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Meeresflüstern

Die Hungerspiele der Annie Cresta
von

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Sternstunde

Zurück im Appartement wartet bereits der nächste Anschlag auf mich – das Vorbereitungsteam samt Roan, die letzte Anpassung an meinem Interviewkleid vornehmen wollen. Immerhin ist es übermorgen schon so weit.

Amber und Mags sind ebenfalls anwesend. Erstere, um sich über die Kapitoler und ihre Geschmacksverirrungen zu amüsieren, Letztere, um meine Hand zu tätscheln und mir zu erzählen, dass ich wunderhübsch bin. Ein Kompliment, das seit Finnicks Offenbarung einen bitteren Nachgeschmack hat.

Roans Kleid ist erstaunlich schlicht. Der dicke Stoff changiert in Grün- und Blautönen, vom Saum aufwärts immer heller; von der Tiefsee bis zur von Sonnenstrahlen berührten Meeresoberfläche. Mysteriös wie die Geheimnisse der See behauptet der Stylist. Trotz allen Pathos hinter diesem Design ist es wirklich schön. Ärmellos, nur mit kleinen Schlaufen an den Oberarmen, unspektakulärem Herzausschnitt und einem ausgestellten Rock, der nach unten hin immer weiter wird. Definitiv weniger Verkleidung als bei der Wagenparade.

Die Herausforderung stellen die Schuhe da. Ein Paar mörderischer Dinger mit einem Absatz, bei dem es mir schwindlig wird. Als wenn die Höhe nicht reicht, sind die Sohlen rutschig, meine Zehen schmerzen, weil vorne kaum Platz bleibt, und es ist schlichtweg grässlich. Unter den Anfeuerungsrufen des Vorbereitungsteams mache ich den ersten Schritt – und präsentiere prompt einen Sturz.

Meine Wangen werden heiß, doch niemand außer Amber lacht oder schimpft gar. Stattdessen streckt sich eine Hand in mein Blickfeld – Finnicks. Ich habe gar nicht mitbekommen, dass er das Zimmer betreten hat. Seine Mundwinkel zucken kaum merklich, aber seine Stimme ist weich, als er spricht.

»Darf ich Ihnen aufhelfen, holde Meerjungfrau? Mich dünkt, Sie sind mit dem menschlichen Schuhwerk noch nicht vertraut.«

Angesichts dieser hoffnungslosen Übertreibung bricht ein Kichern aus mir hervor. »Und ich dachte schon, das hier wären gar keine Schuhe, sondern Folterwerkzeuge! Wie ungeschickt von mir!« Mit gespielter Arroganz lege ich die Hand in seine und lasse mich hochziehen.

»Immer schön kleine Schritte machen und nicht zu sehr über die Hacke abrollen«, raunt mein Retter in der Not mir mit einem Zwinkern zu. »So viel hat mich das Zusehen gelehrt.«

Anerkennend ziehe ich eine Augenbraue hoch. Nützliche Tipps in Sachen High Heels von Finnick Odair, wer hätte das gedacht?

»Wir können ja wetten, wer von uns bis zu den Interviews besser darin ist, auf diesen mörderischen Dingern zu laufen«, fordere ich ihn heraus. »So als kleine Motivation, damit ich nicht doch auf platter Flosse bei Caesar Flickerman auflaufe.«

»Oho!« Finnick grinst. »Da bin ich aber gespannt. Du unterschätzt meine Fähigkeiten, auf hohen Schuhen zu laufen.«

»Dann gilt es also?«

Wie zuletzt bei Schwüren im Kindesalter reicht Finnick mir seinen kleinen Finger und ich hake meinen bei ihm ein, um die Wette zu besiegeln.

Den Rest des Abends stellt sich allerdings trotz jeglicher Bemühungen kaum Erfolg bei mir ein, stattdessen stolpere ich an der Seite von Kolibrichen, die sich meiner erbarmt hat, durch das Wohnzimmer. Die Sonne ist längst untergegangen, als ich schließlich die Schuhe ausziehe und in die Ecke pfeffere.

Mit einem nachsichtigen Lächeln befreit Kolibrichen mich aus dem schweren Kleid und lässt sich von mir auf morgen vertrösten. Sie versucht es ihrerseits mit einem aufmunternden »Das schaffst du schon«. So oft, wie ich diesen Satz in den vergangenen Tagen gehört habe, hat er jegliche Bedeutung verloren.

Der Gedanke, dass morgen trotz des Aufschubs der letzte Trainingstag ist, scheucht mich aus dem Wohnzimmer und ich beschließe, etwas Frieden auf dem geheimen Balkon zu suchen. Noch einmal das Grün der Pflanzen dort einzuatmen, in der Hoffnung, dass es meine Nerven beruhigen kann.

Offenbar bin ich nicht die Einzige mit diesem Gedanken, denn als ich an die Luft trete, sitzt Finnick bereits da, die Augen geschlossen. Mein Herz macht einen Satz und mir scheint, dass es insgeheim auf diese Begegnung gehofft hat. Verrückt, wie einen der eigene Körper mit so etwas überraschen kann – dabei sollte man doch meinen, dass ich das Ruder in der Hand halte.

»Du kannst mich nicht erschrecken, vergiss es«, brummt Finnick, ohne die Augen zu öffnen. »Sorry Amber, ich hoffe, du hast jetzt nicht umsonst ein paar Eiswürfel aus der Küche geholt oder so.«

»Och, Eiswürfel braucht es nicht, meine Hände sind kalt genug«, spöttle ich und erstaune mich damit selber.

Finnick zuckt zusammen, ehe er ein Lid öffnet und überrascht zu mir hoch blinzelt. »Annie! Verdammt, jetzt hast du mich doch erschreckt!« Er lacht auf und fängt meine Hand auf dem Weg zu seinem Nacken ab. »Was bringt dich hierher?«

Ich sinke in den Stuhl neben ihm. »Keine Ahnung. Ich muss einfach noch mal raus, bevor morgen die Bewertungen anstehen. In meinem Zimmer könnte ich die Wände hochlaufen.«

»Hmm.« Finnick nickt und umfasst meine Finger zwischen beiden Händen. »Himmel, deine Hand ist wirklich eiskalt.«

Entschuldigend zucke ich mit den Schultern. »Das macht die Aufregung.« Schon während ich das sage, ist mir unklar, ob ich wegen des morgigen Tages oder doch eher Finnicks Anwesenheit so nervös bin. Es hilft jedenfalls nicht, dass er genau spürt, wie meine Hand in seinen zittert.

Er sagt jedoch nichts dazu, sondern reibt nur über meinen Handrücken, bis die Kälte langsam nachlässt. »Bald kommen die Sterne«, stellt er schlicht fest. »Ist immer ein schöner Anblick.«

Nun ist es an mir, unverbindlich zu brummen. Ich lehne mich zurück und genieße das Gefühl des warmen Windes, der heute stärker ist als bei unserem ersten Gespräch hier draußen.

»Ich mag die Sterne gerne«, erzählt Finnick leise. »Ich frage mich dann immer, ob es nicht doch einen Ort dort oben gibt, von dem die Toten auf uns herabblicken. Vielleicht gibt es ja doch das Paradies, das in den Erzählungen aus der alten Welt beschrieben wurde. Dann müsste ich mir wenigstens keine Sorgen mehr um all die Toten in meinem Leben machen. Stell dir nur vor, wie ein Ort wäre, an dem jeden Tag die Sonne über einer friedlichen Welt aufgeht.«

Ein Lächeln erhellt seine Züge und steckt mich an. Der Gedanke ist schön. Nur zu gerne würde ich so fest daran glauben, wie die Menschen früher. Dann wäre es viel leichter, sich von diesem Leben zu verabschieden.

»Das fände ich wirklich schön. Mir würde ein Ozean gefallen, auf dem man bis zum Horizont und noch viel weiter segeln kann. Unter einem endlosen Sternenhimmel, wohin man auch schaut. Das wäre mein Paradies.«

Ich sehe hinauf zum dunkler werdenden Himmel und gemeinsam, Hand in Hand, warten wir auf die ersten Sterne. Ein tiefer Frieden ergreift Besitz von mir, obwohl unter uns die Stadt liegt, die mich töten will. Die verzerrten Töne einer öffentlichen Wiederholung der Familiengespräche dringen aus den Straßen zu uns herauf und bleiben doch nur ein Hintergrundgeräusch. Dieser Moment gehört alleine Finnick und mir.

Aus dem Augenwinkel riskiere ich einen Blick auf sein Profil. Im schwindenden Licht gestehe ich mir zum ersten Mal ein, ihn wirklich schön zu finden, wenn mich nicht gerade falsche Vorurteile abstoßen. Nicht auf diese eklige Art, wie das Kapitol ihn betrachtet, als freiverfügbares Objekt der Begierde, sondern in der Art, wie er lächelt und sein gesamtes Gesicht dabei erstrahlt. Wie das bronzene Haar ihm in die Stirn fällt und seine langen Wimpern Schatten auf die Wangen werfen. Und ganz besonders dank des Funkelns in seinen Augen, die je nach Licht die Farbe wechseln.

Doch all das ist nichts im Vergleich zu seinem Inneren. Der Art, wie er meine Hand hält oder trotz aller Widrigkeiten noch ermunternde Worte findet. Wie er mit mir lacht, nicht über mich. Wie er mir ernsthaft widerspricht, ohne dabei je das Gefühl zu vermitteln, dass er an meiner Entscheidungskraft zweifelt.

Stumm drücke ich seine Hand, in der Hoffnung, dass auch nur die Hälfte dieser Dankbarkeit für seine bedingungslose Unterstützung ihn erreicht. An seinem Gesicht kann ich es nicht erkennen, doch er drückt meine Finger zurück, in sachter Bestimmtheit.

»Vielleicht erhört ja eines Tages eine Sternschnuppe unsere Träume«, sagt er in die laute Stille hinein. »Ich habe gehört, dass die Menschen im Kapitol an so etwas glauben. Warum also sollte das nicht auch für uns gelten? Vielleicht kann man diese Welt mit genug guten Wünschen noch retten.«

Ich schlucke und spüre all die Löcher, die von den imaginären Angelhaken hinterlassen wurden, wieder in meiner Kehle. Das letzte Mal, das jemand versucht hat, diese Welt zu verändern, hat uns die Hungerspiele eingebracht.

Finnicks Augen jedoch leuchten im fernen Schein des Mondes nur noch mehr, voller niemals versiegender Hoffnung. Ich kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass er gleich aufspringen und »Nieder mit dem Kapitol!« brüllen wird. Und obwohl mir bewusst ist, wie mächtig das Kapitol ist, würde ich ihm sogar glauben, dass dieser Widerstand eine Chance hätte. Aber das ist ein Gedanke, den ich nie, unter keinen Umständen, aussprechen werde.

Ohne Vorwarnung flackert sein Blick vom Himmel zu mir und er ertappt mich dabei, wie ich ihn offen anstarre – oder bewundere, je nachdem, wie man es sehen will. Wie immer er es interpretiert. Hoffentlich bemerkt er die Röte, die in meinen Wangen emporkriecht, in der Dunkelheit nicht.

»Tut mir leid, wenn ich müde werde, tendiere ich dazu, wirren Gedanken nachzuhängen.« Er legt den Kopf wieder in den Nacken, doch ich erkenne, wie sich die Fältchen um seine Augen vertiefen.

»Wirre Gedanken habe ich auch eine Menge«, seufze ich.

»Von mir aus kannst du sie ruhig alle aussprechen. Manchmal hilft es, sie loszuwerden. Und hier hört dir nur der Wind zu – und ich, wenn du das willst.«

Diese Aussage sorgt dafür, dass ich beinahe meine eigene Zunge verschlucke und ein undefinierbares Geräusch von mir gebe. Über diese Gedanken werde ich sicher nicht reden!

»Ach du weißt schon, die Hungerspiele«, erwidere ich lahm und gestikuliere mit der freien Hand in der Luft herum. »Nichts Besonderes, wenn man das so sagen kann ...«

»Was, keine tiefgehenden Analysen über mein hübsches Äußeres?« Finnick sieht mich plötzlich mit wackelnden Augenbrauen an. Er schafft es, sich in dem Stuhl lümmelnd trotzdem in eine Pose zu werfen, die Cece alle Ehre macht. »Ich hätte schwören können, du hast gerade darüber nachgedacht, wie umwerfend ich in High Heels aussehen werde.«

Mir ist klar, dass er nur einen Scherz – auf seine Kosten – macht, doch damit ist er so nah an der Wahrheit, dass meine Handflächen schwitzig werden. Manchmal ist es mir nach wie vor unheimlich, wie Finnicks Stimmung sich dem Wellenspiel gleich verändert.

»Was das angeht, lasse ich mich überraschen. Ich bin mir sicher, dass die Wirklichkeit meine Fantasie in jeder Hinsicht übertreffen wird.«

Finnick lacht leise. »Andere hätten mir jetzt lang und breit erzählt, was sie alles toll an meinem Aussehen finden und warum ihnen das viel eher auffällt im Vergleich zu allen anderen. Als hätte noch nie irgendjemand so etwas zu mir gesagt. Ganz so, als ob es mich wirklich interessieren würde.« Das Lächeln liegt weiterhin auf seinen Lippen, doch seine Stimme gewinnt an Ernsthaftigkeit. »Ich weiß es sehr zu schätzen, dass du das nicht tust. Da bist du wirklich eine Ausnahme, abgesehen von den anderen Mentoren.«

Verlegen zucke ich mit den Schultern. »Das alles hat ja nichts mit dir, deiner Persönlichkeit, zu tun. Ich rede viel lieber mit dir als über dich.«

Unsere Blicke begegnen sich für den Bruchteil eines Wimpernschlags. Wie durch ein Wunder werde ich nicht noch röter, sondern schaffe es, sein Lächeln zu erwidern. Ganz normal. Nur mein Herz pocht in der Brust wie ein stotternder Schiffsmotor.

»Ich würde wirklich gerne hoffen, dass in den Sternen noch kein Platz für dich ist«, flüstert Finnick. »Diese Welt braucht Menschen wie dich, nicht irgendein fiktives Paradies.«

Mir fällt keine gescheite Erwiderung ein, mein Kopf ist leer, doch wegsehen ist ebenso unmöglich. In genau diesem Moment fühle ich so viele Dinge, alle davon durcheinander – aber etwas Vergleichbares habe ich nie empfunden, dessen bin ich sicher.

Zögerlich hebt Finnick die Hand und streicht mir eine Haarsträhne hinters Ohr. Vergebene Mühe, denn die glatte Strähne rutscht gleich wieder hervor, aber das scheint ihm gar nicht aufzufallen. Seine Fingerspitzen verharren für einen Moment an meiner Wange, bis sie hinabgleiten und Gänsehaut hinterlassen.

»Tut mir leid ... ich vergesse meine Grenzen«, haucht er, »dabei sollte ich es besser wissen.« Etwas bemühter räuspert er sich. »Sag ruhig, dass ich dir zu nahe getreten bin.«

Ich kann den Blick immer noch nicht von ihm lösen. So muss es sich anfühlen, zur Statue erstarrt zu sein. »Bist du aber nicht. Also – ich meine ... schon, aber nicht im negativen Sinne ...« Mir bricht die Stimme, ehe sie sich fängt und ich den Satz stärker zu Ende bringe, als ich ihn angefangen habe. »Es war schon unerwartet, aber – ich habe nichts dagegen, wenn du das tust. Ehrlich gesagt finde ich es schön. Beim nächsten Mal könntest du ja einfach vorher fragen, dann brauchst du dich im Nachhinein nicht entschuldigen.«

Unter anderen Umständen wäre ich wohl erschrocken über meinen Mut, diese Dinge so unverfroren zu äußern. Doch gefangen in diesem Tunnel, der nur aus Finnick vor mir besteht, geschützt vom Dunkel der Nacht und den kaum sichtbaren Sternen über uns, gewinnt die Wahrheit. So wenige Stunden, wie mir bloß noch verbleibt, brauche ich ihn wirklich nicht belügen. Die Zeit der Unwahrheiten ist vorbei, wenn das Leben erst einmal abläuft.

Finnick betrachtet mich aus großen Augen. Ein weiteres Mal scheine ich ihn überrascht zu haben. Ein paar Mal öffnet er den Mund, ohne etwas zu sagen. Als er schließlich die Sprache wiederfindet, stellt er nur eine Frage.

»Darf ich dich in den Armen halten? Für ein bisschen länger?«

Ich nicke und rutsche im Stuhl näher an ihn heran, die Wange an seine Schulter gelegt. Finnicks warme Lippen streifen meine Stirn, was ein weiteres Kribbeln über die Kopfhaut schickt, ganz wie seine Kreisbewegungen auf meinem Rücken früher am Tag. Ein kleines Seufzen entringt sich ihm.

»Ich hoffe, das klingt jetzt nicht verrückt«, hebt er leise an, »aber so fühlt es sich an, als würde ich zum ersten Mal seit einer langen Zeit unter Wasser wieder atmen können.«

Verrückt ist höchstens, dass ich dieses Gefühl ebenso habe. Dabei habe ich Finnick doch gerade erst so richtig kennengelernt, flüstert mir eine leise Stimme zu. Aber an seine Seite gekuschelt, den Blick auf den viel zu lichten Sternenhimmel gerichtet, ertränke ich diese Zweifel in dem warmen Glühen in meiner Körpermitte.



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