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Meeresflüstern

Die Hungerspiele der Annie Cresta
von

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Wogen der Gefühle

In der Trainingshalle angekommen, verkündet Floogs Pon und mir, dass für die letzten Tage die Mentoren gewechselt werden. Um das Optimum aus dieser Konstellation herauszuholen. Mit einem Blick auf Trexlers Grimasse wünsche ich mir Floogs bereits zurück. Ich bezweifle, dass sein bester Freund genauso liebe Worte für mich übrig haben wird.

Das bedeutet allerdings auch, dass Finnick ab sofort ebenfalls mein Mentor ist. Und der entscheidet sich prompt für einen Intensivkurs im Speerwerfen, den er ebenso mit Pon durchgezogen hat. Ohne große Begeisterung folge ich Finnicks Anmerkungen, die Trexler vor allem durch Grummeln – und eindringliche Demonstrationen – unterstützt.

Im Gegensatz zu sonst verfehlen die meisten meiner Würfe die Zielscheibe. Im Kopf bin ich nie in der Trainingshalle angekommen, sondern stecke noch im Aufnahmestudio, dessen Geschehnisse mich wie ein engmaschiges Netz umfangen. Davids Worte hallen mir durch die Gedanken; ein beständiges Echo. Hast du mal an mich gedacht?

Wut lässt meine Hände zittern, jedes Mal wenn ich an seine Vorwürfe denke – Hast du mal daran gedacht, was du mir raubst? – und zack sirrt der Speer ins Nirgendwo. Nach dem zehnten Wurf in Folge, bei dem die Waffe klappernd an der Wand hinter den Zielscheiben abprallt, reicht es Finnick.

»Wir verschwenden unsere Zeit.« Er steht mit verschränkten Armen da und gegen ihn sieht Trexler so glücklich aus wie das sprichwörtliche Honigkuchenpferd.

»Gut«, zische ich und haue den Speer, den ich als Nächstes werfen wollte – oder eher sollte – zurück auf den Ständer. »Siehst du also endlich ein, dass ich diesen Aufwand nicht wert bin? Kann ich jetzt gehen und in Frieden in der Arena sterben?«

»Du gehst nirgendwo hin.«

»Ach ja? Und was willst du dagegen tun?« Ich weiß nicht, was ich sage; brülle einfach hinaus, was mir als Erstes in den Sinn kommt. Hauptsache, es trifft. »Stellst du dich mir in den Weg, Mister-ich-weiß-besser-was-gut-für-dich-ist? Du kannst ja schlecht an meiner Stelle in die Arena zurückkehren!«

Die Falte zwischen Finnicks Augenbrauen gräbt sich immer tiefer in seine Stirn, doch seine Stimme bleibt ruhig. »Ich bin nicht derjenige, auf den du wütend sein solltest. Zumindest wird es nichts verändern, mich anzuschreien. Ich will dir nur helfen, selbst zu bestimmen, wie du deinen Frieden findest.«

»Das Ganze hier hilft aber nicht«, werfe ich ihm entgegen. »Ich will nicht mehr trainieren! Ich werde sterben, aber nicht mal das darf ich nach meinen Vorstellungen!« Jetzt, mit Stunden Verspätung, laufen die Tränen doch über mein Gesicht. »Ich will einfach, dass es endlich vorbei ist!«

Trexlers Pranke landet auf meiner Schulter, sodass mir die Knie einknicken. »Nich’, Annie. Sowas solltest du gar nich’ denken. Bitte. Wir woll’n keine Feinde sein.«

Finnick hat noch immer die Arme vor der Brust verschränkt, doch sein Gesicht ist bleich wie die Friedenswächteruniformen, die Lippen zu Strichen zusammengepresst. Der Anblick verschwimmt unter meinen Tränen. Ich weiß, dass ich im Unrecht bin. Trotzdem schlage ich nach Trexlers Hand – als wenn ich etwas gegen den Hünen ausrichten könnte. Die Botschaft scheint allerdings anzukommen, denn er zieht sich zurück.

»Es tut mir leid für dich«, murmelt Finnick schließlich in die Stille, die mein hemmungsloses Schluchzen geschaffen hat. »Was mit deinem Verlobten geschehen ist ... Er hatte kein Recht, diese Dinge zu sagen.«

»Die Menschen daheim verst’n leider nich’, was die Spiele bedeuten«, pflichtet Trexler ihm bei. »Für sie is’ es einfacher, zu trauern, als zu hoff’n. Macht seine Worte nich’ besser, aber manchmal hilft’s, zu versteh’n.«

»Es ist, als wenn ich David gar nicht mehr kennen würde.« Meine Nase läuft und ich reibe mir wie ein Kleinkind das Gesicht mit dem Ärmel der Trainingsjacke. »Ich dachte, ich würde mich freuen, ihn zu sehen ... Es war furchtbar. Ich wünschte, er wäre nicht so etwas wie mein Verlobter. Aber das ist ja inzwischen eh egal.« Und jetzt fühle ich mich furchtbar, weil ich mich furchtbar fühle. Ein Mahlstrom der Gefühle.

»Es ist okay, dass du dich so fühlst. Wirklich.«

Zögerlich legt Finnick eine Hand auf meine Schulter. Ich schlage sie nicht weg. Stattdessen weine ich noch heftiger und als er einen Schritt auf mich zugeht, stolpere ich geradewegs in seine Arme, das feuchte Gesicht in seinem Shirt vergraben.

»Lass es raus. Ist schon okay.«

Finnicks Fingerspitzen beschreiben Kreise zwischen meinen Schulterblättern und ich bemühe mich, die Aufmerksamkeit darauf zu konzentrieren. Bloß nicht auf seinen Geruch oder meinen Gedankenstrom. Unendlich schwierig, wo er doch tut, was ich mir von David immer ersehnt hätte. Und besser riecht. Überhaupt ist Finnicks Umarmung ... anders. Weicher. Intensiver. Ehrlicher?

So lange hat David mich nie in den Armen gehalten, geschweige denn dabei über meinen Rücken gestrichen. Ein wohliges Kribbeln breitet sich von der Kopfhaut in allen Gliedern aus und ersetzt die Schluchzer durch leiseres Schniefen. Obwohl ich noch im Trainingscenter zwischen lauter Mordwaffen stehe, fühle ich mich besser; stärker. Wieder etwas weniger wie ein Opfer.

Mit jedem Kreis auf meinem Rücken versiegen mehr Tränen, bis Finnick mich vorsichtig loslässt. Auf wackligen Beinen bleibe ich stehen und schenke ihm ein kleines Lächeln, das er erwidert. Gerade so kann ich ein enttäuschtes Seufzen unterdrücken, als er sich abwendet und ein paar Schritte zur Seite geht, wo er sich auf eine Bodenmatte setzt. Mein Körper sehnt sich die schützende Umarmung zurück; ihr Fehlen wird mit einem eisigen Schaudern abgestraft.

Ich folge Trexlers Kopfnicken zu den Matten und lasse mich ebenfalls dort fallen, eine gebührliche Armlänge Abstand zwischen Finnick und mir. Nicht, dass hier irgendwer auf falsche Gedanken kommt.

Anstatt zu trainieren, bilden wir drei einen Kreis, in dem ich von allem Frust mit David ungefiltert berichten darf. Die Worte fallen mir schwer, als wären sie mit kleinen Angelhaken besetzt, die sich in meiner Kehle verfangen. Trotzdem gelingt es mir schlussendlich, die ersten Sätze hervorzuwürgen, und von da an schrumpfen die Haken, bis die Erzählungen nur so sprudeln.

Ich rede von Davids und meiner Kindheit bis hin zur Schulzeit. Von den vielen Witzen, die wir geteilt haben, den Dingen, die wir gemeinsam unternommen haben. Von Geschichten, die wir einander auf dem Heimweg erzählt haben, über Meeresmonster mit unzähligen Tentakeln und mysteriöse Lichter auf dem Meer. Und schließlich von den neckischen Kommentaren der Erwachsenen, dass wir beide ein perfektes Paar wären. Von dem neuen Blick, den ich mit diesem Wissen auf David geworfen habe. Wie ich mich in seiner Nähe wohlgefühlt habe und wie ... praktisch alles erschien. Wie einfach es war, sich die gemeinsame Zukunft vorzustellen.

Je länger ich spreche, desto mehr befreit sich die Wahrheit aus meinem Herzen – als würden auch dort viele kleine Angelhaken herausgerissen und etwas freigegeben, von dem ich nicht wusste, wie sehr es mir wehgetan hat. Ich liebe David – aber nicht in der Rolle meines Verlobten. Sondern als besten Freund; als Menschen, den ich unfassbar gerne mag – den ich nicht missen möchte –, aber mit dem ich keine Zukunft sehe.

»Dass er vor ganz Panem von Kindern geredet hat, hat sich angefühlt wie ein Verrat.« Ich beiße mir auf die Lippen. »Klar, es ist der natürliche Gang der Dinge, aber ... als er es ausgesprochen hat, wurde es plötzlich so real. Und – ich will das nicht. Nicht mit ihm. Der Gedanke, dass ich es getan hätte, wenn die Spiele nicht wären ... verrückt. Vermutlich hätte ich nie gemerkt, dass ich damit nicht glücklich bin, aber jetzt bin ich sogar irgendwie ... dankbar.«

Die Wunden, die diese Befreiungen in mein Herz reißen, bluten. Vielleicht fehlt für immer ein Stück, wo diese falsche Liebe zu David hineingepresst war. In Anbetracht der Hungerspiele werde ich es wohl nie herausfinden, aber sobald ich einen tiefen Atemzug nehme, erfüllt mich das Gefühl zu schweben. Fort ist die Wut und sie hinterlässt nur Erleichterung.

Dankbar für Trexler und Finnicks stille Unterstützung lächle ich sie hinter dem Vorhang aus meinem dunklen Haar hervor an. »Danke. Danke, dass ihr mir zuhört ... Ich – ich habe bis zu diesem Zeitpunkt noch nie so viel über mich und David nachgedacht. Wenn ... also wenn alles vorbei ist, meint ihr, ihr könnt ihn wissen lassen, dass ich ihn trotz allem sehr geliebt habe?«

Im selben Atemzug nicken meine beiden Mentoren.

»Ich bin sicher, er weiß es schon, aber ich werde höchstpersönlich dafür sorgen, dass er es erfährt.« Finnick drückt seine flachen Hände gegen die Oberschenkel, wilde Entschlossenheit im Gesicht.

Mit einem Seufzen lege ich das Kinn auf die angezogenen Knie. Von einer auf die andere Sekunde ist mein Kopf herrlich leer. Mir wird glatt schwindelig von so viel Leichtigkeit.

Eine Weile lausche ich Trexler, der im Gegenzug harmlose Anekdoten von seiner Frau daheim erzählt und wie ihm genauso erst durch die Spiele bewusst wurde, dass er seine damaligen Liebschaften – wer hätte damit gerechnet – nicht wirklich liebte. Ich schäme mich direkt, nichts von Trexlers Ehe gewusst zu haben. Dafür, dass unsere Sieger so berühmt sind, weiß ich allgemein erschreckend wenig von ihrem Leben.

Immerhin begreife ich, warum Finnick sich in diesem Gespräch zurückhält. Noch vor kurzem hätte ich ihm Unrecht getan und vermutet, dass er nicht zu aufrichtiger Liebe fähig ist, doch jetzt ist mir klar, dass er genau weiß, wie es ist, in einer falschen Beziehung gefangen zu sein. Und vermutlich weiß er genauso wenig wie ich, wie sich diese tiefe Zuneigung anfühlt, die Trexler für seine Ehefrau empfindet.

Finnick bemerkt, dass mein Blick unweigerlich auf ihm ruht und während Trexler mit leuchtenden Augen von seiner Liebsten erzählt, rückt er näher an mich heran, seine Hand sanft auf meine gelegt. Ich bin unsicher, wem von uns dieser Umstand mehr Trost spendet, doch dass es so ist, sehe ich darin, wie das Funkeln in seine Augen zurückkehrt. Wie das Licht, das sich auf den Wellenkronen bricht.

Irgendwann sind alle Worte gesprochen, alle Geschichten erzählt und nicht nur verstehe ich Trexler jetzt besser, ich habe den Unmut über Davids Äußerungen weit genug verdaut, dass wir tatsächlich das Training fortsetzen können. Schließlich habe ich eine Mission zu erfüllen; ein Leben zu retten.

Trexler und Finnick bringen mir in der Restzeit verschiedene Wurftechniken bei, ebenso wie tödliche Hiebe. Sie zeigen mir die Punkte, die ich am besten mit dem Speer treffen sollte, wenn ich töten muss oder wie man Gegner auf Distanz hält. Sogar mit dem Dreizack darf ich trainieren. Wirklich interessant ist es jedoch, Finnick das erste Mal hautnah mit seiner präferierten Waffe zu erleben.

Ich weiß ja, dass er gut ist, doch ihm zuzusehen, wie er die Trainingspuppen kurz und klein schlägt, hinterlässt ein neues Gefühl, das ich nicht deuten kann. Das ist die andere Seite von Finnick Odair, dessen Umarmungen einen so sacht umspülen wie die ruhige See. Das ist die schwarze Meerestiefe, vor der ich Angst haben sollte. Wenn da nicht das Gefühl von seinen Fingerspitzen auf meinem Rücken wäre und der unsichtbare Abdruck seiner Worte im Herzen.



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