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Meeresflüstern

Die Hungerspiele der Annie Cresta
von

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Familienbande

 

»Meine Damen und Herren, weiter geht es mit dem Event des Jahres: Die einzigartigen Familiengespräche! Bei so viel Spannung können wir dem Schicksal doch nur danken, dass es diesen kleinen Brand im Trainingscenter gab. Welche dunklen Geheimnisse werden heute womöglich noch enthüllt? Welche Familien werden uns zu Tränen rühren?
 

 

Caesar, ich weiß gar nicht, ob man die ersten Gespräche noch toppen kann. Das emotionale Zusammentreffen von Shine mit ihren Eltern, die Tränen ihrer Schwester – Floyd, der seiner entzückenden Freundin einen Heiratsantrag macht ... Das waren schon echte Highlights!

 

Und nicht zu vergessen Maylins kleiner Zusammenbruch! Was hat die starke Favoritin nur so geschwächt?

 

Nun, wir können nur vermuten, aber jetzt geht es vielversprechend weiter mit Distrikt Vier!«

 
 

*

 

Wie die Perlen auf der Schnur sitzen wir Tribute da. Geordnet nach Distrikt, zuerst das Mädchen, dann der Junge. Die meisten starren auf die Wand gegenüber, einige reden leise miteinander – und wieder andere halten einander fest an den Händen. So wie ich und Pon.

Überall um uns herum stehen Friedenswächter, jederzeit bereit, einzugreifen. Doch Floyd ist längst wieder abgeführt worden, in Handschellen. Er hat uns keines Blickes gewürdigt und die meisten Tribute ihrerseits haben es ihm gleichgetan. In Gedanken ist ohnehin jeder bei der eigenen Familie. Selbst wenn sie nicht wirklich hier sein werden – ihre Gesichter zu sehen wird aufregend genug.

Ich hoffe, dass Papa mich überhaupt wiedererkennen wird. Alexis hat mir ein viel zu aufdringliches Make-Up verpasst. Spuren des blauen Lidschattens kleben noch an meinen Fingerspitzen, da ich mir natürlich vor lauter Müdigkeit die Augen gerieben habe. Bestimmt werde ich dafür Schelte bekommen, doch es ist mir herzlich egal.

Eine der vielen Türen am Ende des Raums geht auf und der Junge aus Distrikt Drei wird hinausgeführt. Sein Gesicht strahlt mit den Scheinwerfern an der Decke um die Wette. Hoffnung glänzt in seinen Augen. Hoffnung, die tödlich sein kann. Oder ihn stärken wird.

Damit bin ich an der Reihe. Vivette kommt mich holen und mir bleibt nichts anderes übrig, als Pons Hand ein letztes Mal zu drücken. Am liebsten würde ich ihm den Vortritt lassen, doch das Kapitol hat das hier genau durchgeplant. Selbst den Jungen aus Distrikt Neun werden sie irgendwie vor die Kamera bringen, gleichwohl er nicht im Vorbereitungsraum sitzt. Hauptsache, die Zuschauer außerhalb ahnen nicht, was der Grund für diesen Bruch in der Routine ist.

Hinter der Studiotür erwartet mich ein karger grauer Raum. Nur zwischen den Kameras steht ein gemütliches Sofa, umrahmt von Topfpflanzen und dekoriert mit Paillettenkissen. Eine Leinwand dahinter zeigt die bewegte Szenerie des Kapitols, womit den Betrachtern vorgegaukelt wird, dass wir Tribute in einem Raum mit atemberaubender Aussicht sitzen. Auf einem Tisch davor steht ein einsames Wasserglas und wartet nur darauf, von mir in einem Zug hinabgestürzt zu werden.

Wo werde ich meine Familie wohl sehen? Klar, auf dem übergroßen Bildschirm gegenüber des Sofas, doch wo in Distrikt Vier werden sie gefilmt? Daheim, in unserem winzigen Wohnzimmer, das auch gleichzeitig die Küche ist? Oder im Justizgebäude? Wird auf ihrer Seite genauso ein Rummel organisiert?

Den Rücken kerzengerade durchgestreckt, die Beine angewinkelt, wie Cece es gezeigt hat, lasse ich mich auf das Sofa sinken. Einen Moment lang blickt mir bloß meine Reflexion von dem Fernseher entgegen. Vor mir scheint eine Fremde zu sitzen. Sie hält sich auf der äußersten Kante des roten Polsters, ihre Hände im Schoß gefaltet. Das festliche Kleid, die gelockten Haare und das übertriebene Make-Up gehören einfach nicht zur Tochter eines Fischers.

»Miss? Wir sind so weit.«

Ein Mann im grünen Glitzeranzug, der reichlich gestresst wirkt, schiebt mir die Haare ungefragt zurück über die Schulter und fängt sich Schelte von Vivette ein, die der Meinung ist, dass es vorher besser aussah. Der Streit der beiden reizt meine ohnehin schon gespannten Nerven. Ich bin kurz davor, aufzuspringen und ihnen die Haarsträhnen zu entreißen, als sie endlich von dem Aufnahmeleiter unterbrochen werden, der beide fortscheucht. Vivette kann mir lediglich zuzischen, das ich nicht an den Fingernägeln knabbern darf, dann sind sie weg.

»Noch zehn Sekunden«, ruft der kleine Mann, der sich wie ein menschlicher Gummiball gebärdet.

Hastig leere ich das Wasserglas, weil ich sonst keinen Ton herauskriegen werde. Lecke mir noch einmal die spröden Lippen. Streiche durch mein Haar und bringe somit Vivettes Werk durcheinander. Egal.

»Und wir sind drauf!«

Der Fernseher erwacht zum Leben. Plötzlich schaue ich in das mir so bekannte Wohnzimmer daheim in Distrikt Vier. Auf dem Sofa mit den abgestoßenen Armlehnen wartet mein Vater, der Cyle auf dem Schoß hat. Doch damit nicht genug – neben ihm sitzt Survy, ein Mädchen aus der Schule, mit dem ich früher oft Zeit in den Pausen verbracht habe. Bis sie Arbeit fand und den Unterricht verlassen hat. Auf den Hockern vom Esstisch ist zudem Davids gesamte Familie rund um das Sofa platziert. Inklusive ihm.

Mir bleibt der Atem weg. Alles, was ich ihnen noch sagen wollte – fortgewischt. Ich presse die Fingernägel in den Unterarm, bis es schmerzt. Hoffentlich sagt niemand das Falsche. Oder tut etwas, das dem Kapitol nicht gefällt.

Doch für meine Angst bleibt keine Zeit, Leben kommt in das Bild. Cyle entreißt sich mit einem Aufschrei den Armen unseres Vaters.

»Annie! Annie!«

Gerade so erwischt Papa seinen Hemdsärmel und er zieht ihn zurück. »Das ist nur im Fernsehen, Cyle, Annie ist nicht wirklich da ...«

Der Anblick der wichtigsten Menschen in meinem Leben verschwimmt mir vor den Augen, egal wie fest ich den Unterarm mit den Fingernägeln malträtiere.

»Hey ...« Zaghaft winke ich dem Bildschirm. Mehr kommt nicht heraus, denn eine unsichtbare Angelsehne legt sich um meinen Hals und schnürt mir die Worte ab.

Alle lächeln und wedeln genauso unbeholfen mit den Händen. Sie reden wild durcheinander, bis wohl irgendein Aufnahmeleiter auf ihrer Seite einschreitet, um meinem Vater das Wort zu erteilen.

»Annie, wie geht es dir, so fern im Kapitol?«

Sobald ich den Mund öffne, entweicht zuerst eine Mischung aus Seufzen und Schluchzen, obwohl keine Tränen fließen. »Wunderbar. Wie könnte es mir hier auch schlecht gehen? Es gibt ganz fantastischen Pudding hier ... und zuckersüße Erdbeeren. Überhaupt, so viel Essen und so viel man will, man kann sich gar nicht entscheiden, was man alles probieren will!« Ich lache, als würde es sich um Anekdoten von einer Urlaubsreise handeln. Nur ein kleiner Ausflug ohne Wiederkehr. »Mein Bett ist so weich – Cyle, darauf könntest du so hoch springen wie noch nie!«

Cyles Augen leuchten auf. »Darf man das im Kapitol?«

Zuhause bekommt er immer Ärger mit Papa, der nicht will, dass die Federn des Bettes nachgeben. Und irgendetwas in mir sagt, dass es Cece aus anderen Gründen genauso wenig passen würde. Anstand und so.

»Bestimmt. Hier darf man schließlich alles, es ist ja das Kapitol.« Alles, außer über Distrikt Neun reden. Oder ... über Finnicks geheimes Leid. Ich erinnere mich an die Avoxdienerin in unserem Appartement und mir wird übel. »Was ist bei euch los, wie genießt ihr euren Sommer?«, hasple ich drauf los. Hauptsache, die Gedanken an das Verbotene schwinden.

»Wir haben beschlossen, das Bootshaus zu renovieren«, erklärt Davids Mutter ernst. »Außerdem wird es Zeit, das Boot neu zu streichen. Rot für die Reling, was hältst du davon?«

»Das wird bestimmt schön.« Doch vor meinem geistigen Auge wollen keine Bilder entstehen.

»Vielleicht können wir uns dieses Jahr sogar ein zweites Boot leisten«, bringt sich auch David sich in das Gespräch ein. Zum ersten Mal seit unserer Nicht-Verabschiedung. »Wir haben dieses Jahr gute Fänge eingefahren, gerade in den letzten Wochen. Das neue Boot könnten wir nach dir benennen, was hältst du von der Queen Annie?«

Ich starre auf den Bildschirm. Papa beißt sich auf die Unterlippe. Ein Schiff mit meinem Namen. Das ist eine Ehrung für die Toten. Ein letztes Andenken. Wird das alles sein, was ich der Welt hinterlasse?

»Schön«, hauche ich tonlos. Ich schaffe es nicht, David in die – meilenweit entfernten und doch so nahen – Augen zu sehen. Vielleicht merkt er es nicht einmal.

Dafür schaltet sich nun Survy ein, die ich fast vergessen habe. »Und wenn du zurückkommst, gibt es ein großes Fest!« Ihre Wangen leuchten rot, aber sie fährt voller Überzeugung fort. »Außerdem haben Cyle und ich eine Überraschung für dich gebastelt. Aber was das ist, erfährst du erst, wenn du zurück bist.«

»Darauf freue ich mich schon.« Die Worte rollen mir nur so von der Zunge, als hätte das Kapitol sie dorthin gelegt. Weitere unsichtbare Angelsehnen ziehen meine Mundwinkel zu einem Lächeln empor und lassen mich aussehen, wie eine Tributin, die noch an sich selber glaubt. Dabei bin ich einfach ... leer. Eine Hülle, die nur darauf wartet, dass diese unangenehme Situation vorbei ist. Ich wünschte, nur Papa und Cyle würden dort sitzen. Das würde mir reichen.

Ein Piepen ertönt im Studio. Die finalen Minuten meiner Interviewzeit brechen an. Sofort fühle ich mich schuldig, das Ende herbeigesehnt zu haben. Immerhin ist es das letzte Mal, dass ich sie alle sehe.

»Ich freue mich, dass es euch gutgeht«, murmle ich, ohne jemanden konkret anzusehen.

Alle nicken und doch weiß keiner mehr, was zu sagen ist. David sieht auf seine Finger, die unablässig mit einem Muschelarmband spielen, das ich ihm geflochten habe.

»Annie ... gib dein Bestes, ja? Du kannst ja noch trainieren und vielleicht ...«

Fast lache ich auf. »Natürlich. Ich ...« Habe nicht vor, zurückzukehren. Ich kann nicht lügen, nicht so direkt. Nicht gegenüber David.

Im Hintergrund erkenne ich, wie mein Vater den Rest der Anwesenden vom Aufnahmeort fortführt. Ein Moment alleine mit David – und ganz Panem schaut zu. Es ist, als würde eine Last von mir abfallen, nur um von der nächsten ersetzt zu werden. Vermutlich ist es der falsche Augenblick, aber die Chance wird nicht wiederkehren. Also entschließe ich mich für Ehrlichkeit.

»David, ich kann das nicht. Ich komme nicht zurück. Dafür müsste Pon sterben. Und ich habe ihm geschworen, ihn zu beschützen. Dafür gebe ich mein Bestes, bis zum Ende. Er soll gewinnen. Er verdient es.«

Davids Finger halten inne damit, das Muschelband zu streicheln. Ganz langsam hebt er das Haupt. Seine Stirn ist von nachdenklichen Falten übersät. »Das ist ein Witz.«

Ich schüttle den Kopf.

»Bitte Annie, der ist doch erst zwölf!«

»Deswegen! Du kennst ihn nicht, aber –«

Mit einem Schnauben unterbricht David mich. Er stützt den Kopf in die Hände. »Das meinst du nicht ernst. Das ... das ist Wahnsinn! Du hast ein Leben hier. Was ist mit uns? Hast du mal an mich gedacht?«

»Du willst ein Schiff nach mir benennen – hast du mal an mich gedacht?« Die Hände in meinem Schoß sind zu Fäusten geballt. »Du hast mich doch längst abgeschrieben! Du hast mich nicht einmal richtig verabschiedet!«

»Weil ich uns diesen Schmerz eigentlich ersparen wollte! Immerhin gibt es 23 andere, da wird es schwer genug, ohne dass du dein Leben für ein Kind aufgibst. Dabei dachte ich immer, dass wir Kinder haben wollen. Hast du mal daran gedacht, was du mir raubst, wenn du es nicht einmal versuchst? Bedeute ich dir gar nichts?«

»Bitte?« Ich zittere, aber nicht vor Angst. Diesmal ist es Wut. Ist das Davids Ernst? Vor ganz Panem stellt er nicht nur meine Entscheidungen in Frage, sondern erhebt sich über mich? Kenne ich diesen Menschen, der mich aus tiefgrünen Augen anfunkelt, überhaupt? »Du hast doch keine Ahnung, wie es ist, hier ganz alleine kämpfen zu müssen.«

»Aber ich weiß, dass ich würde sofort kämpfen, wenn ich dein Leben retten könnte«, faucht David zurück.

»Das sagt sich so leicht! Aber die Zeit hier ... es sind nur ein paar Tage, doch es hat mich verändert. Selbst wenn ich zurückkehre – es wird nie wieder sein, wie früher. Kann es gar nicht. Versteh das doch. Bitte David.«

Er hebt seine Hand, lässt sie dann jedoch sinken. »Lügst du mich an? Bist du etwa einem deiner Mittribute verfallen? Oder –«

Bevor er weitersprechen kann, falle ich ihm ins Wort. »Natürlich nicht! Als wenn das so einfach wäre.«

Sein Nicken wirkt nicht überzeugt. Doch schließlich steht er auf, tritt nach vorne und legt seine Hand wohl auf den Bildschirm, der mich zeigt. Auf jeden Fall ist seine Handfläche plötzlich ganz groß und nah dran. So sehr er mich gerade wütend macht – ich folge seiner Geste und lege meinerseits die Finger auf das Abbild seiner.

»Ich liebe dich trotzdem.«

»Ich hab dich auch lieb, David.«

Einen Moment verharren wir so, ehe David sich das Gesicht reibt und zu seinem Platz zurückkehrt. Nicht lange danach kehrt der Rest unserer Familie zurück.

»Annie, wir sind bei dir«, ruft Papa mit Cyle auf dem Arm.

Ich lächle die angestauten Tränen fort, die Hände über dem Herzen gefaltet. »Und ich denke immer an euch.«

Das Letzte, was ich von meinem Vater und Bruder sehe, ist ihr Winken. Dann wird die Verbindung gekappt. Ein Standbild von ihnen bleibt, ehe der Bildschirm erneut schwarz wird.

Binnen Sekunden umschwirrt mich Vivette wieder wie ein kleiner Schmetterling. Sie flötet irgendetwas, aber die Worte dringen nicht zu mir durch. Wie eine mechanische Puppe folge ich ihr ins Appartement, schäle mich aus der Kleidung und gehe unter die Dusche. Dort bleibe ich so lange, bis Mags an die Tür klopft, um an das fortgesetzte Training mit den Mentoren zu erinnern.

 



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