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Conspiracy Dwelling (Two Rooms)

Freunde können manchmal grausamer sein als Feinde.
von

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„Stell die Frage dir selbst, du solltest sie beantworten können“

Rating: PG-13

Word Count: 7.759

A/N: Wie oft ich diese Wohnung umgestaltet habe... @_@ (http://i.imgur.com/etXrn.png)

Ich habe mir Mühe gegeben, bei dieser FF sehr detailliert vorzugehen, was mir an manchen Stellen wohl fast zu gut gelungen ist. Bitte lasst euch von der anfänglichen Beschreibung der Wohnung nicht abschrecken, alles, was später relevant wird, was mit ihr zu tun hat, ist bereits in diesen ersten Absätzen drin... (Deshalb würde ich fast empfehlen, den Anfang nach dem Ende noch ein mal zu lesen :3)

Abgesehen davon finde ich es sehr schade, dass ich diese FF in Kapitel zerschnippeln musste. Am Besten liest sie sich in einem durch, aber das ist bei über 40.000 Wörtern wohl utopisch.
 

~*~
 

Es ist eine Wohnung mit zwei Zimmern. Das eine ist das Badezimmer, das andere der Wohnraum. Das Wohnzimmer besteht quasi aus drei Teilen: Dem Küchen-, dem Wohn- und dem Schlafbereich.

Der Küchenbereich beginnt gleich hinter der Wohnungstür mit einem Mülleimer, dessen Innerstes jedoch ruhig ungenannt bleiben kann, und ist insgesamt recht spärlich eingerichtet: Es gibt eine Spüle, einen Herd mit Backofen, einen Kühlschrank mit Eisfach und etliche Schränke. In der Spüle ruht etwas dreckiges Geschirr, das jedoch frisch zu sein scheint, ansonsten ist sie sauber. Auf dem Herd stehen zwei Töpfe: In dem einen befindet sich Reis, in dem anderen Curry. Im Kühlschrank findet sich eine beachtliche Sammlung Alkohol, der präsenter ist als das Essen darum herum. Insgesamt ist der Kühlschrank sehr vollgestopft, ebenso wie das Eisfach, in dem nicht nur eine zuvor frisch gekaufte Eispackungen ihrer Kühlung harren, sondern auch eine vergessene Palette Eiswürfel lagert. In den Schränken befinden sich weitere Vorräte, die nicht in den Kühlschrank gehören, Geschirr, Besteck und ein äußerst wertvolles Teeservice. Der Rest ist kaum von Belang. Über dem Herd befindet sich ein kleines Fenster ohne Gardinen mit einer Fensterbank, auf die sowohl ein kleiner Blumentopf mit einer grünen Ganzjahrespflanze als auch ein kleiner gläserner Aschenbecher ihren Weg gefunden haben. Des Weiteren steht an der linken Wand – von der Wohnungstür aus gesehen – noch ein Staubsauger. Der Fernseher befindet sich schräg in der entsprechenden Ecke auf einer kleinen Kommode, die noch einen DVD-Player, einen Gamecube mit einigen Spielen und ein Aufladegerät für ein schnurloses Telefon beinhaltet. Darüber hängt eine schlichte Wanduhr. Hier kann man den Wohnbereich beginnen lassen.

An der gegenüberliegenden Wand sieht man zunächst die Badezimmertür neben dem Fernseher. Rechts daneben stehen eine Kommode und ein Regal aus Teakholz. Das Regal enthält zur einen Hälfte Bücher und zur anderen Hälfte CDs und DVDs, deren Natur sehr vielfältig ist. Die Kommode enthält nichts sonderlich Auffälliges in ihren Schubladen: Steuernachweise, alte Postkarten, eine stehen gebliebene Armbanduhr, Stifte, Papier, Panzerklebeband, Steck- und Sicherheitsnadeln und so weiter. Auf ihr stehen drei eingerahmte Bilder, die allesamt staubig sind: Eines von einem kleinen Jungen zusammen mit seinen Eltern und seiner großen Schwester, die allesamt ausnahmsweise nicht gekünstelt in die Kamera strahlen. Daneben sieht man eine relativ junge Frau, die überglücklich ein Baby im Arm hält und offenbar in den besten Jahren ihres Lebens ist. Das letzte Foto zeigt zwei Highschooler, welche grinsend die Arme umeinander gelegt haben, und während der eine die Kamera hält, um sie beide zu knipsen, macht der andere das Victory-Zeichen. Dieses Bild weist am wenigsten Staub auf. In der Ecke zwischen der Kommode und der dunkelroten Couch, auf der sich ein recht neuer Laptop befindet, steht eine große Stehlampe. Hinter dem Sofa spendet ein langes Fenster Licht, das auf die Straße hinuntergeht und auf dessen Fensterbank sich kaum etwas befindet; unter der Fensterbank findet sich ein Heizungskörper. Mitten im Zimmer steht ein Küchentisch mit drei Stühlen, dessen eine Hälfe Krimskrams verschiedenster Art aufweist: Ein Fernsehmagazin, eine Tageszeitung, einige Münzen, eine annähernd volle Zigarettenschachtel, einen Aschenbecher, Kaugummis und so fort; die andere Hälfte ist bis auf das schnurlose Telefon und einen Schlüsselbund aufgeräumt. Damit endet der Wohnbereich.

Der Schlafbereich ist nicht sonderlich umfangreich: Er beginnt mit einem niedrigen Nachttisch direkt neben der roten Couch, auf dem ein digitaler Wecker, eine kleine Lampe, ein CD-Player und ein Aschenbecher stehen. In der Schublade liegen zwei Paar Handschellen, ein extra geschärftes Taschenmesser, einige Notizzettel, Haarklammern, eine Tube mit undefinierbarem Inhalt und weiteres Kleinzeug. Das Bett steht in der Ecke und ist breiter als normale Betten, weshalb das weiße Laken, das eigentlich für ein Doppelbett gedacht ist, zu groß erscheint. Die Bettwäsche ist im Stil schottischer Kilts gehalten. Die Bettdecke liegt zusammengeknüllt am Ende des Betts und das Kopfkissen ist eingedrückt. Schlussendlich steht noch ein Kleiderschrank neben der Wohnungstür, in dem sich die unterschiedlichste Kleidung finden lässt, vom feinen Anzug bis zur zerrissenen Hose. Vor dem Kleiderschrank stehen zwei Paar Schuhe und an der Schranktür sind Kleiderhaken befestigt, an denen einige Jacken hängen.

Die Tapete des Wohnraums ist hell gehalten in einem neutralen cremefarbenen Ton, der schön mit dem Holz der Möbel harmoniert und das Fehlen von Dekoration entschuldigt. An den Wänden hängen lediglich ein Poster einer längst aufgelösten Band sowie ein gefälschtes Gemälde eines renommierten Malers. Der Boden ist mit Parkett ausgelegt und trägt daher ebenfalls zur Helligkeit des Raums bei. Die an der Decke hängende Lampe ist ausgeschaltet, denn obwohl die Sonne nicht mehr ins Zimmer scheint, ist es doch bereits hell genug.

Das Badezimmer misst etwa ein Drittel der Fläche des Wohnraums und ist hauptsächlich praktisch orientiert eingerichtet. Man findet weder Bilder noch Postkarten noch Aufkleber an den jungfräulichen Wänden, die weiß gekachelt sind und sauber, aber nicht steril wirken. Man betritt das Badezimmer durch eine gleichermaßen weiße Tür und findet zu seiner Linken einen hohen Schrank aus hellem Holz, in dem große wie kleine Handtücher, Badekleidung, Sonnencreme und Badeschlappen liegen. Daneben ist das Waschbecken, das wie die Toilette aus blütenweißer Keramik besteht und über dem sich ein Bord und ein großer gerade beschlagener Spiegel befinden. Auf der Ablage ruhen Zahnpasta und eine Zahnbürste, ein Kamm, ein Rasierer samt Rasierschaum und After Shave sowie eine halb leere Flasche Herrenparfum. Unter dem Waschbecken findet sich ein kleiner Schrank, dessen Inhalt sowohl eine Packung Haarfärbemittel als auch Vorräte für das bereits Genannte, Shampoo, Pflaster, und verschiedene Medikamente bereitstellt. An der Wand vor Kopf ist links unter einem kleinen Fenster aus Milchglas die Toilette, auf deren Kasten ein aufgeschlagenes Sudokuheft zusammen mit einem Bleistift und einem Radiergummi liegt, das Wasserflecken aufweist und wahrscheinlich vor Kurzem zum Einsatz gekommen ist. Daneben steht ein kleiner blauer Mülleimer, deren Inhalt wohl kaum von Interesse ist. Rechts davon gibt es eine Dusche mit einer halb durchsichtigen Trennwand, die unordentlich zugeklappt ist und in der etliche Hygieneartikel stehen. Ferner finden sich auf der rechten Seite ein Wäschepuff, der zur Hälfte gefüllt ist, und eine hohe Heizung hinter der Tür, über die ein feuchtes Handtuch gehängt ist. Auf dem Boden, der ebenfalls aus weißen Fliesen besteht, liegt ein dunkelblauer Teppich mit nassen Fußspuren darauf.

Doch nun den kaum erkennbaren Wassertropfen hinterher, die eine Linie vom Badezimmer hin zur Couch bilden – dort sitzt der Hausherr und telefoniert. Sein Gesicht mochte von manchen als hübsch bezeichnen werden, der stechende Blick seiner Augen wurde jedoch von den wenigsten geleugnet, am allerwenigsten von sich selbst. Ansonsten weist sein Gesicht keine auffällige Besonderheit auf, obwohl es dem neutralen Beobachter wohl durch seinen Ernst im Gedächtnis bleibt. Knapp schulterlange, tiefschwarze Haare umrahmen das Gesicht, indem sie glatt und noch feucht nach unten fallen, wobei man die vielen Piercings im linken Ohr noch immer mühelos bemerken kann. Der Körper ist schlank und liegt nur knapp unter der japanischen Durchschnittsgröße, zudem ist er in einen weißen Bademantel gehüllt, welcher die Sicht auf die schwarzen Tattoos auf der linken Schulter verwehrt.
 

Insgesamt war dieser recht junge Japaner nichts Besonderes, sah man von einer Tatsache ab, um die es gerade am Telefon ging.

„Es beunruhigt mich auch, ja“, gab der Hausherr gerade von sich und fuhr geistesabwesend mit den Fingerspitzen durch seine feuchten Haarsträhnen. „Wenn ich dir irgendwie helfen kann, tue ich es auf der Stelle, Hiko.“

„Ich glaube, es hat mir schon gut getan, mit dir darüber zu reden“, erklang es von der anderen Seite. Die Frauenstimme klang aufgebracht. „Aber... er ist einfach verschwunden! Ich mache mir solche Sorgen... und meinen Eltern kann ich es natürlich nicht erzählen, du weißt ja, wie sie reagieren würden...“

„Das weiß ich allerdings“, entgegnete der Schwarzhaarige und fixierte seinen Blick auf eine Ecke des Raums. Obwohl seine Stimme Mitgefühl ausdrückte, so war doch die Anspielung eines Lächelns in seinen Mundwinkeln kaum zu übersehen. „Nein, wahrscheinlich solltest du wirklich nicht mit ihnen darüber reden. Aber er kann nicht einfach verschwunden sein, ohne eine Spur hinterlassen zu haben.“

„Ja, das denke ich auch... nur wo sollen wir dann suchen?“

Er gab vor, einen Moment überlegen zu müssen, ehe er vorschlug: „Wie wäre es, wenn du bei seiner Arbeit herumfragst und ich unter seinen Freunden? Es ist zwar Samstag, aber meines Wissens nach halten sie sich immer noch zumindest in der Nähe der Universität auf.“

„...Das ist bestimmt blöd für dich, aber mir ist es so am liebsten. Ich bin auch nicht sonderlich gut mit ihnen ausgekommen, und wer weiß, was sie mir erzählen... falls sie mir überhaupt glauben. Ich habe Angst, ich habe solche Angst...! Was, wenn ihm wirklich was passiert ist?“

„Beruhige dich erst einmal und kümmere dich um seine Arbeitskollegen, dann hast du etwas zu tun. Das wird dich ablenken und du tust etwas Nützliches. Sollen wir heute Abend noch einmal telefonieren?“ Das Lächeln erreichte nun langsam seine Augen, die vor Häme blitzten.

„Gerne, ja. Oh, du bist mir so eine Hilfe, Daisuke, ich wüsste nicht, was ich ohne dich machen würde. Meine Freundinnen meinen ja, er sei mit einer anderen auf und davon, aber das KANN ich einfach nicht glauben.“

„So jemand ist er nicht“, bestätigte der Angesprochene namens Daisuke mit bestimmtem Tonfall. Die nächsten Worte gab er von sich, während er seinen Bademantel zurecht rückte, seine Augen jedoch nicht schweifen ließ. Sie blieben dort. „Er liebt dich wirklich, Hiko. Es wird schon alles in Ordnung sein mit ihm.“

„Danke. Danke, vielen Dank. Du gibst mir Mut.“

„Ich tu, was ich kann. Du schaffst das schon, bleib einfach ruhig und denk logisch. Und wenn etwas sein sollte – ich bin für dich da, du kannst mich jederzeit anrufen.“

Nun klang sie bereits etwas entspannter. „Ja. Das ist ein gutes Gefühl. Danke. Ich gehe jetzt los und frage nach und heute Abend rufe ich dich wieder an.“

„Alles klar. Machs gut, Hiko, und denk nicht zu viel. Bis später.“ Daisuke beendete das Gespräch und neigte seinen Kopf zur anderen Seite, als betrachtete er ein seltenes Insekt aus nächster Nähe. Dabei befand sich das Objekt seiner Aufmerksamkeit gar direkt vor ihm. „Deine Freundin ist noch genauso fürchterlich wie früher“, stellte er ruhig fest. „Wie war das – sie konnte mich angeblich noch nie leiden? In meinen Ohren klang es gerade eben eher wie ‚hätte ich ihn nicht, wäre ich mit dir zusammen’.“

Auf dem Bett lag das Thema des vorangegangenen Gesprächs: Es war ein junger Mann in Daisukes Alter, den vor allem sein katzenhaftes Gesicht und seine dunkelroten Haare auszeichneten, die wild zerzaust waren und in sämtliche Richtungen abstanden, wodurch ihm ein freches Aussehen verliehen wurde. Er war mindestens genauso dünn wie der Hausherr und in etwa gleich groß, auch wenn man seine Größe in seiner derzeitigen Position schlecht abschätzen konnte. Er trug eine eng anliegende schwarze Hose, ein knappes weißes T-Shirt und war barfuß, da ihm seine Schuhe und Socken bereits vor einigen Stunden ausgezogen worden waren.

Seine Handgelenke waren hinter seinem Rücken gefesselt und gleichzeitig an das obere Bettgestell gebunden, während seine Knöchel wiederum am unteren befestigt waren. Die Seile bestanden aus solidem Hanf und waren absolut reißfest und schnitten ihm nicht nur ins Fleisch, sondern behinderten auch seine Blutzirkulation nachhaltig. Er hätte seinen Schmerzen sicherlich verbal Luft gemacht, wäre nicht noch ein zusammengerolltes Küchentuch um seinen Kopf gebunden, auf das er unentwegt biss und welches ihm fast unmöglich machte, Geräusche zu produzieren. Im Moment beschränkte er sich darauf, den anderen auf dem Sofa anzustarren. Er hatte gerade eine Position gefunden, in der ihm die wenigsten Körperteile weh taten, daher rührte er sich außer zum Atmen nicht. Und um dem anderen mit den Augen zu folgen, selbstverständlich.

Daisuke stellte sich neben sein Bett und berührte in einer fast liebevollen Geste die roten Haare des anderen, woraufhin dieser zusammenzuckte und mit Augen, aus denen gleichermaßen Hetze, Angst und Ablehnung sprachen, zu ihm aufblickte. „Du wirst nicht so leicht entkommen können, dafür habe ich gesorgt. Halt die Schmerzen noch ein bisschen länger aus, Aie, in ein paar Stunden bin ich wieder da. Jetzt werde ich mich erst einmal um deine sogenannten Freunde kümmern.“ Der Schwarzhaarige schenkte dem anderen ein freundliches Lächeln, ehe er sich ohne einen weiteren Blick auf seinen Gast anzog, den Schlüsselbund vom Küchentisch an seiner Hose befestigte und schließlich die Wohnung verließ.

Zurück blieb Aie, der sich nur mit Mühe davon abhalten konnte, wie wild herum zu strampeln. Einerseits hatte ihn eine lodernde Wut ergriffen, ein Zorn gegen diese Ungerechtigkeit, gegen seine eigene Hilflosigkeit, gegen seine jetzige Situation allgemein. Auf der anderen Seite jedoch beherrschte ihn eine fatalistische Verzweiflung: Er würde nichts tun können. Seine Arme und Beine waren festgebunden, seine Bewegungsfreiheit minimal und ihn würde wohl auch niemand hören. Er konnte nichts tun außer zu warten. Darauf zu warten, dass derjenige, der ihm seine Freiheit geraubt hatte, zurückkehrte.

Das Letzte, woran er sich sehr deutlich erinnern konnte, war, dass er an diesem Morgen neben seiner geliebten Freundin Hiko aufgewacht war und sich gut gefühlt hatte. Ein unwirkliches Gefühl, so erschien es ihm inzwischen, als habe er es nie tatsächlich empfunden. Sie hatten gemeinsam geduscht und zusammen gefrühstückt, anschließend hatte er sich von ihr mit dem Versprechen verabschiedet, sie noch innerhalb der nächsten Stunde wegen des bevorstehenden Treffens mit seinen Eltern zu kontaktieren. Dazu war es jedoch nie gekommen. Kaum dass Hiko seine Wohnung verlassen hatte, schellte es bereits erneut. Aie, der geglaubt hatte, sie habe etwas vergessen, öffnete, ohne über die Sprechanlage nachzufragen und hatte kurz darauf Daisuke vor seiner Wohnungstür stehen. Daisuke, der ihn – im Nachhinein fiel es ihm auf – bereits zu dem Zeitpunkt so lauernd betrachtet hatte. Er log ihm etwas vor, dass er in der Gegend gewesen war – mittlerweile wusste Aie selbstverständlich, dass es gelogen war, da jedoch noch nicht – und ob er nicht kurz herein kommen könne. Aie, der sich zwar wunderte, was seinen ehemals besten Freund dazu verleitet haben konnte, bei ihm vorbeizuschauen, ließ diesen allerdings ohne Umschweife hinein und wollte ihm voran ins Wohnzimmer gehen. Er wurde sofort ohnmächtig und da sein Kopf dumpf brummte, nahm er an, dass Daisuke ihm mit irgendetwas auf den Hinterkopf geschlagen hatte.

Das Nächste, was er wusste, war, dass er mit dröhnendem Schädel, schmerzenden Gliedern und gefesselt auf einem fremden Bett aufgewacht war. Er war alleine in dem recht großen Raum gewesen, von nebenan ertönte jedoch das Geräusch von fließendem Wasser. Aie waren nur wenige Minuten geblieben, sich in dem Raum umzusehen, bevor das Telefon klingelte. Die Wohnung sagte ihm nichts, wobei ihm einige Dinge vage bekannt vorgekommen waren: Das Handtuch, das vor der Spüle hing, das Gemälde und die Kommode. Als sein Blick auf die Kommode gefallen war, hatte er auch das Foto der beiden Highschooler entdeckt und auf der Stelle begriffen, wo er war. Erst dann hatte er sich an Daisuke erinnert.

Auf das Geräusch des klingelnden Telefons hin war eben jener aus dem Badezimmer gekommen, hatte dem Rotschopf einen kurzen Seitenblick, begleitet von einem süffisanten Lächeln, geschenkt und den Anruf angenommen, ehe er sich auf die Couch hatte fallen lassen und seinen Gefangenen beobachtete. Während des Gesprächs wurde die Panik in Aies Bewusstsein immer stärker. Er hatte gleich mitbekommen, dass sein ehemaliger bester Freund mit seiner Freundin, Hiko, telefonierte und dieser mitteilte, er habe auch keine Ahnung, wo Aie sich befand.

Und nun lag er hier und spürte, wie Verzweiflung ihn lähmte.

Er rutschte etwas auf dem Bett herum, musste allerdings feststellen, dass, je mehr er sich bewegte, seine Gliedmaßen umso mehr schmerzten, allen voran seine Arme und Hände. Nicht nur, dass sie derart unbequem hinter seinem Rücken festgebunden waren, dass sie längst eingeschlafen waren; sie wurden auch mit der Zeit immer kälter, da das Blut nicht mehr vernünftig fließen konnte. Er hatte die drei Stunden, die er bewusstlos gewesen war – er konnte von seiner Position aus auf den Wecker sehen – wohl auf der Seite gelegen, wie auch nun immer noch, da er seinen rechten Arm überhaupt nicht mehr spüren konnte bis auf einen entfernten Schmerz. Probeweise rückte er sich so zurecht, dass er auf dem Bauch lag, was erstaunlicherweise sogar die bequemste Position war, die er sich erlauben konnte. Natürlich würde er furchtbare Nackenschmerzen bekommen, wollte er nicht ersticken, aber diese waren im Moment bei Weitem nicht so präsent wie die ganze andere Pein, die er gerade ertrug.

Während er ergeben darauf wartete, dass Daisuke zurückkehrte, beschäftigte ihn hauptsächlich ein Gedanke: Womit habe ich das verdient?
 

Niemals zuvor im Leben hätte Aie es für möglich gehalten, jemals über das Geräusch einer Tür, die gerade aufgeschlossen wurde, so froh zu sein. Er war zwischendurch mehr oder weniger weggedöst und hatte die vier Stunden, die sein Peiniger fort gewesen war, mehr vor sich dahin vegetiert, nun jedoch war er hellwach. Sofort drehte er sich wieder auf die Seite, um Daisuke besser im Blick haben zu können.

Dieser musterte den Rothaarigen mit einer Mischung aus Amüsement und Überlegenheit, während er seine Schuhe auszog, seine Jacke aufhängte und sich erst einmal eine Zigarette anzündete. Dieser Anblick machte Aies Verlangen nach genau so einem Glimmstängel beinahe übermächtig, aber er zwang sich, einen kühlen Kopf zu behalten – soweit das mit einem Körper, der nur noch aus Schmerz zu bestehen schien, eben möglich war.

„Du hast auf mich gewartet“, stellte der Hausherr zufrieden fest und hockte sich vor sein Bett, um auf Augenhöhe mit seinem Gesprächspartner zu sein. Dieser fixierte ihn halb wütend und halb ablehnend. „Deine Freunde, oder wie du sie nennst, haben kein allzu großes Interesse an deinem Verschwinden gezeigt. Ehrlich gesagt schienen sie beinahe genervt – als habe ihnen genau das noch gefehlt. Besonders die eine, diese Blonde, wie hieß sie noch? Arika, richtig. Besonders Arika wirkte desinteressiert.“

Auf diese Eröffnung hin runzelte Aie erst angestrengt die Stirn, während er Daisukes Gesicht nach einem Anzeichen für eine Lüge absuchte. Als ihm jedoch einfiel, wie der andere mit Hiko gesprochen hatte, begriff er, dass es sinnlos war, sich auf Mimik oder Tonfall zu verlassen. Nicht bei Daisuke. Daher schüttelte der Rotschopf lediglich den Kopf, wie es ihm eben möglich war.

„Nein? Nein, sagst du?“, fragte sein Gegenüber beinahe überrascht. „Du glaubst mir nicht?“

Weiteres Kopfschütteln.

„Nun, damit liegst du richtig. Was glaubst du denn, wie sie reagiert haben? So, wie jeder eben reagiert, wenn er hört, dass jemand, den er kennt, verschwunden ist.“ Mit diesen Worten stand der Schwarzhaarige auf und schnippte etwas Asche in den Aschenbecher auf dem Nachttisch, ehe er sich in Richtung Küchenecke begab. „Betroffen, erstaunt, besorgt. Ist das nicht eigentlich noch schlimmer?“ Das Lächeln erschien wieder auf seinen Lippen, während er die beiden Kochplatten anstellte, auf dem die Töpfe vom Vortag standen. „Es ist nicht so, als hätten sie sich ein Bein ausgerissen, um dich zu suchen. Erst glaubten sie mir nicht, aber als sie erst bei dir zuhause und anschließend auf deinem Handy anriefen, wurden sie ratlos.“ Er zog Aies Handy aus seiner Hosentasche und hielt es hoch, sodass der andere es gut sehen konnte. „Ich habe es vorsichtshalber ausgestellt, ich bin schließlich kein Anfänger. Und danach kam die Crème de la Crème: Jeder von ihnen behauptete, er mache sich Sorgen um dich und dass es völlig unnormal wäre und sie sich das bei dir nicht vorstellen könnten, dass dir was passiert sein muss und dass man die Polizei verständigen sollte und dass ja auch vor ein paar Monaten ein anderer Student verschwunden wäre und übrigens war das doch der, der mit dieser einen Braunhaarigen zusammen war, die im letzten Semester...“

Es gab ein unangenehmes Knacken, als Daisuke das Klapphandy seines ehemals besten Freundes auseinander brach. Er warf die beiden Hälften so fest er konnte auf den Boden und drehte sich zu Aie um, lehnte sich an den Herd. Sein Gesicht drückte kaum noch die vorherige Ruhe aus, sie war unterdrückter Wut gewichen. „Wenn du wüsstest, wie sehr es mich angeekelt hat, Aie. Und dann diese mitleidigen Blicke: Och, bist du nicht der, der früher mit ihm so eng befreundet war? Ja, jetzt, wo ihm was passiert, kommst du wieder angekrochen, natürlich. Wenn du wüsstest, Aie. Wenn du wüsstest. Als ob sie sich ernsthaft um dich sorgen – keiner von ihnen hat sich verantwortlich gefühlt. Kein einziger. Hiko wird es ja schon machen. Ach, da ist dieser arme Irre, der glaubt, Aie würde ihn vielleicht wieder mögen, wenn er sich um ihn kümmert. Wir haben damit nichts zu tun, sie kümmern sich schon darum. Sie machen das schon. Wir haben damit nichts zu tun.“

Nun gab Aie das erste Mal Geräusche von sich. Er versuchte, ganze Wörter zu bilden, aber das Handtuch zwischen seinen Zähnen reduzierte diese auf wenig mehr als hohe und tiefe Laute. Er wollte Daisuke ein weiteres Mal widersprechen, er glaubte ihm wieder nicht. Und gleichzeitig tat er es doch. Irgendein Teil in ihm wusste, dass es wahr war, was ihm soeben mitgeteilt worden war. Wie würde er reagieren, erführe er, dass einer von ihnen spurlos verschwunden war? Er wäre betroffen und besorgt und erstaunt, ja. Und mehr nicht – er würde wahrscheinlich auch keine aktiven Anstrengungen unternehmen, ihn zu suchen, weil er sich denken würde, dass er das lieber der Polizei überließ und er alleine sowieso nichts ausrichten konnte und jemand anderes ja ohnehin besser mit ihm befreundet war.

„Oh, verzeih mir, ich hatte mir eigentlich vorgenommen, dir den Knebel abzunehmen“, entschuldigte Daisuke sich überraschend und trat wieder ans Bett, wo er an Aies Hinterkopf griff, um das Handtuch zu lösen. „Wenn du schreist... Sagen wir einfach, dass du es nicht tust.“ Aie wagte es nicht, diese Worte anzuzweifeln und begann zu husten, kaum dass das Handtuch endlich verschwunden war. Gierig schnappte er nach Luft und schloss für einige Momente die Augen. „Was wolltest du sagen, Aie?“

Allein diese Worte bewirkten beinahe, dass Aie erneut in Verzweiflung versank. Er erinnerte sich an die sanfte Seite des Schwarzhaarigen, an sein Mitgefühl, sein Talent, ihn immer zum Lachen zu bringen. Und nun stand dieser verlorene Freund vor ihm und tat ihm so etwas an. Das konnte nicht sein. Irgendetwas lief hier gewaltig falsch. „Warum?“, flüsterte der Rothaarige, da er seiner Stimme noch nicht traute. „Warum, Daisuke? Was soll das hier?“

Der andere lächelte ihn lediglich an. „Denk darüber nach. Stell die Frage dir selbst, du solltest sie beantworten können. Ich wette, du hast Hunger, Lust auf eine Zigarette und musst dringend auf die Toilette. Ich gewähre dir allerdings nur einen Wunsch.“

„Das-“ Aie brach ab, da er begriff, dass er mit Daisuke im Moment wohl kaum eine rationale Diskussion würde führen können. Womit hatte er ihn so verletzt, dass er zu so etwas fähig wurde? Spontan fiel ihm nichts ein. Die letzten zwei Jahre hatten sie ohnehin so gut wie keinen Kontakt zueinander gehabt, was also...? „Bitte, sag es mir, was-“

„Ein Wunsch“, unterbrach Daisuke ihn ungerührt. „Da du offenbar nicht verbal antworten möchtest, lese ich ihn dir von den Lippen ab. An deiner Stelle würde ich keinen Fluchtversuch unternehmen, du weißt nicht, was ich noch in meinen Hosentaschen habe, aber du kannst dich wahrscheinlich sowieso nicht ordentlich bewegen. Halt still.“ Er beugte sich über das Bett und machte sich daran, die Knoten des Seils zu lösen, das Aies Füße am Bettgestell festband. Nach diesem folgte dasjenige, welches Aies Füße zusammenhielt und schließlich noch das Hanfseil, das Aies Handgelenke an das Bett gefesselt hatte. Seine Hände blieben jedoch zusammengebunden. „Das erledigen wir gleich“, versprach Daisuke dem anderen zuversichtlich und half ihm, sich aufrecht hinzusetzen. „Geht es?“

Aie kämpfte gegen den seltsam inneren Schmerz an, der ihn nun von seinen Füßen und Beinen aus durchdrang. Er spürte sie kaum noch, allerdings taten sie so stark von innen weh, dass es ihrem Besitzer den Atem raubte. Er war nicht darauf vorbereitet, von Daisuke auf die Füße gezogen zu werden, daher klappte er beinahe wieder zusammen, wurde jedoch vom Schwarzhaarigen festgehalten. „Daisuke...“

Doch dieser schien ihm überhaupt nicht zuzuhören. „Geh vorsichtig, dann müsste es klappen. Ich helfe dir.“ Zusammen schafften sie es bis ins Badezimmer, wo Aie mit heruntergelassener Hose auf der Toilette platziert wurde. Inzwischen war die Belustigung in Daisukes Augen zurückgekehrt. „So, bitteschön. Lass deinem Stoffwechsel freien Lauf.“

Und Aie dachte: Womit habe ich das verdient?
 

Kurz darauf lag er wieder auf dem Bett und versuchte, sich so wenig wie möglich zu bewegen. Seine Hände waren nun wieder frei und nur sein rechtes Bein, das näher an der Bettkante war, war mit einem der Hanfseile am Bettgestell festgebunden – und das deutlich lockerer als zuvor, sodass er es praktisch gar nicht spürte. Er lag auf dem Rücken, seine Arme parallel zu seinem Körper, den Blick an die Decke gerichtet und völlig entspannt. So langsam kehrte Leben in seine gefühlt abgestorbenen Arme zurück und jede Bewegung ließ ein Feuerwerk vor seinem inneren Auge explodieren – nein, seine Gliedmaßen kribbelten so bereits genug, das musste er nicht noch unterstützen. Er fühlte sich unendlich schwach und hungrig und durstig und gedemütigt.

Neben dem Bett saß Daisuke auf einem der drei Küchenstühle, den er herangezogen hatte, hatte einen Fuß auf die Bettkante gestellt und kippte leicht nach hinten, balancierte auf den hinteren Stuhlbeinen. Er hielt einen Teller in der Hand, auf dem er den Rest Reis mit dem Rest Curry gemischt hatte, und aß mit der anderen, während er den Rotschopf nicht aus den Augen ließ. Bei jedem Klappern der Gabel auf dem Teller schien Aies Magen lautstark zu grummeln, als beschwere er sich über diese Ungerechtigkeit. „Weißt du, Aie, meine Kochkünste haben sich in den letzten zwei Jahren erheblich gebessert. Ich würde dich ja daran teilhaben lassen, aber so schwach, wie du gerade bist, gefällst du mir ganz gut. Ich kann es mir nicht erlauben, dich wie eine kleine Schlange aufzupäppeln, nur damit du mir irgendwann deine Zähne in die Hand schlägst. Du bekommst morgen ein Frühstück, bis dahin wirst du es wohl noch aushalten müssen. Zigaretten werde ich dir leider keine geben können, ich weiß schließlich nicht, wie sie sich mit dem Beruhigungsmittel vertragen. Du musst nicht an dir zweifeln, du warst keine drei Stunden nur wegen eines kleinen Schlages bewusstlos.“

„Kann ich zumindest etwas trinken?“, wollte Aie mit schwacher Stimme wissen. So, auf dem Rücken, fühlte sich sein Magen noch leerer an als ohnehin schon. Es würde nicht lange dauern, dann würde er sich verkrampfen.

„Alles zu seiner Zeit“, entgegnete Daisuke gelassen und stand auf, um seinen Teller in die Spüle zu stellen. „Wobei du natürlich Recht hast, Trinken ist wichtiger als Essen. Aber erst einmal muss ich sichergehen, dass kein Körperteil abstirbt.“ Er ließ sich wieder auf dem Stuhl nieder und griff nach Aies rechtem Arm, woraufhin der Rotschopf zusammenzuckte und schmerzhaft das Gesicht verzog. Das Kribbeln tat verdammt weh. Doch anstatt es noch schlimmer zu machen, begann Daisuke, sein Handgelenk zu massieren und auch immer wieder mit leichtem Druck über seinen Unterarm zu streichen. Es lag auf einer feinen Linie zwischen schmerzen und kitzeln, aber je länger der Schwarzhaarige Aies Arm bearbeitete, desto mehr spürte Aie diesen. Nach kurzer Zeit konnte er ihn wieder mühelos bewegen. Aber er verstand es nicht, er verstand es einfach nicht – was sollte das alles?

Während Daisuke den zweiten Arm massierte, zündete er sich eine weitere Zigarette an und warf ein: „Jetzt ist es sechs Uhr. Wenn du bis neun Uhr immer noch keine Ahnung hast, weshalb du hier bist und weshalb du SO hier bist, werde ich dir auf die Sprünge helfen. Und ich rate dir, besser gründlich nachzudenken. Wenn nicht, werde ich ungehalten und du willst nicht wissen, wie ich bin, wenn ich wirklich ungehalten werde. Also überleg es dir gut.“

„Mir fällt einiges ein, mit dem ich dich verletzt haben könnte, aber nichts, was das hier erklären würde!“, erwiderte Aie vehement und versuchte, seinen Arm loszureißen.

Daisuke jedoch hielt ihn fest und grub seine Fingernägel in das helle Fleisch, den Blick auf das Gesicht des anderen fixiert. „Deshalb rate ich dir nachzudenken. Aie.“ Sanft drückte er seine Lippen auf die Pulsader an Aies Handgelenk und leckte kurz darüber, woraufhin der Rothaarige erneut zusammen zuckte und ihn ungläubig anstarrte. „Gleich bekommst du etwas zu trinken.“ Nach diesem Versprechen griff Daisuke in die Nachttischschublade und zog zwei Paar Handschellen hervor, mit denen er behände und offenbar geübt erst Aies Hände nicht nur wieder zusammen, sondern mit dem zweiten Paar auch erneut am Bettgestell befestigte – wenigstens lag er dieses Mal auf dem Rücken. „Drei Stunden, Aie. Dann ist die erste Frist vorbei.“

Die erste?, dachte Aie und rüttelte etwas an den Handschellen. Erneute Panik machte sich in ihm breit, während er begann, fieberhaft in seinem Gedächtnis zu kramen.
 

„Dann lass mal hören“, sprach Daisuke seinen Gefangenen mit ruhiger Stimme an und nahm wieder auf dem Küchenstuhl vor dem Bett Platz. Zuvor war er einkaufen gewesen, hatte dabei Aies Handy mitgenommen und entsorgt, hatte seine Einkäufe gerade eben verstaut und machte es sich nun mit einer Flasche Bier in der einen und einer Zigarette in der anderen Hand bequem, die wachen Augen fest auf Aies Gesicht gerichtet, seine Miene ernst. „Ist es dir eingefallen?“

„Ich weiß es nicht, Daisuke“, entgegnete der Rothaarige mit schwacher Stimme. Er hatte noch immer schrecklichen Hunger und sein Durst war von einem Glas Wasser auch nicht viel besser geworden. Außerdem fühlte er sich, als würden gleich seine Hände anfangen zu zittern, musste er dem anderen weiterhin beim Rauchen zusehen. Seine Liegeposition war zwar deutlich bequemer als zuvor, allerdings war das kein Ausgleich für den gesamten Rest. „Ich weiß es wirklich nicht. Mir würden einige Dinge einfallen, aber-“

„Soll ich deine Erinnerung etwas auffrischen?“, schlug der Schwarzhaarige fast freundlich vor. „Ich kann dir dabei behilflich sein.“

„Kannst du mir noch etwas zu trinken geben? Dann kann ich vielleicht besser denken...“ Je mehr er sich auf den Hunger und den Durst und die Zigarette konzentrierte, desto schwindliger wurde ihm, also versuchte er, an etwas anderes zu denken.

„Oh, das glaube ich nicht“, widersprach Daisuke ihm lächelnd. „Ich hatte vorhin nicht den Eindruck, dass das eine Glas Wasser so viel verändert hat. Nein, da musst du dich schon mehr anstrengen – und glaubst du nicht auch, dass Schmerzen viel wirkungsvoller sind, um verlorene Erinnerungen wieder hervor zu holen?“

Aie stockte der Atem. Bis jetzt hatte Daisuke ihm noch nichts angetan, zumindest nicht körperlich – bis auf dass er ihn ans Bett gebunden hatte, selbstverständlich. Was ihn jetzt allerdings erwarten würde, das wollte er sich nicht ausmalen. „Nein“, flüsterte er leise.

„Tja, ich schon.“ Daisuke stellte sein Bier auf dem Nachttisch ab und schob sich die Zigarette zwischen die Lippen, ehe er aufstand und in der Kommode neben dem Bücherregal herumwühlte, bis er nach kurzer Zeit ein leeres weißes Blatt Papier hervorzog und zu dem Rotschopf zurückkehrte. „Ich könnte dich natürlich auch mit einem Messer aufschneiden“, erklärte er, nachdem er wieder Platz genommen hatte, „allerdings würde das hässliche Narben hinterlassen und viel zu lange zum Heilen brauchen. Außerdem weißt du sicherlich, dass das hier auch ziemlich weh tut.“

Der Rothaarige verkrampfte sich unwillkürlich und versuchte, so weit wie möglich wegzurücken, was natürlich völlig nutzlos war. „Daisuke, nicht, bitte, was... was soll das?“

„Das sollst du mir sagen“, gab der Angesprochene amüsiert zurück und musterte das blütenweiße Blatt nachdenklich. „Ich habe mit dem Gedanken gespielt, dir die Pulsadern aufzuschneiden, damit es hinterher wie ein Selbstmordversuch aussieht, mich aber letztendlich dagegen entschieden. Das würde deine Arme entstellen und du wärst fürs Leben gezeichnet, dazu kann ich mich nicht hinreißen lassen. ... Hast du dich schon mal zwischen den Fingern geschnitten, Aie? Mit Papier?“

So sehr der Rothaarige auch versuchte, seine rechte Hand zu einer Faust geballt zu lassen, irgendwann schaffte Daisuke es, seinen kleinen Finger ein Stück vom Ringfinger weg zu biegen und das Papier dort entlang zu ziehen. Das erste Mal hinterließ nur ein unangenehmes Gefühl, beim zweiten Mal jedoch wurde Aie wirklich geschnitten und biss die Zähne zusammen. Es war ein akuter, scharfer Schmerz, der immer dann aufblitzte, wenn Aie seine Hand auch nur ein bisschen bewegte. „Daisuke, hör auf, ich bitte dich, das kannst du nicht-“

„Entspann deine Hand“, riet Daisuke ihm unberührt, „sonst werde ich dich an unnötigen Stellen schneiden müssen.“ Da Aie allerdings nicht hören wollte, bearbeitete Daisuke so lange seine Fingerknöchel, bis der andere schließlich keine Kraft mehr hatte und der Schwarzhaarige dessen Faust mit etwas Gewalt lösen konnte. Danach machte er sich daran, zwischen allen fünf Fingern mehrere Schnitte zu hinterlassen, die fürchterlich brannten und bei jeder Bewegung bösartig bissen. Daisuke kümmerte sich nicht um Aies Bitten und Betteln, sondern drückte seine Finger zusätzlich noch weit auseinander, um sich die Schnitte besser anzusehen und gegebenenfalls die Wunde mit einem weiteren Schnitt zu vertiefen, was Aie jedes Mal zum Keuchen brachte. Es war beinahe unerträglich, aber der Rothaarige zwang sich, so klar zu bleiben wie möglich, während er fieberhaft überlegte.

„Ist es wegen Hiko?“, wollte er wissen und biss seine Zähne wieder aufeinander, um nicht dem Schmerz die Überhand zu lassen. Seine Hand stand in Flammen und Schmerz durchzuckte ihn immer wieder quälend.

„Oh, du hast beschlossen, dich endlich zu äußern“, nahm Daisuke mit einem Lächeln zur Kenntnis. „Was meinst du damit – wegen Hiko? Doch sicherlich nicht nur durch ihre bloße Existenz. Drück dich präziser aus.“

„Du warst... eifersüchtig auf sie“, stieß Aie atemlos hervor und kniff die Augen zusammen, als Daisuke seine Hand wieder zu einer Faust schloss. Himmel, tat das weh!

„Eifersüchtig?“, wiederholte der Hausherr nachdenklich und ließ endlich von Aies Hand ab, woraufhin er sich eine von Aies etwas längeren Haarsträhnen so weit wie eben möglich um den Finger wickelte und begann, leicht daran zu ziehen. „Das trifft es schon, ja. Ich habe sie verabscheut von dem Moment an, da du sie zum ersten Mal angesehen hast.“ Er zog etwas fester. „Ich habe sie verachtet von dem Moment an, da ihr zusammen wart.“ Mittlerweile klammerte sich Aies unverletzte Hand an das Bettgestell, seine Augen waren erneut zugekniffen und sein Körper angespannt. „Daisuke-“

„Und ich habe sie gehasst von dem Moment an, da du diese gottverdammte Haarfarbe hattest!“ Gleichzeitig zu dem Ruck, mit dem Daisuke dem anderen die Haarsträhne ausriss, presste er eine Hand auf Aies Mund, um den Aufschrei zu dämpfen. Als der Rothaarige nur noch leise wimmernd nach Luft schnappte, legte Daisuke die ausgerissenen Haare auf den Nachttisch, drückte seine Zigarette aus und trank einen Schluck Bier, seine Miene wieder entspannt. „Ich habe nicht dich gehasst, Aie, das solltest du wissen. Ich habe dich nie gehasst, nie verachtet, nie verabscheut, nie verflucht. Ganz im Gegenteil. Ganz im Gegenteil, Aie.“

Der Angesprochene tat alles, um ein Zittern zu unterdrücken, und ließ seine Augen weiterhin geschlossen. Er wollte nicht sehen, wie er betrachtet wurde, wollte nicht den ruhigen Ausdruck auf Daisukes Gesicht sehen. Wollte nicht glauben, dass diese Person zu so etwas fähig war. Er fühlte sich schwach, so schwach. „Wenn du mich doch nicht hasst, wenn du mich doch magst... warum tust du mir das an?“

„Weil ich wütend bin, Aie. Weil ich schlicht und einfach furchtbar wütend bin. Du hast mir wehgetan, du hast mir so wehgetan, dass du mir quasi keine andere Wahl gelassen hast. Du bist ein Arschloch, Aie, und weißt du, was das eigentlich Schlimme ist? Dass sich irgendetwas in mir widerstrebt, dich so zu nennen. Dass irgendetwas in mir mit dir leidet, dass irgendetwas in mir gerade neben dir liegt und mit dir fühlt, dass irgendetwas dich trotzdem noch umarmen will, festhalten will, dir über den Kopf streicheln und dir versprechen will, dass alles gut wird.“

Da schlug Aie seine Augen auf und wandte dem anderen seinen Kopf zu. Daisuke musterte ihn sichtlich aufgebracht, senkte seinen Blick jedoch nicht, also erwiderte Aie diesen unsicher. „Daisuke, bist du...? Bist du etwa...? Seit wann...? Seit wann, Daisuke, warum weiß ich nichts...?“

„Du stellst mir alle Fragen, die du dir selbst stellen solltest“, bemerkte der Schwarzhaarige mit kühler Stimme, ehe er aufstand und zur Küchenecke ging. Länger hatte er Aies Blick nicht ertragen, der gleichzeitig erschrocken, verletzt und so verdammt mitfühlend gewesen war, nein, das hatte er nicht länger ertragen. Er hatte eigentlich von sich gedacht, nicht schon so früh schwanken zu müssen, aber dass er schwanken würde, damit hatte er gerechnet. Dafür kannte er Aie zu lange, dafür kannte er sich zu lange, dafür war es zu stark. Aber so wurde er schon früh dazu gezwungen, sich zusammenreißen zu müssen, was gut war. Einige Momente stand er an der Spüle und krallte sich so fest an den Rand, dass seine Fingerknöchel weiß hervor traten. Er musste es durchziehen, er durfte jetzt nicht nachgeben. Kurzentschlossen griff er sich ein frisches Handtuch und einen Salzstreuer, ehe er zu Aie zurückkehrte und ihn erneut knebelte. „Du kennst doch die Redewendung ‚Salz in die Wunde reiben’, nicht wahr?“, fragte Daisuke beinahe beiläufig, während er sich eine Prise Salz in eine Handfläche streute. „Früher wurde Salz zur Desinfektion verwendet und hatte in etwa die gleiche Effizienz wie das Ausbrennen von Wunden. Außerdem tut beides ziemlich weh. Du kannst natürlich später versuchen, das Salz abzulecken, aber ich verspreche dir, dass dein Durst davon nicht besser wird.“ Er ignorierte Aies hilflosen, flehenden Blick.
 

„Und? Hast du irgendetwas herausfinden können?“ Der Fernseher lief leise im Hintergrund, da Daisuke verhindern wollte, dass Aie sich durch Geräusche bemerkbar machen konnte. Während des Gesprächs am Morgen war er noch zu groggy vom Betäubungsmittel gewesen, da hatte der Schwarzhaarige sich keine Sorgen gemacht, aber jetzt, da der andere gemerkt hatte, dass es bitterer Ernst war, war es nicht auszuschließen. Aber anstatt zu rebellieren oder herumzujammern, lag Aie ganz ruhig auf dem Bett und schien unbedingt mithören zu wollen, was Daisuke seiner Freundin erzählte. Verständlich.

„Nein, nichts“, seufzte Hiko ermattet. „Ich habe alle auf der Arbeit befragt, sie meinten aber nur, dass es keine Anzeichen gab, dass Aie nicht so war wie sonst. Sie fanden es auch sehr komisch, dass er heute nicht erschienen ist, ohne sich abzumelden – normalerweise tut er so etwas nicht.“

„Also können wir ausschließen, dass er abgehauen ist“, schlussfolgerte Daisuke, der halb mit dem Rücken zu dem Rotschopf auf dem Sofa saß und zwar die Augen auf den Fernseher gerichtet hatte, die flimmernden Bilder jedoch kaum tatsächlich sah. Sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. „Bleibt also nur noch Unfall oder ...“

Am anderen Ende der Leitung schluchzte Hiko unterdrückt. „Vielleicht... vielleicht mache ich mir auch nur zu viele Sorgen. Vielleicht gab es in seiner Familie Probleme und er ist für das Wochenende nach Hause gefahren oder irgendein Freund brauchte ihn oder...“

„Ich glaube nicht, dass du dir zu viele Sorgen machst“, widersprach Daisuke mit sanfter Stimme. „Seine Familie habe ich gerade eben angerufen, sie wissen von nichts. Und – sag du es mir, Hiko, ich habe ja seit längerer Zeit nicht mehr so viel mit ihm zu tun – hat er außer auf seiner Arbeit und in der Uni Freunde, für die er alles stehen und liegen lassen würde? Du hast doch selbst gesagt, dass seine Wohnung wirkt, als sei er nur eben schnell einkaufen gegangen oder so etwas in der Art, dass also nichts fehlt außer er selbst.“

„Nein, ich... habe auch darüber nachgedacht, aber... Ach, Daisuke, ich weiß einfach nicht mehr, was ich denken soll. Wäre es ein Unfall, wäre doch zumindest seine Familie benachrichtigt worden... aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ihn jemand entführt haben oder ihm etwas angetan haben soll! Warum denn? Seine Familie ist nicht reich, er auch nicht, das Lösegeld würde sich also nicht lohnen. Und, soweit ich weiß, hat er keine Feinde, zumindest keine solchen, die ihn einfach an einem Samstagmorgen entführen würden!“

Für einen kurzen Augenblick erschien ein Lächeln auf Daisukes Lippen, das er jedoch schnell niederkämpfte. „Er ergibt keinen Sinn“, stimmte er der jungen Frau zu. „Es ergibt einfach keinen Sinn, da hast du Recht.“

„Hast du denn irgendetwas herausfinden können?“, wollte Hiko mutlos wissen. Auch sie begriff so langsam, dass es ernst war – sie hatte zwei Stunden auf Aies versprochenen Anruf gewartet, ihn dann zuhause und auf seinem Handy angerufen und ihn nicht erreicht, was sie erstaunt hatte. Doch als sie bei Aies Arbeit anrief und feststellen musste, dass er auch dort nicht aufgetaucht war, begann sie sich ernsthafte Sorgen zu machen und hatte in seiner Wohnung nachgesehen. Gefunden hatte sie alles außer Aie, sein Handy, sein Portemonnaie und seinen Wohnungsschlüssel. Daraufhin war sie in Panik geraten und hatte kurzerhand von Aies Telefon aus Daisuke angerufen, den einzigen Bekannten Aies, mit dem sie nicht auf Kriegsfuß stand. Zumindest sie nicht mit ihm. Und jetzt war es bereits spätabends und es gab immer noch keine Spur von ihm.

„Nein, auch nicht“, antwortete Daisuke ebenso ratlos. „Seine Freunde haben nichts davon mitbekommen, dass er irgendetwas unternehmen wollte, sie haben ihn auch nicht besucht oder sonst wie Kontakt zu ihm aufgenommen – sie wussten ja, dass er Samstagnachmittag arbeitet und hätten ihn höchstens hinterher kontaktiert. Da seine Arbeitskollegen wohl vorher gearbeitet haben, bist du wahrscheinlich die Letzte, die ihn noch gesehen hat.“

Hiko schwieg eine Weile. „Und seine Freunde... ich meine, hat es sie sehr beunruhigt, oder waren sie eher... wie soll ich das ausdrücken?“

„Ich weiß, was du meinst“, antwortete der Schwarzhaarige und konnte nur mit Mühe ein Grinsen unterdrücken. „Sie waren schon besorgt, aber... sie zeigten kein großes Interesse, uns bei der Suche zu helfen, wenn du darauf angespielt hast, das ist mir schon aufgefallen.“

„Diese asozialen Spinner! Du weißt ja, dass ich sie noch nie leiden konnte, aber Aie ist verdammt noch mal VERSCHWUNDEN und es juckt sie nicht!! Das kann doch nicht sein!“

„Beruhig dich, Hiko“, besänftigte Daisuke sie mit mitfühlender Stimme. „Bitte. Ich weiß, wie du dich fühlst und du solltest es auch ausleben, aber nicht an seinen Freunden.“

„Warum nicht?! Das sind irgendwelche hirnverbrannten Idioten, das weißt du genauso gut wie ich! Er hat dich für sie sitzen lassen, solltest du nicht auch-“

„Hiko, es sind nicht umsonst seine Freunde“, fiel er ihr so freundlich wie möglich ins Wort. „Ich mag sie auch nicht, aber es wird wohl einen Grund geben, dass er sich für sie entschieden hat. Also reg dich bitte nicht grundlos über sie auf – davon wird nichts besser.“

„Ja.“ Sie war wieder einige Herzschläge still. „Ja, das stimmt. Du hast Recht, Daisuke, du hast Recht. Es... früher dachte ich, du wärst so wie die anderen, aber ... es tut mir leid, dass ich das so spät merke. Ich hätte dich früher besser behandeln sollen, hätte eure Freundschaft unterstützen sollen.“

„Ist schon gut, Hiko. Wirklich. Das ist doch jetzt nicht wichtig.“ Für diese Worte knipste er sein Grinsen kurz aus, grinste jedoch hinterher ungerührt weiter. Es war kein freundliches Grinsen, sondern eher eine Grimasse, verursacht durch puren Zynismus.

„MIR ist es wichtig. Es... klingt vielleicht bescheuert, aber ich war eifersüchtig auf dich. Aie hat am Anfang so viel Zeit mit dir verbracht – das ist natürlich absoluter Schwachsinn und im Nachhinein tut es mir leid, aber da...“

„Ist schon gut. Ich kann nachvollziehen, wie du dich gefühlt hast, wirklich. Es ist alles vergeben und vergessen. Wir haben im Moment Wichtigeres zu tun, da kann ich nicht noch alten Zorn wieder ausgraben.“

„Ich bin so froh, dass du da bist. Du hilfst mir wirklich. Ich kann nicht mehr.“

„Hast du eigentlich schon die Polizei verständigt?“ Daisuke konnte es sich nicht nehmen lassen, einen Blick nach hinten zu werfen und wurde von zwei dunkelbraunen Augen durchdringend und wütend angestarrt. Er lächelte nur wieder.

„Ja, längst. Aber sie meinten, dass sie erst eine offizielle Vermisstenanzeige aufgeben, wenn 24 Stunden vergangen sind.“

„Dann kontaktiere sie morgen Mittag am Besten gleich noch mal, dann können sie sich nicht rausreden, selbst wenn Sonntag ist. Was hältst du davon, wenn wir... uns morgen treffen? Ich glaube, dass es mir etwas besser geht, wenn ich dich sehe. Das klingt wahrscheinlich etwas seltsam, aber ich hoffe, du verstehst, wie ich das meine. Ich will nur... meine Sorgen mit jemandem teilen können.“

„Ja, ich weiß schon. Mir... geht es ähnlich. Sehr gerne, Daisuke.“

„Dann kann ich dir auch noch etwas anderes sagen... das möchte ich nicht gerne am Telefon tun.“
 

„Du wirst dich nicht mit ihr treffen!“, rief Aie, nachdem er nach Luft geschnappt und wieder kurz gehustet hatte. Daisuke warf das Handtuch in Richtung Küche und kümmerte sich nicht darum, ob es ankam oder nicht. Stattdessen zündete er sich eine neue Zigarette an und musterte den Rothaarigen ungerührt. „Das... das kannst du nicht machen! Lass sie in Ruhe, sie hat nichts damit zu tun! Es ist alles meine Schuld, also zieh sie nicht da mit rein, tu ihr nichts an, ich bitte dich!“

„So sehr dein Betteln auch Musik in meinen Ohren ist – hast du mal nachgedacht? Ich werde wohl kaum offiziell ankündigen, mich mit jemandem zu treffen und ihm dann etwas anzutun. Da muss man nur bei ihr zuhause auf den Kalender schauen, um zu wissen, wer Schuld ist“, entgegnete der Schwarzhaarige kalt. „Freut mich aber zu sehen, wie wichtig sie dir doch ist. Du liebst sie, hm? Von ganzem Herzen, unsterblich, bis in alle Ewigkeiten oder bis zur nächsten Blondine mit langen Beinen und hübschem Gesicht. F*** dich, Aie, f*** dich einfach selbst, dann hättest du weniger Probleme.“

Die mahagonibraunen Augen wurden mit jedem Wort größer, entsetzter und ungläubiger. „Was... was sagst du da...?“, wollte Aie sehr leise wissen.

„Weißt du, was ich Hiko morgen mitteilen werde, was ich nicht am Telefon besprechen wollte?“ Zumindest für den Moment hatte Daisuke es geschafft, zu seinem kaltschnäuzigen Selbst zurückzukehren. Dabei musste er bleiben. „Dass mir aufgefallen ist, wie fertig eine Freundin deines Kollegen wirkte. Arika war geradezu erschüttert. Seltsam, nicht wahr? Dabei kennt ihr euch eigentlich kaum – das muss doch etwas zu bedeuten haben, findest du nicht? Und Hiko ist sicherlich der gleichen Meinung.“

„Woher... das kannst du nicht wissen!“, stieß Aie fassungslos hervor. „Woher weißt du das?!“

„Ich würde es auch lieber nicht wissen, das kannst du mir glauben. Aber was hältst du davon, wenn wir mal chronologisch vorgehen? Ich schlage vor, dass du unsere gesamte Beziehung, Freundschaft, Vorgeschichte – wie immer du es nennen willst – rekapitulierst. Und zwar von Anfang an, als wir uns das erste Mal gesehen haben.“ Daisuke zog an seiner Zigarette und legte dadurch eine kurze Pause ein. „Vielleicht beantwortet das alle Fragen, die ich dir nicht beantworten werde. Bitte. Fang an.“

Aie musterte den anderen mit diesem verflucht verletzten, unschuldigen Ausdruck, aber dieses Mal gab er nicht nach. Dieses Mal nicht und auch nie wieder. „Meinst ... meinst du das ernst?“, fragte er leise. Der Rotschopf hatte mal geglaubt zu wissen, wann Daisuke Spaß machte und wann nicht. Genauso wie er geglaubt hatte, eine Lüge zu bemerken bei seinem ehemaligen besten Freund. Doch dem war offensichtlich nicht so.

„Sieh mir in die Augen“, forderte Daisuke mit ruhiger Stimme und zog die Brauen etwas höher, als der andere gehorchte. „Es ist mein voller Ernst, Aie. Das ist der beste Weg, deine Fragen zu beantworten, zu erklären, weshalb du hier bist, und dir begreiflich zu machen, wie ich mich früher gefühlt habe und wie ich mich jetzt fühle. Los. Fang bei unserer ersten Begegnung an. Zeig mir, wie viel dir unsere Freundschaft wirklich wert war. Zeig mir, wie viel ich dir wert war. Ich will alles hören.“
 

~*~
 

tbc~

A/N: Teilt mir mit, was ihr davon haltet! Was ist (oder könnte sein) zwischen den beiden vorgefallen?

„Wie gut waren wir befreundet?“

Rating: R

Word Count: 5.400
 

~*~
 

„Das erste Mal sind wir uns in der Mittelschule begegnet.“ Aies Stimme war schwach und klang, als würde sie jeden Moment versagen. Er ließ den Blick auf die Zimmerdecke gerichtet und zwang sich, den Hunger, die Schmerzen, den Durst, das Verlangen nach Nikotin und seine Verzweiflung zu unterdrücken. So langsam hatte er begriffen, dass der einzige Ausweg – falls überhaupt – war, das zu tun, was Daisuke von ihm verlangte. Und wenn er von ihm verlangte, alles aus der Vergangenheit wieder auszugraben und ans Tageslicht zu bringen, so würde er das tun. Obwohl er wusste, was alles passiert war. Obwohl er wusste, wie er am Ende dastehen würde. „Du bist erst drei Monate später dazu gekommen, weil du da erst umgezogen bist. Normalerweise hat man zu dem Zeitpunkt schon alle Freundschaften geschlossen und sich nicht um dich gekümmert, aber ich... passte nicht so richtig dazu. Ich hing mit ein paar Leuten rum, aber-“

„Sag es“, verlangte Daisuke mit kühler Stimme. „Du kannst es ruhig laut aussprechen. Das hat keiner von uns beiden damals getan, aber jetzt dürfte es doch kein Problem sein.“

„Wir... wir waren beide Außenseiter. Ich, weil ich mich nicht richtig wohl bei den anderen fühlte, aber dazu gehören wollte, und du, weil du später dazu gekommen bist und dich... dich nicht mit den anderen anfreunden wolltest. Und-“ Aie brach mit einem leisen Keuchen ab, als Daisuke mit einem Finger fast sanft über die Schnitte auf den Fingerknöcheln des Rothaarigen strich.

„Wirkte ich auf dich, als hätte kein Interesse an zwischenmenschlichen Beziehungen?“, fragte der Schwarzhaarige leise.

„Nein“, stieß Aie hervor. „Nein, du hast Recht, das stimmt nicht. Du warst trotzdem freundlich zu allen, sie haben dich nur... ignoriert.“

„Und wie ging es dir mit deinen Freunden?“

„Es war...“ Der Rotschopf warf dem anderen einen kurzen, verunsicherten Blick zu. „Na ja, ich habe mich mit ihnen getroffen und meine Freizeit mit ihnen verbracht und in der Schule war ich bei ihnen, aber eine richtige Freundschaft war es nicht, dazu war es zu... oberflächlich. Wenn ich jetzt darüber nachdenke, waren es wirklich keine Freunde, sondern Bekannte. Mich hat keiner von ihnen zuhause besucht und ich war auch nie bei ihnen, wir haben immer irgendetwas unternommen, aber es hat für sie keinen Unterschied gemacht, ob ich jetzt da war oder nicht... ich war auch ein Außenseiter, weil ich mich damit nicht zufrieden gegeben habe. Dadurch, dass ich mit ihnen befreundet war, hatte ich einen Platz, wo ich hingehörte, aber zugehörig fühlte ich mich nicht. Innerlich habe ich mich von ihnen abgekapselt und nach etwas anderem gesucht...“

„Wie viel einem doch im Nachhinein klar wird...“, murmelte Daisuke nachdenklich, den Blick offenbar in weite Ferne gerichtet. Er zog wieder an seiner Zigarette. „Und was macht man als Außenseiter natürlich? Man sucht sich einen anderen Außenseiter, damit man nicht so einsam ist.“

„Du... bist mir sowieso von Anfang an aufgefallen“, fuhr Aie fort. „Du wurdest von den anderen... nicht geschnitten, aber umgangen, vermieden. Sie waren nicht unfreundlich, aber sprachen lieber mit jemand anderem. Ich fand es immer schade, dass ich nicht mehr mit dir zu tun hatte, aber... ich tat auch nichts dafür. Ich wollte meine Status nicht verlieren, denn das hätte ich mit Sicherheit. Aber ich habe mehr auf dich geachtet als die anderen, glaube ich. Ich habe auch auf dich mehr geachtet als auf die anderen. Ich fand dich interessant.“

„Ich habe deine Augen auf mir gespürt“, entgegnete Daisuke, der dem Blick des anderen ebenfalls auswich. „Nur konnte ich nicht viel damit anfangen, du bist schließlich nie auf mich zu gegangen. Ich fand es irritierend, ehrlich gesagt – tagtäglich beobachtet zu werden und nicht zu wissen, ob das etwas Gutes oder Schlechtes ist.“

„Beobachtet habe ich dich nicht“, widersprach Aie stirnrunzelnd und schaute den Schwarzhaarigen kurz an. „Aber egal. Dabei blieb es ja während unseres ersten Jahres auf der Mittelschule. Und am Anfang des zweiten kam dann das Bioprojekt.“

„Richtig“, stimmte Daisuke ihm zu, nun ein schwaches Lächeln auf den Lippen. „Worum ging es noch mal? Wir sollten bei unserem eigenen Haustier Verhaltensforschung anstellen, nicht wahr?“

„Genau.“ Aie nickte. „Und diejenigen, die kein Tier hatten, sollten sich mit jemand anderem zusammentun. Weil wir aber ohnehin eine ungerade Anzahl waren und von meinen ‚Freunden’ alle bereits vergeben waren, hab ich mich daran erinnert, dass du irgendwann einmal jemand anderem gegenüber erwähnt hast, dass deine große Schwester zwei Ratten hat. Und deshalb hab ich dich gleich gefragt, damit keiner von uns am Ende übrig bleibt.“

„Du wusstest das vorher?“ Der Schwarzhaarige musterte den anderen erstaunt. „Ich dachte, du hättest mich auf Verdacht hin gefragt.“

„Ich weiß auch nicht mehr, woher ich das wusste. Auf jeden Fall musste ich dann natürlich zu dir nach Hause kommen, um eure Ratten zu beobachten. Ich war irgendwie überrascht davon, wie... normal es bei euch war. Ich weiß nicht, was ich erwartet habe, aber ich war irgendwie froh.“

„Soll ich dir sagen, warum?“, mischte Daisuke sich erneut ein. Das Lächeln war wieder verschwunden. „Du warst froh, weil du deshalb vor dir selbst rechtfertigen konntest, dich mit mir anzufreunden. Vorher hast du mich gemieden, weil alle es getan haben, aber jetzt hast du gemerkt, dass ich nicht anders war als die anderen – also könntest du dich den anderen gegenüber verteidigen, sollten sie dich darauf ansprechen.“

Aie schwieg einige Momente, während er darüber nachdachte. „Ja, vielleicht war es das. Das weiß ich nicht mehr. Zumindest fand ich dich nett und mochte dich, deshalb wollte ich mich mit dir anfreunden. Aus dem Grund habe ich, wenn wir uns für das Bioprojekt getroffen haben, auch versucht, dich ständig in ein Gespräch zu verwickeln, um einerseits mehr über dich herauszukriegen und andererseits, weil wir dadurch nicht so schnell fertig wurden und ich deshalb öfter zu dir kommen konnte.“

„Und ich dachte einfach, du wärst faul“, warf Daisuke trocken ein.

Der Rotschopf grinste. „Ja, ich hatte auch den Eindruck, dass du von meinen Versuchen, mit dir Freundschaft zu schließen, eher unbeeindruckt warst und mir die kalte Schulter gezeigt hast.“

„Ich war schon immer misstrauisch, wenn ich die Motive hinter den Handlungen nicht verstehe.“

„Aber irgendwann war das Bioprojekt vorbei und ich hatte keine Ausrede mehr, mich mit dir zu treffen, also... hab ich behauptet, ich wäre auf deine Schwester scharf und würde deshalb zu dir kommen wollen.“

„Das war erfunden?“, wiederholte Daisuke entgeistert. „Ist das dein Ernst? Warum wolltest du so unbedingt Zeit mit mir verbringen?“

Der andere zuckte mit den Schultern. „Du warst zu dem Zeitpunkt der einzige, mit dem ich offen über meine Gedanken, Gefühle und so was geredet habe. Außer dir hatte ich eigentlich keine Freunde. Und ich habe auch um die Freundschaft kämpfen müssen – kein Wunder, wenn du erst dachtest, ich wäre faul, und dann, dass ich dich nur benutzen würde, um deine Schwester zu sehen. Im Nachhinein finde ich es auch ziemlich lächerlich...“

„Und irgendwann habe ich dem seltsamen Jungen dann nachgegeben und angefangen, meine Zeit einfach so mit ihm zu verbringen“, fügte der Schwarzhaarige mit einem Seufzen hinzu und drückte seine Zigarette im Aschenbecher auf dem Nachttisch aus.

„Ja. Ich meine, ich musste trotzdem aufpassen, dass wir in der Schule nicht so oft miteinander geredet haben und uns keiner zusammen gesehen hat – sonst hätte ich außer dir wirklich niemanden mehr gehabt. Und ich hatte panische Angst davor, irgendwann ganz alleine da zu stehen.“ Darauf schwieg Daisuke nur. „Ich... weiß jetzt, dass du dich ziemlich verarscht gefühlt haben musst. Außerhalb der Schule habe ich mich ganz normal verhalten und mich mit dir getroffen, und während der Schule... habe ich dich ignoriert. Es war scheinheilig, das muss ich zugeben.“

Daisuke nahm sich eine weitere Zigarette aus der halb leeren Schachtel neben dem Aschenbecher und zündete sie sich an, nachdem er sie sich zwischen die Lippen geschoben hatte. Sein Blick blieb hauptsächlich nach unten gerichtet.

„Und dann, nach den Sommerferien-“

„Hast du da nicht was vergessen?“, fiel Daisuke ihm betont ruhig ins Wort und zuckte nicht mit der Wimper, als der Rotschopf ihm zögerlich den Kopf zudrehte und ihn ansah. „Denk mal nach. Wie gut waren wir befreundet?“

„Daisuke-“

„Findest du es völlig unwichtig zu erwähnen?“ Das Lächeln, das sich nun auf seinem Gesicht zeigte, war weit davon entfernt, echt zu wirken.

„Wir... haben geübt zu küssen“, antwortete Aie recht widerwillig.

„Und?“

„Wir haben uns gegenseitig einen runtergeholt“, fügte er noch leiser hinzu.

„Ist es dir peinlich?“ Auf Daisukes Gesicht zeigte sich ein ungesundes Interesse, wie Aie fand.

„Nein, ist es mir nicht“, widersprach dieser trotzig. „Wir waren in der Pubertät und außerdem machen das fast alle-“

„Wäre es dir nicht peinlich, würdest du dich gerade nicht rechtfertigen.“ Die beiden ehemaligen Freunde starrten sich eine Weile wortlos an, Daisuke mit einer ernsten und Aie mit einer verärgerten Miene. Daisukes Zigarette brannte vergessen im Aschenbecher ab, neben dem Aies herausgerissene Haarsträhne lag. Obwohl es bereits Frühsommer war, ging die Sonne langsam unter und tauchte das Zimmer in ein diffuses orangenes Licht.

„Nach den Sommerferien war es dann vorbei. Ich hatte die eine Hälfte der Ferien gelernt und war die andere bei Verwandten zu Besuch gewesen, deshalb habe ich mich weder mit dir noch mit den anderen getroffen. Die aber hatten herausgefunden, dass wir befreundet waren, und glaubten deshalb, ich hätte sie die Ferien über für dich sitzen lassen. Und stellten mich vor die Wahl.“

„Ich wusste vorher schon, wie du dich entscheiden würdest“, warf Daisuke gelassen ein.

„Ich habe ja versucht, dich dazu zu überreden, dass wir uns weiterhin treffen, aber du wolltest nicht.“

„Nein, das war nicht das, was ich wollte. Ich wollte mich nicht noch heimlicher mit dir treffen als sowieso schon. Und mir ging es um das Prinzip – wenn du dich offiziell auf ihre Seite schlugst, konntest du schließlich auch inoffiziell dabei bleiben.“

Aie kniff kurz die Lippen zusammen, ehe er weitersprach. „Und das letzte Jahr der Mittelschule haben wir getrennt verbracht. Eigentlich ging es uns auch nicht schlecht. Du hast dich dann mit einigen anderen aus unserer Klasse angefreundet, oder? Und ich war ja auch nicht alleine.“

„Abgesehen davon, dass ich meinen einzigen richtigen und besten Freund verloren habe, ging es mir gut, ja, wenn du unter ‚gut gehen’ verstehst, dass man nicht von der Klasse geschnitten wird“, erwiderte Daisuke kalt. „Ging es dir denn gut, Aie? Ich hatte zumindest den Eindruck. Du hast selten nicht gelacht, wenn du bei ihnen warst. Du hast deine Zeit mit ihnen verbracht, du warst in die Klasse integriert und hattest nie Probleme mit deinen Noten. Dir schien es ganz gut-“

„Mir ging es beschissen!“, fiel Aie ihm vehement ins Wort.

Das Lächeln kehrte wieder zurück.

„Mir ging es verdammt noch mal beschissen, eigentlich ging es mir die gesamte Zeit auf der Mittelschule beschissen! Das waren die beschissensten drei Jahre meines Lebens, Daisuke! Ich hatte keinen Bock auf diese ganzen Idioten, die sich nie richtig für mich interessiert haben, die nur oberflächliche Beziehungen aufbauen konnten und wollten, selbst in der Zeit, wo wir befreundet waren, ging es mir beschissen – und das, weil ich wusste, dass ich dich eigentlich echt gern hatte, aber am nächsten Morgen in der Schule so tun musste, als hätten wir niemals zusammen die Ratten deiner Schwester wieder eingefangen, den Laden neben der Schule beklaut, Horrorfilme ab 18 geguckt und meinetwegen miteinander Küssen geübt! Verdammt, Daisuke...“

Und mit einem Mal kam es Aie völlig unwirklich vor. Er erinnerte sich an all die Dinge, die sie zusammen unternommen hatten, und musste sich gleichzeitig ins Gedächtnis rufen, dass ebenjener Daisuke, der sein bester Freund gewesen war, ihn mit Handschellen an sein Bett gefesselt und ihm willentlich Schmerzen zugefügt hatte. Diese Situation hatte etwas lachhaft Absurdes, wobei Aie wirklich nicht nach Lachen zumute war. Zwischendurch hatte Daisuke doch ehrlich gelächelt, er hatte sich doch gerne an manche Sachen zurückerinnert, er war doch noch immer derjenige, mit dem Aie sich damals in der Mittelschule angefreundet hatte. Es war immer noch derselbe, so schwer es dem Rotschopf auch fiel, das zu akzeptieren. Plötzlich erschien es ihm wie ein schlechter Scherz. Das hier konnte nicht real sein.

„Daisuke, mach mich los“, bat er leise. „Es bleibt unter uns, das verspreche ich dir. Ich denke mir irgendetwas aus, irgendetwas wird mir schon einfallen. Nur bitte, mach mich los. Ich gehe auch nicht sofort, wenn du möchtest, bleibe ich noch hier-“

Das Lächeln war noch da, allerdings wurde es nun eine Spur mitleidiger. „Das hätte keinen Sinn, Aie“, entgegnete Daisuke mit sehr sanfter Stimme. „Wir sind noch nicht dort angelangt, wo ich hin will. Zwei Abende werden wir mit Sicherheit noch benötigen. Machen wir für heute Schluss, ja? Ich denke, es war für uns beide anstrengend genug. Wenn du dich für das Richtige entscheidest, gewähre ich dir noch einen Wunsch.“

„Daisuke, bitte-“ Aie brach ab, als das Lächeln des anderen ausgeknipst wurde und er stattdessen seine Augenbrauen hochzog. Irgendetwas in Aie sagte ihm, dass er ab jetzt aufpassen sollte mit dem, was er sagte. Er wusste nicht, wozu Daisuke fähig war, aber ab jetzt unzweifelhaft zu mehr als noch vor einigen Minuten, als sie gemeinsam in Erinnerungen geschwelgt hatten. „...Gibst du mir etwas zu essen?“

„Falsche Antwort. Schade. Eine Zigarette hätte ich dir gegönnt – deine Sucht unterstütze ich. Deine menschlichen Bedürfnisse allerdings werden wohl absichtlich etwas zu kurz kommen. Wenn ich sichergehen will, dass du nicht ernsthaft Widerstand leistest, werde ich dich wohl schwach lassen müssen. Schade, Aie.“ Daisuke erhob sich und nahm den Aschenbecher mit zur Küchenecke, um ihn dort zu säubern und den letzten Rest seiner Zigarette zu rauchen.

„Kriege ich dann wenigstens ein Glas Wasser?“, wollte Aie wissen, dessen Hilflosigkeit drohte, über ihm einzubrechen. Es war furchtbar, wie schnell seine Panik zurückkehren konnte – er befand sich weiterhin in Daisukes Händen, es hatte sich nichts geändert. Der andere hatte die völlige Macht über ihn.

Der Schwarzhaarige drehte sich zu ihm um. „Einverstanden.“
 

Etwas über eine Stunde später hatte Aie begonnen zu dösen. Daisuke hatte sich noch etwas zu essen genommen, gespült und sich die Nachrichten im Fernsehen angesehen, etwas gelesen und war anschließend kurz im Badezimmer verschwunden. Aie hatte das alles mehr unbewusst verfolgt, da er intensiver denn je darüber nachdachte, was er Daisuke angetan haben konnte. Er hatte gemeint, dass sie noch zwei Abende brauchen würden – also war das, worauf er anspielte, wohl noch nicht so lange her. Aber was konnte es sein?

Womit hatte er das verdient?

Noch ehe Aie registrieren konnte, dass die Handschellen, die seine angeketteten Hände am Bett befestigten, geöffnet worden waren, hatte Daisuke sie auch schon wieder am Bettgestell befestigt, dieses Mal allerdings etwas näher an der Wand. Er befahl dem Rotschopf, etwas in die entsprechende Richtung zu rücken, und kaum hatte Aie gehorcht, machte Daisuke es sich neben ihm im Bett bequem. Es war gerade so breit, dass sie nebeneinander liegen konnten, ohne einander allzu sehr zu berühren.

„Ich würde ja auf der Couch schlafen“, erklärte Daisuke, während er die zuvor zusammengeknüllte Bettdecke über ihnen ausbreitete, „aber sie ist wirklich sehr unbequem.“

Aie wusste dazu nichts zu sagen. Selbstverständlich hatte er sich Gedanken darüber gemacht, wo Daisuke schlafen wollte, aber dass er sich neben ihn legte, damit hatte er eigentlich nicht gerechnet. Er hatte noch nie zuvor mit einem anderen Mann in einem Bett geschlafen – in einem Zimmer ja, auch in einem Hochbett, aber nicht in ein und demselben Bett. Dass es ausgerechnet in einer solchen Situation dazu kommen sollte, amüsierte ihn auf eine fast hysterische Weise, der er jedoch nicht Luft machte. Er wäre beinahe zusammengezuckt, als plötzlich sein rechter Unterarm berührt wurde.

„Kannst du mit den Schmerzen schlafen?“, wollte Daisuke flüsternd wissen, als habe er ein schlechtes Gewissen – was sich der Rotschopf allerdings nur schwer vorstellen konnte.

„Werde ich sehen“, erwiderte Aie knapp, absichtlich eine positive Antwort vermeidend. Natürlich, es tat noch immer weh, aber er würde es sicherlich ausblenden können. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er nicht nur unheimlich hungrig und süchtig nach Nikotin war, sondern auch furchtbar müde.

„Gute Nacht“, wünschte Daisuke ihm noch und strich in einer schmerzhaft liebevollen Geste über Aies Seite.

Aie schwieg nur und fragte sich zum wiederholten Mal, wie es dazu hatte kommen können.
 

Keine Frage, dass er schlecht schlief. Zuerst einmal waren seine dröhnenden Kopfschmerzen zurückgekehrt und außerdem träumte er schlecht, wann immer er es schaffte, für einige Minuten oder sogar eine Stunde einzuschlafen. Von seinen Träumen blieb allerdings nichts anderes übrig als bloße Ideen, blasse Vorstellungen eines Gefühls, einer Atmosphäre. Er fühlte sich gehetzt und unruhig, ausgeliefert und unwirklich. Sein Körper zitterte nicht, befand sich aber in einem unangenehmen Zwischenstadium zwischen angespannt und ruhig – seine Muskeln wollten arbeiten, aber er konnte ja nicht aufstehen. Durch den anderen neben sich wurde seine Bewegungsfreiheit noch weiter eingeschränkt und zum ersten Mal begriff er, dass er ein eingesperrtes Tier war. Was für ein Tier, konnte er jedoch nicht sagen.

Am Morgen gegen acht Uhr stand Daisuke auf und zündete sich zunächst eine Zigarette an. Er hatte keinen Appetit, daher frühstückte er nicht, sondern trat an eins der großen Fenster, durch das die Sonne schräg herein schien, und blickte nach draußen. Er genoss die wenigen Minuten der Ruhe.

Im Zimmer hatte sich, verglichen zum vorigen Vormittag, auf den ersten Blick nichts verändert. Doch schaute man genauer hin, so bemerkte man das Küchentuch, das noch immer zusammengerollt vor dem Ofen auf dem Boden lag, und schaute man weiter, so entdeckte man die Haarsträhne auf dem Nachttisch. Daisuke fielen diese Dinge natürlich auch auf, und so beseitigte er sie beinahe geräuschlos: Das Handtuch ins Badezimmer, dort würde er es später noch brauchen, und die Haare in den Mülleimer. Gleich würde er noch Staub saugen.

Nachdem er die Packung, die er am vorigen Abend noch gekauft hatte, auf den Nachttisch gestellt hatte, nahm er wieder auf dem Küchenstuhl vor dem Bett Platz und musste feststellen, dass dies zu seinem Lieblingsplatz geworden war. Zuvor hatte er am liebsten auf der Couch gesessen oder gelegen, aber nun gab es nichts Besseres für ihn, als hier zu sitzen, zu rauchen und Aie zu beobachten. Der Rotschopf schlief noch – oder wieder – und seine Miene war unschuldig, friedlich, selig. Er hatte sich auf die Seite, in Daisukes Richtung gedreht, und hielt sich dabei an den Handschellen fest, als verliehen diese ihm eine Sicherheit, die er mit leeren Händen nicht hatte.

Ich habe es nicht umsonst getan, sagte Daisuke sich selbst und drückte die Zigarette im Aschenbecher aus, Es war nicht umsonst. Das kann und will ich nicht glauben.

Danach verfolgte er ruhig, wie Aie aufwachte. „Guten Morgen“, begrüßte er ihn freundlich, als der andere seine Augen endlich vollständig aufgeschlagen hatte. Ohne auf eine Erwiderung zu warten, deutete er auf die Packung aus Pappe neben sich. „Es wird Zeit, dass du diese grässliche Haarfarbe los wirst. Ich denke, ein neutrales Schwarz ist auch in deinem Interesse, nicht wahr?“

Aie blinzelte einige Male, ehe er begriff, worum es ging. „Ich... du willst mir die Haare färben?“, wollte er ungläubig wissen.

„Ich könnte sie dir stattdessen auch einzeln ausreißen, allerdings wäre das nicht meine Absicht.“ Daisuke öffnete die Packung und kippte den Inhalt auf die Matratze vor sich, ehe er erst Aies Bein vom Bett los- und sofort mit seinem anderen Knöchel wieder zusammenband und anschließend mit dem Schlüssel, der am Bund seiner Hose festgemacht gewesen war, die Handschellen öffnete, die den noch Rothaarigen ans Bettgestell fesselten. „Keine Sorge“, versicherte er Aie, während er sich die durchsichtigen Plastikhandschuhe anzog, „ich habe das schon oft genug gemacht. Du wirst mit dem Ergebnis zufrieden sein.“

Ganz langsam hob Aie seine Arme hoch und noch viel langsamer legte er sie auf seinem Bauch ab. Sie waren so lang in der unnatürlichen Stellung verharrt, dass es jetzt unglaublich schmerzte, sie überhaupt zu bewegen. Er biss die Zähne zusammen und schloss die Augen für eine Weile. Es war ihm in dem Moment egal, was Daisuke mit ihm anstellte, solange er noch etwas länger vom Bettgestell befreit war. Es war eine große Erleichterung für ihn, was ihn jedoch auch beunruhigte. Wenn er sich damit zufrieden gab, seine Arme in der von der Natur vorgesehenen Position zu halten, wie sollte es dann mit ihm weitergehen? Er musste endlich anfangen, für seine Freiheit zu kämpfen, wenn er sich in Gefangenschaft so unwohl fühlte. Aber gleichzeitig wusste er, dass er Daisuke nicht würde verletzen können.

Der Schwarzhaarige half ihm, sich aufrecht hinzusetzen und hielt ihn behutsam fest, als ihm schwindlig wurde. Dann befahl er Aie, so sitzen zu bleiben, und begann, die Farbe auf dessen Haare aufzutragen. „Das Zeug muss ohnehin eine Weile drauf bleiben, dann kriegst du gleich was zu essen – und Wasser natürlich“, murmelte er vor sich hin und es war nicht vollständig klar, ob seine Worte an Aie oder mehr an sich selbst gerichtet waren. „Hast du gut geschlafen?“

Aie nickte nur kurz, anstatt zu antworten und erntete einen Blick von Daisuke, den er nicht so recht deuten konnte. Er hatte das Gefühl, der andere wusste, dass er die halbe Nacht wach gelegen hatte, und hatte nur gefragt, um zu überprüfen, ob er ausweichen oder lügen würde. Vielleicht – wahrscheinlich – bildete er es sich allerdings nur ein und wurde langsam paranoid. Was nicht verwunderlich wäre, fand er. Er kniff seine Augen etwas zusammen, als die Farbe auf die Stelle geriet, an der ihm zuvor die Haarsträhne ausgerissen worden war. Der Schmerz war intensiv, hielt jedoch nur kurz an und wich anschließend einem kaum wahrnehmbaren Brennen, weshalb Aie ihn ignorierte.

Daisuke beendete seine Arbeit mit wenigen Kommentaren, warf die Packung mitsamt des anderen entstandenen Mülls im Badezimmer weg und holte sich ein dunkelblaues angefeuchtetes Handtuch, mit dem er behutsam die Farbe abwischte, die versehentlich auf Aies Ohr, seine Stirn oder in seinen Nacken geraten war. Der nun nicht mehr Rothaarige ließ den Blick gesenkt und schwieg. Er war müde, hungrig, durstig und wäre für eine Zigarette bestimmt gestorben, aber ansonsten fühlte er sich besser als in der Nacht. Er wollte nicht darüber nachdenken, und so nahm er nur überaus dankbar die kleine Schüssel Reis an, die Daisuke ihm nach kurzer Zeit brachte. Er aß umständlich, was durch die Handschellen bedingt war, und viel zu schnell. Danach bekam er lediglich noch eine Schüssel Nudelsuppe, die er in fast einem Zug aufschlürfte. Er war nicht überrascht, als er merkte, dass dies sein Frühstück gewesen war, und überlegte, ob er wohl an diesem Tag noch etwas anderes zu essen bekommen würde. Wahrscheinlich nicht.

Der andere Schwarzhaarige hatte wieder auf dem Küchenstuhl Platz genommen und den anderen beobachtet, während er selbst ein deutlich umfangreicheres Frühstück aß. Als er fertig war, reichte er Aie noch ein Glas Wasser und räumte das dreckige Geschirr in die Spüle. „Ich würde dir ja auch irgendetwas anderes geben, aber von Tee oder Kaffee würdest du den ganzen Tag fürchterlich auf Toilette müssen, das wollte ich dir nicht antun“, erzählte er, während er eine große Schere aus der Besteckschublade nahm und zu dem anderen zurückkehrte. Als er merkte, dass er von großen, unsicheren Augen verfolgt wurde, musste er grinsen. „Ich will nur deine Kleidung aufschneiden“, erklärte er Aie und setzte sich wieder hin, bevor er vorsichtig erst Aies Shirt an den Ärmeln und der Länge nach aufschnitt und sich danach an der schwarzen Hose zu schaffen machte. „Ich finde ja auch, dass dir diese engen Hosen stehen, nur sind sie im Moment wirklich unpraktisch. Halt still, ja?“

„Die Haarfarbe stinkt“, stellte Aie unzufrieden fest und erntete ein Lächeln, das ihn an den Daisuke erinnerte, mit dem er sich in der Mittelschule anfreunden wollte. Das versetzte ihm einen Stich ins Herz – das und der Gedanke, dass von diesem Daisuke wohl nicht mehr viel übrig geblieben war.

„Du wirst sie jetzt auch los“, versprach der andere ihm mit sanfter Stimme und entledigte sich nun auch Aies Unterwäsche. „Kannst du aufstehen? Ich helfe dir.“

Obwohl Aie erneut schwindlig wurde, schaffte er es irgendwie mit Daisukes Hilfe, sich mehr oder weniger aufrecht hinzustellen, und zusammen humpelten sie ins Badezimmer, das Aie zum allerersten Mal von innen sah. Er hatte jedoch kaum Zeit, sich umzusehen, da Daisuke ihn kurzerhand in der Dusche, an die Wand gelehnt, abstellte und sich anschließend selbst auszog. Aus einem Grund, den Aie selbst nicht verstand, beobachtete er den anderen, wie er erst seinen an einigen Stellen tätowierten Oberkörper enthüllte und schließlich noch den ganzen Rest. Nicht, dass sie sich zum ersten Mal nackt sahen, aber irgendetwas in Aie schenkte Daisuke mehr Beachtung, als er es selbst für angebracht hielt. Wahrscheinlich hatte es damit zu tun, dass er am vorigen Tag zum ersten Mal in seinem Leben auf den Gedanken gekommen war, dass der andere auch früher schon etwas anderes im Sinn gehabt hatte als eine pure platonische Freundschaft. Dieser Gedanke war gestern in ihm gesät worden, und nun keimte er auf.

Daisuke schloss die milchige Trennwand hinter sich, nachdem er zu Aie in die Dusche gestiegen war, und drehte das Wasser auf, das erst zu kalt und dann zu heiß wurde, ehe Daisuke eine angenehme Temperatur eingestellt hatte. Der nun Schwarzhaarige schloss reflexartig die Augen, als die Farbe von seinen Haaren gewaschen wurde, und öffnete sie auch nicht, als Daisuke einige Male durch seine Haare fuhr, um den Großteil der übrig gebliebenen Haarfarbe auch noch herauswaschen zu lassen. Er tat dies sanft, genau wie er auch die Farbe aufgetragen hatte, und ein weiteres Mal schmerzte Aies Herz.

„Was macht deine Hand?“, wollte Daisuke wissen, ehe er den anderen unter dem Strahl hervor zog, um Shampoo in seinen Haaren zu verteilen und aufzuschäumen.

Hier öffnete Aie nun seine Augen, aber der Blick des anderen war nach oben gerichtet, auf seine Haare. „Es geht“, antwortete er ehrlich. Das heiße Wasser hatte ordentlich gebrannt, aber zumindest war nun das Salz abgewaschen. Die Wunden, die wieder offen waren – also eigentlich fast alle – pochten nachdrücklich als Reaktion auf das Wasser, aber es war nichts, was er nicht hätte ertragen können.

„Gut“, erwiderte Daisuke wortkarg und wusch das Shampoo ab, ehe er die Prozedur ein weiteres Mal wiederholte. Seine Augen waren auf Aies Haare gerichtet.

„Der Schaum ist grau“, bemerkte dieser mit einem leichten Lächeln, den Blick fest auf Daisukes Gesicht. Dadurch zwang er den anderen, diesen zumindest kurz zu erwidern. Aber es blieb nicht bei dem ‚kurz’. Daisukes Hände, die das Shampoo sachte und sorgfältig in Aies schwarzen Haare einmassiert hatten, wurden erst langsamer und unterbrachen ihre vorherige Arbeit schließlich ganz, während ihr Besitzer die Augen nicht abwenden konnte von dem verlockenden Anblick vor sich. Aie sah ihn an, der Blick ohne Furcht.

Eine Hand, noch voll von grauem Schaum, glitt in Aies Nacken und diente dazu, ihn festzuhalten – sie zog ihn nicht nach vorne, aber der Griff war fest und unnachgiebig. Lippen, die vom warmen Wasser heiß geworden waren, legten sich auf Aies und bewegten sich sanft gegen sie – sie wurden nicht von einer Zunge begleitet, aber trotzdem drückten sie auf ihr Gegenpaar.

Der Kuss, den keiner der beiden so nennen wollte, dauerte keine fünf Sekunden. Daisuke riss sich los – er hatte sich wirklich losreißen müssen –, nahm seine rechte Hand aus Aies Nacken und seine linke aus dessen Haaren und musterte den Schwarzhaarigen vor sich mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und unterdrücktem Verlangen.

Das war es, was mir so komisch vorgekommen ist, fuhr es Aie plötzlich durch den Kopf. Daisuke hatte impliziert, mehr von ihm zu wollen, dies aber kein einziges Mal durchscheinen lassen außer während des mehr oder weniger deutlichen Geständnisses. Er war überraschend sanft mit Aie umgegangen, das schon, aber sonst? Er hatte die Situation nicht ausgenutzt – zumindest nicht in dem Sinne –, hatte Aie niemals mit Worten, Gesten oder auch nur Blicken klar gemacht, was er fühlte, er hatte sogar nichts getan, als sie nebeneinander geschlafen hatten. Deshalb war es Aie so schwer gefallen, das zu glauben: Er hatte nie einen Beweis gesehen.

Bis gerade eben zumindest. Daisuke hatte ihn geküsst und schaute ihn auf eine Art und Weise an, dass Aie unwillkürlich wärmer wurde. Das bedeutete schließlich auch, dass Daisuke sich die ganze Zeit zurückgehalten hatte, sich beherrscht, seine Gefühle niedergekämpft hatte. Und nun hat er die Beherrschung verloren, dachte Aie, damit hat er wahrscheinlich nicht gerechnet. Bis jetzt hatte er sich ziemlich gut unter Kontrolle. Was passierte wohl, wenn Daisuke auch der letzte Rest Kontrolle über sich abhanden kam? Diese Frage stellte Aie sich noch, bevor sie beantwortet wurde.

Es war ein Kuss gewesen, ein kurzer Kuss, ein schnelles Lippen aufeinander Legen, und doch hatte es gereicht, dass irgendetwas in Daisuke auseinander brach.

Er packte Aie an den Schultern und schob ihn grob zurück unter den Wasserstrahl, wo er ungeduldig mithalf, auch den letzten Rest Schaum abzuwaschen, bevor er wieder in Aies Nacken griff und ihre Münder aufeinander presste. Ein leises Seufzen entkam seinen Lippen, als Aie seine öffnete und den Kuss, der deutlich rabiater war als der vorige, erwiderte. Hätte Daisuke in diesem Moment klar denken können, hätte er mit Sicherheit mindestens eine Frage gestellt oder sogar sofort begriffen, was los war – so allerdings, mit dem Objekt seiner jahrelangen unerwiderten Liebe nackt vor sich unter der Dusche, nein, da konnte er nicht mehr denken. Er wollte auch nicht. Vielleicht wusste er es irgendwo bereits und wollte es nur nicht wahr haben.

Doch vorerst schnappte er wie ein Ertrinkender nach Aies Lippen, langte wie ein Verzweifelter nach dessen Zunge und schlang dabei seinen anderen Arm um den viel zu heißen Körper des anderen, ließ seine Hand auf dessen Rücken ruhen. Er hatte nicht mehr das kleinste bisschen Kontrolle über seinen Körper, schon nicht mehr gehabt, als er gespürt hatte, wie sich Aies Lippen für seine Zunge öffneten. Er machte seine Augen auf und betrachtete das Gesicht vor sich mit den geschlossenen Lidern, der leicht gerunzelten Stirn und den nun schwarzen Haaren. Seine Zunge fuhr über Aies Unterlippe und seine Zähne, ehe sie ihr Gegenstück berührte, das sofort reagierte. Vielleicht etwas zu schnell.

Es sollte der letzte Kuss für diesen noch wolkenklaren Sonntag bleiben.

Obwohl Daisuke vorgehabt hatte, Aies Mund niemals wieder freizugeben, revidierte er diesen Plan augenblicklich, als Aies Fingerspitzen seine wachsende Erektion berührten und die Finger beider Hände sich schließlich darum schlossen. Daisuke schaffte es nicht, ein atemloses Keuchen zu unterdrücken und löste sich von Aies Mund, um nach Luft schnappen zu können. Das hatte er nicht erwartet. Er suchte nach dem Blick des anderen und was er fand, überraschte ihn noch mehr. Es war ein Spiegel seiner eigenen Empfindungen. Doch bevor er sich darüber Gedanken machen konnte, begann Aie, seine Hände zu bewegen und zwang Daisuke dazu, sein Gesicht in der Halsbeuge des anderen zu vergraben, um nicht stöhnen zu müssen. Im Gegenzug dazu wurde Aies Griff nur noch fester, was Daisuke schließlich dazu veranlagte, nun auch eine Faust um das Glied des anderen zu schließen, das bereits auf dem besten Weg nach oben war.

Zusammen standen sie unter der Dusche, die Augen geschlossen, jeder halb mit sich selbst und halb mit dem anderen beschäftigt. Ihr Atem ging unregelmäßig, sie konnten nicht oft ein Keuchen unterdrücken und lehnten aneinander, um Halt zu finden. Daisuke leckte hingebungsvoll über Aies Hals, während der andere zurückhaltend an Daisukes Ohr knabberte. Der Spiegel über dem Waschbecken war nun vollständig beschlagen und die Luft schwer und aufgewärmt, voll von winzig kleinen Wassertröpfchen. Das Wasser, das aus dem Duschkopf kam, prasselte ungehindert auf die beiden nackten und erregten Körper nieder und wusch unschuldig die milchig weiße Flüssigkeit fort.

Sie hatten etwa gleichzeitig ihren Höhepunkt erreicht und waren beide etwas unsicher auf den Beinen, vor allem Aie, der all seine Schwächen zurückkommen spürte: Den allgegenwärtigen Hunger, das Verlangen nach Nikotin, seinen schwachen Kreislauf, den Drang, sich frei zu bewegen, die Verzweiflung, was aus ihm werden sollte. Obwohl er den Halt tatsächlich genoss, den Daisuke ihm in dem Moment gab, so wusste er, dass es nicht so bleiben konnte. Nicht so bleiben durfte. Er wartete einige Herzschläge und spürte, wie Daisuke sich wieder entspannte und sein Atem sich beruhigte, ehe er fragte: „Machst du mich los, Daisuke?“

Das war ein Fehler.

Er merkte es in dem Augenblick, in dem der andere den Kopf hob und ihm erneut in die Augen schaute. Nichts in Daisukes Miene deutete mehr darauf hin, dass er noch vor einer Minute nur mit Mühe ein genussvolles Stöhnen hatte unterdrücken können, stattdessen waren seine Augen kalt, seine Züge hart und sein Mund etwas zusammen gekniffen. Er war unglaublich wütend. Und das war das letzte, was Aie noch denken konnte, bevor Daisukes Arm nach oben schnellte und in einer viel zu unerwarteten Bewegung Aies Kopf mit voller Kraft an die weißen Fliesen hinter ihm rammte. Er spürte den Aufprall und merkte noch, wie seine Knie unter ihm nachgaben; dann jedoch wurde es schwarz um ihn.
 

~*~
 

tbc~

A/N: Während ich die Szene in der Dusche geschrieben habe, wurde ich das Gefühl nicht los, dass ich wie ein Voyeur gerade etwas mitbekam, das nicht für meine Augen bestimmt war... ich weiß nicht, ob das beim Lesen deutlich wird, aber zum allerersten Mal habe ich mich beim Schreiben so gefühlt, als würde ich unbefugt in jemandes Privatsphäre eindringen.

„Ich glaube dir nichts mehr, wenn ich es besser weiß“

Rating: PG-13/R-ish

Word Count: 8.363
 

~*~
 

Als Aie das nächste Mal erwachte, dröhnte sein Kopf, er war bewegungsunfähig, hungrig, durstig und lag obendrein noch auf einem harten, kalten Untergrund. Bis auf das Letzte kam ihm die Situation irgendwie bekannt vor – am vorigen Tag war er mit ähnlichen Empfindungen aufgewacht. Doch dieses Mal befand er sich in einem anderen Raum und konnte sich noch weniger bewegen als zuvor. Er brauchte einige Wimperschläge, bis er begriff, dass er auf den Boden von Daisukes Badezimmer geklebt worden war. Unzählige breite und vor allem lange Streifen von silbern glänzendem Klebeband hielten Aies Körper in einem eisernen Griff auf den Fliesen. Er stemmte sich einige Male mit aller Kraft dagegen, erreichte jedoch überhaupt nichts, außer dass ihm seine Position nun noch unbequemer vorkam als zuvor. Wenigstens bin ich nicht tot, dachte er, Wenigstens das. Er erinnerte sich an Daisukes Reaktion auf seine Bitte und konnte ihn überraschenderweise verstehen. Er sollte das Missverständnis am Besten so schnell wie möglich aufklären, was ihm allerdings gerade unmöglich war. Ein unangenehm reißfester Streifen des silbernen Bands klebte quer über seinem Mund, sodass er nur schwer Luft bekam. Dadurch, dass er auf dem Bauch lag, fiel ihm das Atmen ohnehin schwer. Er legte den Kopf auf die Seite und bemerkte da erst den Zettel, der nun genau in seinem Blickfeld an der Wand angebracht war.

‚Mach einen Laut und ich tue ihr was an. Scheiß auf Kalender.’

Aie verstand zunächst nicht, was Daisuke ihm sagen wollte, dann jedoch hörte er, wie die Wohnungstür aufgeschlossen wurde und nicht nur eine, sondern zwei Personen hereintraten.

„Ich glaube, ich war noch nie vorher bei dir zuhause“, stellte eine Frauenstimme verwundert fest.

„Das waren noch nicht viele“, entgegnete Daisuke ruhig. „Du bist eine von wenigen.“

„Da fühle ich mich ja gleich geschmeichelt!“

Hiko. Das war Hiko. Daisuke hatte Aies Freundin mit nach Hause gebracht, Aie auf dem Badezimmerboden festgeklebt und ihm deutlich gemacht, dass Hiko wohl besser nichts von ihm erfuhr, wollte er, dass sie diese Wohnung lebend verließ. Das war schlimmer als alle physische Folter, die der ehemals Rothaarige sich vorstellen konnte. Hiko und er waren nur durch eine Tür getrennt, eine einzige Tür. ‚Mach einen Laut und ich tue ihr was an. Scheiß auf Kalender.’ Ja, jetzt wusste Aie, was ihm diese Mitteilung sagen wollte. Er sollte einfach ruhig liegen bleiben und das Schauspiel verfolgen. Daisuke war wohl wirklich wütend gewesen, und Aie wusste nicht, was schlimmer war: Dass er überhaupt in Betracht zog, Hiko etwas anzutun, oder dass die Hand, mit der er den Zettel geschrieben hatte, vollkommen ruhig gewesen war. Es war sogar Daisukes Schönschrift.

Das ist Wahnsinn, dachte er, Das ist der pure Wahnsinn. Das hier kann nicht funktionieren.

„Ich warne dich nur vor – ich bin ein schlechter Gastgeber“, bemerkte Daisuke gerade. Hiko hatte, was Aie nicht wissen konnte, auf dem Küchenstuhl Platz genommen, der am nächsten zum Badezimmer lag, und schaute ihren Gastgeber mit einem Lächeln an. „Kann ich dir irgendetwas zu trinken anbieten, bevor ich es später vergesse? Orangensaft, Wasser? Oder Orangensaft mit Wasser?“

„Du weißt sogar noch, was ich am liebsten trinke“, meinte Hiko beeindruckt. „Ja, ich hätte gern Orangensaft mit ein bisschen Leitungswasser.“

Daisuke nickte knapp, nahm ein Glas, füllte Orangensaft hinein und drehte den Wasserhahn auf. Nichts passierte. „Ach, verdammt“, murmelte er halblaut vor sich hin und drehte sich zu seinem Gast um. „Das hatte ich vergessen – bis heute Nachmittag ist das Wasser abgestellt wegen irgendwelcher Reparaturen. Tut mir leid, dass ich nicht vorher daran gedacht habe.“

Doch Hiko schüttelte lediglich den Kopf. „Keine Sorge, das macht nichts. Ich wollte ohnehin nicht so lange bleiben.“

Der Schwarzhaarige reichte ihr das Glas und setzte sich schräg neben sie, an die Längsseite des Tisches. „Kann ich verstehen. Das muss dich ziemlich mitnehmen.“

Spätestens an dem Punkt spürte Aie, wie er selbst wütend wurde. Und zwar, weil alles genau so lief, wie Daisuke es geplant hatte – nach dieser Lüge mit dem Wasser würde Hiko nicht auf den Gedanken kommen, das Badezimmer zu betreten, und abgesehen davon vertraute sie Daisuke blind; sie fraß ihm aus der Hand, weil er sich so verstellte, wie sie ihn immer hatte haben wollen und er nie gewesen war. Er unterdrückte nur mühevoll den Drang, irgendein Geräusch von sich zu geben.

„Es nimmt mich im Moment mehr mit, dass du mir immer noch nicht gesagt hast, was du sagen wolltest“, widersprach die Studentin und musterte den anderen vor sich aufmerksam. „Es muss wichtig sein. Oder?“

„Ich... ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll.“ Daisukes Stimme stockte, er wich ihrem Blick aus und zupfte sich nervös am Hosenbein herum. Das hatte er schon früher immer getan, wenn er sich unwohl gefühlt hatte – mittlerweile hatte er diese Angewohnheit aufgegeben, nun jedoch setzte er sie bewusst ein. „Weißt du... als ich unter Aies Freunden herumgefragt habe, ob vielleicht jemand etwas weiß, ist mir etwas aufgefallen, das...“ Er brach wieder ab.

„Sag es einfach“, forderte Hiko mit einer gefassten Miene. „Ganz geradeheraus.“

Ich will das nicht hören, dachte Aie, Ich will es nicht hören. Er schloss die Augen und wünschte sich weit, weit weg.

„Ich glaube, er hat dich betrogen.“

Und zum wiederholten Mal fragte Aie sich: Woher weiß er das?

Hikos Gesichtszüge entgleisten. „Was? ... Was, ist das dein Ernst, Daisuke? Wie...“

„Mir ist schon aufgefallen, dass die Freundin eines der Typen irgendwie unruhig wurde, als ich nach Aie fragte. Sie beeilte sich zu sagen, dass sie keine Ahnung habe, aber für meinen Geschmack kam es etwas zu schnell. Erst kam es mir nur ein bisschen komisch vor, aber dann hat sie etwas gesagt, das mich im Nachhinein wirklich wunderte. Sie meinte, dass sie mit Aie sowieso nicht so viel zu tun habe – aber was glaubst du, wer der erste gewesen war, der sein Handy rausgeholt und Aie angerufen hat? Ganz bestimmt keiner der anderen. Warum macht man sich solche Sorgen um jemanden, mit dem man kaum zu tun hat?“ Hiko klebte an seinen Lippen. So weit, so gut. Er durfte jetzt nicht lächeln, er musste sich konzentrieren. „Deshalb habe ich sie hinterher noch einmal beiseite genommen und sie direkt auf Aie angesprochen. Sie hat selbstverständlich alles abgestritten, aber du weißt bestimmt, dass man nur die richtigen Fragen zu stellen braucht, um es den Gesichtern ablesen zu können. Ich glaube, dass sie irgendetwas mit Aie hatte.“

Er lügt doch wie gedruckt, fuhr es Aie durch den Kopf. Daisuke hatte sicherlich nicht mit ihr gesprochen und ihm müsste doch klar sein, dass es früher oder später herauskam. Wahrscheinlich eher früher, weil Hiko so etwas nicht auf sich sitzen ließ. Seine Lügen würden auffliegen und überhaupt würde alles auffliegen. Er schaufelte sich gerade sein eigenes Grab. War ihm das überhaupt bewusst?

Hiko konnte nicht mehr sitzen, sie stand auf und begann, unruhig hin und her zu laufen. „Das kann ich nicht glauben“, murmelte sie mehr an sich selbst gerichtet vor sich hin. „Das glaub ich nicht! Warum sollte er... und mit wem...“ Plötzlich blieb sie stehen. „Hatte die Schlampe blonde Locken und so ein Babyface? Weißt du, ob sie Arika hieß?“

„Ja, das ist sie“, bestätigte Daisuke beinahe kleinlaut, als wäre es ihm unangenehm, so etwas aufgedeckt zu haben. „Die Beschreibung stimmt und ich meine, dass sie auch so genannt wurde. Warum fragst du? Kennst du sie?“

„Sie ist schon länger um ihn herumgeschlichen“, knurrte die Rothaarige. „Hat ihn mehrere Male angerufen, als ich dabei war... und überhaupt hatte ich ein seltsames Gefühl bei ihr. Und du meinst, dass Aie mit ihr...“ Nun schüttelte sie wieder den Kopf.

„Ich weiß es natürlich nicht hundertprozentig“, entgegnete Daisuke vorsichtig. „Du solltest vielleicht mit ihr sprechen, bevor du zu voreiligen Schlüssen kommst-“

„Was hattest du gesagt am Anfang? Dass sie nervös wurde, als du nach Aie gefragt hast?“ In Hikos Augen lag nun eine Gefährlichkeit, die zuvor nicht dort gewesen war; sie blitzten und verliehen ihr ein beunruhigendes Aussehen. Mit einem Mal gefiel sie Daisuke viel besser als zuvor. „Glaubst du, dass er bei ihr ist?“

Er hob die Schultern für einen Moment. „Eigentlich kann ich es mir nicht vorstellen. Aber ich habe gehört, dass Aie seine Wohnung aufgeben wollte...?“

Ich glaub’s nicht, dachte Aie, der regungslos dalag und am liebsten geschrien hätte. Wäre da nicht das Klebeband gewesen, wäre seine Kinnlade längst heruntergeklappt bei dermaßen viel Dreistigkeit, die Daisuke gerade an den Tag legte.

„Ja, wir wollten zusammen ziehen“, erklärte Hiko.

Daisuke schwieg und senkte seinen Blick wieder.

„Du meinst... er wollte zu IHR ziehen?!“, rief die Rothaarige entgeistert. „Das wird ja immer besser!!“

„Ich habe nichts gesagt“, beschwichtigte ihr Gastgeber sie. „Ich finde nur, wir sollten nichts ausschließen.“

„Das kann nicht dein Ernst sein.“ Sie ließ sich wieder auf den Stuhl fallen, nun dem anderen deutlicher zugewandt. „Also... wurde er eventuell gar nicht überfallen, entführt oder sonst was, sondern er ist einfach bei dieser Schlampe untergetaucht. Sie hatten vorher schon eine Affäre und jetzt... Nein, Daisuke. Das würde er nicht machen. Er ist nicht jemand, der so etwas tun würde.“ Nach Bestätigung suchend wandte sie ihren Kopf dem Schwarzhaarigen neben sich zu, der jedoch nur wieder schwieg und sie mit hochgezogenen Augenbrauen ansah. Er musste überhaupt nichts mehr sagen. Der Gedanke war gepflanzt und keimte bereits, er musste ihm nur Zeit geben zu wachsen. Er war auf dem besten Weg dahin.

Hiko schlug sich die Hände vors Gesicht und stieß einen langgezogenen Seufzer aus. „Du weißt es besser, oder, Daisuke? Du weißt, dass er so jemand ist. Er würde so etwas tun – dass er bis jetzt noch nie so etwas getan hat, heißt nichts. Scheiße. Daisuke, was soll ich machen? Sag es mir.“

Aies Finger begannen zu zucken. Er verrenkte sich etwas, um seine Stirn auf die kalten Fliesen unter sich legen zu können, und schloss die Augen. Das konnte nicht wahr sein, das konnte einfach nicht wahr sein. Jetzt war Hiko schon so weit, dass sie an seiner Anständigkeit zweifelte. Urplötzlich fragte er sich, weshalb Daisuke solch einen großen Einfluss auf sie hatte – früher wäre Hiko eher aus einem Hochhaus gesprungen, als einen seiner Ratschläge anzunehmen. Was war in der Zwischenzeit geschehen? Hatte er etwas verpasst? Und warum tat Daisuke ihm das alles an? Warum?

„Rede mit ihr“, schlug Daisuke gerade vor und brachte Aies Herz beinahe zum Stillstand. „Wenn er wirklich bei ihr ist, wirst du es merken. Wenn er nicht da ist, haben wir eine weitere Möglichkeit ausgeschlossen und du erfährst die Wahrheit, ob er dich wirklich betrogen hat. Ich hätte selbst mit ihr geredet, aber ich wollte... dich erst informieren.“

„Ja, das ... ist wahrscheinlich das Beste. Ich bringe irgendwie in Erfahrung, wo sie wohnt, und dann quetsch ich sie aus. Aber wahrscheinlich erst morgen, heute habe ich keine Kraft mehr dazu.“ Sämtlicher Zorn war aus Hikos Zügen verschwunden, er war einer Resignation gewichen, die ihr hervorragend stand, wie Daisuke fand.

„Ich würde ja mitkommen, aber ich denke, dass du das besser alleine klärst“, erwiderte er und strich behutsam über ihren Arm. „Und wenn du dich hinterher mies fühlst, kannst du mich immer anrufen. Okay?“

Hiko drehte ihm ihren Kopf zu und ergriff nach kurzem Zögern seine Hand, hielt sie in ihrer fest. „Ja. Danke. Du hältst mich wahrscheinlich für überemotional und für genauso naiv wie früher, aber ich bin wirklich froh, dass ich mit dir reden kann.“

„Naiv vielleicht, aber nicht überemotional“, protestierte Daisuke mit einem leichten Lächeln, ehe er ihren Blick fest hielt.

Sie schaute ihn ruhig an. „Du flunkerst“, sagte sie leise.

„Ich flunkere nicht“, widersprach er ihr, ohne dass sein Lächeln verschwand. „Nicht dir gegenüber.“

Hiko würde sich später vor sich selbst rechtfertigen, dass sie nicht wisse, wer sich zuerst bewegt hatte – Daisuke jedoch war sich vollkommen sicher, dass er die ersten paar Millimeter zurückgelegt hatte. Nicht so, dass es Hiko bewusst auffiel, aber doch genug, damit sie entsprechend reagierte. Sie trafen sich in der Mitte und pressten ihre Lippen aufeinander, beide mit geschlossenen Augen. Hiko war die erste, die sich wieder losriss, auf die Beine sprang und den Schwarzhaarigen vor sich erschrocken ansah.

„Das... entschuldige“, stammelte sie, völlig durcheinander, und wandte sich bereits der Tür zu. Daisuke stand nun ebenfalls auf und griff nach ihrem Handgelenk, um sie festzuhalten, aber sie riss sich ruckartig los und funkelte ihn an. „Selbst wenn Aie mich betrogen haben sollte, ändert das nichts an meinem Wunsch, ihn wiederzuhaben!“, fauchte sie. „Du wirst daran nichts ändern!“

„Hiko“, sprach er sie ruhig an. „Es tut mir leid. Aber ich denke, wir können uns darauf einigen, dass wir beide keine Schuld tragen. Ich möchte nur, dass wir als Freunde auseinander gehen. Ich verlange und wünsche mir nicht mehr von dir, aber wenigstens das. Ich möchte nicht deinem Blick ausweichen müssen, wenn wir uns das nächste Mal sehen, ich möchte weiterhin normal mit dir umgehen können.“

Die Rothaarige schluckte einmal und nickte dann. „Ja, ich... ich habe mich nicht mehr unter Kontrolle. Ich kann einfach nicht mehr, Daisuke. Entschuldige. Ich will doch auch, dass wir Freunde sind.“ Als Daisuke zögernd die Arme um sie legte, erwiderte sie die Umarmung und lehnte ihren Kopf an seine Schulter.

„Es wird alles gut“, versprach er ihr leise und streichelte über ihren Kopf.
 

Er wollte seine Tränen zurückhalten, aber er wusste gleich vom ersten Moment an, dass es sinnlos war. Alle Verzweiflung, die sich innerhalb des letzten Tages in ihm aufgebaut hatte, brach wie eine tosende Welle über ihm zusammen und stürzte ihn in ein Meer aus Macht- und Mutlosigkeit. Hiko war nur durch eine einzige Tür von ihm getrennt gewesen und hatte nichts davon gewusst, nichts von ihm geahnt, sich nicht in ihren wildesten Träumen ausmalen können, dass ihr Freund gefesselt auf den Badezimmerboden geklebt worden war. Und sie hatte Daisuke geglaubt, sie hatte ihm jedes einzelne Wort abgekauft – jedes einzelne. Sie wusste nun von Arika und sie würde von ihr noch mehr erfahren, was sollte sie dann von Aie denken? Was dachte sie bereits über ihn, wenn sie die Möglichkeit einräumte, er könne bei Arika untergetaucht sein? Und Daisukes Kaltblütigkeit erschreckte ihn, erschütterte die Grundfeste seines Denkens. Er konnte Hiko ins Gesicht lügen, konnte ihr vorspielen, sich Sorgen um sie und um Aie zu machen, konnte behaupten, mit ihr befreundet sein zu wollen. Und sie hatte alles geglaubt. Was war das kurz vor Ende ihres Besuchs gewesen? Was war geschehen, was hatten sie getan, wofür sie sich beide entschuldigten? Hatten sie sich geküsst, wenn ja, war es von Daisuke aus gegangen? War Hiko nur verwirrt gewesen oder hatte sie tatsächlich Interesse an Daisuke?

Als die Badezimmertür geöffnet wurde, blendete helles Licht den Gefangenen. Im Bad war nur ein kleines Fenster, daher erschien ihm das Tageslicht aus dem Hauptraum unangenehm strahlend. Er wandte den Kopf ab, legte ihn auf die Seite und schloss die Augen. Er wollte nicht sehen, was er zu sehen befürchtete.

Daisuke betrachtete ihn mit einer ausdruckslosen Miene. „Du solltest nicht weinen“, bemerkte er kalt. „Das nimmt mir die Lust, dir Schmerzen zuzufügen.“ Er trat leicht gegen Aies Hinterkopf, ehe er über den Körper stieg und sich im Spiegel betrachtete. „Wenigstens hat ihr Lippenstift nicht abgefärbt.“ Er setzte sich auf Aies unteren Rücken und riss ihm mit einem Ruck das Klebeband ab, das über seinem Mund befestigt gewesen war.

Der neuerdings Schwarzhaarige gab ein gequältes Wimmern von sich und sah ihn nicht an. „Was habt ihr gemacht?“, fragte er leise.

„Wir haben uns geküsst. Nicht lange, aber lange genug“, antwortete Daisuke kurz angebunden. „Und zum Schluss haben wir uns umarmt, ganz romantisch. Neidisch, Aie? Oder nur stinksauer? Oder etwa verzweifelt?“ Er griff in Aies Haare und riss seinen Kopf nach hinten, wodurch der andere nun fast gar keine Luft mehr bekam. „Jetzt fällt dir nichts mehr ein, was?“ Genauso abrupt, wie er Aies Kopf gepackt hatte, ließ er ihn wieder los und begann, die Klebestreifen einen nach dem anderen abzureißen. Dort, wo sie von Aies nackter Haut entfernt wurden, hinterließen sie einen brennenden Schmerz. Aie stellte abwesend fest, dass er wieder bekleidet war – dieses Mal mit Daisukes Kleidung, wie es aussah –, wie zuvor mit einem Shirt und einer langen Hose. Doch was ihn mehr beschäftigte, war der Ausdruck auf Daisukes Gesicht. Er schaute ihn nicht an und hatte die Lippen leicht zusammengekniffen. Er war gefährlich. Er war immer gefährlich, wenn er wütend war.

Da Aie noch immer an den Händen mit Handschellen und an den Füßen mit dem Hanfseil gefesselt war, konnte er nicht aus eigener Kraft aufstehen. Stattdessen packte Daisuke ihn und stellte ihn mit einer fast unmenschlichen Kraft auf die Füße – eine Geste, die wohl zeigen sollte, dass Aie sich theoretisch hätte wehren können. Vielleicht nur, um Daisukes Gewissen zu beruhigen. Der erste Schlag war kraftvoll und landete genau in Aies Magengrube, woraufhin er wieder zusammensackte und husten und keuchen musste.

„Weißt du, was es für ein Gefühl ist, jemanden zu küssen, den du seit Jahren so sehr gehasst hast, dass du beinahe wahnsinnig wurdest?“, wollte Daisuke wissen. Er war aufgebracht und aggressiv und was noch alles, aber er war trotzdem immer noch auf eine gewisse Art ruhig. Das war es, das Aie jegliche Hoffnung nahm. Es war kein unkontrollierter Ausbruch, es waren alles rational getroffene Entscheidungen. „Ach, ich vergaß – du hast ja bereits Erfahrung darin!“

Der nächste Schlag traf Aies Gesicht und warf ihn endgültig wieder der Länge nach auf den Boden. Er hob die Arme, um sein Gesicht zu schützen (mit der beinahe hysterischen Überlegung, ob es nicht besser wäre, wenn er entstellt würde, da Daisuke dann eventuell das Interesse an ihm verlor), und zuckte zusammen, als er in die Rippen getreten wurde. „Ich hasse dich nicht“, protestierte er schwach. „Ich hasse dich nicht, Daisuke.“

„Glaubst du, das macht es besser?“, zischte ihn der Schwarzhaarige über ihm an. „Hast du ernsthaft geglaubt, du könntest mich mit so etwas einlullen, sodass ich dich völlig naiv losmache, auf dass du für immer verschwindest und ich im Gefängnis lande?! So leicht bin ich nicht zu haben, das solltest du wissen. Du kannst mich nicht verarschen. Nein, mich kannst du nicht verarschen, Aie, mich nicht. Du konntest mich noch nie leiden, und da soll ich mich nicht wundern, wenn du dich plötzlich auf mich einlässt? Das war hinterhältig, das war so hinterhältig, dass ich wirklich sauer geworden bin. Ich bin es immer noch. Das verzeihe ich dir nicht, Aie – ich verzeihe dir vieles, habe dir schon unzählige Male verziehen, aber das hier nicht.“

„Das stimmt nicht.“ Aies Stimme war kaum hörbar. „Es stimmt nicht, dass ich dich noch nie leiden konnte. Das weißt du selbst. Ich mag dich, Daisuke. Ich mochte dich schon immer und ich mag dich immer noch.“

„Du verdammter – Scheiß – Lügner!!“, fauchte Daisuke und trat bei jedem Wort erneut zu. Beim letzten splitterte eine von Aies Rippen. Sein Schmerzensschrei brachte Daisuke endlich wieder zur Besinnung. Er trat einige Schritte zurück und besah sich den bebenden, misshandelten, gefesselten Körper vor sich. Die Tränen waren wieder da, dieses Mal vom physischen Schmerz hervorgerufen.

Daisuke war einige Herzschläge unschlüssig, was er tun sollte, ehe er langsam über Aie stieg, um das Badezimmer verlassen zu können. Er holte ein Glas aus einem Schrank und kehrte zurück, füllte das Glas zur Hälfte mit Leitungswasser, suchte in der Kommode unter dem Waschbecken kurz nach den Schmerztabletten, fand sie und hockte sich neben Aie. Er hob dessen Kopf so weit an, dass der andere trinken konnte, legte ihm eine Tablette in den Mund und flößte ihm etwas Wasser ein. Dann wischte er Aies Tränen weg und wünschte sich, er könnte einfach mitheulen. Aber das konnte und durfte er sich nicht erlauben. Nicht jetzt.

Aie legte seinen Kopf wieder auf dem Parkett ab – sein Oberkörper lag bis zu den Schulterblättern im Wohnraum – und holte stockend Luft. Er wagte nicht, sich zu bewegen, da jede kleinste Bewegung schwarze Punkte vor seinen Augen erschienen ließ, stattdessen blieb er einfach ruhig liegen und versuchte, an nichts zu denken. Auch Gedanken taten weh. Atmen tat weh, sein Herzschlag tat weh, sein Blut pochte unangenehm, sein Gesicht und sein Magen taten weh und der Schmerz in seiner Brust drohte kurz, ihm sein Bewusstsein zu rauben. „ Und ich mag dich immer noch“, flüsterte er angestrengt und schloss die Augen. Der Drang zu schlafen war überwältigend.

„Du lügst immer noch“, beharrte Daisuke, allerdings weit nicht mehr so vehement wie zuvor. „Halt die Luft an, ich trage dich zum Bett. Hilf mit, sonst schaffe ich es nicht.“ So vorsichtig wie nur irgend möglich zog Daisuke den anderen nach oben und gemeinsam legten sie irgendwie den Weg zum Bett zurück, wo Aie auf dem Rücken abgelegt wurde und versuchte, die Schmerzen zu verdrängen.

„Warum hast du sie geküsst?“, wollte Aie mit geschlossenen Augen wissen.

„Es gibt genügend Gründe, jemanden zu küssen. Oder sich küssen zu lassen“, entgegnete Daisuke kühl und nahm neben dem Bett Platz.

Der andere öffnete die Augen und schaute ihn an. „Ich wollte mich nicht ‚freikaufen’, Daisuke. Das musst du mir glauben.“

„Ich glaube dir nichts mehr, wenn ich es besser weiß.“

„Du willst mir nicht mehr glauben“, stellte Aie fest.

„Meinetwegen auch das. Aber überleg mal – hast du mir noch Spielraum gelassen, dir zu glauben? Denk nach, Aie, habe ich noch Grund dazu?“

Er lächelte traurig und wandte seinen Blick ab. „Nein, wahrscheinlich nicht. Aber sag es mir bitte, Daisuke. Warum bin ich hier? Was hat dich dazu veranlasst?“

Daisuke schüttelte den Kopf. „Find es selbst heraus. Das ist auch eine Frage, die du dir selbst beantworten musst.“ Dann stand er auf und machte sich daran, die Klebestreifen zu entsorgen und überhaupt aufzuräumen. Nicht nur in seinem Zimmer, sondern auch in seinem Kopf.

Mittlerweile war es Nachmittag geworden. Daisuke war, nachdem er Aie auf dem Badezimmerboden fixiert hatte, in das Café gegangen, in dem er sich am Tag zuvor mit Hiko verabredet hatte. Sie hatten sich etwa eineinhalb Stunden beraten, wie ihr weiteres Vorgehen aussah, was sie oder was sie eben nicht herausgefunden hatten und welche mögliche Erklärungen es für Aies Verschwinden gab. Anschließend waren sie in Daisukes Wohnung zurückgekehrt – er hatte damit gerechnet, Hiko zu sich nach Hause zu bringen, daher hatte er auch am vorigen Abend noch alle Spuren verwischt und Aie außer Reichweite gebracht; nun hatte er nur noch, bevor er ging, das Wasser der Spüle abdrehen müssen, damit es so aussah, als gäbe es im ganzen Haus kein Leitungswasser. Es hatte alles hervorragend geklappt, Hiko fraß ihm aus der Hand und er hatte erreichen können, dass sie sich etwas näher als nötig gekommen waren, mehr hatte er nicht gewollt. Und dann war alles aus dem Ruder gelaufen, begonnen hatte es mit dem nicht explizit geplanten Kuss mit Hiko, bei dem es ihn noch immer schauderte, und seinem Wutausbruch. Er war zu weit gegangen, das war ihm bewusst, er hatte Aie nicht so stark verletzen wollen.

„Daisuke, glaubst du nicht auch, dass es auffliegen wird?“, meldete Aie sich mit schwacher Stimme vom Bett. Er hatte die Augen geschlossen, konnte jedoch ruhig atmen. Wahrscheinlich wirkte die Schmerztablette bereits.

„Warum meinst du das?“, stellte Daisuke die erwartete Gegenfrage, während er gerade das Wasser wieder aufdrehte.

„Es gibt Lücken. Es gibt Lücken in deinem Plan, die dir nicht bewusst sind. Du kommst nicht damit durch, es wird auffliegen. Was, wenn Hiko doch etwas bemerkt hat? Was willst du dann machen? Es ist purer Wahnsinn, mich weiter hier festzuhalten.“

Er wandte sich zu Aie um und betrachtete ihn mit gelassener Miene. „Als ich das letzte Mal nachgesehen habe, wies mein ‚Plan’ keine Lücken auf, Aie. Und außerdem bezweifle ich, dass Hiko auch nur irgendetwas bemerkt haben sollte – wenn sie nicht gerade deine Präsenz spüren konnte, und danach sah es für mich nicht aus, dann denkt sie weiterhin, du seist abgehauen, entführt oder längst irgendwo tot auf dem Grund eines Sees. War es nicht frustrierend, nur durch eine Tür von ihr getrennt zu sein und zu wissen, dass sie nicht erfahren durfte, dass du da bist? Sie ist genauso dumm wie früher schon, Aie, sie verdächtigt mich nicht im Geringsten.“ Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen. „Und selbst wenn und ich es wirklich nicht bemerkt habe oder ich von anderen Lücken nichts weiß – ist dir noch nicht der Gedanke gekommen, dass ich wahnsinnig BIN?“

Aie schwieg nur. Er wollte darauf nicht antworten.

„Versuch es gar nicht“, riet Daisuke ihm, während er sich eine Zigarette anzündete. „Versuch nicht, stärker zu wirken als du bist. Ich war schon immer der Stärkere von uns beiden – wenn nicht physisch, dann psychisch auf jeden Fall. Wir haben den gleichen weichen Kern, aber ich habe im Laufe der letzten Jahre gelernt, einen Panzer darum zu errichten. Du befindest dich in meiner Gewalt, Aie, theoretisch könnte ich alles mit dir anstellen, wozu ich Lust habe, und du solltest verdammt froh sein, dass ich es nicht tue. Ich bin im Moment in einer Machtposition, von der du mich nicht herunterstürzen kannst. Also versuch es erst gar nicht. Ich habe vorhin geschwankt, aber dafür war ich alleine verantwortlich. Es war meine Schuld und wird nicht wieder passieren. Das Beste ist, wenn du dich mir einfach fügst.“

„Was willst du damit erreichen?“, fragte Aie und drehte ihm den Kopf zu, sah ihn an. „Willst du mit Gewalt erzwingen, dass ich plötzlich anfange, bestimmte Gefühle für dich-“

„Darum geht es mir nicht“, unterbrach Daisuke ihn lächelnd. „Das solltest du bereits gemerkt haben. Hätte ich erreichen wollen, dass du dich in mich verliebst, hätte ich dir wohl kaum Schmerzen zugefügt. Das sollte selbst dir klar sein. Nein, ich will dich leiden lassen, ich will dich leiden lassen für alles, was du mir je angetan hast, Aie. Du bist die Person in meinem Leben, die mir am meisten wehgetan hat. Gleichzeitig bist du die Person, der ich am wenigsten wehtun will.“

„Also kämpfst du mehr gegen dich selbst“, schlussfolgerte der andere stirnrunzelnd.

Daisuke dachte eine Weile nach. „Ja und nein. Ich will nicht darüber reden. Eines kann ich dir aber sagen: Ich will dir gezielt bestimmte Schmerzen zufügen, nicht wahllos irgendwelche. Deshalb tut es mir leid, dir eine Rippe gebrochen oder angeknackst zu haben. Das war sinnlose Gewalt, das sehe ich ein. Aber alles andere ergibt zumindest für mich Sinn. Dazu gehören nicht nur physische Schmerzen, das solltest du inzwischen begriffen haben.“

„Interessiert es dich überhaupt, was ich darüber denke, wie ich mich fühle, wie es mir geht?“, fragte Aie leise. Es schien mehr tatsächliche Frage als Vorwurf zu sein.

Daisuke schaute ihn abschätzend an. „Hauptsächlich nicht, nein. Darum geht es mir nicht.“

„Wie kannst du behaupten, ich wäre jemand Besonderes für dich, und dich gleichzeitig so wenig um mich kümmern? Wie kann es dir egal sein, wenn du mich verletzt? Das passt nicht zusammen.“

Er hockte sich neben das Bett und erwiderte Aies Blick eine lange Zeit. Als er seinen abwandte, dann nur, um in den Aschenbecher auf dem Nachttisch zu aschen. „Sprichst du mit dir selbst?“, wollte er dann wissen und lächelte wieder, bevor er aufstand. „Erzähl mir von der Highschool, Aie. Ich will es hören, erzähl mir davon.“
 

Die Schmerztablette wirkte glücklicherweise außerordentlich gut, was Aie zu der Frage brachte, wofür Daisuke solche Tabletten benötigte; er hatte keine Narben oder ähnliches gesehen. Seltsamerweise waren nicht nur seine Schmerzen, sondern auch sein Hunger unterdrückt worden, weshalb er zwar nicht klarer im Kopf war, sich aber doch insgesamt etwas besser fühlte. Trotz der gesplitterten Rippe – er konnte nur hoffen, dass es einigermaßen gut verheilte. Das Sprechen bereitete ihm dennoch einige Schwierigkeiten, wodurch er sich aber nicht davon abhalten ließ, Daisukes Forderung nachzukommen. „Früher habe ich mir immer vorgestellt, dass auf der Highschool alles anders würde. Letztendlich wurde auch alles anders, aber während der ersten paar Monate merkte ich nicht viel davon. Bis auf dass du dich verändert hast.“

„Was hast du gedacht, als du am ersten Schultag in die Klasse gekommen bist und mich da sitzen gesehen hast?“, wollte Daisuke wissen, während er sich eine nächste Zigarette anzündete. Er hatte eigentlich vorgehabt zu kochen, doch nun saß er wieder auf dem Küchenstuhl vor seinem Bett und betrachtete den anderen vor sich aufmerksam.

„Ich... hatte ein schlechtes Gewissen, natürlich. Ich habe dich im letzten Jahr der Mittelschule ignoriert, deshalb war ich mir nicht sicher, wie du reagieren würdest, wenn ich dich anspräche. Daher hab ich mich erst mal komplett von dir ferngehalten und dich aus der Ferne beobachtet, wie ich es am Anfang in der Mittelschule auch gemacht habe. Ich wollte nur sehen, ob du-“

„-ob ich wieder keinen Anschluss fand, dann hättest du mich nämlich gleich links liegen gelassen“, beendete er den Satz für Aie.

Der sah ihn verärgert an. „Das wollte ich nicht sagen. Ich wollte nur sehen, ob du mir vielleicht indirekt zu verstehen gibst, dass ich mich besser weiterhin von dir fernhalte, oder ob du Interesse daran hast, dich wieder mit mir anzufreunden.“

„Direkt gefragt hast du mich nie“, fügte Daisuke hinzu und erntete ein leichtes Kopfschütteln. „Und, was hast du gesehen?“

„Etwas, das mich überrascht hat. Du warst irgendwie... cool geworden. In den Sommerferien hattest du dir die Ohren piercen lassen, soweit ich mich erinnern kann, war es da nur jeweils ein Loch auf jeder Seite. Deine Haare waren lang geworden und überhaupt war deine Ausstrahlung viel... cooler. Mir fällt kein besseres Wort dafür ein.“

„Hättest du mir wahrscheinlich gar nicht zugetraut.“ Er zog eine Augenbraue nach oben.

„In der Mittelschule nicht, nein. Und dann, als du deine Haare so aufgehellt hast, dass sie mittelbraun waren, wusste ich, warum ich dich immer noch beobachtete: Ich habe dich bewundert. Ich habe dich bewundert dafür, dass du nach deiner Haarfärbung fast die gesamte Klasse um dich scharen konntest, dass die Mädchen dich für dein Lächeln unwiderstehlich fanden und die Jungen sich mit dir darüber berieten, was für Ohrringe du tragen solltest. Aber am meisten habe ich dich dafür bewundert, dass du deine Persönlichkeit behalten hast, wegen der ich mich in der Mittelschule mit dir anfreunden wollte. Du bist einfach du selbst geblieben, hast dafür gesorgt, dass die anderen unvoreingenommen auf dich aufmerksam wurden, und plötzlich warst du ein Mädchenschwarm und jeder wollte mit dir befreundet sein.“

Daisuke runzelte nun selbst die Stirn. „Du übertreibst. Ganz so war es ja nun nicht.“

„Du hast ja nicht mitbekommen, wie sie hinter deinem Rücken über dich geredet haben. Du willst nicht wissen, was sie in der Mittelschule erzählt haben, aber auf der Highschool war es das genaue Gegenteil. Die Jungen hätten eigentlich neidisch sein müssen, aber weil du kategorisch alle Mädchen abgelehnt und sie auf andere Jungen verwiesen hast, mochten sie dich trotzdem oder haben dich zumindest akzeptiert. Abgesehen davon hast du zwar relativ gute Noten gehabt, dir aber darauf nichts eingebildet und anderen geholfen, wenn sie dich darum baten. Du warst verdammt cool, Daisuke.“

Sie waren beide eine Weile still, während Daisuke versuchte sich zu erinnern. „Ich kann irgendwie nur schwer glauben, dass ich so auf dich gewirkt habe. Aber wenn ich es so sehe, kann ich verstehen, weshalb du wieder was mit mir zu tun haben wolltest – jetzt, wo ich beliebt war, hättest du ja auch Vorteile davon.“

„Ich frage mich, was DU ein Bild von MIR hast, wenn du ständig so was behauptest. Ich bin nicht auf dich zugegangen und habe gesagt ‚hey, jetzt, wo du cool bist, mag ich dich wieder’“, korrigierte Aie ihn schnippisch. „Weißt du nicht mehr, was uns wieder zusammen gebracht hat? Erinnerst du dich an das Fußballspiel im Herbst? Das waren die letzten warmen Tage im Jahr, deshalb haben wir noch mal draußen gespielt. Und du hattest wegen irgendetwas furchtbar schlechte Laune, du hast gekickt wie der Teufel höchstpersönlich. Dabei hast du erst den Größten aus unserer Klasse getroffen, wie hieß er-“

„Voll in die Eier“, bestätigte Daisuke breit grinsend. „Doch, das weiß ich noch, natürlich. An dem Morgen habe ich mich mit meiner Mutter gestritten, deshalb war ich so mies drauf. Ich wollte nur meinen Frust loswerden, es tat mir ja auch leid.“

„Den nächsten Ball hab ich dann voll in die Fresse gekriegt“, fuhr Aie fort, nun selbst grinsend. „Ich hab nur das runde Ding auf mich zufliegen sehen, dann wurden meine Lichter ausgeknipst. Als ich wieder aufgewacht bin, hast du mich gerade angebrüllt, ich solle mich nicht so anstellen.“

„Du hast mir eine Scheißangst eingejagt“, erklärte Daisuke. „Du bist umgekippt wie ein Sack Reis und warst erst mal bewusstlos. Und während die anderen überlegt haben, ob sie dich in die stabile Seitenlage bringen sollen, habe ich das getan, was mir in dem Moment am naheliegendsten erschien.“

„In Panik geraten und mich anschreien“, nickte Aie, woraufhin der andere tatsächlich lachen musste. „Weißt du, was mein erster Gedanke war? ‚Was will dieser Idiot von mir?!’“

„Verständlich. Danach habe ich dich erst mal zur Krankenschwester geschleift, oder?“

„Das hatte ich auch nötig, ich hatte noch zwei Tage danach Kopfschmerzen.“

Daisuke musterte den anderen vor sich lächelnd und zog nachdenklich an seiner Zigarette. „Und nachdem ich dir einen Ball vor den Kopf geschossen habe, waren wir wieder befreundet.“

„Ich war so froh, dass du mich nicht links liegen gelassen hast! Ich hätte es ja verdient, nach dem, wie ich mich in der Mittelschule verhalten habe, aber dass wir uns trotzdem direkt wieder unterhalten konnten, als wäre nichts gewesen...“

„Ich habe gegeneinander abgewogen, was mir wichtiger war: Mein nachträglicher Ärger oder die Freundschaft mit dir. Ist doch klar, dass ich mich so entscheide.“

„Hast du es bereut?“ Aie sah ihn neugierig, fast unsicher an.

„Das war das schönste Jahr meines Lebens“, wich Daisuke der Frage geschickt aus. „Sag du mir, warum.“

„Wir... konnten ‚offen’ befreundet sein. Wir mussten uns nicht heimlich treffen oder Angst haben, dass jemand aus unserer Klasse herausfindet, dass wir was miteinander zu tun haben. Es war... ein richtig gutes Gefühl. Wir haben fast jeden Nachmittag und jedes Wochenende miteinander verbracht, manchmal waren auch noch andere dabei. In der Mittelschule habe ich im zweiten Jahr auch so gedacht, aber im ersten Jahr der Highschool war ich mir sicher, dass du mein bester Freund bist. Ich habe es genossen, mit dir-“

„Halt dich nicht zu sehr mit den Einzelheiten auf“, unterbrach Daisuke den anderen plötzlich und drückte ungeduldig seine Zigarette aus. „Erzähl weiter, sonst wirst du nie fertig.“

Aie schaute ihn fragend an. „Aber... das ist mir wichtig. In der Zeit war ich wirklich glücklich. Weißt du noch, als wir unsere Tattoos haben stechen lassen und meine Mutter dich am liebsten verklagt-“

„Jaja, weiß ich noch.“ Er wedelte mit der Hand, als wolle er eine Fliege verscheuchen. „Weiter.“

„Warum willst du nicht darüber reden?“

Die Frage ließ Daisuke stocken. Er betrachtete seinen Gefangenen vor sich einige Herzschläge lang wortlos, steckte sich anschließend eine neue Zigarette an und legte den Kopf in den Nacken, sah sich die Decke seiner Wohnung an. Er war noch nicht bereit dazu, Aie die Antworten zu geben, nach denen er verlangte. Er hatte nicht einmal offen über seine Gefühle gesprochen, stattdessen hatte er Aie eine Rippe gebrochen. Irgendwo hatte er mal gehört, dass man nichts hundertprozentig planen konnte, wenn man bei der Ausführung mit anderen Menschen zu tun hatte. Sie verhielten sich immer so, wie man es nicht erwartete – deshalb war es so schwierig, mit ihnen umzugehen. Er hatte Aie viel zu früh zu viel von seinem Innersten preisgegeben, das war nicht gut gewesen. „Du kriegst eine Zigarette, wenn du einfach weitererzählst.“

„Hast du Angst, dass du mich nicht mehr verletzen kannst, wenn du dich an diese Zeit zurückerinnerst?“ Aie wusste nicht, was nun passieren würde, aber er hatte die Frage stellen müssen. In den letzten paar Stunden war er Daisuke deutlich näher gekommen und er würde es nicht darauf beruhen lassen. Er musste versuchen, noch näher zu ihm zu gelangen, damit er ihn irgendwann erreichte. Wie er das bewerkstelligen sollte und was ihn dann erwartete, wusste er noch nicht. Er hoffte nur, wirklich etwas anderes als Wahnsinn vorzufinden.

Daisuke funkelte ihn an, es war der Ärger eines Kindes, dessen Geheimnis preisgegeben worden war. „Selbst wenn ich dir darauf antworte, was würdest du damit erreichen? Du wirst es nicht schaffen, mich so fertig zu machen, dass ich dich gehen lasse, ich dachte, das hätte ich bereits klar gemacht. Ich bin stärker als du, bin es schon immer gewesen.“

„Nicht, als Shiira kam.“

„Weißt du, Aie, ich habe dich wirklich nie verabscheut. Aber manchmal bin ich kurz davor. Jetzt, zum Beispiel.“ Daisuke bleckte in einer wölfischen Geste seine Zähne.

„Das wolltest du doch hören, oder?“, entgegnete Aie aufgebracht. „Dass alles mit Shiira vorbei war! Dass ich angefangen habe, dich zu ignorieren, als sie in mein Leben trat!“

„Shiira...“, murmelte der andere Schwarzhaarige fast nostalgisch. „Weißt du, wie lange ich diesen Namen nicht mehr laut ausgesprochen habe? Fast hätte ich vergessen, wie sie aussah.“

„Sie war so schön“, fügte Aie langsam hinzu.

„Sie war überirdisch schön. Habe ich dir erzählt, dass ich sie für ihre Schönheit gehasst habe?“

„Du hast sie dafür gehasst, dass ich mich in sie verknallt habe!“, widersprach Aie heftig. „Das war ihr einziges Vergehen – es war nicht einmal so, als wäre sie gekommen und hätte mich umgarnt und dir weggenommen! Nein, stattdessen war sie einfach da und schön. Ich habe mich in sie verguckt, wir haben uns näher kennen gelernt und sind zusammen gekommen. Meine erste Freundin, das war meine erste Freundin, Daisuke, und ich habe es sogar geschafft, eines der schönsten Mädchen der gesamten Schule zu ergattern. Hast du auch nur eine Ahnung, was das für mich bedeutet hat? Ich habe den Boden angebetet, auf dem sie gegangen ist, habe ihr jeden Wunsch von den Lippen abgelesen und ihr alles geschenkt, was sie haben wollte. Ich war Hals über Kopf-“

„Ist dir schon einmal aufgefallen, dass ‚ergattern’ klingt, als hättest du einen Platz eingenommen, bevor es jemand anderes tun konnte? Eigentlich ist es frauenverachtend, was du sagst“, fiel Daisuke ihm ruhig ins Wort. „Und außerdem warst du dumm. Du warst einfach dumm, Aie, du hast dich von ihr herumschubsen lassen, hast dein Geld mit beiden Händen zum Fenster herausgeworfen, wann immer sie unten stand, um es aufzufangen. Du hattest eine rosarote Brille auf und hast nicht gemerkt, dass sie dich nur ausgenutzt-“

„Sie hat mich nicht nur ausgenutzt! Sie hat mich wirklich geliebt!“, rief Aie wütend.

„Sie hat dich zu keinem Zeitpunkt geliebt! Du sahst passabel aus, warst nett und bereit, alles für sie aufzugeben, deshalb hat sie sich erst überhaupt mit dir eingelassen. Begreifst du das immer noch nicht?“

„Du hast überhaupt keine Ahnung, du weißt gar nicht, wie sie war! Sie hätte auch alles für mich aufgegeben, wenn ich es verlangt hätte! Sie hat mir völlig neue Denkrichtungen ermöglicht, hat mein Weltbild erweitert, hat dafür gesorgt, dass ich-“

„Ja, plötzlich hattest du jemanden, mit dem du über die wichtigen Themen des Lebens sprechen konntest, auf einmal war jemand da, der dir mehr bedeutet hat als alle anderen zusammen, von heute auf morgen war da jemand, mit dem du deine Zeit und den Rest deines Lebens verbringen wolltest, jemand, der dich versteht, dir zuhört und mit dem du alles machen kannst, was du willst!“ Daisuke war aufgestanden und fixierte den anderen vor sich mit einem gefährlichen Blitzen in den Augen. „Ich weiß, wie das ist. Mir musst du das nicht erzählen, Aie. Ich weiß, wie sich das anfühlt. Wenn dieser jemand verlangen würde, dass du alles aufgibst, würdest du es mit Freuden tun. Nur hattest du das Problem, dass sie es verlangt HAT.“

„Sie hat-“, begann Aie laut und zwang sich, sich wieder zu beruhigen. Die Schmerzen in seinem Oberkörper waren zwar die ganze Zeit geblieben, aber bis gerade eben waren sie zumutbar gewesen. Wenn er sich allerdings weiterhin so aufregte, würde es noch schlimmer werden. Er tröstete sich damit, dass es das einzige war, das ihn davon abhielt, Daisuke anzuschreien. Wahrscheinlich war es allerdings auch besser so. „Sie hat nie verlangt, dass ich die Freundschaft mit dir aufgebe.“

Langsam ließ Daisuke sich wieder auf den Stuhl sinken und rauchte übelgelaunt weiter. „Sie hat nur deine ganze Zeit in Anspruch genommen, das kommt auf das Gleiche hinaus. Außerdem – glaubst du nicht, dass es nicht dadurch besser wird, dass du zugibst, die Entscheidung selbst getroffen zu haben?“

„Wir haben ja nicht aufgehört, uns zu treffen. Es wurde nur mit einem Mal drastisch weniger. Ich kann verstehen, dass du da verletzt warst. Aber ich habe dich nicht ignoriert und ganz bestimmt nicht im Stich gelassen. Außerdem hast du dich auch daneben benommen. Du bist etliche Male bei mir vorbei gekommen, obwohl du wusstest, dass Shiira da war, und nicht wieder gegangen, bis ich dich fast rausschmeißen musste. Dann war da noch die Sache mit dem Schlamm in Shiiras Schuhen, die-“

„Das war ich nicht“, protestierte Daisuke sofort. „Ich kann nur wiederholen, was ich dir damals auch schon gesagt habe – ich war es nicht.“

„Und ich nehme dir immer noch nicht ab, dass du nichts damit zu tun hattest.“

„Ich kann dich nicht zwingen, mir zu glauben.“ Er zuckte mit den Schultern.

„Du warst so verdammt eifersüchtig! Shiira und du, ihr hättet euch bestimmt gut verstanden, wenn du dich nicht so quer gestellt hättest. Du hast nie verstanden, was es für mich bedeutete, nach sechzehn oder siebzehn Jahren hauptsächlich männlichem Kontakt plötzlich eine Frau zu haben, die ich-“ Aie brach ab, als ihm bewusst wurde, was er gerade sagte.

Daisuke lächelte dünn. „Nein, das habe ich wirklich nie verstanden. Ich denke, jetzt kannst du nachvollziehen, weshalb. Außerdem solltest du jetzt auch begreifen, warum ich so eifersüchtig war. Versetz dich noch einmal in die Zeit zurück, wo du alles, wirklich alles für Shiira getan hättest. Und jetzt stell dir vor, sie hätte sich in jemand völlig anderes verknallt und würde dir – wenn überhaupt – nur noch die kalte Schulter zeigen. Würdest du da nicht auch klammern? Würdest du dich da nicht auch lächerlich verhalten?“

„Wir waren nie zusammen“, warf Aie sehr leise ein. Er hatte den Blick abgewandt.

„Das ändert nichts, Aie, das ändert verdammt noch mal überhaupt NICHTS. Ich denke, alle Streits, die wir wegen Shiira hatten, alle Wortgefechte, die ich mit ihr hatte, und alle Tage, an denen wir nach Hause gegangen sind und uns wie Scheiße gefühlt haben, können wir überspringen. Wir haben unsere Standpunkte von damals gerade eben sehr plastisch dargestellt. Ich finde, das reicht.“ Daisuke beobachtete, wie der letzte Rest seiner Zigarette abbrannte, und drückte sie anschließend im Aschenbecher auf dem Nachttisch aus. Der Wecker zeigte an, dass es viertel nach Vier war.

„Natürlich kam der Tag, an dem Shiira und ich uns getrennt haben. Wir hatten uns friedlich auseinander gelebt, das Interesse am Leben des jeweils anderen verloren. Eigentlich traurig, wenn ich so darüber nachdenke. Ich wüsste gern, was aus ihr geworden ist, nach der Highschool haben wir uns nie wieder gesehen. Und was habe ich selbstverständlich gemacht?“

„Du bist kleinlaut zu mir zurückgekommen“, antwortete Daisuke auf die rhetorische Frage, während er sein Feuerzeug begutachtete, mit dem er sich die dritte Zigarette ansteckte. Es lag eine grimmige Selbstzufriedenheit in seiner Miene.

„Es blieb mir nichts anderes übrig. Du hast mich mit offenen Armen empfangen. Du hast mich zwar nicht direkt wegen Shiira getröstet, dir aber doch Mühe gegeben, mich wieder aufzuheitern. Das-“

„Manchmal denke ich, dass ich dich wahrscheinlich zu sehr aufgeheitert habe“, überlegte er laut. „Am Besten wäre gewesen, ich hätte dich ewig in dieser Niedergeschlagenheit gelassen und dich von Zeit zu Zeit so aufgemuntert, dass du mir dankbar warst und außer mir niemanden in deinem Leben geduldet hast. Ich hätte mich wenigstens gut um dich gekümmert.“

„Deine Denkweise macht mir Angst“, stellte Aie fest und erntete ein weiteres Schulterzucken.

„Mir auch. Am meisten nachts. Erzähl weiter.“

„Na ja, es ist, wie du gesagt hast. Ich war wieder ganz der Alte, und dieses Mal war es ein Mädchen, das sich in mich verknallt hat. Sie kam-“

„Hast du nicht da fast ein Jahr übersprungen?“ Daisuke runzelte die Stirn. „Erst mal waren es für ein halbes Jahr wieder nur wir beide. Pass auf – die ersten Monate im ersten Jahr sind wir umeinander herumgeschlichen. Dann haben wir uns wieder angefreundet und waren für etwas weniger als ein Jahr ungestört. Kurz vor der zweiten Hälfte des zweiten Jahres kam dann für ungefähr sechs Monate Shiira, ihr habt euch vor den Sommerferien wieder getrennt. Und dann dauerte es doch noch fast ein Jahr, bis Hiko aufgetaucht ist.“

„Ich dachte, ich sollte nicht über die ‚glücklichen Zeiten’ reden“, entgegnete Aie schneidend und musterte den anderen trotzig.

„Du könntest zumindest erwähnen, dass es welche waren“, bemerkte Daisuke pikiert.

„Meinetwegen. Also, ich trennte mich von Shiira, dann waren wir wieder fast ein Jahr eng befreundet und anschließend kam Hiko, machte alles kaputt, riss mich an sich, behandelte dich wie Backfisch und ruinierte dein Leben.“

„Aie, das ist lächerlich.“

„So sieht es aber sicherlich für dich aus, oder liege ich da falsch?“ In Aies Stimme hatte sich eine Bitterkeit eingeschlichen, die er von sich selbst nicht kannte.

„Gut, dann fasse ich es noch einmal zusammen. Hiko ist auf dich zugegangen, du mochtest sie und ihr seid zusammen gekommen. Sie konnte mich von Anfang an nicht leiden, weil du so viel Zeit mit mir verbracht hast, und ich konnte sie von Anfang an nicht leiden, weil du so viel Zeit mit ihr verbracht hast. Wir versuchten eine Zeitlang, miteinander auszukommen, der Versuch scheiterte und wir wurden eingeschworene Feinde.“

„Das stimmt nicht“, widersprach Aie müde. „Hiko fand es immer schade, dass ihr euch nicht verstanden habt. Sie mochte dich eigentlich, sie hat nur nie verstanden, weshalb du ihr gegenüber so biestig warst.“

„Meinetwegen fällt es alles auf mich zurück“, erwiderte Daisuke ohne mit der Wimper zu zucken. „Sie wollte sich mit mir anfreunden und ich habe mich ihr gegenüber asozial verhalten und alles ist daran gescheitert. Wenn du es so sehen willst...“

„Jetzt wirst du lächerlich, Daisuke.“

Wieder entstand eine kurze Pause. Es war absolut still im Raum, kein Geräusch hätte das Knistern der Gedanken stören können. Das allerdings war zweifellos zu hören und so betrachteten die beiden ehemals besten Freunde sich lauernd, darauf wartend, dass der jeweils andere etwas sagte. Sie wollten beide wissen, was der jeweils andere dachte.

„Du hast mich an meinem Geburtstag versetzt“, begann Daisuke schnell, als wolle er Aie überrumpeln.

„Hikos Hund ist an dem Tag gestorben, sie brauchte mich“, gab Aie erschöpft zurück.

„Du bist nicht zu Ayumis Taufe gekommen.“

„Ich habe sowieso nie verstanden, weshalb ich überhaupt kommen sollte!“

„Sie ist meine Nichte.“

„Ja und?“

„Du hast dich mit meiner Schwester immer gut verstanden, du kennst sie fast so lange wie mich. Das war respektlos von dir, Aie. Vor allem, da ich dir Monate vorher Bescheid gegeben habe.“

Aie seufzte tief. „Gut, das war mein Fehler, das sehe ich ein. Ich habe mich einfach verplant, in der Zeit war Hiko sowieso wegen dir gereizt und ich wollte nicht-“

„Du wolltest sie nicht weiter verärgern? Weil sie dir dann eventuell den Laufpass gegeben hätte? Fällt dir was auf, Aie? Stattdessen hast du mir immer abgesagt und darauf vertraut, dass ich es mit einem Schulterzucken abtue und dir weiterhin hinterher laufe und dich ständig frage, ob du unter Umständen irgendwann mal Zeit für mich erübrigen könntest.“

„Du musstest mir nicht hinterher laufen!“

„Doch, das musste ich.“ Daisuke hatte wieder die Lippen zusammengekniffen und zog kurz an seiner Zigarette, ehe er weitersprach. „Du bist nicht mehr auf mich zu gegangen, wenn du Zeit hattest; ich musste sie mir beinahe erbetteln. Aber weißt du, was mir wirklich weh getan hat? Als ich herausgefunden habe, dass du dich auch noch mit den anderen aus unserer Klasse triffst.“ Aie sah ihn beinahe erschrocken an. „Ja, ich weiß, dass du dachtest, ich wüsste nichts davon. Was hast du ihnen erzählt? Dass wir uns gestritten haben und du dich deshalb lieber mit anderen triffst?“

„Ich... brauchte eine Auszeit“, verteidigte Aie sich schwach.

„Von wem? Von mir? Warum hast du mir dann nicht ins Gesicht gesagt, dass ich dir auf die Nerven gehe? Das wäre für uns beide besser gewesen – ich hätte endlich aufgehört, mir Hoffnungen zu machen, dass es irgendwann besser wird, und du hättest deine Ruhe gehabt! Siehst du wenigstens im Nachhinein ein, dass es eine absolute Scheißsituation war? Ich hing völlig in der Luft und hatte keine Ahnung, was los war oder was du als nächstes tun würdest, du konntest dich zu keiner Entscheidung durchringen und musstest dich zweiteilen, während du die ganze Zeit versucht hast, es beiden recht zu machen, und Hiko wollte nichts anderes als Frieden, den du ihr leider nicht gewähren konntest.“

„Ich verstehe auch immer noch nicht, weshalb ich mich zwischen euch beiden entscheiden musste“, sagte Aie aufgebracht. „Warum konnte ich nicht mit dir befreundet und mit Hiko zusammen bleiben? Warum hast du mich zu einer Entscheidung drängen müssen? Du hast es mir auch nicht gerade leicht gemacht!“

„Wir haben dich beide geliebt und wussten es“, entgegnete Daisuke mit einer Gelassenheit, die Aie sämtlichen Wind aus den Segeln nahm. „Du kannst nicht alles haben, Aie. Auch, wenn du es immer wieder versucht hast, geht es nicht. Du konntest nicht uns beide zur gleichen Zeit haben. Dein Problem war, dass du mich nur als Freund gesehen hast, als guten Freund. Und genau das war ich eben nicht.“

„Willst du mir erzählen, dass Hiko... davon wusste?“, fragte Aie fassungslos.

„Sie hat zumindest gemerkt, dass ich dich für mich allein wollte. Deshalb waren wir Konkurrenten.“

„Das ist doch... das kann man nicht vergleichen! Ihr habt mir unterschiedliche Dinge gegeben, Hiko hat mir Liebe und Fürsorge und Zärtlichkeit-“

Daisukes Lächeln war vollkommen humorlos. „Das hätte ich dir auch geben können, Aie. Das hätte ich dir alles geben können.“

„Aber...“ Aie schüttelte leicht den Kopf. Jetzt, wo er aus Daisukes Mund gehört hatte, das er ihn liebte – oder zumindest geliebt hatte –, konnte er nicht mehr klar denken. Zuvor hatte er eine Ahnung von Daisukes Gefühlen gehabt, jetzt allerdings waren sie konkret geworden, so deutlich, dass er sie nicht länger vor sich selbst verleugnen konnte. „Du hast nie etwas gesagt!“, brachte er schließlich heraus.

Das Lächeln wurde breiter und begleitet davon, dass Daisuke seine Zigarette ausdrückte und aufstand. „Ich habe nur darauf gewartet, dass du das sagst. Ich habe nur darauf gewartet, Aie.“

Aie war kurz davor, die Luft anzuhalten, und konnte sich nur mit Mühe dazu bringen, Daisuke mit den Augen zu verfolgen, damit er wusste, was ihn erwartete. Aber anstatt seinen Gast in irgendeiner Weise zu misshandeln, zog der Hausherr sich Schuhe an und öffnete die Haustür. „Was machst du?“, wollte Aie irritiert wissen.

„Spazieren gehen“, antwortete Daisuke, ohne ihn anzusehen. „Ich kann sonst für nichts garantieren.“
 

~*~
 

tbc~

A/N: Eigentlich hätte Daisuke Aie keine Rippe brechen sollen ._.

„Ich hätte einfach nach dir rufen können“

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

„Ich kann mit meiner Liebe zu dir nicht glücklich werden“

Rating: G/PG

Word Count: 5.712

A/N: Argh.
 

~*~
 

Daisuke goss das heiße Wasser über die beiden Packungen Fertig-Ramen und füllte das restliche Wasser in eine Tasse mit Teebeutel. Ihm war an diesem Abend nicht nach Bier. Er hatte die beiden Nudelportionen ungleich verteilt und der einen nur die Hälfte übrig gelassen – er wollte schließlich nicht, dass Aie körperlich wieder fit wurde. Nein, so schwach, wie er im Moment war, gefiel er ihm ganz gut. Zumindest für seine Gefangenschaft. Eigentlich tat es dem Schwarzhaarigen in der Seele weh, seinen ehemaligen besten Freund so abgewrackt zu sehen, mit Ringen unter den Augen, knurrendem Magen, um jedes Glas Wasser bettelnd. Nein, er musste dafür sorgen, dass es bald endete. Noch innerhalb der nächsten Tage. Er warf einen Blick zurück zu dem anderen Schwarzhaarigen, der auf dem Bett lag, weiterhin zur Decke sah und rauchte. Daisuke hatte ihm eine Zigarette ‚danach’ gewährt, wobei das keine zutreffende Bezeichnung war, da es normalerweise vorangegangenen Sex implizierte. Davon hatte Daisuke jedoch zunächst abgesehen. Er hatte Zeit, musste sich nicht hetzen. Es reichte, wenn Aie mit drei Fingern noch nicht überfordert war. Dass er allerdings nur davon kommen würde, dass er befingert wurde, hätte Daisuke noch nicht erwartet. Umso besser.

Zunächst brachte er seine Tasse Tee ans Bett, wo er sie auf den Nachttisch stellte, ehe er die beiden Schüsseln mitnahm. Er hatte Aies Arme wieder vom Bett befreit, sodass diese nun auf Aies Bauch ruhten. Er rauchte mit geschlossenen Augen, bis Daisuke ihm die Zigarette abnahm und sie kurzerhand im Aschenbecher ausdrückte. Aies Augen flogen auf und er unternahm Anstalten, sich die Zigarette wiederzuholen, aber Daisuke drückte ihm stattdessen die Schüssel in die Hand. „Jetzt wird erst einmal gegessen“, bestimmte Daisuke ruhig und nahm auf dem Stuhl Platz. „Außerdem ist Rauchen ohnehin nicht gesund.“

„Du rauchst auch wie ein Schlot“, entgegnete Aie trotzig und stellte die Nudeln einen Moment beiseite, um sich in eine sitzende Position aufrichten zu können, wobei er kurz das Gesicht verzog. „Und du ernährst dich nicht richtig. Du bist zu dünn.“

„Schlechten Menschen geht es immer gut“, warf Daisuke ein, ohne dem anderen besondere Beachtung zu schenken.

„Ach ja? Und ich bin ein ‚guter’ Mensch?“, wollte sein Gegenüber spöttisch wissen und zog seine Hose zurecht. Er war zuvor vom anderen angezogen worden.

„Das habe ich nicht impliziert. Außerdem – geht es dir gerade schlecht?“ Hätte Daisuke eine Brille getragen, so hätte er Aie nun über den oberen Rand prüfend taxiert.

Aie seufzte nur einmal tief und betrachtete die Fertig-Ramen mit sichtlicher Lustlosigkeit.

„Ist dem Herrn das Essen nicht gut genug?“ Daisukes Stimme hatte einen spitzen Tonfall angenommen, den er gut von sich kannte. Allerdings mochte er ihn nicht besonders. Meistens bedeutete es nichts Gutes, wenn er hörbar gereizt wurde.

„Ich habe keinen Appetit“, entgegnete Aie zögernd und sah den anderen nicht direkt an.

„Das glaube ich dir nicht.“

„Ich habe nicht gesagt, dass ich keinen Hunger habe. Ich habe keinen Appetit. Ich habe keine Lust zu essen“, erklärte er geduldig.

Daisuke musterte ihn abschätzend. „Der Appetit kommt beim Essen.“ Es folgte keine Reaktion. „Aie“, fuhr er warnend fort, „zwing mich nicht dazu, etwas Unnötiges zu tun.“ Der andere wich weiterhin seinem Blick aus. „Das ist deine letzte Chance, Aie. Iss.“

Sein Gegenüber hatte die Augen niedergeschlagen und rührte sich hartnäckig nicht von der Stelle. Er wusste nicht, was die Konsequenzen sein würden, aber er wollte genau das herausfinden.

Der andere Schwarzhaarige musterte ihn nachdenklich und schlürfte währenddessen weiterhin seine Nudeln. „Es bringt nichts, in einen Hungerstreik zu gehen“, stellte er gelassen fest. Gut. Das war gut – wenn er ruhig blieb, dann hatte keiner von ihnen beiden etwas zu befürchten. „Ich werde dich einfach zwingen zu essen, Aie. Es reizt mich allerdings auch herauszufinden, was stärker ist: Dein Wille oder deine Schmerzempfindlichkeit. Gib dir Mühe, ja?“ Er aß die Ramen in Rekordzeit auf, entfernte den Teebeutel aus seiner Tasse und brachte erst das Geschirr weg, ehe er zur Kommode ging, eine Schublade aufzog und etwas darin herum kramte. Als er sich wieder zum Bett wandte, musste er feststellen, dass Aie vergeblich hastig versuchte, den Knoten des Seils aufzubinden, der sein rechtes Bein am Bettgestell fixierte. Ohne etwas von seiner Ruhe zu verlieren, nahm Daisuke wieder auf dem Küchenstuhl Platz, erwog kurz, ob er Aie seine Hilfe anbieten sollte, lehnte sich zurück und stieß mit dem Fuß gegen Aies gebrochene Rippe. Er hatte nicht einmal richtig getreten, dennoch entfuhr Aie ein Keuchen und er erstarrte in seinen Bewegungen.

„Das sind vermeidbare Schmerzen“, stellte Daisuke ungerührt fest und trat ein zweites Mal zu, woraufhin Aie sich wieder auf das Bett sinken ließ. Er wehrte sich nicht, als seine Hände wieder mit den Handschellen am Bett festgemacht wurden, sondern ließ die Augen geschlossen und schien sich allein auf seinen Atem zu konzentrieren. „Ich verstehe nicht, weshalb du dir so etwas selbst antust, Aie, oder warum du mich so unbedingt verärgern willst. Das kann nicht in deinem Interesse sein.“

„Wie kannst du mir wehtun?“, fragte Aie leise. „Ich bin nicht in der Lage, dich körperlich zu verletzen, sonst wäre ich nicht mehr hier. Das weißt du, das wissen wir beide. Würde ich es drauf anlegen, könnte ich dich ernsthaft verletzen oder sogar umbringen und einfach fliehen. Aber das kann ich nicht. Und wieso kannst du mir dann so etwas antun? Hast du kein Mitleid?“

Daisuke wartete, bis der andere ihn ansah, ehe er antwortete. „Du kennst sicherlich Leute, die sich aus Selbstmitleid die Pulsadern aufschlitzen, nicht wahr? Sie tun das, um Aufmerksamkeit zu erlangen oder weil sie meinen, dass es ihnen dadurch besser geht.“ Er zeigte Aie seine Handgelenke. „Ich habe hier keine Schnitte. Meine Schnitte sind dafür woanders, Aie, und ich habe auch aus dem gleichen Grund verletzt: Um Aufmerksamkeit zu erlangen – aber nicht, damit es mir besser geht. Ich habe mich längst damit abgefunden, nicht mehr glücklich zu werden. Meine Schnitte, Aie, meine Schnitte sind hier.“ Und bei den Worten strich er mit den Fingerspitzen über Aies rechten Handrücken, wo die noch immer nicht zur Hälfte verheilten Papierschnitte seine Knöchel säumten. „Und sie haben den gleichen Nebeneffekt: Sie tun mir weh. Du fragst, ob ich kein Mitleid besitze. Hast du darüber nachgedacht, dass ich vielleicht zu viel davon habe? Hast du darüber nachgedacht, dass ich dich verletze, obwohl ich mindestens den gleichen Schmerz empfinde?“

Aie hatte ihm mit zunehmend bestürzter Miene zugehört und schüttelte nun verständnislos den Kopf. „Wofür dann das Ganze, Daisuke? Geht es dir darum, dich selbst zu verletzen? Oder nimmst du das nur in Kauf? Was willst du, Daisuke?“

„Ich will dir klarmachen, wie ich mich die letzten Jahre gefühlt habe. Ich will, dass du dich an mich erinnerst. Ich will mich besser fühlen, indem ich dir Schmerzen zufüge, und ich will mich schlechter fühlen, indem ich dir Schmerzen zufüge. Ich bezweifle, dass du das verstehst, aber das verlange ich nicht. Außerdem will ich, dass du deine Nudeln isst.“ Ein beängstigendes, trauriges Lächeln hatte sich auf Daisukes Lippen gelegt, das er auch noch trug, während er einige Stecknadeln aus der kleinen Kiste hervorholte, die er aus der Kommode genommen hatte. „Wenn du freiwillig isst, musst du nur Bescheid geben“, fügte er noch hinzu und schob sich einige Nadeln zwischen die Lippen, hielt sie dort fest, und griff sich noch eine heraus.

„Was meinst du damit, ich soll mich an dich erinnern?“, fragte Aie sehr leise, dessen Schrecken wenig mit den Nadeln zu tun hatte. „Daisuke?“ Der andere griff nach Aies bereits mitgenommener rechten Hand, ohne zu antworten. „Daisuke, das kannst du nicht ernst meinen“, brachte Aie noch heraus, ehe der plötzliche Schmerz ihm die Sprache raubte. Er keuchte auf, gab ein winselndes Geräusch von sich und begann zu weinen. Dass er den Kopf abwandte und mit aller Mühe versuchte, die Tränen zurückzukämpfen, war nutzlos, das wusste er selbst, aber er kam nicht dagegen an. Die salzigen Tropfen brannten in seinen Augen und hinterließen feuchte Spuren auf seinen Wangen, während der unerträgliche Schmerz aus seiner rechten Hand seinen Arm hinaufzukriechen schien.

Daisuke betrachtete das Ergebnis seiner Taten beinahe erschrocken. Selbstverständlich hatte er sich gedacht, dass es schmerzhaft war, eine Nadel direkt unter den Fingernagel getrieben zu bekommen, allerdings hatte er mit solch einer heftigen Reaktion nicht gerechnet. Bis jetzt hatte Aie sich ziemlich gut geschlagen, wenn es darum ging, körperlichen Schmerz zu ertragen. Aber wahrscheinlich hatte Daisuke mittlerweile nicht nur seinen Körper, sondern auch seine Seele so weit verletzt, dass er nicht mehr anders konnte, als seine Gefühle herauszulassen. So vorsichtig wie möglich zog er die Nadel wieder heraus und legte sie zusammen mit den anderen zwischen seine Lippen auf den Nachttisch, ehe er mit dem Schlüssel, den er dauerhaft an seiner Hose befestigt hatte, die Handschellen wieder aufschloss.

Aie schenkte ihm nur wenig Beachtung; kaum dass seine zusammengeketteten Hände wieder vom Bett befreit waren, versuchte er, sich auf die Seite zu rollen, von dem anderen abgewandt. Nun jedoch meldete sich auch seine Rippe wieder – das Schmerzmittel hatte längst nachgelassen. Er presste sich die Handballen auf die Augen, um seine Tränen zu stoppen, und gleichzeitig wusste er, dass es nichts bringen würde. Er weinte nicht nur wegen seiner Verletzungen.

Ein wenig ratlos verfolgte Daisuke die Beherrschungsversuche seines Gegenüber. Er wusste, was er tun sollte, er wusste aber auch, was er tun WOLLTE. In ihm kämpfte seine eigene Beherrschung gegen den beinahe unwiderstehlichen Drang, Aie in irgendeiner Weise Trost zu spenden. Sei es mit Worten, mit Gesten, mit Berührungen – er ertrug es nicht, ihn dort so liegen zu sehen. Aber er durfte eine Linie nicht überschreiten, die er sich selbst gezeichnet hatte, und daher war es unmöglich für ihn, sich um Aie zu kümmern. Allerdings hatte er es bereits einmal von sich gegeben: Wenn Aie weinte, verlor Daisuke sämtliche Motivation, ihm weh zu tun. Und er wusste, dass er Aie weh tun würde, wenn er tatenlos sitzen blieb. Außerdem konnte es durchaus sein, dass Aie sich bewusst bemitleidenswert gab, damit der andere ihm nachgab – so etwas Ähnliches hatte er schließlich bereits am Morgen versucht, unter der Dusche, wenn auch auf eine etwas andere Weise. Und nicht zum ersten Mal stellte er sich diese Frage: Wann war es so schief gelaufen?

Ohne eine Antwort von sich selbst zu erwarten, griff er in seine Hosentasche, zog eine Zigarette hervor und zündete sie sich an. Wenn er sich weiterhin zurückhalten wollte, brauchte er etwas, mit dem er sich beschäftigen konnte. Rauchen schien eine gute Alternative zu sein. Er musterte den dünnen Körper vor sich, der bei jedem kleinen Beben fast zusammenzucken zu schien, stand auf, räumte die Stecknadeln wieder zurück in die Kommode und ging ins Badezimmer. Dort öffnete er zunächst das kleine Fenster, ließ sich auf dem Toilettendeckel nieder und atmete einmal tief durch. Sein erster Impuls war, aufzustehen, Aie loszubinden und ihn endlich richtig in den Arm zu nehmen, aber er kämpfte ihn mit Mühe und Not nieder. Dazu durfte es nicht kommen. Er durfte nicht nach seinen Impulsen handeln, er musste die Kontrolle über die Situation behalten. Richtig, er musste die Kontrolle behalten. Er hatte sie nicht verloren, als Aie sich vor ihm gewunden und gestöhnt hatte, er hatte sie nicht verloren, als Aie versucht hatte, sich loszubinden. Er hatte sie verloren, als Aie ihm vorgeworfen hatte, nie etwas gesagt zu haben. Wie hatte er sich das denn vorgestellt?! Was glaubte er denn, wie er reagiert hätte, wenn Daisuke eines Tages zu ihm gekommen wäre und ihm eröffnet hätte... Er merkte, wie die zuvor unterschwellige Wut erneut in ihm aufbrodelte. Wut war gut, Wut war definitiv besser als die mitfühlende Hilflosigkeit. Nachdem er ins Waschbecken geascht hatte, holte er eine weitere Schmerztablette aus dem kleinen Schrank hervor und verließ das Bad wieder, um ein halbes Glas Leitungswasser abzufüllen. Er setzte sich auf den Stuhl vor dem Bett, nachdem er sich vergewissert hatte, dass Aie noch immer festgebunden war. Demnächst sollte er ihn nicht losmachen und unbeaufsichtigt lassen.

Aie lag wieder auf dem Rücken, sein Fingernagel leicht violett angelaufen, seine Tränen getrocknet, sein Gesicht ausdruckslos, seine Augen gerötet und auf Daisukes Gesicht fixiert. Er nahm die Tablette wortlos und richtete sich ein wenig auf, um sie mit dem Wasser herunter zu spülen, ehe er sich wieder sinken ließ und langsam tief Luft holte, wie um sich selbst zu beruhigen. „Warum können wir uns nicht gegenseitig trösten?“, wollte er leise wissen. Die Frage war kein Vorschlag, sie ging hörbar von Tatsachen aus und hinterfragte lediglich den Grund. Sie beide wussten, dass sie sich nicht helfen konnten. Zumindest nicht gegenseitig.

„Weil ich dich nicht an mich heran lasse“, antwortete Daisuke ruhig und nahm Aie das Glas wieder ab. Als der andere Anstalten machte, nach seiner Hand zu greifen, stand Daisuke auf und ging zurück zur Küchenecke, wo er das Glas abstellte, ehe er sich noch einmal umdrehte. „Und weil ich dich nicht trösten will.“ Er lehnte sich mit verschränkten Armen an die Spüle und rauchte freihändig weiter, die Brauen zusammengezogen.

„Ich glaube, dass du mich doch hasst“, murmelte Aie so leise, dass der andere ihn kaum verstehen konnte. „Und gleichzeitig... liebst du mich, sodass du es nicht zugeben kannst. Aber dass du mich liebst, kannst du nicht zugeben, weil du mich so hasst.“

Daisuke war eine Weile still. „Und wenn es so wäre, würde es letztendlich auch nichts ändern“, entgegnete er schließlich und drückte seine Zigarette im Aschenbecher auf der Fensterbank aus.

„Weißt du eigentlich, wann ich dich schon immer am wenigsten leiden konnte?“, wechselte Aie das Thema. „Wenn du nicht mehr hast mit dir reden lassen. Das kam nicht oft vor, aber wenn, dann konnte es mich zur Weißglut treiben. Wenn du wolltest, konntest du verdammt stur sein. Hattest du Angst, dass ich dich kritisieren, dich ändern, dich angreifen wollte? Wenn ja, warum lässt du mich dann jetzt nicht an dich heran? Gerade jetzt sollte ich doch nicht in der Lage sein, dir irgendetwas zu tun.“

„Ich bin nicht nur stur, ich bin auch rechthaberisch“, griff Daisuke das Gesagte auf. „Am liebsten würde ich anderen immer schon vorher die Möglichkeit nehmen, mir in gewissen Punkten zu widersprechen. Schau dir doch nur diese Situation hier an: Ich entführe und bestrafe dich, weil ich der Meinung bin, dass du leiden solltest. Dir bleibt kein Spielraum, dich zu rechtfertigen – alles, was du als Verteidigung hervorbringen könntest, wird von mir als unter Zwang Behauptetes verstanden. Unter diesen Bedingungen muss ich nichts ernst nehmen, was du sagst, Aie, ist dir das klar? Ich habe ideale Bedingungen geschaffen, damit du sagen kannst, was du willst, meinetwegen, dass du meine Gefühle eigentlich erwiderst – für mich spielt es keine Rolle, weil es in meinen Ohren als Lüge ankommt. Ich bin immer schon den feigeren Weg gegangen, Aie. Gibt mir jemand ein Glas, das zur Hälfte gefüllt ist, und mich fragt, ob es halb leer oder halb voll ist, trinke ich es heimlich aus, stelle fest, dass es leer ist, und lache den anderen aus.“

„Aber... wenn du es doch weißt...“ Aie schüttelte verständnislos den Kopf. Es erschreckte ihn tatsächlich, wie klar Daisuke noch denken konnte – denn dass er so dachte, bedeutete, dass er es eigentlich hätte besser wissen müssen. Und er tat es trotzdem nicht. „Und... hast du nicht behauptet, stark zu sein?“

Daisuke schnaubte spöttisch, die Arme wieder verschränkt. „Man kann feige UND stark sein, Aie. Manchmal ist Feigheit die wahre Stärke. Ich musste stark sein, um feige sein zu können. Ich habe dir nie ins Gesicht gesagt, was ich für dich fühlte, deshalb musste ich stark sein, um alle Konsequenzen zu ertragen: Dass du dir Freundinnen angelacht hast, dass du mich ausgenutzt hast... denn ich bin so lange bei dir geblieben, bis du mich von dir gewiesen hast. Dafür musste ich sowohl ein Feigling als auch mental stark sein. Das heißt, ich war mein ganzes Leben feige. Also dachte ich, könnte ich zum Schluss auch noch eins drauf setzen...“

„Ich finde nicht, dass du feige bist“, widersprach Aie ihm leise. „Ich finde aber auch nicht, dass du stark bist. Vor allem, wenn du dich immer beherrscht hast, wenn du das, was du wirklich wolltest, kontrolliert hast... dann warst du eigentlich verletzlicher, als hättest du dir selbst nachgegeben. Du hast dich selbst zurückgehalten und dich daran gehindert, glücklich zu werden-“

„Hast du es immer noch nicht verstanden?“, fiel Daisuke dem anderen ins Wort und musterte ihn stirnrunzelnd. „Wie hätte ich glücklich werden können? Hätte ich es dir gebeichtet, hättest du mich zurückgewiesen. Begreifst du, was das für mich bedeutet hätte?“

„Natürlich wäre es ein Schock gewesen!“ Aie spürte, wie er nun selbst langsam wütend wurde. „Ich kann mir vorstellen, wie du dich gefühlt hättest, aber danach wäre es zwischen uns geklärt gewesen und du hättest-“

„Was hätte ich?!“ Der andere funkelte ihn an. „Darüber hinwegkommen können? Mich damit abfinden können? Dich vergessen können? Willst du etwas in der Richtung sagen? Spar dir den Atem, Aie, bitte! Das ist lächerlich, du kannst dir nicht einmal im Ansatz vorstellen, wie ich mich gefühlt hätte!“

„Es hätte doch nicht dein gesamtes Leben ruiniert, wenn ich dir einen Korb gegeben hätte!!“

„Überleg doch mal!“ Daisukes Tonfall rutschte wieder in die Gereiztheit ab, die er eigentlich hatte vermeiden wollen. „Ich habe eigentlich alles, was man sich als junger Mann in meinem Alter wünschen könnte: Ich habe Freunde – ich habe gute Freunde, nicht solche Ausreden von Freunden wie du –, ich bin ein durchaus erfolgreicher Student mit blendenden Zukunftsaussichten, ich habe Eltern, die sich um mich kümmern und mich unterstützen, ich könnte mit mindestens fünf Kerlen aus meinem Bekanntenkreis eine Beziehung anfangen und mit etwa doppelt so vielen Frauen, und dabei zähle ich nicht einmal diejenigen mit, mit denen ich überhaupt gar nicht auskomme. Aber bin ich glücklich? Wirke ich wie jemand, der sich zwischendurch freie Zeit nimmt, sich unter einen Baum setzt und darüber nachdenkt, wie schön das Leben doch ist? Bin ich jemand, der auch nur mit dem zufrieden ist, was er hat? Bin ich jemand, der das zu schätzen weiß, was er hat? Objektiv betrachtet müsste ich ein sorgenfreies Leben führen, aber subjektiv gesehen könnte ich unglücklicher nicht sein.“

„Und weißt du auch, warum? Weil du dich unheimlich gerne in dieser Opferrolle siehst, weshalb du dich so sehr in deinem Selbstmitleid herumwälzt, dass du selbst dein größtes Hindernis dabei bist, zufrieden zu sein! Du hast objektiv gesehen keinen Grund, unglücklich zu sein, deshalb erfindest du einfach einen und steigerst dich so sehr hinein, dass du kaum mehr Augen für alles andere hast! Das ist erbärmlich!“ Kaum hatte er es ausgesprochen, da bereute Aie es bereits. Das letzte war ihm so herausgerutscht, obwohl er sich zwingen wollte, es nicht einmal zu denken – und nun hatte er es laut gesagt. Jetzt hatte er keine Chance mehr, es zurückzunehmen.

Doch anstatt dass Daisuke fuchsteufelswild wurde, ließ er nur seine Arme sinken und sah den anderen auf seinem Bett mit einer Mischung aus Verletztheit und Resignation an. „Erbärmlich“, wiederholte er betont ruhig. „Das nennst du erbärmlich? Hör zu, Aie. Ich habe dich bis zum Schluss, bis zu dem Zeitpunkt, an dem du den Kontakt zu mir abgebrochen hast, nicht verurteilt. Ich habe mich nicht in Selbstmitleid gewälzt, weil ich bereit war, weiterhin mit dir befreundet zu bleiben. Ich habe die positiven Aspekte gesehen – deine Gesellschaft war mir immer wichtiger als die Art, wie du mich behandelt hast. Wenn du jetzt jedoch sagst, dass ich mich in irgendwelche erfundenen Ungerechtigkeiten hineingesteigert habe, sag mir bitte, welche das sein sollen. Habe ich unzutreffende Beschuldigungen gegen dich vorgebracht, die es mir erlaubt haben, mich als Opfer selbst zu bemitleiden, obwohl es keinen Anlass dafür gab?“

Aie schwieg nur. Er wollte, dass Daisuke aufhörte zu reden, damit er nicht hören musste, was er zu sagen hatte.

„Soweit ich weiß, waren meine Vorwürfe an manchen Stellen etwas überzeichnet, aber niemals falsch. Womit du allerdings ins Schwarze getroffen hast, war die Aussage, dass ich für alles andere keinen Blick übrig habe. Aber das liegt keineswegs daran, dass ich mich selbst bemitleide.“ Daisuke neigte seinen Kopf zur Seite und machte eine kurze Sprechpause, in der seine Stirn sich erneut in Falten legte. „Der größte Fehler meines Lebens war, dass ich mich in dich verliebt habe, Aie. Meine Gefühle keimten und wuchsen und wuchsen und waren mit einem Mal derart mächtig, dass ich mich nicht mehr gegen sie zur Wehr setzen konnte. Ich habe mich auch nicht hinein gesteigert, im Gegenteil, ich versuchte schon sehr früh, mich dagegen zu wehren. Aber es hatte keinen Zweck. Es hatte keinen Zweck, Aie, dafür habe ich dich viel zu sehr geliebt. Mein restliches Leben verblasst zu kaum mehr als Nebel, wenn ich über dich nachdenke. Es war schon immer so, als würde jede deiner Handlungen auf ein Vielfaches verstärkt; freundliche Gesten erwärmten mein Herz wochenlang – und auch nur die kleinste Zurückweisung zugunsten eines oder vielmehr einer anderen stürzte mich fast in Verzweiflung. Ich bezweifle, dass du dir vorstellen kannst, was in mir vorgeht, wenn ich dich ansehe. Ich liebe dich so sehr, dass ich ohne dich nicht glücklich sein kann. Das ist der Fluch, den ich mir selbst auferlegt habe, ohne den Gegenfluch zu kennen: Ich kann mit meiner Liebe zu dir nicht glücklich werden, das ist unmöglich, das war mir von Beginn an klar. Du würdest mich zurückweisen, deshalb schreckte ich davor zurück, es dir zu beichten. Wenn ich wenigstens in deiner Nähe sein konnte, hätte ich mich auf Dauer vielleicht zufrieden gegeben. Aber ich bekam nie die Chance, es auszuprobieren. Ich habe mich damit abgefunden, niemals glücklich sein zu können, weil ich begriffen habe, dass du mich immer zurückweisen wirst. Und nicht, weil ich mir in der Opferrolle so gut gefalle. Wenn du das erbärmlich nennen willst, bitte. Tu dir keinen Zwang an. Aber sei dir darüber im Klaren, dass niemand dir jemals auch nur annähernd ähnliche Gefühle entgegen bringen wird.“

Der Schwarzhaarige auf dem Bett ertrug den Blick des anderen nicht mehr und schloss daher die Augen. Es war, als drückte eine unsichtbare Macht auf seinen Brustkorb und hindere ihn am Luft holen. Seine eigenen Gefühle tobten in ihm wie ein Wirbelsturm, so durcheinander, dass er sie nicht identifizieren konnte. Einzelne Satzfetzen tauchten immer wieder vor seinem inneren Auge auf und ließen einen Knoten in seinem Bauch entstehen. Es war ein Teufelskreis, das bemerkte er erst jetzt. Irgendwo hatte er angefangen, dann war er zu der Phase übergegangen, wo Daisuke ihn liebte; Aie verletzte ihn – ob absichtlich oder unabsichtlich –, Daisuke vergab ihm, Aie war wieder nett zu ihm, Daisuke liebte ihn noch mehr, Aie verletzte ihn wieder... Daraus hatte ihre Beziehung bestanden; und die gesamte Zeit über hatte Daisuke ihn nicht an sich heran gelassen, Aie war zu blind, seine Gefühle zu bemerken, und sie hatten sich gegenseitig deshalb nicht unterstützen und trösten können. Doch plötzlich war dieser Teufelskreis unterbrochen worden, das sah Aie jetzt: Daisuke hatte sich ihm endlich geöffnet und ihm alles gebeichtet; und er, Aie, war gezwungen worden, seine eigenen Fehler und Daisukes Gefühle einzusehen. Dass die endlose Kette aus Verletzen und Vergeben unterbrochen worden war, ließ nur einen Schluss zu, was nun zu tun war, wollte Aie versuchen, ein friedliches Ende zu finden. Er öffnete die Augen wieder und war nicht überrascht, dass Daisuke ihn noch immer anschaute. „Du machst mir Angst“, stellte er leise fest.

Daisuke zog einen Mundwinkel in einer Karikatur eines Lächelns zur Seite. „Ich mir selbst auch“, entgegnete er. Seine Miene gefror jedoch, als Aie seine Arme etwas anhob und ihm die Hände entgegen hielt. Daisuke wandte seinen Kopf zur Seite und versuchte, seine Ohren zu verschließen, als Aie seinen Namen aussprach.

„Daisuke, unser gesamtes Leben lang standen wir kaum einen Meter voneinander entfernt“, fügte der Gefesselte hinzu mit einem Tonfall, in dem für Daisukes Geschmack zu viel Hoffnung lag.

„Ich habe meine Hand zu dir ausgestreckt“, erwiderte er erschöpft.

„Und ich habe dir den Rücken zugedreht. Jetzt sind wir nicht weiter auseinander als zuvor und ich habe meine Hand zu dir ausgestreckt. Du wendest mir den Rücken zu, aber das hindert mich nicht daran, nach dir zu rufen. Und du musst mich bemerken, Daisuke. Du kannst es nicht als Zufall oder als gezwungene Handlung verstehen.“

Manchmal kann man beobachten, dass man weiß, in welche Richtung andere Menschen gleich gehen werden, noch bevor sie den ersten Schritt getan haben. Ihr Körper neigt sich in die entsprechende Richtung und ihre Haltung ändert sich komplett, als würde sie von dieser einen Richtung angezogen werden. Genau das Gleiche passierte mit Daisuke. Noch bevor er den ersten Schritt in Aies Richtung tat, wusste er, dass er dorthin gehen würde. Er könnte selbstverständlich noch fliehen, allerdings war er mittlerweile müde vom ganzen Davonlaufen. Ein Mal, dieses eine Mal, besaß er keine Energie mehr, weiter vor Aie zu fliehen. Dieses Mal ließ er sich von ihm einholen und fangen. Langsam, fast bedächtig, trat er an das Bett heran, den Blick auf Dinge gerichtet, die er nur kaum wahr nahm. Noch langsamer sank er auf die Bettkante, die Hände in den Schoß gelegt und die Augen auf dem Nachttisch. Er musste daran denken, den Aschenbecher zu säubern. Den Wecker stellen sollte er auch und die Blumen gießen, das durfte er nicht vergessen... Er sah nicht auf, als Aie sich unter einiger Anstrengung in eine sitzende Position aufrichtete; er blinzelte nicht, als die mit Handschellen gefesselten Arme sich fast behutsam um seinen Nacken legten; er schaute weiterhin geradeaus, als Aie sein Kinn auf Daisukes Schulter legte und ihre Köpfe aneinander lehnte. Erst als Aie ihn etwas fester an sich drückte, fielen Daisukes Augen zu und seine Arme schlangen sich um den schmalen Oberkörper des anderen. Er konnte Aies Atem spüren und hören, merkte, wie er ein wenig auswich, als Daisuke an die lädierte Rippe stieß, und fühlte nach einigen Augenblicken das Herz desjenigen schlagen hören, den er in seinen Armen hielt.

Sie saßen so für eine lange Zeit. Keiner von ihnen sprach, da Worte überflüssig waren, keiner von ihnen rührte sich, um die Zeit weiterhin anzuhalten, keiner von ihnen erlaubte sich selbst klare Gedanken. Es war bereits nach einer kurzen Weile für beide sehr unbequem geworden, allerdings interessierte es keinen auch nur ein bisschen. Es gab Wichtigeres. Draußen setzte die Sonne unbeirrt ihre Reise in Richtung Horizont fort, nur noch partiell aufgehalten von den vereinzelten Wolken, die noch vom Gewitter übrig geblieben waren. Innerhalb der Wohnung war es absolut still, bis auf den Nachhall der noch vor Kurzem so vehement gerufenen verletzenden Worte, die zu oft ihr Ziel gefunden hatten. Diesen jedoch konnte man kaum mit dem Ohr wahrnehmen; die Seele war es, die angekratzt worden war, wenn man untertreiben wollte. Doch nun wurden Wunden versorgt, die Blutungen gestoppt und die Heilung unterstützt. Das Desinfektionsmittel, um die entstandenen Verletzungen vom Schmutz zu reinigen, war salzig, leise und heimlich.

Es war Daisuke, der irgendwann die Stille unterbrach, die wie eine Wolke aus Einverständnis über sie gekommen war. „Das reicht nicht“, sagte er leise. „Das reicht nicht, Aie. Es reicht einfach nicht. Lass mich los.“

„Das verlangst du von mir, während du selbst nicht loslässt“, entgegnete Aie ebenfalls gedämpft, hob jedoch seine Arme an und befreite den anderen somit. Noch bevor sie Blickkontakt aufnehmen konnten, stand Daisuke wieder auf und trat etwas unsicher vom Bett weg, das Gesicht abgewandt. Er wusste nicht so recht, wo er hin sollte, er wusste nur, dass er von Aie fort musste. Nicht nur physisch. „Daisuke?“

Er antwortete nicht, als er angesprochen wurde, aus Angst, was er sich würde anhören müssen.

„Ich habe Hunger.“

Damit hätte er am wenigsten gerechnet, aber gerade aus diesem Grund ließ er ein angedeutetes Lächeln zu. „Ich koche uns was“, versprach er dem anderen mit ruhiger Stimme und begab sich in die Küchenecke. Das war gut, so konnte er Aie den Rücken zuwenden, sich ablenken und sorgte zusätzlich noch dafür, dass der andere etwas aß. Die Nudelsuppe von zuvor konnte er sicherlich entsorgen. Hätte er lange Ärmel gehabt, hätte er sich diese hochgekrempelt, bevor er mit der Arbeit anfing.
 

Es war, als wäre endlich Frieden eingekehrt in dem großen Raum, der innerhalb der letzten zwei Tage so viel Schmerz, Wut, Hass und Enttäuschung hatte erleben müssen. Man konnte beinahe denken, dass zwei Freunde irgendetwas gemeinsam überstanden hatten und nun froh waren, dass es vorbei war – ohne das Bedürfnis, sich darüber auszutauschen. Manchmal waren Worte eben überflüssig. Daisuke und Aie waren beherrscht von einer Ruhe, die sie selbst nicht so recht verstanden; es war nicht so, als schwiegen sie sich an, sie unterhielten sich schon noch, allerdings oft kurz über Belanglosigkeiten, bei denen meistens mindestens einer von ihnen mit einem Lächeln auf den Lippen oder in den Augen zurückblieb. Es war keine harte Geräuschlosigkeit, sondern eine sanfte Ruhe, in der sich beide endlich einmal entspannen konnten.

Doch wie so oft konnte der Schein trügen. Es ging ihnen nicht gut, im Gegenteil: Aie litt nicht nur unter körperlichen Schmerzen und Daisuke fühlte sich leer, nachdem er endlich seinen Gefühlen Luft gemacht hatte. Es war, als habe er sie über die Jahre hinweg angestaut, mit einem Mal entweichen lassen und plötzlich war nichts mehr da, das ihn ausfüllte, das ihn ausmachte, das er WAR. Zudem wussten sie beide, dass es längst nicht beendet war. Daisuke hatte ohnehin noch etwas zu offenbaren, nämlich den wahren Grund, weshalb Aie überhaupt hier war, und Aie ließ sich nicht durch den Stimmungswandel darüber hinweg täuschen, dass er weiterhin mit Handschellen und einem Seil gefesselt war und seine angeknackste oder gebrochene Rippe nur mühsam und oft auch nur spärlich von der Schmerztablette unterdrückt wurde.

Dennoch verbrachten sie den Abend ruhig. Sie aßen zusammen, Aie wurde eine zweite Zigarette erlaubt, und während der Fernseher lief, beschäftigte Daisuke sich eine Weile mit seinem Laptop.

Gegen elf Uhr beschlossen sie, schlafen zu gehen – wobei es selbstverständlich hauptsächlich Daisukes Entschluss war – und gerade, als Daisuke seinen Gefangenen nach einem kurzen Badezimmerbesuch wieder mit den Handschellen am Bettgestell befestigen wollte, schüttelte der nur leicht mit dem Kopf. „Was willst du?“, fragte Daisuke mit erhobenen Augenbrauen. Dass sie sich die letzten paar Stunden gut verstanden hatten, sollte keinesfalls bedeuten, dass er Aie nun mehr Privilegien einräumen würde als vorher.

„Nur, weil du einen Hund die ganze Zeit an der Leine lässt, heißt das nicht, dass er auf der Stelle davon läuft, wenn du ihn losmachst“, erwiderte Aie leise.

Der andere Schwarzhaarige betrachtete ihn nachdenklich. „Der Rest bleibt dran“, entgegnete er mit einem fragenden Unterton und musterte sein Gegenüber skeptisch. Das jedoch nickte nur. Wenn Aies Hände weiterhin zusammen gekettet blieben und sein Bein am Bett festgebunden, sollte er so schnell nicht entkommen können. Außerdem hatte Daisuke ohnehin einen leichten Schlaf – sollte der andere sich befreien wollen, würde er es mit Sicherheit mitbekommen. „Meinetwegen“, stimmte er schließlich zu und kroch ebenfalls unter die Bettdecke, mit dem gleichen Abstand wie in der Nacht zuvor. Er schloss die Augen, konzentrierte sich auf seinen eigenen Atem und stellte sich aufs Schlafen ein.

„Daisuke?“

Er kannte diesen Tonfall. Das erste Mal hatte er ihn gehört, als Aie und er in der Mittelschule spätabends unterwegs gewesen waren und der andere in der Dunkelheit Angst bekommen hatte. Eines der letzten Male war bei ihrem Treffen vor etwa einem Jahr gewesen, als Aie kurz davor war, sich von Hiko zu trennen und vom anderen wissen wollte, was er tun sollte. Es war ein Tonfall reserviert für Momente, in denen man wusste, dass man etwas sagen würde oder implizierte, was man normalerweise sein gelassen hätte. Da Daisukes Augen geschlossen waren, konnte er sie jedoch leider nicht verdrehen. „Was ist?“, murrte er zurück.

Keine Antwort. Das war ja zu erwarten.

„Aie?“ Er drehte sich zum anderen um. „Was?“

„Rückst du... rückst du zu mir?“

Obwohl Aie mit dem Rücken zu ihm lag, ins Kissen genuschelt hatte und seine Forderung an sich vollkommen unmöglich war, war sich Daisuke ziemlich sicher, genau das verstanden zu haben, was er glaubte. „Willst du mich verarschen?“, fragte er leise. Eine – von Aies Seite als äußerst unangenehm empfundene – Stille folgte, in der Daisuke vergeblich auf eine Zustimmung wartete. Als diese nicht kam, rutschte er etwas näher an den anderen heran und legte einen Arm um ihn. Fast augenblicklich schlossen sich zwei Hände um seine eigene und drückten diese sanft. „Was soll das?“

„Ich... weiß nicht“, flüsterte Aie zögerlich zurück. „Es fühlt sich nur... gut an.“

„Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich nach zwei Tagen schon so weit habe, dass du die Liebe, die ich dir geben kann, einforderst“, bemerkte Daisuke halb amüsiert und halb ernst. „Gewöhn dich nicht dran.“

Anstatt eine verbale Antwort zu geben, rückte Aie nun seinerseits etwas dichter an den anderen hinter ihm und seufzte leise.

Das war es, was in Daisuke den Ausschlag gab. Er schmiegte sich so eng wie möglich an Aie, drückte ihn fest an sich und vergrub das Gesicht in seinem Nacken, woraufhin er eine Gänsehaut bei dem anderen bemerkte. Eine durchaus anregende Feststellung, das musste er zugeben, allerdings zwang er sich, derlei Gedanken zu unterdrücken. Zumindest für diese Nacht. Aber am nächsten Tag würde Aie fällig sein. Das wusste er. Und konnte sich vorstellen, dass Aie es auch wusste.

Lange lagen sie nur da, in Schweigen und Dunkelheit gehüllt und versuchten sowohl ihre eigenen als auch die Gedanken des jeweils anderen zu ergründen. Ob sie dabei erfolgreich waren, konnten sie nicht mit Sicherheit sagen, vor allem, da sie sich anders verhielten, als sie es sich erklären konnten. Aie spürte den Atem des anderen in seinem Nacken und ließ die Frage nicht zu, weshalb es sich angenehm anfühlte, ließ auch keine Gedanken an ein eventuelles Später oder ein bestimmtes Früher zu, ließ auch keine Erinnerung an Hiko zu oder an Shiira oder an Arika... Erst als Aies Atmung gleichmäßig geworden war, erlaubte Daisuke sich, den Griff um den warmen Körper neben sich zu entspannen, als habe er Angst gehabt, der andere könne jeden Moment versuchen zu fliehen. Wie hieß es noch: Wenn du jemanden liebst, lass ihn gehen – wenn er zurückkommt... Nein. Daisuke unterdrückte mühsam eine Gänsehaut. Nein, wenn er Aie gehen ließ, würde er nicht zurückkommen. So viel war sicher. Und daher besorgte er sich mit Gewalt seine Aufmerksamkeit... hinterher würde er ihn gehen lassen. Hinterher würde er keinen Einfluss mehr auf ihn haben, haben können. Daisuke öffnete seine Augen und spürte ein Lächeln auf seinen Lippen spielen, als Aies Haare sich in seinen Wimpern verfingen. Selbst im schwachen Licht, das von den Straßenlaternen oder sogar vom Mond hereinfiel, konnte er kaum Konturen ausmachen. Die Dunkelheit beruhigte ihn so sehr wie die Wärme neben sich, und so schloss er seine Augen wieder.
 

~*~
 

tbc~

„Es war wieder nur einer deiner halbherzigen Versuche, von mir loszukommen“

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

„Du wolltest mich retten“

Rating: PG-13/R

Word Count: 6.231
 

~*~
 

Der junge Polizist ergriff seine Hand und schüttelte sie mit einem freundlichen Nicken, ehe er wie angewiesen auf einem der Stühle am Tisch Platz nahm. Daisuke rubbelte noch etwas seine Haare trocken und brachte das Handtuch zurück ins Badezimmer, ehe auch er sich am Tisch nieder ließ, schräg neben seinem Besucher. „Wie ich hörte, ist Ihr Bekannter seit Samstag spurlos verschwunden, und laut seiner Freundin Hiko auch nicht der Typ, der irgendwohin abhauen würde, ohne jemanden vorher darüber in Kenntnis zu setzen. Wir sind auf der Suche nach eventuellen Spuren, ob er ein Reiseziel genannt hat, ob er Feinde hatte, ob er vielleicht doch mit jemandem durchgebrannt ist... Erzählen Sie mir alles, was Sie wissen.“

Die wachen Augen, von denen Daisuke gemustert wurde, gefielen ihm kein bisschen, aber er zwang sich, gelassen mit den Schultern zu zucken. „Ich stehe wie Sie vor einem Rätsel. Ich kann mir wie Hiko nicht vorstellen, dass er durchgebrannt ist oder quasi eine Auszeit nimmt... aber Feinde hatte er meines Wissens nach auch nicht. Nein, ich fürchte, ich kann Ihnen nicht weiterhelfen.“

„Nur, um es noch einmal klar zu haben – Sie sind mit ihm befreundet?“, wollte Daigo wissen und neigte seinen Kopf neugierig zur anderen Seite.

„Ich war“, korrigierte Daisuke ihn freundlich und hätte am liebsten die Zähne gefletscht, als er bemerkte, wie der Polizist die Ohren spitzte. „Wir waren seit der Mittelschule befreundet, haben uns aber dann nach der Highschool aus den Augen verloren, nichts Dramatisches, es gab kein böses Blut zwischen uns.“

„Nein, nein, sicherlich nicht, darauf wollte ich auch gar nicht hinaus“, wehrte der andere lächelnd ab. „Waren Sie denn eng befreundet?“

Daisuke antwortete wieder mit einem Achselzucken. „Na ja, was man so unter ‚eng’ versteht. Es war nicht so, dass wir beste Freunde wären.“

„Und trotzdem haben Sie sich nach Ihrem Auseinanderleben noch weiterhin für ihn interessiert, nicht wahr? Seine Freundin erzählte mir, dass Sie über ihn ziemlich gut Bescheid wissen“, warf Daigo ein, erneut lächelnd, „aus dem Grund komme ich überhaupt erst zu Ihnen.“

Eines stand fest: Dieser Polizist erklomm gerade Platz für Platz auf Daisukes schwarzer Liste. Er gab vor, freundlich zu sein, während er seinen Gesprächspartner wahrscheinlich die gesamte Zeit prüfend taxierte, um mögliche Lügen auf der Stelle zu bemerken, Daisuke konnte es geradezu spüren. Dieser Typ besaß eine gewisse Intelligenz, die Daisuke unbehaglich war, eine Intelligenz, die er bei Hiko gänzlich vermisste. Nur deshalb hatte er sich überhaupt an sie heran machen können. „Das stimmt schon“, gab er zu. „Ich interessiere mich natürlich weiterhin für sein Leben, wie bei anderen ehemaligen Freunden auch.“

„Sie müssen sich wohl wirklich nahe gestanden haben“, nickte Daigo verständnisvoll und deutete anschließend mit dem Kinn in Richtung der Kommode, wo die drei gerahmten Fotos standen. Das rechte davon zeigte Daisuke und Aie zu ihrer Highschool-Zeit, ein Bild, das – sah man genauer hin – deutliche Spuren von Abnutzung aufwies.

Daisuke überkam ein unbändiges Verlangen, den neugierigen Polizisten einfach aus seiner Wohnung zu werfen. „Aber ich fürchte, ich kann Ihnen trotzdem nicht weiterhelfen“, wechselte er mehr oder weniger gekonnt das Thema. „Es muss ihm irgendetwas zugestoßen sein, etwas anderes kann ich mir wirklich nicht vorstellen.“

„Wenn ihm etwas zugestoßen sein sollte, hätten wir ihn längst gefunden“, versicherte Daigo ihm nicht sonderlich beruhigend. „Ich spreche aus Erfahrung – entweder, jemand Verschwundenes ist tatsächlich in die Karibik abgehauen, oder er wird spätestens nach zwei Tagen irgendwo entdeckt. Es muss sich jemand große Mühe gemacht haben, ihn zu verstecken, die Frage ist nur: Wer?“

Hellbraune Augen blitzten Daisuke an. Sein Gemüt verfinsterte sich weiter. Er fühlte sich, als könnten diese Augen geradewegs in seinen Schädel, seine Gedanken, sein Herz hineinschauen, und das gefiel ihm nicht, das gefiel ihm gar nicht. „Das frage ich mich auch“, wich er aus. Er musste es schaffen, aus der Defensive in die Offensive über zu gehen, sonst...

„Und Sie haben wirklich keine Ahnung?“ Daigos Tonfall hatte nun einen beiläufigen Plauderton angenommen. „Aus seiner Familie hegt niemand einen Groll gegen ihn? Vielleicht sogar jemand aus seinem Freundeskreis? Eine eifersüchtige Liebhaberin oder ein Freund, dem er die Freundin weggeschnappt hat?“

„Selbst wenn, bezweifle ich, dass er oder sie dann dazu in der Lage wäre, Aie etwas anzutun“, schnaubte Daisuke verächtlich.

„Menschen sind tiefgründig, Daisuke“, widersprach der Polizist ihm nun schulterzuckend. „Niemand kann in ihre Seele blicken oder sie vollständig verstehen. Sie tun Dinge, die anderen unerklärlich sind und für sie vollkommen sinnvoll erscheinen. Schließen Sie so etwas nicht kategorisch aus.“

Dieser verdammte... „Nein, aber mir fällt weder aus der Familie noch aus seinen Freunden jemand ein, tut mir leid.“

„Kennen Sie seine Freunde? Nur so aus Interesse.“ Daigos Lächeln war wieder zurückgekehrt mit seiner enervierenden Hartnäckigkeit.

„Ich hatte noch nie wirklich mit ihnen zu tun, nein. Sie wirkten aber auch nicht unsympathisch auf mich, daher bezweifle ich, dass einer von ihnen-“

„Einen Moment“, fiel er seinem Gesprächspartner ins Wort, seine Stirn sichtbar künstlich gerunzelt. „Sagten Sie ‚nicht unsympathisch’? Von seiner Freundin, Hiko heißt sie meines Wissens, hörte ich, dass Sie beide seinen Freunden nicht allzu wohlgesonnen waren.“

„Sagen Sie...“, begann Daisuke nachdenklich, als fiele es ihm erst jetzt auf, „...wird das hier ein Verhör? Es ist mir etwas unangenehm, dass Sie solche persönlichen Fragen stellen, die mit Aies Verschwinden ganz offensichtlich nichts zu tun haben.“

„Oh, das tut mir leid, falls ich Ihnen zu nahe getreten bin“, wehrte Daigo auf der Stelle so freundlich wie möglich ab. „Ich wunderte mich nur und damit ich ihn finden kann, benötige ich so viele Informationen wie ich beschaffen kann. Wenn Sie auf meine Fragen nicht antworten wollen, habe ich aber auch Verständnis dafür. Es ist nur eigentlich in Ihrem Interesse, dass Sie mich unterstützen.“

Daisuke kämpfte die spontane Welle von Zorn nieder, die in ihm aufbrandete ob dieser Worte. „Ich kann allerdings nur das wiederholen, was ich Ihnen bereits mitgeteilt habe: Ich weiß zu wenig, als dass ich Ihnen weiterhelfen könnte.“

„Kennen Sie...“ Der Polizist zog ein kleines Notizbüchlein hervor, in dem er offenbar etwas nachlas, ehe er fortfuhr. „Kennen Sie eine junge Dame namens Arika? Sagt Ihnen der Name etwas?“

Wie viel hat Hiko ihm erzählt?, dachte Daisuke erbost, Wahrscheinlich alles. „Ja, der Name ist mir bekannt“, entgegnete er trocken. „Sie ist mit einem Freund von Aie zusammen. Und wahrscheinlich haben Sie schon von Hiko gehört, dass ich Aie verdächtige, mit ihr eine Affäre gehabt zu haben.“

„Genau darauf wollte ich hinaus“, nickte Daigo, sichtlich zufrieden. „Ich wollte Sie fragen, ob das Ihres Erachtens nach eine Spur ist, die es sich zu verfolgen lohnt.“

„Das kann ich nicht sagen – ich habe Hiko bereits geraten, mit Arika zu reden, ich weiß allerdings nicht, was-“

„Entschuldigen Sie, da habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt“, unterbrach der Polizist ihn auf seine irritierend freundliche Art. „Ich meinte nicht, dass Aie eventuell bei Arika untergekommen ist – das hat Hiko bereits selbst überprüft, sie hat mit ihr gesprochen und das Ergebnis des Gesprächs war, dass Arika tatsächlich eine Affäre mit ihm hatte, allerdings auch besorgt und unwissend um seinen Aufenthaltsort war, sie weiß offenbar nichts.“

Und ICH weiß etwas?, fuhr es Daisuke durch den Kopf, Ich muss etwas wissen, da ich offensichtlich nicht ‚besorgt’ genug bin. Oh bitte. „Was meinten Sie denn dann?“

„Ich sprach von Arikas Freund, ich habe seinen Namen verbummelt, habe ich ihn nicht irgendwo aufgeschrieben...? Na, egal. Könnte er nicht unter Umständen etwas mit dem Verschwinden zu tun haben?“ Wache, wachsame Augen taxierten Daisuke. Es war, als würde er geprüft.

„Sie meinen, dass er von der Affäre erfahren hat und Aie aus Rache...? Nein, das kann ich mir nicht vorstellen. Außerdem bezweifle ich, dass er tatsächlich davon wusste“, winkte Daisuke ab.

„Wieso?“

„Sonst wäre er doch sicherlich nicht mehr mit ihr zusammen, oder?“

Daigo dachte so ausdrücklich nach, dass Daisuke nur mit Mühe ein Augenrollen unterdrücken konnte. „Es kann doch so sein, dass er sie zu sehr liebt, als dass er sie aufgeben wollte, und statt IHR etwas anzutun, dann-“

„Aber finden Sie das Motiv ausreichend?“, wollte Daisuke skeptisch wissen. „Um jemanden... verschwinden zu lassen, bedarf es meines Erachtens nach etwas mehr als solch-“

„Unterschätzen Sie niemals die Eifersucht, Daisuke. Was sie aus uns Menschen machen kann, ist erschreckend“, warf Daigo kopfschüttelnd ein. Es trat eine kleine Stille ein, die der Polizist jedoch nach kurzer Zeit selbst wieder unterbrach. „Entschuldigen Sie, aber dürfte ich wohl Ihre Toilette benutzen?“

„Natürlich, einfach durch die Tür“, teilte Daisuke ihm mit einem Handwedeln mit und verfolgte den anderen jungen Mann mit den Augen, wie dieser das Badezimmer betrat und die Tür hinter sich schloss. Er war sich sicher, dass der andere das Zimmer auf den Kopf stellen würde, hätte er die Zeit dazu, so jedoch würde er sich nur umsehen und nichts Verdächtiges finden. Sicherlich hatte Hiko ihm von dem vermeintlichen Wassermangel bei ihrem Besuch erzählt, deshalb hatte er Daisuke nun auf die Probe gestellt. Er würde eine Weile im Badezimmer herumsuchen, dann die Spülung betätigen und so tun, als wäre nichts gewesen. Daisuke hatte sich in eine Ecke drängen lassen, was alles andere als gut war. Aber sie hatten keine handfesten Beweise, und so lange sie diese noch nicht vorweisen konnten, war er sicher. Länger würde er sicherlich auch nicht brauchen, allerdings widerstrebte es ihm, unter Druck zu arbeiten. Er wartete eine Weile, bis er die obligatorische Toilettenspülung vernahm, und zauberte wieder ein höfliches, aber distanziertes Lächeln auf sein Gesicht, kurz bevor der Polizist herauskam.

„Es tut mir leid, falls ich Sie belästigt habe, ich werde Sie auch gleich wieder in Ruhe lassen – das Gespräch mit Ihnen hat mich durchaus weitergebracht“, verkündete Daigo ihm freundlich und schüttelte erneut Daisukes Hand. „Ach ja, bitte glauben Sie nicht, dass die Polizei jederzeit so früh Studenten aus dem Bett klingelt, ich hatte nur gehört, dass Sie sich bereits am vorigen Abend von der Universität aufgrund einer Krankheit abgemeldet hatten, daher war ich so sicher, Sie hier anzutreffen.“ Sein Lächeln strahlte. „Aber gut zu sehen, dass es Ihnen offenbar wieder besser geht.“

Dieser gerissene Sack, dachte Daisuke und entgegnete höflich: „Danke für Ihre Sorge. Ich fühlte mich nicht allzu gut, aber nachdem ich eine Nacht durchgeschlafen habe, geht es mir auch besser. Ab morgen sollten Sie davon absehen, so früh bei mir aufzutauchen.“

„Das werde ich. Vielen Dank noch einmal für Ihre Kooperationsbereitschaft.“

Daigo stand bereits in der Tür, als Daisuke sich ein letztes Mal an ihn wandte: „Was meinen Sie, werden Sie ihn finden?“

Der Polizist lächelte. „Ja. Wir finden ihn. Auf Wiedersehen, Daisuke.“ Damit verließ er die Wohnung und hinterließ ein Gefühl der Beklemmung, das in der Luft hing, das Gefühl einer drohenden Gefahr...
 

Es waren zwei Seen aus Traurigkeit, die Daisuke anblickten, kurz bevor er das Küchentuch losband. Der Körper schlaff, die Miene resigniert, die Augen traurig. Die Gestalt, welche der Schwarzhaarige die Treppen heruntergeschleppt hatte, hatte nichts mehr mit derjenigen zu tun, neben der er am Morgen aufgewacht war. Sie hatten mittlerweile beide begriffen, dass dies kein Spiel mehr nur zwischen ihnen beiden und eventuell noch Hiko war, sondern von äußeren Einflüssen alles andere als geschützt, es war fragil, gefährdet, gefährlich. Das Spiel konnte jederzeit beendet werden, bekam es jemand mit – doch Daisuke war es nicht, den diese Erkenntnis am meisten mitnahm. Im Gegenteil, es war Aie.

„Ich sehe es dir an“, murmelte Daisuke und hängte das Küchentuch an die Türklinke über Aies Kopf. Er hatte den anderen an die Wohnungstür gelehnt und hockte vor ihm, ihre Gesichter auf der gleichen Höhe. „Du wolltest mich retten. Du wolltest mit mir reden, es mit mir aushalten, mich zur Vernunft bringen. Du wolltest mir helfen. Aber so funktioniert es leider nicht, Aie, du kannst es nun mal nicht allen recht machen. Vor allem nicht, wenn die anderen es nicht wollen. Ich habe eine Straftat begangen, Aie, es gibt kein Zurück mehr. Du kannst mich nicht retten, sieh es ein.“ Mit den Worten richtete er sich wieder auf und ging zum Küchentisch, nahm sich von dort eine der allgegenwärtigen Zigaretten aus der Packung und zündete sie sich an.

„Ich kann dich retten, Daisuke“, kam es leise von der Tür her. Aie hatte die Augen geschlossen und spürte, wie Kälte in sein Innerstes drang. Auf dem Dach hatte ein frischer Wind geweht und trotz der Jahreszeit hatte er deutlich gefroren. In der Wohnung war es zwar von der Temperatur her warm, allerdings war er von einer ganz anderen Kühle empfangen worden. „Ehrlich gesagt bin ich der einzige, der dich jetzt noch retten kann.“

„Ach?“ Der Angesprochene hob seine Augenbrauen und merkte, wie er sich über sich selbst ärgerte: Seine Finger hatten wieder angefangen zu zittern. Er schob sich die Zigarette zwischen die Lippen und zog freihändig an ihr, während er abwesend seine Finger massierte. Es half nichts. Ihm war, als läge der durchdringende Blick des Polizisten noch immer auf ihm und würde geradewegs bis hin zu seinen behütetsten Geheimnisse sehen können. Er schaute zur Kommode herüber, zu den drei Fotos, wandte sich jedoch schnell wieder ab, hin zu Aie. „Und wie stellst du dir das vor?“

„Du lässt mich gehen“, begann der andere langsam, er klang erschöpft, „und ich erstatte keine Anzeige, ich sage aus, dass du mir nichts angetan hast und dass ich, um ein bisschen Ruhe zu bekommen, bei dir Asyl gesucht habe. Wenn es keinen Ankläger gibt, gibt es auch keine Straftat. Lass mich gehen, Daisuke, und ich sorge dafür, dass dir nichts passiert.“

„Wenn ich es auch nicht wage, diesen Vorschlag dumm zu nennen, so ist er doch sicherlich naiv“, erwiderte Daisuke und war kurz davor, seine Zigarette fallen zu lassen. „Was glaubst du: Dass ich dadurch gerettet würde, dass ich für eine begangene Straftat nicht gerade stehen muss? Wie stellst du dir das vor – soll ich dadurch mein Seelenheil erringen? Mir geht es nicht darum, dass mir von irgendwem verziehen wird, weder von dir noch vom Staat. Du hast noch immer nicht begriffen, worum es mir eigentlich geht, so scheint es. Aber lass dir eins gesagt sein: Ich habe meinen Weg gewählt, ich habe ihn eingeschlagen und ich lasse mich nicht von ihm abbringen. Ich weiß, was ich dir erzählen will, und ich weiß, was ich dich verstehen machen will – und ich weiß, womit es endet. Daran ist nichts zu rütteln, Aie. Auch an meinem Ende nicht.“

An der Stelle schlug Aie nun doch seine Augen auf, voller Verzweiflung und Ungläubigkeit. „Sprich es nicht aus“, bat er kaum hörbar und wusste doch, dass er es nicht würde verleugnen können.

„Ich werde mich umbringen, Aie, und daran kannst auch du nichts ändern.“ Die Endgültigkeit, mit der die Worte aus seinem Mund entkamen, erschreckte ihn selbst. Er hatte noch nicht allzu viele konkrete Gedanken daran verschwendet, der Entschluss jedoch stand für ihn schon länger fest. Nur wie er es letztendlich durchführen wollte, das hatte er noch nicht entschieden. Er vertraute darauf, dass ihm eine angemessene Methode einfallen würde.

Es folgte kein Schock, was darauf hindeutete, dass Aie seit Längerem begriffen hatte. Stattdessen verfluchte er sich dafür, dass er so machtlos war. Was sollte er tun, gab es noch irgendetwas im Bereich des Machbaren, wie er es abwenden konnte? Wie er Daisuke zur Vernunft bringen konnte? „Nein“, flüsterte er mit unsicherer Stimme. „Nein, Daisuke, nein... Warum? Was bringt es dir...?“

„Es bringt mir Frieden.“ Daisuke drückte die Zigarette im Aschenbecher auf dem Tisch aus und kehrte zum anderen zurück, ließ sich vor ihm nieder. Er zwang sich, den traurigen, trauernden Blick des anderen zu erwidern, und fuhr fort: „Es ist die einzige Möglichkeit, wie ich wirklich zur Ruhe komme. Jeder Mensch muss in seinem Leben nach Glück streben und streben können; wenn ich allerdings weiß, dass ich meines nie erreichen werde, sehe ich keinen Sinn mehr in meiner Existenz. Ich kann nicht ohne dich leben, Aie, nicht mehr, nicht, nach allem, was in den letzten Jahren und in den letzten Tagen passiert ist. Aber ein Leben MIT dir ist ebenso unmöglich. Was bleibt mir übrig? Habe ich denn wirklich eine Wahl?“

Während über Aie eine neue Welle der Verzweiflung zusammenbrach, konnte er nicht anders, als nach dem anderen zu treten und ihn wütend, frustriert, enttäuscht anzufunkeln. „Warum nimmst du keine Rücksicht auf MEINE Gefühle?!“, rief er mit brüchiger Stimme. „Warum hast du nie darüber nachgedacht, was ICH denke und fühle? Du zwingst mir deine auf, Daisuke, du stellst Erwartungen an mich, die ich erfüllen muss, und hast doch niemals den Willen gezeigt, dich um meine Gefühle zu kümmern! Ist es dir egal, was ich denke?! Du zwingst mich, dir zuzuhören, und bist nicht daran interessiert, MIR zuzuhören!“ Es war ein letztes hoffnungsloses Aufbäumen gegen das Unausweichliche, das war ihm bewusst, und dennoch konnte er sich nicht kontrollieren.

„Was würde es denn ändern, wenn ich dir zuhörte?“, fuhr Daisuke scharf dazwischen und hielt Aies Knöchel fest. Die Haut war vom Seil aufgescheuert und gerötet. „Was glaubst du, dass es die Situation vollkommen verändern würde? Nein, ich würde nur die Bestätigung dessen bekommen, was ich ohnehin schon weiß – dass ich einfach niemand Besonderes für dich bin, dass du dich sowieso nicht um mich kümmerst!“

„Wie kommst du darauf?“

Der gekränkte Tonfall war kaum auszuhalten, fand Daisuke. Er fixierte sein Gegenüber verbissen. „Hör dir an, was ich zu sagen habe, und versuche, mir hinterher weiszumachen, dass es noch eine andere Interpretation gibt. Vor etwa einem Jahr liefen wir uns mehr oder weniger zufällig über den Weg und verbrachten drei, vier Freitagabende in einer kleinen Bar. Wie du dich sicherlich erinnerst, endete einer davon in einem Love Hotel und einem Fiasko. Zu dem Zeitpunkt dachte ich mir noch, dass du wahrscheinlich einfach nicht mehr wusstest, was du tatest. Knapp ein Jahr später erfahre ich durch Zufall von einem Unbeteiligten, dass man dich in jenem Love Hotel bereits kennt, da du dich wohl öfter dort mit einer gewissen blonden Schlampe triffst, die auch unter dem Namen Arika bekannt ist. Nun sag mir, Aie, ob ich so falsch liege: Meine Schlussfolgerung war, dass du vor einem Jahr versucht hast, mich in deinen Kanon von Schlampen einzureihen, derer du dich bedienst, wenn du Hiko überdrüssig wirst. Du wolltest mich ausnutzen als einen unter vielen, dir was es vollkommen egal, ob ich dich von Herzen liebte oder lediglich körperlich an dir interessiert war, solange du das bekamst, was du wolltest. Hiko liebst du selbstverständlich weiterhin, aber sie alleine scheint dir nicht genug zu sein, also suchst du dir noch jemand anderen... wobei Hiko natürlich weiterhin die Nummer Eins bleibt.“ Seine Fingernägel gruben sich unwillkürlich in Aies Haut, was der andere jedoch nicht zu bemerken schien. Er schaute Daisuke vor sich nur elend an. „Das war es, was letztendlich in mir den Ausschlag gegeben hat. Dass du unsere Freundschaft ausnutzen und etwas mehr Trost als üblich verlangen wolltest, das hätte ich dir noch verziehen. Aber dass du dich keinen Deut um mich als Persönlichkeit gekümmert hast, dass du mich zum Lustobjekt degradieren wolltest, DASS DU MICH AUF EINE STUFE MIT DIESER ARIKA GESTELLT HAST, das war zu viel. Das war eindeutig zu viel.“

Aie schwieg. Ihm war, als habe sich letzten Endes der Vorhang doch noch gelüftet und anstatt ein Schauspiel genießen zu können, erwartete ihn ein Anblick des Schreckens. Er wandte seinen Blick ab, schaute nach draußen, zum Bett, zum Küchentisch, zur Badezimmertür, zur Küche. Dann wieder in Daisukes ernstes Gesicht. „Das ist also die wahre Ursache“, stellte er leise fest. „Deshalb bin ich hier.“

Daisuke nickte langsam, offenbar von einer grimmigen Zufriedenheit erfüllt, da der andere endlich verstanden hatte. Das sah er ihm an.

„Aber das ist nicht der wahre Grund. Der wahre Grund ist, dass du einfach ... einfach nur jemand Besonderes für mich sein wolltest. Dass ich dir einen Platz in meinem Herzen einräume, der auf ewig für dich reserviert bleibt.“

Wieder nickte Daisuke. „Das ist genau das, was ich erreichen will. Und da ich es offensichtlich nicht dadurch geschafft habe, dass ich dir mit schönen Erinnerungen im Gedächtnis verbleibe, habe ich mich entschlossen, es mit dem Gegenteil zu versuchen. Ich wollte dich für das büßen lassen, was du mir angetan hast, wollte dich verstehen lassen und wollte, dass du mich niemals mehr vergisst. Das reicht mir.“

Die Luft schien aus Teer zu bestehen, nur mühsam drang sie in Aies Lungen, erfüllte dort kaum ihren angedachten Zweck und kroch beinahe schmerzhaft wieder aus seinem Körper. Das Licht schien nicht mehr dafür gemacht, ihn sehen zu lassen, sondern stattdessen, um ihn zu blenden, um in die hintersten Ecken seiner Wahrnehmung zu dringen und sein Gehirn zu behindern. Der Boden gab ihm keinen Halt mehr, die Wände des Raums wollten ihn erdrücken und die Kleidung an seinem Körper rieb unangenehm an seiner Haut. Nur Daisuke saß noch vor ihm, blickte ihn an, seine Hand auf Aies Knöchel, und wirkte genauso verloren wie Aie sich fühlte. „Ich kann mich nicht entschuldigen“, begann Aie mit belegter Stimme. „Ich kann mich auch nicht rechtfertigen. Ich kann dir nur eins sagen: Du warst immer jemand Besonderes für mich. Du bist der einzige, einzig richtige Freund, den ich je in meinem Leben hatte. Ich kann dir nicht sagen, warum ich mich immer wieder von dir distanziert habe, aber ich kann dir sagen, dass ich es jedes Mal bereute. Ich wollte immer mit dir befreundet bleiben. Und wenn dir so wichtig ist, dass ich dich in Erinnerung behalte, dann ...bring dich nicht um. Bitte. Das würde ich dir nie verzeihen.“

Ein dünnes Lächeln erschien auf Daisukes Lippen. „Gut. Wut verraucht über die Jahre, Zuneigung versiegt und Hass verpufft... aber Groll, Enttäuschung, Frustration, Machtlosigkeit – diese Gefühle bleiben. Und mit ihnen die Erinnerungen.“

Aie schüttelte nur den Kopf, hin und her, die Augen auf Daisuke fokussiert, die gefesselten Hände hinter dem Rücken zu Fäusten geballt, alles in ihm ob seiner Verzweiflung protestierend. Er öffnete gerade den Mund, als das Telefon klingelte.

Dieses Mal jedoch brachte das unerwartete Geräusch Daisuke nicht so aus der Fassung. In ihm war Ruhe eingekehrt, Stille herrschte anstatt der zuvor allgegenwärtigen Wut. Es war bald vorbei, das spürte er bereits. Er hatte gesagt, was er sagen wollte, hatte dafür gesorgt, dass es nicht auf taube Ohren stieß, und er war nach wie vor entschlossen, was das Ende anging. Er verspürte zum ersten Mal seit etlichen Jahren inneren Frieden. Es war ein herrliches Gefühl. Er stand auf und trat zum Tisch, ergriff das schnurlose Telefon und nahm den Anruf an.

„Daisuke...?“, tönte ihm Hikos unsichere Stimme entgegen.

„Ach, Hiko“, erwiderte er freundlich und zwang sich, keinen Blick in Aies Richtung zu werfen. „Was gibt’s?“

Eine kurze Stille folgte. „Weißt du schon irgendetwas Neues?“, wollte sie dann wissen, noch immer zögerlich, als habe sie ein schlechtes Gewissen. Vielleicht wegen des Polizisten, den sie zu Daisuke geschickt hatte.

„Ich fürchte nicht, nein“, antwortete er gelassen. „Gerade war ein Polizist namens Daigo hier und hat mich über Aie ausgefragt.“

Wieder war eine Weile nur Schweigen zu hören. Währenddessen begriff er langsam. „Daisuke-“

„Du hast schon mit ihm gesprochen“, stellte er nüchtern fest.

Hiko holte zittrig Luft. Ihre Frage kam langsam, aber dadurch nicht weniger unerwartet. „Er ist bei dir, oder?“

Daisukes Finger fanden ihren Weg und hatten, bevor er tatsächlich Zeit hatte nachzudenken, bereits aufgelegt. Das Telefon fiel mit einem lauten Geräusch auf die Tischplatte und blieb still liegen, während der eine Schwarzhaarige sich zum anderen umwandte. Aie folgte ihm mit wachen Augen, Hikos Name hatte ihn offensichtlich aufgeschreckt. Daisuke schritt zurück zur Wohnungstür, hockte sich dieses Mal neben Aie und schloss dessen Handschellen auf. Er richtete sich wieder auf und half auch Aie auf die Füße.

„Sie weiß es“, murmelte Aie und hob den Blick zögernd, als sei es seine Schuld.

„Selbstverständlich weiß sie es“, gab Daisuke schulterzuckend zurück und ließ die Handschellen zu Boden fallen. Das hätte er sich denken können. Sie hatte zu früh mit Arika geredet, war zu früh von der Polizei erhört worden, hatte zu früh angefangen, selbst zu denken. „Geh.“ Er trat einen Schritt zurück und nickte in Richtung Wohnungstür.

Aie trat vom einen Fuß auf den anderen und sah sein Gegenüber unglücklich an.

„Ich sagte: Geh“, wiederholte Daisuke eindringlich. „Geh zu ihr. Geh zurück in dein Leben. Triff dich mit deinen Freunden, beende dein Studium, betrüge Hiko, such dir einen Job, zeug Kinder, kauf dir ein Haus. Mach, was du willst, ich habe ohnehin keinen Einfluss mehr auf dich. Aber vergiss mich nicht.“

Aie schlug die Augen nieder.

„Ist dir die Freiheit auf einmal so wenig wert? Du solltest längst an der frischen Luft sein.“

Aie begann, auf seiner Unterlippe zu kauen und rührte sich nicht von der Stelle.

„Geh, Aie. Bitte. Geh.“

Aies Unterlippe begann zu zittern, doch noch bevor die erste Träne über seine Wange rollen konnte, hatte er seine Lippen auf Daisukes gedrückt und seine Arme um den Körper des anderen geschlungen. Daisuke konnte nicht anders, so sehr er auch wollte, als den Kuss zu erwidern, als die Umarmung zu erwidern, als die Emotionen zu erwidern. Sie klammerten sich aneinander, während Aie zum ersten Mal seine Arme frei bewegen konnte; seine Hände wanderten gierig über Daisukes Körper, ertasteten seine Figur, erfühlten seine Haut, sie fuhren unter sein Shirt und über seinen Rücken, über seine Brust, über seinen Bauch, über seinen Nacken und über sein Gesicht. Daisuke prägte sich währenddessen ein, wie es sich anfühlte, Aie so nah zu sein, körperlich wie seelisch, und musste sich eingestehen, dass es ein Fehler gewesen war, dem anderen nicht zu vertrauen. Ein Körper, der wie geschaffen schien, um sich an ihn zu schmiegen, und ein Geist, dessen Verbundenheit mit seinem eigenen er die gesamten letzten beiden Tage hatte spüren können...

Er kam wieder zur Vernunft und schob den anderen bestimmt von sich. In Aies Miene spielten Verlangen, Hilflosigkeit, Mitgefühl und Traurigkeit, ein Anblick, der sich tief in Daisukes Herz einbrannte. Es war ein würdiger Anblick für ihren Abschied, beschloss er, und entfernte sich erneut räumlich vom anderen, indem er nach hinten trat. „Geh jetzt. Ich habe dir nichts mehr zu sagen.“ Er unterstrich seine Worte damit, dass er sich abwandte und auf dem Weg zum Fenster eine weitere Zigarette aus der Schachtel holte, sie sich anzündete. Seine Finger waren ruhig, so ruhig wie er selbst. Es hatte ein Ende gefunden. Nicht gerade ein Ende nach seinem Geschmack, dafür war es zu plötzlich gewesen und zu großen Teilen von äußeren Einflüssen verursacht, aber doch auch kein Ende, mit dem er vollkommen unzufrieden war. Als er zum ersten Mal an seiner letzten Zigarette zog, hörte er, wie seine Wohnungstür geöffnet wurde. Er stellte sich vor seine Couch ans Fenster und blickte nach draußen. Es war früher Vormittag, wahrscheinlich vor zwölf Uhr, und die Sonne war noch immer auf ihrem Weg nach oben. Die wenigen Menschen auf der Straße gingen ihren Geschäften nach, hatten kaum einen Blick füreinander übrig und waren meist in Eile. Autos fuhren vorbei, kaum sah man sie, vergaß man sie auch wieder. Die Wohnungstür fiel mit einem dumpfen Geräusch wieder ins Schloss. Die meisten Fenster des gegenüberliegenden Hauses waren blind und erlaubten oft durch Gardinen und ähnliches keinen Einblick in das dahinter liegende Zimmer. In einem Raum flimmerte ein Fernseher.

Daisuke schaute kaum hin, als er nach links griff, den Rahmen zu fassen bekam und ihn mit aller Kraft auf den Boden schmetterte. Das Glas zersprang mit einem unangenehmen Klirren und der Schwarzhaarige spürte Glassplitter neben seinem nackten linken Fuß. Er blies zum wiederholten Mal den blauen Dunst an die Decke, ehe er sich seine Zigarette zwischen die Lippen schob und sich langsam bückte, um den Rahmen aufzuheben. Das Foto darin war unbeschädigt; Daisuke erinnerte sich noch ganz genau an den Tag, an dem sie das Bild aufgenommen hatten. Sie waren an einem Sonntag zusammen an einen nahe gelegenen See gefahren, in irgendwelchen Sommerferien war es gewesen, da die Sonne ihnen ins Gesicht schien. Die meisten der größeren Glassplitter waren noch im Rahmen geblieben und Daisuke suchte sich den spitzesten aus; er maß etwa 10cm in der Länge, das würde sicherlich reichen. Er löste ihn vorsichtig heraus und stellte den Rahmen zurück auf den Boden, ehe er sich wieder aufrichtete. Seine Faust schloss sich sicher um das Glas, auch noch, als die Kanten in sein Fleisch schnitten. Er unterdrückte den Schmerz und ignorierte das Blut, das nach kurzer Zeit am Splitter entlang lief und zu Boden tropfte.

Selbstverständlich hatte er die fehlenden Schritte am Anfang bemerkt und das Rascheln der Kleidung wahrgenommen. Natürlich war ihm die gespannte Stille aufgefallen zusammen mit dem Blick, der sich in seinen Rücken gebohrt hatte. Zweifelsohne überhörte er auch nicht die Schritte, die sich ihm nun näherten, gefolgt vom Knirschen der Glassplitter, und registrierte den angehaltenen Atem. Daisuke fragte sich nur: Warum das Ganze? Weshalb war er nicht gegangen?

Zwei Arme, die endlich von ihrem Gefängnis befreit worden waren, legten sich von hinten um seine Schultern, zogen ihn ein kleines Stück nach hinten und drückten ihn an den warmen Körper hinter sich; ein Kinn legte sich auf seine rechte Schulter, ein Ausatmen kitzelte seine Wange. Er sagte nichts.

„Ich werde Hiko verlassen.“ Kaum mehr ein Flüstern an seinem Ohr kaum mehr als ein Wispern das Lippen entstammte die zu berühren es Daisuke nie stärker verlangt hatte. „Ich werde nichts mehr mit ihr zu tun haben. Ich werde zu dir zurückkehren, Daisuke, ich werde den Kontakt zu meinen sogenannten Freunden abbrechen. Ich werde bei dir bleiben. Ich will bei dir bleiben, Daisuke.“

Sein Blick war aus dem Fenster gerichtet doch sah er schon lange nichts mehr. „Warum?“ fragte er nur und fragte sich selbst nicht warum er es tun wollte sondern warum er es gesagt hatte.

„Weil ich dich... auf meine eigene Art, in einer gewissen Weise auch liebe.“ Die Worte kamen zögernd unsicher.

Daisuke verstärkte seinen Griff um den Glassplitter. Der Schmerz tat ihm gut er hatte etwas Ernüchterndes das ihm half klarer zu denken. Aus dem Grund fragte er sich auch nicht ob er den Worten Glauben schenken konnte oder ob er ihnen Glauben schenken wollte. Er stand da und fühlte die Körperwärme des anderen so wie er die Wärme seines eigenen Bluts fühlte. Draußen fuhr ein Auto vor hielt abrupt einige Männer sprangen heraus. Der Fernseher im Fenster gegenüber flimmerte weiter. Die Menschen gingen weiterhin ihren Geschäften nach. Die Erde drehte sich weiter. Und die Sonne stand noch nicht auf ihrem Zenith. Es war das Ende.

„Ich werde alles in meiner Macht Stehende tun, um zu verhindern, dass du dich umbringst.“ Dieses Mal nur ein Hauchen.

Daisuke senkte den Kopf und schaute auf den rot gefärbten Splitter in seiner Hand. Er hörte die Schritte auf der Treppe. Er spürte Aies Herzschlag an seinem Rücken. Er roch sein eigenes Blut. Es würde gleich vorbei sein.
 

~*~
 

Jemand rief bereits auf der Treppe nach seinem Chef, während vor dem Haus einige Bewohner standen und sich aufgeregt, schockiert unterhielten. Die Wagen waren bereits gefahren, es herrschte Ruhe in dem großen, leeren, kalten Raum. Eine Ruhe wie auf einem Friedhof. Einiges hatte sich im Raum geändert vom Samstagmorgen bis hin zum Montagmittag, von da an jedoch war das Zimmer zusammen mit dem anliegenden Badezimmer bis zum Dienstagabend weitestgehend gleich geblieben, wie als wäre die Wohnung konserviert worden. Die größte Veränderung stellte ein Polizist dar, der auf dem gleichen Stuhl saß wie am Vortag, das Gesicht in den Händen vergraben hatte und sich weiterhin vorerst weigerte, zu seiner eigenen Wohnung zurück zu kehren. Er sog die Atmosphäre auf und spürte, wie sie schwer auf ihm lastete.

Der andere Polizist, der soeben die Treppe hinauf gestiegen war, betrat den Raum vorsichtig und fragte erneut nach seinem Chef.

Daigo hob den Kopf und betrachtete den Neuankömmling niedergeschlagen. „Habt ihr mehr über ihn heraus gefunden?“, wollte er schwach wissen.

Sein Gesprächspartner nickte ebenfalls bedrückt. „Ja. Seine Eltern wohnen in Toyama und haben wohl auch kaum mit ihm gesprochen in den letzten zwei Jahren, nachdem sie dorthin gezogen sind und er hier geblieben ist. Sie wussten auch nichts von seinem Herzleiden; ich habe einen Arzt gefragt, der meinte, dass es auch noch kein Heilmittel für seine besondere Erkrankung gäbe. Er hatte eine ältere Schwester, die verheiratet war und eine Tochter hatte, alle drei sind allerdings vor weniger als einem Jahr in einem Verkehrsunfall tödlich verunglückt.“

Daigo rappelte sich auf und trat etwas näher an die Kommode neben der Couch heran. „Ich nehme an, das ist sie“, murmelte er mehr für sich selbst und betrachtete das mittlere Foto mit der strahlenden jungen Frau und dem Baby auf ihrem Arm.

„Ansonsten war er wohl kaum auffällig, er hatte ein scheinbar völlig normales Privatleben und war in seinem Studium erfolgreich. Meines Erachtens nach hatte er keinerlei Motiv, etwas derartiges-“

„Sag es nicht!“, fuhr Daigo ihn plötzlich verärgert an. „Ohne ein Motiv wird er wohl kaum so etwas getan haben, also unterstell es ihm nicht! Ich habe ihn getroffen und ich kann dir sagen, dass die Abgründe, die ich in seinen Augen gesehen habe, so tief waren, dass ich selbst Angst bekam, hinein zu fallen. Du weißt, dass ich ein Menschenkenner bin und viele wie ein offenes Buch lesen kann, aber ihn... ich habe wahrscheinlich nur einen flüchtigen Einblick in die Dunkelheit bekommen, die in ihm lauert, aber das hat mir gereicht. Was auch immer ihn veranlasst haben mag, es war sehr tief in ihm verankert.“

„Richtig, du hast ja mit ihm gesprochen...“ Der andere Polizist sah sich kurz um. „Wie bist du eigentlich auf ihn gekommen?“

„Diese junge Frau, Hiko hieß sie, hat mich darauf aufmerksam gemacht, dass sich überhaupt noch jemand anderes um ihren Freund gesorgt hat, eben dieser Daisuke. Ich habe sie etwas über ihn ausgefragt und dann beschlossen, ihm einen Besuch abzustatten, weil manches, was sie erzählt hat, verdächtig klang. Beispielsweise hatte er sich krank gemeldet, ohne seinen Bekannten Bescheid zu geben, was quasi noch nie vorgekommen ist – Hiko hat das irgendwie mitbekommen.“ Zum allerersten Mal kam Daigo der Gedanke, dass Daisuke bewusst hatte auffallen wollen durch sein Fehlen. Vielleicht hatte er dies als letzten Hilferuf benutzt – und er hatte ihn nicht ernst genommen, nicht begriffen, nicht verstanden... „Und selbst wenn er keine Spur gewesen wäre, so hätte er mir doch helfen können. Na ja... mir wurde klar, dass er mehr wusste, als er zugab, aber richtig verhören konnte ich ihn nicht. Ich habe mich in seinem Badezimmer etwas umgesehen und zwei Dinge gefunden, die entscheidend waren.“

„Ich erinnere mich“, stimmte sein Gesprächspartner ihm zu. „Der Rest Klebeband an der Wand und der zusammengeknüllte Zettel im Mülleimer.“

„Genau. Dann habe ich Hiko den Zettel gezeigt und sie wirkte, als würde sie jeden Moment zusammenbrechen. Ab da war es mir eigentlich klar.“

Die beiden Polizisten schwiegen wieder eine Weile. Daigo musterte genau die gleichen Dinge wie zuvor die etlichen Male: Die Glassplitter auf dem Boden. Der eine, große Blutfleck. Die vielen anderen Blutspritzer daneben. Der blutbesudelte Rahmen, der auf dem Boden stand. Die anderen beiden Fotos auf der Kommode. Die halb abgebrannte Zigarette auf dem Boden. Das ordentlich gemachte Bett. Der Nachttisch, in dem sie ein blutiges Taschenmesser und eine Tube gefunden hatten. Das Bett, in dem sie Rückstände von dem Inhalt der Tube und noch etwas anderem feststellen konnten. Der Kleiderschrank, in dem sich ein durchgeschnittenes Hanfseil und ein zweites Paar Handschellen befunden hatten. Die Spülmaschine, in der ein Glas gewesen war, aus dem Aie getrunken hatte. Die Tür mit dem Küchentuch über der Klinke. Das Badezimmer, in dessen Mülleimer er den Zettel und eine Packung Haarfarbe gefunden hatte; an dessen Wand er den Klebebandrückstand entdeckt hatte; in dessen Schrank eine zu großen Teilen verbrauchte äußerst wirksame Packung Schmerzmittel sowie flüssiges Betäubungsmittel, das wohl an mehreren Stellen gezielt eingesetzt worden war, gelagert waren. Der Tisch mit dem darauf liegenden Telefon, an dem Daigo gesessen hatte; an dem Daigo und Daisuke gesessen hatten.

„Ich kann und will mir nicht vorstellen, was hier innerhalb der zwei Tage passiert ist“, stellte Daigo sehr leise fest. „Übrigens, kannst du es in Zukunft unterlassen, über Lebende in der Vergangenheit zu sprechen? Er lebt. Es war ein verdammt großes Glück, dass er noch lebt, aber er lebt. Wie geht es ihm?“

„Sein Zustand ist stabil“, teilte der andere Polizist ihm mit. „Im Krankenhaus versucht man, sich entsprechend um ihn zu kümmern, aber-“

„Sie müssen ihn rund um die Uhr überwachen!“, fuhr Daigo dazwischen. „Es besteht hohe Suizidgefahr, er hat schon einmal versucht-“ Ein Handyklingeln unterbrach ihn. Er versuchte, sich wieder unter Kontrolle zu bringen; dieser Fall nahm ihn zu sehr persönlich mit. Er hatte der Freundin die schreckliche Nachricht überbracht, er war sogar zu den Eltern gefahren, um es ihnen mitzuteilen. Zumindest einer hatte überlebt und Daigo wagte nicht einmal zu denken, dass es der Falsche gewesen war. Als der andere das Telefongespräch beendet hatte, wollte er gerade vorschlagen, dass sie diesen Ort des Schmerzes verließen, aber er stockte, als er das Gesicht seines Kollegen sah.

„Es war das Krankenhaus“, begann dieser langsam. Dann schüttelte er nur leicht den Kopf, wie als spräche er das Todesurteil selbst aus.

Daigo musste sich abwenden und fuhr sich durch die Haare, ehe er mit der Faust auf den Tisch schlug. „Ich habe es ihnen eingeprägt!!“, rief er aufgebracht. „Ich habe es ihnen mehrmals gesagt, sie sollten ihn- ...“ Er atmete einmal tief durch und vergrub wieder das Gesicht in den Händen.

„Und er hatte noch sein ganzes Leben vor sich“, bemerkte der andere schwermütig.

Der junge Polizist blickte wieder zu dem ganzen Blut, spürte wieder den Schmerz, der sich in den letzten Tagen im Raum angesammelt hatte, dachte zurück an die Finsternis in den zwei Augen. „Nein. Das denke ich nicht.“ Er schaute zur Kommode und zu den drei Fotos, von denen eins nun auf dem Boden stand. „Ich denke, es ist das Gegenteil.“
 

~*~
 

A/N: Ich habe Schwierigkeiten, mich in vielen Hinsichten festzulegen, etwa wer von beiden der Täter und wer das Opfer ist...

Tja, außerdem habe ich das Gefühl, dass es insgesamt zu lang ist, an manchen Stellen nicht nachvollziehbar, und überhaupt zweifle ich manchmal an der Authentizität |D

Was denkt ihr darüber?
 

Abgesehen davon gibt es ein alternatives Ende, das sogesehen einfach an das normale Ende drangehängt wird, hier: http://i.imgur.com/tBt4L.png

Und eine kurze Erklärung dazu hier: http://i.imgur.com/QxE00.png



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Kommentare zu dieser Fanfic (9)

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Von: abgemeldet
2014-12-19T11:31:43+00:00 19.12.2014 12:31
durchgelesen und als gut befunden, auch wenn ich bei dem Ende nicht wirklich durchsteige...
sei es das sich Daisuke mit der Glasscherbe die Pulsader aufgeritzt hat und am verbluten ist und Aie nicht raus gegangen ist und hinter Daisuke gestanden ist um ihm beim sterben zuzusehen um sich anschließend auf dem selben Weg umzubringen?
O_o
dafür kam dann Hilfe, aber höchstwahrscheinlich zu spät, oder aber es hat nur einer überlebt....?
ich mag solche offenen Ende nicht wirklich...

aber die Story an sich ist echt super geschrieben und könnte ich mir glatt als Psycho Thriller vorstellen...

angemerkt sei auch Deine genialen Ideen, so was zu schreiben...
dafür bewundere ich Dich seit der ersten FF die ich zu lesen bekommen habe
Daumen hoch...

Lieben Gruß
Aya-chan60 ^_^
Von:  Mado-chan
2012-04-15T18:02:16+00:00 15.04.2012 20:02
Nun bekommst du einen abschließenden Kommentar.
Ich liebe deine FF´s ja sowieso, aber diese war einfach nur genial.
So durchdacht und komplex, besonders die Charaktere. Das hat einfach umgehauen.
Das Ende musste ich zwar zwei Mal lesen, um es zu verstehen, aber ich finde es sehr passend. Dein alternatives Ende hätte wirklich nicht so gepasst. Jetzt ist alles sehr stimmig. Ich fand es ja schon niedlich als Aie sich an Daisuke gedrückt und ihm auf eine verquere Art gesagt hat, dass er ihn liebt. Außerdem ist es meiner Meinung nach noch viel passender, dass Daisuke sich umgebracht hat. Ich hätte es nicht ertragen, wenn er für das alles verurteilt worden wäre. Zumal sie ihm bestimmt Vergewaltigung reingeschoben hätten. Dabei sah es für mich auf eine gewisse Art und Weise ziemlich einvernehmlich aus (okay, dass ist SEHR stark eine Sache der Auslegung und fragwürdig).
Und ganz ehrlich ich kann wirklich überhaupt nicht entscheiden, wer von den beiden das Opfer ist. Ich kann beide zu gleichen Teilen verstehen bei ihrer gesamten Argumentation, die sie sich gegenseitig an den Kopf geworfen haben. Für mich sind die beiden wie auf einer ausgeglichenen Waage, aber trotzdem kommen sie nicht richtig miteinander klar.
Klar Aie ist ein Arsch, der aber durch seine kleinen Aktionen und Argumente immer wieder toll wurde. Und Daisuke war tief verletzt, aber mit Kommunikation wäre es anders geworden.
Nur mit Kommunikation hatten es beide ja nicht wirklich.

Ich liebe sie einfach nur, sie ist wieder einmal so erfrischend anders. *__*
LG

Mado

Von:  Trashxbaby
2012-04-12T02:11:44+00:00 12.04.2012 04:11
OHGOTT T^T
Das ist so traurig...I CAN'T HANDLE MY FEELING RIGHT NOW. Q_____Q
Aber die FF im Gesamten war einfach toll *O* Mal wieder ein echtes Meisterwerk und ein Happy End hätte hier tatsächlich nicht gepasst. Ich hab sehr mit Daisuke mitgefühlt...er tut mir so leid. Und Aie war wirklich ein Arschloch. Auch wenn er zum Ende hin ein paar Sympatie-Punkte dazugewinnen konnte ;3
Tolle FF wirklich! ♥ :3
Von:  Trashxbaby
2012-04-12T01:45:12+00:00 12.04.2012 03:45
Daigo ist Polizist? XDDDDDD ICH KANN NICHT MEHR XDDDD Haha wie geil einfach nur XDDD ♥ Ohgott wär ich Daisuke gewesen wär ich denke ich voll in Panik geraten und nicht fähig gewesen einen rationalen Gedanken zu fassen O3O Respekt dafür an ihn ♥ Aber als Entführer muss er das wohl auch XD Bin gespannt wie er sich jetzt da rausreden will und ob Daigo was merkt XD
Von:  Trashxbaby
2012-04-12T01:17:05+00:00 12.04.2012 03:17
Awwww das war so süß ich hätte fast geweint T^T ♥ So viel Liebe und Traurigkeit neeeeeiiiin Q________Q Aber mittlerweile versteh ich Daisuke...auch wenn mir der Grund für die Entführung noch ein wenig Schleiherhaft ist. Aber ich freu mich schon auf die Nacht in der Aie "fällig" ist >D Haha~ ♥
Von:  Trashxbaby
2012-04-12T00:47:50+00:00 12.04.2012 02:47
OHGOTT *______________* ♥ ♥ ♥
AWESOME. Einfach nur awesome. Ich komm mir grad vor wie en Perverser XD Aber das is echt einfach nur...fjdkfakdlajfkdfjkldas wenn du weißt was ich meine? XDDDD Haha herrlich~~
Daisuke is so toll *O* Ich mutier grad mega zum Fangirl hier ;P
Von:  Trashxbaby
2012-04-12T00:25:30+00:00 12.04.2012 02:25
Ohje T^T Daisuke kann einem echt leidtun...all die Jahre die er in ihn verliebt war und zusehen musste wie er Freundinnen hatte und einfach abgeschoben wurde...Q_________Q Erinnert mich an ein paar von meinen "Freunden" <____< XDDDD
Von:  Trashxbaby
2012-04-11T23:55:57+00:00 12.04.2012 01:55
OMG die Szene in der Dusche war echt...HEIß. Das umschreibt es wohl am besten >D Obwohl eigentlich nicht viel passiert ist aber das was passiert ist war echt hot ♥~
Und ich durchschaue Daisuke denk ich genauso langsam oder wenig wie Aie selbst XDDDD Aber ich mag ihn~ Die bösen Jungs sind die Besten >D ♥
Von:  Trashxbaby
2012-04-11T23:31:37+00:00 12.04.2012 01:31
Ohgott! Ich LIEBE deine FFs *^* ♥ Du bist echt eine meiner absoluten Lieblingsautorinnen hier auf Animexx. <333
Und die FF fängt direkt mal wieder super spannend an *O*
Ich les jetzt auch direkt weiter~
Oh und ich muss dir mal sagen ich bin sehr froh dass deine FFs & Kapitel immer so lang sind. Ich hasse diesen 500 Wörter Schrott wo dann alles halbe Jahr mal ein neues Kapitel kommt <___< Das nervt. Bei dir lohnt es sich wenigestens zu lesen ♥


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