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Chihiro und Kohaku

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Chihiro und Kohaku, Teil 2

Chihiro und Kohaku, Teil 2
 

Die ganze Zeit über, die Busfahrt zur Schule, die morgendliche Schulversammlung hindurch und auch den größten Teil der ersten Schulstunde, in der sie Matheunterricht hatte, ging Chihiro das merkwürdige, und doch so vertraute Gefühl nicht mehr aus dem Kopf, dass sie beim Verlassen des Hauses kurz gehabt hatte.
 

Es beschäftigte sie so sehr, dass sie sich auf nichts anderes mehr konzentrieren, weder ihre Freunde richtig wahrnehmen, noch dem Unterricht folgen konnte, einzig in dem Versuch sich zu erinnern, was an dem Gefühl dermaßen vertraut gewesen war.
 

Der Mathematiklehrer erläuterte gerade den Satz des Pythagoras an der Tafel, wozu er ein formatfüllendes, rechtwinkliges Dreieck mit der Kreide auf der dunkelgrünen Fläche platzieren wollte. Leider quietschte das Kreidestück dabei so sehr, dass es Chihiro aus ihren Gedanken riss und wohl bei der Hälfte aller anderen Schüler, eine Gänsehaut verursachte. Ayaka krümmte sich übertrieben unter dem unangenehmen Geräusch, wohingegen Ichiyo sich nichts anmerken ließ und emsig das Dreieck von der Tafel in sein Schulheft übertrug.
 

Bei der Hypotenuse wurde es Chihiro zu viel und sie beschloss, etwas zu unternehmen. Dazu kam ihr eine Entdeckung zugute, die sie erst vor kurzem beim Ausprobieren ihrer magischen Fähigkeiten gemacht hatte. Einen ganzen Nachmittag hatte sie nämlich versucht, einen Kieselstein in eine Glasmurmel zu verwandeln, die sie beim Murmelspiel auf dem Schulhof verwenden wollte.
 

Diese Umwandlung war ihr zwar nicht gelungen, so viel Mühe sie sich auch gegeben hatte, aber als sie nach einigen Stunden enttäuscht aufgeben und den Kiesel zu Seite schnippen wollte, zerplatzte der in einer Staubwolke. Nach einigem weiterem Experimentieren gelang es ihr, diesen Effekt konstant zu reproduzieren und hinterher sogar, den zu einem Häufchen zusammengeschobenen Staub gewissermassen festzubacken und in der Form des Häufchens zu fixieren.
 

Genau das beschloss sie nun, an dem Kreidestück des Lehrers auszuprobieren. Dazu deutete sie mit dem Finger kurz auf die Kreide, während sie sich den notwendigen Vorgang vorstellte. Das Deuten mit dem Finger war zwar nicht unbedingt notwendig, um den Zauber auszuführen, aber es half, wie ihr Manami erklärt hatte, die Gedanken, und damit auch die Zauberkräfte, auf den zu behexenden Gegenstand zu fokussieren.
 

Die Wirkung trat unmittelbar und drastisch ein. Eben noch zog der Lehrer, Herr Mochizuki, mit großem Elan sein kreischendes Kreidestück an dem großen Kunststofflineal entlang, welches er krampfhaft gegen die Tafel presste, um nicht abzurutschen, als plötzlich die Kreide in ihrer Papierhülle nachgab und als Pulver zu Boden rieselte.
 

Da Herr Mochizuki die Kreide relativ stark gegen die Tafel gedrückt hatte, fasste er plötzlich ins Leere, prallte er mit der rechten Hand gegen das Lineal, welches er dadurch zur Seite schob, bis er damit ebenfalls abrutschte und haltlos mit der Schulter gegen die Tafel taumelte.
 

Überrascht fing er sich ab und nahm dann verwundert die mittlerweile leere Papierhülle des Kreidestücks in Augenschein. Anschließend begutachtete er noch sprachlos den Kreidestaub, der sich in einer dünnen Schicht auf den Fußboden gelegt hatte. Nachdem er sein Jackett unständlich von einigen weißen Flecken gesäubert hatte, nahm er achselzuckend ein neues Kreidestück aus der Schachtel auf dem Lehrerschreibtisch. Dann setzte er das Lineal erneut an, ohne weiter das Gemurmel der Schüler zu beachten, um seine Hypotenuse zu vollenden.
 

Das neue Kreidestück gab allerdings ähnlich lästige Kratzgeräusche von sich, wie das zu Staub Gezauberte, sodass Chihiro, von ihrem Erfolg ermutigt, spontan einen weiteren Zauber von sich gab. Diesmal wendete sie den entdeckten Umkehrzauber an, der das Kreidestück so verfestigte, dass es die Härte von Marmor annahm.
 

Ebenso unvermittelt, wie vorher das erste Kreidestück zerbröselt war, hörte das Neue nun auf, sich auf der Tafelfläche zu verteilen und einen Strich zu zeichnen. Aus dem Quietschen wurde dabei ein eher schrammendes Geräusch, das Chihiro erschreckte, denn sie wollte nicht, dass die Tafel beschädigt würde.
 

Herr Mochizuki hörte mit dem Zeichnen auf, wobei er jetzt die Stirn kraus zog, während er die funktionsuntüchtige Kreide nachdenklich betrachtete. Gleichzeitig nahm die Unruhe in der Klasse für japanische Verhältnisse ungewöhnliche Ausmaße an.
 

"Liebe Schüler", sagte er dann mit spürbarer Resignation, den die Situation war ihm sichtlich peinlich, "mit dieser Packung Kreide scheint etwas nicht zu stimmen. Ich muss wohl kurz in das Lehrerzimmer gehen und eine neue Packung holen." Damit verließ er mit seinem charakteristisch schlurfendem Schritt den Klassenraum.
 

Erleichtert dass sich auf der Tafel zum Glück kein Kratzer abzeichnete, sackte Chihiro, ihren Kopf gedankenversunken mit den Händen stützend, auf ihr Schreibpult, um sich abermals auf die Empfindung vom Morgen zu konzentrieren. In diesem Moment wurde sie auch schon von Ayaka angestoßen. "Mensch Chihiro, was ist denn nur los mit dir?", zischte sie. "Den ganzen Morgen bist du schon so abwesend. Hast du das mit Herr Mochizuki denn gar nicht bemerkt? Das war doch zum Schießen komisch."
 

Jetzt musste Chihiro lauthals losprusten, sodass Ayaka sie mit aufgerissenen Augen verstört anstarrte. Ob die es bemerkt hatte, fragte Chihiro sich dabei? Aber dass sie mit ihrer Zauberkraft das Missgeschick des Lehrers verursacht hatte, konnte sie Ayaka ja kaum sagen. Als ihr das in den Sinn, erstarb ihr Gelächter ebenso rasch, wie es ausgebrochen war. Jetzt bemerkte sie auch, dass die ganze Klasse zu ihr hinüberstarrte, mit Ausnahme von Ichiyo, der sich in sein Schulheft vergraben hatte.
 

"Du entschuldige Ayaka", flüsterte sie beschämt, "ich bin wohl heute ein wenig Durcheinander. Vorhin ist mir was passiert ... du das hat mich abgelenkt ..."
 

"Echt, was denn?", wollte Ayaka erfahren.
 

"Das kann ich so genau nicht sagen", erwiderte Chihiro, der das Thema unangenehm war. "Aber das ist es ja, was mich so ablenkt, dass ich es nicht weiß."
 

In diesem Moment öffnete sich die Tür und Herr Mochizuki kehrte zurück, eine frische Kreidepackung in der Hand. Das Getuschel der Schüler erstarb augenblicklich und Ayaka tat auf der Stelle, als studiere sie intensiv ihr Mathebuch.
 


 

Am Nachmittag, gegen 16:30, hockten Chihiro und Ichiyo auf der kleinen Holztribüne des Fußballplatzes der Schule, um das zweite Ligaspiel der Saison zu verfolgen, gegen die Mädchenmannschaft der Mittelschule von Fukuji. Nach dem Fußballboom des vorangegangenen Jahres durch die WM hatte allerdings die Begeisterung der Mitschüler stark abgenommen.
 

So saßen außer Chihiro und Ichiyo, die nur Ayaka zu liebe gekommen waren, gerade einmal 20 weitere Schüler auf der Tribüne, um die Schulmannschaft zu unterstützen. Nicht dass das Spiel besonders interessant gewesen wäre oder die Mannschaft eine explizite Unterstützung benötigt hätte. Dafür sorgte allein Ayaka, deren überdimensionale Adidas-Sporttasche sie bewachten.
 

Gerade eben hatte diese das 11:0 geschossen, ebenso wie zuvor das 10:0, das 9:0, das 8:0 und all die anderen Tore vorher auch. Mit dem rechten Fuß lupfte Chihiro vorsichtig die Abdeckung der Sporttasche, um auf den Ball darin zu linsen, der unter der Autogrammkarte von Birgit Prinz hervorlugte, Ayakas neuestem Schatz.
 

Den Ball allerdings, den Ayaka hütete als ihren Talisman wie den eigenen Augapfel. Es war der Kemari-Ball aus Hirschleder, den der Fußballgott Saidaimyojin Chihiro geschenkt und den sie dann an ihre fußballverrückte Freundin weitergereicht hatte, was sie wohl besser nicht hätte tun sollen.
 

Seit sie den hatte, steigerten sich die Erfolge Ayakas als Stürmerin schier ins Unermessliche. Sie brauchte nur jenseits der Mittellinie den Ball irgendwie zu bekommen und auf das Tor der gegnerischen Mannschaft zu halten, schon landete die Lederkugel wie durch Zauberei im Netz. Nein, korrigierte Chihiro sich. Es war Zauberei! Nicht dass Chihiro den Eindruck hatte, dass Ayaka dadurch besser spielte, als früher. Eher spielte sie schlampiger und verließ sich einzig auf diese neue "Gabe". Doch sie traf und traf und traf und traf ...
 

Oft hatte Chihiro überlegt, ob sie Ayaka den weißen Hirschlederball wieder wegnehmen sollte, doch ihre Freundin nahm die übernatürliche Treffergenauigkeit hin, als wäre sie gottgegeben (was sie ja in Wirklichkeit auch war) und sah darin keinen eigenen Verdienst, der sie zur Überheblichkeit hätte verleiten können.
 

Stattdessen nutzte sie ihre Zuversicht, die anderen Mädchen der Mannschaft aufzumuntern. Das nützte jedoch nicht viel, denn Ayaka entschied die Spiele ohnehin alleine, egal, wie viel Mühe sich die Restmannschaft gab. Man gewann ja sowieso.
 

Auf jeden Fall wurden die Ligaspiele dadurch sehr eintönig, was dem Zuspruch durch die Zuschauer nicht unbedingt gut tat. Besser gesagt, sowohl die Gegner, in Erwartung einer schmachvollen Niederlage, als auch die Fans der Schulmannschaft, in Aussicht auf die Vergeudung eines erholsamen Nachmitttages, enthielten sich der zunehmend unbeliebten Teilname an dem vorhersehbaren Ereignis.
 

Die meisten anderen ihrer Mitschüler, die sich dennoch zum Spiel eingefunden hatten, verfolgten allerdings das Spiel. Einige machten Hausaufgaben, ein Junge hatte sich in ein Buch vertieft und eine Gruppe Mädchen spielte Karten. Einzig Ichiyo bildete hier scheinbar eine Ausnahme, so begeistert, wie er mit dem Spiel mitging, aber Chihiro hatte den begründeten Verdacht, dass er nicht der Mannschaft, sondern einzig Ayaka zujubelte.
 

Endlich pfiff der Schiedsrichter das Spiel ab und die beiden Mannschaften versammelten sich, um einander die Hände zu geben. Einzig die gegnerische Torhüterin verweigerte Ayaka den Händedruck, sie gekränkt und herausfordernd anfunkelnd. Danach kam sie fröhlich winkend auf ihre Tribüne zugerannt, wurde aber am Aufgang von Kotaro Kamisaka abgefangen, dem Kapitän der Baseballmannschaft. Er war der beste Schüler der neunten Klasse, groß gewachsen und sah auch noch gut aus.
 

Ayaka wurde richtig gehend verlegen, grinste dümmlich und scharrte mit den Füßen. Chihiro fand zwar auch, dass Kotaro gut aussah und bewunderte ihn für seine Treffsicherheit mit dem Schläger, das war jedoch schon alles. Die Hysterie jedenfalls, in die die meisten anderen Mädchen, auch aus ihrer Klasse, bei seinem Erscheinen verfielen, konnte sie nicht wirklich nachvollziehen. Das galt, wenn sie darüber nachdachte, für alle Jungen der Schule.
 

Schließlich hatte keiner von denen grüne Augen, hallte es aus ihrem Unterbewusstsein, und plötzlich musste sie wieder zum Morgen zurückdenken, als sie aus dem Haus gekommen war. Jetzt wusste sie, woran sie das vertraute Gefühl erinnert hatte: als wenn sie jemand aus großen grünen Augen angesehen hätte. Dabei hatte sie sich ganz wohlig, sicher und geborgen gefühlt. Wenn sie sich doch nur erinnern könnte, wer das gewesen war.
 

Eines wusste sie jetzt jedoch ganz sicher: Sie hatte dieses Gefühl früher schon einmal gehabt und wollte sie es wieder haben. Irritiert schüttelte Chihiro sich. Was dachte sie da eigentlich gerade? Es gab ja doch einen Jungen, der sie interessierte, fiel ihr ein. Ichiyo natürlich, und der hatte keine grünen Augen. Welcher Junge in Japan hatte schon grüne Augen?
 

In diesem Moment ging ihr auf, dass sie von Ichiyo bisher gar nicht als Jungen gedacht hatte; er war einfach nur ein Spiel- und Klassenkamerad gewesen. Rasch spähte sie zu ihm hin und stellte fest, dass er mit hängendem Kopf wie ein Häufchen Elend dasaß und die unter ihm liegende Sitzreihe anstarrte. Sie blickte wieder zu Ayaka hinunter, die weiterhin von Kotaro bearbeitet wurde.
 

Dabei genierte sie sich offenbar, denn einige andere Mädchen waren auf den Vorgang aufmerksam geworden und beobachteten das Geschehen neidisch. Chihiro sah noch einmal zu Ichiyo herüber, der sich intensiv bemühte, nicht zu Ayaka zu schauen, und erkannte den Zusammenhang.
 

Jetzt galt es, etwas zu unternehmen, und zwar rasch. Der schüchterne Junge würde von alleine nicht trauen, etwas zu tun, also musste sie ihm einen Anstoß geben. Ayaka war die ganze Situation offenbar selber unangenehm, also würde es nicht viel benötigen, um sie von Kotaro loszueisen. "Du Ichiyo, lass uns zu Ayaka gehen, sonst quatscht Kotaro sie noch endlos voll", dirigierte sie Ichiyo deshalb, "und wir kommen gar nicht mehr nach Hause."
 

"Ist gut", murmelte er und schickte sich an, hinter Chihiro herzutrotten.
 

Chihiro drehte sich um und sah Ayakas Sporttasche, die unübersehbar immer noch zwischen den Sitzreihen der Tribüne stand. Ichiyo schien im Moment nicht die notwendige Geistesgegenwart zu besitzen, um sich die Tasche zu nehmen, also machte sie kehrt und schulterte das Ungetüm mit der Zuversicht ihrer neu entdeckten Kraft.
 

Die Tasche erwies sich jedoch als so schwer, dass Chihiro sie kaum hochwuchten konnte und beinahe umfiel, als sie um ihren Rücken herum auf die Seite schwang. Verdammte Ayaka, schimpfte sie in Gedanken auf ihre Freundin, was hatte sie außer dem Kemari-Ball noch alles da drin? In diesem Moment wurde sie auch schon von Ichiyo gestützt, der ihr die schwere Tasche spielerisch leicht abnahm, bevor er die Tribüne herunter zu Ayaka zu stapfen begann.
 

"Wenn du an diesem Wochenende keine Zeit hast, dann können wir auch nächstes Wochenende gehen", baggerte Kotaro unbeirrt, "glaub mir, das mach gar nichts."
 

"Äh, ich weiß nicht, Kotaro", stammelte Ayaka hilflos, "ich weiß doch nicht, ob ich dann Zeit habe."
 

"Hallo Ayaka, hallo Kotaro", rief Chihiro mit aufgesetzter Fröhlichkeit. "Komm wir müssen jetzt gehen, der Bus fährt gleich." Ichiyo stand derweil bedröppelt, Ayakas Sporttasche geschultert, neben Chihiro, die er dankbar ansah.
 

"Ja aber, ich wollte doch noch duschen", protestierte Ayaka.
 

"Das kannst du doch auch zu Hause", zischte Chihiro, nahm ihre Freundin bei der Hand und begann sie von Kotaro wegzuziehen. "Tschüss Kotaro, und viel Glück für dein Spiel morgen." Etwas irritiert sah Kotaro ihnen hinterher, sagte jedoch nichts.
 

"Was ist denn los, Chihiro?", beschwerte Ayaka sich, als sie an der Bushaltestelle angelangt waren. Der Schulbus war schon lange weg, sodass sie die öffentlichen Verkehrsmittel würden nehmen müssen. "Du benimmst dich den ganzen Tag schon so komisch."
 

"Och nichts", erwiderte sie, "ich wollte dich nur vor Kotaro retten. Er ist übrigens nicht der einzige Junge, der sich für dich interessiert." Ichiyo bekam einen Ausdruck des Entsetzens und sein Kopf wurde wieder feuerrot. Wenn Ayaka nun begriff, dass Chihiro nur ihn meinen konnte?
 

Sie jedoch ging weder darauf ein, noch bemerkte sie seine Verlegenheit. "Ach, o ja, vielen Dank", meinte sie dann. "Der Doofkopp wollte mich in Matrix, Teil 3, schleppen. Mit hat aber das phisolophische Geblubber in Teil 2 schon nicht gefallen. Sag mal, ist da nun 'ne Matrix in der Matrix, oder nicht .... Ich meine, weil Neo ..." Und Ichiyo war höllisch erleichtert, weil sie sich nichts aus Kotaro zu machen schien.
 


 

Nachdem Chihiro gegangen war, hatte Haku nichts weiter zu tun, sodass er begann, sich umzusehen. Als Erstes das Haus Zimmer für Zimmer und hatte ihren Raum rasch gefunden; es war der Einzige im Haus, der ihm wirklich gefiel, der Einzige, der in japanischer Tradition eingerichtet war, während alle Anderen sehr stark westlich geprägt waren. Er mochte besonders die drei Blumengestecke, die Chihiro in ihrem Zimmer verteilt hatte und von denen er spüren konnte, dass sie von ihr selbst arrangiert worden waren.
 

Eine Weile versank Haku im Betrachten der Gestecke, ließ jedes Einzelne auf sich wirken. Nach einer Weile kam es ihm in den Sinn, dass es wichtig sein könnte, wenn er etwas mehr über die nähere Gegend erfuhr. Also begann er, die nähere Umgebung zu erkunden. Er entdeckte den uralten Baum am Waldrand unterhalb von Chihiros Haus, doch er fand ihn verlassen. Kein Geist mehr wohnte in ihm, obwohl er den schwachen Nachklang einer uralten, mächtigen Aura in seinem hohlen Inneren wahrnehmen konnte.
 

Einst musste ein Waldgeist in dem Baum gewohnt haben, aber er hatte den Baum wohl verlassen, als der umgebende Wald gerodet worden war und mit den Bauarbeiten begonnen wurde, mutmaßte Haku. Von dem Baum ausgehend folgte er dann dem Waldweg, sodass er nach kurzer Zeit wieder am Ausgangspunkt seiner Expedition in die Menschenwelt anlangte: dem Tor in die Geisterwelt. Kurzweg entschloss er sich, zu Zeniba zurückzukehren, um ihr zu sagen, dass er Erfolg gehabt hatte.
 

Erneut in der Geisterwelt, bei ihrem Haus angelangt, musste Haku feststellen, dass alle bereits schlafen gegangen waren. So hinterließ er nur eine Nachricht, die er mit einem Stein in den Lehmboden vor Zenibas Haustür ritzte, bevor er eilig wieder zu Chihiros Haus zurückkehrte, denn er wollte ihre Rückkehr auf keinen Fall verpassen. Aber es war noch nicht einmal Mittag, als er am Haus der Oginos anlangte, und so streifte er unruhig hin und her, glücklich, dass er Chihiro gefunden hatte und voller Zweifel über die Zukunft.
 

Endlich ging die Sonne unter und es wurde Abend. Die einsetzende Dämmerung nahm er in seinem Zustand nicht wahr, denn einzig und allein auf seine magischen Sinne reduziert, gab es für ihn keinen Unterschied zwischen Hell und Dunkel, aber das Verschwinden der Sonne konnte Haku erkennen. Nacheinander kehrten Chihiro Eltern nach Hause zurück, die er bisher nur in Schweine verwandelt kennen gelernt hatte und er beobachtete, wie Vater Ogino ein Gerät einschaltete, das, wie Haku feststellte, eine sehr unangenehme Ausstrahlung besaß.
 

Wozu es gut war, konnte er nicht ausmachen, jedoch die Art und Weise, wie Herr Ogino gebannt das Gerät fixierte, ließ ihn vermuten, dass es etwas zu sehen und vielleicht auch zu hören gab. Aber er hielt es in der Nähe dieses Apparates nicht aus, sodass er in die Küche schwebte und Frau Ogino bei der Zubereitung des Essen beobachtete.
 

Aus seiner Erfahrung in der Küche des Badehauses, deren Rezepte er alle auswendig kannte, kamen ihm sofort etliche Verbesserungen in den Sinn, die man bei der Zubereitung der Speisen machen konnte. Auf der Wiese und auch im Wald hatte er vorhin eher unbewusst, gewissermassen im Vorbeischweben, viele Kräuter registriert, die man hier zum Einsatz bringen konnte.
 

Möglicherweise hatten Menschen jedoch ein anderes Geschmacksempfinden, als Götter, wenn sie so einfach zu beschaffende Zutaten ignorierten. Nein, das konnte auch nicht sein, denn Chihiros Eltern hatten mit so großer Gier das Essen für die Götter verschlungen ... In diesem Augenblick entdeckte Haku ein helles Gleißen, welches sich dem Haus zielstrebig näherte. Chihiro kam heim.
 


 

Eine gute Stunde, nachdem sie vom Sportplatz in Nakaoka aufgebrochen waren und sie von der Haltestelle unten an der Route 21 den Hügel hinauf geschnauft waren, verabschiedete Chihiro sich von Ayaka und Ichiyo. Eine Minute später gelangte Chihiro zu Hause an. Es war kurz vor acht Uhr am Abend und bereits komplett dunkel. Bald würde der Herbst beginnen.
 

Sie wollte gerade die Haustür aufschließen, da fiel ihr wieder der Morgen ein und sie blickte sich eingehend um, doch dieser überwältigende Eindruck beobachtet zu werden, stellte sich nicht wieder ein. Da war Nichts. Kurz wartete sie, ließ die Nacht auf sich wirken, bevor sie sich einen Stoß gab und doch die Haustür aufschloss. "Hallo Papa, hallo Mama, ich bin wieder da."
 

"Und? Wie hoch habt ihr gewonnen?", wollte ihr Vater vom Wohnzimmer aus wissen. "Gleich gibt es Abendessen!", rief ihre Mama aus der Küche.
 

"Wir ... Ayaka hat 11:0 gewonnen", brüllte Chihiro. "Ich geh nur eben nach oben und leg meine Schulsachen ab." Damit stürmte sie die Treppe hoch in ihr Zimmer. Haku schwebte hastig durch die Außenwand der Küche hinaus, eine Etage nach oben, wo er vor dem Fenster von Chihiros Zimmer verharrte.
 

Sie legte ihre Schulsachen auf ihren Schreibtisch, ging dann zum Fenster und starrte in die Nacht hinaus. Dabei leuchtete ihre Lebenskraft so hell aus ihr, dass Haku es kaum aushalten konnte und fast sofort zu ihr hingeglitten wäre. Es war dasselbe Leuchten, welches früher der Kohakugawa ausgesendet hatte, wenn er ihn mit seinen magischen Sinnen wahrgenommen hatte. Doch dieses Leuchten war sanft und milde gewesen. Bei ihr jedoch war es, als würde das Licht des ganzen Flusses in ihrem Körper konzentriert sein, so gleißend, so strahlend.
 

Chihiro konnte es eindeutig fühlen. Dort draußen vor dem Fenster war irgendetwas, etwas, das dort wartete. Der Eindruck war viel schwächer als heute Morgen, aber eindeutig. Doch im Gegensatz zum Morgen hatte sie jetzt Zeit, um den Eindruck au sich wirken zu lassen. Konzentriert blickte sie aus dem Fenster, versuchte etwas zu erkennen, doch sie sah nur die Reflexe ihrer eigenen Gestalt im Licht der Flurbeleuchtung in der Scheibe.
 

"Haku", flüsterte sie, was ihr in den Sinn kam, "Haku, bist du da?" Chihiro war sich plötzlich ganz sicher, dass es ein Haku-Gefühl war, dass sie hatte, was auch immer das sein mochte. Wer oder was um alles in der Welt war eigentlich ein Haku?
 

"Chihiro, wo bleibst du denn?", ließ sich ihre Mutter laut von unten vernehmen. "Das Abendessen ist fertig. Wir warten auf dich!"
 

Mühsam riss Chihiro sich von der Fensterscheibe los, von der sich fast magnetisch angezogen fühlte. Kaum war sie wieder im Hausflur, wurde ihr leichter ums Herz, und sie stürmte die Treppe mit frischem Elan herunter. Zu ihrer Erleichterung merkte sie, dass sie jetzt wieder ein wenig Hunger hatte und das vertraute Gefühl beruhigte sie. Wenn sie Hunger hatte, war alles in Ordnung!
 

Haku beobachtete, wie Chihiro ihn direkt durch das Fenster ihres Zimmers anblickte, ohne seiner jedoch gewahr zu werden. "Haku, Haku bist du da?", vernahm er ein leises, unsicheres Echo direkt in seinem Geist. Es stammte eindeutig von Chihiro. Schlagartig wurde Haku klar, dass Chihiro seine Anwesenheit fühlen konnte, dass sie jedoch ihren eigenen Sinnen nicht traute.
 

Eilig schwebte er wiederum zur Küche herunter, von wo aus er der Familie Ogino beim Abendessen zusah. Das unkontrollierte Schlingen, das zu dem Unfall in der Geisterwelt geführt hatte, konnte er allerdings nicht beobachten. Die unersättlichen Gierschlünde, als die die Menschen in der Geisterwelt verschrien waren, konnten schienen sie gar nicht zu sein. Das Abendessen ging doch sehr gesittet vonstatten.
 

Chihiro selber schien kaum Hunger zu haben, denn sie sah mehr aus dem Fenster, genau in seine Richtung, anstatt zu essen. Er fragte sich nur, für wen die riesige Schüssel mit Reisbällchen auf dem Tisch war, da offenbar keiner von ihnen davon etwas nahm.
 

Nach dem Abendessen ging Chihiro hoch in ihr Zimmer, wo Haku beobachtete, wie sie sich vor ihren Schreibtisch hockte und konzentriert immer das gleiche Schriftzeichen in ein Heft schrieb, offenbar um es zu üben. Er überlegte, ob er jetzt zu ihr hinschweben sollte, um sich dann bei ihr in seine menschliche Gestalt zu verwandeln. Doch ihre Zimmertür stand offen, sodass ihre Eltern es bestimmt bemerken würden, wenn er jetzt wie aus dem Nichts auftauchte und Chihiro zweifellos erschrecken würde.
 

Er wollte zuerst alleine mit ihr reden, ohne dass die Eltern dazwischen funken konnten. Vielleicht würde sie ihn ja wieder fortschicken, dann brauchten ihre Eltern auch nicht zu erfahren, dass es ihn überhaupt gab, und erschrecken wollte er Chihiro auch nicht. Am besten würde es sein, dachte Haku bei sich, wenn er wartete, bis sie und ihre Eltern schliefen. Dann konnte er sich ihr vorsichtig nähern, bis er sie berührte, um sich verwandeln zu können und sie danach behutsam zu wecken.
 

Hinterher könnte er sich ungestört mit ihr unterhalten .... Abrupt blickte Chihiro auf, kniff die Augen zusammen und spähte aus dem Fenster. Haku bemerkte jetzt, dass er bis direkt an die Scheibe herangeglitten war, weniger als zwei Meter von ihr entfernt, als wäre er hypnotisiert von der Helligkeit ihrer magischen Aura. Sie konnte ihn bestimmt wieder seine Anwesenheit wahrnehmen und so entfernte sich Haku ein wenig hinaus in die Nacht, wo er wartete.
 


 

Chihiro konnte sich kaum auf die Hausaufgaben konzentrieren, denn dieses "Haku"-Gefühl -was ist ein Haku? - ging nicht mehr weg. Manchmal war es stärker, manchmal schwächer und einmal hatte sie den Eindruck, dass sie nur den Arm ausstrecken musste, um es zu berühren - was zu berühren? Was auch immer es war, sie hatte den Eindruck, dass es direkt vor dem Fenster war.
 

Doch da war nichts zu erkennen und dann wurde es plötzlich wieder schwächer. Chihiro seufzte in Gedanken. Die Leere, die sie in den letzten Tagen in sich bemerkt hatte, seit sie plötzlich keinen Hunger mehr hatte, war zurückgekehrt. Sie war nichts anderes als das Fehlen des "Haku"-Gefühls gewesen, wie sie jetzt erkannte. Wenn sie sich doch bloß erinnern könnte, warum es ein "Haku"-Gefühl war, denn sie fühlte, dass sie eigentlich wissen musste.
 

Mit einem erneuten Seufzer legte sie das Schulheft zur Seite und holte einen Blumentopf aus Ton, den sie mit Granulat füllte. Einige Blumen, Gräser und Farne, die sie gestern auf der Wiese vor ihrem Haus gepflückt und in einer Vase in Wasser gestellt hatte, kamen noch hinzu, sodass sie beginnen konnte, ein neues Blumengesteck zu machen. Es half ihr, die Leere in sich zu verdrängen und als sie fertig und zufrieden mit dem Ergebnis war, verspürte sie nur noch eine normale abendliche Müdigkeit.
 

So stellte sie das fertige Blumengesteck auf die Fensterbank, putzte sich kurz die Zähne im Badezimmer, holte sie ihren Futon aus dem Schrank, breitete ihn auf dem Boden aus und legte sich schlafen. Nur wenige Minuten später war sie eingeschlummert.
 


 

Seltsam berührt beobachtete Haku, wie Chihiro ihre Blumen arrangierte. Die Geschicklichkeit, mit der sie dabei vorging, ließ auf jahrelange Übung schließen, doch der Sanftmut, den sie dabei ausstrahlte, löste eine derartige Sehnsucht bei ihm aus, dass er beinahe die Beherrschung verloren und sich ins Zimmer zu ihr gestürzt hätte, um ihr bei dem Arrangement zu helfen.
 

Als sie fertig war und das Gesteck auf die Fensterbank stellte, hatte Haku den Eindruck, dass sie es nur für ihn dort hinstellt hatte. Sie verschwand dann kurz nach Nebenan in das Badezimmer, sodass er kurz näher kommen und ihr Gebinde bestaunen konnte. Er wich wieder vom Haus fort, während Chihiro ihren Futon für die Nacht fertig machte und sich endlich schlafen legte.
 

Er schätzte, dass es noch gut zwei Stunden dauerte, bis letztlich ihre Eltern auch zu Bett gingen, doch diese Zeit kam ihm endlos vor. Zur Sicherheit wartete er noch mehr als eine weitere Stunde, bis alle, wie er hoffte, tief schliefen, schwebte näher, glitt durch die Fensterscheibe und den Vorhang dahinter hindurch, die ihm in seinem Zustand kaum einen Widerstand boten, und verharrte einige Momente ungefähr einen Meter über der schlafenden Chihiro in der Luft, unschlüssig, wie er vorgehen sollte.
 

Chihiros Atem ging ganz langsam und ruhig, doch wie sie jetzt aussah und ob sie sich verändert hatte, konnte er kaum erkennen, so gleißend nahm er das Leuchten seiner eigenen - und auch ihrer - Lebenskraft aus ihrem Körper wahr. Vorsichtig dehnte Haku sich ein wenig aus, sodass er sie berührte und hatte sofort wieder dieses beispiellose Glücksgefühl, dass er auch schon am Morgen gehabt hatte, als sie durch ihn hindurchgelaufen war. Dieses Gefühl endlich wieder zu Hause und vollständig zu sein.
 

Ohne groß nachzudenken, benutzte er die magische Energie, die ihn plötzlich von Chihiro zu strömte, um wieder eine physische Gestalt anzunehmen, seine menschliche Gestalt. Leise stöhnte Chihiro in diesem Moment auf und das Leuchten aus ihr schien kurz zu flackern, bevor es scheinbar völlig verlosch, weil er jetzt mit seinen Augen sah und nicht mehr mit seinen magischen Sinnen. Doch da konnte Haku schon fast überhaupt nichts mehr erkennen, denn Chihiro hatte die Vorhänge zugezogen, sodass es in ihrem Zimmer ziemlich dunkel war.
 

Haku schwebte immer noch fast einen Meter über der schlafenden Chihiro, den rechten Arm ausgestreckt, mit dem er sie leicht an der Schulter berührte. Gerade wollte er ihr Gesicht genauer betrachten, welches er nur vage erkennen konnte, weil ihre offenen Haare darüber hingen. So nahm er seine Hand von ihrer Schulter weg, um die Haare beiseite zu schieben, als plötzlich die Schwerkraft ihr Werk zu verrichten begann und ihn abrupt zu Boden zog.
 

Nur mühsam konnte er sich abstützen und so verhindern, dass er mit seinem ganzen Gewicht auf das Mädchen prallte, doch genügte es, um Chihiro sofort aus dem Schlaf zu reißen. Mit einem leisen Quieken, das Haku so laut wie das Heulen einer Sirene vorkam, riss sie die Augen auf und versuchte zu erkennen, was da plötzlich auf ihr drauflag.
 

Während Chihiro versuchte, sich freizustrampeln, verfluchte Haku sich innerlich, dass er so unbedacht vorgegangen war. Er hatte vergessen, dass er hier nicht in der Geisterwelt war, dass die physikalischen Gesetzte sich hier viel konsequenter verhielten und es viel größerer Anstrengung bedurfte, sie zu überwinden. In dem Moment, da er seine Hand von ihrer Schulter genommen hatte, war der direkte Körperkontakt zu ihr unterbrochen, sodass er ganz einfach nicht mehr genügend magische Energie gehabt hatte, um sich in der Schwebe zu halten.
 

Mittlerweile hatte Chihiro sich unter Haku von ihrer Decke frei gekämpft, war aufgesprungen und zur Tür gerannt, wo sie den Lichtschalter betätigte. Irgendjemand war in ihr Zimmer eingedrungen, doch merkwürdiger Weise hatte sie überhaupt keine Angst. Das "Haku"-Gefühl war war im Moment nahezu überwältigend und sie wollte jetzt wissen, ob das dieses "Haku" war, woran sie sich immer erinnert fühlte.
 

Ruckartig wirbelte sie nach dem Umlegen des Schalters herum, um endlich zu sehen, wer oder was Haku war, denn sie war sich völlig sicher, dass es nur das "Haku" sein konnte, was da in ihrem Zimmer war. Halb in ihre Decke gewickelt hockte ein magerer Junge in abgerissenen Jeans und löchrigem T-Shirt auf ihrem Futon und blickte sie hilfesuchend aus seinen leuchtend grünen Augen an. Er hatte lange Haare, die ihm halb den Rücken herunterhingen, die aber auf der rechten Seite seltsamerweise unsymmetrisch abrasiert waren, was den verwilderten Eindruck noch verstärkte, den er machte.
 

Doch es war Haku, ganz eindeutig ihr Haku. Und er war gekommen, um sein Versprechen einzulösen, das Versprechen, welches er ihr vor so langer Zeit an der Treppe zu Yubabas Badehaus gegeben hatte. In diesem Moment, als wäre ein Damm gebrochen, stürzten all die Erinnerungen an ihre Zeit in der Geisterwelt lawinenartig auf sie herein, was dazu führte, dass sie mit einem Gesichtsausdruck unsäglicher Dämlichkeit und gleichzeitig geistloser Glückseligkeit auf Haku hinunterglotzte.
 

Haku seinerseits, voller Schuldgefühle, dass er sich so ungeschickt angestellt hatte, konnte endlich Chihiro so sehen, wie sie war, ohne dass er von seiner magischen Lebenskraft in ihr geblendet wurde. Sie hatte sich kaum verändert in den drei Jahren, seit sie aus der Geisterwelt entkommen war, hatte immer noch das gleiche runde Kindergesicht, an das er sich erinnerte, nur war sie viel dünner geworden. Der rosa Schlafanzug, den sie trug, schlabberte weit um ihren Körper herum, obwohl er in der Länge richtig zu sein schien.
 

Es war alles richtig gewesen, was Zeniba gesagt hatte. Er hatte die ganze Zeit all seine Kraft von Chihiro bekommen und so war sie ebenso abgemagert, wie er selbst. Und er hatte es nicht einmal geschafft, zwei Stücke Torte bei der Hexe zu essen. Haku wagte sich gar nicht vorzustellen, wie viel sie hatte essen müssen.
 

Dann erinnerte er sich an das Abendessen von vorhin und an die große Schüssel mit Reisbällchen, die unberührt auf dem Tisch gestanden hatte, und ihm wurde voller Schrecken klar, dass sie für Chihiro gedacht gewesen sein musste. Nur musste sie im Moment nicht so viel Essen, weil er keine Loren mehr ziehen musste.
 

Am liebsten wäre Haku vor Scham im Boden versunken und wie sie ihn ansah. Er deutete Chihiros Blick als Missbilligung und in seiner Verzweiflung warf er sich flach vor ihr auf den Boden. "Bitte, liebe Chihiro, verzeih mein unerlaubtes Eindringen. Wenn du willst, werde ich wieder verschwinden und nie mehr wieder kommen", schluchzte er mit gebrochener Stimme. Dann würde er eben den Rest seines und ihres Lebens als Geist in ihrer Nähe bleiben.
 

Es dauerte eine Weile, bis das Gesagte in ihr Bewusstsein vordrang, nachdem Chihiro ihre Gedanken sortiert und die Erinnerung an die Geisterwelt verarbeitet hatte. Er wollte wieder verschwinden? Für immer? Aber er war doch gerade erst gekommen. Eines wusste sie jedoch genau: Sie wollte, dass er bleibt. Für immer! Deshalb trat sie zu ihm hin und versuchte ihn an den Schultern hochzuziehen.
 

Es ging doch nicht an, dass sich ein Gott vor ihr auf den Boden warf. Wenn das jemand sah! "Haku, steh auf. Bitte. Du kannst doch jetzt nicht sofort wieder gehen. Bitte steh auf und schau mich an", flüsterte sie eindringlich. "Ich bin dir nicht böse, dass du gekommen bist. Ich freu doch so, dass du hier bist. Bitte bleib doch noch."
 

Während sie versuchte, ihn hochzuziehen, berührte sie ihn, wobei das "Haku"-Gefühl wieder so stark wurde, dass sie fast neben ihm auf den Boden gesackt wäre, weil es sie so glücklich machte. Doch dann rappelte Haku sich etwas unbeholfen auf und kam mit untergeschlagenen Beinen vor ihr zu sitzen, wo er mit Tränen in den Augen zu ihr aufsah. Sie wollte ihn nicht fortschicken, sie wollte, dass er bleibt!
 

Chihiro sah nur, dass Haku weinte, weshalb verstand sie nicht. Doch genau so, wie er sie damals getröstet hatte, als sie vor den Erbsensträuchern im Gemüsegarten des Badehauses geweint hatte, wollte sie jetzt für ihn da sein. Also nahm sie ihn in die Arme und drückte seinen Kopf an ihren Bauch, bis er aufhörte.
 

Dann ließ sie sich vor ihm nieder, sodass sie einender gegenüber knieten und gegenseitig in die Augen blickten. "Chihiro, ich bin so froh, dass ich dich gefunden habe", sagte er leise, als er seine Fassung wieder gewonnen hatte.
 

"Ich bin auch froh, froh, dass du gekommen bist, wie du es versprochen hast", versicherte Chihiro. "Ach Haku, ich bin ja so glücklich! Bist du in deine Welt zurückgekehrt, ja? Hast du deinen Fluss wiedergefunden?"
 

Jetzt nahm Haku Chihiros rechte Hand und lächelte sie an, wobei er erneut die Kraft genoss, die bei der Berührung von ihr zu ihm herüberströmte. "Ja Chihiro, ich habe meinen Fluss wiedergefunden", sagte er geheimnisvoll. "Und wenn mein Fluss mich nicht zurückweist, bin ich auch in meine Welt zurückgekehrt."
 

Verwirrt sah Chihiro auf ihre rechte Hand und genoss gleichzeitig die berauschende Nähe von dem jungen Drachen. "Das verstehe ich nicht, Haku. Wie kann dein Fluss dich zurückweisen? Aber es ist mir auch egal, solange du hier bist."
 

"Du wirst es verstehen, Chihiro, und ich bin sicher, dass du es bereits fühlen kannst", fuhr Haku fort. "Weißt du, mein Fluss, das bist du!"
 

Verständnislos starrte Chihiro ihn daraufhin an. Sie sollte sein Fluss sein? Aber hatte Manami nicht auch so etwas Ähnliches gesagt? Dass sie sich anfühle wie ein Fluss. Doch was sollte das bedeuten?
 

Haku erklärte es ihr, erzählte ihr, was damals wirklich passiert war, als sie in ihn hineingefallen war, was geschah, nachdem Chihiro mit ihren Eltern aus der Geisterwelt entkommen war und wie es ihm gelungen war, sie zu finden.
 

Tief in der Nacht schlief Chihiro in seinen Armen schließlich ein und Haku, der seit gut einer Woche nicht mehr geschlafen hatte, dämmerte in wohliger Glückseligkeit kurze Zeit später ebenfalls weg.
 


 

"Chihiro, aufstehen, Schule!", rief ihre Mutter, indem sie die Zimmertür aufriss. Sie ärgerte sich ein wenig, weil Chihiro das erste Mal, seitdem sie hier wohnten, verschlafen zu haben schien. Deshalb wollte möglichst lautstark hineinpoltern, die Vorhänge aufreißen und das Sonnenlicht herein lassen, um ihre Tochter aus den Federn zu scheuchen.
 

Doch zu ihrer Überraschung war das Licht bereits eingeschaltet und die Futon-Decke lag unordentlich vor der Tür. Was sie jedoch am meisten erstaunte, war Chihiro, die in ihrem rosa Schlafanzug mit "Hello Kitti"-Aufnäher in den Armen eines erbärmlich mageren, unbekannten Jungen lag, der mit seinen zerrissenen Jeans, dem löchrigen T-Shirt und seiner verwegenen Frisur einen ziemlich abgerissenen Eindruck auf Yuko Ogino machte.
 

Ihr erster Impuls war, Chihiro von dem Jungen fortzuziehen, doch die unendliche Seligkeit, die von den beiden ausging, so wie sie da lagen, hielt sie zurück. Stattdessen trat in das Zimmer hinein, sah sich den Jungen genauer an und konnte die Augen nicht mehr von ihm abwenden.
 

Irgendwo in ihrem Hinterkopf schrie eine moralische Instanz Zeter und Mordio, während der einzige bewusste Gedanke war, den sie zustande brachte: "Bei den Kami, ist der süß!" Es war der hübscheste Junge, den sie jemals gesehen hatte, trotz seiner Kleidung und seiner Magerkeit. Als Frau konnte sie ihre Tochter voll und ganz verstehen. Den hätte sie auch nicht weggeschickt. Aber als Mutter wusste sie nicht, was sie jetzt denken sollte.
 

In dem Versuch, zu einer Entscheidung zu gelangen, was sie jetzt tun sollte, tat sie das Einzige, was ihr einfiel. "Akio, Aakiooo. Komm doch mal her. Da gibt es etwas, dass du dir ansehen solltest", rief sie, ohne den Blick von Haku abzuwenden. Dieser öffnete, von dem Ruf geweckt, ruhig die Augen und schaute Yuko Ogino wachsam an.
 

Während Chihiros Mutter wie paralysiert diese unglaublich grünen Augen fixierte, hörte man bereits die schweren Schritte von Chihiros Vater die Treppe hinaufstampfen. "Was gibt's denn so Wichtiges, Schatz, dass du mich vom Frühstück wegholst?" In diesem Moment war er oben angekommen und schaute um die Ecke durch die offene Tür in Chihiros Zimmer. Beim Anblick der Szene, die sich ihm darbot, erstarrte er.
 

Dann begann sein Gesicht, vor Zorn rot anzulaufen. Mit einem Schnauber stapfte er hinein zu diesem unverschämten Straßenbengel, der sich erdreistet hatte, sich seiner kleinen Chihiro unsittlich zu nähern. Er bückte sich, packte Haku am Hosenbund und warf ihn wie einen nassen Sack über die Schulter.
 

Haku seinerseits schimpfte wiederum innerlich mit sich, dass er erneut nicht aufgepasst hatte. Wie hatte er hier nur mit Chihiro seelenruhig einschlummern konnte, um dann so von ihren Eltern überrascht zu werden. Sollte er sich jetzt gegen Chihiros Vater wehren, überlegte er, und er war ziemlich sicher, dass er mit dem massigen Mann fertig werden konnte, denn der war ja nur ein Mensch.
 

Wenn er aber bei Chihiro bleiben wollte, musste er sich auch mit ihren Eltern arrangieren, das hatte Zeniba schon gesagt. Also entschloss er sich, keinen Widerstand zu leisten und alles hinzunehmen, was Herr Ogino mit ihm auch anstellen mochte, um es sich nicht ein für alle Mal mit ihm zu verderben.
 

Der Blickkontakt mit Chihiros Mutter jedenfalls hatte ihm verraten, dass diese ihn bereits akzeptiert hatte, auch wenn sie es noch nicht wusste. Sie hatte ihn genau so angesehen, wie manchmal die Eltern der Kinder, die an seinem Fluss spielten, ihn früher angesehen hatten.
 

Durch den Ruck, als Akio Ogino Haku von ihr fortriss war nun auch Chihiro aufgewacht. Sie sah noch gerade, wie ihr Vater mit Haku auf der Schulter durch die Tür marschierte, wodurch sie auf einmal einen riesigen Schreck bekam. "Bitte Papa, tu ihm nicht weh", schrie sie voller Angst, sprang auf und wollte hinter ihm herlaufen. Doch ihre Mutter hielt sie zurück. "Nicht Chihiro. Dein Vater ist gerade sehr wütend. Mach ihn nicht noch wütender."
 

Keuchend vor Zorn stürmte Akio Ogino die Treppe hinunter, wobei er unbewusst stolz darüber war, wie leicht er den stinkenden Straßenjungen hochgehoben hatte. Vielleicht sollte er es nochmal mit Sumo versuchen? Die nötige Kraft war offenbar noch da. In der Absicht seine Wut noch einmal zu steigern und sein Handeln innerlich zu rechtfertigen, roch er mit einem tiefen Atemzug an dem Jungen. Doch entgegen seiner Annahme stank er überhaupt nicht, sondern hatte einen nicht zu definierenden, aber angenehmen Geruch.
 

Endlich war er an der Haustür angelangt, die er aufriss, bevor er Haku an der Hüfte packte und mit aller Kraft, die er hatte, in hohem Bogen hinausschleuderte. Am liebsten hätte er das Bürschchen ja direkt aus dem Fenster des Kinderzimmers geworfen, aber da hatte er sich gerade noch beherrschen können. Ja das Fenster, das Fenster, das musste er sichern.
 

Dennoch hoffte er jetzt, dass es das Jüngelchen ordentlich auf den Gehweg klatschen möge, damit es ihm so richtig weh täte. Den Gefallen tat ihm Haku jedoch nicht, sondern wirbelt mit fast verächtlicher Lässigkeit in der Luft herum, sodass er geschmeidig wie eine Katze auf seinen bloßen Füßen landete. "Hau bloß ab, du Penner", brüllte Chihiros Vater, "und wehe du näherst dich noch mal meiner Tochter. Ich will dich hier nie wieder sehen, sonst setzt's was!"
 

Haku öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch alles was er hätte sagen können, wäre nur dazu angetan gewesen, den Zorn von Chihiros Vater zu vergrößern. Also schwieg er und verbeugte sich so artig und formvollendet, wie er konnte, bevor er sich umdrehte, über die Straße rannte, über den Zaun auf die Wiese sprang und den Abhang hinunter lief, auf den großen alten Baum zu.
 

Nebenan schaute Bunzo Abe aufmerksam aus dem Fenster seines Zimmers. Durch Zufall hatte er die ganze Szene an der Haustür der Oginos mitbekommen und überlegte, ob er es in der Schule herumerzählen oder doch lieber für sich behalten wollte. Nein, das sollte er wohl besser keinem erzählen, dachte er bei sich, vielleicht konnte er es benutzen, um sich irgendwann doch an Chihiro zu rächen.
 

Das passive Verhalten den Jungen und seine höfliche Verbeugung hatten den Zorn von Akio Ogino weitestgehend verrauchen lassen, obwohl er sich das nicht eingestehen wollte und versuchte, an seiner Wut festzuhalten, indem er die Haustür mit Gewalt zuschmiss. Auf eine eigenartige Weise war es angenehm gewesen, ihn auf der Schulter getragen zu haben, doch das mochte er sich nicht eingestehen. Trotz seiner Wut hatte er sich so zufrieden und stark gefühlt, wie schon lange nicht mehr. Chihiro würde er dennoch jetzt etwas erzählen.
 

"Los Tochter, ab in die Küche, wir müssen reden", schnauzte er vom Treppenabsatz nach oben, setzte sich an den Tisch und kippte in hektischer Folge mehrere Tassen Tee herunter, wobei er unruhig mit den Füßen wippte. Dann kam auch schon Chihiro mit hängendem Kopf in die Küche geschlichen, immer noch im Schlafanzug, dicht gefolgt von seiner Frau Yuko.
 

"So Schätzchen, was hast du dazu zu sagen", sagte er mit ernstem Nachdruck, nachdem Chihiro sich ihm gegenüber hingesetzt hatte. Yuko Ogino war stehen geblieben, die Arme verschränkt, und sah ihren Mann ermahnend an, nicht zu streng zu sein.
 

Mit gesenkten Augen kauerte Chihiro auf ihrem Stuhl und wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie fühlte sich schrecklich, weil ihr Vater so böse war und sie nicht wusste, ob Haku jemals wiederkommen konnte. Wie sollte sie ihren Eltern auch erklären, dass Haku ein Drache war und wen man so sagen konnte, ihr persönlicher Gott. "Ich habe keine Erklärung", hauchte sie verschüchtert. "Bitte sei nicht böse, Papa."
 

"Ist irgendwas passiert?", wollte ihr Vater weiter wissen. "Ich meine, hat er dir etwas getan?"
 

Chihiro schüttelte den Kopf. Was sollte auch schon passiert sein?
 

"Also gut. Trotzdem wirst du mir jetzt sagen, wie der Junge heißt und wo er wohnt", sagte Herr Ogino mit strenger Mine. "Außerdem will ich wissen, wie er in dein Zimmer gekommen ist! Ich werde mich dann mit seinen Eltern in Verbindung setzen und sie über den Vorfall informieren. Also los, sag schon! Wie heißt er und wo wohnt er?"
 

Chihiro setzte mehrfach an, darauf zu antworten, aber ihr fiel nichts halbwegs Plausibles ein. Alles, was sie da sagen konnte, war gleichermaßen unglaubwürdig, also sagte sie am Ende trotzig die Wahrheit: "Sein Name ist Haku, nein, äh, ich meine Nigihayami Kohaku Nushi und er wohnt hier!" Mit unmissverständlicher Geste patschte sie sich dabei demonstrativ gegen den Brustkorb. "In mein Zimmer ist er gekommen, indem er aufgetaucht ist."
 

"Wie, was, Nigihayami Kohaku Nushi", schalt Akio Ogino seine Tochter erbost. "So heißen doch höchstens Götter, aber keine Jungen. Und was meist du damit, er würde hier wohnen und wäre einfach aufgetaucht. Erzähl mir nicht so einen Unsinn!" Er fuhr hoch, beugte sich über den Tisch uns schüttelte das Mädchen, damit es endlich die Wahrheit sagte.
 

Wie vor den Kopf geschlagen riss Yuko Ogino in dem Moment, wo Chihiro den Namen nannte, die Augen auf. Sämtliche Alarmglocken schrillten in ihrem Kopf und sie erinnerte sich an ein Gespräch, dass sie vor mehr als zwei Jahren mit Dr. Ito geführt hatten. Der Fluss in den Chihiro damals gefallen war, war doch der Kohakugawa gewesen und hatte Dr. Ito nicht gesagt, dass, wenn man Shintoist wäre, man zu dem abwegigen Schluss kommen müsste, dass Chihiro dem Gott dieses Flusses begegnet war.
 

Nigihayami Kohaku Nushi, würde das das nicht genau der Name sein, den man für den Gott des Kohakugawa erwarten sollte? Auf einmal kam ihr diese Schlussfolgerung gar nicht mehr so abwegig vor. Dann musste sie wieder an den Jungen zurückdenken, dessen Anblick sie trotz seiner extremen Magerkeit und seines geschmacklosen Aufzuges, tief berührt hatte. Eigentlich war er genauso dünn gewesen, wie Chihiro, kam es ihr erschrocken in den Sinn, und der Verdacht, dass ihre Tochter die Wahrheit sagte.
 

Energisch packte sie ihren Mann an den Schultern und riss ihn auf seinen Stuhl zurück, sodass er aufhören musste, Chihiro zu schütteln. Dann ging sie neben Chihiros in die Hocke, drehte sie zu sich und sah ihr in die Augen. "Willst du damit etwa sagen ... der Kohakugawa?" Chihiro, der von dem Geschüttel noch ganz wuschig war, nickte eifrig.
 

"So Akio, Chihiro muss sich jetzt für die Schule fertig machen, sonst verpasst sie noch den Bus", sagte sie bestimmt. "Du gehst jetzt nach oben, Schatz, und ich mach das Frühstück für dich fertig." Sie nahm Chihiro bei der Hand und zog sie vom Stuhl hoch, in Richtung Hausflur.
 

"Aber Schatz", wollte Akio Ogino protestieren. "Wir können sie doch nicht einfach damit durchkommen lassen. Dass sie uns so hintergeht und dann auch noch anlügt."
 

"Jetzt beruhige dich doch, Schatz", meinte Yuko Ogino sanft, "womit hat sie uns denn hintergangen, hm? Und glaube auch nicht, dass sie gelogen hat. Aber ich weiß auch noch nicht, was die Wahrheit ist." Damit ging sie zum Schrank und begann das Frühstück für Chihiro zu machen.
 

Haku hatte sich unten am Baum auf eines der Steinhäusschen gesetzt und beobachtete von dort das Haus der Oginos, sodass man ihn von dort aus nicht sehen konnte. Er fühlte bereits ein starkes Ziehen in seinem Bauch, das daher rührte, dass er fast zu weit von Chihiro entfernt war. Noch ein wenig weiter, und sein Körper würde sich wieder auflösen.
 

Vielleicht eine halbe Stunde nachdem ihn Chihiros Vater im wahrsten Sinne des Wortes herausgeworfen hatte, erschien sie vor dem Haus und blickte sich suchend in alle Richtungen um. Dann kam noch ihre Mutter, nahm das Mädchen bei der Hand und brachte sie die Straße hinab. Bereits, nachdem sie wenige Meter gegangen waren, wurde Haku ganz schwach zumute und ehe er sich's versah, war er nur noch ein unsichtbarer Geist.
 

Einem Impuls folgen, jagte er hinter dem Baum hervor, zur Straße hinauf, hinter den beiden her. Chihiro würde sich bestimmt Sorgen machen und deshalb musste er ihr sagen, dass es ihm gut ging. Als er sie erreichte, umhüllte er Chihiro mit seinem Selbst, woraufhin sie abrupt stehen blieb und umherschaute. ,Chihiro, hab keine Angst, es ist alles in Ordnung mit mir. Ich werde hier warten und heute Abend werden wir uns wiedersehen', projizierte er direkt in ihren Kopf hinein, was viel müheloser ging, als er gehofft hatte.
 

,Haku? Haku, bist du da? Wo bist du denn?', hörte er Chihiros bewusste Gedanken und antwortete: ,Ich bin hier, direkt bei dir. Aber ich gehe jetzt und werde beim Haus auf dich warten. Mach dir keine Sorgen, mir geht's gut.' Noch bevor Chihiro antworten konnte, zog er sich zurück, was ihm jedoch sehr schwer fiel, da er von Chihiros Lebenskraft, die ja auch seine Eigene war, angezogen wurde, wie die Motte vom Licht.
 

Mit einiger Mühe schaffte es ihre Mutter, Chihiro zum Weitergehen zu bewegen und endlich in den Schulbus nach Nakaoka zu verfrachten. Ichiyo saß darin und Ayaka stieg kurz darauf zu. Der ganze nun folgende Schultag fand für Chihiro irgendwie nicht statt. Die ganze Zeit konnte sie an nichts anderes denken, als an Haku. Nachdem sie der Bus gegen 17:00 Uhr wieder zu Hause abgesetzt hatte, hätte sie nicht sagen können, was sie im Unterricht durchgenommen hatte.
 

Ebenso wenig hätte sie sagen können, über was sie in den Pausen mit ihren Freunden geredet hatte, ob sie überhaupt mit ihren Freunden gesprochen hatte. Sie hatte nicht einmal wahrgenommen, wie der Lehrer sie in der Kalligrafiestunde mehrfach ermahnt hatte, weil sie die ganze Zeit über unruhig auf ihrem Stuhl gekippelt hatte, ohne auch nur einmal das geforderte Kanji zu pinseln. Stattdessen hatte sie immer nur "Haku" geschrieben.
 

Endlich zu Hause angekommen, waren weder ihr Vater, der anscheinend noch Häuser verwalten war, noch ihre Mutter zu Hause, die die mittlerweile die Filialleitung des Konbini hatte und deshalb viel Büroarbeit machen musste. In ihrem Zimmer stellte sie fest, dass ihr Vater das Fenster mit einer verschließbaren Einbruchsicherung versehen hatte, sodass sie es nicht mehr öffnen konnte. Er hatte wohl vermutet, dass Haku durch das Fenster gestiegen war und gedachte das wohl in Zukunft zu unterbinden.
 

Plötzlich wurde das "Haku"-Gefühl wieder überwältigend stark. Sie versuchte heraus zu finden, aus welcher Richtung es kam, aber sie konnte nichts entdecken. Mit einem Mal wurde ihr derart schwindelig, dass sie beinahe umgefallen wäre. Doch Haku stand plötzlich neben ihr und stützte sie.
 

"Nicht umfallen, Chihiro", flüsterte Haku direkt in ihr Ohr. "Entschuldige, dass ich so plötzlich auftauche. Ich glaube, wenn ich mich verwandele, brauche ich sehr viel Energie von dir."
 

Chihiro drehte sich herum und fiel Haku sofort um den Hals. "Haku, wie schön dass du da bist", jubelte sie. "Mein Vater war ganz schön böse, wegen dir. So böse habe ich ihn vorher noch nie gesehen. Wir müssen aufpassen, dass er dich nie mehr erwischt, ich glaube sonst haut er dich windelweich. Er war mal ein guter Sumo-Ringer, weißt du, und ist sehr stark."
 

Haku schüttelte den Kopf, musste aber lächeln. "Nein Chihiro, das ist der falsche Weg. Wir dürfen deinen Eltern nicht verheimlichen, dass es mich gibt. So etwas funktioniert vielleicht in Geschichten und für eine Zeit lang auch in der Realität. Aber wenn wir nicht mit einer Lüge leben wollen, müssen deine Eltern über uns Bescheid wissen. Das hat auch Zeniba gesagt."
 

"Aber was sollen wir dann tun", wollte Chihiro wissen. "Mein Vater wird dich bei uns wohnen lassen, jedenfalls nicht nachdem, was gestern passiert ist. Ich hab solche Angst, dass er dich nicht mag und dass er dir was tut."
 

"Aber deine Mutter mag mich, dass habe ich in ihren Augen gelesen", entgegnete Haku. "Vielleicht hilft sie uns ja mit deinem Vater. Aber glaub mir, dein Vater kann mir so leicht nichts tun, Chihiro. Ich bin doch ein Drache."
 

"Hm, da sollte ich ja wohl eher Angst haben, dass du ihm was tust, oder?", grinste sie und dann fiel ihr etwas ein: "Einen kleinen Jungen kann er vielleicht rauswerfen, aber mit einem Drachen das soll er doch mal versuchen. Du aber ich habe auf einmal so furchtbar Hunger, ich glaube von deiner Verwandlung. Ich muss kurz in die Küche, mir etwas zu essen holen."
 

Sie ließ den überraschten Haku los, rannte aus dem Zimmer, hinunter in die Küche. Dort riss sie den Kühlschrank auf, schnappte sich einige Reisbällchen aus der noch vollen Schüssel von gestern Abend, die sie gierig in den Mund stopfte. Da hörte sie, wie jemand das Türschloss betätigte. "Chihiro, ich bin wieder da", rief ihre Mutter prophylaktisch in den Hausflur hinein, ohne zu wissen, ob ihre Tochter nun tatsächlich zu Hause war, oder nicht.
 

Oh jemine, ihre Mutter kam und Haku war doch noch oben in ihrem Zimmer, erschrak Chihiro. Schnell rannte sie aus der Küche, durch den Flur, "Hallo Mama", die Treppe hoch in ihr Zimmer. Haku war jedoch weg, einfach fort, genau so, wie er vorhin aufgetaucht war. Um sicher zu gehen, suchte sie alles ab, schaute in alle Schränke in ihrem Zimmer, durchsuchte das Gästezimmer und auch das Bad, aber Haku war nirgendwo zu finden.
 

Auf einmal wurde das "Haku"-Gefühl wieder überwältigend stark. ,Chihiro, du brauchst nicht nach mir zu suchen', hörte sie laut und deutlich Hakus Stimme in ihrem Kopf, ,ich bin doch hier. Hör mir zu, ich werde jetzt noch einmal zu Zeniba gehen, um mit ihr zu sprechen. Wir sehen uns heute Nacht, ja. Und hab keine Angst.'
 

Diese Sache, dass er Chihiro immer berühren musste, um genügend Energie zu bekommen für die Verwandlung, war doch sehr störend, und er in einem Radius von vielleicht 150 m um das Mädchen bleiben musste, um seine Gestalt nicht zu verlieren. Vielleich wusste die Hexe ja Rat.
 

,Nein Haku, bitte geh nicht weg', flehte Chihiro, die Angst davor hatte, dass das leere Gefühl der letzten Woche zurückkehren würde. Doch das "Haku"-Gefühl verblasste rasch und hinterließ die befürchtete Leere. Unglücklich hockte sich Chihiro hinter ihren Schreibtisch und versuchte Hausaufgaben zu machen, bis ihr auffiel, dass sie gar nicht wusste, was sie heute in der Schule gemacht hatte, denn sie hatte nur an Haku gedacht.
 

Irgendwie musste sie sich jetzt ablenken, sonst würde sie noch wahnsinnig werden, bis Haku zurückkam. Deshalb ging sie in die Küche, um ihrer Mutter mit dem Abendessen zu helfen. "Sag mal, Chihiro, der Junge von heute Morgen", fragte ihre Mutter zögerlich, während Chihiro einen Rettich wusch, "wo hast du den kennen gelernt?" Mittlerweile waren ihr nämlich starke Zweifel an der Schlussfolgerung gekommen, zu der sie am Vormittag gekommen war. Es erschien ihr mit zunehmendem Abstand alles so unwirklich.
 

"Ach, so richtig kennen gelernt, habe ich ihn vor drei Jahren", erzählte Chihiro vorsichtig, "als wir alle für zweieinhalb Wochen verschwunden waren. Da hat er uns allen geholfen, sonst wären wir nämlich wohl für immer verschwunden. Aber wir sind uns schon vorher einmal begegnet."
 

"Soll das heißen, du weißt, was während dieser zwei Wochen passiert ist?", entfuhr es ihrer Mutter. "Und was meinst du damit, wir wären beinahe für immer verschwunden?"
 

Chihiro schüttelte den Kopf. "Nein Mama, wenn ich dir das erzähle, glaubst du mir sowieso nicht und wirst am Ende auch noch böse."
 

"Also gut, dann lassen wir das. Du sagtest, sein Name wäre Nigihayami Kohaku Nushi", hakte Yuko Ogino nach, in dem Versuch an einer anderen Stelle weiter zu kommen. "Das heißt doch, so rein namenstechnisch, er ist der Wächter des Kohaku *). Soll das bedeuten, er ist ein Kami, der Gott des Kohakugawa? Der Kohakugawa ist doch nicht mehr vorhanden, er wurde zugeschüttet. Wie kann er dann der Gott davon sein?"
 

*) Der Name Nigihayami Kohaku Nushi stellt ein Wortspiel dar, welches sich nur jemandem mit guten Japanisch-Kenntnissen erschließt. Kristin Olsson hat auf ihrer Webseite den Versuch unternommen, das Puzzle auseinander zu nehmen: http://www.sekaiseifuku.net/...
 

"Er war früher einmal der Gott des Kohakugawa", antwortet Chihiro leise, "aber jetzt, jetzt ist er nur noch ... mein Gott."
 

"Wie, dein Gott? Meinst du, er ist dein Prinz oder so? Du bist in ihn verliebt?"
 

Darüber hatte Chihiro noch gar nicht nachgedacht. Sie wollte ihn, dass er für immer da bleibt und fühlte sich unendlich wohl, wenn er bei ihr war. Bedeutete das, dass sie in ihn verliebt war? Gestern beim Fußballspiel hatte sie noch gedacht, dass kein Junge der Schule sie interessierte, weil sie keine grünen Augen hatten. Haku hatte grüne Augen und sie war sich ziemlich sicher, dass sie die anderen Jungen nicht interessierten, weil sie nicht Haku waren. Aber besagte das, dass sie Haku liebte. Das war alles sehr verwirrend.
 

"Nein Mama, das meinte ich nicht", sagte Chihiro nach einer Denkpause, tat den Stöpsel in den Ausfluss des Spülbeckens und ließ Wasser hinein. "Hier, schau mal. Was glaubst du, warum ich das kann?"
 

Als das Becken voll gelaufen war, legte sie unter den erstaunten Blicken ihrer Mutter den Rettich auf das Wasser, als wäre es gefroren. Zur Verdeutlichung nahm sie noch einige Gläser, die Frisch gespült neben dem Becken standen, und stellte sie ebenfalls auf das Wasser. Dann fasste sie in das Wasser hinein und formte einen Bogen daraus, als würde sie mit Knete hantieren.
 

Im Laufe des letzten Jahres hatte Chihiro festgestellt, dass so beschränkt ihre magischen Fähigkeiten auch waren, sie mit Wasser nahezu alles anstellen konnte, was sie wollte. Ein paar Mal hatte sie sogar Manami mit ihren Fähigkeiten verblüfft. Aber wenigstens wusste sie jetzt, wieso sie es konnte, und das stärkte ihr Zutrauen darin viel mehr, als Manami das jemals gekonnt hätte. Sie musste der Seegöttin unbedingt erzählen, was mit ihr los war, und sie musste ihr unbedingt Haku vorstellen.
 

Yuko Ogino konnte nicht fassen, was ihre Tochter da tat. Mit großen Augen beobachtete sie, wie die Kleine den Wasserbogen zu einer Art vierarmigen Kerzenleuchter erweitert und auf jeden Arm ein Glas gestellt hatte. Plötzlich erinnerte sie sich wieder an letztes Jahr, als sie Chihiro in der Badewanne gefunden hatte, wo sie auf dem Wasser eingeschlafen war. Sie hatte das vollkommen verdrängt, weil es nicht sein konnte, nicht sein durfte. Und jetzt machte Chihiro wieder so etwas Verrücktes.
 

Leicht ärgerlich zog sie das Mädchen von dem Spülbecken weg. Das konnte doch nicht real sein! Sie nahm eines der Gläser von der Spitze eines Armes fort und versuchte es dann wieder darauf zu stellen. Das Glas fiel einfach durch den Arm hindurch und landete mit einem Platscher im Spülwasser. Das war gut so, fand Yuko Ogino! Genau so sollte sich ein Glas benehmen. Nur hatte der Arm des Leuchters seine Form nicht verändert, schwabberte aber immerhin wassermäßig leicht hin und her.
 

Durch diesen Erfolg ermutigt, versuchte sie den Stiel des Leuchters zu packen. Das erwies sich jedoch als schwierig, weil er durch und durch flüssig war. Sie schaffte es jedoch, den Stiel komplett zu durchtrennen, woraufhin das Wassergebilde in sich zusammenfiel und in das Spülbecken zurückklatschte.
 

Dass dabei zwei der Gläser zu Bruch gingen, erhöhte ihre Befriedigung nur noch. Dann stutzte sie. Der Rettich lag immer noch ganz friedlich auf dem Wasser, als würde er dorthin gehören, während die Wellen des zurückgeklatschten Wassers unter ihm hindurchliefen.
 

Verwundert, als würde sie gerade aus einem Traum aufwachen, nahm sie den weißen Rettich von der Wasseroberfläche herunter und betrachtete das Gemüse angestrengt. Was hatte Chihiro noch mal gesagt? Warum sie das hier tun könne? Das musste also etwas mit diesem Jungen zu tun haben, mit diesem, ... diesem Kohaku!?
 

In diesem Moment öffnete sich die Haustür und Papa Ogino kam von der Arbeit nach Hause. Sein erster Weg führte ihn in die Küche, denn er hatte wie immer mächtigen Kohldampf, wenn er Heim kam. "Was ist denn hier passiert?", wollte er wissen, als er das Tohuwabohu an der Spüle sah, wobei er dann misstrauisch zu Chihiro linste. Die Art jedoch, in der seine Frau einen Rettich anstarrte, gefiel ihm gar nicht.
 

"Schatz, geht es dir gut?", fragte er vorsichtig, "hat Chihiro wieder etwas angestellt?"
 

Als ob sie schon einmal groß etwas angestellt hätte, ärgerte sich Chihiro.
 

Mit einem leichten Schreck löste sich Yuko Oginos Blick von dem Rettich und wandte sich ihrem Ehemann zu. "Nein Schatz, Chihiro hat nichts gemacht. Mir ist da nur ein kleines Missgeschick passiert, nichts Ernstes", meinte sie. "Komm Schatz, setzt dich schon mal ins Wohnzimmer. Sumo fängt gleich an. Ich mach dir derweil etwas zu essen und Chihiro hilft mir weiter mit dem Abendessen."
 

Den ganzen Rest des Abends sah Chihiro zusammen mit ihren Eltern Sumo im Fernsehen, wobei sie unruhig die ganze Zeit hoffte, dass Haku endlich zurückkommen würde. Spätestens alle fünf Minuten warfen entweder ihr Vater oder ihre Mutter einen prüfenden Blick nach ihr, was ihre Nervosität nicht gerade verringerte.
 


 

Bald, nachdem die Sonne untergegangen war, erreichte Haku die freie Fläche vor Zenibas Haus, doch als er dort die prächtige Kutsche sah, mit Intarsien und Gold verziert, jedoch von einer Art plumper, grüner, zweiköpfiger Echse gezogen, stutzte er. Vorsichtshalber blieb er am Waldrand, wo er sich versteckte, um abzuwarten und zu beobachten.
 

Nachdem ungefähr eine Stunde vergangen war, öffnete sich die Tür und ein hochgewachsener Mann trat heraus, in luxuriöse und farbenprächtige Seidengewänder gehüllt, wie man sie in früheren Jahrhunderten am kaiserlichen Hof getragen hatte. Der Mann hatte langes silbergraues Haar, das überhaupt nicht zu seiner ansonsten jugendlichen Erscheinung passen wollte. Als er in der Kutsche platzgenommen hatte und er den Blick aufmerksam in die Runde kreisen ließ, sah Haku kurz im Schein der Laterne am Tor, dessen emotionslose orangeroten Augen. Einige Momente schien dessen Blick genau in seine Richtung zu gehen und holte tief Atem, als würde er Haku riechen können.
 

Obwohl er noch mehrere hundert Meter entfernt war, konnte er die Gefährlichkeit des Mannes fühlen, dessen starke dämonische Ausstrahlung. Mit einer affektiert wirkenden Geste nahm dieser die Zügel in die Hand und zupfte einmal daran, woraufhin sich das Echsentier mit erstaunlicher Behändigkeit auf flammenden Füßen in die Luft erhob.
 

Noch mehrere Minuten beobachtete Haku, wie das eigenartige Gefährt in der Weite des nächtlichen Himmels immer kleiner wurde. Als es ganz verschwunden war, rannte er sofort zu Zenibas Haus herüber, wo er die Hausherrin mit kreidebleichem Gesicht sitzend am Tisch vorfand.
 

Blicklos drehte sie den Kopf in seine Richtung, als er in der Türöffnung erschien. "Haku, gut, dass du da bist", krächzte sie. "Hast du ihn gesehen? Hast du ihn gesehen, diesen aufgeblasenen Gockel?"
 

Haku nickte ernsthaft. "Hatte ein Schreiben dabei, dass ihn als Agenten der Geheimpolizei im untersten Dienstrang auswies", schnaubte Zeniba, die sich jetzt etwas zu fangen schien. "Unterschrieben vom Chef der Geheimpolizei persönlich, dieser unfähigen kleinen grünen Kröte. Wer's glaubt, wird selig."
 

"Hat er sie bedroht", fragte Haku besorgt. "Ich meine, weil sie so, so ..."
 

"Meinst du, weil ich mit meinen Nerven so am Ende bin?" Zeniba ließ sich im Stuhl zurücksacken. "Nein, jedenfalls nicht direkt. Er war sogar sehr freundlich und von ausgesuchtester, vornehmer Höflichkeit. Aber diese ganze Person an sich ist eine Bedrohung. Wenn du in seine Augen gesehen hättest ..."
 

"Ich habe seine Augen kurz gesehen", sagte Haku leise. "Er ist sehr gefährlich, nicht wahr?"
 

"Wenn du sie gesehen hast, dann solltest du sie dir merken", grunzte die Hexe. "Er ist nämlich einer von denen, die nach dir suchen. Deswegen war er auch hier. Man hat dich bei deiner Flucht in der Nähe des Badehauses gesehen. Und er hat mich über Yubaba und ihr Aktivitäten befragt; insbesondere ob du, beziehungsweise ein gewisser weisser Drache, etwas damit zu tun haben könntest."
 

"Sie meinen, ich wäre in Gefahr gewesen?" Haku trat noch einmal vor die Tür und schaute in den Nachthimmel hinaus, aber es war Nichts zu sehen.
 

Zeniba stand auf und kam ebenfalls vor die Tür. "Nein, ich glaube nicht wirklich. Er sucht nach einem weißen Drachen. Wie du als Mensch aussiehst, weiß er nicht, und meine Schwester wird dich sicher nicht verraten. Dann wäre sie selber in Schwierigkeiten. Trotzdem ist es gut, dass er dich hier nicht gesehen hat. Er hat dich doch nicht gesehen?"
 

"Nein, ich habe mich im Wald verborgen", versicherte Haku. "Trotzdem hatte ich kurz den Eindruck, dass ..."
 

"Das war richtig von dir", meinte Zeniba besorgt. "Jetzt komm erst mal herein und setzt dich. Ich muss dir nämlich etwas Wichtiges erzählen, was dich und Chihiro betrifft."
 

Zeniba erzählte Haku die Geschichte eines Bergdrachen, der vor mehr als 1000 Jahren herausgefunden hatte, wie er Menschen beliebig unter seine Kontrolle bekommen konnte. Er hatte eine Methode gefunden, wie er deren eigene Lebenskraft durch einen Teil seiner ersetzte.
 

Die so umgewandelten Menschen waren scheinbar unversehrt und benahmen sich auch im Großen und Ganzen normal, es sei denn, der Bergdrache übernahm die Herrschaft über sie. Nach und nach gerieten so immer mehr Menschen in seine Gewalt, was das magische Potenzial des Drachen stetig vergrößerte. Es erlaubte ihm auch, sich weit von seinem Berg zu entfernen, da ihn jederzeit kontrollierte Menschen überall hinbegleiten und mit Energie versorgen konnten.
 

Nach einiger Zeit hatte er heimlich die gesamte Bevölkerung der Insel Kyushu derartig unter seinen Einfluss gebracht, dass er die Insel vollständig beherrschte. Schließlich begann er in seinem Machthunger, die Sonnengöttin Amaterasu herauszufordern. Doch diese ließ sich das nicht bieten, bekämpfte und besiegte schließlich den Drachen. Als Strafe wurde der Drache in einem großen Schauprozess verurteilt und mit der Auslöschung bestraft.
 

Durch die Auslöschung wird die Existenz eines Wesens vollständig eliminiert und aus der Zeit entfernt, erläuterte Zeniba, was letztendlich bedeutet, dass es diese Person niemals gegeben hat.
 

"Nur dank der Tatsache, dass die Prozessakten, in einem speziellen Archiv aufbewahrt werden, das gegen die Manipulation der Zeit gesichert ist, wissen wir heute überhaupt davon. Aus den Akten wurde zur Sicherheit jedoch der Name des Drachen getilgt. Seit dem steht auf das, was der Drache getan hat, die Strafe der Auslöschung", beendete Zeniba ihren Vortrag mit bedrücktem Gesichtsausdruck.
 

"Aber was ist denn mit den ganzen Menschen passiert, die mit dem Drachen die Lebenskraft teilten?", wollte Haku sichtlich erschrocken wissen, als ihm klar wurde, was das für ihn und Chihiro bedeutete. "Im Moment seines Todes müssen sie doch alle gestorben sein."
 

"Nein Haku, du hast das nicht ganz richtig verstanden", erklärte Zeniba. "Durch die Auslöschung hat es den Drachen nie gegeben und das alles ist niemals passiert. Die Menschen brauchten also nicht zu sterben, weil sie ja nie in die Gewalt des Drachen geraten waren, nie ihre Lebenskraft mit seiner geteilt hatten."
 

"Aber wenn man mich auslöscht, würde das doch bedeuten, Chihiro wäre als kleines Kind im Kohakugawa ertrunken, weil ich ihr kein neues Leben hätte geben können, denn hätte mich ja nie gegeben." Haku schlug die Hände vor dem Gesicht zusammen und sackte vornüber mit dem Kopf auf die Tischplatte, wobei er ein Schluchzen nur mühsam unterdrücken konnte.
 

"Haku, wir wissen nicht, was passiert wäre. Wenn du nicht der Gott des Kohakugawa gewesen wärst, wäre es jemand anderes gewesen", versuchte Zeniba ihn zu trösten. "Dieser Jemand hätte Chihiro vielleicht ebenfalls gerettet. Außerdem müssen sie dich erst einmal finden, das mit Chihiro herausbekommen und dich verurteilen. Trotzdem dürfte es sicherer sein, wenn sie dich nicht kriegen. Aber jetzt erzähl mir von Chihiro, wie du sie gefunden hast. Die Nachricht von dir habe ich nämlich gefunden."
 

Kurz dachte Haku über das nach, was Zeniba gesagt hatte und kam zu dem Schluss, dass es keinen Sinn machte, sich über die Zukunft sorgen zu machen. Gefasst berichtete er der Hexe, wie er Chihiro in der Menschenwelt aufgespürt hatte und als er erzählte, wie er von Chihiros Vater aus dem Haus befördert worden war, musste Zeniba laut lachen, was auch Hakus Stimmung wieder etwas verbesserte.
 

"Es ist nur so entwürdigend, dass ich in der Menschenwelt völlig von Chihiro abhängig bin. Wenn ich sie nicht berühre, kann ich kaum etwas zaubern, und wenn ich zu weit von ihr entfernt bin, löse ich mich einfach auf. Sie hatten mich ja darauf vorbereitet, aber dass es so unangenehm sein würde, hatte ich nicht erwartet."
 

"Du bist halt ein Drache, Haku, und hier in der Geisterwelt gewohnt, immer deine Zauberkräfte zu benutzen. Versuch dich einmal in die Lage eines Menschen zu versetzen, der gar nicht zaubern und auch seine Gestalt nicht wechseln kann", wandte Zeniba ein. "Menschen müssen damit ihr ganzes Leben zurechtkommen. Aber du hast Glück, denn ich habe ein wenig nachgeforscht und vielleicht eine Lösung gefunden, für dein, ... äh euer Problem."
 

"Sie haben vollkommen Recht, Frau Zeniba", meinte Haku, "ich muss damit klarkommen, wenn ich bei Chihiro bleiben will. Wenn ich unter Menschen leben will, muss ich auch wie ein Mensch leben. Nur wenn ich mich immer auflöse ... wie kann ich dann als Mensch leben?"
 

Zeniba stand auf und holte aus dem Nebenraum einen kleinen Lederbeutel, dessen Inhalt sie auf den Tisch schüttete. Es befanden sich dutzende von Edelsteinen darin, die funkelten und glitzerten. "Im Prinzip müssen wir nur dafür sorgen, dass es einen direkten Energiefluss zwischen euch gibt. Die Tore, die es zwischen dieser und der Menschenwelt gibt, wären eigentlich dafür geeignet, einen solchen Fluss zu unterhalten, aber sie sind in ihrer Form natürlich völlig ungeeignet für diesen Zweck."
 

"Wofür haben sie die Juwelen geholt?" Haku betrachtete neugierig die Steine. Solche und ähnliche hatte er schon häufiger bei Yubaba gesehen.
 

"Das ist eigentlich mein Anteil an den Einnahmen des Badhauses, den mir meine liebe Schwester regelmäßig schickt", erklärte Zeniba und fischte dann einen glitzernden weißen Stein heraus. "Das hier ist ein Phenaktit, oder auch Betrüger. Es ist nur Beryllium-Silikat, nicht besonders wertvoll, weshalb Yubaba immer wieder versucht, ihn mir unterzujubeln. Aber sag, sieht er nicht aus, wie ein Diamant?" Haku nickte zustimmend. Yubaba liebte Diamanten.
 

"Nun jedenfalls basiert die gesamte Tor-Technomagie auf diesem Mineral und mit ein wenig Geschick könnte es gelingen, mithilfe dieses Edelsteins, eine Art direkter magischer Brücke zwischen Chihiro und dir herzustellen", fuhr Zeniba fort, dem staunenden Jungen zu erläutern. "Das wäre dann so, als würdet ihr euch immer berühren. Bring sie nur her zu mir, dann können wir es versuchen."
 

"Meinen sie wirklich, das könnte klappen?", fragte Haku hoffnungsfroh, nahm den Phenaktit in die Finger und beäugte ihn eingehend.
 

"Doch, ich denke schon", bestätigte Zeniba, "aber garantieren kann ich für Nichts. Der Zauber ist ein wenig kompliziert und ihr werdet für immer jeder eine Hälfte des Steins in euch herumtragen müssen. Du wirst es ja sehen."
 

Haku und Zeniba unterhielten sich noch etwa für eine weitere Stunde, bis der junge Gott sich auf den Rückweg in die Menschenwelt machte. Es war immer noch weit vor Mitternacht und er musste eine Weile warten, bis endlich alle Oginos zu Bett gegangen waren. Chihiro lag zwar auf ihrem Futon, doch er konnte spüren, dass sie nicht schlief. Aber jetzt brauchte er sich auch nicht mehr zu verbergen.
 

Haku glitt durch das verriegelte und einbruchgeschützte Fenster hindurch, ebenso wie die Vorhänge, die nicht den Hauch einer Regung dabei zeigten. Diesmal brauchte er sich nicht zurückzuhalten, tauchte ein in das Leuchten seiner Lebenskraft, die aus ihrem Körper strömte. Überlegter als beim ersten Mal, materialisierte er allerdings nicht über Chihiro, sondern vorsichtshalber so, dass er direkt neben ihr zu Knien kam.
 

Das Mädchen, das sein Auftauchen schon längst gefühlt hatte, drehte sich in aller Ruhe um und lächelte ihn an, wie er in der Dunkelheit des Zimmers so gerade erkennen konnte. "Hallo Haku, ich habe schon so auf dich gewartet", begrüßte sie ihn flüsternd.
 

"Ich bin auch froh, dass ich wieder bei dir bin", erwiderte er, ebenfalls flüsternd. "Jetzt müssen wir überlegen, was wir wegen deiner Eltern machen." Über eine Stunde diskutierten sie das Für und Wieder verschiedener Szenarien, wie sich ihr künftiges Zusammenlegen gestalten konnte und am Schluss hatten sie sich einen, zugegebener Massen etwas drastischen, Plan zurechtgelegt, wie sie Papa und Mama Ogino von der Notwendigkeit von Hakus Anwesenheit überzeugen konnten.
 


 

Am nächsten Morgen kam Yuko Ogino erneut nach ihrer Tochter zu schauen, da diese wiederum nicht pünktlich zum Frühstück erschien. Fast erwartete sie, dass der Junge von gestern wieder aufgetaucht war und sich in Chihiros Zimmer geschlichen hatte. Sie öffnete die Tür, doch diesmal konnte sie nicht viel erkennen, denn das Licht war aus und die Vorhänge zugezogen.
 

Mit einem Seufzer, weil Chihiro offenbar verschlafen hatte, schaltete das Licht an und dann sackte ihr der Unterkiefer herunter, denn mit dem, was sie jetzt sah, hatte sie im Leben nicht gerechnet. Chihiro lag friedlich schlafend auf ihrem Futon auf der Seite, was ja an sich nicht außergewöhnlich war. Dass sie dabei ihren rechten Arm auf den Körper eines weißen Drachen gelegt hatte, der sich fast zweimal um sie herumkringelte und ebenfalls zu schlafen schien, allerdings schon.
 

Was sollte sie jetzt nur tun, überlegte Yuko Ogino. Möglicherweise war der Drache ja gefährlich, obwohl er einen friedlichen Eindruck machte. Erst dieser Junge und jetzt ein Drache. Und dann noch, was Chihiro gestern mit dem Wasser im Waschbecken gemacht hatte. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Vielleicht hatte sie sich das ja doch nicht eingebildet, dass Chihiro einmal auf dem Wasser in der Badewanne geschlafen hatte.
 

Leise machte sie das Licht wieder aus, schloss die Tür und blieb einige Momente regungslos stehen. Dann rief sie: "Akio, Aakiooo. Komm doch mal her. Da gibt es etwas, dass du dir ansehen solltest!"
 

"Was gibt es denn jetzt schon wieder, Yuko?", regte sich Chihiros Vater auf, während er die Treppe hochschnaufte. "Ist dieser Junge wieder da? Na diesmal wird der nicht so einfach davon kommen. Ich werde die Polizei holen."
 

Chihiro und Haku ihrerseits hatten allerdings nur so getan, als würden sie schlafen, während sie voller Nervosität darauf warteten, was passieren würde. ,Hi, hi. Ich wette meine Mutter hat ein total dämliches Gesicht gemacht', giggelte Chihiro in Gedanken zu Haku, nachdem sie deren Ruf nach ihrem Vater gehört hatte. Gemeinsam hatte sie im Laufe der Nacht festgestellt, dass sie problemlos Gedanken und Bilder austauschen konnten, die ihnen durch den Kopf gingen, solange sie einander nur berührten.
 

Es war genau wie damals in dem kleinen Garten am Badehaus, als Haku ihr den Weg zu Kamaji gezeigt hatte. Diese Fähigkeit war jedoch nicht nur einseitig, sondern Chihiro konnte es genauso gut, wie Haku, nachdem sie einmal begriffen hatte, wie es ging. ,Du darfst dich nicht über sie lustig machen', kam Hakus ernste Antwort. ,Sie ist immerhin deine Mutter und sie hat noch nie zuvor einen Drachen gesehen.'
 

In diesem Moment riss ihr Vater die Tür auf, machte das Licht wütend schnaubend wieder an. Das Schnauben wurde dann immer leiser, bis Chihiro hörte, wie er die Tür sachte zuzog, ohne allerdings wie ihre Mutter das Licht auszumachen.
 

"Da ist ein Drache, Yuko", flüsterte Akio Ogino zu seiner Frau. "Und er scheint Chihiro in seiner Gewalt zu haben. Was machen wir denn jetzt?"
 

"Dass da ein Drache ist, sehe ich selbst, schließlich habe ich Augen im Kopf. Ich dachte, du wüsstest, was wir jetzt machen können", zischelte Yuko Ogino zurück, wobei sie ihm auf die Brust tippte. "Wir müssen Chihiro jedenfalls unbedingt aus dem Zimmer heraus bekommen. Dann können wir weiter sehen."
 

"Ich könnte die Feuerwehr rufen, die Polizei, die Nationalgarde oder die Armee", raunte Akio unsicher zurück. Einen Jungen hinaus zu werfen, war eine Sache, aber einen Drachen ... "Ich werde da jedenfalls nicht nochmal hereingehen. Hast du seine Klauen gesehen? Vielleicht will er Chihiro ja fressen. Nein, da sollten Profis herangehen."
 

"Ach du alter Feigling", blökte Yuko Ogino entrüstet los. "Bei kleinen Jungen kannst du den Starken markieren, aber wenn mal etwas Unvorhergesehenes passiert, ziehst du gleich den Schwanz ein. Auf mich hat der Drache nicht besonders gefährlich gewirkt. So ich werde jetzt Chihiro da rausholen."
 

Damit riss sie die Tür auf und wäre fast mit ihrer Tochter zusammengeprallt, die selber gerade die Tür öffnen wollte. "Guten Morgen Mama, guten Morgen Papa", sagte sie und gähnte demonstrativ. Dann marschierte sie, in ihrem rosa Schlafanzug mit dem "Hello Kitti"-Aufnäher, zwischen den beiden hindurch vorbei in das Badezimmer, wo sie seelenruhig begann, sich die Zähne zu putzen.
 

Verstört sahen Chihiros Eltern ihrer Tochter hinterher und danach wieder in ihr Kinderzimmer. Der Drache war noch da, hatte sich nicht von der Stelle gerührt, sah sie jetzt aber neugierig aus seinen grasgrünen Augen an. Genau dieselben Augen hatte der Junge gestern auch gehabt, dachte Yuko Ogino unwillkürlich, und ein Schauer lief ihr den Rücken hinunter.
 

Rasch lief sie zu Chihiro, die gerade gurgelte. "Chihiro, da ist ein Drache in deinem Zimmer, ein ziemlich großer, wie ich meine", sagte sie in vorwurfsvollem Tonfall. "Kannst du mir das bitte erklären. Wie ist der da hereingekommen? Hast du ihn rein gelassen?"
 

"Mama, if putf mir gerade die Fähne", sagte Chihiro mit Schaum vor dem Mund. "Können wir daf nift befprefen, wenn if fertif bin?" Mit sauber kreisenden Bewegungen fuhr sie fort, ihre Zähne zu bearbeiten.
 

Immerhin säuberte Chihiro gerade ihre Zähne. Nicht alle Kinder taten das freiwillig, dachte Yuko Ogino. Wenn sie es schon von alleine tat, sollte man sie auch nicht davon abhalten! Sie ging zurück zu Akio. "Sie putzt sich die Zähne", meinte sie zu ihrem Mann. "Wir sollten warten, bis sie fertig ist."
 

"Ich sehe selber, dass sie die Zähne putzt", schimpfte Akio. "Ist das denn jetzt so wichtig? Da ist immer noch der Drache!" Er deutete energisch in das Kinderzimmer.
 

Angestrengt nachdenkend zog Yuko Ogino ihre Stirn kraus, was sie nicht häufig tat, denn davon konnte man ja Falten bekommen. Chihiro war im Badezimmer und der Drache lag im Kinderzimmer. Vielleicht hatte das ja etwas zu bedeuten? Wenn Chihiro im Badezimmer war und der Drache im Kinderzimmer, dann bedeutete das ... ja, der Drache hatte Chihiro aus dem Kinderzimmer gelassen!
 

"Ich glaube nicht, dass der Drache gefährlich ist", sagte sie deshalb. "Er hat Chihiro ja gehen lassen." Chihiro war jetzt mit dem Zähneputzen fertig, gurgelte noch einmal und trocknete sich dann den Mund ab.
 

"Vielleicht ist der Drache gefährlich, vielleicht ist er es auch nicht", argumentierte Akio Ogino entnervt. "Ich finde, wir sollten es nicht darauf ankommen lassen."
 

"Könntet ihr Mal Platz machen", sagte Chihiro, die aus dem Badezimmer gekommen war. "Ihr versperrt ja die Tür." Reflexartig trat ihr Vater einen Schritt zurück, sodass Chihiro in ihr Zimmer zurückgehen konnte.
 

"Warum hast du sie wieder zu dem Drachen gelassen", meckerte Yuko. "Jetzt wo sie gerade in Sicherheit war."
 

"Aber du hast doch gemeint, der Drache wäre nicht gefährlich", versuchte sich Akio Ogino zu verteidigen. "Da sieh doch. Er tut ihr nichts." Entgeistert beobachteten sie, wie Chihiro ganz geschäftsmäßig über den Leib des Drachen hinwegstieg, ihren Futon zusammenfaltete, erneut über den Drachen stieg, ihn im Schrank verstaute und sich ihre Anziehsachen holte, bevor sie wieder aus dem Zimmer herauskam.
 

"Was schaut ihr so? Das ist mein Drache und der bleibt jetzt hier", meinte Chihiro schnippisch, als sie sich an ihren Eltern vorbeiquetschte, um wieder ins Badezimmer zu gelangen, wo sie sich duschen und dann anziehen wollte.
 

Ihr Vater hielt sie diesmal aber an der Schulter fest. "Moment mal, was meinst du damit: Er bleibt hier?", fuhr er sie an. "Ich glaube, Tochter, wir müssen mal reden."
 

"Au Papa, du tust mir weh", jammerte das Mädchen. "Ich muss mich doch jetzt anziehen und dann zur Schule. Lass mich bitte los." In diesem Augenblick knurrte der Drache nachdrücklich aus dem Kinderzimmer, wobei er den Kopf zur Tür heraussteckte und seine Zähne blitzen ließ. Mit einem Aufschrei des Schrecks ließ Akio Ogino seine Tochter los und spurtete erstaunlich behände die Treppe hinunter.
 

Chihiro trat zu dem Drachen hin, nahm seinen Kopf in die Arme und streichelte ihn unter den schockierten Blicken ihrer Mutter. "Du darfst doch meinem Papa nicht solche Angst einjagen", sagte sie vorwurfsvoll, schob ihn in das Zimmer zurück und machte die hinter ihm zu. Dann ging sie mit zufriedenem Gesichtsausdruck ins Bad.
 

Eine Viertelstunde später kam Chihiro fröhlich mit ihren Schulsachen in die Küche, um sich ihr Frühstück zu holen. Ihr Vater saß mit leerem Gesichtsausdruck am Tisch und stützte den Kopf schwer auf seine Hände. Ihre Mutter stand mit verschränkten Armen am Kühlschrank und blickte Chihiro skeptisch an. Als sie ihre Eltern so sah, bekam sie sofort ein schlechtes Gewissen, setzte sich ganz still an den Tisch, wo sie begann, ein wenig Müsli zu essen.
 

"Der Drache", fragte ihre Mutter nach einer Weile peinlichen Schweigens, "das war doch ein Drache, oder? Ist der noch oben?" Chihiro nickte. "Wo hast du den her? Wie ist der in dein Zimmer gekommen?"
 

"Ich, wir, ... der Junge von gestern ... ist der Drache", stammelte Chihiro daraufhin.
 

"Du meinst, der Drache ist dieser, dieser ... Nigidings Kohaku Nushi?", hakte Yuko Ogino nach. "Aber warum ist er denn jetzt auf einmal ein Drache?"
 

"Mama, er ist eben ein Drache, Nigihayami Kohaku Nushi", entgegnete Chihiro. "Wir hatten uns nur gedacht, einen Drachen kann Papa nicht hinauswerfen und dann müsstet ihr uns zuhören."
 

"Warum sollen wir euch zuhören?", schnauzte ihr Vater los. "Dieser unverschämte Drache taucht einfach auf, will sich wohl bei uns einnisten und macht sich dazu an meine Tochter ran. So etwas werde ich nicht zulassen."
 

"Papa bitte, du verstehst das nicht. Ich und der Drache, wir gehören zusammen, ob es dir gefällt oder nicht", gab Chihiro trotzig zurück. "Wir teilen uns ein Leben und das lässt sich jetzt nicht mehr ändern."
 

"Ihr teilt euch das Leben. Soll das heißen, du willst ihn heiraten?", zeterte ihr Vater weiter. "Das kommt gar nicht in die Tüte. Dazu bist du noch viel zu klein. Mit 13 darf man noch nicht heiraten."
 

Haku heiraten, dachte Chihiro verdutzt. Auf den Gedanken war sie noch gar nicht gekommen, aber sie konnte ja mal darüber nachdenken, für später. "Nein Papa. Ich meine das so, wie ich es sage. Wir beide zusammen haben nur ein Leben. Deshalb hatte ich ja auch immer so einen furchtbaren Hunger, weil er die ganze Zeit so schuften musste, im Bergwerk."
 

"Chihiro, du sprichst völlig in Rätseln." Yuko kam zum Tisch und stützte sich neben Chihiro auf. "Soll das heißen, dieser Drache hat etwas mit deiner Krankheit zu tun?"
 

"Dass soll heißen, Mama, der Drache ist meine Krankheit. Nur dass ich nicht krank bin", sagte Chihiro und versuchte ihren konsternierten Eltern zu erklären, was mit ihr und Haku los war. "Und deswegen muss er jetzt hier bleiben. Wo soll er denn sonst hin", schloss sie ihren Bericht und sah dann flehentlich abwechselnd ihre Eltern an.
 

"Das ist nur sehr schwer vorstellbar, was du uns da erzählst", brach ihre Mutter das Schweigen. "Aber es passt mit allem zusammen, was uns Dr. Ito gesagt hat. Vielleicht möchtest du uns deinen Nigihayami Kohaku Nushi ja vorstellen."
 

"Yuko, du kannst doch nicht diesem zusammenhanglosen Geschwätz einer Dreizehnjährigen glauben", polterte ihr Vater los. "Götter und Drachen gibt es doch überhaupt nicht. Das ist doch alles nur Einbildung. Sie sind nur eine Erfindung dieser Shinto-Priester, um das Kaiserhaus zu legitimieren."
 

"Schatz, du übersiehst da eine Kleinigkeit", versuchte Yuko ihren Mann zu beruhigen. "Da oben in Chihiros Zimmer ist ein Drache. Du hast ihn doch selber gesehen. Wie kannst du dann sagen, es gäbe keine Drachen. Chihiro, geh doch bitte nach oben und hol deinen Freund hierher, ja?" Akio Ogino starrte schwer atmend seine Frau an, und setzte mehrfach an, etwas zu sagen, wusste jedoch, dass das alles Unsinn war. Deshalb sagte er am Ende lieber Nichts.
 

Chihiro stand auf und machte sich schweigend auf den Weg in ihr Zimmer, wo sie sich neben Haku auf den Boden hockte und seinen Kopf sanft in ihre Arme nahm. Sie berichtete ihm über das Gespräch mit ihren Eltern, bevor Haku dann in seine menschliche Gestalt wechselte. Im Moment der Verwandlung dann klappte Chihiro beinahe zusammen, weil Haku dafür so viel magische Energie von ihr brauchte, wie ihr kleiner Körper gerade noch in der Lage war, zu liefern.
 

Die Folge war, dass Chihiro fast augenblicklich eine Heißhungerattacke bekam, die sie nur mit ihrer jahrelangen Hungererfahrung beherrschen konnte. Trotzdem wäre sie fast Hals über Kopf in die Küche gestürzt, um irgendetwas zu essen zu bekommen. "Komm mit", sagte sie stattdessen, nahm Haku bei der Hand und zog ihn die Treppe hinunter zu ihren Eltern. Haku folgte ihr widerstandslos.
 

"Mama, Papa, darf ich vorstellen:", sagte sie dort angekommen, "der Drache Kohaku, der einmal der Gott des Kohakugawa gewesen ist."
 

Kohaku, der immer noch die zerrissenen Jeans und das löchrige T-Shirt trug, die Zeniba ihm verpasst hatte, verbeugte sich wohlerzogen vor Herrn und Frau Ogino. Akio Ogino dachte nur: Und das soll ein Kami sein? Yuko Ogino dachte: Bei allen Göttern! Er ist noch viel hübscher, als ich von Gestern in Erinnerung hatte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (28)
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Von:  DemonLady
2005-09-10T19:27:59+00:00 10.09.2005 21:27
Nabend,
Das mit der Kreide am Anfang des Kapitels stelle ich mir sehr lustig vor. Da muss der Lehrer echt dumm geguckt haben. ^^
Als du dieses Haku - Gefühl am Fenster beschreibst, wurde ich gleich an die Stelle im Film erinnerte, als Haku in Drachenform von den Papierfliegern verfolgt wird und sie am Balkon steht und ihn erkennt.
Das Wiedersehen war echt schön.
Nur die Mutter muss am Morgen wohl ziemlich blöd geschaut haben. ^^
Es ist wirklich spannend, was das noch mit der Heimpolizei geben soll.
Man kann sich den Mann mit dem weißen Haar gut vorstellen. Und die Echse mit brennenden Pfoten ist auch ne gute Idee gewesen.
Und die arme Mutter wird jetzt auch noch mit einem Drachen konfrontiert. Die muss ja einiges mitmachen, die Ärmste. ^^
Und Aiko reagiert genauso super: Ich ruf die Polizei, die Feuerwehr, die Nationalgarde... oh man. Ein besorgter Vater eben. ^^
Und der Spruch: Das ist mein Drache - der bleibt jetzt hier ... der war süß.
Also andere Kinder schleppen ja ne dahergelaufene Katze oder Insekten mit an, aber sie bringt gleich nen Drachen mit. XD
Immerhin haben die Eltern jetzt wenigstens ein wenig zugehört.
Bin ja gespannt, was das noch alles geben wird. ^^
Keep smile!
Demon
Von: abgemeldet
2005-08-07T02:40:59+00:00 07.08.2005 04:40
Wuha also ich fand das Kapitel hat sehr ernst angefangen. Aber das Ende fand ich lollig. Akio Akio komm doch mal da gibt es etwas das solltest du dir ansehen. Oder so ähnlich. Genial XD das kam super rüber. Also ich fands gelungen. Nun noch das letzte Kapitel und dann mal sehn :) Echt geniale Story !
Von: abgemeldet
2004-12-28T18:22:07+00:00 28.12.2004 19:22
Yuhuuu!
Kannst du bitte ganz schnell weiterschreiben?
Cu, Mnemosyne
Von:  vilpat
2004-12-27T16:06:11+00:00 27.12.2004 17:06
Gehts denn jemals weiter?
Von: abgemeldet
2004-11-28T15:20:27+00:00 28.11.2004 16:20
Dann will ich aber auch ne EMS!
Bitte, ich find die Story doch so geil :-)
Von: abgemeldet
2004-11-26T19:10:15+00:00 26.11.2004 20:10
hey Duuuu?
Willst du nicht mal ganz lieb sein und bald ein neues kapitel hochladen? war die letzten paar Tage (in denen ich von der schule krankgeschrieben war ^-^) damit beschäftigt deine ganze Story zu lesen und ohne das ich schleimen will oder so aber die is total supergeil!
Also bitte beeil dich doch ein bisschen, ja?
Bis dann

Nojiko-chan
(PS: Kannst mir vielleicht ne ENS schreiben wenn du ein neues Kapitel hochlädst, ja???)
Von: abgemeldet
2004-11-12T13:27:54+00:00 12.11.2004 14:27
Krass!
Deine FF ist zu großen Teilen Kinoreif.
Bis Kapitel 6 auf jeden Fall, und alles was dann kommt ist trotzdem eine absolut geile FF.
hoffentlich geht es bald weiter!

Das mit dem Buch eines Profis stimmt.
Es stimmt wirklich.
Sowas hab ich unter diesen ganzen FF's nocht nicht gesehen.
Wehe es geht nicht weiter ;-)
Von:  Drachenherz
2004-11-05T22:20:06+00:00 05.11.2004 23:20
WAAAAAH geiles Kap
Hoffentlich kommt bald das nächste *sich schon tierisch drauf freu*

Grauwolf
Von: abgemeldet
2004-10-30T13:53:54+00:00 30.10.2004 15:53
ehhm.. nicht wundern, sonst bin ich als sakurajima drin, dies ist der addi meiner schwester ^^°
Von: abgemeldet
2004-10-30T13:53:04+00:00 30.10.2004 15:53
o_Ô ... ich war mir eigentlich sicher, schon mal ein Kommi zu diesem geilen Kapi geschrieben zu haben... etwa nicht??
*nachdenk* is ja ouch egal! ^^ Ich hols hiermit nach.
Wie schon bei anderen Kapis geschrieben, finde ich deine Fic einfach spitze!!!
Und ich habe weiterhin den verdacht, du steckst mit dem urheber dieses Animefilms, Hayao Miyazaki, unter einer decke... ich werds imma wieda schreiben ^^
Klasse, nur schreib mal wieder weiter, ja!? ^o^
Büüüüddeeeee


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