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Ich sehe was, was Du nicht siehst

von

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Sieben

Entschuldigt bitte die erneute Verspätung > <! Aber hier ist es nun, das siebte Kapitel. Ich hoffe, es gefällt Euch und vielen, vielen Dank an meine lieben KommentatorInnen - Ihr bringt mich jedes Mal wieder zum Lächeln :)!

Lung
 

●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●○●
 

„Und jetzt erzähl mir von den Geistern!“
 

Das tat ich.
 

Also. Nein, es waren keine Massen. Sie strömten nicht in riesigen Herden durch die Stadt. Es gab durchaus Tage, an dem ich keinen einzigen zu Gesicht kriegte. Zwar konnte ich ihnen überall begegnen, aber tatsächlich waren sie die Ausnahme. Die meisten Verstorbenen – gerade die Kinder – gingen direkt ins Jenseits. Oft schauten sie noch einmal nach ihren Hinterbliebenen, gingen ganz sicher, dass diese zurechtkamen. Manchmal besuchten sie ihre eigene Beerdigung, um herauszufinden, wer alles weinte und ob sie im offenen Sarg auch gut aussahen. Hin und wieder wurde die Testamentsvollstreckung abgewartet. Doch dann verabschiedeten sie sich guten Gewissens von dieser Welt und brauchten keine Hilfe dabei. Denn trotz seiner erschreckenden Endgültigkeit brachte der Tod eine gewisse Erleichterung mit sich. Nun brauchte man sich keine Sorgen mehr zu machen. Das Schlimmste hatte man ja bereits hinter sich.
 

Mein Job begann erst dann, wenn sie einen Lebenden brauchten, um ein letztes Mal mit der Welt in Kontakt zu treten. Letzte Botschaften, letzte Geständnisse, letzte Fragen, die einem so schwer auf der Seele lagen, dass man ohne ihre Aufklärung einfach nicht mit dem Leben abschließen konnte. Woher sie auf mich kamen? Weiß der Geier. Manchmal glaubte ich, sie gaben sich untereinander Tipps. Jedenfalls stand ich nicht im Telefonbuch. Draußen kam es vor, dass ich gedankenverloren in ihre Richtung blickte und schon begriffen sie, dass ich sie sehen konnte. Dann hatte ich sie an der Backe. Deshalb nahm ich, wo auch immer ich hinging, ein Handy mit. Nicht, weil ich immerzu erreichbar sein wollte, sondern weil sich niemand über einen Kerl wunderte, der auf offener Straße mit einem Unsichtbaren sprach – solange er dabei ein Handy am Ohr hatte.
 

Und standen sie schließlich vor mir, sah und hörte ich sie genau so deutlich, wie ich die lebendigen Menschen sah und hörte. In welcher Gestalt ich sie sah, entschieden sie selbst. Theoretisch könnten sie jede Gestalt annehmen, die sie im Laufe ihres Lebens einmal gehabt hatten, also unabhängig vom Alter ihres Todes. Waren sie verwirrt oder abgelenkt, sah ich sie meistens so, wie sie selbst glaubten, dass sie aussahen. Schwere Verletzungen, zum Beispiel nach einem Unfall, oder die Zeichen einer Krankheit ließen sie zum Glück meistens an ihrem irdischen Körper zurück, weil sie sich entweder heil in Erinnerung hatten oder einfach zu eitel waren, um sich mir verstümmelt zu zeigen. Daher hatte ich mich nur selten mit abgerissenen Gliedmaßen oder unschönen Pocken rumschlagen müssen. Und nein, mit einem Mordopfer oder der Polizei hatte ich es noch nie zu tun bekommen. Ebenfalls zum Glück.
 

Abgesehen davon konnte ich sie fühlen. Lebendige Menschen gaben Energie an ihre Außenwelt ab. Deshalb konnte man meistens spüren, wenn sich jemand anderes im selben Raum aufhielt. Und deshalb war es manchmal tröstlich, nicht allein zu sein. Aus der Menge konnte man Kraft schöpfen. Geister fühlten sich dagegen an wie ein Minus in der Atmosphäre. Sie waren wie schwarze Löcher, die Energie in sich einsaugten. Daher konnte es vorkommen, dass man in ihrer Nähe fror oder sich unerklärlicherweise plötzlich schwach und leer fühlte. Möglicherweise machte mich die Anwesenheit von Geistern darum immer etwas grantig. Was noch? Nein, ich hatte in meinem ganzen Leben noch keine prophetischen Träume oder Visionen gehabt. Ich konnte nur sie selbst sehen und hören. Und halt fühlen.
 

Und das Jenseits? Tja. Tatsächlich hatte ich immer noch keine Ahnung davon. Und sie eigentlich auch nicht. Aber es hatte wohl irgendwas mit dem inneren Frieden zu tun. Vielleicht war es eine Art Entspannung, zusammen mit der Entscheidung, endlich loszulassen. Wenn sie den Standort wechselten, weil sie bockig oder was auch immer waren, lief es Zack! – weg waren sie. Als hätte man eine Kerze ausgepustet. Gingen sie aber weiter, in den Himmel oder was auch immer danach kam, fühlte es sich eher so an, als würden sie sich langsam wie ein Duft im Wind verteilen. Sie lösten sich allmählich auf. Und die meisten gingen gern. Sie fühlten, dass sie hier nicht mehr hingehörten. Sie waren müde, neugierig und furchtlos. Ich hatte aber auch Geister kennen gelernt, die Spaß daran hatten, die Lebenden zu ärgern. Oder denen die Ungewissheit Angst machte. Was, wenn dort doch das Fegefeuer wartete?
 

Als ich meinen Vortrag schließlich beendet hatte, musste ich erst einmal etwas trinken. Dass ich so viel am Stück redete, kam nicht besonders oft vor. Meine Kehle fühlte sich ganz trocken an. Wie spät es inzwischen wohl sein mochte?
 

Jasper schwieg. Er saß in Gedanken versunken auf seinem Stuhl, umfasste seine angezogenen Knie und schaute in Cleos Richtung. Die Sonne war gewandert und Cleo mit ihr. Inzwischen lag sie platt auf dem Boden, in dem Rechteck aus Sonnenlicht, das durchs Fenster fiel. Draußen zwitscherten die Vögel. Der Kaffee forderte sein Recht, ich musste schon wieder pinkeln. Aber ich wollte nicht aufstehen und den Moment zerstören. Ich wollte Jasper weiter anschauen. Weiter mit ihm reden. Ich wollte nicht, dass er ging.
 

„Alles hat sich verändert…,“ sagte er schließlich, drehte den Kopf und sah mich an, „Ich muss über so viele Dinge nachdenken. Immer wenn ich jetzt über die Straße gehe, werde ich mich umsehen und mich fragen, ob irgendwo einer von ihnen ist. Jetzt weiß ich etwas, das bestimmt nur die wenigsten wissen.“

Ich erwiderte seinen Blick und wusste nicht genau, ob eine Entschuldigung angebracht wäre. Seinem unvermittelten Lächeln nach zu urteilen aber eher nicht.

„Es ist so aufregend!“, schloss er begeistert.

Ich lachte auf.
 

„Weißt du, was mich besonders fasziniert?“

„Nein, was?“

„Dass es da tatsächlich Parallelen zu Ghost Whisperer gibt! Ich meine, okay – Hollywood hat alles übertrieben. Mit dem ganzen Weltretten und so. Aber trotzdem. Hin und wieder kam mir etwas total bekannt vor. Und auch The Sixth Sense… Meinst du, das könnte von wahren Geschehnissen inspiriert sein? Ich meine, dass es Leute gibt, die behaupten, ein Medium zu sein, weiß man ja. Und Wahrsager und so. Vielleicht haben die Macher ja wirklich mit Leuten wie dir geredet und daraus ihr TV-Zeug gemacht. Mehr Action musste natürlich rein, aber sonst…,“

„Kann schon sein. Ich finde die Vorstellung, dass es noch mehrere von mir gibt, jedenfalls sehr beruhigend. Und diese Idee mit den Seelen, die den Tod des Körpers überdauern, beschäftigt die Menschheit ja schon immer.“

„Stimmt.“
 

Mein Wunsch erfüllte sich.
 

Jasper blieb – auch nachdem ich auf der Toilette gewesen war. Wir stiegen von Kaffee auf Wasser um, räumten den Frühstückskram weg und redeten dabei unentwegt weiter. Zuerst redeten wir noch ein wenig über Geister und menschliche Vorstellungen und Religion und ewig alte Rituale, die den Seelen der Verstorbenen dabei helfen sollten, hinüberzugehen. Dann redeten wir über die Möglichkeit und den Glauben an ein Leben nach dem Tod. Dann sprachen wir noch einmal über Renate.
 

Nun erzählte Jasper mir mehr über sie und ihre gemeinsame Beziehung, die eigentlich sehr innig und liebevoll klang. Renate mochte eine herrische Frau gewesen sein, doch sie war auch eine Frau gewesen, die viel und gerne Zeit mit ihren Enkeln verbracht hatte. Jasper konnte jede Menge süßer, fröhlicher und witziger Geschichten über sie erzählen. Wir sprachen über unsere Familien. Ich erfuhr, dass seine Eltern nach vierundzwanzig Ehejahren immer noch zusammen waren und er eine große Schwester hatte, die angeblich schon immer gewusst hatte, dass er schwul war. Wir sprachen über unsere Outings, das bei ihm weit entspannter als bei mir abgelaufen war. Als ich ihm von der ersten Reaktion meiner Eltern berichtete, war er auf eine bezaubernde Art empört. Meine Arme zuckten schon wieder. Sie konnten nur daran denken, ihn festzuhalten.
 

Die Zeit verstrich. Und wir redeten und redeten über alles, was wichtig war. Und auch alles, was unwichtig war.
 

Aber schließlich ging uns doch die Puste aus und wir verfielen in Schweigen. Inzwischen lagen wir links und rechts neben der dösenden Katze auf dem Fußboden. Von hier sah die Welt ganz anders aus. Ich war schläfrig, weil die Nacht kurz gewesen war und ich über die Maßen viel gesprochen hatte und Cleo mir nun auch noch einlullend ins Ohr schnurrte. Außerdem war ich tiefenentspannt, trotz des harten Parkettbodens unter mir. So leicht hatte ich mich schon lange nicht mehr gefühlt.
 

Jasper atmete leise. Ganz langsam drehte ich den Kopf, um ihn über Cleo hinweg betrachten zu können. Er lag auf der Seite, immer noch in seinem grünen Schlafanzug, den ich mittlerweile für das entzückendste Kleidungsstück der Welt hielt. Sein dichtes, braunes Haar hing über seinen Arm, auf den er seinen hübschen Kopf gebettet hatte, und berührte den Boden. Als er meinen Blick bemerkte, wandte er seine Augen von Cleo ab und sah mich an. Sein Mund verzog sich zu einem wortlosen Lächeln. Ich lächelte zurück.
 

Klick. Ein perfekter Moment. Und weit und breit keine Kamera zu entdecken.
 

„Wie spät ist es?“, flüsterte Jasper, auch seine Stimme klang spröde.

Ich seufzte unterdrückt. Ich wusste, was die Frage bedeutete.

„Keine Ahnung. Willst du, dass ich aufstehe und nachsehe?“

„Nein…,“ hauchte Jasper und grinste, „Eigentlich nicht. Uneigentlich schon.“

„Das ist mir zu kompliziert,“ brummte ich und räkelte mich behaglich, „Steh du auf.“

Er kicherte und stieß mein Knie mit seinem Fuß.

„Hee, ich bin der Gast hier. Komm schon. Du faules Stück.“

„Boah…,“ knurrte ich, „Unverschämtheit.“
 

Er lachte mich so süß an, dass ich ihm keine Sekunde lang böse sein konnte. An meinem Bein fühlte ich seine Zehen. Ich wollte seinen Fuß packen und ihn mit einem Ruck zu mir ziehen, sein Gelächter mit meinem Mund ersticken. Leider lag Cleo dazwischen. Und die letzten Hemmungen.
 

Also erhob ich mich – ächzend wie ein alter Baum im Sturm. Jasper lachte mich aus und ich drohte ihm mit der Faust. Dann streckte ich mich ausgiebig und schleppte mich zu meinem nigelnagelneuen Radiowecker, der auf dem Kühlschrank stand. Nachdem ich die Zahlen auf dem Zifferblatt interpretiert hatte, schmerzte mein Herz.

„Dreizehn Uhr siebzehn…,“

„Echt? Scheiße.“

Jasper hatte sich aufgesetzt und rieb sich das Gesicht.

„Wann hast du Uni?“, erkundigte ich mich.

„Um vierzehn Uhr…,“ antwortete er trübselig, „Und ich sollte vorher echt noch duschen gehen. Oh Gott und die Wohnung… Die muss ich auch noch aufräumen…,“
 

„Ich helfe dir!“
 

Die Worte waren aus meinem Mund gekullert wie Würfel aus einer werfenden Hand. Schlagartig huschte ein Strahlen über Jaspers Miene und bei dem Anblick schien in meinem Magen ein Feuerwerk zu starten.
 

„Echt? Das würdest du tun?“

„Ja… Na klar. Wenn du…nach der Uni wieder zu Hause bist, klingelst du einfach kurz durch und ich komme rüber. Du hast ja meine Nummer. Und ich habe keinen besonders weiten Weg.“

„Okay,“ er strahlte immer noch, „Danke, das ist so nett von dir!“

„Ach, Blödsinn.“
 

Ich musste mich abwenden, so verlegen machte er mich. Wenn er so inbrünstig behauptete, ich wäre nett, und mich dabei auch noch so ansah, dann hielt ich es im Kopf nicht aus. Während ich den Aufruhr in meinem Körper niederrang, polierte ich mit einem Geschirrhandtuch sinnlos am Wasserhahn herum. Den Trick kannte ich von Cleo. Man nannte es Verlegenheitsputzen.
 

Und dann ging es ans Abschiednehmen. Jasper kraulte Cleo ein letztes Mal hinter den Ohren, erhob sich vom Parkettboden und stieg in seine Schuhe. Wir glucksten ein bisschen über die Vorstellung, was seine Nachbarn denken würden, wenn er nun am helllichten Tage im Schlafanzug die Straße überquerte. Viel zu schnell standen wir schließlich an der Wohnungstür.
 

„Vielen Dank,“ sagte Jasper, nachdem wir uns einige Sekunden lang stumm angelächelt hatten, „Für alles. Du… Du hast mich gerettet.“

„Nicht der Rede wert…,“ brummelte ich.

„Wenn du… Also, wenn du nochmal was von meiner Oma hörst…,“

„Dann lass ich es dich umgehend wissen. Versprochen.“

„Okay. Danke. Dann…bis später. Ich rufe dich an.“

„Ja. Mach das. Ich bin hier.“
 

Wir lächelten. Er öffnete die Tür und trat ins Treppenhaus. Auf der Schwelle drehte er sich noch einmal um. Er machte den Mund auf. Er machte den Mund zu. Er zögerte. Dann kam er mir plötzlich blitzartig entgegen.
 

Er schien zu rennen, er schien zu springen, er schien zu zielen. Und dann knallten unsere Zähne geräuschvoll gegeneinander.



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Kommentare zu diesem Kapitel (4)

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Von: abgemeldet
2013-09-30T09:57:46+00:00 30.09.2013 11:57
Damit hatte ich jetzt nicht gerechnet :) Unglaublich niedlich das ganze Kapitel. Man konnte sich richtig vorstellen, wie sie in der Küche auf dem Boden liegen, als würde man daneben liegen und ihrem Gespräch lauschen. Dein Schreibstil lädt einfach dazu ein und das finde ich klasse.
Von:  gila-lala
2013-09-23T10:12:31+00:00 23.09.2013 12:12
*lachanfall*
eindeutig bester cliffhanger ALLER zeiten! wundertoll mit den cliffhanger-kuss-konventionen gespielt :D
platz zwei der großartigkeiten: "sagte der mir der überzeugung eines schulmädchens" aus sechs. hehehe
liebestes,
gila
Von:  Deedochan
2013-09-22T19:19:28+00:00 22.09.2013 21:19
uah - so ein fieses Ende! (und... autsch XD Zähne sind manchmal eine richtig blöde Erfindung... und Arme im Bett beim Kuscheln - wäre praktisch, könnte man die abschrauben...)
und: hach, wie süß. Ich stelle mir die beiden gerade taumelnd und glucksend und kichernd und knutschend vor.
Also... noch einmal: fieses Ende :P ein Absatz mehr wäre wohl sicher drin gewesen?! XD
bis zum nächsten Kapitel!

knutschis,
Deedo

p.s.: die Verspätungen von dir sind nicht sooooooo schlimm, WEIL man nach Kapiteln von dir 1. sowieso nie aufhören möchte zu lesen und 2. ist man danach immer furchtbar glücklich und hibbelig und da ist es im Endeffekt egal, an welchem Tag das ist :P
Von:  emina
2013-09-22T16:15:59+00:00 22.09.2013 18:15
hihihi die armen Zähne hahahah ^__^
ich finde die beiden einfach klasse mach weiter so ^^



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