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Chihiro und Kohaku

von

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Das WM-Endspiel

Hallo alle zusammen,
 

hier ist das neue Kapitel, jetzt sogar "betagelesen" durch Magicfantasie. Vielen Dank Magic ^___^!
 

Und nochmal vielen Dank für Eure lieben Kommentare.
 

Und tretet mir ruhig in den Hintern, wenn es nicht vorwärts geht. Vor allem die Haku Kapitel fallen mir immer so schwer und da brauch ich manchmal 'ne Aufmunterung. Aber es gibt ja sowieso nur noch ein Haku Kapitel, hehe ^^.
 

Pazu
 

PS
 

Ich hab noch 'n paar Artefakte gefunden, die eigentlich als Anmerkung für Magic gedacht waren. Die sind jetzt raus.
 

Das WM-Endspiel
 

"Chihiro, jetzt beeil dich doch", rief Ayaka aus dem offenen Fenster der Toyota Previa Großraumlimousine ihres Vaters. "Sonst kommen wir am Ende noch zu spät zum Bahnhof!" Sie trug heute nicht ihr unvermeidliches japanisches Nationaltrikot, sondern hatte das blaue Torwarttrikot der deutschen Mannschaft mit der Nummer "1" und der Aufschrift "Kahn" an. Um die Stirn hatte sie sich ein Tuch in den Farben Schwarz, Rot und Gold umgebunden.
 

Im Verlauf des Turniers war sie zu einer glühenden Verehrerin des deutschen Torhüters mutiert, an dem sie besonders sein gutes Aussehen und seinen unbändigen Siegeswillen schätzte. Chihiro fand eigentlich eher, dass er böse guckt *.
 

* <http://www.japanlink.de/special/spe_04_29.shtml>
 

Auch trug sich Ayaka ernsthaft mit dem Gedanken, von ihrer Position im Sturm zwischen die Torpfosten zu wechseln, was ihr vom Trainer der Mädchen-Fußball-Schulmannschaft mühsam immer wieder ausgeredet werden musste. Der war nämlich froh, endlich eine halbwegs fähige Stürmerin bekommen zu haben.
 

"Ja, einen Moment noch", drang Chihiros Stimme aus dem Inneren ihres Hausflures durch die offene Eingangstüre nach draußen. "Ich hab gleich alles zusammen."
 

Kurz darauf spazierte sie gut gelaunt aus der Tür, gefolgt von ihrem Vater, der einen riesigen Rucksack schleppte. Chihiros Mutter hatte leider heute Dienst im Konbini, der auch sonntags geöffnet hatte, sodass sie ihre Tochter nicht verabschieden konnte. Während Chihiro hinten einstieg und sich zu Ayaka und Ichiyo setzte, der auch mitkam, öffnete ihr Vater die Heckklappe und lud den Rucksack dort ab, bevor er nach vorne ging, um Ayakas Vater, Herrn Satoru Fukazawa, zu begrüßen.
 

Im Fond beäugten Ayaka und Ichiyo mittlerweile staunend den Rucksack. "Was hast du denn da nur wieder alles drinnen?" wollten sie wissen.
 

"Och das! Das ist mein Reiseproviant. Wollt ihr Kekse?" meinte Chihiro. Sie griff hinter sich, um den Rucksack aufzufummeln und holte Kekse heraus. Dabei konnte man erkennen, was alles im Rucksack drin war: Dutzende von eingepackten Butterbroten, eine vertraute Plastikschüssel, die mit Alufolie abgedeckt und wahrscheinlich mit Reisbällchen gefüllt war, eine Banane, ein Apfel, zwei Thermoskannen, eine Flasche mit Sprudelwasser und noch eine Packung mit Bonbons.
 

Als Ichiyo und Ayaka das sahen, nahmen sie beide artig einen Anstandskeks und ließen Chihiro den Rest der Packung. Beide beschlossen sie, kein Wort über den Rucksack zu verlieren.
 

"OK, ihr drei da hinten, jetzt geht's los", sagte Ayakas Vater Chihiro. "Schnallt euch an." Damit ließ er den Motor an und fuhr los. "Viel Spaß, Chihiro, und iss immer fleißig!" brüllte ihr Vater Akio winkend hinter ihnen her. Durch Zufall fiel Chihiros Blick kurz auf das Nachbarhaus, wo Bunzo finster brütend aus seinem Fenster sehend ihre Abfahrt beobachtete.
 

"So, ich mach jetzt mal die Fenster zu", sagte Herr Fukazawa, während er die entsprechenden Knöpfe betätigte und die Scheiben elektromotorisch hochfuhr. "Dann kann ich nämlich die Klimaanlage einschalten und uns wird nicht so warm." Es war etwa halb vier Uhr am Nachmittag und die größte Mittagshitze hatte gerade ihren Höhepunkt überschritten. Trotzdem war es noch unangenehm warm und die Sonne knallte auf das Autodach.
 

"Sagt mal, wisst ihr eigentlich, was Bunzo Abe jetzt macht?" fragte Chihiro ihre Freunde leise Ihr war flau geworden, als sie kurz in dessen dumpfe Augen geblickt hatte.
 

"Meinst du das alte Sackgesicht, das dir damals eine gewatscht hat?", frotzelte Ayaka. "Nö, keine Ahnung. Interessiert mich auch nicht."
 

"Den haben sie doch damals fast von der Schule geschmissen", antwortete Ichiyo ernsthaft, wie immer. "Erst nachdem sich herausgestellt hatte, dass es nicht die Ohrfeige gewesen war, die dich ins Krankenhaus gebracht hatte, durfte er wieder zur Schule zurück. Dann haben sie ihn aber in eine andere Klasse gesteckt."
 

"Aber das weiss ich doch schon alles", warf Chihiro leicht ungeduldig ein. "Nur was macht er denn jetzt?"
 

"Entschuldige bitte, Chihiro, dazu wollte ich gerade kommen", fuhr er fort. "Ich habe gehört, dass er von der ganzen Schule das schlechteste Abschlusszeugnis hatte und bei keiner privaten Mittelschule die Aufnahmeprüfung bestanden hat. Er geht jetzt auf die staatliche Mittelschule in Tochinoki."
 

"Ha, das geschieht ihm ganz recht!" stellte Ayaka schnippisch fest. "Komm, lass uns von was anderem reden. Wenn ich an den denke, wird mir schlecht ... Sagt mal, wusstet ihr eigentlich, dass Olli Kahn es mal geschafft hat, 803 Minuten ohne Gegentor zu bleiben? Und ..."
 

Chihiro musste an Herrn Abe denken, den sie als stillen und freundlichen Frührentner kennen gelernt hatte. Dass er mit so einem Sohn gestraft war, tat ihr Leid, aber sie wusste auch nicht, was sie da tun sollte. Dann musste sie an die ganze Zeit denken, die sie seit letztem Sommer mit lernen verbracht hatten. Sie selbst, Ayaka und Ichiyo hatten einander immer wieder gegenseitig abgefragt und die beiden hatten ihr auch alles gesagt, was sie auf der Juku gelernt hatten. Weil ihr gemeinsames Lernen dafür verantwortlich ist, dass sie die Karte für das Endspiel geschenkt bekommen hat.
 

Chihiro und Ichiyo hatten die beiden höchsten Punktzahlen bei der Aufnahmeprüfung an der privaten Mittelschule in Nakaoka erhalten, der besten in größerem Umkreis, aber auch Ayaka hatte es mit Ach und Krach gerade noch geschafft. Sie wurden jetzt jeden Morgen vom Schulbus abgeholt und in ihren noch ungewohnten Schuluniformen in das 15 km entfernte Städtchen gefahren.
 

Ayakas Vater hatte ihr versprochen, dass sie zum WM-Endspiel fahren dürfe, falls sie die Aufnahmeprüfung schaffen würde. Als Ichiyo davon gehört hatte, hatte er seine Eltern gefragt, ob er von seinem Ersparten auch ein Ticket für da Endspiel kaufen könnte. Nach seiner überzeugenden Aufnahmeprüfung hatten sie es ihm dann zum Geschenk gemacht.
 

Ayakas Vater hatte aber außer für sich selbst und Ayaka noch ein drittes Ticket gekauft, nämlich für ihren älteren Bruder Takumi. Der aber hatte gerade zum zweiten Male die Aufnahmeprüfung für die Universität vermasselt, weil er lieber auf Partys ging, als zu lernen. So hatte Herr Fukazawa ärgerlich beschlossen, dass sein Sohn zu Hause bleiben müsse, um zu lernen, und das Ticket vor dessen Augen Chihiro geschenkt.
 

Nachdem Chihiro irgendwann erfahren hatte, wie viel das Ticket gekostet hatte, war es ihr richtig peinlich gewesen, dass sie es in dieser Situation ohne nachzudenken angenommen hatte. Ayakas Vater hatte dafür nämlich 40.000 ¥ (ca. 370 €) bezahlt. Das waren zwar nur die billigsten Tickets, aber immerhin. Ihre Eltern hatten dann auch darauf bestanden, die Zugfahrkarte nach Yokohama für Chihiro zu bezahlen; so schwer es ihnen auch fiel.
 

Ihr Vater begann jetzt zwar so langsam mit seinem Hausverwaltungsbüro tritt zu fassen, aber die Gebühren für ihre neue Schule, die Schulbücher und die Kosten für die Schuluniform hatten ihre Eltern dennoch in so große Verlegenheit gebracht, sodass sie sogar eine Hypothek auf das Haus hatten aufnehmen müssen. Zum Glück waren die Zinsen in Japan so niedrig wie noch nie.
 

Den Prozess gegen die Krankenkasse um die hohen Ausgaben für Chihiros chronischen Heißhunger hatten sie zwar in erster Instanz gewonnen, aber die Krankenkasse war sofort in Revision gegangen und in der zweiten Instanz wurde nun mit Gutachten und Gegengutachten nur so um sich geworfen.
 

Nachdenklich schaute Chihiro zum Fenster heraus, während sie nur mit einem halben Ohr den Schwärmereien Ayakas über diesen deutschen Torhüter lauschte. Sie hatten gerade das Ortseingangsschild von Nakaoka passiert und würden in Kürze auf dem Weg zum Bahnhof an ihrer neuen Schule vorbeifahren. Dort wollte Herr Fukazawa das Auto in einem Parkhaus abstellen und sie würden den Rest der Reise mit dem Zug zurücklegen.
 

Vom Bahnhof hier in Nakaoka sollte sie der Regionalzug bis nach Nagoya bringen, wo sie dann den Tokaido-Sanyo Shinkansen nach Yokohama und Tokyo besteigen würden. Am Bahnhof Shin-Yokohama würden sie aussteigen, von wo sie nur noch einen knappen Kilometer bis zum "Yokohama International Sports Stadium" hätten, wo das WM-Endspiel zwischen Deutschland und Brasilien um 20:00 Uhr abends stattfinden würde.
 

Insgesamt dauerte die Reise von der Haustür bis zum Stadion mit allen Zwischenstopps und Wechseln der Fortbewegungsart gute drei Stunden und die Rückreise würde noch einmal so viel Zeit in Anspruch nehmen, sodass sie in den frühen Morgenstunden des folgenden Tages wieder zurückkommen würden.
 

"Und dann ist Olli Kahn auch insgesamt vier Mal deutscher Meister geworden mit seinem Verein Bayern München und hat letztes Jahr sogar die Vereinsweltmeisterschaft gewonnen", quatschte Ayaka ohne Unterlass und voller Begeisterung für ihr neues Idol.
 

"Verzeih bitte, Ayaka, aber wir werden Olli Kahn ja bald sehen", meldete sich mit freundlichem Tonfall Ichiyo zu Wort, "Schau mal, wir sind gleich am Bahnhof und auf dem Rest der Fahrt können wir ja Karten spielen"
 

Chihiro kannte Ichiyo mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass diese Äußerung einem Wutausbruch von ihm schon sehr nahe kam. Es bedeutete ungefähr Folgendes: "Kannst du dumme Kuh nicht mal 'ne andere Scheibe auflegen? Und den Rest der Fahrt will ich von dem doofen Kahn nix mehr hören!" Wenn er das so gesagt hätte, hätte Ayaka ihn bestimmt auch verstanden.
 

Lange Zeit hatte sie sich darüber gewundert, warum Ichiyo seine Zeit lieber mit zwei Mädchen verbrachte, als mit den anderen Jungen. Sie hatte sich dann gesagt, dass er mit den anderen Jungen nicht so gut klar kam, weil er so schüchtern war und vielleicht weil er dankbar war, dass sie ihn damals vor Bunzo gerettet hatte. Aber mittlerweile war in ihr ein anderer Verdacht gekommen.
 

Indem er sich nämlich an sie ranhängte, konnte er unauffällig auch in der Nähe Ayakas sein. Sie hatte dann begonnen, ihn ein wenig zu beobachten. Er bekam immer einen roten Kopf, wenn Ayaka dabei war und häufig, wenn er sich unbeobachtet glaubte, blickte er diese verträumt an. Ayaka, der alte Trampel, bemerkte das natürlich nicht und Ichiyo, da war sich Chihiro sicher, würde es ihr nie sagen.
 

So musste er jetzt da sitzen und zuhören, wie Ayaka von einem erwachsenen Mann offen schwärmte, den sie nicht mal kannte. Kein Wunder, dass er da ungehalten wurde. Und was war mit ihr selber? Chihiro schaute an sich hinunter und dann zu Ayaka. Bei der konnte man unübersehbare Anzeichen ausmachen, dass sie mitten in der Pubertät steckte und Ichiyo entwickelte mitunter den einen oder anderen Pickel und der Stimmbruch hatte auch schon eingesetzt.
 

Doch bei selbst ihr tat sich da noch gar nichts und würde sich auch in absehbarer Zeit nichts tun. Dr. Ito hatte sie darauf vorbereitet, dass es aufgrund ihres Untergewichts zu einer stark verzögerten Entwicklung kommen würde und vor dem 15. oder 16. Lebensjahr bei ihr nichts passieren würde.
 

Chihiro war es in ihrer alten Klasse auf der Grundschule gar nicht so aufgefallen, aber als sie das erste Mal auf ihrer neuen Schule in die neue Klasse gekommen war, hatten die anderen Schüler sie ausgelacht und wegschicken wollen.
 

Sie hatten gesagt, dass eine Drittklässlerin nichts auf einer Mittelschule zu suchen hätte, obwohl sie doch ihre nagelneue Schuluniform getragen hatte. Ayaka hatte sie dann energisch verteidigt und nach und nach hatten die anderen Schüler sie auch akzeptiert. Dennoch konnte sie die anderen Schüler verstehen, denn sie war, wie im Jahr zuvor, gerade mal um einen Zentimeter auf 1,22 Meter gewachsen und hatte nicht ein Gramm zugenommen.
 

Ayaka mit ihren jetzt fast 1,50 Metern und ihrer athletischen Fußballerstatur wog mittlerweile mehr als das Doppelte von Chihiro, die sich mit ihren dünnen Beinchen und Ärmchen neben ihrer Freundin so winzig ausnahm, dass niemand glaube mochte, dass sie beide gleich alt waren und in die gleiche Klasse gingen.
 

Jedenfalls wurden Chihiro, mit ihren absonderlichen Essgewohnheiten, die selbst im Unterricht essen durfte, und Ichiyo mit seiner selbst für japanische Verhältnisse übertriebenen Zurückhaltung und Höflichkeit, schnell zu Außenseitern abgestempelt. Dahingegen ließ Ayakas offene und manchmal etwas gedankenlose Art, sie schnell überall Anschluss finden.
 

So sorgte dann ihre selbstverständliche und bedingungslose Freundschaft ausgerechnet zu Chihiro und Ichiyo für einige Irritation unter den anderen Schülern. Aber bereits nach kurzer Zeit tat man dies achselzuckend ab und so wurden die beiden dank Ayaka auch problemlos in die Klassengemeinschaft integriert.
 

In diesem Moment bogen sie in das Parkhaus ein. Chihiro wollte sich schon umdrehen und die Keksschachtel zurück in ihren Rucksack tun, als sie bemerkte, dass sie, während sie nachdachte, die Kekse aufgemampft hatte.
 

Zwanzig Minuten später hatten sie in dem halb leeren Zug ein Abteil okkupiert, Chihiro hatte einen Stapel Butterbrote neben ihrer Thermoskanne mit grünem Tee auf dem Klapptisch vor sich aufgeschichtet und Ichiyo mischte bereits die Karten für eine Partie Poker, bei der auch Herr Fukazawa begeistert mitmachte.
 

Der Shinkansen erwies sich leider als vollkommen ausverkauft und da sie keine nebeneinander liegenden Sitze in einem der Großraumwaggons hatten, mussten sie das Kartenspiel einstellen. Das heißt, bis Ayaka die übrigen Zugpassagiere so weit genervt hatte, dass sie durch Platztausch alle wieder zusammensaßen.
 

Dies hatte allerdings so lange gedauert, dass Chihiro rechts durch das Panoramafenster des Waggons bereits den charakteristischen Landmark Tower * sehen konnte, während sich im linken Panoramafenster die gewohnte, aber immer wieder beeindruckende Kulisse des Fujiyama bereits nach hinten verabschiedete. In Kürze würden sie also in Yokohama einlaufen.
 

* http://www.jinjapan.org/atlas/architecture/arc10.html
 

Die Orientierung am Bahnhof in Yokohama fiel nicht schwer. Eine gute Stunde vor Spielbeginn brauchten sie sich nur an den Menschenmassen zu orientieren, die in Richtung Stadion strömten. Nach einigen Problemen, in das Stadion zu gelangen, wegen des Rucksacks voller Essen, was nicht sehr gerne gesehen war, hatten sie endlich ihre vier Plätze nahe unterhalb des Stadiondaches eingenommen und harrten der Dinge, die da kommen sollten *.
 

* <http://www.ndr.de/cgi/mf/abseits/wm2002/spielorte/yokohama/index.phtml>?
 

Der Anstoß sollte um Punkt 20:00 Uhr stattfinden. Vorher würden noch einige Reden gehalten werden und das auflockernde Vorprogramm hatte bereits begonnen. Nach Ende des Spiels würde die Siegerehrung stattfinden, gefolgt von der Abschlussveranstaltung und der Übergabe des Staffelstabes an den Ausrichter der nächsten WM im Jahre 2006: Deutschland.
 

Hierzu waren viele ungemein wichtige Leute im Stadion anwesend, wie etwa das Kaiserpaar, Kaiser Akihito und Kaiserin Michiko, der Ministerpräsident Koizumi, König Hussein von Jordanien, der südkoreanische Präsident Kim Dae-Jung, sowie der deutsche Kanzler Shloedel, der deutsche Präsident Lau und der deutsche Kaiser Beckenbauel. *
 

* Natürlich meine ich Kanzler Schröder und Bundespräsident Rau, aber da die Japaner R und L nur schwer unterscheiden können, hat Chihiro den Stadionsprecher eben so verstanden.
 

Wozu die Deutschen wohl einen Kanzler, einen Präsidenten und einen Kaiser brauchten? Man konnte es ja auch übertreiben.
 

Der Stadionsprecher gab Erklärungen darüber, welche sonstigen Prominenten noch alles zu Gast im Stadion seien, wie die Mannschaften ins Endspiel gekommen waren und versuchte sogar das Abseits zu erläutern. Chihiro glaubte jedoch nicht, dass irgendjemand diese Erklärung verstanden hatte und erinnerte sich an die endlosen Versuche Ayakas, ihr dieses Phänomen zu erklären, bis sie es schließlich selber kapiert hatte.
 

Nach etwa einer weiteren halben Stunde erschienen die ersten Spieler auf dem Platz, um sich warmzulaufen und um die Atmosphäre in sich aufzunehmen, wie Ayaka fachmännisch erklärte.
 

Herr Fukazawa hatte mittlerweile feierlich aus einem kleinen Alukoffer sein neues Fernglas hervorgeholt. Ein Fernglas mit elektronischer Entwackelung, wie er stolz erklärte, ein Canon 15x50 IS AW *. Als Chihiro das Fernglas ausprobieren durfte, fand sie, dass es viel zu schwer war; sie konnte es kaum halten.
 

* http://www.canonbinocular.com/18x50is/index.html
 

Die Entwackelung aber funktionierte sehr gut. Man musste nur einen Knopf an der Oberseite drücken und im Inneren lief kaum hörbar eine Kreiselstabilisierung hoch, die das Wackeln der Hände ausglich, sodass man ruhig und entspannt beobachten konnte.
 

Kurz darauf nahm die Veranstaltung ihren Lauf, die Kanzler, Präsidenten, Könige und Kaiser richteten bedeutsame Worte an die zuschauende Weltöffentlichkeit und die Mannschaften betraten das Spielfeld. Hiernach kam es zur Vorstellung derselben, mit allen Spielern, den Trainern und zuletzt den Schiedsrichter. Der Hauptschiedsrichter stellte sich als ein Glatzkopf aus Italien heraus, dessen Aussehen Chihiro an einen Totenschädel erinnerte.
 

Er begrüßte jeden der Spieler persönlich mit Handschlag, bevor sich die beiden Mannschaften rechts und links von der Mittellinie in einer Linie aufstellten, die Schiedsrichter in der Mitte. Dann standen alle auf und die Nationalhymnen erklangen.
 

Damit sie überhaupt noch etwas sehen konnte, stellte Chihiro sich einfach auf ihren Sitz, von wo aus sie etwas gelangweilt zu den Spielern herunterblickte, die tapfer mitzusingen schienen. Wann ging es denn nun endlich los?
 

Da stutzte sie plötzlich. Da war doch was, irgendeine Bewegung direkt vor den Spielern. Sie blickte sich um, aber niemand schien etwas zu bemerken. Dann rieb sie sich die Augen und schaute noch einmal genauer hin. Es war ein Mann, halbtransparent und seltsam unscharf, ein Mann in einer merkwürdigen Tracht, der ebenso merkwürdige Gesten vor jedem einzelnen der Spieler ausführte. Unwillkürlich hatte Chihiro den Eindruck, dass der Mann diese irgendwie zu segnen schien.
 

"Ayaka, könntest du mir mal das Fernglas geben?" fragte sie ihre Freundin. Die machte eindringlich "Schschschscht!", drückte ihr aber das optische Wunderwerk ansonsten kommentarlos in die Hand. Mit fünfzehnfacher Vergrößerung und elektronischer Entwackelung rückte Chihiro dem Unbekannten nun zu Leibe.
 

Doch da war nichts, überhaupt nichts zu sehen. Sie sah noch einmal ohne Fernglas hin. Da war er wieder, klarer als zuvor. Je mehr und länger sie sich auf die Gestalt konzentrierte, um so realer schien sie zu werden, bis Chihiro genau erkennen konnte, dass der Mann eine alte Hoftracht aus der Heian-Zeit trug und in der rechten Hand eine Art weißen Ball hielt, mit dem er kreisende Bewegungen bei jedem Spieler ausführte.
 

Noch einmal versuchte sie ihn durch das Fernglas genauer zu erkennen, aber sobald sie durch die teure Optik blickte, war der Mann einfach verschwunden.
 

Mittlerweile hatte der Mann den Brasilianer Ronaldo erreicht, den einzigen Spieler, den Chihiro neben Olli Kahn noch kannte und das auch nur, weil dieser vor dem Torwart Ayakas großes Idol als Stürmer gewesen und in vielfacher Ausfertigung an den Wänden ihres Zimmers zu bewundern war. Angestrengt versuchte sie Genaueres zu erkennen und konzentrierte sich verzweifelt auf die immer noch schemenhafte Gestalt.
 

Doch plötzlich war es, als würde sie mit dem Scharfstellrad des Fernglases in den Fokus rutschen, und sie konnte den Mann genauso gut erkennen, wie die Spieler, vor denen er stand. Im gleichen Moment zuckte dieser zusammen, als hätte ihn eine Biene in den Nacken gestochen. Er begann sich ein wenig verwirrt umzuschauen, während er gleichzeitig Ronaldo weiterhin "segnete".
 

Chihiro Herz begann ihr bis zum Hals hinauf zu schlagen. Was, wenn er mich entdeckt, dachte sie erschrocken und im selben Moment war es auch soweit. Ihre Blicke trafen sich für einen kurzen und doch unendlich langen Augenblick. Dann begann er langsam, aber herzlich zu lächeln, zwinkerte verschmitzt mit den Augen und winkte ihr freundlich mit der freien linken Hand zu.
 

Während dieser ganzen Zeit führte er unaufhörlich seine kreisenden Bewegungen mit der rechten Hand, in der er immer noch den Ball hielt, vor und über Ronaldo fort, der langsam immer selbstsicherer wirkte. Als der Mann sich Ronaldo wieder zuwandte, führte er seine Handlung dann noch kurz fort, bevor er diese mit offensichtlichem Erschrecken abrupt beendete, einen Schritt zur Seite machte und mit dem "Segnen" bei dem nächsten Spieler fortfuhr, als wäre nichts geschehen.
 

Zur Sicherheit wuchtete Chihiro das optomechanische Präzisionsinstrument noch einmal an ihre Augen, aber ebenso wie der Mann auf der Großbild-Videoleinwand von den Fernsehkameras nicht gezeigt wurde, war er auch beim Blick durch das Fernglas einfach nicht vorhanden.
 

Verstohlen blickte sie sich noch einmal um. Wenn die anderen jemanden unten bei den Spielern sehen könnten, der auf der Videoprojektion nicht zu sehen ist, hätte das sicherlich doch für einen Tumult gesorgt.
 

Da aber niemand reagierte, musste Chihiro davon ausgehen, dass die anderen den Mann nicht sehen konnten. Sie hatte in der letzten Zeit ja einige wirklich merkwürdige Erfahrungen gemacht, sodass sie sich nicht wirklich wunderte oder an ihrem Verstand zu zweifeln begann. Vielmehr war sie eher neugierig Sie wollte wissen, wer das da unten war, und was er dort tat.
 

Mittlerweile hatte der Mann in der mittelalterlichen Hoftracht den letzten Spieler in der Reihe abgefertigt und die Nationalhymnen waren verklungen. Der glatzköpfige Schiedsrichter Collina hatte die beiden Mannschaftskapitäne, einen gewissen Cafu für Brasilien und natürlich Olli Kahn für Deutschland zu sich geholt, um mit einem Münzwurf darüber zu entscheiden, wer den Anstoß ausführen durfte, wie der Stadionsprecher erklärte.
 

Das interessierte Chihiro im Moment jedoch nur peripher. Immer noch auf ihrem Sitz stehend, während alle um sie herum bereits Platz genommen hatten, beobachtete sie, wie der Mann würdevoll zum Spielfeldrand in Richtung des Stadiontors schritt, alldieweil die Spieler sich auf dem Rasen verteilten. Laute Sprechchöre feuerten entweder die Deutschen oder die Brasilianer an und es herrschte ein fast ohrenbetäubender Lärm.
 

Chihiro wollte jetzt unbedingt wissen, was das für eine Figur war, die sich da vor aller Augen und trotzdem unsichtbar an den Spielern zu schaffen gemacht hatte. Wortlos stieg sie vom Sitz herunter und drückte Ayaka das Fernglas in die Hand, um sich dann an den sitzenden Zuschauern vorbei in Richtung Ausgang zu quetschen.
 

"Chihiro, wo willst du denn hin?" brüllte Ayaka ihr verblüfft hinterher, als sie Chihiros Abgang bemerkte. "Du kannst doch jetzt nicht gehen. Das Spiel fängt doch an!"
 

"O, äh, ich äh, ich muss nur mal kurz austreten", brüllte Chihiro zurück, indem sie die Hände zu einem Trichter vor dem Mund formte. Dann setzte sie ihren Weg fort und hatte kurz darauf den vollständig verwaisten Aufgang erreicht.
 

Hastig rannte sie die Treppe hinunter, um den Mann, der bald in den Katakomben des Stadions angelangt sein musste, noch abzufangen. Es ging aber leider nicht so schnell, wie sie sich gedacht hatte, weil sie an jedem zweiten Treppenabsatz vor Schwäche eine kurze Pause einlegen musste. Nicht etwa, dass sie außer Atem geraten wäre. Immer öfter in letzter Zeit wünschte sie sich, dass sie sich überhaupt so stark anstrengen könnte, um außer Puste zu kommen oder sogar ins Schwitzen zu geraten.
 

Aber es ging einfach nicht, denn immer schon lange bevor es soweit war, ging ihr einfach die Kraft aus, als ob sie jemand aus ihrem Körper heraussaugen würde. Und jetzt hinderte es sie daran, so schnell wie möglich nach unten in die Katakomben zu eilen.
 

Endlich unten angelangt, musste sie leider feststellen, dass die entscheidenden Bereiche der Katakomben und insbesondere der Zugang zum Spielfeld mit Barrieren abgesperrt waren, die von Sicherheitsleuten und der Polizei bewacht wurden.
 

Man scheuchte sie nicht weg, denn welche Gefahr sollte ein kleines Mädchen schon darstellen, sondern ignorierte ihre Anwesenheit einfach. Da musste man doch irgendwie vorbei kommen, überlegte Chihiro leicht genervt. Sie zog sich etwas zurück, um die Angelegenheit ein wenig aus der Ferne zu beobachten.
 

Um die Absperrung herum gab es ordentlichen Betrieb. Fernsehteams passierten die Barriere, nicht ohne gründlich kontrolliert worden zu sein, an einer Seite saßen offensichtlich Journalisten auf dem Boden, die hektisch die Tastaturen ihrer Laptops bearbeiteten und einmal versuchte eine Person ohne Ausweis an der Absperrung vorbei auf das Spielfeld zu gelangen.
 

Doch Chihiro musste nicht lange warten, denn schon erschien der Mann in seiner mittelalterlichen Tracht, ging würdevoll zwischen den Wachmännern und Polizisten hindurch, als wären diese nicht vorhanden und schritt einfach durch die Absperrung hindurch, als wäre diese immateriell. Offenbar ohne dass jemand außer Chihiro ihn wahrnahm, wandelte er majestätisch den Hauptkorridor der Katakomben entlang, vorbei an ihrer Position, wo sie so tat, als würde sie den Mann ebenfalls nicht sehen.
 

Plötzlich bog er nach rechts ab und marschierte zielstrebig auf eine Seitentür zu, während im Stadion die Menge tobte. Er sah kurz nach rechts und links, als befürchtete er, dass ihn jemand beobachtete, bevor er dann die Türklinke herunterdrückte und energisch durch die Tür hindurchtrat.
 

Kaum war er hinter der Tür verschwunden, eilte Chihiro hinter ihm her. Vor der Tür angelangt zögerte sie noch kurz. Vielleicht war es ja gefährlich, den Mann zu verfolgen und sie wusste auch nicht, was sich hinter der Tür verbarg. Vorsichtshalber überprüfte sie deshalb noch einmal den korrekten Sitz ihres violetten Haarbandes. Doch es war da, wo es sein sollte, hielt ihren Zopf zusammen und gab ihr die notwendige Sicherheit und Zuversicht.
 

Vorsichtig drückte sie die Türklinke ebenfalls herunter, schob die schwere Feuerschutztür einen Spalt auf, durch den sie linste. Hinter der Tür befand sich ein weiteres, von Leuchtstoffröhren erhelltes Treppenhaus, welches tiefer hinein in die Eingeweide des Sporttempels führte.
 

Gut fünf Meter ging es noch in die Tiefe, bevor Chihiro den Grund erreichte, wo sich eine weitere Tür gegenüber des Treppenabsatzes befand, die der geheimnisvolle Mann passiert haben musste, denn ansonsten gab es keinen weiteren Weg.
 

Hinter dieser Tür war deutlich das Summen von Maschinen zu hören, während die Geräusche der Menschenmasse über ihr nur noch stark gedämpft herunterdrangen. Es roch deutlich nach feuchtem, unbehandeltem Beton, überlagert von einem leichten chemischen Geruch.
 

Chihiro konnte sich nicht entscheiden, ob sie weitergehen oder ob sie besser umkehren sollte. Angst und Neugier hielten sich im Moment in etwa die Waage. Dann gewann die Neugier und sie öffnete die Tür.
 

Die Maschinengeräusche, die vorher nur schwach zu hören gewesen waren, wurden mit einem Mal lauter. Sie trat durch die Tür hindurch und fand sich in einem kahlen und funktionellen Gang wieder, der sich nach rechts und links endlos zu erstrecken zu schien. Unter seiner Decke verliefen dick gedämmte Rohre und an den Wänden waren offene Kabelführungen angebracht. Der Gang war leicht gekrümmt und schien unterirdisch einmal rings um das Stadion zu führen.
 

Mit gemischten Gefühlen trat Chihiro in den Gang hinaus und überlegte, in welche Richtung der Mann wohl gegangen sein mochte. Wenn der Gang aber tatsächlich einmal rings um das Stadion führte, mochte es ja auch egal sein, welche Richtung sie einschlug. Letztendlich würde sie ebenfalls Fall dort vorbei kommen, wo der Mann entlang gegangen sein musste.
 

Ihrer Intuition folgend, wandte sie sich nach links und begann, dem Gang zu folgen. Nach vielleicht 100 m stieß sie auf eine Abzweigung nach rechts, einen weiteren Gang, der genau so aussah, wie der Hauptgang, und dessen Ende sich in der Ferne verlor. Sie wollte schon daran vorbei gehen, als sie stutzte. Neben dem Seitengang, an der Wand des Hauptganges, war eine kleine Zeichnung angebracht, die sie erschauern ließ.
 

Es war die Zeichnung eines grinsenden Steinkopfes, genau eines solchen Steinkopfes, wie er auch bei ihr im Wald vor dem Tunnel durch das rote Gebäude stand. Mit heftig pochendem Herzen trat sie einen Schritt näher, um die Zeichnung genauer in Augenschein zu nehmen.
 

"Hallo, kleines Mädchen", hörte Chihiro plötzlich eine sanfte, freundliche Stimme hinter sich. "Du interessierst dich wohl sehr für Fußball, oder?"
 

Erschrocken wirbelte Chihiro herum. Der Mann stand nur etwa einen Meter von ihr entfernt und sie konnte sich überhaupt nicht erklären, wo er auf einmal hergekommen war, denn beide Gänge waren eben noch leer gewesen. Das erinnerte sie ganz stark an die Art, wie Manami manchmal auftauchte, wenn sie am See im Wald zum Baden waren.
 

Im Licht der Leuchtstoffröhren konnte sie jetzt die ganze Pracht des golddurchwirkten Seidenstoffes erkennen.
 

Der Mann hatte ein freundliches, offenes Gesicht und der Schalk blitzte ihm aus den Augen. Auf dem Kopf trug er einen schwarzen Eboshi und seine Hände hatte er in den weiten Ärmeln seines Gewandes verborgen. Doch obwohl sie jetzt direkt vor dem Mann stand, konnte Chihiro überhaupt nicht abschätzen, wie alt der Mann überhaupt war. Genau wie bei Manami.
 

Weil sie nicht wusste, was sie darauf erwidern sollte, verbeugte sie sich vor dem Mann und sagte: "Guten Abend."
 

"O, ja äh, so viel Zeit muss sein. Du bist ja die kleine Sen, nicht wahr? Kein Wunder, dass du mich gesehen hast. Guten Abend, Sen", gab er zurück und verbeugte sich ebenfalls. "Entschuldige, ich habe es ein wenig eilig, sonst würde ich mich noch ein wenig mit dir unterhalten. Ach, mein Name ist übrigens Seidaimyojin. So, jetzt muss ich aber wirklich weg, damit ich rechtzeitig zur zweiten Halbzeit wieder hier bin."
 

Er wühlte ein wenig in seinen weiten Ärmeln, wobei der feine Seidenstoff leise raschelte, und holte dann den weißen Ball hervor, mit dem er vorhin vor den Spielern herumgefuchtelt hatte. "Hier, den schenke ich dir. Jetzt geh wieder brav nach oben und schau dir das Spiel an, ja? Auf Wiedersehen, Sen", sagte er, drückte Chihiro den Ball in die Hände und rauschte in den Seitengang, wobei er murmelte: "Ich hoffe doch nur, ich habe bei Ronaldo nicht zu viel ..."
 

Dann war er verschwunden, einfach weg. Chihiro blickte vorsichtig in den Seitengang hinein, aber der sah genau so aus wie zuvor.
 

Neugierig nahm sie dann ihr Geschenk in Augenschein. Der Ball bestand aus feinem weichem Leder, das angenehm duftete, hatte einen Durchmesser von vielleicht 25 cm und war federleicht. Chihiro hatte den starken Eindruck, dass der Ball ziemlich wertvoll war.
 

So etwas Wertvolles konnte sie doch nicht einfach so annehmen und außerdem, was sollte sie den anderen erzählen, woher sie den Ball auf einmal hatte? Den konnte sie auf gar keinen Fall behalten.
 

Diesem Impuls folgend, betrat Chihiro den Seitengang, wo sofort ein nur allzu vertrauter Sog einsetzte. Das entfernte Ende des Ganges schien zu verschwimmen und machte einem vertrauten Umriss mit runder Gewölbedecke platz.
 

Schlagartig wurde ihr klar, was das hier sein musste. Es war ein ebensolcher Durchgang, wie der Tunnel im Wald und wenn sie hindurchging, würde sie bestimmt in dem Wartesaal landen. Dorthin musste dieser Seidaimyojin verschwunden sein!
 

Sich einen Ruck gebend, marschierte Chihiro in den Gang hinein. Wie erwartet und ohne sich irgendwie zu wundern, kam sie in dem verlassenen Wartesaal heraus. Seidaimyojin war jedoch nicht hier! Draußen vor dem Ausgang herrschte eine goldene Abendstimmung und sie schaute sich noch außerhalb vor und hinter dem Gebäude um, aber dieser Seidaimyojin war nirgendwo zu sehen.
 

Sanft strich der Wind über die grasbewachsenen Hügel, trug einen leichten, würzigen Duft nach Blumen und feuchtem Gras mit sich und die tief stehende Abendsonne tauchte die Landschaft in ein märchenhaftes Licht. Leise war in der Ferne das Rattern eines fahrenden Zuges zu hören. Einige Minuten ließ Chihiro diese Eindrücke auf sich wirken, während sie überlegte, was sie nun tun sollte.
 

Sie hatte im Moment eigentlich noch keine Lust wieder ins Stadion zurückzukehren, zurück in dieses Getöse um ein Spiel, das sie nicht wirklich interessierte. Viel spannender fand sie derzeit die Frage, ob sie jetzt von hier aus zu sich nach Hause oder noch besser zum See gelangen konnte. Dann wäre sie ja innerhalb nur weniger Minuten von Yokohama in die Nähe ihres Zuhauses gelangt. Eine Strecke, für die man mit Auto und Zug über drei Stunden brauchte.
 

Den weißen Ball unter den Arm geklemmt ging sie zurück zum mittleren Tunnel, dachte intensiv an den See, ging in das Tor hinein und hindurch.
 

"Hallo Chihiro", begrüßte sie Manami, die es irgendwie schaffte, sich im Schneidersitz oben auf dem Grinsestein zu halten. "Was machst du denn hier? Wolltest du nicht nach Yokohama fahren, zu diesem Fußballdings?" Offenbar hatte sie gerade versucht, da oben auf dem Stein zu meditieren.
 

"Hallo Manami", sagte Chihiro leicht verlegen, denn eigentlich mochte sie Manami nicht anlügen. Doch sollte sie ihr jetzt die Wahrheit sagen? Jedes Mal, wenn sie, Ayaka und Ichiyo im vergangenen Jahr an den See zum Baden gekommen war, war Manami über kurz oder lang zu ihnen gestoßen, hatte ihnen Geschichten erzählt, mit ihnen gespielt oder sich einfach nur mit ihnen unterhalten.
 

Am Anfang war sie immer einfach aufgetaucht, wie aus dem Nichts. Ayaka und Ichiyo hatte das immer stark irritiert, weshalb sie der Frau gegenüber zurückhaltend und misstrauisch geblieben waren, wohingegen Chihiro Manami gleich gemocht hatte. Aber nach einer Weile hatte sie begonnen, von irgendwo her zu ihnen zu kommen, aus dem Wald, aus dem Schilf am Seeufer oder um den See herum geschlendert.
 

Nach und nach begannen ihre Freunde dann ebenfalls Zutrauen zu Manami zu fassen. Erst gestern noch waren sie am See gewesen, hatten Manami alles über das WM-Finale erzählt und Ayaka hatte sie mit einer Komplettbiografie von Olli Kahn zugetextet. Diese hatte ihr geduldig zugehört und nicht das geringste Anzeichen von Ungeduld oder Desinteresse gezeigt.
 

"Chihiro, du kannst mir ruhig die Wahrheit sagen", munterte Manami das zögernde Mädchen auf. "Ich habe bemerkt, dass du nicht von der anderen Seite aus dem Wald gekommen bist. Du hast das Tor benutzt, das Tor zu der anderen Welt, der Welt der Götter und Geister, nicht wahr?"
 

Chihiro fühlte sich ertappt und hauchte mit gesenktem Blick ein: "Ja, Manami."
 

"Na komm, ist ja nicht schlimm", beruhigte Manami sie und sprang gewandt von dem Stein herunter. "Möchtest du mal sehen, wo ich wohne? Komm, ich zeig's dir." Sie kam zu Chihiro, nahm sie an der Hand und zog sie den Weg entlang in Richtung des Sees.
 

"Du, Manami, sag mal, kennst du einen Herrn Seidaimyojin?" fragte Chihiro, ihr erwartungsfroh folgend. Sie wollte immer schon wissen, wo Manami eigentlich wohnte, denn außer dem roten Gebäude gab es in der Nähe des Sees kein weiteres Haus.
 

Manami hielt inne und blickte Chihiro verwundert an. "Zeig mir doch mal den Ball her", bat sie dann nach einer kurzen Denkpause, "Bitte Chihiro"
 

Diese tat Manami den Gefallen und Manami untersuchte den Ball eingehend. "Wow, der ist ja tatsächlich echt!" staunte sie und fuhr dann fort: "Da bist du dem alten Narren tatsächlich begegnet. Den hat er dir geschenkt, ja? Aber es war ja eigentlich damit zu rechnen, dass er in Yokohama bei diesem Fußballdings sein würde"
 

"Sooo alt schien er aber gar nicht zu sein", entgegnete Chihiro und da Manami ihn tatsächlich zu kennen schien, bohrte sie weiter: "Ja, aber wer ist denn nun dieser Herr Seidaimyojin, Manami?"
 

"Hat man euch das in der Schule denn nicht erzählt?" meinte diese daraufhin, "Seidaimyojin ist der Gott des Sports, insbesondere des Fußballs. Ich wette, er hat mal wieder die Spieler heimlich mit einem Aufputschzauber behandelt, damit es ein besseres, flotteres Spiel gibt, der Quatschkopp. Ach, und das hier ist ein Kemari Ball, einer uralten japanischen Form des Fußballs. Er ist aus feinem weißem Hirschleder gemacht" * Sie gab Chihiro den Ball zurück, die ihn mit weit aufgerissenen Augen wieder entgegen nahm.
 

* ) <http://www10.ocn.ne.jp/~siramine/page025.html#>

http://ww2.enjoy.ne.jp/~tia/en/vol32/culture.htm
 

"Komm, ich zeig dir jetzt mein Haus und dort können wir uns ja in aller Ruhe weiter unterhalten", forderte Manami sie wieder auf und ging weiter zum See hin. "Ich wollte dir sowieso mal ein paar Fragen stellen, ohne dass deine beiden Freunde dabei sind."
 

Chihiro trottete leicht verwirrt hinter ihr her. Am Seeufer angelangt, sagte Manami: "So, jetzt sind wir fast da. Am besten ist, wenn du deine Schuhe und Socken ausziehst. Barfuß geht es sich einfach besser!"
 

Jetzt war Chihiro endgültig perplex. Wo sollte denn hier ein Haus sein und warum sollte sie ihre Schuhe ausziehen? Trotzdem tat sie, was Manami wollte, denn sie vertraute ihr und wusste nicht, was sie sonst hätte tun sollen. Manami nahm sie wieder an der Hand, als Chihiro ihre Schuhe, in die sie die Socken gestopft hatte, zusammengebunden um den Hals gehängt hatte. Dann tat Manami etwas, was Chihiro endgültig an ihrem Verstand zweifeln ließ: Sie ging in den See hinein.
 

Da sie Chihiro an der Hand gepackt hatte, musste diese hinterher, ob sie nun wollte oder nicht. Nach ein paar Metern schaute sie irritiert nach unten, denn merkwürdigerweise wurden ihre Füße gar nicht nass. Dann stellte sie erstaunt fest, dass sie und Manami auf dem Wasser zu gehen schienen, welches sich kühl, trocken und leicht gummiartig federnd anfühlte. Bei jedem Schritt breiteten sich ringförmige Wellen aus.
 

Abrupt blieb sie stehen. Das war jetzt einfach zu viel. "Manami? Duhu, wir gehen auf dem Wasser?" vergewisserte sie sich. Manami grinste sie an: "Genau! Ist nicht mehr weit. Komm weiter!"
 

Mehr von Manami gezogen, als dass sie von alleine ging, bewegten sie sich immer weiter auf den See hinaus. Als sie mehrere hundert Meter vom Ufer entfernt fast in der Mitte des Sees angelangt waren, blieb Manami endlich stehen. "So, jetzt sind wir da", verkündete sie freudestrahlend und Chihiro entgegnete unsicher, nachdem sie sich umgeschaut hatte: "Ja aber, hier ist doch nichts."
 

Nachdenklich blickte Manami zu ihrer kleinen Freundin hinab, ließ sie nach kurzem Zögern los und ging noch einen weiteren Schritt nach vorne. Dort machte sie eine weit ausholende Geste mit beiden Armen und es war, als würde die Luft vor ihnen kurz wabern. Dann schien eine Art billige Überblendung wie aus einem zweitklassigen Fernseh-Science-Fiction stattzufinden und innerhalb weniger Sekunden erschien Manamis Domizil vor ihren Augen.
 

Auf einer etwa 30 cm erhöhten und vielleicht 20 x 20 Meter großen Plattform war ein klassischer Tempelbau erschienen, ein kleiner Schrein mit einem übergroßen, prächtigen, pagodenförmigen Dach. Das an sich wäre ja nicht weiter erstaunlich gewesen, wenn man einmal von dem Standort des Gebäudes in der Mitte eines Sees absah. Das Material jedoch, aus dem der Schrein bestand, stürzte Chihiro erneut in größte Verwirrung.
 

Er bestand nicht etwa aus Holz oder Stein oder Eisen oder sonst irgendeinem festen Material. Der gesamte Schrein war weitestgehend durchsichtig und bestand offenbar vollständig aus Wasser!
 

Wie selbstverständlich betrat Manami die Plattform und ging einige wenige Schritte in Richtung der Eingangstür, wo sie sich umdrehte, die Arme ausbreitete und Chihiro glücklich anlächelte. "Das hier ist mein Zuhause", frohlockte sie. "Ist es nicht wunderschön? Wenn du heraufkommst, zeige ich dir auch gerne das Innere."
 

Unsicher eierte Chihiro näher und stellte vorsichtig einen Fuß auf die Plattform, die völlig real und solide zu sein schien. Sie stieg herauf, ging ein paar Schritte in Manamis Richtung und beobachtete dabei, wie kleine Wellen die nachempfundene Holzmaserung durchliefen. Am Eingang zum Inneren des Schreins angelangt, durch den Manami nun mit einer einladenden Geste zu Chihiro hindurchtrat, hielt sie kurz inne und glotzte wie blöd auf den rechten Türpfosten.
 

Dort schwamm in Zeitlupe und aller Seelenruhe ein Fisch mit gelangweilter Mine, ein etwa 30 cm großer Karpfen, wenn sie in der Schule richtig aufgepasst hatte, senkrecht nach oben in Richtung des Daches, fleißig Wasser durch seine Kiemen pumpend.
 

Unwillkürlich berührte Chihiro den Türpfosten auf Höhe des Karpfens, um zu überprüfen, ob der Fisch auch echt und nicht eingebildet war. Der Pfosten, der zunächst fest war, gab dann mit einem Mal nach und Chihiros Hand glitt in den Pfosten hinein, der nun so nass war, wie Wasser sein sollte. Dort patschte sie mit ihrer Hand gegen den Karpfen, der daraufhin erschrocken nach oben jagte und blitzschnell außer Reichweite schoss.
 

Fünf Minuten später hatte Chihiro im Hauptraum des Tempels im Schneidersitz auf etwas Platz genommen, das aus Wasser bestand, sich aber wie eine Tatami-Matte anfühlte, trocken und weich. Manami servierte ihr aus einer wässernen Kanne heißen grünen Tee, den Chihiro aus einer ebenfalls wässernen Tasse trank.
 

Irgendwo über ihrem Kopf schwamm ein Karpfen herum und im Moment tummelten sich einige Kaulquappen in der Platte des niedrigen Tisches, an dem sie saßen. Chihiro hatte den Ball aus weißem Hirschleder auf den Tisch gelegt, und beobachtete nun, wie er langsam auf der Tischplatte schwimmend hin und her trieb.
 

Von draußen drang das warme Licht der tief stehenden Sonne, die allzu bald im Wald versinken würde, durch die angrenzende Wand herein, und erzeugte eine Stimmung, als wären sie auf dem Grund eines Schwimmbeckens. Aber Chihiro war das jetzt alles egal. Sie war einfach glücklich und zufrieden mit ihrem Tee, an dem sie mehrfach nippte, und hatte ein Gefühl, als würde sie schweben.
 

"Und, wie gefällt es dir?" wollte Manami nach einer angemessenen Gewöhnungszeit wissen.
 

Chihiro schreckte hoch, als wäre sie aus einem Traum aufgewacht und starrte kurz in ihre Teetasse, bis ihr Manamis Frage vollständig ins Bewusstsein gedrungen war. Dann sagte sie: "Es ist, na ja, ich weiß nicht wie ich es sagen soll, es ist sehr, äh, speziell."
 

"Schade. Soll das bedeuten, dass es dir nicht gefällt?" Manamis Gesicht zeigte eine leichte Enttäuschung.
 

"Nein, Manami. Es heißt nur, dass ich mich erst daran gewöhnen muss", sagte Chihiro langsam. "Das ist alles sehr neu für mich, weißt du" Sie überlegte eine Weile, richtete dann ihren Blick konzentriert auf ihre Freundin und wollte wissen: "Manami, wer bist du nur?"
 

"Also gut, ich werde es dir sagen. Du musst wissen, dass ich es noch nie zuvor einem Menschen gesagt habe", erwiderte sie mit ungewohntem Ernst. "Mein vollständiger Name lautet: Shizunami Manami Nushi." Sie verbeugte sich kurz vor Chihiro. "Ich bin die Göttin des Sees, Chihiro. Jetzt habe ich mich dir vorgestellt, und nun sag mir bitte, wer du bist"
 

Daran hatte Chihiro eine Weile lang zu knabbern, aber Manami zeigte keinerlei Anzeichen der Ungeduld, während sie auf die Antwort wartete.
 

"Ich äh, ich bin Ogino Chihiro und ich bin ein Mensch", gab sie nach einer Weile angestrengten Nachdenkens zurück. Was sollte sie auch sonst sagen?
 

"Siehst du. Ich kann zwar keinerlei Falschheit in deiner Antwort erkennen, aber trotzdem kann ich das nicht glauben. Du scheinst selbst nicht zu wissen, wer oder was du bist", entgegnete die Göttin ruhig, "lass uns doch mal versuchen, zusammen etwas herauszufinden"
 

"Aber warum sollte das denn falsch sein?" fragte Chihiro kleinlaut und fuhr dann trotzig fort: "Mein Papa ist Akio Ogino und meine Mutter ist Yuuko Ogino. Beide sind Menschen, also ist das wahr, was ich gesagt habe!"
 

Daraufhin musste Manami lächeln. "Ich glaube dir ja, dass du glaubst, dass das richtig sei, aber es gibt da so einige Punkte", führte sie aus. "Zunächst einmal, du siehst aus wie ein Mensch, riechst wie ein Mensch, benimmst dich wie ein Mensch und deine Eltern sind Menschen. Auf den ersten Blick scheint alles an dir menschlich zu sein."
 

Dies sprach alles für Chihiros menschliche Abstammung, dann jedoch rückte Manami mit ihren Argumenten heraus: "Aber: Du kannst die Tore benutzen, Chihiro. Die lassen normalerweise keine Menschen passieren. Du verfügst zumindest über rudimentäre magische Fähigkeiten, obwohl ich den Verdacht habe, dass sie ziemlich ausgeprägt sind und es dir nur jemand mal richtig beibringen müsste"
 

"Was denn für magische Fähigkeiten?" Chihiro musste unwillkürlich an den Papierschnipsel denken, den die durch den Raum hatte schweben lassen. Sie hatte es nach dem ersten Mal noch mehrfach versucht und es hatte auch geklappt. Dann hatte sie es aber irgendwann aufgegeben, weil es immer furchtbar anstrengend gewesen war, und wegen der heftigen Kopfschmerzen, die sie bekam, wenn sie es zu lange versuchte.
 

"Hihi, du merkst es ja nicht mal. Als wir vorhin über meinen See gegangen sind, da habe ich dich bei der Hand genommen und mit meiner Zauberkraft dafür gesorgt, dass du auf dem Wasser gehen konntest und nicht versinkst. Als wir an meinem Haus angelangt sind, erinnerst du dich, da habe ich dich losgelassen. Seitdem stehst du von ganz alleine auf dem Wasser! Glaub mir, ich helfe dir nicht."
 

"Und was ist, wenn ich versunken wäre?" entfuhr es Chihiro erschrocken nach dieser Offenbarung von Manami.
 

"Du kannst schwimmen, das habe ich doch gesehen. Außerdem hätte ich dich dann wieder herausgeholt", entschuldigte sich Manami. "Ich glaube dir ist noch nicht klar, dass du's noch immer tust. Was glaubst du eigentlich, woraus dieses Haus ist, hm? Es ist aus Wasser! Und Wasser ist flüssig!" Zur Demonstration steckte sie ihre rechte Hand in den Boden und rührte ein wenig in der Wasser-Tatami-Matte herum.
 

Wie hypnotisiert glotzte Chihiro auf Manamis Hand, als sie diese wieder aus dem Boden heraus zog und die Matte wie durch Zauberei, nein es war ja Zauberei, erneut ihre alte Form annahm. Einer plötzlichen Eingebung folgend und um das Gesehene zu überprüfen, steckte sie selbst ihre rechte Hand in den Boden.
 

Mit einem kleinen Spritzer drang die Hand problemlos in die Matte ein. Sie war nass und flüssig und eben ziemlich wässerig. Wie konnte sie dann darauf sitzen? In diesem Moment wurde ihre Hose auch schon nass. Mit einem Mal begann sie in den Boden einzusinken, schneller und immer schneller. Es machte "platsch", als sie letztendlich in den See ein- und untertauchte.
 

Überrascht sprang Manami auf und eilte zu Chihiro herüber, die sich gerade strampelnd wieder an die Oberfläche zurückkämpfte. "Manamiii, Hiiiiilfee!", brüllte sie, als sie die Oberseite der Tatami-Matte durchbrach.
 

Die Göttin packte Chihiro am Arm, hob das Mädchen spielerisch aus dem Wasser und stellte es wieder auf den nachgiebigen Boden, der sich nun erneut fest anfühlte unter ihren Füßen.
 

"Na du machst mir ja Sachen!" spöttelte Manami, "versinkst einfach. Da will ich dich doch mal trocknen. Wasser zurück!" Sie machte eine energische Geste und zeigte auf den Boden. Sofort sammelte sich das Wasser auf Chihiros Körper und in ihrer Kleidung, bildete mehrere dünne Fäden, in denen es in den Boden zurückfloss.
 

Nach nur wenigen Augenblicken war Chihiro wieder vollständig trocken. Völlig verdattert schaute sie zu Manami auf. "Da-, Da-, Danke, Frau Manami Nushi", stotterte sie, aber Manami winkte ab. "He, wir sind doch Freundinnen. Fang jetzt bloß nicht an, mich anzubeten, oder so. Angebetet zu werden ist zwar ganz lustig, bringt aber auch jede Menge Verantwortung mit sich."
 

Sie kniete sich direkt vor dem Mädchen hin, strich ihr durch das Haar und sah sie aus ihren unglaublich blauen Augen direkt an. "Weißt du, Chihiro, ich bin jetzt schon seit über 1500 Jahren die Göttin dieses Sees", fuhr sie fort, "glaub mir, das ist manchmal ganz schön langweilig, und seit ich mich vor 300 Jahren mit dem Gott der Wälder hier verkracht habe, ist es auch ziemlich einsam. Was glaubst du, warum der Wald nicht direkt bis an das Seeufer heranreicht?"
 

Sie packte Chihiro zuerst an den Schultern und umarmte sie daraufhin. "Chihiro, ich glaube du kannst die gar nicht vorstellen, wie einsam ich manchmal bin", schluchzte sie, "darum wäre ich so froh, wenn du meine Freundin sein könntest"
 

"Manami, das habe ich doch nicht geahnt", sagte Chihiro leise und berührte die Göttin leicht an der Wange, "ich möchte gerne deine Freundin sein. Das war, glaube ich, nur etwas zu viel für mich. Und du bist wirklich 1500 Jahre alt? So alt siehst du doch gar nicht aus"
 

"Das ist schön. Sag mir doch, wie alt sieht man denn mit 1500 Jahren aus?" lächelte Manami sie glücklich an, "kannst du jetzt auch wieder alleine stehen?" Sie ließ das Mädchen los, welches erneut problemlos und ohne einzusinken auf dem flüssigen Untergrund stehen konnte.
 

"Du Manami, ich glaube, ich habe jetzt wieder richtig Hunger bekommen", bemerkte Chihiro , nachdem sie sich gefangen hatte und die Aufregung nachließ.
 

"Hups, da hast du mich auf dem linken Fuß erwischt", musste die Göttin diensteifrig eingestehen. "Eigentlich bin ich ja gar nicht auf Besuch eingerichtet und zu Essen hab ich schon überhaupt nichts im Haus. Ich glaube, ich könnte dir einen Fisch machen, mit Wald- und Wiesenkräutern, zum Beispiel den Karpfen von vorhin."
 

Chihiro nickte zustimmend. Sie hatte jetzt richtig Kohldampf und der Rucksack mit ihrem Reiseproviant war ja außer Reichweite in Yokohama.
 

"Also gut, dann lass mich doch mal schauen, was sich da so machen lässt. Karpfen, bei Fuß!" Manami stand auf, streckte die Hände aus und der Karpfen plumpste aus der Decke hinein. Er zappelte nicht einmal. "Du isst immer ziemlich viel, nicht wahr? Ich hab das häufig beobachtest, wenn du mit Ichiyo und Ayaka baden warst. Und trotzdem bist du so klein und dünn. Ist das nicht merkwürdig? Ich glaube, da ist auch Magie im Spiel", stellte Manami fest, während sie geschickt den Fisch ausnahm.
 

"Ja, es fing alles vor zwei Jahren an, nachdem ich mit meinen Eltern zwei Wochen in der anderen Welt verschwunden war", erzählte Chihiro daraufhin, "seitdem muss ich die ganze Zeit über futtern, sonst kann man mir beim Verhungern zuschauen. Ich kann mich nur leider überhaupt nicht erinnern, was in diesen zwei Wochen passiert ist"
 

"Ich weiß gar nicht, ob ich dir das erzählen sollte, denn ich hab's ja auch nur aus zweiter Hand erfahren, aber auf jeden Fall bist du seit dem unter den Göttern bekannt wie ein bunter Hund, hihi", deutete Manami fröhlich an, während sie dafür sorgte, dass sich der Karpfen gewissermaßen von selbst filettierte. "Jedenfalls stimmt etwas nicht mit dir. Dieses Etwas sorgt dafür, dass du mit deinen Eltern in die Geisterwelt gelangen konntest und lässt mich jetzt daran zweifeln, ob du wirklich nur ein Mensch bist."
 

"Aber was ist dieses Etwas denn?" verlangte Chihiro zu wissen.
 

"Wenn ich das doch so genau wüsste", gab Manami zu, während sie einige Bambussprossen kurz in heißem Wasser ankochte, "aber weißt du, und das ist der Hauptpunkt, warum ich nicht glaube, dass du ein Mensch bist, jedes Mal wenn, ich dich berühre, spüre ich es ganz eindeutig: Du fühlst dich an wie ein Fluss! Wie ein kleiner ruhiger, aber trotzdem kräftig strömender Fluss. Das ist sehr angenehm und beruhigend für jemanden wie mich. Ich mag das sehr!"
 

"Wie ein Fluss? Aber das ist doch völlig widersinnig", zweifelte Chihiro. "Ich bin doch ein Mensch und kein Fluss!"
 

"Tja, ich verstehe es ja auch nicht" Manami war jetzt fertig mit der Zubereitung des Fisches und servierte ihn auf dem niedrigen Tisch in der Mitte des Raumes, wo Chihiro sich heißhungrig darüber hermachte. "Jedenfalls ist das der Hauptgrund, warum ich nicht glauben kann, dass du einfach nur ein Mensch bist. Ein Mensch fühlt sich nicht an wie ein Fluss!"
 

"Aber ich bin doch nicht flüssig, also bin ich auch kein Fluss", argumentierte Chihiro, während sie sich mit Stäbchen aus Wasser den Fisch von einer Schale aus Wasser, die auf einem Tisch aus Wasser stand, zu Gemüte führte. "Mmmh, das schmeckt gut! Ich bin kein Gott, kein Geist und auch kein Dämon. Also muss ich doch ein Mensch sein."
 

"Hahahahaha!" prustete die Göttin los, "deine Logik jedenfalls ist überwältigend."
 

Wenig später hatte Chihiro den Karpfen und die übrigen Beilagen verdrückt und fühlte sich soweit gestärkt, dass ihre Unternehmungslust erneut zunahm. Sie dachte an ihre Freunde und Ayakas Vater, die sie in Yokohama zurückgelassen hatte und die sie bestimmt schon vermissen würden. Sie war jetzt mindestens schon eine halbe Stunde bei Manami in ihrem Schrein, wenn nicht länger.
 

"Du Manami, ich glaube, ich sollte so langsam wieder gehen", setzte sie deshalb an, "ich glaube, die anderen warten schon auf mich, im Stadion in Yokohama."
 

"O schade", machte Manami, "aber ich verstehe, dass du gehen musst. Ich werde dich bis zum Tor begleiten. Doch sollte ich dir, glaube ich, noch etwas darüber sagen, über das Tor, meine ich, bevor du es erneut benutzt. Und über die Welt der Götter und Geister"
 

Sie machten sich auf den Weg zurück zum roten Gebäude und Chihiro ging wie selbstverständlich an Manamis Seite über die weite Wasserfläche des Sees, nachdem sie sich ihren Ball von der Tischplatte geschnappt hatte.
 

"Zunächst mal solltest du wissen, dass die Zeit in der Welt der Götter und Geister nicht nach physikalischen Gesetzen abläuft, sondern nach magischen. Letztendlich bedeutet es, dass die Zeit dort genau so schnell läuft, wie die Mehrzahl der Leute an einem Ort möchte, dass sie läuft"; erklärte sie.
 

"Wenn nun ein Mensch dort hineingerät, dann läuft seine persönliche Zeit weiter nach dem Takt dieser Welt. Da die Zeit in der anderen Welt aber mit einer anderen Geschwindigkeit läuft", erläuterte sie weiter, "mal schneller, mal langsamer als die persönliche Zeit des Menschen, kann es bei einer starken Laufzeitabweichung dazu kommen, dass der Mensch seinen physischen Zusammenhalt verliert und beginnt sich aufzulösen"
 

Hierzu ergänzte sie: "Man kann sich jedoch mit der dortigen Zeit synchronisieren, indem man etwas von dort isst, aber damit wäre ich vorsichtig. Häufig werden die Nahrungsmittel dort in der einen oder anderen Weise von lokalen Autoritäten mit Schutzzaubern versehen. Wenn es gar nicht anders geht, würde ich es an deiner Stelle mal mit einem Büschel Gras versuchen, oder so. Das sollte gefahrlos sein"
 

Bäh, sie sollte Gras essen, wenn sie längere Zeit dort bleiben wollte? Trotzdem hörte Chihiro aufmerksam zu, denn dies waren die ersten wirklich konkreten Informationen, die sie aus erster Hand von der anderen Welt bekam.
 

"Am besten solltest du aber in der Nähe der Tore bleiben und nach Möglichkeit auch nur kurz dort verweilen, denn dort werden die Laufzeitabweichungen meistens nicht so groß, dass man in Gefahr gerät, sich aufzulösen", sorgte sich Manami um ihre kleine Freundin, "die Tore haben aber auch eine unangenehme Eigenschaft. Weil die Zeit in dieser Welt so schnell läuft, wie eine Mehrheit von Leuten an einem bestimmten Ort es wollen, passiert es, dass Zonen entstehen, in denen die Zeit schneller läuft und solche, in denen sie langsamer geht"
 

"Boah, das hört sich ja richtig verrückt an!", warf Chihiro ein.
 

"Du hast Recht, das ist auch ziemlich verrückt", konstatierte die Göttin, "wenn solche Zonen aneinander stoßen, kommt es zu einem Wirbel und es kann passieren, dass die Zeit dort kurzfristig rückwärts läuft. Um jetzt zu verhindern, dass man beim Durchqueren eines Tores sich selbst begegnet, falls man in einen solchen Wirbel geraten war, wurde deshalb beim Übergang eine Verzögerung eingebaut. Bei jedem Wechsel von einer Welt in die andere werden deshalb gut 20 Minuten als Sicherheitspuffer eingefügt"
 

"Huch! Aber das bedeutet ja ...", entfuhr es Chihiro, die schlagartig die Bedeutung erfasste. "Ich bin von Yokohama einmal nach drüben und von dort wieder hierher. Dann habe ich ja nur für die zwei Tor-Passagen mindestens 40 Minuten verbraucht. Oje, da wird Herr Fukazawa aber sauer sein. ... Und für den Rückweg werde ich ja noch mal 40 Minuten verbrauchen!! Mit der Zeit, die ich bei dir verbracht habe, macht das dann zusammen ... O jemine!"
 

"Da sollten wir uns wohl beeilen" Manami legte einen Schritt zu. In der einsetzenden Dämmerung hob sich der Wald dunkel vor dem klaren, orangeroten Himmel ab. "Am besten ist, ich komme mal mit auf die andere Seite. Mich würde doch wirklich interessieren, wo du da eigentlich herauskommst", schlug sie vor, als sie das Ufer erreichten, "dazu sollte ich dir vielleicht noch etwas erklären. Die Tore sind nämlich Teile eines weltweiten Transportsystems. Du kannst im Prinzip von jedem Tor in dieser Welt direkt zu jedem Tor in der anderen Welt gelangen und umgekehrt. Auf die Weise kann man um die ganze Welt reisen"
 

Sie schaute sich nach Chihiro um, die nicht ganz mit ihr Schritt halten konnte, und wartete kurz, bis das Mädchen sie eingeholt hatte.
 

"Das Problem ist nur, dass du den Zielort kennen musst, um das diesem nächstgelegene Tor ansteuern zu können. Den muss man sich nur deutlich vorstellen, damit das Tor einen dorthin bringt", ergänzte sie, "ach ja, und wenn man ein Tor von der Geisterwelt in die Menschenwelt nicht korrekt benutzt, also nicht an den Zielort denkt, während man hindurchgeht, dann wird einem jede Erinnerung an die Geisterwelt auf magische Weise genommen. Nur so zur Sicherheit, gegen unbefugte Benutzung oder wenn man Menschen wieder hinausexpediert"
 

"Deshalb also haben ich und meine Eltern alles vergessen. Und Ayaka und Ichiyo auch, als ich die beiden Mal mit hinübergenommen habe", überlegte Chihiro, als sie fast am roten Gebäude angelangt waren, "meine Erinnerung ist aber teilweise zurückgekommen, als ich erneut hinübergegangen war"
 

"Du hast die beiden auch mit herüber genommen?" Manamis Stimme klang leicht missmutig. "Das solltest du nicht. Menschen haben dort nichts verloren! Meistens gelangen sie sowieso nur dort hin, wenn so ein schusseliger Gott das Tor benutzt, während gerade Menschen hindurchgehen. Einige schaffen es und kommen wieder zurück, andere lösen sich auf und verschwinden auf nimmer Wiedersehen, und manchen stößt Schlimmeres zu"
 

"Ich bin doch auch ein Mensch. Warum darf ich dann hindurchgehen?" fragte Chihiro.
 

"Ich sage ja gar nicht, dass du dorthin gehen solltest. Am liebsten wäre mir ja, du bliebest hier", meinte Manami daraufhin sanft, "du kannst die Tore aber nun mal benutzen, wieso auch immer, und ich kann es dir nicht verbieten. Und wenn ich es dir verbiete, benutzt du sie irgendwann trotzdem. Da ist es doch besser, ich erkläre dir, wie es funktioniert und wo die Gefahren lauern. Dann weißt du wenigstens, woran du bist und passt auf. Ich will doch nicht, dass dir was passiert"
 

Sie standen jetzt direkt vor dem Eingang zum Tunnel und das andere Ende war in der hereinbrechenden Dämmerung kaum noch zu erkennen. Chihiro und Manami schauten einander kurz an, bevor sie dann, Chihiro vorneweg, hineingingen.
 

Im bereits beleuchteten Wartesaal unter dem Uhrenturm angelangt, bemerkte Chihiro, dass sich dort bereits die ersten Gestalten sammelten. Es waren Fährgäste, wie der Affe im Pagenanzug beim letzten Mal gesagt hatte, als sie mit Ichiyo und Ayaka hier gewesen war. Wohin diese Fähre wohl gehen mochte, überlegte sie.
 

Manami ihrerseits sah sich interessiert um, so als würde sie diesen Ort das erste Mal betreten. "Also, hier kommst du immer heraus oder manchmal auch woanders?" wollte sie wissen.
 

Chihiro schüttelte den Kopf. "Nein, ich komme immer nur hier heraus. Ich dachte bis jetzt gar nicht, dass man noch woanders hingelangen könnte", antwortete sie nachdenklich und fragte dann ihrerseits: "Weißt du denn, wo wir hier sind?"
 

"Nein, hier bin ich vorher noch nie gewesen", gab Manami zurück, "ich kann ja einfach mal fragen." Damit ging sie zu einer Gestalt herüber, die auf einer der holzbeplankten gussstählernen Wartebänke saß und konzentriert in einer Papierrolle las, die sie von Zeit zu Zeit ein Stück weiter von der linken in die rechte Hand weiterdrehte.
 

Die Gestalt trug einen weiten, mit großen Ornamenten bedruckten Baumwollumhang und einen mit Blättern und Zweigen dekorierten geflochtenen Korb über den Kopf gestülpt, weshalb man nicht erkennen konnte, ob sie weiblich, männlich oder möglicherweise etwas anderes war.
 

Während Chihiro mit leicht mulmigem Gefühl zu Manami herüberblickte, die sich der Gestalt vorstellte und offenbar Höflichkeiten mit dieser austauschte, hörte sie plötzlich ein tiefes rumpelndes Brummen direkt hinter sich.
 

"O Entschuldigung", rief sie erschrocken, als sie gewahr wurde, dass sie noch immer vor dem Tunnelausgang stand, durch den sie gekommen war und diesen so versperrte. Schnell trat sie einen Schritt zur Seite und starrte dann mit offenem Mund auf das Wesen, das jetzt in den Raum watschelte. Fast drei Meter groß und den Durchgang komplett ausfüllend, war es dicht mit flauschigem, dunkelgrauem Fell bewachsen, mit einer großen Blässe auf dem Bauch. *
 

* http://myneighbortotoro.animexx.4players.de/fanarts/fanart.php4?id=16626&sort=thema
 

Es hatte zwei große Augen, ein Paar pilzförmiger Ohren oben auf dem Kopf und einen scheunentorgroßen Mund mit einigen Schnurrbarthaaren darüber. Über dem rechten Arm trug das Wesen einen ziemlich alten zerfledderten Regenschirm mit Henkel.
 

"Totoro ...", flüsterte Chihiro erschüttert, "es gibt dich ja wirklich."
 

Das Wesen grinste sie an und deutete eine kurze Verbeugung an, die Chihiro mechanisch erwiderte, bevor es weiter ging und sich einen Platz auf einer der Bänke suchte. Manami hatte mittlerweile ihre Auskunft eingeholt und kehrte mit leicht besorgtem Gesichtsausdruck wieder zurück, während Chihiro immer noch mit großen Augen hinter dem Totoro herstarrte.
 

"Na, hat dich der Waldgeist erschreckt?", neckte Manami Chihiro, "die tun nur so brummelig, sind aber meistens ganz nett. Es gibt 'ne ganze Menge von denen und sie wohnen häufig in großen alten Bäumen. Dass heißt, wenn man ihnen ihren Heimatbaum fällt, können sie auch schon mal grantig werden"
 

"Aber ich dachte, der wäre nur erfunden. Ich habe so einen zu Hause, aus Plüsch", erzählte Chihiro, immer noch völlig fassungslos. "Du, ich glaube wir sollten jetzt gehen. Ich muss wieder zu den anderen zurück ins Stadion. Kommst du mit?"
 

"Nein Chihiro, ich kann leider nicht mitkommen. Du hättest nicht viel von mir, wenn ich es versuchte. Aber lassen wir das besser", erwiderte Manami, "also, du gehst jetzt durch einen der Tunnel und denkst fest an das Stadion in Yokohama und ich benutze einen der anderen. Ach, und wenn du schon hierher kommst, dann bleib am besten hier in dem Raum und geh nicht nach draußen. Hier drin kann eigentlich nicht viel passieren. Nun geh, und komm mich bald wieder besuchen, ja?"
 

Chihiro nickte. "Ja Manami, mache ich. Bis bald!" bestätigte sie der Göttin. Sie drehte sich um, ging in den Tunnel hinter sich und winkte noch einmal, bevor sie das Tor in die Welt der Menschen passierte und verschwand.
 

Manami ihrerseits verließ den Wartesaal nach draußen. Da sie ja gerade schon mal hier war, konnte sie auch gleich den in der hereinziehenden Nacht langsam erwachenden Ort erkunden. Eigentlich hätte sie sich ja denken können, dass Chihiro hier an diesem Ort in die Geisterwelt gelangen würde und machte sich deshalb einige Sorgen um ihre kleine Freundin. Über die Hexe Yubaba und ihr Badehaus für die Götter hatte sie schon so einiges gehört, Gutes und auch weniger Gutes. Gerüchte. Hörensagen.
 

Sie war eine ausgezeichnete Gastgeberin und äußerst geschäftstüchtig, wie man hörte. Doch auch verschwanden immer wieder Personen auf nimmer Wiedersehen in dieser Gegend. Zudem sollte auch dieser weiße Drache mit der grünen Mähne immer wieder in der Nähe ihres Badehauses gesichtet worden sein.
 

Sie rief sich das Bild des Drachen in ihr Gedächtnis zurück, welches ihr einer der Agenten der göttlichen Geheimpolizei in den Geist projiziert hatte. Er hatte einige Zeit lang in ein paar Teilen der Geisterwelt Angst und Schrecken verbreitet, immer wieder wie aus dem Nichts erscheinend, raubend und mordend, bevor er dann wieder verschwand.
 

Die göttliche Geheimpolizei fahndete bereits eine Weile nach ihm, doch seit fast zwei Jahren war dieser bösartige, aus der Art geschlagene Monsterdrache wie vom Erdboden verschluckt. Aber man wusste ja nie. Sie wagte gar nicht daran zu denken, was passieren würde, wenn Chihiro in die Fänge dieses Ungeheuers geriete.
 

Es war wirklich am sichersten für die Kleine, wenn sie das Gebäude mit dem Uhrenturm erst gar nicht verließ, damit sie in keine zu starke Zeitdrift geriet, der Hexe Yubaba nicht zu nahe kam, die Manami nicht ganz geheuer schien, und vor den Augen dieses gefährlichen Drachen verborgen blieb. Ja, sie sollte Chihiro einen anderen, sichereren Ort hier in der Geisterwelt zeigen, den sie gefahrlos für ihre Passagen benutzen konnte.
 


 

Es war dunkel, vollständig finster, aber trotzdem war sich Chihiro sicher, dass sie wieder im Stadion in Yokohama war. Der Geruch war der gleiche, das Brummen der Maschinen war das Gleiche und leise drang Musik von oben herunter. Jemand musste wohl das Licht ausgeschaltet haben.
 

Verwundert entdeckte sie jetzt, dass der Kemari-Ball in der Dunkelheit schwach leuchtete und, wenn sie ihn hin und her bewegte, eine schwache Funkenspur hinter sich her zog. Ob das die Magie war, die in dem Ball steckte?
 

Vorsichtig tastete sie sich an der Wand entlang, wechselte die Seite des Ganges und tastete sich weiter. Dabei fiel ihr siedend heiß ein, dass sie Manami nicht danach gefragt hatte, was das jetzt für ein Ort war, wo sie immer in der anderen Welt heraus kam. Der Totoro hatte sie einfach zu stark abgelenkt. Sie würde Manami dann beim nächsten Mal danach fragen.
 

Nach einiger Zeit fand sie im schwachen Glimmen des Balles einen Lichtschalter und die Leuchtstoffröhren tauchten den Gang in ein diffuses Licht, was die Sache erheblich vereinfachte. Sie nahm die erste Tür, die sie fand, und machte sich auf den Weg nach oben, wo sie überrascht feststellte, dass die in dem abgesperrten Bereich am Hauptzugang ins Stadion herausgekommen war.
 

Vor Schreck wollte sie schon wieder nach unten gehen und sich einen anderen Weg suchen, aber dann dachte sie sich, dass ihr jetzt nichts Schlimmes mehr passieren konnte und marschierte entschlossen zu einem der Polizisten an der Barriere, bei dem sie am Uniformrock zupfte.
 

"Hallo, könnten sie mich bitte herauslassen?" lächelte sie den Beamten an.
 

Dieser schaute sich überrascht um und entdeckte dann ein kleines, vielleicht acht- oder neunjähriges Mädchen ohne Ausweis, welches hier demnach absolut nichts zu suchen hatte. Er hatte seine Instruktionen! Die besagten, niemanden ohne gültigen Ausweis hereinzulassen und sei es der Kaiser höchstpersönlich. Über kleine Mädchen ohne Ausweis, die heraus wollten, besagten die Instruktionen nichts. So zuckte er mit den Achseln und hob Chihiro über die Absperrung.
 

Dann fiel ihm plötzlich etwas ein. Das Mädchen entsprach genau der Beschreibung. "Sag mal, bist du vielleicht die kleine Chihiro?" fragte er. Chihiro nickte erschrocken. "Na, dann geh mal schnell zu deinen Eltern. Die haben dich schon ausrufen lassen und suchen dich überall", forderte der Beamte sie dann entschieden auf. "Husch, husch!"
 

Wenige Minuten später war Chihiro wieder oben im Stadion auf der Tribüne, wo sie nur Ichiyo auf seinem Sitzplatz vorfand. Die anderen Plätze waren verlassen. Unten im Stadion war die Abschlussfeier der Weltmeisterschaften im Gange, man hatte einen riesigen Fujiyama aus Stoffbahnen über dem Mittelkreis errichtet und formatfüllende Flaggen von Deutschland und Brasilien auf das Spielfeld gebracht. Gleißendes Flutlicht beleuchtete die Szenerie.
 

"Hallo Ichiyo, ich bin wieder da. Wo sind denn die anderen?" meldete sie sich mit klopfendem Herzen zurück und ließ sich neben dem Jungen auf ihren Sitz plumpsen.
 

Der blickte sie überrascht, aber erleichtert an. "Mann Chihiro, wo bist du denn nur gewesen?" entfuhr es ihm und dann umarmte er sie. Chihiro wusste gar nicht, wie ihr geschah.
 

"Ayaka und ihr Vater suchen dich schon überall, nachdem du verschwunden warst", informierte er sie, nachdem er sich ein wenig beruhigt und sie wieder losgelassen hatte. "Wir haben dich sogar über Lautsprecher ausrufen lassen. Ich sollte hier warten, falls du hier wieder auftauchst."
 

"Wie lange bin ich denn weg gewesen?", fragte sie, sich ein wenig dumm stellend, denn auf der großen Anzeigetafel war die aktuelle Uhrzeit kaum zu übersehen. Es war kurz nach halb elf Uhr, was bedeutete, dass sie mehr als zweieinhalb Stunden fort gewesen war. Sie würde sich eine gute Ausrede einfallen lassen müssen. Vielleicht könnte sie ja erzählen, dass sie Risa getroffen hatte, ihre alte Freundin aus Tokyo, mit der sie sich dann verquatscht hatte.
 

Eine halbe Stunde später kamen dann Ayaka und ihr Vater zurück. Chihiro musste sich einiges anhören, aber zu ihrer Erleichterung fragte niemand, wo sie denn nun gewesen war und was es mit dem weißen Ball auf sich hatte, den sie auf einmal besaß. Letztendlich waren alle nur froh, dass sie wieder da war.
 

Gemeinsam sahen sie sich die Abschlussfeier zu Ende an und verließen gegen Mitternacht das Stadion. Sie gingen zum Bahnhof zurück, wo sie kurz vor 1:00 Uhr nachts den Shinkansen zurück nach Hause nahmen. Ayaka war völlig geknickt, weil gerade ihr Olli Kahn einen großen Fehler gemacht hatte, sodass Deutschland das Finale verloren hatte. Ausgerechnet Ronaldo hatte die beiden Siegtreffer für Brasilien erzielt.
 

Aber dann erklärte sie allen, dass sie etwas daraus gelernt habe: Man gewänne Spiele nicht, indem man Tore verhindere, sondern indem man Tore schieße. Und sie wollte Spiele gewinnen, weshalb sie sich wieder voll auf das Stürmen konzentrieren wolle. Trotzdem, erklärte sie, hätte es ihr fast das Herz gebrochen, als Olli Kahn nach Spielende ganz alleine und traurig in seinem Tor gehockt hatte.
 

Chihiro überlegte, ob sie Ayaka jemals erzählen sollte, was sie da unten auf dem Spielfeld beobachtet hatte: dass nämlich der Gott Seidaimyojin Ronaldo eine Überdosis Aufputschzauber verpasst hatte, weil sie, Chihiro, ihn abgelenkt hatte. Sie entschied sich dagegen und schenkte Ayaka zum Trost den Kemari-Ball des Fußballgottes. Vielleicht würde er ja bei Ayaka auch wirken.
 

Gegen fünf Uhr am Morgen, es war kurz nach Sonnenaufgang, setzte Ayakas Vater Chihiro wieder zu Hause ab, die nur noch todmüde in ihr Bett schlich, wo sie sofort einschlief. Aber sie musste ja nicht zur Schule, weil an diesem Montag die Sommerferien begannen, sodass sie bis nach Mittag ausschlief.
 

Als sie endlich aufwachte, war sie alleine zu Hause. Ihre Mutter war im Konbini kassieren und ihr Vater kümmerte sich bestimmt um die Häuser, die er verwaltete. Sie fand in der Küche Frühstück und Mittagessen für sich vorbereitet, wo sie sich erst mal darüber hermachte. Der ganze letzte Tag erschien ihr jetzt wie ein einziger Traum und sie beschloss bei einem heißen Bad, noch einmal darüber nachzudenken.
 

Wenig später ließ sie sich mit Wohlbehagen in das warme Wasser sinken, als ihr plötzlich eine Idee kam. Ob es wohl gehen würde? Manami hatte gesagt, dass sie ihr nicht helfen würde, sondern dass sie es von ganz alleine vollbrächte.
 

Chihiro stand auf und versuchte sich die Wasseroberfläche als fest vorzustellen. Dann hob sie ihren rechten Fuß aus dem Wasser und stellte ihn auf die Oberfläche. Zu ihrer Enttäuschung versank der Fuß ohne Widerstand erneut im Wasser.
 

Wieso hatte es dann gestern geklappt, wunderte sie sich, war es nur ein Traum gewesen oder hatte Manami ihr doch geholfen? Sie versuchte sich zu erinnern, wie es gewesen war, an das Gefühl das sie hatte, als sie über das Wasser gegangen war. Es war ganz selbstverständlich gewesen, mühelos und einfach.
 

Mit der Erinnerung an dieses Gefühl versuchte sie es erneut, stieg aus dem Wasser heraus und lief auf dem heißen Badewasser hin und her. Sie konnte kaum fassen, wie einfach es war. Warum hatte sie es nicht schon früher entdeckt? Träumerisch legte sie sich schließlich auf das leicht federnde Wasser, wo sie über Seegöttinnen, Fußballgötter, Dimensionstore, Karpfen, Zugfahrten und Totoros nachsinnend in der angenehmen Wärme unter sich erneut einschlief.
 

Sie erwachte erst wieder, als sie spürte, wie jemand an ihr rüttelte. Schlaftrunken drehte sie sich um und blickte in das ausdruckslose Gesicht ihrer Mutter. Irgendwie war ihr kalt und dann entdeckte sie, dass sie im Badezimmer war. Was machte sie denn hier im Badezimmer, versuchte sie sich zu erinnern, und dann fiel ihr wieder ein, dass sie sich vorhin ein Bad eingelassen hatte. Sie musste dann wohl im Wasser eingeschlafen sein.
 

Dann hatte sie so einen eigenartigen Traum gehabt, dass sie auf dem Wasser herumgelaufen wäre. Sie drückte sich hoch, setzte sich auf und blickte sich um. Dann stellte sie fest, dass sie noch immer auf dem mittlerweile kalten Wasser saß. Ihr Herzschlag setzte für einen Moment aus und vor Schreck versank sie auf einmal in der kühlen Flüssigkeit.
 

Wortlos hob ihre Mutter sie dann aus der Badewanne, trocknete sie ab, kleidete sie wieder an, ließ das Badewasser ab, machte die Badewanne sauber und begann dann das Badezimmer zu putzen. Von dem Vorfall erwähnte sie weder gegenüber Akio noch gegenüber Chihiro auch nur ein Wort. Für sie war das gar nicht passiert.



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Kommentare zu diesem Kapitel (13)
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Von:  DemonLady
2005-07-05T15:07:55+00:00 05.07.2005 17:07
Tach auch,
Es gibt also mehrere Eingänge zum Zauberreich. Das ist gut.
Und Manami gefällt mir. Und ihr Haus stelle ich mir klasse vor.
Bin begeistert von dem Haus. Da würde ich auch gern wohnen. ^^
Als nächstes hat mir sehr gut gefallen, wie Chihiro im See versinkt und danach wieder vollständig von Manami getrocknet wird.
Und das mit der Zeitverschiebung war auch toll. Daher hat Haku ihr also damals was zu essen gegeben.
Ja und was würde wohl geschehen, wenn Chihiro diesem bösen Drachen in die Hände fällt. ^^
Aber super geschrieben.
Das mit der Wanne war auch sehr schön.
Nur seltsam, dass die Mutter nix darüber erwähnt.
Ein klasse Kapitel, wie immer.
Keep smile!
Demon
Von: abgemeldet
2004-04-07T12:29:12+00:00 07.04.2004 14:29
Fand ich wie immer,einfach Genial!!!
Von: abgemeldet
2004-03-28T21:32:22+00:00 28.03.2004 23:32
Genial! Was Dir immer alles einfällt? Fußballgötter *hihi* Gibts die in Japan ernsthaft?
Von: abgemeldet
2004-03-14T10:55:12+00:00 14.03.2004 11:55
Hi ^^
War wieder total cool.
Ich könnte nie sooooo ausführlich schreiben du beschreibst einfach alles bis ins kleinste Detail man müsste da echt ma nen Chihiros Reise ins Zauberland Teil 2 drauß machen.. Schicks ma an Clamp vielleicht machen die ja wat drauß ^^
Deine Tjara
Von: abgemeldet
2004-03-07T08:33:27+00:00 07.03.2004 09:33
Boah,bin absolut zu fertig heuer was ausführliches zu schreiben.Also mal im Nex-Style...
Kommentar:sehr gut!!!!
Cu,Sylver
Von:  Jami-san
2004-03-06T20:52:20+00:00 06.03.2004 21:52
Konnichi wa!!
Das Kapitel is wiedaa supii!!
Du hast echt klasse Ideen, vor allem, wie das alles so in der Geisterwelt funktioniert. ^^
Freu mich schon richtig aufs nächste Kapitel. Schreib bitte schnell weiter!!
Bin schon gespannt, wie Kohaku und Chihiro wieder aufeinander treffen lässt.
LG Jami-san ^^
Von: abgemeldet
2004-03-06T17:19:47+00:00 06.03.2004 18:19
Hey, dass war mal wieder klasse^^. Fand die Idee mit der Fußball-WM einfach spitzte, vielleicht kannst du da was drehen und den deutchen Fußballern ein bisschen mehr von dem Aufputchmittel(wie auch immer) geben, ich glaub die Jungs können das ganz gut gebrauchen, he he.
Ich hoffe ich hab das mit dem Nur-noch-ein-Haku-Kapitel richtig verstanden und das sich die beiden nun endlich begegnen, zumindest hoffe ich das sehr^^.
Ach da fällt mir ein, weil es in deiner FF ja über paar Jährchen geht, wie alt ist Chihiro eigentlich? Nur so ungefair, wer mal interessant zu wissen.
So, das war's auch schon, bitte schreib schnell weiter, freu mich aufs nächste Chap. Bis danne

Byebye Jen1307
Von: abgemeldet
2004-03-06T17:18:48+00:00 06.03.2004 18:18
Das war echt super. Bitte schreib schnell weiter. Kannst du dir das mit dem "nur noch ein Haku Kapitel" vielleicht noch mal überlegen? Hoffe doch es gibt ein happy end.
gruß dream
Von:  dat_vege
2004-03-05T13:59:32+00:00 05.03.2004 14:59
hi^^
das kapitel war ja einfach mega genial^---^
(ich finde kahn auch supi *mitm fähnchen wedel* *lol*)
ich habe mir schon gedacht das brasilien nur durch faulen zauber gewonnen hat *lölzZ*
nyo ich freu mich schon drauf wenn sich haku und chihiro treffen^^.... und wehe haku stirbt =.- dann....... dann...
....weine ich T.T *XDDDDD*
nyo man schreibt sich im nächsten kapitel/kommi^---------^
*knuffäl*
baba vegetafan_14
Von:  Snape-Sama
2004-03-02T19:05:03+00:00 02.03.2004 20:05
Super Stroy!!!!!!!!!!
Aber es ist sehr schade das es nur noch ein Haku Kapitel gibt. *heul*

Aber trotzdem das ist der beste Fanfic den ich je gelesen habe ( ok noch lese)


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