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Ich sehe was, was Du nicht siehst

von

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Sechs

Und noch ein kleines Kapitel für Zwischendurch ;)

Macht Euch ein schönes Wochenende!
 

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Ich hatte es schon immer gekonnt.
 

Auf jeden Fall konnte ich mich an keine Zeit meines Lebens erinnern, in der ich es nicht gekonnt hätte. Natürlich erinnerte ich mich nicht an alles. Doch seit ich denken konnte, waren sie da gewesen. Meine Eltern sahen sie nicht. Niemand, von dem ich wüsste, sah sie. Woran das lag? Ich wusste es nicht. Tausendmal hatte ich mir selbst diese Frage gestellt. Vielleicht ein zusätzliches Chromosom? Irgendein Genfehler? Schon möglich. Vielleicht würde ich darauf nie eine Antwort finden. Aber vielleicht gab es auf dieser Welt tatsächlich noch andere wie mich, die sich die gleichen Fragen stellten.
 

Als Kind hatte ich nicht verstanden, was Sache war. Ich brauchte lange, um zu begreifen, was und wen ich da sah. Ganz früher waren die anderen Kinder so wie ich, doch mit der Zeit verlernten sie es. Ich verlernte es nie. Ich erzählte meinen Eltern und meinen Schulfreunden davon, bis irgendwann die ersten Bedenken laut wurden. Liebe Herr und Frau Lipkina, Ihr Sohn Tonda erzählt den anderen Kindern in der Schule von Menschen, die außer ihm niemand sehen kann. Von Ängsten war da die Rede gewesen, vom Ärger anderer Eltern, von kindlicher Phantasie und Kinderpsychologen. Meine Eltern begannen sich aufrichtige Sorgen zu machen. Vielleicht dachten sie, ich hätte ein Aufmerksamkeitsdefizit oder so. Sie führten viele Gespräche mit mir, versuchten zu verstehen, was in meinem Hirn vor sich ging. Schließlich nahmen sie mir das Versprechen ab, den anderen Kindern nichts mehr darüber zu erzählen. Ich schwor es. Und ich schwor mir selbst, auch ihnen nichts mehr davon zu erzählen.
 

Dieses Versprechen hielt ich bis heute.
 

„Du hast nie wieder mit jemandem darüber geredet…?“, wisperte Jasper betroffen.

„Doch, schon. Dir hab ich es ja auch erzählt. Manchmal lässt es sich nicht vermeiden, wenn ich einem Geist helfen will. Dann muss ich manchmal seine beziehungsweise ihre Angehörigen oder Freunde einweihen. Aber leider laufen diese Gespräche dann meistens nicht so gut wie mit dir. Und selbst wenn sie mir für den Augenblick glauben, hinterher sind sie trotzdem froh, wenn ich wieder aus ihrem Leben verschwinde. Es ist zu seltsam, zu beängstigend. Niemand schmeißt gerne sein gesamtes Weltbild über Bord. Und deshalb… Ja. So richtig darüber geredet hab ich nie wieder.“
 

Jasper musterte mich mit seinen großen, mitfühlenden Kulleraugen. Ich versank in diesem Blick. Ich wollte, dass er mich wieder außergewöhnlich nannte, dass er die Last, die ich trug, anerkannte und dadurch leichter machte. Ich wollte mich auf seinem Schoß zusammen rollen und meinen Kopf von ihm kraulen lassen.
 

„Die sind doch alle scheiße,“ brummte er schließlich und brachte mich damit zum Lachen. Bevor ich die Hinzes und Kunzes dieser Welt in Schutz nehmen konnte, regte Jasper sich ein wenig auf. Er war bildhübsch dabei, in seinem grün karierten Schlafanzug.

„Nein, ehrlich! Du bist ganz allein damit. Ich dachte immer, ich hätt’s schwer, weil ich schwul bin und mich nicht getraut habe, es meiner Familie zu sagen. Aber ich hatte immer Leute, mit denen ich darüber reden konnte. Ich meine, es gibt Fitnesscenter nur für Homosexuelle. Und es gibt das Schwulen-Referat vom AStA in der Uni. Und meine Eltern haben viel unproblematischer reagiert, als ich erwartet habe. Aber du bist ganz allein. Das… Das ist echt zum Kotzen.“
 

Ich lächelte. Seine Anteilnahme streichelte mein Ego so wunderbar, dass mein Herz zu flattern begann und mein Kopf vor Wohlbehagen ganz schwer wurde. Ich fühlte mich geradezu wie ein Märtyrer. Wir sprachen noch eine Weile darüber, wie ätzend es war, immerzu etwas vor Freunden, Kollegen oder Verwandten zu verbergen, sei es aus Angst, Scham oder schlechten Erfahrungen. Und auf diesem Wege kamen wir irgendwann zum Thema Beziehungen.
 

„Wie… Wie ist das dann eigentlich bei dir?“, wollte Jasper wissen, während er sich seinen vierten Toast mit Marmelade bestrich, „Ich meine, wenn du…wenn du einen Kerl magst.“

Missmutig zuckte ich die Schultern.

„Ach, ich… ich kann keine normale Beziehung führen.“

Schlagartig hob Jasper den Blick von seinem Toast. Er hatte noch gar nicht abgebissen, aber trotzdem konnte ich sehen, wie er schluckte.

„Du… Wieso kannst du keine normale Beziehung führen?“

Ich blinzelte. Ich hatte gedacht, das würde auf der Hand liegen.

„Naja, weil…weil es halt nicht geht. Wegen der Geheimnisse.“

„Oh. Ja, natürlich...,“
 

Er räusperte sich und aus seinen Schultern wich die Spannung. Er biss von seinem Toast ab und machte kauend eine Sprich-weiter-Geste.
 

„Ich meine, es funktioniert einfach nicht,“ fuhr ich also fort, „Irgendwann geht es immer schief. Stell dir vor, mein Freund und ich sitzen knutschend im Bett und plötzlich quatscht mich ein Geist lautstark von der Seite an.“

Jasper prustete erstickt und auch ich musste lachen, obwohl die Situation damals echt nicht besonders witzig gewesen war.

„Ja, genau. Ich erschrecke mich zu Tode und kann mich gerade noch davon abhalten, laut Sag mal, hast du sie noch alle?! zu brüllen. Wenn man mehr wahrnimmt als alle anderen, kommt man ständig in Erklärungsnot. Ständig fällt einem urplötzlich etwas ein, das man dringend noch erledigen muss. Verdammte Axt. Da muss der andere früher oder später einfach misstrauisch werden.“
 

Nachdenklich sah er mich an und schluckte den Bissen hinunter.

„Das hast du wirklich erlebt, oder? Das mit dem…dem Knutschen und dem Geist.“

Ich brummte zustimmend.

„Was hast du gemacht?“

„Hab behauptet, ich müsste dringend mal pinkeln.“

Jasper grinste.

„Und wie ist es ausgegangen?

„Auf lange Sicht? Schlecht.“
 

Und dann war Marius mit uns in der Küche. Er stand praktisch direkt neben dem Frühstückstisch. Jasper musterte mich aufmerksam und bevor ich mich versah, erzählte ich ihm auch davon. Ich erzählte ihm von Marius. Allerdings nur ganz knapp. Mehr erzählte ich ihm von Ralph, dem Geist mit dem miesesten Timing aller Zeiten. Ich erzählte ihm von seinem Problem und seiner Forderung, von unserem endlosen Gestreite und meinem Radiowecker, den Ralph in seinem Zorn zu Bruch hatte gehen lassen. Und dann erzählte ich ihm auch noch von Montagnacht. Drei Tage war das jetzt her.
 

„Ich wurde mitten in der Nacht wach, weil er im Zimmer war. Er jammerte rum und schließlich bin ich ins Bad gegangen, damit wir ungestört reden konnten. Aber ich war so entnervt und wütend, dass ich ein bisschen übertrieben hab. Ich hab ihn ganz schön angeblafft. Und dann…flog plötzlich die Tür auf und…da stand Marius. Und starrte mich an. Ralph hat sich sofort vom Acker gemacht, weil er genau wusste…,“

Ich verstummte und kaute auf den Innenseiten meiner Wangen. Marius‘ Blick konnte ich immer noch ganz genau vor mir sehen.
 

„Und weiter…?“, flüsterte Jasper.

Ich seufzte schwer. Als ich weitersprach, klang meine Stimme ruhig und gleichgültig.

„Ähm… Tja. In Kurzform lief es etwa so ab – Er: Mit wem hast du geredet? Ich: Äh, mit mir selbst. Er: Ja, klar. Für wie blöd hältst du mich eigentlich? Und dann fing er an. Hat mich gar nicht zu Wort kommen lassen und mir sämtliche Situationen aufgezählt, in denen ich mich irgendwie seltsam benommen habe. Und bei jeder einzelnen hatte er Recht. Er hat mir erzählt, wie es ihn immer mehr beschäftigt hat. Aber er wollte nicht nachfragen, weil er…weil er mich mochte. Aber Montagnacht wollte er schließlich doch die Wahrheit wissen. Also…habe ich sie ihm gesagt.“
 

Jasper betrachtete mich wie gebannt. Ich lächelte, um Distanz zu schaffen. Zwischen mir und der Erinnerung. Doch als ich den Mund öffnete, kamen keine Worte heraus. Ich musste mir noch einmal die Lippen befeuchten. Jasper half mir.
 

„Er hat dir nicht geglaubt?“, wisperte er.

Ich schüttelte den Kopf.

„Nein. Das hat er nicht. Er sagte… Er sagte, dass ich dringend Hilfe bräuchte. Und das wir uns besser erst mal nicht sehen sollten. Dann hat er seine Sachen geholt und ist wie der Blitz aus der Wohnung raus. Ich glaube… Ich glaube, er hatte sogar Angst vor mir.“
 

Ja. Das war das Schlimmste gewesen. Die Furcht in Marius‘ Augen. Er hatte sich vor mir, dem Irren, gefürchtet. Vielleicht hatte er sich gefragt, wie psychisch gestört ich tatsächlich war. Und ob er in Gefahr schwebte. Ob ich ihm etwas antun könnte…
 

Mein Gott. Dabei hatte mir doch nichts ferner gelegen, als ihm ein Haar zu krümmen.
 

„Tut mir leid…,“ sagte Jasper leise.

Ich nickte und mein Mund lächelte.

„Danke. Ist schon gut. So läuft das nun mal. Ich kann ihn sogar verstehen. Aus seiner Perspektive was das sicher total beängstigend. Wäre ich an seiner Stelle gewesen, hätte ich wahrscheinlich auch so reagiert.“

„Wart ihr…? Ich meine, warst du…? Wart ihr…verliebt ineinander?“

Hektisch schüttelte ich den Kopf.

Nein! Nein. Auf keinen Fall.“
 

Ich schluckte. Und dann drängte die ganze Wahrheit aus meinem Mund.

„Keine Ahnung. Vielleicht. Oder vielleicht…hätte es dazu kommen können. Wir hatten eine verdammt gute Zeit. Mit ihm…hätte ich es aushalten können. Verstehst du?“
 

Jasper nickte. Er lächelte, sah aber auch etwas traurig aus.

„Er war nicht der Richtige für dich.“

Ich schnaubte wie jemand, der nicht an die große Liebe glaubte.

„Der Richtige…,“

„Ja, der Richtige,“ betonte Jasper mit der tiefen Überzeugung eines Schulmädchens, „Nein, ehrlich. Ich mag den Richtigen für mich nicht finden können, aber bei... Also, dass der nicht der Richtige für dich war, liegt auf der Hand. Der Richtige hätte dir geglaubt. Er hätte verstanden, dass du ihm in einer solchen Situation nur die Wahrheit erzählt hättest. Er hätte dir zugehört. Und er hätte dir vertraut. So wie bei Melinda Gordon und ihrem Jim.“

„Sicher?“

„Ganz sicher. Vertrau mir. Ich seh ne Menge Serien, mit den Richtigen kenn ich mich aus.“
 

Wir grinsten uns an. Und ich spürte, wie sich irgendwas in mir entkrampfte. Plötzlich konnte ich wieder freier atmen. Als würde grauer Qualm aus meiner Lunge weichen. Serien mochten letztendlich doch kein Spiegel der Realität sein, aber es tat trotzdem gut, die Welt auf diese Weise zu sehen. Jasper und ich hakten das Thema Marius ab. Und auch ich hakte das Thema Marius ab. Vielleicht noch nicht vollständig, aber immerhin. Es war ein Anfang. Und es war gar nicht so schwer.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Momachita
2013-09-18T09:15:40+00:00 18.09.2013 11:15
"Serien mochten letztendlich doch kein Spiegel der Realität sein, aber es tat trotzdem gut, die Welt auf diese Weise zu sehen."

Es ist so schön etwas zu lesen & einen Gedankengang zu finden, dem man mit vor Jubel in die Luft geworfenen Armen beipflichten möchte. Oder zumindest mit einem Lächeln auf den Lippen beipflichtend zunickt. Wenn er auch nicht so exorbitant ausgefallen ist, dass man ihn gleich als Lebensweisheit betiteln würde.
Mir gefällt so ausgesprochen gut, wie du es schaffst eine Geschichte zu schreiben, die nicht zu aufdringlich, nicht zu süß und nicht zu ernst ist, und die dennoch einige Gedanken verlauten lässt, die mehr sind als pure Unterhaltung. Klitzekleine Denkanstöße, die einem den Tag über im Kopf bleiben, ohne als Balast im Gehirn stecken zu bleiben.
Danke dafür & ich freue mich darauf noch mehr von dir zu lesen - insbesondere von Tonda & Jasper, die so herrlich süß-erwachsen sind.
Von:  Deedochan
2013-09-13T12:32:06+00:00 13.09.2013 14:32
Hey ho, Lung!

Recht hast du mit deiner Beschreibung: kleines Kapitel für Zwischendurch :D gsd ist es klein und für Zwischendurch - ich bin heute nämlich ein wenig im Stress (hoffentlich ist das nächste länger :D). Ich mag die beiden wirklich gerne - besonders Jasper ist so süß, knuffig und unschuldig *ihn am liebsten zu Tode knuddeln würd*

Bis zum nächsten Kapitelchen!
Bussl, Deedo


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