:00 23.07.2004 15:20
wirklich ganz schön lang.... ich will den nächsten Teil.....
naja.. die ff ist echt cool, kann ich allen anderen nur zustimmen!!!!! Schickst du mir 'ne ENS wenn das nächste Kappi da is?????? biiiiiiitteeee
Yami-chan13
Von: abgemeldet
2004-07-04T16:46:02+00:00 04.07.2004 18:46
War ma wieda obergail...
Schreib schnell weitaaa XD
Von: abgemeldet
2004-06-27T08:51:46+00:00 27.06.2004 10:51
die ganze geschichte ist echt klasse. bitte bitte schreibe ganz schnell weiter*dackelblick*. ich bin schon ganz gespant auf die fortsetztung.
Von:  Whisper
2004-06-17T22:16:07+00:00 18.06.2004 00:16
T-T wann schreibst/lädst du denn endlich dein neues kap. rauf ? ich krepiere...*heul* bitte, bitte, bitte, bitte, bitte !! ich hoffe es dauert nicht mehr sooo lange... >.<
bai bai
evil~ X)
Von:  Sakurajima
2004-06-07T19:36:49+00:00 07.06.2004 21:36
OH MEIN GOTT!!!!! War das wieder genial! Muaaahhh *fieberhaft die lippen leck* *glänzende Augen hab*
Wahhh ist das geil!!! Und mit den ganzen Erklärungen... ich hab schon aufgehört, mich zu fragen, woher du all diese Ideen, Ansichten und Erklärungen nimmst... ich hab ja immer noch die Vermutung, dass du mit Hayao gemeinsame Sache machst ^___^
Weiter so, und schreib schön fleißig weiter ^^
Von: abgemeldet
2004-06-06T16:14:57+00:00 06.06.2004 18:14
OOOOOOohh mein Gott!!!!!!
Ich schwör dir du kannst dir gar nicht vorstellen wie ich mich freue!!!^____________^
Also schreib so schnell du kannst weiter!!^^
Ansonsten schrei ich dir deine ganze Budde zam!*fg*

kiss
rika


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