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Dark Circle

von
Koautor:  Caracola

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Prolog

Die hauchdünnen, perlmuttfarbenen Flügel wippten leicht, als die kleine Frau sich durch die Menge kämpfte. Nur die wenigsten Gäste der überfüllten Bar traten ein Stück zur Seite, um Platz zu machen. Nicht zum ersten Mal in dieser Nacht nutzte Paige das runde, durchsichtige Plastiktablett als Schutzschild. Damit schob sie sich an den Kerlen vorbei, die es bei dem Anblick ihres kurzen weißen Kleidchens nicht schafften, ihre Hände bei sich zu behalten. Der Boss sah es nicht gern, wenn sie den Kunden auf die Finger klopfte, aber wenn sie jedes Mal, wenn sie begrapscht wurde, den Rausschmeißer rief, wäre die Bar bald leer. Und das konnte er noch weniger wollen.

„Hey, Süße!“

Mit einem entwaffnenden Lächeln ihrer lila glitzernden Lippen drehte sie sich zu dem Mann um, der breitbeinig und mit den Armen über der Lehne der Bank dasaß. Er war vollkommen in schwarzes Leder gekleidet. Wenn man mal von seiner bloßen, behaarten Brust absah, die zwischen den Reißverschlüssen der Jacke hervorlugte.

„Was kann ich dir bringen?“

Ihre Stimme strafte die freundliche Frage Lügen, da sich fast eine Eisbrücke zwischen dem Mann und Paige zu ziehen schien.

Wer sie Süße nannte, hatte von vornherein verloren und wurde nur bedient, nichts weiter. Selbst das Lächeln war nun bloß noch aufgesetzter Standard, während sie auf seine Bestellung wartete und gleichzeitig die leeren Gläser vom Tisch räumte.

„Ein Wodka auf Eis...“ Er hatte sich vorgelehnt und seine Hand, die bereits auf seinem Knie ruhte, zuckte eindeutig in Richtung ihrer Hüfte.

„Aber gegen ein wenig Dessert hätte ich auch nichts einzuwenden.“

Im nächsten Moment entkam ihm ein schmerzvolles Stöhnen und er sah mit weit aufgerissenen Augen zu ihr auf.

Sein kleiner Finger, den sie zwischen ihrem Zeigefinger und Daumen festhielt, wechselte von weiß zu leuchtend rot, bis sich kleine Bläschen darauf bildeten.

„Ich bring dir deinen Wodka und ein bisschen Eis extra. Alles klar?“

Der Kerl nickte nur mit angespannten Kiefermuskeln und zog seinen verbrannten Finger so schnell zurück, wie er konnte. Sein Kumpel, der sich bis jetzt nicht geäußert hatte, aber genauso überrascht dreinschaute, bestellte auf diesen Schock noch ein Bier und einen Kurzen.

Wer im 'Fass' zu Gast war, ließ sich von so einem kleinen Zwischenfall doch nicht vom Trinken abbringen. Schon gar nicht, wenn er selbst nicht der Leidtragende war.

„Jazz, einen Wodka mit Eis, einen Kurzen und ein Bier.“

Der Barkeeper mit dem roten Pferdeschwanz, der unter dem schwarzen Hut hervorsah, grinste ihr zu und begann das Bier zu zapfen. Als er ihr das Glas hinstellte, nickte er zu dem Tisch hinüber, den sie gerade verlassen hatte.

„Heute drehen sie wieder ein bisschen am Rad, was?“

Mit einem schiefen Lächeln stellte Paige das große Bierglas auf ihr durchsichtiges Tablett.

„Was hast du erwartet? Es ist Freitag. Das bedeutet selbst bei uns hier unten endlich Wochenende.“

Der Barkeeper drehte sich mit einem Schmunzeln zu seinen Vorräten um und beschaffte die anderen Getränke, damit sie weiter arbeiten konnte.

Ja, Freitag war hier im wahrsten Sinne immer die Hölle los. Die menschlichen Gäste, die sich ein wenig daneben benahmen, waren da noch das kleinste Problem. Immerhin hatten die wenigsten von ihnen das Bedürfnis, über denjenigen, der sie schief angesehen hatte, mit Reißzähnen herzufallen oder ihn mit Krallen aufzuschlitzen.

Paige strich sich eine pinke Strähne aus der Stirn und packte das nun volle Tablett. Nur noch drei Stunden. Dann war ihre Schicht zu Ende. Anschließend aufräumen und heim ins Bett. Wenn sie Glück hatte, würde sie der Barkeeper sogar bis vor die Tür begleiten. Er war ein netter Kerl. Auch wenn sie mit Vollblutdämonen normalerweise nicht so viel am Hut hatte. Zu kompliziert und im Bett einfach grässlich egoistisch.

Mit wehendem weißen Röckchen und schwingenden Flügeln warf sie sich wieder in die Menge. Setzte ihr einstudiertes Lächeln auf und freute sich bloß darauf, dass sie dieses Wochenende einen Auftrag zu erledigen hatte. Da konnte sie ein bisschen aufgestauten Dampf ablassen. Genau das richtige nach einer Freitagnacht.
 

***
 

Das Schloss klickte nur ganz leise, als Ryon den Schlüssel herum drehte und aus dem stockfinsteren Flur in seine ebenso dunkle Wohnung trat. Hinter sich ließ er das Schloss wieder einrasten, ehe er für einen Moment die Stille der Wohnung auf sich wirken ließ.

Alles wie immer.

Lautlos durchstreifte er die kalten Ruinen seiner Räume, während er sich auf den Weg zu seinem Schlafzimmer machte.

Die Tür rechts im Flur führte zu einer kleinen mindestens zwanzig Jahre alten Einbauküche, einem wackeligen Tisch und einem ausrangierten Stuhl, auf den schon seit Ewigkeiten keiner mehr gesessen hatte.

Hinter der Tür gegenüber der Küche befand sich ein ehemaliges Gästezimmer, in dem sich nur noch ein klappriges Metallbett mit zerschlissener Matratze, ein paar leere Kartons und eine ausrangierte Trainingsbank mit schweren Gewichten aufhielten. Wie auch größtenteils der Rest der Wohnung, schrie auch dieses Zimmer lautstark nach Vernachlässigung. Er betrat es nie.

Die letzte Tür im Flur sah ebenso unscheinbar aus, wie alle anderen davor auch, doch sie war wesentlich schwerer und unter dem brüchig wirkenden Holz befand sich eine massive Metallplatte, die selbst einer Explosion standhalten würde. Genauso wie der Türrahmen. Obwohl von diesem schon der Lack abblätterte, trog doch dieser uralte Eindruck.

Ryon hatte einiges an Geschick dafür verwendet, eben diesen Eindruck zu erwecken, obwohl er nicht glaubte, dass jemals irgendjemand genug Interesse an dieser Wohnung haben würde, um hier her zu kommen. Dafür sah sie viel zu verlassen und einfach nur erbärmlich aus.

Er zog einen weiteren Schlüssel aus einer versteckten Tasche in seinen Kleidern hervor, um die Tür zu öffnen.

Sanfte Wärme schlug ihm zusammen mit dem vertrauten Geruch seines persönlichen Reiches entgegen, während er hinter sich abschloss.

Obwohl es hier ebenso stockdunkel war, wie auch der Rest seiner Wohnung, erkannte Ryon doch ohne Probleme das massive Holzbett, dass speziell für seine Größe angefertigt worden war.

An der gegenüberliegenden Wand befand sich eine ganze Schrankserie. Sie war aus hartem Kirschholz gefertigt und würde selbst Feuer sehr lange trotzen. Zudem war er mit seinen antiken Schnitzereien und der dunklen Färbung ein Eingeständnis an Ryons Geschmack. Darin befand sich alles, was er zum Leben und Überleben brauchte. Was in Anbetracht seiner Lebensweise, nicht besonders viel war.

Während er den geschmackvoll, aber spartanisch eingerichteten Raum durchquerte, zog er seine verschmutzten Kleider aus und ließ sie achtlos zu Boden fallen. Erst im Badezimmer schaltete er das Licht an.

Was den anderen Räumen fehlte, hatte er hier mit sehr viel Bedacht und Gefühl für Ästhetik ausgeglichen.

Das Bad war mit schwarzem Marmor ausgelegt, die Wände waren ordentlich verputzt und mit warmen Rottönen ausgemalt worden. Alle Armaturen waren aus rostfreiem Edelstahl, das stets wie auf Hochglanz poliert erschien. Das Bad hatte sowohl eine riesige Dusche mit durchsichtiger Glaskabine, wie auch eine ebenso enorme Wanne, in der er sich vollkommen ausstrecken konnte, wenn er denn einmal dazu Zeit hätte.

Weiche Bade- und Handtücher waren ordentlich in den mit Leinöl eingelassenen Holzschränken gestapelt und hinter dem großen Spiegel war alles, was er für seine Körperpflege benötigte.

Als er schließlich davor trat, war er bereits vollkommen nackt, bis auf das schwere, goldene Amulett um seinen Hals, das er weder zu lange ansehen, noch zu lange ablegen konnte.

Ryon hob nur kurz den Blick, um den kalten, schwarzen Augen in seinem fast makellosen Gesicht zu begegnen.

Es war blutverschmiert.

Ein tiefer Atemzug, der vielleicht einmal als Seufzer hätte durchgehen können, war alles was er sich daraufhin gestattete, ehe er sich unter das heiße Wasser seiner Dusche stellte, um sich den Schmutz abzuwaschen.

Dabei war es erst Freitag.
 

***
 

„Guten Morgen...“

Paige spürte, wie das Gewicht der Person die Matratze neben ihr eindrückte. Und sie konnte Tee riechen. Süßen Früchtetee, genauso wie sie ihn mochte. Vielleicht sogar Toast mit Butter dazu.

Mit einem schmalen Lächeln öffnete sie die Augen und blinzelte zwischen ihren Haaren hindurch, die ihr in mitternachtschwarzen Strähnen vor dem Gesicht hingen. Schlanke Finger schoben ihr ein paar Locken hinter ein Ohr, nachdem das Tablett mit Brot und Tee neben ihr abgestellt worden war.

„Na, ausgeschlafen?“

Die Frau mit den asiatischen Zügen lächelte sanft auf Paige hinunter und legte den Kopf etwas schief. Ihr roter Schlafanzug schien ihre eigenen pechschwarzen Haare nur noch mehr glänzen zu lassen.

Mit einer geschmeidigen Bewegung schob sie sich ebenfalls unter Paiges Bettdecke und hob das Frühstückstischchen auf ihren Schoß.

„Du lässt mich nur essen, wenn ich mich hinsetzte, stimmt's?“, fragte Paige immer noch verschlafen und mit einem wenig damenhaften Gähnen. Noch einmal kuschelte sie sich in ihre warme Decke, bevor sie sich demonstrativ ächzend und windend daraus hervor schälte und sich mit dem Rücken an die Wand lehnte.

Mit einem zufriedenen Nicken und einem Zwinkern drückte ihr die Asiatin die bunte Tasse mit dem abgeschlagenen Henkel in die Hände. Der Duft von Apfeltee stieg Paige angenehm warm in die Nase und weckte sofort ihre Lebensgeister.

„Bei euch beiden alles in Ordnung?“ Mit einer vom Tee warmen Hand streichelte sie über den runden Bauch der anderen Frau und sah fragend zu ihr auf. Paige war mit ihren 1,70 Metern nicht klein, aber in 'World Underneath' konnte sie mit kaum einem Wesen mithalten. So war auch die Dame in ihrem Bett gute zehn Zentimeter größer als sie selbst. Außerdem war sie so schön, dass sich sämtliche Modemagazine noch vor einigen Monaten um sie gerissen hatten. Bis sie sich hatte schwängern lassen. Sogar aus Liebe. Aber dann war es doch anders gekommen.

„Ja, alles in bester Ordnung. Es bewegt sich außerordentlich viel.“

„Na ja, es ist immerhin Wochenende.“, meinte Paige nur lapidar, während sie fasziniert beobachtete und mit ihren Händen spürte, dass im inneren des Bauches wohl gerade entweder eine Party gefeiert oder ein Kickboxturnier abgehalten wurde.

Mit einem weiteren Gähnen streckte Paige ihre Beine aus und wackelte mit den Zehen, bis sie unter der Decke am Ende des Bettes hervorschauten. „Wie spät ist es denn? Ich muss heute noch was erledigen.“

Um auf ihren Wecker zu sehen, der schief auf dem hölzernen Nachtkästchen balancierte, musste sie sich vorlehnen. Dabei entging ihr der Blick ihrer Freundin keinesfalls.

Um der anderen Frau allerdings gar keine Chance für jeglichen Einspruch zu lassen, steckte Paige sich eine Scheibe Toast zwischen die Zähne, schwang sich aus dem Bett und stellte die Teetasse auf dem Fußboden ab. Mit Schwung schob sie den dünnen grünen Vorhang zur Seite, der ihr als Schranktür diente und wiegte sich überlegend in den Hüften.

Sie hatte keine Ahnung, was sie erwarten würde. Was trug man zu einem Schmuckraub? Die einzig richtige Antwort stach ihr beinahe schmerzhaft in die Augen, als sie ein enges Oberteil aus dem Wust ihrer auf Bügeln hängenden Kleider zog.

Auf den Zehenspitzen und immer noch mit der Toastscheibe im Mund drehte sie sich herum und hielt sich das Oberteil vor.

„Was meinst du? Türkis ist die Farbe diesen Herbst.“
 

***
 

Es war erst Mittag, als bereits alles erledigt war, was er sich für diesen Samstag vorgenommen hatte. Seine ruinierten Klamotten waren wie schon so oft im Müll gelandet und jedes Mal wenn das passierte, war ein Besuch bei seinem privaten Schneider angesagt. Denn es gab kaum ein Kleidergeschäft, das mit ihm fertig wurde. Seine Größe war zwar immer wieder ganz nützlich, aber in den meisten Fällen dann tatsächlich eher hinderlich.

Nach dem der Auftrag für seine Ersatzkleider aufgegeben worden war, hatte er sich bei seinem derzeitigen Auftraggeber das Kopfgeld für den tollwütigen Werwolf abgeholt, der schon seit mehreren Wochen für den harten Stoff von menschlichen Legenden gesorgt hatte. Aber letztendlich war er genau zu dem geworden, was er verkörpert hatte – Geschichte.

Ryon musste das dicke Bündel Banknoten unter seinem Jackett nicht berühren, um zu wissen, dass er heute mehr verdient hatte, als so mancher Durchschnittsbürger in einem halben Jahr.

Wie viel Glück diese Leute hatten, wussten sie vermutlich gar nicht. Es war nur Geld. Belangloses Papier, das für ihn schon längst seinen Reiz verloren hatte. Aber es sorgte wenigstens immer für genügend Essen auf dem Teller und essen musste er. Weshalb er sich auch für ein nachträgliches Frühstück und Mittagessen zugleich, in eines der Luxusrestaurants auf der Oberfläche gesetzt hatte, das zwar genauso teuer wie alle anderen war, jedoch dafür auch anständige Portionen anzubieten hatte. Mit Portionen für Kinder oder Magersüchtigen fing er grundsätzlich nur wenig an und wer ihm das auftischte, der würde ihn nie wieder als Kunden zu Gesicht bekommen.

Während Ryon in einer abgelegenen Ecke auf seine Bestellung wartete, blätterte er die Tageszeitung der Menschen durch, um einen gewissen Schein von Normalität zu wahren. Denn weder interessierten ihn die Nachrichten dieser Spezies, noch mochte er es, angestarrt zu werden. Aber selbst die Breite der Zeitung bot ihm nicht genug Sichtschutz vor ein paar der Anwesenden Gäste, die sich zwar zu fein waren, um offen zu starren, aber deren Blicke er dennoch immer wieder über sich hinweg gleiten spürte.

Sie alle strafte er mit Nichtachtung, während er zugleich ständig alles und jeden im Raum mit seinen Sinnen sondierte. Es wäre nicht das erste Mal, dass er beim Essen gestört wurde.
 

Etwa zwei Stunden später saß sie mit einem Chai-Latte und einem dicken Schmöker bewaffnet in einem Café.

So unauffällig und nebensächlich wie möglich, ließ sie ihren Blick immer wieder ins Restaurant auf der anderen Straßenseite wandern.

Kein Zweifel möglich. Den Typen hätte sie auch ohne das leicht verknitterte Foto erkannt, das zwischen den ersten Seiten ihres Buchs steckte. Wer den Kerl übersehen wollte, musste schon blind sein. Und selbst dann wäre man wahrscheinlich ohne Ausweg irgendwann gegen diese Ziegelmauer aus Muskeln und Eis gerannt und hätte sich ordentlich den Kopf geschlagen und die Zähne ausgebissen.

Gott sei Dank erwartete ihr Auftraggeber keine schnellen Ergebnisse. Ihm oder ihr war es egal, in welchem Zeitraum Paige das Schmuckstück besorgte. Hauptsache sie kam überhaupt daran. Allerdings war bei schneller Arbeit auch wesentlich mehr Kohle drin, was in ihrer Situation für zusätzlichen Ansporn sorgte.

Paige nahm noch einen ordentlichen Schluck Chai und hoffte inständig, dass dieser Muskelberg das Ding bei sich zu Hause in einem Safe aufbewahrte. Das wäre wahrscheinlich noch wesentlich einfacher zu knacken als der Mann selbst, den sie keinen Moment lang aus den Augen ließ.
 

Angenehm gesättigt bezahlte Ryon schließlich mit seiner Amex Platinum Card, die auf einen gewissen Richard Twain lief. Obwohl es natürlich seine eigene war. Genauso wie seine erkaufte Identität, was seine Geldtransfere aller Art um vieles erleichterte.

Wie nützlich falsche Ausweise waren, hatte er bisher oft genug erfahren und wusste sie daher umso mehr zu schätzen. Es war unmöglich ihn Anhand von seiner Sozialversicherungsnummer, Krankenakten oder irgendwelchen anderen Dokumenten zurück zu verfolgen. Für den Staat existierte er schlichtweg als Ryon Tuwa nicht. Außerdem, wer brauchte schon eine Krankenversicherung, wenn man mögliche Krankenhausaufenthalte bar bezahlen könnte? Nicht dass er je das Risiko eingehen und sich als letzten Ausweg dorthin schleppen würde. Lieber verblutete er, wenn es denn einmal so weit kommen sollte. Sogar sehr viel lieber.

Nachdem er seine Brieftasche wieder in seinem sandfarbenen Jackett verstaut hatte, machte er sich auf den Weg zu seiner Bank, um den Verdienst der letzten Tage einzubezahlen.

Zwar fürchtete er sich nicht vor einem Raubüberfall, aber so viel Geld bei sich herum zu tragen, war absolut unsinnig. Er hätte es genauso gut als Brennmaterial verwenden können, so sehr hing er daran. Doch dort wo er es hin gab, würde es sich wenigstens langsam aber sicher weiter vermehren und dafür sorgen, dass er nicht doch noch irgendwann mittellos da stand.

Seine Erledigungen in der Bank dauerten fast fünfzehn Minuten.

Obwohl er als einer der besten Kunden eine gesonderte Behandlung bekam, war er nie schneller fertig, als die Leute die sich in der Schlange hinter dem normalbürgerlichen Schalter anstellen mussten. Vielleicht sollte er sich einfach einmal aus Trotz dort anstellen, aber dann würde er vermutlich die junge Bankangestellte noch nervöser machen, als sie es ohnehin schon war. Sie musste neu sein.

So ließ er also die ermüdenden Schleimereien des Managers über sich ergehen, der ihm jedes Mal einen Vortrag darüber hielt, wie sicher ihre Bank doch sei und wie gut Ryon daran tat, sein Geld bei ihnen anzulegen, wo es in dem und dem Zeitrahmen so und so viel Gewinn machen würde, bei diesem und jenen Prozentsatz.

Kein Wunder, dass er Kerl nur so selten wie möglich aufsuchte. Aber es gab eben immer ein nächstes Mal.
 

Der Kerl machte in den paar Stunden, die sie ihm folgte, ganz schön Kilometer. Zuerst ging es von dem Nobelschuppen direkt zu einer der großen Banken in der Innenstadt. Dort passte ihr zukünftiges Opfer allein wegen seiner Aufmachung hin. Unter all den Anzugträgern, die wie hypnotisiert durch die Gegend rannten und nichts um sie herum wahrnahmen, musste Paige sich noch nicht einmal verstecken. Sie stand einfach an einer Straßenecke und blätterte in einem Stadtplan herum.

Das gab ihr auch die Gelegenheit, immer wieder einen verirrten Blick in die Runde zu werfen und den Eingang der Bank im Auge zu behalten.

Als sich der Aufenthalt des Mannes in dem Hochhaus für diese erste Tarnung zu lange hinzog, stopfte Paige ihre Karte in die riesige schwarze Handtasche, schob die blonden Strähnen ihrer Perücke hinters Ohr und inszenierte einen Anruf mit einer Freundin.

„Ich weiß nicht genau, wo ich hin muss... Wie?... Ja, klar hab ich eine Karte dabei, aber wenn ich keinen Schimmer habe, wo ich bin, nützt die auch nichts.“ Übertrieben fröhlich lachte sie über einen nicht erzählten Witz, während auf der anderen Straßenseite der riesenhafte Schatten des Mannes hinter der Glastür der Bank in Sicht kam.

„Schätzchen, ich muss Schluss machen. Ja, ich nehm’ einfach die nächste Linie zu dir. Bis dann. Ciaoi!“

Sie nahm den Finger vom Cancel-Knopf des Handys und steckte es in die Tasche. Es war ihr am Anfang einmal passiert, dass sie bei so einem Manöver wirklich angerufen worden und ihre Tarnung geplatzt war.

Das blaue Auge hatte ihr eine gehörige Standpauke ihres Chefs im Fass eingebracht. Und außerdem keinen müden Heller.

Tja, aus Fehlern wird man klug.
 

Die Fahrt mit der U-Bahn war dahingehend richtig erholsam. Dicht gedrängt standen die vielen Menschen an diesem Samstagnachmittag zusammen und schafften es mit ihrer Masse, sogar Ryon nicht auffallen zu lassen, während er sich mit einem Arm an einem der Haltegriffe festhielt und an die dunkle Tunnelwand blickte, die rasend schnell an ihm vorüber zog.

Die bunten Gerüche waren eine interessante Abwechslung, genauso wie die sich bietende Gelegenheit, auch immer wieder ganz alltägliche Situationen zu beobachten. Ryon hatte schon lange den Anschluss an so ein Leben verloren, weshalb er die alte Oma mit ihren Einkaufstaschen oder den abgehetzt wirkenden Managertypen mit dem Aktenkoffer fast beneidete. Er hätte sogar mit dem pickeligen Teenager getauscht, der eine Gruppe quirliger Mädels mit sehnsüchtigen Blicken anstarrte, als hätte er etwas vor Augen, das er nie haben könnte. Doch Ryon konnte genauso wenig aus seiner Haut, wie der Junge die Mädchen ansprechen konnte. Das Schicksal war eben ein grausames Miststück.

Schließlich kam seine Haltestelle und trotz seiner Größe, gelang es ihm beinahe wie durch Zauberhand, sich gewandt aus der Masse zu befreien und wieder ein eigenständiges Individuum zu werden.
 

Langsam lief sie hinter dem Mann her. Bei der Statur konnte sie ihn auf keinen Fall aus den Augen verlieren. Das war auch in der U-Bahn ein Vorteil. Die Wagen waren zwar völlig verstopft, aber selbst über mehrere Sitzreihen hinweg sah sie ihn nah am hinteren Eingang stehen. Er sah sich die Leute an, die um ihn herum saßen, zeigte aber keinerlei Regung.

Eindeutiger Egomane, was?

Aber das konnte man nach so kurzer Zeit noch nicht sagen. Bloß weil er kein Lächeln vor sich her trug, musste das nicht heißen, dass er im Allgemeinen ein übellauniger Typ war. Immerhin hatte Paige selbst einige Masken, die sie im Alltag und nicht zuletzt in diesem Augenblick trug, damit ihr niemand zu nahe treten konnte.

Trotzdem irgendwie seltsam. Er schien ein Ziel zu haben, auf das er zusteuerte und das ihm keinesfalls fremd war. Nicht ein einziges Mal wanderten seine auffällig geformten Augen zu dem U-Bahn-Plan über den Türen.

Paige hätte es nicht gewundert, wenn er auf dem Weg nach Hause gewesen wäre. Man hatte ihr mitgeteilt, dass der Mann keine Familie hatte. Niemanden, mit dem er zusammen lebte. Das waren aber auch die einzigen Informationen, die bis jetzt in ihrem kleinen, mit bunten Blumen bedruckten Notizbuch standen.

Natürlich war es lächerlich, aber Paige mochte es, ein wenig Detektivin zu spielen. Mehr über den Mann zu erfahren, den sie bestehlen sollte, war eine gute Sache. Zumindest für sie.

Am Garden stiegen sie aus.

Die Menschen drängten sich scharenweise die alten Treppen hinauf ins Tageslicht, um sich dann in alle Winde zu zerstreuen. Das war das erste Mal, dass Paige darauf achten musste, nicht entdeckt zu werden. Sie war mit dem Strom der Ankommenden einfach mitgezerrt worden und stand nun kaum drei Meter von dem Riesen entfernt, der allerdings keinen Blick zurückwarf, bevor er sich mit weit ausholenden Schritten Richtung Park aufmachte.

Den Mp3-Player aus der Tasche gekramt, die große Sonnenbrille aufgesetzt und sie hatte wieder genügend Abstand.

Als er allerdings auf die Wiese abbog, an dem großen, alten Brunnen vorbei lief und auf eine Gruppe Kinder zusteuerte, wurde es knifflig. Entweder riskierte Paige näher heran zu gehen und entdeckt zu werden oder sie hielt sich zurück und konnte ihn aus den Augen verlieren.

Ohne wirklich zu zögern entschied sie sich für Ersteres. Meistens fiel man am wenigsten auf, wenn man sich nicht unauffällig verhielt. Also pflanzte sie sich ein Stück vom Brunnen entfernt ins Gras, holte ihr Buch aus der Tasche und lümmelte sich einigermaßen gemütlich hin. Allerdings in einer Position, die ihr erlauben würde, jederzeit aufzuspringen und keine Zeit vergeuden zu müssen, bevor sie wieder die Verfolgung aufnehmen konnte.

Sie war überrascht, dass er tatsächlich zu den Kindern wollte.
 

Der Park war so riesig, wie er auch schön war und stellte zugleich die einzige Grünanlage dar, die er im Umkreis von ein paar Kilometern einfach so erreichen konnte, ohne einen längeren Aufwand dafür hinnehmen zu müssen.

Die Wege waren teilweise für die Skater und Rollerblader asphaltiert worden, doch auch einige kleine Pfade aus weißem Kies waren vorhanden, die von bunten Blumenarrangements eingerahmt wurden.

Im Park gab es zwar überall kleinere Springbrunnen, doch genau in der Mitte war ein riesiger Brunnen, der besonders nachts eine eindrucksvolle Erscheinung darstellte.

Ryon ging an ihm vorbei, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen. Stattdessen fasste er eine Gruppe von spielenden Kindern ins Auge, die sich auf einer ausgedehnten Grünfläche niedergelassen hatten.

Schon von weitem erkannte er Amelias weizenblondes Haar, das in der Sonne schimmerte, während sie einem zweijährigen Mädchen lachend hinterher lief, das sich weigerte, das kleine Hemdchen wieder anzuziehen.

Kaum dass Mia ihn erblickte, kam sie auch schon auf ihren kleinen Füßen auf ihn zugeeilt. Ohne Probleme fing er den kleinen Wildfang ein und brachte sie zu Amelia zurück, welche die elternlosen Kinder betreute.

Sie grinste ihn breit an, wandte sich aber an das Mädchen in seinen Armen, als sie meinte: „Na Mia. Wieder mal einen guten Fang gemacht, wie? Hi, Ryon. Gut, dass du kommst. Die Rasselbande wird schon ganz wild. Noch ein paar Minuten länger und sie würden sich auch ohne dich auf den Eismann stürzen.“

Er nickte nur und streckte die Hand nach Mias Hemdchen aus. Danach ging er mit ihr in die Hocke, um der Kleinen das Kleidungsstück wieder überzuziehen, die ihn dabei vergnügt anlächelte.

Keines der anwesenden Kinder die sich langsam um ihn herum scharten, als wäre er das achte Weltwunder, störte sich daran, dass er völlig unbeeindruckt blieb. Manche hatten immerhin die gleichen, gefühllosen Gesichter wie er. Sie verstanden sich alle, auch ganz ohne Worte.

„Leute, jetzt dürft ihr euch auf den Eismann stürzen, aber schön einer nach dem anderen, klar?“, ermahnte Amelia die kleine Rasselbande von gut einem dutzend Kindern in allen möglichen Altersstufen. Woraufhin sich die Schar grölend zu dem Eiswagen aufmachte, der nicht unweit in der Nähe stand. Nur Amelia und Mia blieben an seiner Seite.

„Ist Susan nicht hier?“, wollte er wissen, während er sich mit den beiden ebenfalls aber wesentlich langsamer auf den Weg machte, um sich ein Eis zu holen.

„Nein, sie hat sich erkältet. Aber da Samstag ist, hat sie sich keine Sorgen darüber gemacht, ich müsste mich alleine um die Kinder kümmern. Sogar Ted wollte kommen, aber ich hab ihm gesagt, er muss schon die ganze Woche im Büro arbeiten, da soll er einmal den Samstag für sich haben.“

Wieder ein Nicken von Ryon. Amelias Mann war ein guter Kerl, wenn auch zeitweise etwas überarbeitet. Aber die beiden kamen gut damit klar.

Mia fing in seinen Armen leicht zu zappeln an, als sie beim Eismann angekommen waren. Also bestellte er für sie einen kleinen Plastikbecher mit Vanille- und Schokoeis.

Sie war noch zu klein, um gefahrlos eine Tüte halten zu können. Aber dieses Ritual mit dem Becher hatten sie schon längst intus. Solange er es war, der sie mit dem Eis fütterte, gab sie auch Ruhe, obwohl sie auch sehr anstrengend sein konnte. Ihre Mutter war immerhin eine drogenabhängige Vierzehnjährige gewesen, die auch ihrem ungeborenen Kind diese Sucht mitgegeben hatte. Kein besonders guter Start in ein neues Leben.
 

Es lag vielleicht an seiner offiziellen Aufmachung. Dem Anzug der so aussah, als dürfte er nicht zerknittert werden und der Krawatte, die so korrekt saß, dass man wahrscheinlich eine Wasserwaage daran ausrichten konnte. Andererseits verliehen ihm die bunten Haare eine gewisse Lässigkeit. Wenn Paige auch davon ausging, dass er sich die von einem guten Frisör hatte anstylen lassen. Der Typ war ihrer Meinung nach alles, bloß nicht lässig.

Das machte aber weder dem Kind, das er auf den Arm nahm, noch der blonden Frau etwas aus.

War da vielleicht doch jemand, auf den sie achten musste? Jemand, der außer ihm in der Wohnung sein könnte, wenn sie einbrach? Paige würde sich das Geschehen noch eine Weile ansehen müssen, um das beurteilen zu können.

Na ja, vor Liebe schien er jedenfalls nicht überzuquellen. Kein Kuss zur Begrüßung, keine Berührungen. Mal von dem kleinen Mädchen abgesehen. Vielleicht seine Exfrau? Dann wäre das Mädchen vermutlich seine Tochter...

Die konnte man als Gefahr außer Acht lassen. Wenn er nicht daheim war, würde es das Kleinkind sicher auch nicht sein.

So wie er mit den Kindern umging, würde er keines allein zu Hause lassen und dennoch fehlte da irgendwas. Es war nicht zu übersehen, dass er wusste, wie man mit der Rasselbande umging, aber da war irgendetwas an diesem Bild...

„Irgendwas ist ... falsch.“ Paige murmelte in ihr Buch und blätterte eine der Seiten um, der sie keinen Blick gewidmet hatte. Unter den dunklen Gläsern ihrer Brille konnte aus der Entfernung niemand sehen, dass sie sich nicht der Lektüre, sondern der Horde Kinder und den beiden Erwachsenen widmete.
 

Mit einer unendlichen Geduld kümmerte Ryon sich um Mias Appetit nach dem Eisbecher. Er hatte sich dazu etwas abseits von den anderen Kindern mit der Kleinen ins Gras gesetzt, damit sie diese kleine Zeremonie in Ruhe abhalten konnten.

Erst das Lätzchen umgeschnallt, dann die richtige Sitzposition gefunden und schließlich das Mund auf, eine kleine Portion rein und Mund wieder zu Spielchen. Denn obwohl es einfach klang und Mia wirklich auf das Eis versessen war, ließ ihre Konzentration doch schnell nach, weshalb sie ihre Aufmerksamkeit schon nach den ersten Bissen, immer wieder auf andere Dinge richtete.

Ein Käfer im Gras, der so faszinierend zu sein schien, dass sie Ryon beinahe vom Schoß krabbelte. Auch die verschiedenen Rot- und Blondtöne seiner Haare mit den schwarzen Strähnen darin, machten sie neugierig und brachten sie dazu, mit ihren klebrigen Fingern daran zu ziehen.

So war es nicht verwunderlich, dass die anderen Kinder schon längst mit ihrem Eis fertig waren, während Mia gerade mal die Hälfte der Miniportion verdrückt hatte, bis sie es auch schließlich nicht mehr wollte. Weshalb er es am Ende in den nächsten Mülleimer warf. Es war ohnehin schon zu einer Suppe geworden.

Für gewöhnlich plante Ryon für die Kids immer gut zwei Stunden ein. Aber es sah langsam nach Regen aus, weshalb sie lieber früher alles zusammen packten, um noch rechtzeitig wieder im Waisenhaus anzukommen, bevor der Regenguss wirklich einsetzte. Immerhin war es ein weiter Weg und da Amelia dafür sorgen musste, dass ihr auch ja keines der Kinder verloren ging, dauerte alles gleich noch viel länger.

„Soll ich dich wirklich nicht begleiten?“, hakte Ryon noch einmal nach, während er der blonden Frau beim Zusammenpacken half.

„Nein, nein. Das geht schon. John hilft mir schließlich, auf die Kleineren aufzupassen. Nicht wahr, John?“

Ein ungefähr zehn Jahre alter Junge mit braunen Haaren und freundlichen Augen blickte hoch, ehe er grinste.

„Klar doch. Irgendeiner muss schließlich auf diese Bälger aufpassen. Das ist doch der reinste Kindergarten.“

Amelia lachte.

„Wem sagst du das. Wenn ich da an Neulich denke, wo Tommy mit der Unterhose von Mrs Direktorin Grieskram auf dem Kopf herum gerannt ist, um den Mädchen einen Schrecken einzujagen. Weißt du noch, wie sich die Mädchen alle schlapp gelacht haben?“

Nun begann auch John zu lachen.

„Klar weiß ich das noch. Soweit ich mich erinnern kann, waren das Snoopieschlüpfer von einer Fünfzigjährigen. Da fragt man sich doch, wer von uns in die Kindergartengruppe gehört.“

Ryon konnte sich die Szene bildlich vorstellen, da er die alte Schachtel von Direktorin schon ein paar Mal gesehen hatte, die das Heim leitete.

Wenn man die Frau nur sah, musste man unwillkürlich an eine zerfledderte Vogelscheuche denken. Sich diese verbitterte alte Frau in Snoopieunterwäsche vorzustellen, war einfach zu komisch. Trotzdem lachte er nicht mit und verzog auch nicht die kleinste Miene. Es war komisch, aber es rang ihm kein Lächeln ab.
 

Zwanzig Minuten später war ihr der linke Fuß eingeschlafen und sie langweilte sich so sehr, dass sie fast versucht war, wirklich in dem Buch zu lesen.

„Tu was. Geh' heim, triff dich mit irgendwelchen Mafiosi hinter dem Baum da hinten. Meinetwegen greif dir die Blonde und nimm sie hier direkt auf dem Rasen, aber tu was.“

Gott, wie konnte man so langweilig sein? Der Kerl hatte wirklich die Ausstrahlung und den Charme eines Plastersteins. Wenn auch eines sehr teuren Steins.

Jetzt hoffte Paige noch mehr, dass er den Schmuck daheim hatte, sonst müsste sie am Ende auch noch persönlich Kontakt mit ihm aufnehmen.

Entnervt setzte sie sich hin, legte das Buch auf den Boden und massierte das Kribbeln aus ihrem Fuß, während sie die spielenden Kinder nur noch nebenbei beobachtete.

Es war seltsam faszinierend, dass die Kleinen von dem Mann nicht genug bekommen konnten. Auch ihnen schenkte er kein Lächeln, nicht mal ein Zucken der Mundwinkel und doch schienen sie irgendeine Verbindung zu einander zu haben.

Beinahe hätte sie verpasst, dass er sich anschickte zu gehen.

Endlich!

Vor Erleichterung hätte sie glatt vergessen, dass sie hier allein auf weiter Flur lag und es verdammt offensichtlich gewesen wäre, hätte sie jetzt ihre Sachen zusammen gepackt und wäre ihm hinterher gestiefelt. Also massierte sie weiter an ihrem Fuß herum und packte zumindest das Buch in ihre Tasche.

So ein Aufbruch musste vorbereitet werden. Ein paar Blicke auf die Armbanduhr. Checken des Handys. Ein wenig neue Schminke auflegen und noch mal auf die Uhr sehen. Dann zusammen packen und sich langsam auf den Weg zum nächsten Ausgang machen.

Es gab nur zwei mögliche Richtungen, die er einschlagen konnte. Paige hoffte, dass er wieder zur U-Bahn zurückgehen würde. Ansonsten hätte sie einen ganz schönen Spurt zum Nebeneingang vor sich.
 

Nachdem die Sachen gepackt und die Gruppe aufbruchbereit war, verabschiedete Ryon sich noch von allen, was ihm von ein paar der kleineren Kinder eine regelrechte Knuddelattacke einbrachte. Zum Glück war es ihm egal, wie seine Kleidung danach aussah, sonst hätte er schon längst Grund gehabt, wegen den ganzen Falten und teilweise auch Flecken auszuflippen. Bei seinem nächsten Termin musste er sowieso die Kleidung wechseln. Also war das alles nicht weiter schlimm.

„Sehen wir uns dann nächsten Samstag?“, wollte Amelia etwas abseits der Gruppe noch leise wissen, da die Kinder immer so schnell enttäuscht waren, wenn sie sofort erfuhren, dass er einen Samstag einmal nicht konnte.

„Im Augenblick sieht es gut aus. Aber ich melde mich, falls sich noch etwas ändert.“, versprach er wie immer, ohne sich festlegen zu wollen.

Wenn er einen Auftrag ganz überraschend bekam, wollte er immer flexibel sein und keine Termine sollten sich überschneiden.

„Okay. Bis dann also. War heute wieder schön, dass du da warst. Wir sehen uns.“

Wieder nickte er nur und sah der Rasselbande noch eine Sekunde lang nach, ehe er den Weg in die Stadt einschlug. Die paar Blocks würde er zu Fuß hinter sich bringen, das wäre bereits ein gutes Aufwärmprogramm für den späteren Abend.
 

Die Kinder kamen in einem lärmenden, kleinen Pulk direkt auf Paige zu, doch der Riese war nicht dabei. Er hatte sich vor wenigen Augenblicken von der Gruppe verabschiedet und war stehen geblieben.

Wenn er den Kindern noch einen Moment länger hinterher sah, würde sein Blick unweigerlich auf Paige fallen. Immerhin waren die Ersten schon an ihr vorbei und liefen plappernd in Richtung Verkehrsinsel.

Den Kopf etwas gesenkt, damit ihr noch mehr blonde Strähnen ins Gesicht fielen, stand Paige angespannt neben der Bank und versuchte gewaltsam mit der Hecke hinter sich zu verschmelzen. Selbst wenn er sie sah, hieß das nicht, dass er sie registrieren würde. Nur eine Frau, die verdammt blöd in der Gegend herumstand und nichts tat...

Er hatte weggesehen. Das war zwar gut, aber gleichzeitig hatte er ihr den Rücken zugekehrt und war auf dem Weg zum Nebeneingang.

Verdammt, sie hätte es ahnen müssen. Und solange die Rasselbande nicht vorbei war, konnte sie nicht losrennen.

Die junge Betreuerin warf Paige ein breites Lächeln zu, als sie mit dem kleinen blonden Mädchen auf dem Arm an ihr vorbei ging. Paige nickte mit einem winzigen Lächeln und tat so, als wäre sie von der Truppe in ihrer eigentlich eingeschlagenen Richtung aufgehalten worden.

Sie musste dem Mann auf knirschenden Absätzen hinterher.

Beinahe wäre sie an einem der beiden Säulen hängen geblieben, die den Ausgang kennzeichneten. Aber sie bekam in letzter Sekunde doch die Kurve und schaffte es sogar gefasst auf die Straße hinaus zu treten.

Hier war wenig los. Bloß ein paar Spaziergänger, die ebenfalls den Park verließen und eine Mutter mit Kinderwagen.

Paige schlängelte sich durch die Passanten, blieb immer wieder an einem Schaufenster stehen und warf kurze Blicke nach vorn, wo der breitschultrige Kerl gemäßigten Schrittes den halben Bürgersteig für sich einnahm.

Als sie sein Ziel offensichtlich erreicht hatten, sah Paige wenig überrascht den Aufdruck auf den Türen und der Fensterreihe im ersten Stock. Na, das hätte sie sich eigentlich denken können.

Da war wohl wieder lesen angesagt.

Wäre sie mit seinen Gewohnheiten bereits vertraut gewesen, hätte sie wahrscheinlich eine Sporttasche dabei gehabt. Ein Fitnessstudio wäre sogar eine der leichtesten Gelegenheiten, ihm ein bisschen auf den Zahn zu fühlen. Aber da sie das ohnehin lieber vermeiden wollte, war sie für die verpasste Gelegenheit ganz dankbar.
 

In dem gut ausgestatteten, aber nicht überteuerten Fitnessstudio seiner Wahl, das er schon seit langem benutzte, fühlte er sich immer recht wohl.

Hier sah man ihn nur noch ab und zu schräg an, wobei die meisten wohl glaubten, er würde frisch aus den geheiligten Hallen der Bodybuilder kommen. Dabei kam er wohl eher gerade aus den Männerumkleideräumen, wo er seinen Spind mit den Sportsachen hatte.

Mit einer grauen Jogginghose, einem schwarzen Muskelshirt, den Laufschuhen und einem Handtuch bewaffnet, griff er noch nach einem kleinen schwarzen Samtbeutel an seinem Hosenbund, während er sich zu den Laufbändern begab.

Aus dem kleinen Beutel holte er seinen i-Pod hervor, wählte seine Lieblingsplaylist und gab sich die volle Dröhnung, während er auf schnellem Tempo mit Steigung zu laufen begann.

Erst als es draußen vor den großflächigen Panoramafenstern fast gänzlich dunkel geworden war, stieg Ryon endlich von dem Laufband.

Seine Haare und Kleider klebten ihm verschwitz auf der Haut, doch er war nur leicht außer Atem, als er sich auf den Weg zu den Duschen machte.

Das goldene Amulett schien ihm dabei am anschmiegsamsten auf der Haut zu liegen. Immer knapp zwischen seinen Schlüsselbeinen. Dabei war es seltsam, wie sauber und glänzend es doch blieb, obwohl es bereits jahrelang den verschiedensten Bedingungen ausgesetzt gewesen war. Aber Ryon hatte schon lange aufgehört, sich darüber zu wundern.
 

Es wurde spät. Und es wurde kalt. In einem Anflug von Resignation hatte Paige sich sogar dazu hinreißen lassen, zu dem Laden zwei Häuser weiter zurück zu laufen und sich ein eingeschweißtes Sandwich zu kaufen.

Sollte der Kerl jetzt in Aktivität ausbrechen und ein Auto klauen, um auf große Fahrt zu gehen, war es ihr auch schon egal. Ihre Zähne klapperten nur dann nicht aufeinander, wenn sie von ihrem Avocado-Truthahn-Sandwich abbiss.

Sie gab sich noch fünfzehn Minuten. Danach wäre es einfach zu auffällig hier auf der Straße herum zu stehen, immer wieder zu zappeln, um ein wenig Wärme in ihren Körper zu bekommen und an einem Brot herumzunagen.

„Scheiße, wenn ich wüsste, wo du wohnst, müsste ich dir gar nicht hinterher rennen...“

Hätte man ihr nicht diese wahnsinnige Summe versprochen, sie wäre längst weg. Ai wartete bestimmt mit dem Abendessen. Irgendwas Warmes. Gemüseeintopf oder vielleicht sogar ein bisschen Fleisch, wenn sie auf den Markt gekommen war.

Paiges Züge verdüsterten sich und sie straffte mit Gewalt ihren Körper, um die Kälte endgültig zu vertreiben. So ein bisschen Kälte würde sie nicht davon abhalten, das Geld zu beschaffen, zumindest im Moment noch nicht. Immerhin könnte sie vielleicht sogar heute noch an das Schmuckstück rankommen...

Bei dem Gedanken an das Festessen, das Ai und sie dann aufkochen konnten, lief Paige das Wasser im Mund zusammen. Dem Baby würde das auch wahnsinnig gut tun. Ai war sowieso viel zu dünn, selbst für ihre natürliche Statur. Das konnte nicht gut für das Kind in ihrem Bauch sein.

Sorgen begannen mehr an Paige zu nagen als die Kälte, die ihren Atem in kleinen Wölkchen zum Himmel steigen ließ, als die Tür ihr gegenüber aufgeschoben wurde und ihr Opfer mit feucht strähnigen Haaren und geröteten Wangen heraus kam.
 

Mit feuchten Haaren und aufgewärmten Muskeln trat er schließlich auf die Straße, um sich auf den Weg zurück in die World Underneath zu begeben.

Eine Sache gab es noch, die er zu erledigen hatte, ehe er endlich nach Hause konnte. Eigentlich war ihm heute nicht danach, da er gestern schon den Werwolf zur Strecke gebracht hatte. Aber Tony hatte ihm wegen der Sache schon seit Wochen in den Ohren gelegen, bis er schließlich zugesagt hatte. Jetzt konnte er auch nicht kneifen und vielleicht war das auch ganz gut so.

Je näher er der verlassenen Lagerhalle unter den Straßen der Stadt kam, in der sich nur allzu oft illegale Aktivitäten abspielten, umso finsterer und gefährlicher wurde die Gegend. Mit ihren dunklen Ecken, verzweigten Gassen und Winkeln, war es ein idealer Hinterhalt, sofern jemand dumm genug war, hierher zu kommen.

Ryon hatte nichts zu befürchten. Er hatte hier einen Ruf, der ihm eigentlich schon Sonderrechte verschaffte, wenn er denn auf welche wert gelegt hätte. Dieser Ort gab ihm nur eine Sache, die er wollte. Zwar nicht unbedingt heute, aber an manchen Tagen war er seine Rettung.
 

„Vielleicht hat er eine missglückte Schönheits-OP hinter sich... Oder bei einem Autounfall wurden ihm die Wangenmuskeln durchtrennt...“

Während sie inzwischen schlechtgelaunt hinter ihm herstapfte, kaum noch darauf bedacht, den Sicherheitsabstand einzuhalten, erschuf sie wilde Theorien.

Mit einem Lächeln hätte der Typ wahrscheinlich gar nicht mal schlecht ausgesehen. Er war groß und manche Frauen standen bestimmt auch auf diese Muskelberge. Die Augen waren auch interessant, wenn man sie mal näher betrachten könnte. Aber die ganze Aura, die der Kerl vor sich herschob, war einfach nur zum davonlaufen.

Erst als sie am Tor ankamen, fiel Paige auf, wohin sie gelaufen waren.

Der Pfad war für sie so natürlich, dass sie gar nicht hatte darüber nachdenken müssen, wohin sie ihre Schritte lenkte. Der alte U-Bahnschacht auf der Baustelle gähnte wie ein großer Schlund in der Dunkelheit und hatte den Hünen so schnell verschluckt, als handelte es sich tatsächlich um das Maul eines riesenhaften Tieres.

Ohne zu zögern, trat sie in den finsteren Schacht, in dem ihre Schritte unangenehm laut widerhallten. Aber sie war nicht die Einzige, die hier entlang lief. Der gebeugte Mann, der in eine Decke gehüllt am Boden saß, einen kleinen Plastikbecher vor sich, in dem zur Tarnung sogar ein paar Münzen lagen, schenkte ihr nur einen kurzen Blick. Er war nicht der einzige Wachmann am Weg zur World Underneath, aber alle ließen Paige passieren. Wer so schnurstracks unter die Stadt lief, wusste, was ihn dort erwarten würde.
 

Alleine der Lärm, der nur leicht gedämpft durch die zerschrammte Bürotür drang, machte Ryon klar, dass Tony gewaltig die Werbetrommel für seine Käfigkämpfe gerührt haben musste, denn es waren mindestens doppelt so viele Zuschauer anwesend, wie gewöhnlich.

Dicht gedrängt auf provisorischen Sitzgelegenheiten umringten die Schaulustigen einen großen Käfig, der an einen von der Sorte erinnerte, in der man im Zirkus Raubkatzen bändigte. Nur dass es in diesem Fall alle möglichen Bestien waren, bloß keine einfachen Tiere.

„Drei Kämpfe. Wie du es mir versprochen hast. Danach kannst du nach Hause gehen.“, erklärte Tony mit seiner rauchigen, deutlich geschäftsmäßigen Stimme. „Wenn du das dann auch noch willst.“

Eigentlich war es dumm, hier völlig umsonst mitzumachen, wo doch die Gewinner immer große Prämien bekamen. Aber Geld hatte Ryon genug, weshalb er sicherlich nicht aus Geldnot ab und zu an diesen Kämpfen teilnahm. Viel eher war es eine Notwendigkeit, ohne die er schon lange nicht mehr leben könnte.

„Drei Kämpfe und ich werde nach Hause gehen. Also leg dich heute Nacht nicht mit mir an. Ich halte mich an die Abmachung, halte du dich also auch an die deine.“, gab Ryon gelassen zurück.

Er könnte dem kleinen Glatzkopf mit der dicken Wampe ohne Probleme den Hals umdrehen, wenn er denn wollte und das wussten sie beide, weshalb Tony sich auch davor hütete, es zu weit mit seinen Forderungen zu treiben. Ryon war immerhin ein wahrer Publikumsmagnet für all jene, die hier her kamen, um ihn kämpfen zu sehen. Bessere Werbung für seine Käfigkämpfe würde der kleine Gauner sicherlich nie bekommen.

„Ja ja, schon klar. Ich hab verstanden. Aber dann mach die drei Runden wenigstens nett, ja?“

Ryon schenkte dem widerlichen Kerl einen langen Blick, der ihn eigentlich zu einem Eiszapfen hätte gefrieren lassen müssen, doch Tony zuckte lediglich etwas zurück.

„Ich werde sehen, was sich machen lässt.“

Sein Jackett hängte Ryon zusammen mit seiner Krawatte über die Lehne eines ausrangierten Stuhls, ehe er seine Hemdsärmel hochkrempelte.

Auch diese Klamotten würden diese Nacht nicht heil überstehen. Gut, dass er sich heute Morgen beim Schneider gleich mehrer Outfits bestellt hatte.
 

Paige war versucht, den massigen Arm um ihre Schultern einfach anzukokeln, aber das hätte bloß für die falsche Art von Aufmerksamkeit gesorgt. Außerdem war der Trunkenbold, der sich bei ihr abstützte und immer wieder Bier über sein eigenes Kinn verschüttete, absolut harmlos. Ganz im Gegensatz zu den anderen Typen hier in dieser Lagerhalle. Mal von den Bestien im Käfig völlig abgesehen.

Und da hab ich dich für einen Langweiler gehalten..., meinte sie mit einem abschätzenden Gesichtsausdruck.

Die kleine Arena kochte wie ein Hexenkessel, angefüllt mit dem Unrat der World Underneath.

Wären nicht sämtliche Blicke ohnehin auf den Käfig in der Mitte des berstend vollen Raumes gerichtet gewesen, hätte es Paige nicht gewundert, wenn alle Anwesenden ohne Grund übereinander her gefallen wären. Aber bei der Show, die sie zu sehen bekamen, war mehr Blut wohl nicht nötig.
 

Im Grunde handelte er im Käfig immer nach demselben Muster.

Die ersten beiden Gegner ließ er sich vollkommen verausgaben, um einen gewissen Showeffekt zu erzielen, ehe er sie mit gezielten Schlägen dazu zwang, aufzugeben. Ob nun freiwillig oder nicht, lag hierbei nicht immer an seinen Gegnern. Wer ohnmächtig oder tot war, konnte immerhin nur schwer etwas sagen. Meistens jedoch waren sie klug genug, frühzeitig ihre Niederlage zu erkennen, ehe sie wirklich ernsthaft Schaden nahmen. Denn dass Ryon kein Mitleid kannte, war gerade der Kick an diesen illegalen Kämpfen zwischen übernatürlichen Wesen. Wenn es darum ging, eine Sache zu Ende zu bringen, hatte er noch nie gekniffen und würde es auch nie tun.

Der dritte Gegner zog jedes Mal ohne Ausnahme den schwarzen Peter. Bisher hatte das keiner überlebt. Ob Wandler, Dämon, Vampir oder sonst irgendwelche Kreaturen aus dem tiefsten Schlund der Hölle, sie alle mussten als Ryons dritte Gegner unweigerlich ins Gras beißen. Das war inzwischen ein Naturgesetz und auch in dieser Nacht, war es nicht anders.

Ryons Gegner war ein kräftiger, äußerst flinker Dämon, der genauso gefährlich aussah, wie er war. Die langen, scharfen Krallen waren gemein und schnell und verpassten ihm den ein oder anderen blutigen Kratzer. Nicht tief, um endgültig Spuren zu hinterlassen, aber sie machten deutlich, was passieren könnte, wenn Ryon einmal nicht schnell genug ausweichen oder abblocken konnte.

Die beiden Kontrahenten hetzten sich quer durch den Käfig, als würde der Geruch von Blut sie nur noch mehr anstacheln. Doch obwohl der Dämon ihm alle möglichen Schimpftiraden und Provokationen an den Kopf warf, schwieg Ryon die ganze Zeit, reagierte kein einziges Mal auf das Gesagte, sondern nur auf die Dinge, die getan wurden.

Selbst als sein Gegner ihn dazu aufforderte, endlich mit den Spielchen aufzuhören und seine wahre Natur zu zeigen, blieb er völlig unbeeindruckt.

Warum die wahre Natur zeigen, wenn die verborgene ebenso ausreichte, um mit dieser Kreatur fertig zu werden?

Natürlich ließ er den offenbar geübten Kämpfer bis zum Schluss im Glauben, er wäre der Überlegene von ihnen beiden, bis dieser sich mit entsetzt geweiteten Augen seinen Irrtum eingestehen musste.

Ryon riss ihm mit einem einzigen gezielten Schlag seiner flüchtig ausgefahrenen Krallen den Leib vom Bauchnabel angefangen bis hin zum oberen Teil des Brustbeins auf.

Er musste sich nicht einmal zu seinem am Boden liegenden Gegner umdrehen, um zu wissen, dass dieser gerade seine letzten gurgelnden Geräusche von sich gab und Mühe haben dürfte, seine Eingeweide bei sich zu behalten.

Eine Dusche … das war jetzt alles, was er noch wollte, nun da er sich vollkommen verausgabt hatte.

Herrlich erschöpft und zugleich mit einem Gefühl im Bauch als müsse er sich gleich übergeben, verließ er den schon allzu vertrauten Käfig, um seine Sachen zu holen, ohne auch nur einmal auf den tosenden Beifall zu reagieren. Weder hörte er auf die tobende Menge, noch auf Tony, der ihm zu dem hervorragenden Kampf gratulieren wollte.

Er hatte einen Mann getötet. Einfach so. Dazu brauchte man ihm nun wirklich nicht zu gratulieren.
 

Soweit sie es mitbekommen hatte, waren die ersten beiden Kontrahenten noch lebend aus dem Spektakel heraus gekommen. Aber mit dem Dämon, der nun mit offenem Bauchraum auf dem schmutzigen Boden lag und die letzten abgehakten Atemzüge von sich gab, ging es nur allzu ersichtlich zu Ende.

Der Riese war schnell gewesen. Viel schneller, als man ihm zugetraut hätte. Aber nicht weniger grausam, als Paige sich hatte vorstellen können.

Er hatte seine versteckte Natur nicht an die Oberfläche gelassen, aber doch konnte keinem entgangen sein, was in ihm schlummerte.

Ihre Auftraggeber hatten sie auf ein Monster angesetzt.
 

***
 

Nackt, sauber, unglaublich müde und mit einem absoluten Gefühl der Leere tief in sich drin, fiel er in sein Bett und schlief ein, ohne auch nur noch einmal an die vergangenen Stunden zu denken.

Zu töten belastete ihn schon lange nicht mehr. Er fühlte einfach gar nichts dabei. Außer, dass er mit jedem weiteren Tod, ein Stückchen mehr von sich selbst umbrachte. Was er ganz und gar begrüßen konnte. Es ging ohnehin viel zu langsam.
 

Vorsichtig und verstohlen, war sie ihm bis zu seinem Haus gefolgt. Eines der Gebäude, das hier unten noch am Ehesten an die Gebäude der Oberwelt erinnerte. Ein Wolkenkratzer unter Tage, so zu sagen. In welcher Wohnung er lebte, hatte Paige an dem schwachen Licht erkennen können, das im vierten Stock angegangen war.

Sie würde Morgen wieder kommen.

„Mal sehen, wie ein Ungeheuer seinen Sonntag verbringt.“
 

***
 

Als sie zu Hause im Bett lag, Ais gleichmäßiges Atmen neben sich im Raum hören konnte, dachte sie über den Mann nach, den sie den ganzen Tag beobachtet hatte.

So schnell konnte sich der Eindruck ändern. Und so viele unterschiedliche Masken hatte sie innerhalb kürzester Zeit noch nie wechseln sehen. Der geschniegelte Geschäftsmann, der friedliche Kinderfreund, der Sportfreak und schließlich das Monster, das seine Kräfte wie bei einem Zirkuskampf vorführte.

Paige konnte nicht sagen, welches dieser Abziehbildchen tatsächlich auf den Mann passte. Sie kannte noch nicht mal seinen Namen. Und doch kaufte sie ihm keine seiner Masken hundertprozentig ab. Irgendetwas passte absolut nicht zusammen. Als ergäben die Puzzleteile, die er ihr gezeigt hatte, kein Bild.

Mit einem Grummeln warf sie sich im Bett herum und zog sich die Decke bis zu den Ohren hoch. Es war auch völlig egal, was er war. Sie wollte nur den Schmuck.

Wenn alles gut lief, war Morgen schon alles vorbei. Und sie musste ihn nie wieder sehen.

Dadurch ein wenig beruhigt, schaffte sie es endlich die Augen zu schließen und zusammen gerollte einzuschlafen.

1. Kapitel

Die alte Dämonenfrau mit den zerzausten Haaren, die unter ihrer gestrickten Kapuze hervorschauten, saß auf einer Bank und fütterte die Ratten. Es waren zwar keine zu sehen, aber sobald es ruhiger wurde, konnte man ihre winzigen Füßchen über den Betonboden laufen hören. Sie würden sich die Krümel schon holen.

„Und wenn ihr das tut, dann bin ich schon da drin und hole mir den Schmuck.“, raunte sie leise.

Paige würde warten müssen, bis der Kerl das Haus offensichtlich für längere Zeit verließ. Dann konnte sie einbrechen und sich die Beute unter den Nagel reißen. So wie er aussah, konnte sie sowieso davon ausgehen, dass sie Einiges mitgehen lassen konnte, selbst wenn sie das Amulett nicht fand.

Mit einem kleinen Zischen schüttelte die Alte energisch den Kopf. Ihre graue Haut legte sich um die Mundwinkel in tiefe Falten. Er würde schon nicht so dumm sein, es mit sich herum zu tragen.
 

Es war der hohe schmerzerfüllte Schrei einer Frau, der ihn aus dem Bett hochfahren ließ, doch zugleich war sein markerschütterndes Brüllen es, das den Alptraum beendete, als er geschmeidig auf allen Vieren auf dem Boden neben seinem Bett aufkam.

Seine Augen schienen wie flüssiges Gold zu glühend und zu brennen, während sein Gesicht zu einer Maske der Qual grausam verzerrt war.

Ryons angespannte Muskeln zitterten so heftig, dass kleine Sprenkel von seinem schweißnassen Körper auf dem polierten Parkettboden landeten, während seine Kehle von dem Schrei, der ihm noch immer entkam, brannte. Doch erst, als ihm die Luft ausging, verhallte auch der Laut der Pein in seinem Schlafzimmer und er sank kraftlos auf die Knie. Wo er mehrere Minuten lang reglos verharrte, bis sich die langen, ausgefahrenen Krallen an seinen Händen wieder zurückgezogen hatten. Erst dann stand er mit dröhnenden Kopfschmerzen auf und schwankte ins Badezimmer.

Wie immer, bei den seltenen Gelegenheiten, an denen er auf diese Weise wach wurde, vermied er jeden Blick in den Spiegel. Das Gesicht, das er dort sehen würde, konnte er ohnehin nicht vergessen und zugleich auch nicht die damit verbundenen Gefühle. Weshalb er beides aus weiser Voraussicht vermied, in dem er gar nicht erst das Licht anmachte.

Das Bad hatte kein Fenster und blieb somit in fast schon anheimelnder Dunkelheit, was man von dem schwachen Licht, das in sein Schlafzimmer flutete, nicht gerade behaupten konnte. Aber mehr als die Stahlrollläden, hatte er nicht einbauen wollen. Zusätzlich mit den dicken, lichtundurchlässigen Vorhängen, könnte er ohnehin zu jeder Tag- und Nachtzeit das Licht einfach aussperren. Es war sowieso nicht mit dem der Sonne zu vergleichen.

Die kochend heiße Dusche entspannte seine vollkommen verkrampften Muskeln zuverlässig.

Während Ryon seinen Körper der Behandlung des Wassers überließ, kümmerte er sich um den mentalen Scherbenhaufen, der sich mit seinen scharfkantigen Bruchstücken überall in seinen Gedanken und Gefühlen ausgebreitet hatte.

Zuerst machte er sauber, danach errichtete er mühsam eine Mauer nach der anderen. Er kittete die brüchigen Stellen, an denen bereits unzählige andere Blockaden aufgebaut worden waren und putzte anschließend noch einmal, bis alles blitzblank und so vollkommen glatt war, dass nichts mehr daran haften bleiben konnte.

Erst als er das goldene Amulett auf seiner nackten Brust mit den Fingern berühren und dessen Beschaffenheit fühlen konnte, ohne auch nur das geringste Empfinden in sich aufkommen zu spüren, drehte er das Wasser ab, bahnte sich einen Weg durch die dicken Dampfschwaden im Raum und schaltete das Licht an.

Mit seiner großen Hand wischte er über den beschlagenen Spiegel über dem breiten Marmorwaschbecken und blickte sich direkt in die schwarzen, seelenlosen Augen, die er zu sehen erhofft hatte. Im Augenblick konnte er noch nicht einmal mehr den sonst vorhandenen, dünnen Goldrand um seine Iris herum erkennen. Seine Augen waren schwarze Löcher, in denen man sich nicht spiegeln konnte und zugleich jegliche Emotionen einfach eingesaugt wurden, ohne je wieder irgendwo aufzutauchen. Gut. So sollte es auch sein.

Während er seinen Körper an der Luft trocknen ließ, ging er zu seinem Schrank und öffnete eine der Flügeltüren. Ein rascher Blick und er entschied sich für eine graue Hose, ein weißes Seidenhemd und darüber einen beigefarbenen Ledermantel, der nicht zu sehr auffiel, ihm aber zugleich bis zu den Knöcheln ging. Es war Sonntag. Kein Grund, es sich nicht etwas gemütlicher zu machen.

Nachdem er sich die Haare trocken gerubbelt und sich angezogen hatte, schnappte Ryon sich seine Schlüssel, sperrte ordentlich hinter sich ab und machte sich auf den Weg an die Oberfläche.

Sein Magen klang bereits wie eine fuchsteufelswilde Bestie, die unbedingt gefüttert werden wollte. Dem hatte er nichts entgegen zu setzen. Also war Starbucks sein nächstes und vorerst auch einziges Ziel für diesen Tag.

Ryon warf nur einen kurzen, völlig uninteressierten Blick auf die alte Frau auf der Bank, an der er vorbei musste.

Gesindel. Das waren viele tatsächlich geworden. Viele von ihnen hatten die Möglichkeit auf ein relativ normales Leben an der Oberfläche und trotzdem lebten sie hier unten unter Ihresgleichen. Dabei konnte es doch nichts Erstrebenswerteres geben, als so menschlich wie möglich zu sein. Aber Ryon lebte ebenfalls hier unten. War an dem Versuch gescheitert. Er würde immer niemals mehr woanders hingehören.
 

Seine Augen hatten sie nur kurz gestreift, unter Umständen hatte er sie gar nicht wirklich wahrgenommen. Auf jeden Fall hatte er die Frau hinter der Verkleidung nicht erkannt. Das konnte er gar nicht, denn er hatte sie noch nie gesehen. Er würde sie also nach ungefähr zehn Metern, die er zurückgelegt hatte, wieder vergessen.

Trotzdem saß Paige noch eine Weile auf der Bank, ließ Brösel auf den Boden fallen und starrte ihm hinterher. So nah war sie ihm zuvor noch nicht gewesen. Sie hatte ihn sogar riechen können. Aber was ihr von dieser kurzen, einseitigen Begegnung im Gedächtnis bleiben würde, war dieser eisige Blick. Völlig tote, dunkle Augen, die ihr einen eiskalten Schauer den Rücken hinunter gejagt hatten. Nein, es wunderte sie nicht, dass es niemanden gab, der in seiner Wohnung auf ihn wartete.

Das war auch der Grund, warum sie nach seinem Verschwinden nicht sofort aufgesprungen und in seine vier Wände eingebrochen war. Es machte ihr Angst, was sie vielleicht dort finden könnte. Karge, grob verputzte Wände, Folterinstrumente...

Der dicke Kloß war nur schwer hinunter zu schlucken und ließ einen ekligen Geschmack auf ihrer Zunge zurück.

„Denk an das Geld. Denk an das Geld.“ Und vor allem daran, was sie damit alles kaufen konnte. Heizöl, Lebensmittel und sogar Babyklamotten als Geschenk für Ai.

Mit grimmiger Miene kämpfte sich die alte Frau hoch, stützte sich auf ihren Gehstock und wackelte langsam auf den Eingang des Gebäudes zu.

Als sie allerdings die Tür erreicht und sie hinter sich geschlossen hatte, schien sich die Wirbelsäule der Frau zu begradigen. Sie richtete sich so auf, dass der weite Wollumhang bis über ihre Knöchel hochrutschte und man die schwarzen Hosenbeine mit den geschnürten Stiefeln darunter sehen konnte.

Der Mantel landete mit einem Schwung in einer dunkle Ecke, während Paige schon auf den Fahrstuhl zusprintete.

Der vierte Stock war schnell erreicht und wenn man die Lage des Gebäudes bedachte, musste es die erste Wohnung rechts sein.

Nun wesentlich langsamer und mit gemessenen Schritten ging sie auf die Wohnungstür zu. Kein besonderes Sicherheitsschloss. Ganz im Gegenteil. Altmodischer Schlüsselbart und ein Zylinder, den man sogar mit einer Kreditkarte knacken konnte, wenn man denn eine besaß. Aber zumindest hatte er ordentlich abgeschlossen. Sogar doppelt. Was Paige aber nur für einen Moment aufhalten konnte.

Der Dietrich knackte im Schloss, hinterließ aber keine Spuren, die einem ins Auge fallen konnten, wenn man sich nicht auskannte.

Die Tür schwang lautlos nach innen auf und gab einen absolut kargen, kleinen Flur frei. Alles war düster und staubig, als würde so gut wie niemand hier je ein und ausgehen.

„Du brauchst eine Putzfrau...“, murmelte Paige leise, als sie eintrat, die Tür hinter sich ins Schloss zog und sich langsam und aufmerksam in dem Flur umsah. Nichts Besonderes. Eigentlich absolut überhaupt nichts. Keine Bilder, nicht mal Kleiderhaken.

Und so ging es weiter. Die Räume, die vom Flur abgingen, waren wenig spannend und schnell abgesucht. Paige musste sich noch nicht einmal die Mühe machen, irgendwelche Möbel zu verrücken. Hier würde sie nichts finden.

„Wieder eine andere Facette, die du mir aufdrängen willst. - Einsamer Junggeselle. Fast bemitleidenswert.“

Und auch das kaufte sie ihm nicht ab. Zumindest nicht hundertprozentig. Noch hatte sie kein Schlafzimmer gefunden. Auch ein Bad fehlte. Und seinem Geruch nach, der ihr unerklärlicher Weise noch im Gedächtnis hing, war er niemand, der es an Körperpflege mangeln ließ.

Vor der großen, schweren Holztür blieb sie stehen und betrachtete sie fast ehrfürchtig. Ihre behandschuhten Finger strichen an den Kanten entlang. Eingelassene Sicherheitsscharniere. Nur aufgelegtes Holz. Dem Geräusch ihrer Knöchel auf dem Material nach, war darunter eine massive Stahltür verborgen.

Mit einer fast liebevollen Geste streichelte ihr Zeigefinger das Schlüsselloch.

„Ich liebe Herausforderungen.“
 

***
 

Die adrette Bedienung im Starbucks war genau die Person mit einem freundlichen Gesicht, die er im Augenblick gut gebrauchen konnte. Denn weder wurde ihr herzliches Lächeln kleiner, wenn er es nicht erwiderte, noch machte sie irgendwelche Anstalten, ihn sonderbar anzusehen.

Dabei strahlte sie bis über beide Ohren, als könnte sie die ganze Welt umarmen. Sie musste wohl frisch verliebt sein. Ein Gefühl, dass er schon seit sehr langer Zeit nicht mehr kannte. Aber die Ausstrahlung wirkte auf jeden Fall positiv auf sein angeschlagenes Gemüt.

Man sah es Ryon zwar nicht an, aber im Inneren war er seit diesem grauenvollen Morgen total gereizt und mies drauf.

Gedanken wollten sich ihm bereits wieder aufdrängen. Jene von der Sorte, die ihn an allem zweifeln ließen: Warum tat er sich das noch an, wo doch schon längst nichts mehr Sinn ergab? Was nützte seine Anwesenheit der Welt noch?

Gut, da gab es die schwierigen Aufträge, die er gerade wegen des hohen Sterberisikos annahm. Aber es gab noch andere Jäger wie ihn. Was ihn ersetzbar machte.

Die elternlosen Kinder konnte er nur samstags besuchen, um ihnen eine Kleinigkeit zu spendieren und an den Festtagen spendete er dem Heim eine große Summe, damit sich jedes Kind über etwas Tolles freuen konnte. Aber würde Ryon nicht mehr leben, er könnte fast sein ganzes Vermögen den Kindern vermachen. Zwar konnte das keine liebevollen Eltern ersetzen, aber die stellte er ohnehin nicht dar. Er war eher so etwas wie der sonderbare große Bruder, den manche von ihnen nie hatten.

Und welche Anzahl an Menschen für die er noch eine Bedeutung hätte, blieb dann noch übrig?

Ryon starrte mit frostiger Miene in die schwarze Flüssigkeit in seiner Tasse.

Eigentlich trank er seinen Kaffee am liebsten mit viel Milch und drei Stück Zucker, aber wie so Vieles, hatte er auch diese Angewohnheit schon vor langer Zeit abgelegt.

„Bitte schön. Apfelkuchenspezial. Einen besseren werden Sie nirgendwo finden. Der geht übrigens aufs Haus.“

Die rotgelockte Kellnerin mit den hübschen Sommersprossen lächelte ihn strahlend an, als er den Kopf hob und den Blick erwiderte.

„Was auch immer es ist, wenn Sie den aufgegessen haben, wird alles nur noch halb so wild sein. Das ist ein persönliches Versprechen.“ Sie zwinkerte ihm noch zu, ehe sie mit beschwingtem Gang zu einem anderen Tisch ging.

Ryon schüttelte ganz leicht den Kopf. Er glaubte nicht an Wunder und trotzdem aß er auch noch den letzten Krümel des Kuchens auf, ehe er bezahlte und sich auf den Weg zur Stadtbibliothek begab.

Zwischen Zeilen und Worten würde er wenigstens für ein paar Stunden in eine völlig andere Realität abtauchen können.
 

***
 

Mit schräg gelegtem Kopf, zusammen gekniffenen Augen und unwirschem Gesichtsausdruck, kniete Paige vor der großen Holztür. Sie ließ sich auf die Fersen sinken und behielt dabei das Schlüsselloch im Blick. Der Dietrich hing noch schief daraus hervor, während Paige auf der Metallklammer herum kaute, die sie vor wenigen Augenblicken leicht genervt entfernt hatte.

„So funktioniert das nicht.“

Hier hatte sie es mit einem ganz anderen Kaliber als der einfachen Wohnungstür zu tun. Das war ihr schon auf den ersten Blick klar gewesen. Aber wenn sie an den Typen dachte, hatte sie es lieber zuerst mit filigranem Werkzeug als roher Gewalt versuchen wollen. Es war nicht ihre Art, Spuren zu hinterlassen und zu früh auf sich aufmerksam zu machen. Natürlich würde er den Diebstahl bemerken, wenn das Schmuckstück fehlte.

„Aber noch weiß ich nicht, ob du es hier aufbewahrst...“, murmelte sie leise vor sich hin, während die kleine Klammer nun zwischen ihren Finger wie bei einem Münztrick hin und her wanderte.

Sollte das Amulett nicht hier sein, wollte sie diesen blutrünstigen Muskelberg nicht unbedingt auf ihren Spuren wissen. Er war sicher niemand, der sich einen Einbruch in sein gut abgesichertes Reich so einfach gefallen ließ.

Wenn sie Zeichen ihrer Anwesenheit hinterließ, hatte sie ihn bestimmt am Arsch.

Mit einem theatralischen Seufzer lehnte sie sich wieder vor, zog den Dietrich aus der Tür und befühlte sie noch einmal mit den Fingern. Ihre dunklen Augen wanderten über die unebene Oberfläche, die leicht beschlagene Metallklinke und ruhten schließlich wieder auf dem Schlüsselloch.

Im Moment sah sie nur eine Möglichkeit in sein Reich einzudringen. Mal von dem Versuch abgesehen, sich an der Häuserfassade abzuseilen und durch ein Fenster einzusteigen.

Eine ihrer Augenbrauen tanzte bei diesem Einfall nach oben. Nein, selbst in der World Underneath würde eine Fassadenkletterin, die eine Scheibe eintrat, negativ auffallen. Wenn sie Pech hatte, würde man ihr sogar die Ordnungshüter auf den Leib hetzen. Das war ihr Eisschranks Seelenruhe auch nicht wert. Dann musste er eben damit fertig werden, dass man bei ihm herumgestöbert hatte.

Behutsam zog Paige jeden Finger ihres Handschuhs einzeln herunter und streifte dann den Stoff ganz von ihrer Haut. Bereits jetzt wirkte diese kantig und platzte an einigen Stellen auf. Es sah schmerzhaft aus, hatte aber lediglich den Grad eines entzündeten Mückenstichs. Bevor die kaminroten Schuppen hervorbrachen, juckte es schrecklich und Paige empfand es als wahre Erleichterung ihre Knochen und Gelenke unter der Hitzeentwicklung knacken zu hören. Ihre nun spitz zulaufenden, schwarzen Fingernägel berührten das Holz der Tür und brannten kreisrunde Löcher hinein.

Ohne besondere Mühe erreichten sie den Stahl, der ebenfalls nur kurz Widerstand leistete. Was sollte Metall bei Temperaturen eines Schweißbrenners auch anderes tun, als anfangen zu glühen, dann langsam nachzugeben, bis es sich verflüssigte und stinkend über den kühleren Rahmen der Tür ergoss.

Paiges Hand flammte noch immer, als sie gegen die dicke Tür trat, die geräuschlos nach innen aufschwang.

Mit einem Wink erlosch das Feuer und die Schuppen zogen sich bis unter ihren schwarzen Ärmel zurück, während das schiefe Grinsen in ihrem Gesicht haften blieb.

„Und das hier hütest du so bedächtig?“

Der Raum war nicht weniger karg als der Rest der Wohnung. Und auch nicht einladender. Gut, hier war nicht ein Körnchen Staub zu entdecken und alles roch nach dem Besitzer. Aber gemütlich war etwas anderes. Mal von dem riesigen Bett abgesehen, dessen Matratze Paige mit der Handfläche kurz einer Probe unterzog.

Nachdem sie eine Runde gedreht hatte, kehrte sie zur Mitte des Raumes zurück, stemmte die Fäuste in die Hüften und sah sich auffordernd um. „Also gut, Eisschrank, wo bewahrst du deine Klunker auf?“
 

Mit einem Aufschrei trat sie gegen das massive Bettgestell, was ihr zwar nichts weiter einbrachte als einen schmerzenden Zeh, sie aber dennoch ein wenig befriedigte.

Es war nicht hier.

Sie hatte alles auf den Kopf gestellt, war unter dem Bett herumgekrochen, hatte hinter jedes Möbelstück, unter den Teppich und auch im Bad nachgesehen. Nichts. Keine versteckten Safes, keine Nischen oder Kästchen. Nicht mal eine Pappschachtel im Kleiderschrank!

Von neuem sprengten Schuppen ihre Haut und überzogen Paiges Körper. Vor Wut wusste sie nicht wohin mit ihrer Energie. Noch einmal schrie sie auf, bevor sich ihre aufgestaute Aggression einen Ausweg suchte.

„Mist, verdammter!“

Hoffentlich war er blind. Und hatte seinen Geruchsinn verloren. Dann würde ihm der Brandgeruch nicht auffallen. Und der verkohlte Fleck an der Decke.

„Welcher Mann trägt so ein Scheißamulett auch mit sich rum?!“
 

***
 

Ryon wusste schon, dass etwas faul war, noch ehe er den Schlüssel zu seiner Wohnung ins Schloss steckte.

Es war nicht abgeschlossen.

Als er die Tür aufschwingen ließ, drang ihm stechend und beißend der Geruch von Verbranntem in die Nase, bis ihm fast die Augen tränten. Aber das war nicht alles, was in der Luft lag. Ein fremder Geruch erfüllte die Räume, die schon seit sehr langer Zeit nur noch er betreten hatte. Nur konnte er ihn durch den Brandgeruch nicht richtig zuordnen. Aber es war ohnehin klar, das definitiv jemand hier drin gewesen war.

Ohne nach den anderen Zimmern zu sehen, marschierte er lautlos auf sein Schlafzimmer zu. Seine Augen schienen noch schwärzer zu werden, als er sich vor der angelehnten Tür leicht in die Hocke begab, um zu sehen, wie der Einbrecher es fertig gebracht hatte, sie zu öffnen.

Das Metall des Schlosses war geschmolzen und hatte zum Teil auch das Holz angekokelt.

Inzwischen mussten schon einige Stunden vergangen sein, denn als er mit den Fingern darüber fuhr, spürte er nur Kälte. Der Stahl war bereits vollkommen ausgekühlt. Was vermutlich daraufhin wies, dass der Täter schon längst über alle Berge war.

Ryon richtete sich wieder auf und trat in sein Zimmer. Hier war der Gestank sogar noch stärker, da die Fenster geschlossen waren und der kleine Raum somit noch immer teilweise leicht erfüllt von Rauch war.

Er zwang sich zu einer flacheren Atmung, da der Geruch sich ätzend auf seine Nasenschleimhäute legte und seine überempfindlichen Geruchsnerven völlig überreizte. Trotzdem sah er sich in Ruhe um.

Das Bett war so, wie er es verlassen hatte. Als er die Schranktüren und Schubladen eine nach der anderen öffnete, schien auf den ersten Blick alles völlig normal. Doch er erkannte sofort, dass die Sachen durchwühlt worden waren. Unauffällig zwar, aber doch waren sie bewegt worden und tatsächlich fehlte auch alles, was irgendwie an Wert für jemanden hätte sein können.

Nachdem er noch einmal eine Runde durch seine ganze Wohnung gemacht und sich nach möglichen Spuren umgesehen hatte, blieb er schließlich direkt unter dem Brandfleck an der Decke stehen und starrte ihn mehrere Minuten lang reglos an.

Wer oder was auch immer hier eingebrochen war, war sicherlich kein normaler Mensch gewesen. Natürlich hätte man die Tür auch mit einem Schweißbrenner aufbrechen können, aber künstliches Feuer roch anders, als natürliches. Immerhin brauchte man dafür ein Gas, um es am Brennen zu halten. Das fehlte hier aber gänzlich.

Schließlich, als sein Kopf von den Dämpfen so sehr schmerzte, dass er kurz davor war, einfach umzufallen, verließ er die Wohnung. Die Mühe abzusperren machte er sich erst gar nicht. Wer schon so hartnäckig hatte hier herein kommen wollen, würde es wieder tun. Auch wenn Ryon sich nicht vorstellen konnte, dass die paar Wertsachen so wichtig gewesen sein könnten. Das war immerhin alles ersetzlich und dennoch, wer auch immer es gewagt hatte, mit dieser Art von Gewalt in sein Leben einzudringen, würde das noch bereuen. Niemand brach einfach so in sein Leben ein und kam ungestraft davon.

Doch erst einmal würde er sich ein Zimmer nehmen, seinen Schneider bedrängen und sich duschen. Er stank so sehr nach Rauch, dass er den Geruch sicher noch eine Weile nicht mehr aus der Nase bekam.

Das alleine wäre schon ein Grund, um handgreiflich zu werden. Von der Tatsache, dass er soeben seine Wohnung aufgegeben hatte, wollte er gar nicht erst sprechen. Denn obwohl man es ihm noch immer nicht ansah, kochte er innerlich so derartig vor Wut, wie schon seit langem nicht mehr und wenn er dafür nicht bald einen Katalysator fand, dann würde das sehr hässlich werden.

2. Kapitel

Diesmal war sie in einen dunkelbraunen Mantel gewickelt, der sie von Kopf bis Fuß einhüllte. Die Kapuze bis über die Augen hinunter gezogen, passierte sie die ersten Marktstände. Immer wieder schlugen ihr neue, manchmal undefinierbare Gerüche entgegen. Wesen aller Größen, Formen und Farben schoben sich über den kleinen Platz. Viele waren in schillernden Gewändern unterwegs, trugen ihren Schmuck trotz der zwielichtigen Umgebung zur Schau. An den spitzen Ohren, den hellgrünen Augen und den schmalen Mündern war ohnehin für jeden zu erkennen, dass mit diesen Leuten nicht zu spaßen war. Wer die Dunkelelben um ihr Gold bringen wollte, hatte es sofort mit deren Leibwachen zu tun.- Höllenfurien mit Reißzähnen und ätzendem Speichel, die alles zerfetzten, was ihnen zu nahe kam. Ob nun Dieb oder nur wehrloser, unschuldiger Zuschauer.

Paige beachtete die anderen Anwesenden, von denen viele dem gleichen Handwerk nachgingen wie sie selbst, überhaupt nicht. Sie würde sich noch früh genug mit ihnen auseinander setzen müssen. Spätestens wenn sie das verkaufen wollte, was sie in einem Beutel dicht an ihrem Körper trug, damit es ihr nicht zu früh abhanden kam.

Der Einbruch bei dem Eisschrank würde Ai und ihr zumindest ein ordentliches Abendessen einbringen. Und vielleicht sogar ein bisschen mehr als das.

An einem kleinen Stand mit einem roten Zeltdach, stand ein runzeliger Kobold auf einer Holzkiste und warf kleine Farbbeutel in einen brodelnden Topf. Bunte Funken stoben jedes Mal in die Luft und erhellten die Umgebung für wenige Momente.

Wofür er genau warb, wusste Paige nicht, dennoch blieb sie einen Augenblick lang stehen, um das Schauspiel zu verfolgen.

Sie hatte Zeit.

Auf dem Markt, der sich jedes Mal gebärdete wie ein sich überschlagender Ameisenhaufen, fühlte Paige sich sicher. Hier waren so viele Wesen, die ihr ohne mit der Wimper zu zucken, das Leben nehmen konnten, so dass es ihr unwahrscheinlich erschien, dass es tatsächlich passieren würde. Und selbst wenn man sie angriff, war dies hier der Ort, wo Paige ihrer rasenden Seite freien Lauf lassen konnte. Um sich zu verteidigen würde sie das ohne Zögern tun. Und niemand würde das auch nur mit einem schiefen Blick quittieren. Hier würde man die Ordnungshüter nicht einschalten. Die hatten sich aus gutem Grund seit der Entstehung des Marktes in der Gegend nicht mehr gezeigt.

Fast genau im Mittelpunkt des großen Platzes, zwischen einem Karren, an dem eine junge, kurvige Schlangendämonin Pilze und getrocknete Kräuter für Heil- und andere Tränke feilbot und einem Stand mit Socken für alle Gelegenheiten, fand Paige, was sie suchte. Vielmehr wen sie gesucht hatte.

Ein einfacher breiter Holztisch zeigte an, dass dieser Platz reserviert war. Geradewegs steuerte Paige darauf zu und blieb erst an die Kante des Gestells gelehnt stehen. Mit den Händen auf dem Tisch abgestützt, lehnte sie sich nach vorn und versuchte etwas im Schatten zu erkennen.

„K'rk?“

Scharren und leises Klappern war zu hören. Paige versuchte noch einmal, auf sich aufmerksam zu machen.

„Hey. Bist du da? K'rk!“

Das korrekte Raspeln des Anfangsbuchstabens gelang Paige auch nach all den Jahren noch nicht, aber ihre Stimme schien trotzdem dafür zu sorgen, dass sich etwas im Dunkeln bewegte.

Zuerst war nur etwas zu sehen, das wie ein verschnürter Jutesack aussah. Bis er sich einmal im Kreis gedreht hatte und zwei Vertiefungen zum Vorschein kamen. In ihnen leuchteten rote Punkte auf, die Paige ein schmales Lächeln entlockten.

„Ja, ja, ja, ich bin hier.“, erklang es unwirklich klar und jugendlich aus Richtung des Sacks.

Etwas entspannter lehnte sich Paige nun zurück und wartete geduldig, während ein Surren erklang und der grobe Sack schließlich mit einem dumpfen Geräusch auf dem Tisch landete.

„Ach, du bist's.“

Die roten Punkte leuchteten zu Paige hoch und schienen sie zu fixieren, obwohl man dem Stoff sonst keine Gesichtszüge ansehen konnte. Hätte Paige nicht gewusst, was sich in dem Sack verbarg und auch warum, nie hätte sie das Wesen vor ihr ernst genommen.

„Ja, ich bin's. Und ich bringe dir was Schönes.“

In ihrer flachen Hand sah die Krawattennadel nach nichts aus, aber in dieser Umgebung mit dem Dreck und den seltsamen Gestalten strahlte das Gold noch mehr als normalerweise.

„Oooooh.“

Die Stimme des Sacks war nun wirklich glockenhell und deutete durchaus die Natur des Wesens an, das sich vor der Welt versteckte. Es hüpfte näher und beugte sich über Paiges offene Hand, die sie sofort zurückzog.

„Na, nur angucken, nicht anfassen. Ich will Fünfzig dafür.“

„Fe...“

Der Sack hüpfte wieder zurück und eines der leuchtenden Augen war offensichtlich geschlossen worden, denn nichts mehr war in dem Stoff zu erkennen.

„Das war das Ding vielleicht mal wert, als es der Besitzer gekauft hat. Aber du kannst froh sein, dass ich dich mag und dir dreißig dafür gebe.“

Paiges Lippen pressten sich zu einem dünnen, blutlosen Strich zusammen. K'rk nannte sie, wie jeder, der mit Paige illegale Geschäfte machte bei diesem Kürzel. Zum ersten Mal hatte man sie wegen ihrer Aufmachung als Kellnerin so genannt. Paige hatte das gefallen und sie hatte sich nach einer Weile so vorgestellt, wenn Namen denn schon unbedingt notwendig wurden.

„Na gut, K'rk. Dann werd ich's einfach bei dem fetten Menschen am Eingang versuchen. Dank' dir trotzdem.“

Sie war keine zwei Schritte gegangen, als ein helles Pfeifen erklang, das sie zurückrief. Das Schmunzeln ließ sich nur mit Gewalt unterdrücken, während Paige wieder zu dem Tisch ging und sich darüber beugte.

„Hast du noch was anderes?“

Es bedurfte noch einiger Verhandlungen, bis sie ihre Beute für einen einigermaßen annehmbaren Preis losgeworden war. Lange nicht der, den das Zeug wert war. Immerhin legte der Eisschrank wohl Wert auf das Allerbeste und mochte echte Diamanten.

Das Geldbündel, das nun in ihrem BH steckte, hatte eine angenehme Größe und machte Paige das Herz leichter. In Gedanken dankte sie dem Kerl dafür, dass er Ai und ihr ein Essen mit Fleisch und Gemüse für mehrere Wochen ermöglichen würde. Vermutlich würde ihn das keinen Deut kümmern, aber er brauchte die Kohle nicht. Das war offensichtlich gewesen.
 

***
 

Exakt einundzwanzig Minuten nachdem er seine Wohnung verlassen hatte, betrat Ryon wieder das herunter gekommene Treppenhaus.

Er war frisch geduscht und zum Glück hatte er auch den Rauch von sich waschen können, obwohl dieser immer noch seinen Geruchssinn zu beeinflussen schien. Den Gestank würde er vermutlich noch eine ganze Weile nicht mehr aus seinem Gedächtnis bekommen. Was noch zu seinem Unmut hinzu kam, war die Tatsache, dass – so gut sein Schneider auch war – seine geforderten Sachen noch nicht fertig gewesen waren und er aus diesem Grund gerade in schwarzer Lederkluft herum lief, die eigentlich für irgendeinem Dämonen gewesen wäre, der wohl so viel herum metzelte, dass er sich für schwarzes Leder entschied, um leichter das Blut abzubekommen.

Ryon war kein Fan von Leder, aber in diesem Fall war er dem Dämonen ganz dankbar dafür. Die Sachen würden ihm seine Jagd etwas erleichtern, da er so weniger unter diesen ganzen Spukgestalten auffiel, als er es sonst tat. Obwohl er sich für Aufträge ohnehin immer anders kleidete,als in seiner Freizeit. Aber das war jetzt alles nicht wichtig.

Vor seiner Wohnungstür angekommen, blieb er einen Moment zögernd stehen, ehe er sie öffnete. Sich schon wieder dem Rauch auszusetzen, war eigentlich das Letzte, was er wollte, aber es musste sein. Immerhin war er nun sein eigener Auftraggeber und in genau diesem Moment begann er mit seiner Arbeit.

Die Luft am Boden war reiner und leichter einzuatmen, als die, die er sonst bei seiner Körpergröße gezwungen war, in sich aufzunehmen. Aber das war nicht der Grund, weshalb er auf dem Flurboden hockte.

Prüfend glitt sein Blick über die vielen Fußspuren in der dicken Staubschicht, die er aus eben diesen Gründen nie entfernt hatte. Man konnte nie wissen, wann Dreck einmal wirklich nützlich werden könnte.

In diesem Fall gaben die Spuren Ryon einigen Aufschluss. Bis auf die seinigen, sah er noch ein einziges weiteres Paar Fußabdrücke. Also lediglich ein Täter. Kleine Füße, leichter Tritt. Entweder ein kleiner, leichtgewichtiger Kerl oder noch schlimmer - eine Frau.

Das Geräusch der Tür, die hinter ihm ins Schloss einrastete, war so endgültig wie seine Entscheidung, diese Räume nie wieder zu betreten. Es war nicht das erste Mal, dass er so einfach den Wohnort wechselte, aber bisher war das immer seine eigene Entscheidung gewesen, nun war er aber regelrecht dazu gezwungen worden. Denn es konnte unmöglich nur ein kleiner Dieb gewesen sein, der bei ihm eingebrochen war, um die paar Wertgegenstände mitzunehmen, die er bei sich im Schrank gehabt hatte. Immerhin sah das Gebäude von außen wie die reinste Bruchbude aus. Wieso sollte sich also jemand so viel Mühe mit dem Knacken der Schlösser machen, wenn es ohnehin nicht sehr viel Beute versprach? Oder hatte gerade das Hindernis, das seine Schlafzimmertür dargestellt hatte, Misstrauen geweckt und doch nach einem reichen Gewinn ausgesehen?

So oder so. Ryon würde dem schon auf die Spur kommen. Denn es gingen im Treppenhaus so wenige Leute aus und ein, dass man meistens Tagelang niemanden sah oder hörte. Weshalb er mit aller Gewalt den Gestank aus seinem Gedächtnis verdammte und seinen Geruchssinn einmal für etwas Nützliches einsetzte.

Es roch nach Staub, Urin, Erbrochenem, schwach sogar nach Sex, Rattenkot, irgendetwas Vergammeltem und natürlich auch nach ihm, da er hier am Häufigsten unterwegs gewesen war. Aber da war auch der Geruch, den er ganz schwach in seiner Wohnung gewittert hatte, nur etwas stärker.

Lautlos folgte er der Spur die Treppe hinunter und blieb dann bei der Eingangstür stehen. Links davon lag eine Stelle, an der es sogar noch deutlicher nach der Person roch, die da bei ihm eingebrochen war. Aber das half ihm auch nicht weiter, also verließ er das Haus und folgte der immer mehr verblassenden Witterung, die vermutlich schon bald verschwunden sein würde, da viele andere Gerüche sie überlagerten. Doch je länger er diesen Geruch roch, umso tiefer prägte sich die Witterung in seinem Gedächtnis ein, bis sogar der Rauch daraus verdrängt wurde.

Bei einer kleinen Bank, wo er heute Morgen noch die alte Frau hatte sitzen und die Ratten füttern sehen, blieb er wieder stehen.

Ohne sich darum zu kümmern, was die Leute von seinem seltsamen Benehmen halten würden, ging er wieder in die Hocke und schnupperte an dem Holz.

Definitiv. Der Geruch gehörte zu der alten Schachtel. Verdammt und er war auch noch direkt an ihr vorbei gelaufen!

Mit abgehakten Schritten folgte er der Spur weiter, dieses Mal war er richtig sauer.

Eine alte Frau hatte ihn ausgeraubt! Das war selbst hier, wo sich hinter einem alten faltigen Weib immer noch etwas sehr Gefährliches verbergen konnte, absolut lächerlich. Was war er denn? Ein Amateur, der sich nicht zu helfen wusste, wenn es um seine Schlafstätte ging?

Immer mehr beschleunigte die Wut seinen Gang, bis der Saum des schwarzen Ledermantels regelrecht hinter ihm her flatterte.

Ryons Gesicht war noch immer wie blank gewischt, aber er strahlte eine Aura aus, die den sofortigen Tod versprach, für all jene, die sich ihm in den Weg stellen sollten.

Schließlich verlor er die Spur an dem einzigen Ort, wo er einen Dieb mit frischer Beute zuerst gesucht hätte – auf dem Markt.

Das würde eine lange Nacht werden, aber er hatte Zeit und Geduld. Irgendetwas oder irgendjemand würde ihm schon eine weitere Spur aufzeigen, die zu der Diebin führte. Es gab immer kleine Puzzlestücke. Man musste nur wissen, wo man suchen musste.
 

***
 

Beschwingt und bester Laune strich Paige noch eine Weile auf dem Markt herum, sah sich Stoffe und Kräuter an, die sie zum Winter hin gebrauchen konnte und sprach mit ein paar wenigen Individuen, die sie als Bekannte bezeichnen würde.

'Fe' war in guten Zeiten immerhin regelmäßig hier. Das war für Paige nicht unbedingt gut, denn die Tatsache, dass man sie erkannte, bedeutete auch, dass man sie verraten konnte. An wen auch immer. Aber soweit sie wusste, war kein Kopfgeld auf sie ausgesetzt. Dafür war sie ein viel zu kleiner Fisch, der sich mit viel zu leichten Jobs abgab. Würde sie sich nur für sich selbst verantwortlich fühlen, wäre das sicher anders. Ihre Haut würde sie bei lohnenden Einbrüchen sehr wohl riskieren. Aber sie hatte nicht nur sich selbst zu ernähren.

Genau aus diesem Grund schlenderte Paige zu einem Stand, der Holzspielzeug in phantastisch bunten Farben anbot. Ihre Finger glitten über eine kleine runde Holzmaus, mit einem Schwanz aus Leder und dazu passenden Ohren. Das Spielzeug leuchtete in dunklem Lila von dem die gelben Ohren und der Schwanz sich lustig absetzten.

„Die würde Ai sicher gefallen. Und egal, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird...“ Mitten in ihrem Selbstgespräch hielt sie inne, als sie den Blick des Verkäufers bemerkte.

Der Alte war normalerweise sehr redselig, wenn auch nur über Themen, die ihn selbst betrafen. Daher kam Paige gut mit ihm aus. Aber heute war er seltsam still und sein Blick hing irgendwo in der Ferne. Allerdings auf eine Art, die vermuten ließ, dass er nicht nur in Gedanken versunken war.

Darauf bedacht, dass so wenig wie möglich von ihrem Gesicht unter der Kapuze zu sehen war, drehte sie sich langsam um. Die Holzmaus legte sie in den Weidenkorb zu den anderen Spielsachen zurück. Ihre Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, während sie den Abschnitt des Marktes absuchte, den der Alte so interessiert musterte.

Sie erstarrte.

Der Kerl musste sich noch nicht einmal durch die Menge kämpfen. Jeder, der den in schwarzes Leder gekleideten Riesen sah, ging automatisch aus reinem Selbsterhaltungstrieb aus dem Weg.

Paiges Herz machte einen entsetzten Sprung. Er konnte sie noch nicht gesehen haben. Dafür war sie zu weit entfernt und außerdem war er ihr noch nie begegnet. Vielleicht war es reiner Zufall, dass er hier war.

Was tun?

Sie konnte rennen. Aber dann würde sie seine Aufmerksamkeit bestimmt auf sich ziehen.

Einfach stehen bleiben und so tun, als wenn nichts wäre?

Ein eisiges Kribbeln, das bei seinem Anblick ihren Körper entlang in ihre Schuhe floss, machte ihr klar, dass sie das nicht durchhalten würde. Sie wusste nicht, was er war, aber Paige war sich sicher, dass er Angst würde riechen können.

Also blieb ihr nur übrig, sich so langsam und unauffällig wie möglich zu verdrücken.

Mit klopfendem Herzen und kleinen Schweißperlen auf der Stirn, machte sie sich durch die Menge auf den Weg zum Ausgang des großen Platzes. Ohne es zu wollen, wurde sie schneller, je näher sie ihrem vermeintlichen Entrinnen kam. Nur noch ein paar Meter, dann war sie raus aus diesem Hexenkessel, der für sie zur Falle werden könnte. Bloß noch ein paar Schritte...
 

Es war wie die Suche nach einer Nadel im Heuhaufen, doch schließlich fand Ryon den Anhaltspunkt, den er gesucht hatte. Eine frische Witterung an einem der Marktstände für eher ganz gewöhnliche Dinge. Essen, Kleidung, Schmuckstücke…

Die Spur schien zwar sprunghaft aber relativ zielstrebig weiter zu verlaufen. An manchen Ständen war die Diebin nur vorüber gegangen, bei anderen hatte sie sogar Sachen angesehen und angefasst, so dass er den Geruch noch stärker riechen konnte.

Die Warenbesitzer, an denen er vorbei kam, zuckten buchstäblich vor ihm zurück, wenn er etwas von ihrem Stand in die Hand nahm und daran roch. Vermutlich hätten sie ihn noch nicht einmal aufgehalten, wenn er die Sachen einfach eingesteckt hätte, ohne zu bezahlen, aber er legte sie so schnell wieder zurück, wie er sie genommen hatte. Immerhin durfte er keine Zeit verlieren.

Er war ihr schon ganz dicht auf den Fersen, er fühlte es und dennoch schien die Witterung einfach kein Ende zu nehmen.

Inzwischen hatte er schon mehr als die Hälfte des Marktes durchquert und würde bald den Ausgang erreichen. Vermutlich war die Diebin schon längst weg, aber so flink sie auch sein mochte, ihre Spuren konnte sie nicht mehr verwischen. Dafür war er zu sehr darauf trainiert, sich alleine auf seine Nase zu verlassen. Vermischt mit der Intelligenz eines Menschen, der sich nicht leicht austricksen ließ, konnte man ihm kaum noch entkommen.

Schließlich kam Ryon an einem Stand an, der Holzspielzeug feilbot.

Zielsicher griff er nach dem Gegenstand, den auch die Diebin in der Hand gehabt hatte. Es war eine kleine hölzerne Spielzeugmaus mit ledernem Rattenschwanz. Das Holz war fein gearbeitet und so abgeschliffen, dass es sich weich unter seinen Fingern anfühlte. Perfekt für kleine Kinderhände, die sich so an keinem Holzsplitter verletzen konnten. Außerdem waren die Farben gut gewählt.

Länger als nötig, hielt er die Maus in der Hand, während sich der Standbesitzer beinahe vor Angst in die Hosen machte, aber Ryon beachtete ihn gar nicht. Stattdessen strich er der Maus noch einmal über den Rücken, als müsse er sich das Gefühl einprägen, ehe er sie wieder zurücklegte und weiter zog. Langsamer und etwas abgelenkt, weshalb er auch nicht sofort begriff, dass die Witterung von den vielen Wesen, die sich hier tummelten, immer mehr verwischt wurde, da sie auf den Ausgang hin führte und somit nichts mehr angefasst worden war. Die Diebin drohte ihm zu entkommen, doch nur dem Anschein nach.

Denn anstatt nun ebenfalls den großen Ausgang zu nehmen, in dem ständig jemand ein und ausging und das in großer Anzahl, verließ Ryon auf verzweigten Wegen den Markt, aber in die Richtung, in welche die Diebin gegangen sein musste.

Fast in einem riesigen Zickzackmuster ging er voran, um immer im Verborgenen zu bleiben, aber wenn sich ein sicherer Moment ergab, konnte er durch das Überqueren der Straße immer wieder die Witterung erneut aufnehmen, um so die Richtung zu ergründen, bis er schließlich eine verhüllte Gestalt in fast dreihundert Metern Entfernung erblickte.

Er hätte ohne mit der Wimper zu zucken sein ganzes Vermögen darauf verwettet, dass das die Diebin war. Allerdings bewegte sie sich ganz schön geschmeidig für eine alte Lady und sie sah auch weit nicht mehr so aus, wie die gekrümmte Gestalt auf der Bank. Der Gang war zwar leicht geduckt und wachsam, aber dennoch aufgerichtet.

Hätte er sich nicht vollkommen auf seinen Geruchssinn verlassen, er hätte Zweifel daran gehabt, dass das die Person war, die er suchte. So aber drehte er den Spieß um.

Statt das Opfer zu sein, wurde er nun zum Jäger.

Unauffällig versteckte er sich immer wieder lautlos in den vielen sich bietenden Schatten und Winkeln, um der Frau zu folgen. Wo auch immer sie hin ging, sie war zwar vorsichtig, schien aber noch nicht begriffen zu haben, dass er ihr bereits dicht auf den Fersen war. Wenn er Glück hatte, würde sie ihn direkt in ihre eigene Wohnstätte führen. Oder zumindest an einen Ort, wo sie glaubte, sicher zu sein. So wie er es geglaubt hatte.

Was auch immer diese Frau für Beweggründe gehabt haben mochte gerade bei ihm einzubrechen, noch bevor der Morgen graute, würde er es herausfinden. Da war er sich sicher.
 

Paige fühlte ein Knistern in ihrem Nacken. Sie sah ihn nicht, aber das Ungute Gefühl konnte sie nicht trügen. Er hatte sie vermutlich schon im Blick.

Entgegen jeglichen Fluchtreflexes verlangsamte sie ihre Schritte und überlegte. Auch wenn sie nicht das Gefühl gehabt hätte, sie könnte schon bald seinen Atem im Nacken spüren, wäre sie jetzt nie in Richtung ihres Zuhauses gelaufen. Sie hatte ihn auf dem Markt gesehen. Niemals würde Paige riskieren, dass er bei ihr eindrang und Ai gefährlich werden konnte.

An der nächsten Kreuzung bog sie in eine der dunklen Nebenstraßen ab und sah sich um. Ihr Blick fiel nach kaum zehn Schritten auf das, was sie suchte.

Bevor sie den Markt je betreten, geschweige denn dort etwas ver- oder gekauft hatte, hatte Paige die Umgebung unter die Lupe genommen. Natürlich nicht zuletzt, um sich wenn nötig schnell verstecken zu können.

An Flucht war in dieser Lage kaum noch zu denken. Es hatte nur noch mit Glück zu tun, wenn sie ihm nicht schon in wenigen Augenblicken gegenüber stand.

Aber leicht würde sie es dem Eisschrank auch nicht machen. Immerhin hatte sie den Vorteil, dass sie ihren Gegner - denn als solchen musste auch er sich ihr gegenüber sehen - ein wenig kannte.

Es mochte für ihn meistens das Züngelchen an der Waage zum Erfolg sein, dass er sich vor Muskelkraft kaum noch bewegen konnte. Selbst dadurch war er nicht gerade langsam. Aber er war in bestimmten Situationen dadurch eingeschränkt.

Vielleicht etwas, das Paige Überlegenheit brachte und ihr – zumindest für den Moment – das Leben retten konnte.

Sie hatte den Spalt in der Mauer erreicht. Hier war zu Zeiten, als alles tatsächlich noch für die Kanalisation genutzt worden war, ein Rohr geplatzt. Das Wasser hatte sich seinen Weg ohne Rücksicht durch das Erdreich und schließlich in den Tunnel hinein gegraben. Aus dem Ziegelwerk war ein Stück heraus gesprengt worden, das nun Fledermäuse, Ratten und anderes Getier beheimatete.

Der Spalt war unten so breit, dass er als Abstellplatz für Müllcontainer und Ähnliches verwendet wurde. Zur Decke hin, die immer über der World Underneath lagerte, die so zu sagen deren düsteren Himmel darstellte und sie von der Oberwelt trennte, wurde der Riss schmaler.

Mit einem Sprung landete Paige auf dem Metalldeckel eines Müllcontainers, streckte die Arme nach oben und griff in die spröde Wand.

Wären die Schuppen nicht gewesen, die sich rau durch ihre menschliche Haut stachen, wäre sie wahrscheinlich einfach abgerutscht. So konnte sie sich Stück für Stück in den pechschwarzen Spalt hineinziehen.

Etwas Weiches streifte kurz ihr Gesicht, verschwand dann aber mit dem schabenden Geräusch von kleinen Füßen in der Düsternis. Paige würgte einen Aufschrei hinunter und kletterte weiter. Immer höher, bis sie beide Seiten des Erdreichs an ihrem Körper spüren konnte.

Sie war fast eingeklemmt und konnte nicht weiter. Aber hier würde sie der Kerl auf keinen Fall erreichen.

Sollte er sich nur annähernd so weit vorwagen, könnte sie ihm immer noch ein flammendes Inferno entgegen werfen. Auf keinen Fall würde sie kampflos aufgeben.

Doch noch hatte sie die Hoffnung nicht aufgegeben, dass er sie hier nicht finden würde. Es stank nach Rattenkot, Fledermäusen und Kadavern. Selbst wenn sie Pech hatte und er ein Wandler war, würden die üblen Gerüche, die ihr die Galle in den Hals steigen ließen, ihren eigenen Körpergeruch bestimmt überdecken.
 

Er ließ sie nur noch in den wenigen Momenten aus den Augen, wenn ihm keine andere Wahl mehr blieb, da er sich verstecken musste, um nicht gesehen zu werden. Dennoch hörte er ihre leisen Schritte auf dem schmutzigen Stein.

Inzwischen war Ryon ihr so nahe gekommen, dass er sie mit ein paar Sätzen locker hätte erreichen können, doch er wollte sie nicht schon jetzt aufhalten, wo sie ihn doch irgendwo hin führen könnte.

Als er ihr jedoch in eine der Seitenstraßen folgte, war klar, dass sie seine Verfolgung bemerkt hatte. Sie würde sich also nur noch um Schadensbegrenzung bemühen, in dem sie versuchte, ihm zu entkommen. Was ihr aber nicht gelingen würde. Denn auch ihr musste das klar geworden sein. Wieso sonst sollte sie sich schließlich in einem Spalt verkriechen, wo es so penetrant stank, dass sie selbst mit mehren Flaschen Duschgel und viel heißem Wasser, den Geruch nur noch schwer los werden würde?

Manchmal war das doch alles wirklich nur noch reine Drecksarbeit. Im wahrsten Sinne des Wortes. Denn er sah noch, wie ihr Fuß in der dunklen Nische mit den Müllcontainern verschwand, als er lautlos näher kam.

Sie schien irgendwie nach oben zu kriechen, so wie es sich für sein feines Gehör anhörte, doch dann war mit einem Mal alles still. Entweder hatte sie es trotz seines scharfen Gehörs geschafft, zu entkommen, oder es ging dort nicht weiter, wo sie hin geklettert war.

Nach der Lage zu urteilen, tippte Ryon eher auf Letzteres.

Sie saß in der Falle. Er konnte ihr zwar nicht nachkommen, da er im Gegensatz zu ihr keine zierliche Frau war, aber er hatte andere nützliche Eigenschaften und bis sie sich nicht freiwillig stellte, würde er auch sicherlich keine fairen Mittel verwenden, um ihr entgegen zu kommen. Dennoch hielt er für einen Moment überlegend inne.

Eigentlich könnte er einfach gehen und sich eine neue Unterkunft suchen. Eine, in der die Diebin ihn nicht noch einmal finden würde und bestimmt hatte sie auch nicht vor, noch einmal bei ihm einzubrechen. Zumindest nicht, wenn sie es nicht ganz speziell auf ihn abgesehen hatte.

Leider konnte er das nicht mit absoluter Bestimmtheit sagen, immerhin wäre sie nicht die erste Person, die ihn aus einem ganz bestimmten Grund ausrauben wollte.

Weshalb Ryon schließlich an die Wand heran trat und mit den Händen den brüchigen Stein befühlte.

Er würde absolut sicher gehen müssen und die Frau einfach fragen, um was es ihr wirklich ging. Je nach Antwort könnte er sie einfach gehen lassen. Oder auch nicht.

Der Stein unter seinen Fingerspitzen war immer noch stabil, aber nicht unbedingt so dick, dass es ein Hindernis darstellen würde. Dennoch stellte er sich schon einmal auf Schmerzen ein.

Ohne zu zögern fuhr Ryon seine Krallen aus, die lang, scharf und leicht gekrümmt waren und somit idealen Halt an der rauen Wand boten.

Mit einem Satz sprang er ein gutes Stück seitlich des Spalts die Wand hoch und schlug seine Krallen in den Stein, um sich daran hochzuziehen.

Seine Füße hatten zwar nichts, wo sie sich halten konnten, da es kaum Hervorhebungen gab, die groß genug dafür gewesen wären, doch seine Arme waren stark genug, um sein Gewicht tragen zu können, weshalb er innerhalb von Sekunden bei der Stelle ankam, an der sich ungefähr die Frau aufhalten musste.

Er lauschte mit angehaltenem Atem und einem Ohr gegen die Wand gepresst und wurde nicht enttäuscht.

Ein Herzschlag, der viel schneller als sein eigener war, war zu hören und auch noch andere Anzeichen von Leben hinter diesem Stein.
 

Obwohl sie ihre Atmung so flach wie möglich hielt und sich den weiten Kragen des Umhangs bis über die Nase hochzog, musste Paige immer wieder würgen. Der Gestank der abgelagerten Exkremente, die Luft, die sich keinen Millimeter bewegte, das alles ließ ihr den Schweiß ausbrechen und sie hatte das Gefühl, bald das Bewusstsein zu verlieren. Zuerst wäre aber ihre Beherrschung an der Reihe.

Wenn sie etwas hasste, dann war es Angst zu haben. Und dieser Kerl verursachte ihr regelrechte Panik!

Sie hatte gesehen, was er mit dem Dämon im Käfig angestellt hatte. Der andere Mann hatte seinen Tod noch nicht einmal kommen sehen.

Als sie ein wenig ätzende Magensäure sogar schon im Hals spüren konnte, dachte sie daran, dass der Dämon es vielleicht besser gehabt hatte. Doch dann sah sie die Bilder wieder vor sich und ihr wurde klar, dass die Verletzung, die Eisschrank ihm zugefügt hatte, das Ableben des Gegners in die Länge gezogen hatte. Es war ein fairer Kampf gewesen, aber der Typ kannte keine Gnade.

Und plötzlich fiel es Paige wie Schuppen von den Augen. Die ganze Zeit hatte sie immer wieder darüber nachgedacht, was dem Kerl fehlte. Was ihn zu nichts in seinem Leben wirklich passen ließ, auch wenn er die Masken seines Alltags noch so gut überstreifte. In diesem Kerl war kein Funke von dem, was man allgemein als Menschlichkeit bezeichnete.

Paiges Herz schlug auf einmal so schnell und laut, dass es die Fledermäuse in ihrer Nähe dazu brachte, etwas in ihrem Schlaf gestört mit den Flügeln zu schlagen. Er würde sie definitiv umbringen. Und noch dazu würde er das Monster in seinem Inneren befriedigen und es langsam und qualvoll tun.

Sie hörte lautes Scharren an der Außenseite der Mauer, was ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. Es war nicht allein das Geräusch, das an Fingernägel auf einer Schiefertafel erinnerte, sondern die Tatsache, dass es lauter wurde.

Er kam näher.

Paige war wie gelähmt, als sich der winzige Strahl Licht, der durch den Spalt neben ihr fiel, auf einmal abgeschnitten wurde. Sie befand sich in völliger Dunkelheit. Was blieb ihr anderes übrig?

Sie machte sich darauf gefasst, dass sie sich verletzen würde, aber das war immer noch besser, als ihm in die Hände zu fallen.
 

Ryon ließ keine unnötige Sekunde verstreichen, ehe er eine Hand von der Wand löste, die Krallen einfuhr und zu einer Faust ballte.

Am Ende entschied er sich dafür, nicht genau auf den Körper der Frau zu zielen, der sich direkt hinter der Mauer und dem Riss befinden musste, sondern ein Stück darüber. Was zwei Dinge bewirkte, als er seine Faust in die Wand rammte.

Erstens lösten sich Unmengen von Gestein und der ganze Riss wurde mit einem Mal regelrecht zu einem breiten Schlund, so dass er fast den Halt zu verlieren drohte und zweitens brach er sich mehrere Fingerknöchel an dieser Hand, da der Stein an der Stelle noch solider und dicker gewesen war, als dort, wo sich die Frau befunden hatte.

Trotzdem fasste er mit seiner Hand in die dunkle und sehr viel breiter gewordene Nische, um die weibliche Ratte aus dem Loch zu ziehen.

Am Kragen ihres Umhangs baumelnd, hielt er sie mitten in der Luft.

„Eine falsche Bewegung und ich lasse los.“, drohte er aalglatt, sich dabei bewusst, dass ein Sturz aus dieser Höhe sie nicht umbringen würde. Nicht, wenn sie kein Mensch war. Aber es wäre ihm auch egal. Der pochende Schmerz in seiner Hand gab ihm jedes Recht dazu, sie fallen zu lassen. Immerhin hatte sie sich selbst in diese Lage gebracht.

Aber es wäre trotzdem schade. Ein paar Antworten wären sehr nützlich, für das nächste Mal wenn jemand bei ihm einbrechen wollte.
 

Gerade als ihre Finger sich vom Stein lösten und sie anfing nach unten zu rutschen, explodierte die Felswand über ihr. Steinsplitter rieselten auf die Kapuze ihres Umhangs, während Paige instinktiv den Kopf einzog und sich nun doch wieder irgendwo festkrallte.

Eine riesige Hand mit blutenden Knöcheln griff nach ihr, erwischte ihren Kragen und zog sie unaufhaltsam aus ihrem Versteck. Für einen Moment kniff sie die Augen zusammen und bereitete sich auf den Fall vor. Es würde verdammt lange dauern, bis sie unten aufschlug. Gemessen an der Zeit eines Atemzugs. Sie würde Zeit haben die Augen zu öffnen und den Boden auf sich zurasen zu sehen...

Aber noch stürzte sie nicht.

Seine Drohung traf auf momentan taube Ohren, bis Paige am ganzen Leib die Schuppen ihrer verborgenen Existenz hervor brechen fühlte. Schwarze Flächen, die ein natürliches Muster bildeten, wären zu sehen gewesen, hätte die Kleidung ihren Rücken nicht verborgen.

Mit ihren schwarzen, nadelspitzen Nägeln krallte sie sich an dem Arm fest, der sie wie ein Stahlträger über dem Abgrund hielt. Noch hing ihr die Kapuze tief im Gesicht, aber dennoch konnte sie zum ersten Mal seine Augen richtig sehen. Ihre leicht geöffneten Lippen formten stumm ein paar Worte.

Was bist du?

Der Schock währte nur kurz und für einen Augenblick war Paige froh, dass sie aus der Felsspalte heraus war. Immerhin konnte sie hier ohne Probleme und Brechreiz atmen.

Mit frei baumelnden Füßen und Schmerzen im Nacken, da beinahe ihr gesamtes Gewicht von dem Stoff ihres Umhangs dort gehalten wurde, versuchte sie zu denken. Gegen die Panik anzukämpfen, die sich logischerweise durch ihren Körper arbeitete. Mit ihrer gespaltenen, dunklen Zunge leckte sich Paige über die Lippen.

Er würde sie ohnehin fallen lassen. Es gab überhaupt keinen Ausweg. Was sollte er sonst tun? Mit einer Hand hinunter klettern? Sicher nicht.

Was hatte sie also für Möglichkeiten? Ein Sturz aus dieser Höhe würde sie sicher nicht umbringen. Aber es würde sie ohne Zweifel einiges kosten und dann wäre sie nicht mehr fähig, sich zu verteidigen.

Ruhig und mit leicht zischendem Unterton sprach sie ihn das erste Mal direkt an. Es lag keinerlei Drohung in ihrer Stimme. Vielleicht konnte man den Ton eher als belustigt bezeichnen.

„Das hättest du lieber gleich tun sollen.“

Sein Arm war lang, doch die Überraschung war auf Paiges Seite, als sich ihre Finger glühend heiß in seine Muskeln krallten und sie sich an ihn heran zog.

Sie hingen beide immer noch direkt neben der Felsspalte. Wenn sie es schaffte ihn dazu zu bringen, sie loszulassen... Sie könnte die Wand erreichen, sich in das Loch ziehen und ihn vielleicht hinunter stoßen. Was immer er war, der Aufprall würde ihn hoffentlich darin unfähig machen, sie zu verfolgen.

Die Kapuze wurde nach hinten gerissen und legte ihr Gesicht frei, als sie sich mit voller Wucht auf ihn stürzte. Für einen Moment versuchte sie mit ihrem Körper so viel Fläche des seinen zu berühren wie möglich. Flammen züngelten auf ihrer Haut und sorgten dafür, dass ihr die Kleidung in verkohlten Fetzen vom Körper fiel. Sie würde völlig bloßgestellt aus dieser Begegnung herausgehen, aber besser nackt als tot.

Ihr Angriff und das Wegfallen des Stoffs bewirkte zumindest, dass sich sein Haltegriff löste. Paige konnte sich frei über seinen Körper hinweg zur Wand hangeln, während sie ihm einige Verbrennungen zufügte. Doch er gab nicht einen Laut von sich.

Wieder blitzte es durch ihren Kopf, als sie in seine toten Augen sah. Sie war ihm so nah, dass sie die goldenen Ringe um die riesige, matte Pupille erkennen konnte. Kurz zog sich ihr Feuer zurück, um dann weiter zu lodern.

„Was bist du?“
 

Ryon reagierte keinen Moment lang auf ihre Worte. Er hätte es auch nicht getan, wenn seine Hand plötzlich nicht eisigkalt geworden wäre. So aber begriff er langsam seinen Irrtum. Die Finger der Frau waren nicht arktisch kalt, sondern so glühend heiß, dass es nur noch schwer war, den Unterschied zu spüren.

Der Schmerz jedoch war relativ schnell zuzuordnen, vor allem als ihre Kleidung im wahrsten Sinne des Wortes in Flammen aufging und er sie beinahe aus Reflex los gelassen hätte. Man streckte grundsätzlich nicht die Hand ins Feuer.

Nun war Ryon eher damit beschäftigt, ihren lodernden Körper von sich wegzuhalten, da die Hitze ihm deutlich spürbar über die Haut seines Gesichts streichelte.

Sie hatte ihm dadurch seinen Halt an ihrem Kragen genommen und somit den Vorteil auf ihrer Seite, so dass er nicht die Möglichkeit bekam, erneut nach ihr zu greifen.

Sie war so heiß, dass es absolut kein Kompliment war, denn sie versengte ihm die Haut, dort wo die Lederkluft seinen Körper nicht schützen konnte. Was vorwiegend nur im Gesicht und am Hals und vor allem seine Hand betraf.

In diesem Augenblick war er dem Dämonen mehr als nur dankbar für die Klamotten. Seine eigenen, wären zusammen mit den ihren in Flammen aufgegangen und hätten im Gegensatz zu ihr, auch einen Großteil seiner Haut verbrannt.

Wie absurd war es daher doch, dass ausgerechnet sie ihn fragte, was er denn sei, während sie in die Felsnische zurück zu fliehen versuchte.

Ryon reagierte sofort.

Zwar hatte er starke Schmerzen und das nicht nur, wegen der Verbrennungen, die sich inzwischen durch kleine Blasen äußerten, wo es ihn am Stärksten erwischt hatte, dennoch holte er noch einmal mit seiner verletzten Hand aus, umschlang mit seinem Arm die Taille der Frau, wobei er sich noch mehr verbrannte und riss sie von der Wand weg, so dass auch er den Halt verlor.

Während sie fielen, drückte er sie so eng an seinen Körper, dass das Leder sich innerhalb eines Moments unangenehm stark aufheizte. Er ließ trotzdem nicht los, sondern schlug seine andere Hand wieder in die Wand, um mit seinen Krallen, ihre Geschwindigkeit abzubremsen.

Kurz vor Erreichen des Bodens löste er seine blutige Hand und kam schließlich sanft federnd auf den Füßen auf. Sofort ließ er die Frau los und wich ein paar Schritte zurück.

Das Leder auf seinem Körper war heiß, stank und qualmte leicht. Aber wenigstens war es nicht in Flammen aufgegangen.

Die Krallen seiner rechten Hand waren fast gänzlich abgenutzt, aber das kümmerte ihn im Moment am Wenigsten. Sie würden schon bald nachgewachsen sein, also fuhr er sie wieder ein.

Seine andere Hand hingegen, würde länger brauchen, um sich wieder zu erholen und auch ein Teil seines Gesichtes bis zum Hals hinab brannte wie die Hölle.

Die Diebin hatte es ganz schön in sich und nun, da er nicht gerade Gefahr lief, als Braten zu enden, hatte er die Gelegenheit, sie sich genau anzusehen.

Die Frau war definitiv nicht alt, was er nicht nur alleine an dem jungen Gesicht erkennen konnte, sondern auch an dem schlanken, straffen Körper.

Sie war fast völlig nackt und im Gegensatz zu ihm, schien das Feuer ihr überhaupt nichts ausgemacht zu haben, bis auf ihrer Kleidung natürlich.

Jetzt wusste er auch, wie sie die Tür zu seinem Schlafzimmer aufbekommen hatte und es erklärte zum Teil den großen Brandfleck an der Decke.

„Ich will nur zwei Dinge wissen. Warum bist du bei mir eingebrochen und was hast du gesucht?“

Er stand völlig reglos da, während sein Blick unverwandt auf die Frau gerichtet war. Eigentlich hatte er im Augenblick mehr das Bedürfnis sich in Schnee zu wälzen, bis das Brennen nachließ, doch er tat nichts dagegen. Die Zeit, um seine Verletzungen zu versorgen würde kommen. Bis dahin, hieß es geduldig zu sein. Allerdings wollte er der Frau nicht raten, ihn noch einmal anzugreifen. Das nächste Mal würde er nicht zögern, genau das zu tun, womit man Flammen umbrachte. - Man nahm ihnen den Sauerstoff.
 

Als er sie davon abhielt, in der Wand zu verschwinden und sie trotz der Flammen an seinen Körper presste, hatte bei Paige das Hirn aus- und die Instinkte eingesetzt. Obwohl sie mitbekam, dass sie beide für jähe Momente fielen und dann durch seine Aktion abgebremst wurden, wehrte sie sich mit Händen und Füßen dagegen, ihm nahe zu sein.

Sobald zumindest der Kerl festen Boden unter den Füßen hatte und sein Griff sich lockerte, sprang Paige nach hinten, um so viel Abstand wie irgend möglich zu ihm zu bekommen. Was allerdings aufgrund der beengten Verhältnisse in dem Gässchen nicht gerade weit war.

Immerhin stand sie nun mit dem Rücken zum Fluchtweg und Eisschrank war ihr nicht im Weg.

Wie hatte er ihren Angriff bloß so gut überstehen können? Wenn sie sich seine Verbrennungen an Hals und Gesicht und vor allem an seiner Hand, mit der er sie gehalten hatte, so ansah, musste er Qualen erleiden. Und dennoch blieb er völlig ruhig.

Endlich kam Paige zu der Erkenntnis, dass sie es mit einem Verrückten zu tun haben musste. Eine andere Lösung war gar nicht möglich. Wahrscheinlich überlegte er sich in seinem wahnsinnigen Gehirn, hinter den toten Augen gerade, wie er sie doch noch überwältigen und sie bei lebendigem Leibe fressen konnte.

Sie wich einen vorsichtigen Schritt zurück, blieb aber wie angewurzelt stehen, als er sie ansprach.

Seine Frage ließ zwei Gedanken in ihrem Hirn um die Vorherrschaft kämpfen. Als einer gewann, bewegte sich ihre Hand langsam und vorsichtig an ihren Brustkorb. Genauer gesagt dorthin, wo das Geldbündel bis vor ein paar Minuten noch in ihrem BH verborgen gewesen war.

Am liebsten hätte Paige losgeheult, als ihre Finger nur nackte, schuppig glatte Haut ertasteten. Es war alles umsonst gewesen.

Kurz trat ein gequälter Ausdruck auf ihr Gesicht, bevor sie ihre Augen wieder auf den Mann richtete. Ihre Lippen öffneten sich einen Spalt, während winzige Flämmchen in unbestimmten Bahnen über ihren Körper wanderten.

Als eines der letzten Stücke Stoff, die noch an ihr hafteten zu Boden segelten und die Augen des Mannes fast unmerklich zuckten, rannte Paige los.

Sie hatte nur eine halbe Sekunde und vielleicht fünf Meter Vorsprung. Was sie an Energie aufwenden konnte, ohne ihre Fluchtgeschwindigkeit zu reduzieren, steckte sie in das Feuer, das nun hoch lodernd ihren Körper einhüllte. Sie musste weg!
 

Während er auf eine Antwort wartete, betrachtete er sie weiter.

Sie war definitiv kein Mensch, sondern ähnelte mit dieser seltsamen Haut teilweise einem Reptil oder etwas in der Art. Ihr Körper war eindeutig der einer Frau, aber ihre Haut an einigen Stellen nun einmal nicht, wobei das zu schwanken schien. Genauso wie die Flämmchen, die über ihren Körper glitten.

Als dann schließlich auch noch ihre letzte Körperbedeckung fiel und er vor nackten Tatsachen stand, war ihm klar, dass er keine Antwort von ihr bekommen würde. Sie war lieber so dumm und probierte es noch einmal mit Flucht. Dass sie dabei wie ein Signalfeuer brannte, zog nur noch mehr Aufmerksamkeit auf sie, doch vermutlich war das einfach ein natürlicher Schutz von ihr.

Dennoch zog Ryon vorsichtig seinen Ledermantel aus, wobei er kurz die Augen schloss, als er den Ärmel über seine verletzte Hand streifte.

Würde er sich auch nur annähernd von seinen Gefühlen kontrollieren lassen, so wie es früher gewesen war, er hätte sich vor Schmerzen einen Moment lang gekrümmt, ehe er sie ihr auf seine Weise zurückgegeben hätte. Rache war schon immer etwas Schlimmes gewesen. Manchmal kam man nicht gegen dieses Gefühl an, aber im Augenblick verspürte er nicht den Drang danach.

Weshalb er schließlich mit dem Mantel in den Händen los lief, um die brennende Frau einzuholen.

Es war nicht nur seine Größe, die ihn schneller als sie machte, sondern auch das Wesen, das er in sich beherbergte. Weshalb er sie schon innerhalb von wenigen Augenblicken eingeholt hatte, obwohl sie wie der Teufel lief.

Dieses Mal war er auf ihr Feuer und die Hitze vorbereitet, weshalb er ihr den großen Mantel überwarf und sie zu Boden drückte, so dass das Leder sie vollkommen umhüllte.

Schnell streifte er mit seinen Händen über ihren Körper, um die Flammen zu ersticken. Es war zwar immer noch verdammt heiß, weshalb er sie so wenig wie möglich anfasste, aber ohne Sauerstoff gab es auch kein Feuer. Weshalb er schließlich etwas von dem Mantel zur Seite schob, um ihr ins Gesicht sehen zu können, während er sie immer noch unter sich fest hielt.

„Entweder du antwortest mir auf meine Fragen, oder ich suche uns einen anderen Ort zum Reden. Vielleicht bei einem Bad für dich in den Abwasserkanälen? Ich denke, das dürfte dich wieder etwas abkühlen.“

Wäre sie tatsächlich irgendein stinkender, kleiner mieser Dieb, er hätte die Antworten längst bekommen, in dem er ein paar Prügel verteilte. Aber gegen Frauen erhob er grundsätzlich nicht die Hand, es sei denn, es ging um Leben und Tod und sie hätten es wirklich verdient. Außerdem hatte er vorhin etwas im Gesicht der Diebin gelesen, was definitiv nicht zu einem hinterlistigen Wesen gehörte. Diese Frau hatte einen Moment lang so ausgesehen, als wäre sie kurz vorm Verzweifeln.
 

Dass er sie so schnell erwischen würde, hätte Paige wirklich nicht erwartet.

Sie strauchelte und fiel, als er den Mantel über sie warf und sich gleich oben drauf.

Wie eine Wildkatze in der Falle schlug sie um sich, riss mit ihren Fingernägeln an dem dicken Leder und trat nach seinem Körper, der sich irgendwo über ihr befinden musste. Dass seine großen Hände über dem Mantel ihren Körper entlang fuhren, ekelte sie mehr als der Dreck, in dem sie lag. Und zu allem Überfluss war es eine zugegeben schlaue Aktion von ihm gewesen.

Paiges Gesicht wäre rot angelaufen, wenn ihre Schuppen nicht bereits diese Farbe gehabt hätten. Sie bekam in ihrer selbst erzeugten Hitze unter dem Leder kaum noch Luft und sah mit aufgerissenen Augen, wie die Flammen sich zuerst verfärbten, dann kleiner wurden und schließlich erstickten.

Sie wand sich in ihrem kokonartigen Gefängnis auch noch, als er ihr den Stoff vom Kopf zog und auf sie hinunter blickte.

Mit klopfendem Herzen wurde ihr klar, dass ihr Wut auf seinen Zügen im Moment wesentlich lieber gewesen wäre. Mit Aggression konnte sie umgehen, auch mit Grausamkeit, aber dieser eisige Blick und die emotionslose Stimme, brachten sie vor lauter Angst fast um den Verstand.

Unwillkürlich schnellte ihre gespaltene Zunge zwischen ihren Lippen hervor und nahm seinen Körpergeruch als Geschmack auf. Selbst die Note von verbranntem Fleisch machte die Sache nicht besser. Noch immer konnte Paige nicht zuordnen, was sich in diesem Mann verbarg. Es war in diesem Moment auch völlig egal, denn seine menschliche Form reichte vollkommen aus, um sie fertig zu machen.

Warum sollte sie nicht verraten, was sie in seiner Wohnung gemacht hatte? Sie hatte immerhin keine Chance mehr, das Schmuckstück noch an sich zu bringen. Vielleicht ließ er sie mit dem Leben davonkommen, wenn sie ihm die Wahrheit sagte. Es war verdammt unwahrscheinlich, aber ein dünner Strohhalm, an den sie sich klammern konnte, war besser als nichts.

„Ich sollte das Amulett holen.“, gestand sie schließlich.
 

Ihre Zunge, die hervorschnellte als wäre sie eine Schlange oder Echse, war … merkwürdig. Ryon hätte nicht sagen können, ob er sie faszinierend, oder abstoßend fand. Auf jeden Fall war es ein Anblick, den man sicherlich nicht alle Tage zu sehen bekam. Selbst in seiner Branche nicht.

Als die Frau jedoch endlich sprach, war ihre seltsame Erscheinung mit einem Schlag vollkommen vergessen.

Ryons Augen blitzten für einen flüchtigen Augenblick lang mit einem strahlenden Gold auf, ehe sie sich vollkommen verdunkelten und er eine so kalte Ausstrahlung bekam, dass das Gemisch zwischen dieser Frau und ihm fast als angenehm bezeichnet werden konnte. Zumindest von der Temperatur her.

Er musste das Amulett nicht berühren, um es auf seiner Haut zu spüren. Wie immer war es angenehm kühl und schien nie seine überdurchschnittlich hohe Körperwärme anzunehmen. Aber warum sollte jemand es wollen bzw. wer konnte überhaupt wissen, dass er es besaß?

Bei den Kämpfen war es vielleicht ab und zuzusehen, wenn er sich mit freiem Oberkörper prügelte, aber Ryon bezweifelte, dass in diesen Augenblicken ein Schmuckstück interessant genug sein konnte, um Aufmerksamkeit zu erregen. Ansonsten trug er es immer unter seiner Kleidung. Seit Jahren.

„Wem sollst du es bringen?“, fragte er nach, während er sich etwas näher zu ihr beugte, um ihr fordernd in die Augen zu sehen.

Sein Griff wurde fester und nachdrücklicher.

Das Amulett war bei ihm ein Thema, das man besser verschwieg, als es anzusprechen und das würde der Diebin auch sicherlich nicht entgangen sein.

„Ich rate dir, mir alles darüber zu sagen, was du weißt. Ansonsten wird’s hier gleich ganz schön ungemütlich.“ Beziehungsweise er würde ganz schön ungemütlich werden.

Ob sie ihm nun mit Stichflammen die Haut vom Leibe brannte, oder ihn immer wieder schlug und auf ihn ein prügelte, das wäre ihm egal. Für diese Antwort würde er sich sogar umbringen lassen.

Diese Frau hatte ja keine Ahnung, was das Amulett für ihn bedeutete und dass er dafür töten würde, um es zu beschützen. Sie konnte froh sein, dass sie nicht versucht hatte, es ihm abzunehmen.

Das mit dem Einbruch war nicht weiter schlimm, im Vergleich dazu, wenn sie es ihm vom Leib gestohlen hätte. Wobei das ohnehin nicht wirklich möglich war.

Es gab immerhin nur zwei Möglichkeiten, es ihm abzunehmen. Entweder nahm er es selbst ab oder man enthauptete ihn. Alles andere wäre sinnlos. Die Kette an der das Amulett hing, war mit Magie verstärkt. Ein Geschenk von…

Ryons Blick traf den der seltsamen Frau, woraufhin er sie mit einem nachdrücklichen Ruck los ließ, damit sie aufstehen konnte.
 

Sofort als sich seine Augen blitzartig veränderten, um dann nur noch matter und kälter zu werden, war Paige klar, dass sie einen Fehler begangen hatte.

Sie hatte sich in nur noch größere Schwierigkeiten hinein manövriert, indem sie ihm geantwortet hatte. Auch wenn sie sich sicher gewesen war, dass sie sowieso nur dem Tod ins Auge blicken konnte.

So wie der Kerl allerdings jetzt wirkte, würde sie sich wahrscheinlich auf schlimmere Dinge, als den Tod gefasst machen müssen.

Bei seiner Frage spürte Paige seine Hände fester auf ihren Schultern und das unnachgiebige Leder wurde so straff gezogen, dass es ihr in den Hals schnitt. Kieselsteine, Scherben und undefinierbarer Dreck knirschten unter ihrer Haut, als sie sich in eine Position wand, in der sie zumindest einigermaßen weiter atmen konnte. Außerdem versuchte sie dem Blick dieser seltsamen Augen zu entgehen.

Einen Moment wunderte sie sich beträchtlich, dass er ihr bis jetzt noch nicht wirklich wehgetan hatte. Die nächste Drohung traf sie zwar noch, aber wesentlich weniger, als es wohl beabsichtigt gewesen war. Zu allem Überfluss ließ er sie auch noch los und behielt sie nur im Auge, während sich Paige flink aufrappelte.

Den dunklen Mantel behielt sie kurz einfach in der Hand. Ihr machte ihre Nacktheit in diesem Zustand ihres Körpers absolut nichts aus. Die Schuppen fühlten sich mit ihrer Konsistenz fast so an, als würde sie nicht nur Kleidung, sondern eine Art Rüstung tragen. Auch wenn sie sich unter ihrer menschlichen Haut bewegte und immer nur Teile davon überzogen.

Den Kopf leicht gesenkt, starrte sie unter ihren lange Wimpern zu ihm hinüber. Was war das nun? Eine Pattsituation? Nicht wirklich, denn sie war immer noch eindeutig im Nachteil. Sie konnte nicht fliehen. Also blieben nur zwei Optionen offen: angreifen oder reden.

„Ich nehme an, dass sich die Frage, ob du mich gehen lassen wirst, gar nicht stellt.“

Ihre Finger hielten den Mantel nur noch sehr lose. Sie würde ihn nicht brauchen.

„Immerhin fackelst du mit keinem Gegner lange...“

Ob ihn diese Aussage verwirrte, konnte Paige nicht feststellen. Inzwischen versuchte sie allein an seinen Augen eine Reaktion zu erkennen. Der Rest seines Körpers schien von ihnen völlig getrennt zu sein.

„Glaub mir, wenn ich damit meinen Tod beschleunigen und weniger schmerzhaft machen könnte ... ich würde dir zu gern antworten.“

Sie konnte gar nicht mehr feststellen, ob ihr Herz raste oder aufgehört hatte zu schlagen. Es schien in diesem Augenblick überhaupt keinen Unterschied mehr zu machen.

Bei den Worten, die aus einer fernen Erinnerung in ihr Bewusstsein drangen, musste sie beinahe lachen. Ihre Natur würde sie noch einmal auf grausame Weise das Leben kosten...

„Ich kenne meinen Auftraggeber nicht.“

Unentschlossen, auf was sie sich nun vorbereiten sollte, suchte Paige mit den bloßen Füßen festeren Tritt und spannte die Muskeln an. Wieder wanderten winzige, blaue Flammen in Mustern über ihren Körper. Leicht würde sie es ihm nicht machen.
 

Sie wusste nichts. Das glaubte er ihr.

Nicht etwa, weil sie es sagte, sondern weil sie nicht nach Lügen roch. Viel eher war sie zu allem bereit, selbst wenn der Geruch der Angst immer noch deutlich an ihr hing.

Aber offenbar schien sie wohl fest damit zu rechnen, dass er sie einfach umbringen würde.

Würde sie noch einmal versuchen, ihm das Amulett abzunehmen, täte er es, ohne mit der Wimper zu zucken. So aber wurde sie mehr und mehr gänzlich uninteressant. Zumindest was Informationen anging. Der Rest, nun ja.

Ryon hatte nicht so viele nackte Frauen in seinem Leben gesehen, wie man bei seinem Aussehen annehmen würde. Weshalb es trotz der Situation ein seltsames Gefühl war, dieser nackten Frau gegenüber zu stehen. Immerhin blieb ihm kein Detail ihrer Beschaffenheit verborgen. Ebenso wenig was sie war. Mit diesen Schuppen und Flammen musste sie eine Dämonin sein.

Eigentlich hätte er sich nun langsam entspannen können. Für ihn stellte die Frau keine Gefahr dar, solange sie nicht mit seiner bloßen Haut in Berührung kam. Trotzdem war sein ganzer Körper immer noch absolut verspannt und zu allem bereit. Die wenigen Informationen, die er in dieser Nacht erhalten hatte, beunruhigten ihn.

Ob er nun wollte oder nicht, er konnte die Tatsache, dass erneut jemand hinter dem Amulett her war, nicht ignorieren.

Vielleicht wurde es an der Zeit, in alten Erinnerungen zu wühlen. Mochten sie noch so unangenehm sein.

Er war der Beschützer dieses Amuletts. Vielleicht sollte er endlich herausfinden, weshalb es all die Jahre über für so viele bedeutend zu sein schien. Bedeutend auf eine andere Art als für ihn.

Lange blickte er die Frau nur schweigend an, während er nachdachte, bis er schließlich so etwas wie ein leises Seufzen von sich gab, das seine Entscheidung besiegelte.

„Wenn du noch einmal versuchen solltest, mir das Amulett abzunehmen, wirst du den Versuch nicht überleben.“

Ryon ging an der Frau vorbei und ließ sie einfach stehen.

3. Kapitel

„Oh mein Gott, Paige!“

Schmale Hände glitten kühl über ihre Wangen und sie wurde in den Arm genommen und so fest gedrückt, dass ihr beinahe der angestrengte Atem stockte.

Sie war die gesamte Strecke gerannt.

Um so wenig Aufsehen wie möglich zu erregen, hatte sie sich doch dazu entschieden den Mantel überzuwerfen und war dann auf Umwegen, durch alte Kanäle, über Hausdächer, durch viel begangene Straßen und Abwassergräben nach Hause gegangen. Immer wieder hatte sie ein Prickeln in ihrem Nacken gespürt, das ihr Angst eingejagt und sie gezwungen hatte, sich nach einem unsichtbaren Verfolger umzusehen.

Selbst jetzt, da sie ihr winziges Zuhause erreicht hatte, fühlte sie sich nicht sicher.

Ais schlanke Finger zupften ihr den Mantel vom Körper und schoben sie schließlich durch das einzelne Zimmer, das als Wohn- und Schlafraum diente, durch die kleine Küche ins Bad. Die dunkelblaue Tür blieb offen, denn sonst hätten die beiden Frauen sich nicht gleichzeitig in dem beengten Raum bewegen können. Auch wenn Paige das nicht wirklich vorhatte.

Sie zitterte von dem Schock und der Anstrengung am ganzen Körper. Ihr war eiskalt, obwohl ihr der Schweiß auf der Stirn stand und in dünnen Bahnen ihren Rücken hinunterlief.

Er hatte sie gehen lassen. Sobald sich der Kerl umgedreht hatte, war sie davon gestürmt. Als wäre der Teufel persönlich hinter ihr her, was sich für Paige nicht sehr viel schlimmer hätte anfühlen können. Sie traute diesem Mann keinen Deut weit über den Weg und deshalb zuckten ihre Augen auch panisch zur Eingangstür, als sich dort etwas bewegte.

Neue Flammen loderten an ihren Armen hoch, als Ai zurückwich und ihre Hände erschrocken vor den Mund schlug.

Die weiße Nachbarskatze schnurrte ausgiebig, als sie sich am Türrahmen gerieben hatte und anschließend zu den beiden Frauen kam, um an Ais Fesseln entlang zu schmeicheln.

Paige sah den erschrockenen Ausdruck in Ais Gesicht und zwang die Flammen zurück in ihren Körper.

„Es tut mir leid.“, sagte sie kraftlos und ließ die Arme wieder sinken.

Ihr Kopf war so schwer, dass sie das Gefühl hatte, kaum noch aufrecht stehen zu können. Schon gar nicht, wenn sie die Sorgen in Ais Augen noch länger ertragen musste.

Doch ihre Freundin tat Paige den Gefallen, zur Wohnungstür zu gehen und sie sorgfältig von innen abzuschließen.

Das würde gegen den Kerl nichts nützen. Er schlug mit der bloßen Faust durch eine halbwegs solide Steinmauer. Eine Holztür würde ihn weniger als eine Sekunde aufhalten.

„Ist ... mit dir alles in Ordnung, Paige?“

Am liebsten hätte sich ihre Wut und Verzweiflung in Tränen Luft gemacht. Aber das konnte sie Ai, die verständlicherweise völlig verunsichert vor ihr stand, nicht antun. Sie musste stark sein. Also setzte sie ein Lächeln auf, das zumindest für die Dauer ihrer Antwort hielt.

„Ja, mir geht’s gut. Entschuldige.“

Mit einem schwachen Nicken deutete sie zur Tür hinüber.

„Ich dachte, dass...“

Sie zwang das Lächeln dazu, sogar noch breiter zu werden, während ihre Zunge an der Innenseite ihrer Zähne nervös entlang strich.

„Nicht so wichtig.“

Wie dankbar sie Ai dafür war, dass diese keine weiteren Fragen stellte, war kaum in Worte zu fassen. Deshalb ließ sie es auch bleiben und entschuldigte sich stattdessen noch einmal.

„Ich gehe kurz duschen. Du brauchst meinetwegen nicht wach zu bleiben, wirklich. Mir geht’s gut.“

Bevor die andere Frau noch etwas antworten konnte, schob Paige die Badtür leise ins Schloss und machte die Dusche an. Das Wasser war wie immer nur lauwarm, aber es brachte zumindest die erwünschte Wirkung.

Der Dreck wusch sich von Paiges Körper, wie sich auch die Schuppen endlich in ihre Haut zurückzogen. Nicht nur die Hand, die sie sich anschließend prüfend vors Gesicht hielt, sah nun wieder menschlich aus.

Sie ließ sich nicht allzu lange Zeit, da sie Ai keine Chance lassen wollte, sich noch mehr Sorgen zu machen. In ein Handtuch gehüllt und mit tropfnassen Haaren trat sie aus dem Bad und fand Ai dort vor, wo sie sie vermutet hatte. Die Asiatin stand in der Durchgangsküche und kochte Tee.
 

***
 

In seinem Hotelzimmer angekommen, streifte Ryon seine Kleider ab und stieg unter die heiße Dusche. Er stank tatsächlich erheblich, obwohl eher sein ausgeprägter Geruchssinn damit zu tun hatte, als das leicht verbrannte Leder und der Dreck, dem er ausgesetzt gewesen war.

Kaum, dass das Wasser seine Haut berührte, prallte er davor zurück, als hätte es ihm einen Schlag verpasst.

Der stechende Schmerz trieb ihm nun doch Tränen in die Augen, bis er es schaffte, das Wasser auf eiskalt zu stellen, um sich erst dann wieder darunter zu begeben. Es war zwar ziemlich merkwürdig, aber Ryon hatte die Brandwunden schon fast vergessen gehabt, da seine Gedanken so sehr von anderen Dingen abgelenkt gewesen waren. Es wäre nicht das erste Mal, dass ihm dabei Empfindungen verloren gingen, aber nun waren sie wieder mit voller Wucht zurück, weshalb er sich jede Sekunde, die er unter dem nadelstichartigen Wasserstrahl verbrachte, quälend abringen musste, bis er es einfach nicht mehr aushielt.

Kaum zwei Sekunden später, als er sich so vorsichtig wie möglich abgetrocknet hatte, fühlte er sich, als würde er tatsächlich brennen. Die Verletzungen strahlten eine so derartige Hitze aus, dass er sich einfach nur noch ein Handtuch umwickelte und alle Fenster aufriss, um die kühle Nachtluft herein zu lassen.

Danach setzte er sich an den Schreibtisch, schaltete die Lampe ein und betrachtete seine gebrochene Hand. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie so aussah und würde auch nicht das letzte Mal sein. Weshalb er sich schon einmal auf eine lange Nacht einstellte, in der er mit Engelsgeduld dafür sorgen musste, dass die Knöchelchen in seiner Hand auch alle wirklich gerade zusammen wuchsen.

Viel Zeit blieb ihm dafür nicht, aber mit seiner inzwischen gewonnenen Übung darin, musste er sich deshalb wenigstens keine Sorgen machen. Auch wie man gewollt Knochen brach, um sie in die richtige Position zu bringen, war ihm inzwischen an sich selbst nicht fremd.

Nachdem er seine Wunden versorgt hatte, setzte Ryon sich für den Rest der Nacht an den Computer, um im Internet Nachforschungen anzustellen.

Er surfte lange, ausgiebig und auf Seiten, die ein Normalsterblicher für gewöhnlich nicht einmal fand, wenn er es wirklich darauf anlegte.

Doch obwohl er so lange vor dem Bildschirm verbrachte, so dass ihm langsam alles vor seinen übermüdeten Augen verschwamm, war es doch ergebnislos. Er hatte Ansätze, an denen er mit seiner Suche nach den Auftraggebern anknüpfen konnte, doch wirklich konkrete Dinge würde er nur an einem Ort finden und den hatte er sich geschworen, würde er nie wieder betreten.

Frustriert, total erschöpft und noch immer von Schmerzen geplagt, ließ er es schließlich gut sein. Er fuhr den Computer hinunter, schaltete das Licht aus und legte sich ins Bett, um seine Energiereserven wieder aufzutanken.

Er würde es in ein paar Stunden noch in der Stadtbibliothek versuchen, wenn das auch nichts brachte, musste er sich Wohl oder Übel wieder an die Fersen der Diebin heften. Bestimmt würde diese sich früher oder später mit den Auftraggebern in Verbindung setzen.

Er glaubte ihr zwar, dass sie nicht wusste, wer sie waren, aber sie war die einzige Verbindung, die er zu ihnen hatte. Sie würde ihm sicherlich irgendwie nützlich sein. Außerdem war alles besser, als die Alternative.

Nein, er wollte nicht an diesen Ort zurück, an dem vermutlich einige Antworten liegen würden. Es musste einfach noch andere Möglichkeiten geben.

Mit der Vorstellung daran, wie er nun erneut Jagd auf diese Dämonin machen würde, schlief er schließlich ein. Bis dahin würden wenigstens die Verbrennungen verheilt sein und nun wusste Ryon zumindest schon im Vorhinein, womit er es zu tun hatte. Noch einmal würde er sich nicht die Haut vom Fleisch brennen lassen. Doch erst einmal, musste er die Frau wiederfinden.
 

***
 

Der Wecker klingelte für Paiges Geschmack viel zu früh nach einer Nacht, die sie mehr oder weniger im halben Wachzustand verbracht hatte.

Wenn sie doch weggedöst war, hatte sie im Traum diese toten, schwarzen Augen mit dem gelblichen Rand gesehen, die sie erschrocken auffahren ließen. Es war nicht das erste Mal, dass Paige bei einem Diebstahl geschnappt worden war. Irgendwann fing jeder mal an und machte die typischen Fehler, die einem unliebsame Verfolgungen oder ein paar Prügel einbrachten. Aber bei diesen Gelegenheiten war es darum gegangen, dass Paige die Beute zurückgeben sollte. Dann war es ausgestanden gewesen. Bei Eisschrank war das anders. Und so, wie Paige sich im Moment fühlte, wie jede Faser ihres Körpers unwillig zog und juckte, war nur eins sicher: Es war noch nicht vorbei.

Und das hatte nicht allein mit dem Kerl zu tun. Denn es blieb ihr auch nichts anderes übrig, als ihren Auftraggebern früher oder später mitzuteilen, dass sie das Amulett nicht beschafft hatte und es auch nicht mehr tun würde.

Sie hatte absolut keine Lust, sich noch mal mit dem Typen anzulegen. Ihr war es nur recht, wenn sie ihn nie mehr im Leben wiedersehen musste. Es hieß also: So schnell mit der Sache abzuschließen, wie es möglich war.

Mit einem Kuss auf die Wange und dem Versprechen, auf sich aufzupassen, verabschiedete sich Paige am frühen Nachmittag von Ai und lief zum Dienst im Fass.

Mehr als zwei Tage am Stück bekam sie normalerweise nicht frei. Dafür war einfach zu viel los in dem allbekannten Lokal, wo bereits nach Öffnung um 16 Uhr der Rummel losging.

"Hey Paige!"

Gerade als sie dabei war, ihre pinke Perücke zurecht zu rücken und die Feenflügel aus ihrem Spind fischte, fuhr sie für ihre Verhältnisse viel zu erschrocken herum.

"Oh Jazz, du bist's."

Ihr Herz klopfte immer noch schnell in ihrer Brust, obwohl sich ihr restlicher Körper beim Anblick des Barkeepers sofort wieder entspannt hatte.

Paige hasste diese Adrenalinschübe. Und noch mehr hasste sie das Gefühl, dass sie noch immer Grund dafür hatte, sich gehetzt zu fühlen. Sie hoffte bloß, dass sie sich bald wieder fing. Sonst würde sie bei jeder blöden Anmache heute Nacht wahrscheinlich im wahrsten Sinne des Wortes in Flammen aufgehen.

Jazz roch wie immer erdig, nach Moos und frischem Wind, als er sie kurz umarmte. Paige hatte sich schon öfter Gedanken darüber gemacht, ob der Walddämon, der ihr schon mehrere Zeichen gegeben hatte, dass er sie mehr als nur mochte, nicht doch etwas für sie sein konnte.

Er war nett, hatte Humor, sah nicht schlecht aus und sie mochte ihn. Eigentlich kein Grund, um sich gegen seine Versuche zu stemmen.

Dann kam ihr aber doch der Gedanke, dass sie vielleicht gerade jetzt nur einen Beschützer suchte. Einen Grund, endlich mal nicht immer auf sich selbst und Andere aufpassen zu müssen...

Ihr Blick kletterte einmal an Jazz hinauf und hinunter, als er hinter der Bar stand und Ordnung in seinem kleinen Reich schuf. Als er sich nach einem der hängenden Glasbretter streckte und unter seinem Hemd die braune, ledrige Haut seiner Dämonenlinie zum Vorschein kam, hing Paiges Blick daran.

Holz und Feuer konnten sich auf Dauer gar nicht wirklich vertragen. Am Ende würde sie ihren vermeintlichen Beschützer noch selbst in Gefahr bringen.

Ein tiefer Atemzug ersetzte ihr Seufzen, während sie sich von Jazz' Anblick losriss und anfing die Tische abzuwischen.

In etwas zehn Minuten würden sie öffnen und dann würde es kaum drei Minuten dauern, bis sich absolut niemand mehr um Sauberkeit scherte. Aber daran durfte man nicht denken.

Noch vier Kolleginnen tauchten vor Öffnung der Tür in verschieden farbigen Kleidchen, Perücken und entsprechenden Flügelpaaren auf. Bis auf Katniss, die keinen Ersatz für ihre eigenen, hauchdünnen Flügel brauchte. Gemessen an ihr, kam sich Paige in der Verkleidung immer absolut lächerlich vor. Aber Vorschrift war eben Vorschrift. Außerdem mochte Paige den Job und die Kollegen. Es war hart verdientes Geld, aber mit dieser Truppe machte es dennoch meistens einen Heidenspaß.
 

Drei Stunden später tobte im Fass eine Brandung aus menschlichen und unmenschlichen Leibern. In der Oberwelt lief ein wichtiges Sportereignis, das der Manager der Bar ebenfalls auf die Monitore im Lokal übertragen ließ.

Die Bedienungen schrieen inzwischen meistens nur über die Menge hinweg und ließen die Gläser einfach durchreichen. Ob das Getränk beim Besteller ankam, konnte keiner so genau sagen. Kassiert wurde am Ausgang, um nicht total den Überblick zu verlieren.

Das konnte ja noch was werden. Und dabei hatte die Nacht gerade erst angefangen.
 

***
 

Er legte die zerfledderten Bücher und die Kleidersäcke auf seinem Bett ab, ehe er sich auch schon wieder umdrehte, um das Hotelzimmer zu verlassen. Inzwischen war es schon wieder später Nachmittag, also höchste Zeit, sich nun auf die Suche nach der Dämonin zu machen. Denn es blieb ihm letztendlich nichts anderes mehr übrig, als darauf zu warten, dass sie ihm das Puzzleteil zuspielte, das er brauchte, um gründlichere Nachforschungen anstellen zu können.

Zwar hatte Ryon anhand der mitgenommenen Bücher inzwischen eine Vermutung, wer sich hinter der ganzen Sache verbergen könnte, doch er wollte lieber auf Nummer sicher gehen, ehe er die nächsten Schritte plante und am Ende alles nur noch schlimmer machte.

Die Bücher, die er aus der Bibliothek mitgenommen hatte, enthielten hauptsächlich Fachliteratur über Hexen, Hexenkult, Hexenorden und Hexenverbrennungen. Eines war dabei, das am Rande das Amulett erwähnte, aber da es keine Abbildung davon gab, war es wirklich nur eine vage Mutmaßung, ob es das wirklich war. Alles im Allem hatte er lediglich nur einen Haufen von Vermutungen, die alle zu nichts führten, da er nicht tiefer in Informationen wühlen konnte, ohne schlafende Hunde zu wecken.

Das hieß also im Klartext, er würde wieder in die World Underneath müssen, um dort im untersten Dreck herumzuwühlen.

Er rechnete stark damit, der leicht entflammbaren Frau erneut zu begegnen, weshalb er auch dieses Mal in Lederkluft los zog. Zwar eine andere, als die von gestern, aber nicht weniger unauffällig.

Irgendwie war es ironisch, dass er gerade jetzt wieder damit anfangen musste, ständig Schwarz zu tragen.

Ryon war im Grunde kein Mann mehr, der noch an das Schicksal und Vorhersehung glaubte, aber manchmal waren es einfach zu viele Zufälle, um einfach nicht daran glauben zu können. Doch ob es wirklich Schicksal war oder einfach nur eine Aneinanderkettung seltsamer Parallelen, würde sich sicher noch zeigen.

Eines stand auf jeden Fall fest: Solange er mit der Feuerlady zu tun hatte, würde er sich so wenig entflammbar machen, wie er konnte. Doch erst einmal musste er sie wiederfinden, was sich schon am Anfang als äußerst schwierig heraus gestellt hatte, als die Spuren noch halbwegs frisch gewesen waren.

Als Ryon jedoch wieder am Markt angekommen war, waren inzwischen so viele unterschiedlichen Wesen hier ein- und ausgegangen, dass es nur noch ein einziges Geruchschaos ergab, in dem es unmöglich wäre, ihre Witterung aufzunehmen.

Zum Glück hatte er gestern ihr wahres Gesicht gesehen. Mit einer detaillierten Personenbeschreibung kam man in der Regel schneller weiter, als mit der Beschreibung einer Verkleidung.

Auf gut Glück ging er zu dem Stand mit dem Holzspielzeug, an dem sie sich gestern als Letztes aufgehalten hatte. Auch der Verkäufer schien ihn wieder zu erkennen, war aber trotz seiner offensichtlichen Angst vor ihm, nicht schnell bereit, Ryon etwas über die Frau mit den schwarzen Haaren, den dunklen Augen und den teilweise auftretenden Schuppen zu erzählen.

Um jedoch dem Mann nicht seinen Broterwerb zu nehmen, in dem er ihm beide Arme brach, wandte Ryon eine Methode an, die er eher seltener in diesem Drecksloch benutzte.

Vielleicht war es auch die kinderfreundliche Ware, die ihn letztendlich dazu bewegte, mit einem dicken Bündel voller Geldscheine vor dem Kerl herum zu wedeln. Es gab nun einmal an jedem Menschen wunde Punkte und Kinder waren Ryons Schwachstelle.

Zum Glück wusste niemand, dass man ihn mit Kindern in die Knie zwingen konnte. Wie viele von diesen unschuldigen Geschöpfen hätten sonst schon wegen ihm sterben müssen, nur um ihn aus der Reserve zu locken? Zu viele. Das stand fest.

Die Augen des älteren Mannes wurden bei dem vielen Geld ganz groß und zugleich auch gequält. Vermutlich biss ihn gerade gewaltig das schlechte Gewissen, weil er schließlich doch ein paar dürftige Antworten gab.

Ryon hätte zwar mehr erwartet, als die Information, wie oft die gesuchte Frau ungefähr den Markt besuchte und dass sie es manchmal regelmäßig tat und dann wieder lange überhaupt nicht. Aber zumindest konnte der Mann ihn auf einen weiteren Händler verweisen, der vielleicht mehr wusste. Vermutlich nichts weiter, als um von sich selbst abzulenken, aber das konnte Ryon nur recht sein. Diesen Verkäufer hier bezahlte er für die Informationen, der nächste würde mit großer Wahrscheinlichkeit nicht so viel Glück haben.

Damit sollte Ryon Recht behalten.

Es war ein schmieriger Antiquitätenhändler, der alle möglichen gestohlenen Waren über seinen Tisch laufen ließ und damit sogar recht guten Gewinn erzielte.

Der Kerl war selbst in Ryons Augen so abstoßend aufdringlich, dass es ihm nicht schwer fiel, das zuckersüße Gefasel des Kerls zu unterbinden, in dem er ihm am Hals packte. Mehr als die Hälfte von dem Zeugs war ohnehin gefälscht, das sah er schon auf dem ersten Blick und der Kerl wagte es auch noch, ihm die Sachen für horrende Summen andrehen zu wollen. Außerdem stank er schon drei Kilometer gegen den Wind nach gemeinem Gauner.

„Sag schon, wenn dir dein elendiges Leben lieb ist, was weißt du über sie?“

Seine Worte klangen so schneidend wie der Flügelschlag eines Schmetterlings. Er hätte genauso gut über das Wetter reden können, so vollkommen ausdruckslos war seine Stimme, aber dafür war die sich immer enger schlingende Hand um den dreckigen Hals des Kerls alles andere als sanft.

Die Gesichtsfarbe des Händlers verwandelte sich langsam zu einem Purpurrot und nur noch ein kaum hörbares Krächzen kam über dessen aufgedunsenen Lippen.

Ryon ließ den Mann so unerwartet plötzlich los, dass dieser beinahe zusammen mit dem wackeligen Stuhl nach hinten gekippt wäre, auf dem er zuvor noch gesessen und seine Waren angepriesen hatte.

„Wir könnten ja, damit anfangen, dass du mir erzählst, wo ich sie finden kann.“, schlug Ryon vor, während er sich an den Warentisch lehnte, einen der gefälschten Dolche zur Hand nahm und sich mit der Spitze den nicht vorhandenen Dreck unter den Fingernägeln heraus pulte.

Der Händler röchelte und griff sich an den Hals, während er mit panisch geweiteten Augen den Dolch anstarrte, als wäre er eine giftig Schlange, kurz vorm Zubeißen.

„O-Okay, Mann. Ich … erzähl ja schon. Die Kleine ist es sowieso nicht wert, dass man für sie ins Gras beißt.“

Die Worte des Händlers überschlugen sich beinahe, während nichts mehr von der schleimigen Freundlichkeit darin zu hören war, doch er verstummte sofort angstvoll, als das Messer auf seine Nasenspitze zeigte.

„Langweile mich hier nicht mit unwichtigen Nebensächlichkeiten. Ich will nur Klartext hören. Verstanden?“

Den Typen darauf hinzuweisen, dass die ‚Kleine‘ den Kerl vermutlich ganz schön grillen würde, wenn sie herausfand, dass er hier so fröhlich geplaudert hatte, hielt er für absolut unnötig. Manche Erfahrungen sammelte man besser selbst.

„S-Schon, gut. Ich bin ja schon dabei, aber könntest du den Dolch…“

Mit einer Schnelligkeit, mit der dieser elendige Schleimer wohl nicht gerechnet hatte, war das Messer mit einem Mal vor dessen Augen verschwunden und tauchte nur einen Augenblick später zwischen seinen Beinen wieder auf.

Mit der Spitze tief in das Holz des Sessels gebohrt, die Klinge so gedreht, dass die Schneide direkt auf den Schritt des Mannes gerichtet war, lehnte sich Ryon wieder zurück.

„Für dich doch immer.“

Er stellte einen seiner schweren Stiefel direkt auf die Kante des Stuhls, so dass seine Fußspitze langsam aber sicher das Messer in Richtung der mehr oder weniger edelsten Teile des Händlers drückte.

Dem Kerl brach nun endgültig der Schweiß aus und obwohl er so weit auf der Sitzfläche zurück rutschte, wie er konnte, saß er doch in der Falle.

„Fe“, quiekte er schon beinahe. „Das ist der Name, den sie für die Geschäfte benutzt. Sie verkauft mir lauter Zeug mit zwielichtiger Herkunft. Das meiste ist vermutlich gestohlen.“

Als wenn er das nicht schon längst wüsste.

Ryons Fußspitze beugte sich weiter, bis die Klinge den Stoff der fleckigen Hose berührte.

„Weiter. Was weißt du noch? Oder war das etwa schon alles?“

Er verstärkte den Druck und nun geriet der Kerl völlig in Panik. Seine Hände flogen einen Moment in die Luft, ehe er damit begann, irgendetwas in seiner Jacke zu suchen.

„Warte… Ich hab noch…“

Offenbar war der Händler fündig geworden, doch bevor er den Gegenstand hervorziehen konnte, drückte Ryon noch fester zu.

„Ich rate dir, was auch immer du da in der Hand hast, es langsam hervor zu ziehen.“

Sein Blick durchbohrte den Händler regelrecht, während dieser nun am ganzen Körper zitternd, ganz langsam seine Hand wieder aus der Jacke zog und Ryon schließlich ein kleines Streichholzschächtelchen hinhielt. Darauf stand der Name einer Bar – das Fass.

Davon hatte Ryon schon einmal gehört, da es ziemlich bekannt in der World Underneath war, aber natürlich würde er so einen Schuppen nie aus reinem Vergnügen aufsuchen.

„Was ist damit?“, wollte er wissen.

„Die Frau die du suchst, die arbeitet dort als Kellnerin. Manchmal singt sie auch.“

Erst eine ziemlich geschickte Diebin und nun auch singende Kellnerin? Was kam als nächstes?

Ryon schnappte sich das Streichholzpäckchen und drückte seine Schuhspitze nun so fest gegen das Messer, dass eigentlich die möglichen Kinderwünsche des Mannes geplatzt hätten sein müssen. Doch nichts dergleichen geschah, außer dass der Kerl daraufhin so laut quiekte, als würde Ryon gerade ein Schwein abstechen.

Nur ein paar umstehende Zeugen beobachteten das Ganze, ehe sie sich hastig weiter um ihren eigenen Kram kümmerten.

Der Händler verstummte abrupt und betrachtete ungläubig seinen heilen Schritt.

Mit einem Ruck zog Ryon das Messer wieder aus dem Holz des Stuhls und fuhr dann mit der Klinge direkt über seine Handfläche, wobei er einigermaßen großen Druck ausübte. Doch nichts passierte.

„Wenn wir uns das nächste Mal begegnen, solltest du richtige Messer verkaufen. Sonst sehe ich mich gezwungen, dir den Brieföffner irgendwohin zu stecken, wo es wirklich wehtut.“

Mit diesen Worten ließ er die völlig stumpfe Klinge auf den Tisch fallen und ging. Sein Ziel war also die Bar und da es inzwischen angemessen spät war, könnte er sogar Glück haben und sie würde tatsächlich gerade kellnern.

Sich das vorzustellen, war schon merkwürdig genug. Irgendwie passte das Image der Diebin besser zu dem feurigen Auftreten. Aber sie alle trugen ihre Masken, das wusste er nur allzu gut.
 

***
 

Paige schob sich gerade in Richtung Ausgang, um eine Kollegin beim Kassieren abzulösen, als Jazz ihr hinterher schrie, sie solle zurückkommen. Mit hilflosem Gesichtsausdruck deutete sie auf die beiden Fleischberge in roten Fanoutfits, zwischen denen sie so zu sagen festhing. Sie kam kaum vorwärts und noch schlechter sah es mit dem Rückweg aus.

"Wer ist dran?!", versuchte sie über den Krach hinweg zu erfahren und kaum einen Moment später brach Freudengebrüll über einen Treffer über den Innenraum des Fass' herein.

Jazz hantierte mit einer Flasche in der linken, während er sich mit der rechten Hand den Telefonhörer ans Ohr presste. Sein Gesichtsausdruck war grüblerisch, als man ihm wohl eine Nachricht für Paige zukommen ließ.

Paige selbst bezweifelte, dass der Barkeeper auch nur die Hälfte von dem Gesagten am Telefon mitbekam.

Sie schlug eine bekrallte Hand weg, die nervtötend schon geraume Zeit an ihrem linken Flügel zupfte und sah mit großen, fragenden Augen zur Bar hinüber. Zu ihrer Erleichterung legte Jazz auf und versuchte ihr mit Winken zu verstehen zu geben, was man ihm gesagt hatte.

"Keine Chance, ich..."

Mit einem Brummeln zeigte sie auf ihre Ohren und schüttelte den Kopf. Woraufhin Jazz einen Block und einen Stift hochhielt und irgendetwas notierte. Für diesen außerordentlich schlauen und kreativen Einfall bekam er von Paige ein Daumen hoch und grinste zufrieden, ehe sie sich weiter in Richtung Tür kämpfte.

Diesmal waren die feenhaften Kellnerinnen mehr als froh darüber, dass die Rausschmeißer an der Tür aufgestellt waren. So betrunken und vom sportlichen Passiverlebnis aufgestachelt, hätte sonst jeder zweite die Zeche geprellt. Paige selbst musste nicht nur einmal brüllend jemanden darauf hinweisen, dass das Bier in seiner Hand keine Gratisgabe zum Spiel gewesen war. Gott, wie sehnte sie sich das Schichtende herbei!
 

Obwohl er inzwischen schon seit Stunden im Schatten einer Hauswand stand und den Eingang der Bar genau im Auge behielt, wurde er nicht ungeduldig.

Statt ständig von einem Fuß auf den anderen zu wechseln, stand er völlig reglos da und ergab mit dem Schatten eine vollkommene Einheit. Bisher hatte ihn niemand bemerkt, obwohl einige der feiernden Meuten an ihm vorbei gekommen waren.

Einer hatte sich sogar nur fünf Meter von ihm entfernt übergeben. Aber der Kerl war so breit, der hätte nicht einmal bemerkt, wenn er keine Hose mehr angehabt hätte. Ryon fiel ihm daher erst recht nicht auf.

Zwar wusste er noch immer nicht, ob sein Warten überhaupt etwas bringen würde, da er nicht einmal sicher war, dass die Frau hier und heute wirklich arbeitete. Doch es blieb ihm ohnehin nichts anderes übrig.

Vielleicht, wenn er Glück hatte, könnte er ihr dieses Mal tatsächlich folgen, so dass er auch wusste, wo sie wohnte. Das würde eine Beschattung wesentlich leichter machen. Vor allem, da er immerhin darauf hoffte, dass sie sich wieder mit ihren Kontaktleuten traf. Der Auftrag war nun einmal nicht beendet und wenn ihre Auftraggeber auch nur annähernd so waren wie die seinen, dann würde sich bald jemand bei ihr melden.

Entweder, um sich über den Stand der Mission zu erkundigen, oder um Druck auszuüben. So oder so. Wenn es so weit kam und er die Gelegenheit hatte, sich an die Fersen ihrer Auftraggeber zu heften, so würde er es tun. Doch erst einmal, musste er sich an ihre Fersen heften und zwar für dieses Mal vollkommen unauffällig. Noch einmal würde er ihr nicht die Gelegenheit geben, ihn in irgendeiner Gasse abzuwimmeln.
 

In der kurzen Pause von zwanzig Minuten stellte Paige sich hinter die Bar und kaute an einem Schinken-Käse-Sandwich herum.

Den Zettel, der zwischen einer halbvollen Flasche Absinth und ein paar Eiswürfeln herumlag, hatte sie in dem Durcheinander schon völlig vergessen. In Jazz' kleiner, säuberlicher Handschrift standen da eine Telefonnummer und der Hinweis, sie solle dringend zurückrufen. Es ginge um das versprochene Schmuckstück. Ans Ende der Notiz hatte der Barkeeper noch ein kleines, aber für Paige fast mahnendes Fragezeichen gesetzt.

Sie ließ das Sandwich in den Mülleimer fallen und stopfte den Zettel in ihre Tasche.

Scheiße, was bildeten die sich ein, nach dem man ihr eine so großzügige Frist eingeräumt hatte?

Sie würde sich schon melden. Aber wenn Paige es für richtig hielt und nicht früher. Wie hatten sie überhaupt ihren Arbeitsplatz gefunden?

4. Kapitel

Die Rausschmeißer beförderten die letzten Betrunkenen an die frische Luft, als Paige mit dem Besen deren verschiedenste Hinterlassenschaften zusammenfegte.

An sich mochte sie ihren Job, aber auf das Aufräumen hätte sie gut und gerne verzichten können. Immerhin lag sogar Schlimmeres als hin und wieder ein ausgeschlagener Zahn herum.

Zwei der Kellnerinnen verabschiedeten sich, als sie die Tische abgewischt und sich umgezogen hatten. Paige stellte nur den Besen weg, verschwand in der Umkleide und kehrte dann in Jeans und T-Shirt wieder zur Bar zurück. Jazz putzte gerade die Waschbecken und pfiff leise vor sich hin.

Normalerweise war Paige immer eine der Letzten die ging, aber heute war es trotzdem etwas Anderes, was sie dazu brachte, noch den Vorrat an bunten Strohhalmen aufzufüllen, nachzusehen, ob für die morgige Nacht genug Eis in der Kühlschublade lag und sich dann auf einem der Barhocker niederzulassen.

Sie unterhielten sich, während Jazz die Flaschen im Regal gerade rückte, die Kasse abrechnete und schließlich die einzelnen Lichter im Raum herunter drehte.

Es war albern, aber Paige atmete erleichtert auf, als sie die Worte hörte, auf die sie schon die ganze Zeit mehr oder minder gewartet hatte.

Jazz' grüne Augen sahen müde aus, strahlten aber so hell wie immer, als er seine Tasche schnappte und kurz Paiges Arm berührte. "Soll ich dich nach Hause bringen?"
 

Langsam wurde es still in der Bar und die letzten Gäste traten schwankend ihren Heimweg an. andere mussten von ihren Kumpanen sogar gestützt werden.

Die ganze Zeit blieb Ryon in dem Schatten, der ihm schon so viele Stunden Schutz geboten hatte, auch als nun zwei Frauen aus der Tür kamen und sich lächelnd von dem Türsteher verabschiedeten. Das mussten Angestellte sein, denn weder waren die Frauen betrunken, noch schienen sie irgendein seltsames Verhältnis zu dem Türsteher zu haben. Sie sahen viel mehr wie Arbeitskollegen nach einem langen Arbeitstag aus. Dann konnte die Diebin auch nicht mehr weit sein, sollte sie tatsächlich hier arbeiten.

Ryon wartete noch weitere Minuten lang ab, aber es tat sich nichts. Niemand sonst kam aus der Bar und auch der Türsteher war inzwischen gegangen, allerdings ohne abzuschließen, also musste noch jemand dort drin sein.

Sehr unwahrscheinlich dass es sich hierbei ausgerechnet um die gesuchte Frau handelte. Doch er würde sich erst dann geschlagen geben, wenn auch die letzte Person das Gebäude verlassen und abgesperrt hatte. Dann erst würde er sehen, ob er hier die vielen Stunden umsonst zugebracht hatte. Denn die Diebin würde hier definitiv nicht wohnen. Dafür war das Gebäude zu klein, als mehr als nur eine Bar zu sein und der Rest rundherum war eine Bruchbude mit Brettern vor den Fenstern. Nicht gerade das, was man ein gemütliches Zuhause nannte.

Wenn er es genau betrachtete, wäre das sogar mehr, als er von sich selbst behaupten konnte. Dank dieser Frau war er wieder einmal heimatlos.

Es war zwar nicht das erste Mal, dass er umziehen musste, aber in dieser Wohnung hatte er nun schon mehr als ein Jahr verbracht. Das war länger, als er es wo anders ausgehalten hatte. Fast schon hätte er sich dort zumindest wohl gefühlt. Wenn auch nicht zuhause. Diesen Ort gab es für ihn nicht mehr. Er würde nie wieder an einem Ort daheim sein.

Was ihn wieder auf den Gedanken brachte, wo er ein paar der gesuchten Antworten finden könnte, aber bevor er sich freiwillig an diesen Ort begab, würde er sich lieber ein Messer ins Herz rammen. Die Schmerzen dürften dabei ungefähr aufs Gleiche hinaus laufen.

Die Tür zur Bar ging auf. Ein kurzer Blick auf das schwarze Haar und das bekannte Gesicht und Ryon verschwand um die Ecke, um sich dort tiefer im Schatten an die Hausmauer zu drücken.

Dieses Mal durfte er keinen Fehler machen, also wagte er es nicht einmal, sie anzusehen. Sein Gehör und sein Geruchsinn mussten reichen, um ihr zu folgen. Sie durfte nicht einmal einen Schemen von ihm erkennen.

„Alles klar, können wir los?“

Das war die Stimme eines Mannes. Sie war also nicht alleine. Unwichtig. Es sei denn, sie gingen zu ihm, aber vielleicht lebten die beiden auch zusammen. Er konnte es nicht wissen. Auf jeden Fall würde er es aber noch herausfinden.

Das Einzige was in diesem Augenblick zählte, war die Tatsache, dass sein unfreiwilliger Informant ihm die Wahrheit gesagt hatte. Sie arbeitete tatsächlich hier und das bedeutete, dass er zumindest einen Anhaltspunkt hatte, selbst wenn er sie heute Nacht noch einmal verlieren sollte.

Eine Ratte schoss um die Ecke und lief mit einem Satz um ihr Leben, als sie beinahe in seine Füße hinein gerannt wäre. Selbst das Tier hatte ihn erst im letzten Moment wahrgenommen.

Ryon hörte Schritte, die sich rasch entfernten. Trotzdem blieb er noch einen Moment reglos stehen, während sein Herz schneller zu schlagen begann. Die Jagd hatte wieder einmal begonnen.
 

An der Oberfläche hätte sie wahrscheinlich in ihrem T-Shirt gefröstelt. Aber World Underneath hatte zumindest in den kalten Jahreszeiten den Vorteil, nicht den normalen Wetterverhältnissen ausgesetzt zu sein.

Und dennoch schien irgendetwas Paige die Nackenhaare aufstellen, als sie mit Jazz aus der Bar trat und darauf wartete, dass er die Tür abschloss und sie gehen konnten.

Die Augen zusammen gekniffen versuchte Paige irgendetwas in der dunklen Straße zu erspähen, was ihr ungutes Gefühl rechtfertigen würde, sah aber nichts. Vielleicht war es auch einfach dieser Anruf ihrer Auftraggeber, der sie nervös machte. Noch nie hatte jemand mit derartigem Nachdruck so schnell nach Informationen oder Ergebnissen verlangt.

Wenn sie sich da bloß nicht in irgendwelche Schwierigkeiten gebracht hatte. Mal von denen abgesehen, die ihr schon dieser Schrank von Mann verursacht hatte, den sie ja unbedingt bestehlen musste.

"Alles klar, können wir los?"

Die Schlüssel klapperten, als Jazz sie in die Hosentasche stopfte und Paige auffordernd ansah. Sein Lächeln war wirklich nett. Das fiel ihr heute nicht zum ersten Mal auf. Aber...

Ihr Blick schnellte in eine Ecke, wo sich irgendetwas im Schatten bewegt hatte. Sofort spannten sich ihre Muskeln an, bis eine dicke Ratte mit einem leisen Quietschen hinter den nächsten Müllcontainer verschwand.

Paige schüttelte sich innerlich etwas aus, um lockerer zu werden und nickte dann mit einem Lächeln.

Sie war bloß froh, dass sie in ihrem angespannten Zustand nicht allein nach Hause gehen musste. Es war zwar nicht weit, aber die Gassen wurden auf ihr Zuhause hin immer enger und dunkler. Selbst hier unten konnte sie sich mit dem wenigen Geld, das sie verdiente, keine ordentliche Wohnung in einem besseren Stadtteil leisten. Schon gar nicht, da Ai wohl noch länger nicht arbeiten gehen würde.

"Was ist denn heute los mit dir?"

Sie liefen wie immer recht schnell, da es um diese Uhrzeit nicht sonderlich klug gewesen wäre, wenn sie getrödelt hätten. Sie hatten nichts bei sich, was sich zu klauen gelohnt hätte. Aber das hieß nicht, dass sie vor einem Überfall sicher waren. Immerhin waren hier Viele auch nur auf Streit oder ein wenig 'Training' aus.

"Was meinst du?"

Der Barkeeper blieb beinahe stehen und sah unter seiner Hutkrempe hervor. Natürlich wusste sie, was er meinte. Immerhin kannten sie sich schon eine ganze Weile und heute war Paige für ihre Verhältnisse sehr still und nervös. Immer wieder war sie kurz davor sich umzudrehen, über ihre Schulter zu sehen oder sogar ihrer Dämonenseite nachzugeben. Jazz hätte das sicherlich wenig ausgemacht. Immerhin hatte er gar nicht die Möglichkeit sein Aussehen so weit zu kontrollieren, wie Paige es konnte. Sein Gesicht hatte meistens menschliche Züge, aber seine Hände entsprachen seinem dämonischen Wesen. Hier in World Underneath fiel er nicht weiter auf. Wenn Paige es recht bedachte, war er sogar einer der wenig Auffälligen hier unten. Immerhin hätte er diese menschliche Fassade nicht aufrechterhalten müssen.

"Du wirkst ein bisschen angespannt..."

"Nein."

Weil sie ihm keine Erklärung geben wollte, knuffte sie ihn nur kurz in den Oberarm und zog das Tempo wieder an.

"Der Abend hat mich einfach ein bisschen fertig gemacht. War anstrengend."

Ein kurzes Brummen zeigte Paige nur, dass er ihr diese müde Ausrede nicht abkaufte.

Mit schnellen Schritten liefen sie weiter durch verwinkelte Gassen, an der Außenmauer von World Underneath vorbei, bis sie zu einer zusammengewürfelten Häuserreihe kamen. Hier sah es so aus, als wären die Abteilungen für die Wohnungen wie bunte Schuhschachteln einfach lose aufeinander gestapelt worden. An vielen Fenstern hingen farbige Vorhänge oder auffällige Dekoration.

Ohne Sonnenlicht gediehen keine Blumen, daher ließen sich die Bewohner andere Sachen einfallen, die ihr Domizil wohnlicher machen sollten. Paige war mit ihrer eigenen Wohnung ähnlich vorgegangen, was man an der grünen Tür mit den gelben Mustern erkennen konnte, die sie bald erreicht haben würden.

Doch wie immer blieb Paige am unteren Ende der wackeligen, knarzenden Holztreppe stehen, die zu ihrer und anderen Wohnungen im oberen Stockwerk hinauf führte.

Jazz sah ihr mit einem schmalen Lächeln in die Augen und Paige hätte schon sehr blind sein müssen, um nicht mitzubekommen, was er vorhatte. Vielleicht wollte sie es sogar? Immerhin zuckte sie nicht zurück, als er ihre Hand nahm, riss sich nicht los, als er mit dem rauen Daumen über ihre Finger strich...

Doch ihr Herz schlug nicht so schnell, weil sie es vor Erwartung nicht mehr aushielt. Paige war nervös. Sehr sogar. Aber vor allem, weil sich selbst das hier nicht richtig anfühlte. Natürlich wollte sie nicht allein sein. Sie mochte ihn. Aber...

"Gute Nacht, Jazz."

Es tat ihr so leid, kurz Enttäuschung in seinen Augen aufblitzen zu sehen. Aber noch schlimmer wäre es gewesen, wenn sie es ihm erst danach gesagt hätte. So konnte sie ihn umarmen und sich dafür bedanken, dass er sie begleitet hatte. Er drückte ihr noch einen sanften Kuss auf die Wange, bevor er sich umdrehte und davonging.

"Scheiße, warum kann es nicht so einfach sein?", murmelte Paige vor sich hin, als sie Jazz nachsah und sich dann umdrehte, um die Treppe hinauf zu klettern.
 

Es war nicht leicht, die beiden zu verfolgen, wenn man dabei versuchte mindestens eine Gasse oder Abzweigung zurückzubleiben, um nicht gesehen zu werden. Aber er hörte immer noch ihre Schritte und folgte zugleich ihrer Witterung. Mehr brauchte er auch nicht, um ihnen auf den Fersen zu bleiben. Doch es war auch hilfreich, dass sie miteinander sprachen.

Obwohl der Inhalt dieses Gesprächs nicht so sehr von Belang war, verfolgte er es doch sehr genau. Jedes nützliche Detail konnte ihm später weiter helfen, mochte es noch so banal erscheinen.

Es war offensichtlich, dass die Diebin den Vorfall von gestern Nacht noch nicht vergessen hatte, warum sollte sie sonst angespannt sein?

Als die beiden vor einem bunt zusammengewürfelten Wohnkomplex stehen blieben, versteckte sich Ryon in einer Seitengasse hinter einem großen Müllcontainer. Eine weiße Katze, die darauf saß, beäugte ihn misstrauisch, rührte sich aber ansonsten nicht vom Fleck.

Noch immer wagte er nicht, direkt nachzusehen, was bei den Verfolgten vor sich ging, aber das musste er auch nicht. Es reichte schon, wenn er wusste, dass hier entweder die beiden oder einer der beiden lebte. Das war alles, was er wissen wollte. Alles andere würde später folgen.

Er hörte nur noch leises Gemurmel, da er zu weit weg war, um etwas deutlicher zu verstehen. Doch dann entfernten sich Schritte und er horchte noch mehr auf. Kurz riskierte er einen Blick über den Müllcontainer hinweg, direkt an der Katze vorbei.

Es war der Mann, der sich da langsam entfernte und Ryon innerlich aufatmen ließ.

Etwas knarzte aus der Richtung, wo er die Diebin vermutete, bis schließlich eine Tür ins Schloss fiel und alles still wurde.

„Ich hab dich gefunden, Flame…“, hauchte er leise, während er der Katze über das weiche Fell streichelte, die daraufhin genüsslich zu schnurren anfing.

Flame… Ja, so würde er die Diebin nennen, bis er ihren Namen wusste oder für immer aus ihrem Leben verschwand. Für sie beide hoffte er, dass Letzteres schon bald eintreffen würde. Denn das konnte nur gut sein.

Eine ganze Weile verwöhnte er die Katze mit Streicheleinheiten, bis genug Zeit verstrichen war und er sich wieder auf den Weg zurück ins Hotel machen konnte. Er würde morgen wieder kommen, wenn sie bei der Arbeit war, um die Gegend näher auszukundschaften.
 

Vor allem als sie die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf stieg und die Tür aufschloss, war da dieses ungute Gefühl, das sich stark in Paiges Hinterkopf drängte. Jetzt wo der Trubel der Arbeit vorbei war, sie zu Hause ankam und mehr oder weniger nach Stunden das erste Mal richtig Zeit und Atem zum Nachdenken bekam, fiel ihr der Anruf in der Bar wieder ein.

Was war das denn nur gewesen? Schön und gut, wenn sich ein Auftraggeber nach dem Stand der Dinge erkundigte. Aber nicht nach einem Tag und schon gar nicht bei einer Adresse, die Paige nicht preisgegeben hatte.

Und da sollte man nicht den Wunsch verspüren, sich Augen im Hinterkopf wachsen zu lassen. Wenn das so weiterging, würde es noch zur Gewohnheit werden, dass sie immer die Tür zu ihrer Wohnung wie jetzt doppelt verriegelte.

Um Ai nicht aufzuwecken, ließ Paige das Licht ausgeschalten und schlich so leise wie möglich durch die Wohnung zum Bad. Sie schloss extra die Küchen- und die Badtür, damit das Wasserrauschen nicht dafür sorgte, dass die Asiatin nicht doch noch um ihren wohlverdienten Schlaf kommen musste.

Nachdem sie sich ausgezogen, die Klamotten in den Wäschekorb geworfen und auf einigermaßen warmes Wasser gewartet hatte, stieg Paige unter die Dusche und schloss für mehrere Momente die Augen.

Sie war wirklich ziemlich müde. Heute war das Kellnern wieder ganz schön anstrengend gewesen. Zum Glück hatte sie nicht auch noch singen müssen. Es machte ihr zwar selten etwas aus, zehrte aber jedes Mal wieder an ihren Nerven. Wenn man bedachte, welchem Beruf sie neben der Tätigkeit im Fass noch nachging, konnte man sicher verstehen, dass Paige nicht der Mensch war, der sich allzu gern ins Rampenlicht stellte.

Während sie sich in ein Handtuch wickelte, die Haare trocknete und sich fürs Bett fertig machte, dachte sie über den nächsten Tag nach. Als Erstes nach dem Aufstehen würde sie die Sache mit den Auftraggebern erledigen. Das sollte nicht mehr Aufwand als ein kurzes Telefonat kosten. Sie hatte den Schmuck nicht bekommen, sie würden sie nicht bezahlen. Fertig. Vielleicht würde sie sich außerdem dafür rechtfertigen müssen, warum sie versagt oder was sie über den Eisschrank herausgefunden hatte. Aber das sollte auch kein Problem sein. Hauptsache man ließ sie danach in Ruhe. Wenn ihr weiter so aufgelauert wurde, konnte sie einen neuen, lukrativen Auftrag fürs Erste abhaken. Das war nämlich alles andere als positive Werbung.

Ihre Augen gewöhnten sich nach dem hellen Badezimmer erst an das Zwielicht in der restlichen Wohnung, als sie ganz leise ins Schlafzimmer trat und zu ihrem Bett hinüber ging. Das Handtuch hängte sie zum Trocknen über eine Stuhllehne, bevor sie sich unter die weiche Decke in ihr Bett legte und sich einrollte.

Ais gleichmäßige Atemzüge und die Stille der Nachbarschaft brachten sie trotz allen Unbehagens dazu, bald einzuschlafen.

Entlang ihrer Wirbelsäule schoben sich die roten Schuppen aus ihrer Haut, als sie davon träumte von einem riesigen Kerl ohne Gesicht verfolgt zu werden. Glücklicherweise wachte sie mit erschrockenem Gesicht aus dem Albtraum auf, bevor andere natürliche Instinkte ihres dämonischen Wesens sich zeigen konnten. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass sie eine Bettwäsche ungewollt angekokelt hätte.
 

***
 

„Schließ einfach die Tür ab, ok?“

Paige hüpfte auf einem Bein herum, während sie sich über das andere einen braunen Stiefel zog. Anschließend warf sie ein paar Dinge in ihren Rucksack, bis ihr auffiel, dass der Schlüssel fehlte und sie in leichter Zeitnot danach suchte.

„Ich weiß, ich wiederhole mich, aber... Warum soll ich die Tür abschließen?“

Ai lehnte am Türrahmen zur Küche und sah sich mit leicht genervtem Gesichtsausdruck an, wie ihre Mitbewohnerin in einem Kleiderstapel nach ihrem Schlüsselbund kramte.

Die schlanke Asiatin hatte ihre Arme über dem Babybauch verschränkt und sah so aus, als würde sie mit diesem strengen Blick dort stehen bleiben, bis sie eine Antwort bekam. Wie lange das auch immer dauern würde.

„Es ist nur wegen ein paar seltsamer Typen. Ich glaube nicht, dass sie hier her kommen werden.“

Paige stellte sich gerade vor Ai hin und versuchte so gut es ging deren Blick standzuhalten.

„Es tut mir wirklich leid. Ich will nicht, dass du dich fürchtest...“

In ihrer Hosentasche vibrierte es und fing dann an, eine Tonfolge zu spielen, bis Paige das Handy herauszog und auf einen Knopf drückte. Sie war schon fast eine halbe Stunde zu spät dran wegen dieses blöden Anrufs. Und dann hatte er auch noch so geendet, dass sie sich nun Sorgen um Ais Sicherheit hier zu Hause machen musste.

Hätte Paige ihre Wut nur ansatzweise heraus gelassen, wäre wahrscheinlich das gesamte Viertel in Flammen aufgegangen. Aber noch mehr als ohnehin schon, wollte sie Ai nicht verunsichern.

Endlich fand sie den Schlüssel in einem einzeln herumliegenden Turnschuh und spurtete mit dem Rucksack zur Tür, wo sie allerdings noch einmal stehen blieb.

Ai war ihr hinterher gekommen und legte nun ihre schlanke Hand auf die von Paige, sodass sie gemeinsam auf dem Türknauf lagen.

„Ich würde mir weniger Sorgen machen, wenn du mir sagen würdest, was los ist.“

Das saß. Paige hätte ihr am liebsten trotz der Tatsache, dass sie schon halb auf der Terrasse und damit im Freien stand, die ganze Geschichte erzählt. Ein wenig Zuspruch und jemand, der die Last teilte, wären einfach zu schön gewesen. Aber sie hatte ihre Gründe, dem Drang nicht nachzugeben.

Sie zog ihre Hand weg und streichelte mit ihr über Ais runden Bauch, bevor sie ihrer Mitbewohnerin tapfer ins Gesicht lächelte.

„Ich kümmere mich um alles und dann hast du mit oder ohne meine Erzählung keinen Grund mehr dir Sorgen zu machen. Ok?“

Paige wandte sich ab und hetzte die Stufen hinunter auf die Straße und dann in Richtung Fass. Allerdings nicht, ohne sich noch einmal umzudrehen und Ai ein Zeichen zu geben, sie solle die Tür abschließen.
 

Schon kurz nach dem er sich die paar notwendigen Stunden hingelegt hatte, die er zum Schlafen brauchte, um fit zu bleiben, schlang er sein Frühstück hinunter, das ebenfalls notwendig war, um bei Kräften zu bleiben, ehe er sich auch schon wieder auf den Weg in die World Underneath machte.

Es war noch relativ früh am Nachmittag, weshalb er genug Zeit hatte, die Wohngegend von Flame auszukundschaften, ehe sie zur Arbeit musste.

Glücklicherweise war es mangels an Sonnenschein hier zu jeder Tages- und Nachtzeit gleich düster. Somit hatte er auch jetzt genügend Schatten und Winkel aus denen er heimlich das Haus heraus beobachten konnte.

Ab und zu kamen Gestalten an ihm vorbei, ein paar der unmenschlicheren Wesen bemerkten ihn sogar, aber sie waren so mit sich selbst beschäftigt, dass sie ihm nur einen finstern Blick schenkten und dann wieder weiter zogen.

Wenigstens war hier keiner so dumm, ihn offen anzugreifen. Immerhin sah er im Augenblick weder reich noch wie leichte Beute aus. Ryon passte also ganz und gar zu diesen ganzen Spukgestalten, die sich hier unter der Erde vor den Menschen versteckt hielten.

Sein endgültiges Versteck war schließlich eine leerstehende Etage in einem Gebäude fast gegenüber der Wohnungen in der die Diebin wohnte.

Als noch alles ganz still gewesen war, hatte Ryon ihre Witterung bis zu einer grünen Tür mit gelbem Muster verfolgt und wusste somit, auf welche Wohnung er sich speziell konzentrieren musste.

Da eine fleckige Glasscheibe ihm genau die Deckung gab, die er brauchte, um nicht gesehen zu werden, hatte er keine Bedenken sich direkt dahinter zu stellen und die Gegend zu beobachten. Es war hinter ihm und um ihn herum alles finster. Wenn also jemand zu ihm hoch sehen sollte, würde er nur das schwache Licht der Straßenbeleuchtung in der Scheibe erkennen können. Er jedoch blieb verborgen, aber deswegen keinesfalls weniger wachsam.

Als schließlich die grüne Tür mit den fröhlichen Mustern aufging, spannten sich seine ganzen Muskeln an. Da war die Diebin und offenbar hatte sie es ganz schön eilig, aber sie war nicht alleine. Was bedeutete, dass er während ihrer Abwesenheit nicht einfach in ihrer Wohnung herum schnüffeln konnte, so wie sie es bei ihm getan hatte.

Als Flame zur Seite trat begann sein Herz plötzlich unkontrolliert schneller zu schlagen. Sie lebte mit einer anderen Frau zusammen.

Sein Blick blieb auf dem gerundeten Bauch hängen, den die sonst sehr schlanke Frau vor sich her trug.

Das Blut begann ihm laut in den Ohren zu rauschen, als er sah, wie Flame liebevoll mit der Hand darüber streichelte, während sie sich mit der asiatischen Frau unterhielt.

Es lief Ryon eiskalt den Rücken runter, während das Fensterbrett unter seinem stahlharten Griff lautstark knackte. Sein Puls raste.

Bevor er sich überhaupt bewusst war, was da gerade wieder einmal mit ihm geschah, hatte er das Holz auch schon abgebrochen, ehe er seinen Blick von der schwangeren Frau los reißen konnte, um sich wieder zu beruhigen.

Sein Atem ging schnell, was für seine Verhältnisse äußerst ungewöhnlich war. Aber auch wenn sein Gesicht so ausdruckslos wie immer blieb, tobte in ihm ein einziges Gefühlschaos, das er nur schwer bändigen konnte und es stand ihm auch in seinen goldgelben Augen geschrieben.

Für gewöhnlich traf ihn dieser Anblick nicht so hart, aber hier und heute hatte er nun einmal wirklich nicht damit gerechnet, mit einer schwangeren Frau konfrontiert zu werden. Darauf war er absolut nicht vorbereitet gewesen.

Mit viel Übung und jahrelanger Selbstdisziplin, schaffte er es, sich wieder auf ein normales Level hinunter zu bringen und alle unnötigen Gedanken zu verdrängen.

Als er sich schließlich wieder dazu zwang, die Szene anzusehen, erhaschte er von der Diebin nur noch einen flüchtigen Blick, wie sie davon eilte und die asiatische Frau ihr besorgt hinterher sah. Danach ging diese wieder in die Wohnung zurück und schloss die Tür.
 

***
 

Eigentlich sollte er hier nicht schon einige Zeit lang nur herum stehen und die geschmacklose Tür anstarren. Stattdessen müsste er dort unten sein und sich ein besseres Bild von Flames Mitbewohnerin machen. Um abschätzen zu können, ob diese bald die Wohnung verlassen würde oder auch weiterhin dort drin alles für ihn unzugänglich machte. Oder er könnte aber auch bei der Diebin sein, und sich rund um die Bar noch etwas über diese Kellnerin umhören. Doch was tat er hier? Er starrte diese verdammte Tür an!

Es half nichts. Er musste es sich eingestehen. Der Anblick der schwangeren Frau hatte ihn aus dem Konzept gebracht und jetzt wusste er nicht weiter. Den Prioritäten nach müsste er zwar ohnehin nur darauf warten, bis sich die Diebin mit ihren Kontaktleuten traf oder etwas passierte, was ihn wieder auf die richtige Spur brachte. Aber dazu müsste er bei Flame sein und nicht hier. Weshalb er seinen Arsch in Bewegung setzen sollte, als noch weiter kostbare Zeit zu vergeuden, immerhin würde es nicht ewig Nacht bleiben.

Gerade als Ryon sich endlich dazu durchringen konnte, seine Position zu verlassen, um das Fass aufzusuchen, nahm er seltsame Aktivitäten unten auf der Straße vor den Wohnungen wahr.

Die Gestalten, die an dem Gebäude vorbei gingen, waren genauso zwielichtig und finster, wie die anderen davor auch, die sich hier herum trieben, aber das war es nicht, was seine Aufmerksamkeit erregte. Sondern die Art, wie sie sich bewegten. Denn jeder für sich genommen, schien nichts mit den anderen zu tun zu haben. Es waren einfach Typen in abgewetzten Klamotten, die eilig oder auch langsam die Straße entlang gingen.

Wenn man aber das ganze aus einer anderen Perspektive betrachtete, schienen die sechs Kreaturen, die er da ausmachen konnte, irgendwie miteinander zu tun zu haben.

Da war zum einen der Penner, der in dem Container, hinter den Ryon sich gestern versteckt hatte, den Müll zu durchwühlen begann, sich dabei aber weder für Essensreste, Stofffetzen noch sonst irgendwelche noch brauchbaren Materialien zu interessieren schien. Er wühlte einfach, ohne Sinn und Zweck der Aktion erkennen zu lassen.

Okay, Verrückte brauchten nicht immer einen Grund für ihr Tun, sie taten es einfach. Dann war da aber auch noch dieser schemenhafte Schatten auf der anderen Seite der Straße, der an der Hausmauer lehnte und sich gerade eine Zigarette anzündete. Selbst Ryon konnte nur seine Konturen erkennen und das leichte Glühen des Glimmstängels. Dennoch war offensichtlich, dass der Kerl hier sich nicht einfach nur seiner Sucht hingab. Er beobachtete die Wohnungen.

Als erneut zwei der abgewetzten Kerle die Straße entlang kamen, die genauso aussahen, wie die davor, nickte der Schatten in der Ecke ganz leicht, woraufhin die zwei Männer ihre Richtung änderten und sich lümmelnd an jeweils ein Straßenende aufstellten. Das waren dann wohl die, die darauf achteten, ob die Luft rein war. Zumindest wenn Ryon ihr merkwürdiges Verhalten erraten müsste.

Der Penner hörte schließlich auf im Müll zu wühlen und täuschte einen Hustenanfall vor, woraufhin eine weitere Gestalt in der dunklen Gasse auftauchte und an ihm vor bei ging, als würde er den röchelnden Penner gar nicht bemerken.

Die Sache war nur die. Die Gasse war eine Sackgasse. Das hatte Ryon gestern schon festgestellt. Man konnte da also nicht einfach so auftauchen, als käme man gerade von einer anderen Seitenstraße.

Als der Kerl dann auch noch ohne Umschweife auf die grüne Tür mit den gelben Mustern zuhielt, als wolle er hier jemanden besuchen, war die Sache für Ryon endgültig klar. Das war ein Hinterhalt.

Es war zwar keine gute Idee, sich in diese Angelegenheit einzumischen, die Ryon im Grunde nur entfernt etwas anging, aber als der Kerl einfach so mit gezogener Waffe die grüne Tür eintrat, schaltete sein Gehirn ab. Er reagierte einfach.
 

***
 

Paige riss sich die Glitzerperücke vom Kopf und hatte keine halbe Sekunde später schon wieder das Handy am Ohr. Die Hand, mit der sie ihren Metallspind scheppernd zuschmiss, hinterließ einen schwarz verkohlten Abdruck auf der Tür.

„Warum gehst du nicht ran?!“

Würden nebenan im Hauptraum der Bar nicht die Bässe dröhnen, wäre der Krawall, den sie gerade verursachte, bestimmt jemandem aufgefallen. Jetzt war es Paige nur recht, dass sie ihre Gefühle einigermaßen frei herauslassen konnte, ohne dass jemand Fragen stellte. Sie wollte niemandem erklären, warum sie hier zwischen Panik und Wut hin und her schwankte und kurz vorm Explodieren stand.

Zum fünften Mal drückte sie den Wiederwahl-Knopf und ihr Herz schlug bei jedem Tuten, das sie hörte nur noch schneller.

Um Ai nicht zu lange allein daheim zu lassen, hatte sie nach der Hälfte der Schicht darum gebeten heimgehen zu dürfen. Unter dem Vorwand, dass es ihr nicht gut ginge. Eigentlich hatte sie gar nicht viel erklären müssen. Der Boss hatte ihr nur ins Gesicht gesehen und ohne Murren geglaubt, dass irgendetwas an ihr nicht stimmte.

Dass es die bloße Angst um ihre Mitbewohnerin und Freundin war, die ihr Gesicht käsig weiß aussehen ließ und ein leises Zittern durch ihre Glieder schickte, brauchte der Kerl ja nicht zu wissen.

Selbst als sie sich schon einen Weg durch die Bar zur Tür rempelte, hielt Paige das kleine Telefon noch an ihr Ohr. Wäre der Anruf endlich entgegen genommen worden, hätte sie es auf jeden Fall trotz lauter Musik mitbekommen.

Dabei war diese Panikattacke bestimmt völlig unbegründet. Vielleicht funktionierte die Telefonleitung nur mal wieder nicht. Oder Ai hörte Musik.

So laut, dass sie das Telefon nicht hört? Mach dir nichts vor.

Mit einem Fluch schmiss Paige ihr Handy in den Rucksack und hob nur kurz die Hand zum Abschied, als sie an den Türstehern vorbei rauschte.

„Es ist bestimmt nichts. Reiner Zufall...“

Ach tatsächlich? Am Vormittag droht mir jemand, dass er mir alle Schuppen einzeln ausreißen wird, wenn ich dieses Amulett nicht beschaffe und jetzt erreiche ich Ai nicht? Ai, die normalerweise nachts nie das Haus verlässt und sogar versucht wach zu bleiben, bis ich nach Hause komme?

Paige versuchte sich innerlich zur Ruhe zu brüllen, was natürlich schon im Ansatz nicht funktionieren konnte.

Sie war dabei so mit sich selbst beschäftigt, dass sie die Männer nicht rechtzeitig bemerkte. Erst als das Geräusch von schweren Stiefeln auf dem harten Boden eindeutig auf sie zukam, drehte sie sich um.

Zu langsam um beiden Schwingern auszuweichen.

5. Kapitel

Obwohl er sich im ersten Stock befand, krachte er einfach durch die Fensterscheibe und kam sanft mit seinen Füßen in einem Regen aus Glasscherben mitten auf der Straße auf, womit er die gesammelte Aufmerksamkeit von diesem zwielichtigen Haufen hatte.

Der entsetzte Schrei einer Frau ließ sofort hohe Mengen von Adrenalin durch seinen Organismus pumpen, während sein Puls rasend in die Höhe schnellte.

Das Gefühl war Ryon nicht fremd. Er hatte Angst.

Früher hätte es ihn gelähmt und handlungsunfähig gemacht, doch jetzt machte es ihn stärker.

Er schoss voran, dabei die Männer ignorierend, die nun doch ihren Spähposten verlassen hatten, um ihn aufzuhalten.

Ohne sich mit den Treppen aufzuhalten, schwang er sich mit einem Satz über das Geländer und bügelte den Kerl mit der Waffe wie eine Dampflok nieder, der es gerade einmal bis kurz über die Türschwelle geschafft hatte, bis Ryon dessen Gesicht so hart den Fußboden küssen ließ, dass man es deutlich vernehmlich knacken hören konnte.

Der Blick der asiatischen Frau traf für einen Moment den seinen, als er sich nach ihr umsah. Sie war vollkommen erschrocken und drückte sich in eine Ecke hinter eines der schmalen Betten, schützend die Hände vor ihrem Bauch, während sie am ganzen Leib zitterte.

Noch bevor Ryon etwas sagen konnte, spürte er ein Brennen in seinem linken Oberarm und wirbelte herum.

Sie waren nicht mehr alleine.

Kurzerhand schnappte er sich die Waffe, die der Bewusstlose am Boden noch immer in den schlaffen Fingern hielt und feuerte, bis das Magazin und zugleich auch der Hauseingang leer war.

Ryon war sich sicher, zwei der Männer ausgeschalten zu haben, zumal einer von ihnen blutend und regungslos auf der Türmatte lag, aber es bedeutete, dass dort draußen immer noch drei gefährliche Schützen lauern mussten.

Mit der Fußspitze schaffte er es, die Tür wieder zufallen zu lassen, nachdem er den Bewusstlosen als lebendes Schutzschild gegen mögliche Geschosse benutzt und diesen zugleich ebenfalls vor die Tür gesetzt hatte, um sie schließen zu können.

Zwar wurde das Holz bereits kurz darauf siebartig durchlöchert, aber so konnten die Angreifer wenigstens nicht mehr sehen, wo sie sich im Raum aufhielten.

Sofort war Ryon bei der schwangeren Frau, die ihn total panisch anblickte und zugleich so heftig nach Luft schnappte, als würde sie gleich hyperventilieren.

„Ganz ruhig, ich bin hier um Ihnen zu helfen.“, versuchte er sie etwas zu beruhigen. Da er sich aber so anhörte, als würde er sich gerade über die Vor- und Nachteile einer Mikrowelle unterhalten, erzielten seine Worte natürlich absolut keine Wirkung. Trotzdem griff er nach ihr, obwohl sie sich mit Händen und Füßen dagegen wehrte.

Gerade als die Tür wieder aufflog, hatte er es geschafft, sie auf eine Weise fest zu halten, die sie davor schützte, sich selbst zu verletzen, während sie sich auch weiterhin gegen ihn zu wehren versuchte.

„Kopf einziehen.“, befahl er ihr leise, was sie auch sofort tat, als er mit ihr im Arm einen Satz durchs Zimmer machte und in einem viel zu kleinen Raum landete, der sich als Küche heraus stellte. Dort setzte er die Frau wieder vorsichtig auf dem Boden ab.

„Bleiben Sie unten und verhalten Sie sich ruhig.“

Ryon wartete keinerlei Reaktionen ab, stattdessen schnappte er sich das Nächstbeste, was er finden konnte und warf es nach den Angreifern, ehe er wieder in der Küche in Deckung ging.

Das laute Plong sagte ihm, dass der Kochtopf ins Schwarze getroffen hatte und ein weiterer Körper schwer zu Boden ging.

Rasch blickte sich Ryon nach weiteren Möglichkeiten um, immerhin waren noch zwei bewaffnete Kerle übrig und er war alles andere als Kugelsicher. Dabei bemerkte er auch, dass sich die Frau in einen weiteren Raum zurückgezogen hatte. Von dort aus ging es nicht weiter, aber es war gut, dass sie nicht direkt in der Gefahrenzone blieb.

Noch immer waren Schüsse zu hören, Querschläger zerstörten die ohnehin schon angeschlagene Kücheneinrichtung und Ryon bekam statt Kugeln, Besteck, Teebeutel, Holz- und Glassplitter ab, bis eine kurze Ruhepause zwischen den Schüssen folgte.

Schritte bewegten sich durchs Zimmer und leere Magazine fielen zu Boden.

Das war Ryons einzige Chance, die er auch nutzte.

Mit zwei Sätzen war er nicht nur aus der winzigen Küche, sondern auch schon auf dem nächsten Kerl, der gerade nachladen wollte. Ein Hieb reichte, um dessen Kehlkopf zu zerschmettern und ihn unschädlich zu machen.

Gerade wollte er sich auf den letzten Angreifer stürzen, als es ihn überraschend und mit der Wucht eines Unwetters traf.

Ryons massiger Körper wurde zur Seite und auf das zweite schmale Bett geschleudert, das unter der Wucht seiner Körpermasse zusammenbrach.

Sein Körper begann unter heftigen Schmerzen unkontrolliert zu zucken, während ihn von allen Seiten Messer zu durchbohren schienen.

Es dauerte schier ewig, bis es ihm unter dieser Qual gelang, sich zu seinem Peiniger herum zu drehen.

Es war der Kerl mit der Zigarette und jetzt, da er sich nicht mehr im Schatten aufhielt, konnte man auch erkennen, dass er wesentlich besser gekleidet war als die anderen.

Er trug einen schwarzen Umhang und teuer wirkenden Schmuck um seinen Hals, aber keine Waffen. Welche er auch gar nicht brauchte; seine erhobenen Hände reichten vollkommen dazu aus, ihn zu foltern.

Während Ryons Nervenenden schmerzhaft gepeinigt wurden, versuchte er sich trotz seines wild zuckenden Körpers, wieder hoch zu kämpfen, aber seine Muskeln wollten ihm kaum gehorchen, so sehr durchfuhren ihn unsichtbare Blitzschläge.

Zu seinem eigenen Entsetzten konnte er auch spüren, wie nicht nur das Leder auf seiner Haut zu kokeln anfing, sondern auch seine Haut selbst und zwar an den Stellen, an denen die Blitze seinen Körper durchfuhren.

Doch das wirklich Schlimmste an diesem Angriff war die Tatsache, dass sein Herz immer unregelmäßiger zu Schlagen begann und Ryon nicht wusste, wie lange es dieser Folter noch standhalten konnte.

Dennoch war er unfähig, etwas dagegen zu unternehmen, obwohl er gleich sterben würde.

So schnell wie der Angriff über ihn gekommen war, endete er auch und die Zuckungen ließen nach, während sein Herz sich wieder um einen gleichmäßigen Rhythmus bemühte.

Die asiatische Frau stand hinter dem benommen am Boden kniehenden Magier und hatte einen Baseballschläger in der Hand, den sie ihm offenbar über die Rübe gezogen hatte. Allerdings war ihr Schlag nicht fest genug gewesen.

Der Kerl raffte sich schneller wieder auf als Ryon es vermochte und schlug seiner Retterin so fest ins Gesicht, dass diese bewusstlos zu Boden ging.

Bei diesem Anblick brannten bei Ryon sämtliche Sicherungen durch, die nicht ohnehin schon von der Blitzfolter angestachelt worden waren.

Mit vor Hass lodernden Augen stürzte er sich auf den Magier und wetzte so lange seine Krallen an ihm, bis jeder Versuch zwecklos wäre, diesen selbst für eine Beerdigung wieder zusammen zu flicken. Es war kein schneller Tod gewesen.

Noch immer rasend vor unterdrückter Wut ließ er schließlich von dem zerfetzten Körper ab, um nach der schwangeren Frau zu sehen.

Bis auf die rasch anschwellende Wange, schien ihr nichts zu fehlen, dennoch würde er sich nicht einfach so darauf verlassen.

Zudem war es hier nicht mehr sicher für sie.
 

***
 

Als sie mit dem Rücken über den rauen Asphalt schlitterte, war Paige kurz davor Sternchen zu sehen und einfach k.o. zu gehen.

Sie wusste für Sekundenbruchteile gar nicht, was sie getroffen und diesen hämmernden Schmerz unter ihrem Auge verursacht hatte. Doch als ein Männergesicht über ihr auftauchte und sie am T-Shirt hochgezerrt wurde, reagierte ihr Körper reflexartig für sie, wo der Verstand noch nicht ganz mitkam.

Mit einem erschrockenen Schrei sprang der Kerl zurück und sah auf seine völlig verbrannte Hand hinunter, bevor er in die Knie sank und sie wimmern irgendwie zu kühlen versuchte.

Paiges Kleidung fiel von ihr ab, als sie sich hastig nach allen Seiten umsah. Immerhin waren es nicht viele.

Drei.

Einer Frau traute man wohl nicht allzu viel Gegenwehr zu.

Wütend presste Paige die Lippen zusammen. Sie würden gleich sehen, wie schwer sie sich da getäuscht hatten.

Der zweite Mann, breit wie ein Ochse und mit ähnlichen Hörnern seitlich am Kopf kam auf sie zugerannt und schien sich von den Flammen nicht abschrecken zu lassen. Die lange Metallstange, die er auf Paige zusausen ließ, sollte ihn wohl vor direktem Kontakt schützen.

Sie nutzte seine geballte Körperkraft und den Schwung aus, mit dem er auf sie zu stürmte und drehte sich an der Stange entlang auf ihn zu, bis sie sich auf seinen Rücken schwingen konnten. Sein Augenlicht hätte er auch nicht wieder erlangt, wenn Paige ihm ihre brennenden Finger nicht zusätzlich noch so tief in den Rachen gesteckt hätte, wie sie konnte.

Mitten im Lauf bracht er zusammen und schrie und biss noch eine Weile, bis sein Körper endlich aufgab.

Der Gestank von verbranntem Fleisch und Haaren widerte auch Paige an und sie kam ob ihrer Tat wacklig auf die Beine. Mit geweiteten Augen sah sie auf den Mann herab und ihr wäre schlecht geworden, wenn sie Zeit dazu gehabt hätte.

Stattdessen hörte sie das seltsame Ploppen zur gleichen Zeit, zu der ein stechender Schmerz von ihrer Seite aus durch ihren gesamten Oberkörper fuhr. Das Blut sprudelte kochend heiß aus der Wunde, welche die Kugel in ihre leichte Schuppenpanzerung gerissen hatte. Weitere Geschosse schlugen nur wenige Zentimeter neben oder hinter ihr in Hauswände und Eingangstüren. Selbst wenn Paige laut um Hilfe geschrien hätte, wäre niemand so dumm gewesen, jetzt auch nur ein Haar auf der Straße sehen zu lassen. Hier brachte sich niemand selbst in Gefahr. Denn selbst bei der kleinsten Keilerei, geschweige denn einer Auseinandersetzung mit Schusswaffen, konnte es sofort um das eigene Leben gehen.

Da sie das wusste, prallte Paige beinahe überrascht zurück, als ein weiterer Mann sich aus einem Hauseingang löste und auf die Straße vor ihr hinaustrat. Schliddernd kam sie mit nackten Füßen zum Stehen und sah sich wie ein Tier in der Falle nach allen Seiten um. Zwei waren außer Gefecht und der Dritte hatte beim Auftritt des Unbekannten aufgehört wie wild hinter Paige her zu ballern.

Und dabei wäre sie nie davon ausgegangen, dass dieser Neue zur Gruppe der Angreifer gehören könnte.

Sein Outfit entsprach schon allein gar nicht dem seiner Kumpanen. Paiges dunkle Augen huschten auf der Suche nach einer weiteren Waffe über seinen Körper, während sie gleichzeitig versuchte den Mann mit dem Revolver hinter sich nicht außer Acht zu lassen.

Sie sah fließenden Stoff in dunklen Farben. Einen langen Stoffmantel mit weiten Ärmeln, der vorn Knöpfe hatten, die so aussahen, als hätten sie auf dem Markt genug Geld für einen Monat gutes Leben eingebracht. Genau das Gleiche schätzte Paige für den Schmuck, den der Mann an seinen Finger und Ohren trug. Eigentlich wunderte sie sich, dass er nicht bei jedem Schritt klimperte, so wie er mit Kostbarkeiten bestückt war.

Sein Haar war lang und von einem glänzenden Schwarz. Vorn fiel es ihm in zwei Zöpfen über die Ohren, während es vom Hinterkopf bis zu seinem Hinter den Rücken hinunter wallte. Manch einer, der nicht spürte, dass ihm dieser Mann ans Leder wollte, hätte ihn vielleicht als schön bezeichnet.

Paiges gespaltene Zunge fing einen seltsamen Geruch auf, der den Unbekannten wie eine Aura umgab. Da sie es nicht zuordnen konnte, kostete sie noch einmal davon. Und wieder. Da war so etwas wie Lotus... Lavendel... und etwas Schweres, das so gut zu seinen roten, vollen Lippen passte.

Weder bemerkte Paige, wie ihre Flammen langsam erstarben, noch wie sich ihr die in sanfte Töne und wallende Stoffe gekleidete Gestalt ruhig immer weiter näherte. Immer wieder schüttelte sie den Kopf, als würde sie etwas loswerden wollen. Einen Nebel oder einen unangenehmen Ton in den Ohren, der sie daran hinderte etwas Bestimmtes zu tun.

Er war ein ganzes Stück größer als sie selbst und Paige konnte sehen, dass er ihr in den Nacken greifen wollte, um sie bei dem Schwindelgefühl, dass sie ergriffen hatte davon abzuhalten, einfach umzufallen. Er war also ein höflicher Mensch. Darauf bedacht, dass sie sich nicht wehtat.

Dabei hätte sie sich in den Nebeln und wabernden Geruchsspuren, die sie umgaben doch gar nicht wehtun können.

Ihre Zunge hätte so gern seine dunkle Haut berührt, so gern noch mehr von dem geschmeckt, was bis jetzt nur intensivster Geruch war.

Selbst die gebogene Klinge, die direkt neben ihrem Gesicht auftauchte und sich in ihrem kalten Glanz mit dem goldenen Schmuck des Mannes nicht vertragen wollte, konnte Paige nicht verunsichern. Er würde ihr doch nichts tun. Er wollte sie nur beschützen. Sie einhüllen in duftenden Nebel.

„Du bist schön.“

Seine Stimme war ein angenehmes, leises Singen, das direkt unter ihre Haut zu dringen schien.

Verwundert sah Paige an sich hinunter, um zu überprüfen, was er gesagt hatte. War sie denn schön? So wie sie jetzt war? Mit ihren Schuppen und der Haut der Menschen, die an einigen Stellen noch zu sehen war? Was war er denn? Was musste sie denn für ihn sein, damit sie schön war?

Ihre Stirn kräuselte sich angestrengt und endlich spürte sie die Spitze des Messers, die gerade die Kontur ihres Halses hintern zeichnete.

Der Puls sprang ihr so schnell in die Höhe, dass die Schleier in ihrem Hirn in winzige Fetzen zerrissen wurden. Mit einem Wutschrei riss sie sich los und schlug dem Mann mit flammenden Fingern das Messer aus der Hand.

Sie hatte mit einem Fluch gerechnet, vielleicht einem unüberlegten Angriff, wie von dem zweiten Kerl, aber nichts dergleichen passierte.

Lachen drang an ihre Ohren. Klirrendes, kaltes Lachen, das ihr einen Eiszapfen durchs Herz jagen wollte. Ein Zittern ging durch ihren Körper und Paige merkte, wie sie drohte, die Kontrolle über ihre Flammen zu verlieren.

Erst jetzt sah sie die Augen des Mannes. Sie waren von einem so durchsichtigen blau, dass sie fast weiß wirkten. Allein der Kontrast zu der braunen Haut, ließ den Kerl maskenhaft erscheinen. Eine Fratze des Grauens für Paige, der jetzt ganz andere Gerüche von ihm entgegen schlugen. Aber noch einmal würde sie sich nicht das Hirn vernebeln lassen.

Von ihren Gegnern unerwartet schnellte sie herum und warf sich beinahe blau lodernd auf den Mann, der immer noch den Revolver in der Hand hielt. Da sein Kollege sich anscheinend um die härteren Fälle wie Paige kümmerte, hatte er nicht aufgepasst und versuchte nun sich schreiend im Dreck zu wälzen, um das Feuer zu ersticken, das sich über seinen gesamten Körper ausbreitete. Natürlich vergebens.

Paige rannte. Sie rannte um ihr Leben. Weg von dem Lachen und weg von der Bedrohung. Bloß weg von dem Mann der ihr ihren Verstand rauben konnte.

Sie hatte sich durch Lücken zwischen alten Häusern gequetscht, war über Dächer geklettert und hatte sich doch auf den Weg gemacht, der ihr so viel mehr Panik versprach als jener, von dem sie gerade erst geflohen war. Sie musste zu Ai und jeder Schlag ihres Herzens glich bloß einem Schrei.

„Lass' mich nicht zu spät kommen!“
 

***
 

Endlich öffnete sich die honigfarbene Holztür und ein älterer Mann Mitte Fünfzig kam heraus. Er trug einen leicht zerknitterten grauen Anzug, der zu den grauen Strähnen in dem noch immer dichten schwarzen Haar passte. Er strich sich gerade die hoch gekrempelten Hemdsärmel wieder bis zum Handgelenk hinunter, ehe sich seine sanften grauen Augen an Ryon richteten, der noch genauso da stand, wie schon vor einer Stunde.

„Wie geht’s ihr, Tennessey?“

Seine Stimme war noch ausdrucksloser als sonst, aber das konnte man ihm nicht übel nehmen.

Er war wieder hier.

Obwohl er in einem hellen Flur mit großen Fenstern, weißen Leinenvorhängen, vielen Grünpflanzen und sorgsam dekorierten Wänden auf hellem Parkett stand, fühlte er sich so fehl am Platze, als wäre ihm das alles nicht vertraut. Als stünde er in einer anderen Welt und nicht in dem Haus, bei dem er geholfen hatte, es mit eigenen Händen zu bauen.

Er wollte hier weg. Sofort auf der Stelle.

Jede Sekunde die er hier länger blieb, fühlte sich so an, als würde in ihm drin etwas qualvoll sterben und doch nie endgültig tot sein. Trotzdem war er geblieben. Die Sorge um diese unbekannte Frau hatte ihn an Ort und Stelle festgehalten.

Der Arzt und ein langjähriger Freund den er schon lange nicht mehr aufgesucht hatte, lächelte ihn beruhigend an. Auf genau die Art, wie Ärzte immer aussahen, wenn sie eine gute Nachricht hatten und zugleich Angehörige beruhigen wollten. Aber es lag noch etwas in dem Blick des älteren Mannes – Sorge.

Nicht wegen der Frau, sondern wegen Ryon. Es war nur zu berechtigt und dennoch schwieg er darüber. Tennessey wusste, dass es Dinge gab, bei denen die beste Medizin nicht weiter half.

„Ich habe ihr ein leicht verträgliches Beruhigungsmittel gegeben, damit sie noch etwas schläft. Ihr und dem Kind geht es gut. Auch wenn ich mir Sorgen darüber mache, dass sie so dünn ist. Weißt du, ob sie sich ausgewogen ernährt?“

Ryon schüttelte nur den Kopf. Bis vor wenigen Stunden hatte er die Frau noch nie in seinem Leben gesehen. Aber wenn sie in so einer Gegend wohnte, konnte man durchaus davon ausgehen, dass sie nicht genug zu essen bekam. Zumindest nicht das, was eine schwangere Frau brauchte.

„Ich habe bereits veranlasst, dass alles vorbereitet wird. Du kannst Tyler aber auch noch eine Liste der Lebensmittel mitgeben, die er besorgen soll und was sie sonst noch so brauchen wird. Ich will ohnehin, dass du solange bei ihr bleibst, bis ich wieder da bin.“

Der Arzt sah überrascht aus.

„Du willst noch einmal weg? Ich hatte noch nicht die Zeit nach deinen Verletzungen zu sehen.“

„Es sind nur Kratzer.“

Ryons Miene zeigte ohnehin keinerlei Regung, obwohl er Schmerzen hatte. Aber sein alter Freund sah auch so, dass es eine Lüge war. Er würde ihn aber nicht weiter aufhalten. Sofern der Hüne nicht mit dem Kopf unterm Arm zu ihm kam, war alles noch nicht so schlimm.

„Du wirst doch hier bleiben und auf sie aufpassen, oder?“, wollte Ryon noch einmal wissen, bevor er die Schlüssel für seinen Wagen aus der Tasche zog.

„Natürlich. Solange du willst.“

„Gut.“ Er wandte sich zum Gehen.

„Und Ryon-“, rief ihn Tennessey noch einmal zurück, woraufhin er stehen blieb, ohne sich umzudrehen.

„Pass auf dich auf.“

Stille, dann: „Kein Problem.“

Mit diesen Worten verließ der Hüne das Haus und kurze Zeit später konnte man ihn mit quietschenden Reifen davon fahren hören.

Der alte Arzt schüttelte seufzend den Kopf.

„Du bist immer noch ein schlechter Lügner.“
 

Ryons Finger zitterten auf dem Lenkrad, weshalb er es noch fester umschloss. Aber es half nichts. Er hatte gewusst, dass es keine gute Idee gewesen war, zu seinem Haus zurück zu fahren.

Doch mitten in unzähligen Hektaren von Wald, der ihm gehörte, war das der sicherste Ort, den er kannte. Vor allem, da alles mit den modernsten Sicherheitsüberwachungsmittel ausgestattet war, die man auf dem Markt bekommen konnte. Selbst der Schwarzmarkt hatte noch nichts Besseres zu bieten. Denn obwohl er diesen Ort schon seit Jahren nicht mehr betreten hatte, sorgte er doch stets dafür, dass das Haus, der Garten und der Wald in Ordnung gehalten wurden.

Einmal hatte er sogar kurz davor gestanden, alles zu verkaufen, doch letztendlich war er dafür zu schwach gewesen. Also war ihm nichts anderes übrig geblieben, als es in Stand zu halten, obwohl er sich so weit wie möglich davon fern hielt.

Tyler der alte Butler, den er vom Haushalt seiner Eltern übernommen hatte, erledigte diese Aufgabe sehr gewissenhaft und zu Ryons größter Zufriedenheit. Wenigstens ein paar Menschen im Leben, auf die man sich verlassen konnte, auch wenn sie nicht gänzlich menschlich waren.
 

In der Nähe des Eingangs zur World Underneath parkte er den schwarzen Sportwagen und stieg aus. Seine schweren Stiefel knallten förmlich auf dem Asphalt, da er sich nicht damit aufhielt, unauffällig zu bleiben. Es war inzwischen viel Zeit vergangen, seit man die schwangere Frau angegriffen hatte. Doch die Schicht von der Diebin dürfte noch nicht zu Ende sein. Wer weiß, vielleicht war sie inzwischen auch schon tot. Immerhin war es doch sehr unwahrscheinlich, dass man ihr nur zuhause auflauerte. Das waren bestimmt noch nicht alle gewesen. Trotzdem lief er zuerst zu ihrer Wohnung zurück.

Allerdings kam er wirklich zu spät. Sie war bereits da.

Beim Anblick ihres nackten, teilweise von Schuppen übersäten Körpers, über den immer wieder bläuliche Flämmchen züngelten, blieb er schließlich stehen. Er wusste nicht genau, warum er hier war. Es diente ihm wohl kaum, sich mit der Diebin zusammen zu tun, die es auf sein Amulett abgesehen hatte. Aber vielleicht würde ihr Anblick die schwangere Frau etwas beruhigen, wenn sie in einer völlig fremden Umgebung aufwachte. Immerhin könnte zu viel Stress für eine frühzeitige Geburt sorgen. Das sollte nicht passieren.
 

Paige hatte sich eine Weile nicht von der Stelle gerührt, nachdem sie die Tür zu ihrer Wohnung aufgeschoben und das Chaos entdeckt hatte. Ihre Augen schienen die Bilder, die sich ihr boten gar nicht bis in ihr Gehirn weiter zu leiten. Nur einzelne Aspekte kamen nach und nach an und ließen Paige das Blut in den Adern und die schon gepresste Atmung stocken. Da war Blut und Männer in dunklen Mänteln, bei denen man nicht den Puls fühlen musste, um zu wissen, dass sie nicht wieder aufstehen würden.

Wie mechanisch stieg sie über die Körper hinweg, suchte krampfhaft nach einem Zeichen von Leben in diesem Massaker.

Ihre Stimme war rau und kaum zu hören, als sie das erste Mal nach Ai rief. Zum ersten Mal erschien Paige ihre Wohnung riesig, als sie nun darin unterwegs war, um nach ihrer Freundin zu suchen. Nirgendwo war etwas zu hören. Keine Antwort, aber auch keine Schmerzenslaute.

Paige liefen Tränen übers Gesicht und sie fühlte sich heiser, obwohl ihr nichts als ein paar Mal Ais Name über die Lippen gekommen war. Ihre Mitbewohnerin war nicht hier. Die Panik, die sich in immer höher schlagenden Wellen über ihren Körper ausbreitete, war nicht zu beschreiben.

Gerade wollte sie aus der Wohnung stürmen, um draußen weiter zu suchen, als sie schwere Schritte auf der Treppe hörte. Schritte, die ihr selbst nach den wenigen Gelegenheiten, bei denen sie sie gehört hatte, bekannt vorkamen. Doch erst als ihre Zunge seinen Geruch wahrnahm, war sie sich sicher.

Diesmal war es die Wucht der Verzweiflung, die sie handeln ließ. Völlig unüberlegt sprang sie den Mann an, der sie um Einiges überragte und sicher unter ihrem Fliegengewicht nicht zu Boden gehen würde. Aber die Überraschung ließ ihn zumindest an den Türrahmen taumeln, bevor Paige ihm einmal mit den spitzen und flammend heißen Fingernägeln übers Gesicht kratzen konnte.

„WO IST SIE?!“

Unter dem Klammergriff, mit dem sie sich an ihm festhielt, spürte sie die Lederkluft, die er anhatte. Noch leistete das Material Widerstand. Aber Paige konnte noch ganz anders, wenn es drauf ankam. Und da würde ihn das Bisschen Tierhaut nicht lange retten können. Wenn er Ai etwas angetan hatte, würde er sogar sehr viel qualvoller sterben, als er sich in seinen schlimmsten Albträumen ausmalen konnte.

Wieder griff sie nach seinem Gesicht, da es das leichteste Ziel und einigermaßen ungeschützt war. Verdammt, sie würde ihm die Augen langsam herausbrennen, wenn es sein musste.
 

Natürlich war er sich bewusst gewesen, dass diese Frau ihn sofort angreifen würde. Aber nun einmal nicht so schnell, weshalb sie bereits an ihm klebte, noch ehe er hatte reagieren können.

Glühend heiß fuhren ihre Fingernägel über sein Gesicht und verbrannten die Haut, die sie dort berührt hatte. Zudem klammerte sie sich so sehr an ihm fest, als wäre sie mit ihm verwachsen, was es schwer machte, der Hitze zu entkommen. Vor allem, da sie seinen Schwachpunkt nur zu bewusst auszunutzen versuchte.

Sein Gesicht war ihren Attacken schutzlos ausgeliefert und so wie sie sich benahm, würde sie ihn erst grillen bevor sie auf eine Antwort wartete. Sie war völlig außer sich.

Nur mit gut Glück konnte er ihrer Hand ausweichen, die erneut nach seinem Kopf fassen wollte, während er zugleich versuchte, sie von sich herunter zu drücken. Seine Hände griffen dabei auf glühend heißen Widerstand, der sich rau und hart anfühlte. Das mussten ihre Schuppen sein. Doch obwohl er an ihr zerrte, würde sie ihm vermutlich eher das Fleisch von den Rippen brennen, als ihn loszulassen.

Ryon kam noch nicht einmal dazu, auf ihre Frage zu antworten, da versuchte sie ihm erneut die Haut vom Gesicht zu brennen, weshalb er mit einer freien Hand die ihre schnappte und festhielt, obwohl alles an ihr inzwischen so heiß war, dass es sich anfühlte, als würde er eine riesige Herdplatte auf der Brust sitzen haben. Sehr viel länger, würde er das nicht mehr aushalten.

Schon jetzt floss ihm der Schweiß den Rücken hinab, aber noch schlimmer waren die Verbrennungen. Er konnte zwar viel ertragen, aber wenn sie sein Gewebe endgültig zerstörte, konnte auch er sich nicht mehr regenerieren.

Während er also darum rang, ihren glühend heißen Körper von ihm runter zu bekommen und dabei versuchte ihre Hand nicht loszulassen, obwohl sie ihm ungeheure Schmerzen verursachte, taumelte er durch die Küche in Richtung Bad.

Es schien sogar noch winziger zu sein, als der Rest der Wohnung.

Mit der letzten Kraft, die er noch aufbringen konnte, drückte er die Frau gegen die kalten Fliesen der Dusche, ehe er das Wasser aufdrehte.

Obwohl es eiskalt auf sie beide niederprasselte, war der Raum schon kurze Zeit später von Dampfschwaden erfüllt, doch die Hitze wurde wenigstens etwas gemildert.

„Hör mir zu.“, verlangte er mit zusammen gebissenen Zähnen zu der Diebin durchzukommen, noch immer ruhig, aber seine Fassade würde nicht mehr lange standhalten.

Vor Schmerzen wurde ihm bereits schwindlig und schlecht und obwohl er ansonsten goldbraun gebrannt war, war sein Gesicht erschreckend weiß, mal von den roten Spuren ihrer Kratzer abgesehen.

„Sie ist in Sicherheit.“, presste er mühsam hervor und sank mit der Frau zusammen in die Knie, während das kalte Wasser ihm über den Körper lief und ihn bis auf die Knochen durchnässte.

Ryon konnte die Frau nicht mehr von sich wegdrücken. Ihm fehlte inzwischen völlig die Kraft dazu. Sein Atem ging schwer, während er am ganzen Körper zitterte. Verdammt, er konnte noch nicht einmal ihre Hand los lassen.

Nicht etwa, weil er es nicht gewollt hätte, sondern weil er es nicht konnte. Seine verbrannte Haut klebte an ihr fest.
 

Paige spürte seine Versuche kaum, mit denen er sie von sich herunter zu zerren versuchte. Seine Krallen rutschten Größtenteils an ihrem Schuppenkleid ab und trafen nur selten auf die wenigen Flecken menschlicher Haut. Als er schließlich ihre Hand ergriff und sie wie ein Schraubzwinge festhielt, loderte in Paige noch mehr Wut hoch.

Die Flammen ihres Körpers schlugen über ihrem Kopf zusammen und leckten mit ihren Zungen an der niedrigen Decke der Räume. Ihr Griff lockerte sich kurz, als der Mann sie mit dem Unterarm von seiner Brust wegschob und ihr gleichzeitig die Hand nach hinten bog.

Dass er sie in Richtung Bad trug, bemerkte Paige gar nicht. Sie steckte auf dem Weg das Tischtuch in Brand und blieb mit der Schulter schmerzhaft am Türrahmen hängen. Aber erst, als sie die kalten Kacheln in ihrem Rücken spürte, erkannte sie, wo er sie hingebracht hatte.

Ihre Versuche ihm Schmerzen zuzufügen wurden noch wilder, als sie sah, dass er mit seiner freien Hand nach der Konsole griff.

Das eiskalte Wasser verursachte ein unangenehmes Gefühl auf ihrer Haut, da es gegen das Feuer ankämpfte und gleichzeitig noch heißeren Dampf hervorrief, der selbst auf den stabilen Schuppen empfindlich brannte, die Paige vor ihrer eigenen Fähigkeit schützten.

Aber die Flammen wurden unter dem Wasserstrahl unweigerlich kleiner. Auch wenn ihr Gegner das kalte Nass hauptsächlich dazu nutzte, seine Wunden zu kühlen.

Paige sah an seinen Augen, dass sie ihm durchaus große Schmerzen zugefügte. Trotzdem gab er noch nicht einmal ein Stöhnen von sich oder ließ sie los. Stattdessen presste sie sein Körpergewicht noch enger an die geflieste Wand, als er in die Knie sank und sie mit sich zog.

Die Schuppen auf ihrem Körper blieben immer wieder an den Fugen der Wand hängen und wurden einzeln aus ihrer Haut gerissen. Ohne die Flammen war sie nichts anderes als ein nur leicht gepanzertes Wesen, bei dem man nur wissen musste, wo die empfindlichen Stellen lagen, um es einfach auszuschalten.

Der Kerl, den Paige immer noch mit den Beinen umschlungen hielt und dem das eiskalte Wasser über den gesamten Körper lief, wusste allerdings offensichtlich nichts davon, dass er leichtes Spiel dabei hätte sie zu verletzen, wenn er es in diesem Moment wollte. Stattdessen erwischte er sie kalt mit der Aussage, dass Ai in Sicherheit sei.

Paige verkrampfte sich für einen Moment so sehr, dass sie an seiner Reaktion sehen konnte, dass er fürchtete, sie könne einen neuen Flammenhagel auf sie starten.

Aber das wäre im Moment nicht dienlich gewesen. Immerhin konnte er nichts mehr sagen, wenn sie ihn als verkohltes Häufchen Asche zurückließ.

Ihre dunklen Augen waren nur noch Schlitze, mit denen sie ihn fixierte.

Da er ihre Hand aus irgendwelchen Gründen immer noch festhielt, bewegte sie sich kaum. Gefasst darauf, dass er sie nur austricksen und mit Krallen oder anderen Waffen schwer verletzen wollte.

„Was hast du mit ihr gemacht?“

Die Panik davor, dass er Ai irgendwo gefangen halten und ihr schlimmeres als den Tod angetan haben könnte, ließ erneut blaues Feuer über die Stellen von Paiges Körper glimmen, die nicht von dem Wasserstrahl der Dusche direkt getroffen wurden. Einzelne Tropfen zischten auf ihr, wie auf einer glühend heißen Herdplatte, ehe sie verdampften.
 

Ryons Körper wurde von Krämpfen geschüttelt, die nur indirekt etwas mit den schweren Verbrennungen und den unerträglichen Schmerzen zu tun hatten.

Er verlor die Kontrolle über sich und die unkontrollierten Zuckungen seiner Muskeln waren die ersten Anzeichen dafür. Er konnte noch nicht einmal mehr genau die nächste Frage hören.

Stattdessen kämpfte er darum, seinen Überlebenstrieb auch weiterhin unterdrückt zu halten. Denn – das stand ganz außer Frage – hätte er ihn einfach zugelassen, die Diebin würde mehr als nur Feuer brauchen, um lebend aus dieser Zwangslage heraus zu kommen.

Mit aller Macht kämpfte er dagegen an, sich wieder zu beruhigen. Sogar sein Gesichtsausdruck wirkte inzwischen angespannt, aber selbst das war noch ein starker Kontrast zu der Hölle, die in ihm brannte.

Und wie er brannte. Alles an ihm schien zu brennen und ihn zu peinigen. Er hielt es kaum noch aus, trotz des kalten Wassers.

Mühsam packte er mit seiner freien Hand die der Frau, von der er nicht mehr die Finger lösen konnte. Noch einmal schnappte Ryon nach Luft, ehe er sich von ihrer schuppigen Haut los riss und darauf einen Teil seiner eigenen verbrannten Haut zurück ließ. Dieses Mal konnte er das Grollen in seinem Brustkorb nicht mehr unterdrücken, als der Schmerz ihn beinahe niederrang.

Am liebsten hätte er seinen Schädel so oft gegen die Fliesen gedonnert, bis ein Schmerz den anderen ablöste, aber es würde nichts bringen, also presste er den verletzte Arm einfach nur eng an sich und hielt die Augen für ein paar tiefe Atemzüge lang geschlossen.

Obwohl die Diebin immer noch an ihm hing, vergaß er sie wenigstens diesen einen Augenblick lang, während jegliche Gedanken wie ausgelöscht zu sein schienen.

Seine wahre Natur wollte aus ihm heraus brechen.

Doch weder war das der richtige Zeitpunkt dafür, noch war diese Frau es wert, dass er sich ihr zeigte. Weshalb er nun entschlossener denn je, darum kämpfte, von ihr los zu kommen und somit von diesem unerträglichen Brennen, dass ihn noch immer nur noch mehr zu verletzten versuchte.

Dieses Mal kannte er keine Gnade mehr. Er riss sie mit aller Kraft von sich herunter.

Kaum dass es ihm gelungen war, auf Händen und Knien aus der Duschkabine zu kriechen und sich an der Mauer neben dem Waschbecken anzulehnen, fiel es ihm schon leichter, sich zu beherrschen.

Dennoch grollte seine Stimme vor unterschwelligem Zorn und rasendem Schmerz, als er die Frau auch weiterhin auf Abstand zu halten versuchte.

„Fass mich noch einmal an und ich bring dich um, selbst wenn wir beide dabei draufgehen!“

Im Augenblick war es ihm egal, dass sie eigentlich auf derselben Seite standen. Vergessen war das Amulett, das noch immer seltsam kühl auf seiner viel zu heißen Haut lag. Vergessen waren die Leichen im Wohnzimmer und die schwangere Frau. In seinem ganzen Körper pochte nur noch dieser unerträgliche Schmerz und der Drang, die Bestie in sich frei zu lassen.
 

Mit unglaublicher Kraft pflückte der Mann Paige von sich.

Ob es Absicht gewesen war oder reine Reaktion, war schwer zu sagen, aber er donnerte sie mit echter Gewalt gegen die Rückwand der Dusche. Ihr Hinterkopf knallte an die Fliesen und irgendetwas an seiner Kleidung kratzte an der Innenseite ihres Oberschenkels entlang.

Den Blick nicht nur durch das immer noch prasselnde Wasser vernebelt, massierte sie sich den schmerzenden Hinterkopf.

„Es macht überhaupt keinen Sinn, jemandem den Tod anzudrohen, wenn man selbst sterben will...“, murmelte sie laut denkend vor sich hin, während sie versuchte auf die Füße zu kommen.

Es gelang ihr nur halbwegs. Ihr rechter Fuß rutschte in der Wanne weg und sie landete ungelenk auf einem Knie, was sie direkt unter das eiskalte, prasselnde Wasser beförderte.

Wäre sie nicht schon fuchsteufelswild gewesen, hätte das das Fass zum Überlaufen gebracht. Mit einem Ruck drehte sie die Dusche ab und sah dann zu dem Mann hinüber, der mit seiner riesenhaften Gestalt den gesamten kleinen Raum zu füllen schien.

Paige konnte sehen, dass er Schmerzen hatte. Das erste Mal, seit sie ihm begegnet war, zeigte er überhaupt irgendeine Reaktion auf etwas, das mit ihm geschah.

In einigermaßen stabiler Position hockte sie sich hin und setzte vorerst nur ihre Hände in Flammen. Immerhin sollte sie mit ihrer Kraft haushalten. Noch wusste sie nicht, was der Typ noch vorhatte. Und das Wichtigste war immer noch nicht geklärt.

„Was hast du mit meiner Mitbewohnerin gemacht?“

Erst als sie ihre Arme nach vorn streckte, um ihm zu zeigen, dass sie es durchaus immer noch ernst meinte, trotz seiner angekommenen Drohung, fiel ihr die Haut an ihrem Handgelenk auf.

Ihre Augen zuckten blitzschnell zu seiner Hand, die er gegen das Leder seiner Jacke presste. Die Handfläche war bereits jetzt eine Masse aus verletztem Gewebe und dicken Brandblasen.

Während ihr Herz ihr bis zum Halse schlug, rasten die Gedanken in Paiges Kopf. Was, wenn er Ai schon längst umgebracht hatte? Dann sollte sie kurzen Prozess mit ihm machen, bevor er wieder auf die Beine kam. Selbst mit den Verletzungen war er ihr an Kraft haushoch überlegen. Davon zeugte die dicke Beule, die sie am Hinterkopf bekommen würde.

Aber da war diese winzige Chance, dass er die Wahrheit gesagt hatte. Die Männer da draußen in der Wohnung waren sicher nicht von Ai zur Strecke gebracht worden.

Außerdem hatte er sie nicht verletzt. Mal von dem dröhnenden Schädel abgesehen. Aber wenn sie die Krallen bedachte, die sie schon einmal an ihm gesehen hatte, war das noch ein leichtes Los. Ob er doch die Wahrheit sagte?

Die Sorge um Ai und das Hoffen auf ihre Unversehrtheit besiegte das Misstrauen gegenüber dem Fremden. Natürlich würde sie ihre Deckung hinter den flammenden Händen nicht aufgeben, aber jeder hatte seinen Preis. Ein Tausch versprach bessere Ergebnisse, als wenn sie sich doch noch auf einen Kampf auf Leben und Tod mit ihm einließ.

Mit einem Nicken, das auf seine Hand deutete, sprach sie ihn an.

„Wenn ich sie heil wiederbekomme, kann ich dir die Schmerzen nehmen.“

Zumindest das. Auch wenn sie nicht garantieren konnte, dass es heilen würde. Dafür war die Verletzung verdammt tief. Er war vermutlich ein Wandler. Vielleicht würde er nur eine kleine Narbe zurückbehalten. Mit Paiges Hilfe hätte er auf jeden Fall bessere Chancen.
 

Ihre Worte drangen nur dumpf zu ihm durch, aber er verstand sie. Worauf es ihm in diesem Augenblick aber eher ankam, war die Tatsache, dass sie ihm nicht schon wieder eine ihrer feurigen Umarmungen schenkte.

Solange sie die Distanz zu ihm wahrte, wäre die Situation noch zu retten. Zumindest von ihm aus gesehen, denn obwohl er sich vor Schmerzen fast übergeben musste, hörte das unwillkürliche Zittern seines Körpers auf und der Nebel um seine Gedanken lichtete sich langsam wieder.

Er hatte die Verwandlung am Ende doch noch zurückhalten können.

Ryons Kiefer waren zwar noch immer angespannt aufeinander gepresst, während er stockend atmete, doch er hob trotzdem den Blick, um der Diebin in die Augen zu sehen.

Lange starrte er sie einfach nur an, während er in seinem Kopf alle Möglichkeiten überschlug. Er konnte dieser Frau nicht trauen, weshalb es ziemlich dumm wäre, ihr seine Hand hin zu strecken. Am Ende würde es ihm noch den ganzen Arm kosten. Außerdem, warum sollte sie ihm helfen wollen, wo sie es doch war, die seine Verletzungen verursacht hatte? Alleine der Stolz, den er trotz allem hatte, hätte ihn davon abgehalten. Aber was war schon Stolz? Hier ging es um sehr viel Wichtigeres.

„Wenn du willst, kann ich dich zu ihr bringen.“, durchbrach er endlich das unangenehme Schweigen.

„Aber wenn ‚wiederbekommen‘ für dich bedeutet, dass sie erneut mangelhafter Ernährung, Mördern und dieser Bruchbude ausgesetzt wird und das in ihrem Zustand, dann vergiss es.“

Natürlich, er kannte diese schwangere Frau nicht, aber deshalb würde er trotzdem nicht einfach wegsehen.

Was er auch schließlich dadurch bekräftigte, dass er sich langsam wieder auf die Beine zwang.

Leicht schwankte er zwar, aber soweit ging es ihm den Umständen entsprechend gut.

Noch immer die Hand an seine Brust gepresst, sah er sein Gegenüber wieder ausdruckslos an, aber in seinen Augen stand deutlich geschrieben, dass er diesen Vorfall von Eben nicht so schnell vergessen würde. Er war nicht rachsüchtig, aber dafür umso vorsichtiger, was bestimmte Vorgehensweisen anbelangte. Denn so ungern er es auch zu gab. Diese Frau war ein weiteres Puzzleteil im großen Rätsel um das Amulett. Sie führte zu den Auftraggebern. Er konnte sie also ohnehin nicht einfach gehen lassen.

Trotzdem gab er ihr den Anschein, als hätte sie eine Wahl, obwohl sie die natürlich aus Gewissensfragen ohnehin nicht hatte. Ihr schien sehr viel an der schwangeren Frau zu liegen.
 

Wenn man davon sprach, dass jemand explodierte, dann war das bei Paige fast wörtlich zu nehmen. Ihre geballte Wut riss sie in einem Ruck in die Gerade und ließ Feuer aus jeder Pore ihrer Haut lodern. Die Flammen füllten die gesamte Duschkabine aus und Paiges Augen leuchteten wie schwarze Perlen aus dem Meer aus Hitze hervor. Der Schrei, der sich ihrer tobenden Brust entrang, schien sogar in dem winzigen Raum widerzuhallen.

Ihr Gegner konnte sich gar nicht vorstellen, wie viel Konzentration es sie kostete, hier nicht die Hölle über ihn herein brechen zu lassen. Ein Vorhang aus Flammen wallte die Wände und die Decke entlang und schloss den Mann in dem Raum ein. Nur mit einer Waffe hätte er sie jetzt töten und sich selbst noch retten können.

„Wie kannst du es wagen?!“

Ja, wie konnte er? Paige hatte Ai auf der Straße gefunden, als sie kaum mehr als ein Knochenskelett gewesen war. Sie hatte sie mit hierher genommen. In ihr Zuhause. Es war nicht viel, aber Paige hatte ihr Möglichstes versucht, die Schwangere wieder hochzupeppeln. An ihrem eigenen Bett hatte sie gesessen und Ai Suppe und leicht verdauliche Kost eingeflößt, bis sie irgendwann wieder einigermaßen gesund aussah. Dass sie selbst dabei oftmals zu kurz gekommen war und man nicht gerade von einer Fettschicht auf ihrem Körper sprechen konnte, war Paige von Anfang an egal gewesen.

„Was glaubst du, warum ich dein Scheißamulett klauen wollte?!“, fuhr sie ihn an, während sie dafür sorgte, dass Wellen aus Feuer die Wände entlang liefen und ihn immer noch festhielten, selbst wenn er davon nicht berührt wurde.

„Du kannst dir vielleicht die Zähne mit goldenen Zahnstochern auspulen, weil du Leute in Käfigkämpfen umbringst! Was wäre das Leben einfach, wenn wir alle solche Monster wären, wie du!!“

Damit ließ sie das Feuer ersterben. Die Flammen zogen sich bis um ihren Körper zurück, wo sie Paige umspielten wie dressierte Riesenschlangen. Mit jedem Pochen ihres aufgebrachten Herzens dehnten sie sich nach außen aus.

„Du wirst mich zu ihr bringen. Und dann verschwindest du aus unserem Leben.“

Mehr sagte sie nicht, aber in ihrem ruhigen Tonfall lag nun eine nachdrücklichere Drohung als jemals zuvor.
 

Womit er auch als Antwort gerechnet hatte, ein Inferno war sicherlich nicht dabei gewesen. Ihre Wut war so deutlich spürbar, wie die Hitze, die sich rasch im Raum ausbreitete und ihn erneut zum Schwitzen brachte, obwohl die Flammen ihn nicht berührten.

Aber der Raum war klein und somit hatte er nicht sehr viel Abstand zu den Wänden. Außerdem wurde die Luft von einer Sekunde auf die andere unglaublich stickig, da die Flammen, das meiste davon verbrauchten. Es fühlte sich an, als würde man flüssiges Feuer atmen.

Obwohl Ryon auf alle Fälle Respekt vor dieser Fähigkeit hatte, blieb er ungerührt stehen und hielt dem Blick der Diebin stand.

Die Worte, die sie ihm wutentbrannt entgegen schleuderte, schürten auch in ihm die Wut, doch er widersprach ihr nicht. In einem Punkt hatte sie immerhin recht.

Er wusste nichts über sie und ihre Vergangenheit und ebenso wenig wusste sie etwas über ihn und seine Vergangenheit. Weshalb er im Grunde genauso wenig ein Recht darauf hatte, sie zu verurteilen, wie sie es mit ihm tat.

Aus diesem Grund und keinem anderen, schwieg er. Denn sie beide würden zusammen arbeiten müssen, solange die Sache dauerte und danach würden sie sich hoffentlich nie wieder sehen. Darin waren sie sich wohl einig, auch wenn die Diebin noch nicht genau zu wissen schien, worauf sie sich da eingelassen hatte.

Glaubte sie denn wirklich, sie könnte sich mit einer schwangeren Frau in der World Underneath vor ihren Auftraggebern verstecken? Wenn es sich hierbei wirklich um jene handelte, die er befürchtete, dann würde selbst er alle Hände voll zu tun haben, um ihnen nicht in die Falle zu gehen.

Als sie sich schließlich wieder halbwegs beruhigt zu haben schien, atmete er einmal tief durch, wobei ihre Drohung deutlich bei ihm angekommen war. Immerhin schenkte sein Arm ihm bei jedem Herzschlag immer noch herzliche Grüße von ihr.

„Genau das hatte ich vor.“, antwortete er ihr ruhig. Er hatte sich inzwischen wieder zur Gänze unter Kontrolle, was nur gut sein konnte. Wenn sie beide austicken würden, hätte keiner von ihnen beiden etwas davon. Das würde nur auf ein endgültiges Ende hinaus laufen.

Ryon drehte ihr nicht gerade mit Wohlbehagen den Rücken zu, dennoch verließ er den Raum. Bei der Tür angekommen, blieb er noch einmal stehen, ohne sich umzudrehen. „Du solltest dir etwas anziehen. Wir verlassen die World Underneath.“

Bei seinem Haus angekommen, würde es egal sein, wie sie sich gab, solange sie es nicht wagte, irgendetwas abzufackeln. Immerhin bestand das meiste Baumaterial aus Holz. Was sich bekanntlich nicht sehr gut mit Feuer vertrug.

Eigentlich hätte er nicht gedacht, dass er einmal froh sein würde, in das Haus zurück zu kehren, um sich die Wunden zu lecken. Doch im Augenblick hatte die Vorstellung tatsächlich etwas sehr Verlockendes. Er wollte bloß nur noch weg hier, da sie jederzeit erneut angegriffen werden könnten und er sich nicht gerade dazu im Stande fühlte, sich erneut zu verteidigen.
 

Am liebsten hätte sie ihn noch einmal angeblafft, als er ihr befahl, sich etwas überzuziehen. Das sollte seine letzte Sorge sein, denn wenn er wieder so einen Kommentar fallen ließ, dann hätte sie ihre Klamotten so schnell verloren, wie er für ein Blinzeln benötigte.

Trotzdem war es gut, dass er den kleinen Raum verließ. Hier war nach Paiges Ausbruch so gut wie nichts mehr übrig, das man mitnehmen konnte. Bis auf etwas, das genau wegen solcher Fälle an einem speziellen Ort gelagert war.

Ohne zu viel verdächtige Geräusche zu machen, hob Paige den Deckel des Spülkastens hoch und fischte einen versiegelten Plastikbeutel heraus, in dem ein weiterer Beutel lag. Sie zog das Stoffsäckchen heraus, was ein leises Klimpern verursachte.

Wahrscheinlich würde sie es nicht brauchen, aber hier lassen wollte Paige das Päckchen ebenfalls nicht. Immerhin hatte es so viel Wert wie die Sachen des Mannes, die sie auf dem Markt losgeschlagen hatte. Auch wenn ihr dieses Zeug hier wahrscheinlich niemand auch nur zum Schleuderpreis abnehmen würde.

Mit vorsichtigen Schritten verließ sie das Badezimmer und sah sich konzentriert in der zum Teil brennenden Wohnung um.

Eisschrank stand an der Eingangstür und zeigte nur sein Profil, auch ihn schienen die Flammen nicht weiter zu kümmern.

Vermutlich dachte er wirklich auf diese Entfernung würde sie das Zittern seiner verletzten Hand nicht sehen, das ihren Blick bloß wieder auf das Stoffpäckchen in ihrer eigenen Rechten zog. Es wäre die größte Dummheit gewesen ihm tatsächlich helfen zu wollen. Am Ende hätte sie sich nur selbst damit verletzt. Auch gut, jetzt würde sie garantiert nie wieder in die Verlegenheit kommen, ihm ihre Hilfe anzubieten.

Schnell zog sie sich an und stopfte ein paar Sachen für Ai in ihren Rucksack. Wertsachen, die sie hätte mitnehmen müssen, besaß sie ohnehin nicht. Also konnte dieser Ort so wie er war zurückbleiben.

Es wunderte Paige ohnehin, dass noch keiner der Nachbarn die Ordnungshüter eingeschaltet hatte. Aber es war auch noch Nacht. Meist bequemte sich die Security von World Underneath nur tagsüber aus ihren eigenen Löchern. Genau zu der Zeit, in der sowieso nichts Nennenswertes passierte. Aber darüber regte sich schon lange niemand mehr auf. Warum auch? Man konnte sowieso nichts ändern.

Ohne Schuppen, aber dafür in grauen Hosen und cremefarbenen Oberteil kam sie bis auf zwei Meter an den Mann heran, der immer noch im Türrahmen stand. Ob er sie beim Zurückziehen der Schuppen in ihre Haut oder dem darauf folgenden Umziehen beobachtet hatte, war Paige egal. Nicht umsonst nannte sie ihn Eisschrank. Diesbezüglich hatte sie von ihm wahrscheinlich weniger zu befürchten als von einem altersschwachen Grottenolm.

„Wohin?“, wollte sie nur kurz angebunden wissen, als sie das Stoffbeutelchen in ihrem Rucksack verstaute und ihn sich dann auf den Rücken schnallte.

Als er schon die Treppe hinunter verschwand, nahm sie ihre Jacke vom Haken an der Wand und verabschiedete sich mit einem wehmütigen Schmunzeln von der Wohnung, die ihr gemütliches Zuhause gewesen war und nun vermutlich schon bald vollkommen ausbrennen würde.

6. Kapitel

Schweigend ging Ryon voraus, drehte sich dabei kein einziges Mal um, um nachzusehen, ob sie ihm folgte, sondern behielt seinen Blick stets auf seine Umgebung gerichtet.

Er musste sich nicht vergewissern, ob die Diebin immer noch hinter ihm war, denn auch wenn sie ziemlich lautlos sein konnte, so wusste er doch, dass sie sich immer noch in seiner Nähe befand. Nicht etwa, weil er sie wittern konnte, sondern weil sie selbst keine andere Wahl hatte. Sie wollte zu ihrer Freundin. Er konnte sie zu ihr bringen.

Bei dem schwarzen Sportwagen in der Nähe des Eingangs angekommen, ließ er sich fast schon etwas zu schnell auf den Fahrersitz gleiten und kaum, dass die Diebin die Tür zu gemacht hatte, startete er auch schon den Wagen und fuhr mit quietschenden Reifen los. Das hatte nichts mit Angeberei zu tun, sondern viel mehr mit dem intensiven Brennen in seinem Arm, den er in seinem Schoß abgelegt hatte. Zum Glück fuhr er Automatik, sonst wäre das Schalten und Fahren mit nur einer Hand schwierig geworden.

Kaum aus der Stadt raus, fuhr er weit über jede Geschwindigkeitsbeschränkung hinaus, machte sich aber keine Sorge darüber, von irgendwelchen Polizisten angehalten zu werden. Das taten sie nie.

Trotz des halsbrecherischen Tempos dauerte die Fahrt mehr als eine Stunde, doch schließlich bog er an einer unscheinbaren Straße in einen noch unscheinbareren Waldweg ein. Hier musste er wieder gemächlicher fahren, da der Untergrund aus glatt gepresstem Kies und Schotter bestand, wie es bei den meisten Waldwegen in der Gegend der Fall war, um die Forststraßen für die Lastwagen gut befahrbar zu halten.

Das erste Gattertor öffnete sich noch wie bei einer Garage auf Knopfdruck, sah dabei aber recht unscheinbar aus, als wäre es schon seit Ewigkeiten Wind und Wetter ausgesetzt gewesen.

Danach hielt Ryon den Wagen vor einem wuchtigen Eisentor an, das von dicken Steinmauern umschlossen war und das ganze Grundstück umzäunte. Sicher war sicher. Dahingehend hatte er noch nie mit sich reden lassen.

Die Nachtluft war kühl und erfüllt von den köstlichsten Düften des Waldes, als er das Fenster öffnete, um sein Gesicht der Kamera in einem verborgenen Winkel zu zeigen. Kurze Zeit später konnte es weiter gehen.

Trotz der Sicherheitsmaßnahmen war die Fläche innerhalb des Schutzwalls noch immer riesig groß und fast zur Gänze mit Waldfläche bedeckt, weshalb es noch weitere Minuten dauerte, bis er den Wagen endlich in der Einfahrt abstellte.

Fast überall in dem 450 m² großen Haus brannten die Lichter. Auch die Einfahrt war von kleinen Solarleuchten erhellt, die in einem sanften Orange glühten.

Ryon wusste, die Lichter würden dem Weg bis in den Garten und dann anschließend zu dem kleinen See folgen. Er selbst hätte sie nie nötig gehabt, da er auch bei schwarzem Mond perfekt sah. Aber wie man ihm einmal gesagt hatte, war nicht nur reiner Nutzen der Sinn und Zweck dieser kleinen Lämpchen, sondern auch, weil es einfach nur schön aussah. Wie hätte er da widersprechen können?

Jetzt jedoch stieg er ohne Umschweife aus und ging auf den überdachten und mit Weinstöcken umrankten Eingang zu.

Schon öffnete sich die Tür und Tyler kam in Form eines jungen stillen Mannes mit rötlichem Haar und Sommersprossen heraus.

Ryon sagte nichts zu seinem Butler und engen Freund, obwohl er dessen Aufmachung etwas seltsam fand. Normalerweise zog er eine ältere Gestalt vor. Denn auch wenn Tyler ganz und gar wie ein Mensch aussah, so war er es doch absolut nicht.

Das nannte Ryon einen echten Gestaltwandler. Tyler konnte sich wirklich in jede beliebige Person jedes beliebigen Alters und Geschlechts verwandeln. Sehr praktisch, manchmal aber auch verwirrend.

„Wie ich sehe, hast du einen weiteren Gast mitgebracht. Soll ich schon einmal das zweite Gästezimmer herrichten?“, wollte Tyler ohne Umschweife wissen.

Er war zuverlässig, korrekt, aber nicht immer höflich, wenn es um gesellschaftliche Gepflogenheiten ging. Selbst wenn es nur so etwas wie ein einfaches ‚Hallo‘ war.

Ryon drehte sich zum ersten Mal seit der langen Autofahrt zu seiner Begleitung um und schüttelte dann den Kopf.

„Nein, ich denke du bringst sie am besten gleich zu der werdenden Mutter.“

Während Ryon sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern würde. Die Diebin würde ohnehin nicht unbemerkt vom Grundstück kommen und es bestand noch immer die Hoffnung, dass sie wenigstens über Nacht hier zu halten war, wenn sie sah, dass es ihrer Freundin gut ging.

„Wo ist Tennessey?“

„Sitzt in deinem Büro und schreibt seinen Bericht. Soll ich ihn nachher zu dir schicken?“, fragte Tyler mit einem leicht schelmischen Lächeln, weil er sich die Frage natürlich ohnehin sparen konnte.

Er sah auch so, dass Ryon ärztliche Hilfe gerade bevorzugen würde. Allerdings schien er nicht gerade viel Mitleid mit seinem Herrn zu haben. Was auch nichts Neues war. Jeder in diesem Haus, der Ryon kannte, wusste, sofern er sich noch auf seinen eigenen Füßen ins Haus schleppen konnte, war alles nicht weiter schlimm. Er würde schon wieder werden.

„Nein, nicht nötig.“

Da er ohnehin in die Richtung musste, in der sein Büro lag, konnte er das auch gleich selbst erledigen.

„Gibt es irgendwelche Einwände, wenn du einfach mit Tyler mit gehst und er dich zu deiner Freundin bringt?“, fragte er schließlich aalglatt wie immer, an seine Peinigerin gewandt.

Bestimmt war sie froh, wenn er sich für eine Weile verzog, denn er konnte auch nicht gerade etwas Besseres von ihr behaupten.
 

Auch wenn sie keine Ahnung hatte, wo genau sie hier gelandet war. Eins wusste sie mit Sicherheit, nämlich dass sie sich alles Andere als wohl bei der Sache fühlte. Schon als sie in das Waldstück eingebogen waren, hatte Paiges Körperabwehr die Führung übernehmen wollen. Wie ein Haufen Ameisen kribbelten die Schuppen unter ihrer Haut, um hervorzubrechen. Allerdings äußerte sich der Kampf in Paiges Innerem nach außen nur dadurch, dass sie in dem harten Schalensitz des Sportwagens hin und her rutschte und ihre Füße fest gegen den Boden stemmte. In dem winzigen Gefährt fühlte sie sich sowieso mehr als nur eingesperrt mit diesem durchgeknallten Typen an ihrer Seite.

Bestimmt hatte sie durch ihre unterdrückte Angst mehr Kalorien verschwendet, als sie normalerweise an einem Tag zu sich nahm. Zumindest jetzt hatte Eisschranks glatte Art etwas Gutes. Nicht einmal während der Fahrt sprach er sie an oder schenkte ihr auch nur einen Blick. Ganz im Gegensatz zu Paige selbst, deren Augen an dem Fremden klebten und gleichzeitig versuchten sich zu orientieren.

Wenn sie fliehen musste – es überhaupt konnte – würde sie den Weg nach Hause finden müssen.

Jetzt stand sie aber erst einmal mitten in einem ihr unbekannten Gebiet auf einem Grundstück herum, das von allen Seiten von dichtem Wald umschlossen war. Für die Verhältnisse von der World Underneath war das kein Haus, was vor ihr aufragte, sondern ein Palast. Es war riesig und mit seinem Garten, der gepflegten Einfahrt und den beleuchteten Wegen hatte es für Paige schon fast etwas Märchenhaftes.

Womit sich ihr die Frage aufdrängte, warum Eisschrank in dieser halb herunter gekommenen Wohnung bei ihnen im Untergrund gewohnt hatte.

Warum nicht hier, wo es schön war? Immerhin schien der Mann, der ihnen aus der Tür entgegentrat den Riesen zu kennen und so, wie sie sich unterhielten, drängte sich sogar der Gedanke auf, dass Eisschrank der Besitzer dieses Hauses war. Er hatte ein Büro?

Paige stellten sich sämtliche Härchen auf, als sie daran dachte, was sich hinter der schönen Fassade des Gebäudes verbergen mochte. Immerhin hatte sie dem Kerl einen Tag lang hinterher spioniert. Und was sie mitten in der Nacht gesehen hatte, drängte sich ihr jetzt sehr stark ins Gedächtnis.

Ihre blühende Phantasie ließ sie an Käfige denken. Räume, in denen Wesen hier, weit ab von der Zivilisation, gequält wurden. Beinahe wurde ihr schlecht bei dem Gedanken, dass Ai irgendwo da drin war.

Die emotionslose Stimme von Ais Entführer ließ sie aus ihren Gedanken hochschrecken. Mit unverhohlenem Misstrauen sah sie zwischen ihm und dem kleinen Rothaarigen hin und her. Sollte der jetzt etwa Eisschranks Drecksarbeit erledigen? Na gut, mit dem würde sie nach seinem Herren locker fertig werden, wenn es denn sein musste.

Und an der Tatsache, dass sie in dieses Haus musste, gab es leider nichts zu rütteln. Also nickte sie nur kurz, schob sich den Rucksack auf die Schultern und kam ein paar Schritte auf den jungen Mann zu, der sie begleiten sollte. Dem Eisschrank entging sicher nicht, dass man an jedem ihrer Schritte die Bereitschaft zu Flucht oder Kampf ablesen konnte. Je nachdem, was sie erwarten würde. Aber in die Falle würde sie ihm sicher nicht gehen. Selbst wenn sie dem Rothaarigen direkt in die Höhle des Löwen folgte.

Drinnen sah es nicht weniger beeindruckend aus als draußen. Hätte sie es sich erlaubt, wäre Paige mit vor Staunen offenem Mund durch die Gänge und Zimmer gelaufen. Sie hatte so etwas noch nie gesehen, geschweige denn hatte sie je ein derartiges Haus betreten. Selbst bei ihren Raubzügen war ihr nichts derart Prunkvolles untergekommen. Ein paar schöne Penthäuser, Hotelsuiten, die doppelt so groß waren wie ihre Wohnung, aber das hier schlug alles um Längen. Scheiße, wenn sie nur eines der Bilder hätte klauen können, wären sie und Ai für Monate versorgt gewesen.

Und sie hätte Ai endlich etwas Anständiges zu Essen kaufen können.

Paiges Gesichtsausdruck wurde finster. Seit ihrem Ausbruch in dem kleinen Bad waren ihr Eisschranks Worte nicht mehr aus dem Kopf gegangen. Was sie am meisten wurmte war, dass er Recht hatte.

Ai hätte so viel mehr gebraucht, als Paige besorgen konnte. Selbst mit Doppelschichten im Fass und ihren gelegentlichen Diebstählen, konnte sie für die Schwangere nicht ordentlich sorgen, wenn sie selbst überleben wollte. Und dennoch hatte er kein Recht ihr das an den Kopf zu werfen!

Mit ihrem inneren Zwiegespräch so beschäftigt, hatte sie gar nicht gemerkt, dass der Mann vor ihr stehen geblieben war. Erst als sie beinahe auf ihn auflief, machte sie wie angewurzelt Halt.

Der Rothaarige lächelte und öffnete ihr eine große, dunkle Holztür, hinter der Paige warmes Licht erkennen konnte. Zögernd trat sie ein und hätte als nächstes am liebsten vor Freude losgeheult.
 

In der Eingangshalle blickte Ryon den Zweien noch einmal hinterher. Er war besorgt darüber, ob das Haus wirklich vor Flames Gefühlsausbrüchen sicher war, aber diese Frage beantwortete sich natürlich selbst. Weswegen er nur hoffen konnte, dass sich die beiden Frauen gegenseitig etwas beruhigen würden.

Er selbst ging nicht die Treppe zu den Schlafzimmern hoch, sondern durchquerte die Eingangshalle, um auf die andere Seite des Hauses zu gelangen.

Alles sah noch immer so aus, wie er es vor langem verlassen hatte. Die Topfpflanzen waren gewachsen und größer geworden, aber das war auch schon alles an Veränderung gewesen. Bestimmt waren inzwischen die jungen Obstbäume, die er selbst gepflanzt hatte, ebenfalls heran gewachsen, genauso wie der Rest des Gartens. Zumindest was die vielen Kräuter anging. Gemüse würde Tyler sicherlich nicht angebaut haben, wenn sonst niemand hier war. Das passte auch nicht wirklich zu dem Formwandler.

Mit den Augen eines Fremden, musste die Einrichtung des Hauses wie aus einem Hochglanzmagazin für Innenausstattung erscheinen. Was vor allem wohl daran lag, dass es hier nichts Persönliches mehr gab.

Keine Fotos, Lieblingsgegenstände, oder sonst etwas, das ein Zimmer erst so richtig gemütlich gemacht hätte. Natürlich, es war von allem das Feinste. Nur das beste Holz, die besten Stoffe und Materialien, aber ohne persönliche Dinge, würde es einem immer fremd erscheinen. Genau dafür hatte Ryon sorgen wollen. Es hingen auch so schon genug Erinnerungen an diesem Haus, er musste es nicht auch noch durch Kleinigkeiten verstärken.

An der geräumigen Küche vorbei, betrat er schließlich ohne anzuklopfen sein eigenes kleines Büro. Wie erwartet saß hinter dem wuchtigen Mahagonischreibtisch Tennessey mit einer Lesebrille auf der Nase. Doch statt einen Bericht zu schreiben, wälzte er irgendein dickes Buch durch. Der Kerl war die reinste Leseratte, selbst in Krisenzeiten.

Als er Ryon herein kommen hörte, hob er den Blick, der sich sofort auf den verletzten Arm richtete. Aber auch die Kratzer und Brandspuren in seinem Gesicht blieben nicht unerkannt.

„Hast du dich mit einem Drachen angelegt?“, wollte er mit einem langgezogenen Seufzen wissen, ehe er das Buch zuschlug.

„So etwas in der Art.“

Ryon trat an ein Gemälde an der Wand. Es war ungefähr so hoch wie er, aber nur die Hälfte davon breit und zeigte ein buntes Farbenspiel aus roten, schwarzen, gelben und weißen Linien auf goldgelben Hintergrund. Das Bild war sehr ausdrucksstark und hatte eine seltsame Anziehung auf jeden Betrachter.

Die Künstlerin hatte offensichtlich kein Problem damit gehabt, mit dem Pinsel Stimmungen einzufangen, für die sie ein ganz besonderes Auge hatte. Es war ein Geschenk gewesen.

Um es nicht länger als nötig ansehen zu müssen, schob er einfach den Rahmen beiseite, woraufhin ein Safe in der Wand sichtbar wurde.

„Warst du erfolgreich, bei was auch immer?“, bohrte Tennessey weiter, während er sich gelassen in dem schwarzen Ledersessel zurücklehnte und Ryon keinen Moment lang aus den Augen ließ.

„Mehr oder weniger.“

Tennessy schnaubte.

„Oh Gott, womit hab ich bloß deine Gefühle verletzt, damit du mich mit dieser Ignoranz bestrafst?“

Man hätte dem Arzt den fast schon theatralischen Tonfall abkaufen können. Ryon hingegen ignorierte die offenkundige Stichelei über seine ohnehin schon gewohnte Wortkargheit. Er war nicht unbedingt der gesellige Typ und das wusste sein Freund. Er wusste aber auch, dass das nicht immer so gewesen war, weshalb er trotz der unzähligen Fehlschläge immer wieder versuchte, Ryon aus der Reserve zu locken. Die Hoffnung starb immerhin bekanntlich zu Letzt.

Mit fliegenden Fingern tippte der Hüne den Code auf dem Display ein, woraufhin sich die massive Tür des Safes öffnete. Dahinter befand sich lediglich ein einziger Gegenstand.

Das dicke Buch mit den vergilbten Seiten, dem schweren Ledereinband und dem seltsamen Geruch nach verschiedenen Kräutern, Säften und Rauch, lag schwer in seiner gesunden Hand, aber auch auf bittere Weise sehr vertraut.

Wie viele Hände auch schon den Einband mit ihren Fingern durch jahrelange Benutzung weich und nachgiebig poliert hatten, es würde nur ein Händepaar sein, woran er sich stets zurück erinnern würde.

„Aha. Du pfeifst also wie immer auf meine Pillen und Pulver und benutzt lieber ‚das Buch‘. Hast du tatsächlich so wenig Vertrauen in meine Fähigkeiten?“

Diese Frage von Tennessey war nun ernst gemeint, weshalb Ryon auch gewissenhafter als nötig den Safe wieder Schloss und das Bild davor gerade rückte.

„Nein, ich vertraue dir und deinen Fähigkeiten vollkommen, das weißt du auch. Aber eben alles zu seiner Zeit. Im Augenblick kannst du mir dafür anders zur Hand gehen.“

„Ich bin also gut genug, um für dich den Mörser zu betätigen, was? Vielen Dank auch.“

Mit gespielt schmollender Miene erhob sich der ältere Mann aus dem Stuhl und fegte an Ryon vorbei, hielt ihm dann aber mit einem sanften Lächeln die Tür auf.

„Du wirst dich wohl nie ändern, nicht wahr?“

„Unwahrscheinlich.“, bestätigte der Hüne und ging mit eiligen Schritten voraus, womit der Arzt gezwungen war, ihm hinterher zu hetzten, wenn er auf seinen kurzen Füßen Ryon hinter her kommen wollte.

„Kann ich mich dann später wenigstens um das Loch in deinem Arm kümmern?“

„Welches Loch?“

„Na, das in deinem Oberarm, wo dich offensichtlich eine Kugel angebumbst hat.“

Da Ryon immer noch nicht wusste, was sein Freund damit meinte, blickte er an sich herab und stellte fest, dass im Leder seines Mantels tatsächlich ein Loch klaffte. Und die klebrige Flüssigkeit rund herum wohl gestocktes Blut sein musste. Daher war also beim Betreten der Wohnung das Brennen gekommen.

„Wenn du mir währenddessen erzählst, was du in meiner Abwesenheit über die schwangere Frau erfahren hast, nur zu.“

„Wie großzügig…“, grummelte der Arzt leise vor sich hin.
 

In der ‚Kräuterküche‘ war es immer angenehm warm. Die Luft war spürbar trocken, aber nicht unangenehm. Dafür war sie geschwängert von den unterschiedlichsten Duftgemischen aus getrockneten Kräutern und Früchten, Ölen und Kerzen. An den Wänden standen Holzregale die sich unter den vielen Glasbehältern mit getrocknetem Inhalt beinahe bogen.

Über einem altmodischen Kamin und einem kupfernen Kessel darin, hingen ganze Büschel von getrocknetem Lavendel, Salbei, Ringelblumen, Kamillen und noch anderen herrlich duftenden Heilkräutern.

Vor Ryon lag das Buch auf einer Seite aufgeschlagen, die mit einer feinen Handschrift beschrieben war. Neben ihm stand Tennessey und zerstampfte die Kräuter, die er ihm in den richtigen Mengen beimischte. Inzwischen konnte er seinen Arm kaum noch bewegen, ohne dass ihm jedes Mal der Schweiß erneut ausbrach und ihm unangenehm den Rücken hinunter lief.

Er hatte von Natur aus eine höhere Körpertemperatur, doch mit den Verbrennungen schien er buchstäblich in seinen eigenen Säften zu kochen und der Schmerz ließ dabei keinen Moment lang nach, sondern schien stattdessen nur noch zuzunehmen, obwohl er sich bereits Eis aufgelegt hatte, um weitere Schäden zu verringern. Es half aber nicht wirklich. Die Kräuterpaste, die sie nach einem natürlichen Rezept zusammen brauten, würde es jedoch tun.

Ryon würde diesem Buch sein Leben anvertrauen. Es gab wirklich so gut wie keine Gebrechen, gegen die man darin nicht etwas finden konnte. An den Anfangsseiten des dicken Buchs standen sogar Rezepturen für Dinge, von denen er noch nie etwas gehört hatte.

Man hatte ihm mal erklärt, wofür ein paar dieser Mixturen gut waren. Sofern er sich erinnern konnte, handelte es sich hierbei teilweise um psychische Probleme, die damit gemildert oder ganz geheilt werden konnten. Aber da die meisten Seiten des Anfangs schon so vergilbt und kaum noch leserlich waren, wäre es zu gefährlich, damit herum zu experimentieren, solange man nicht wusste, was wirklich dort stand.

Es war ohnehin nicht so, dass er sich gut damit auskannte.

Aber mit Verbrennungen, Schnittwunden, Abschürfungen und Ausschlägen hatte jeder in seinem Leben schon einmal zu tun gehabt. So auch er, weshalb er sich diese einfache Handhabung des Rezepts durchaus zutraute. Er hatte auch schon oft beim Vermischen zugesehen und wusste somit, wie die einzelnen Schritte und Ergebnisse auszusehen hatten.

„Du hast Probleme am Hals, hab ich recht?“

Tennesseys Stimme riss ihn so abrupt aus seinen Gedanken, dass er beinahe ein Glasflakon mit reinstem Zedernöl fallen gelassen hätte.

„Ich meine, du bist auch sonst nicht sehr gesprächig, aber normalerweise muss ich dir nicht jede noch so kleine Einzelheit aus der Nase ziehen. Findest du nicht, mich würde interessieren, wieso du so verletzt bist? Weshalb wir hier eine schwangere Frau im Haus haben und was wohl noch seltsamer ist, weshalb du nach all den Jahren wieder einen Fuß auf dieses Grundstück gesetzt hast? Soweit ich mich nämlich erinnern kann, machtest du den Eindruck, als würdest du dir eher die Kugel geben, als noch einmal hier her zu kommen.“
 

***
 

„Geht's dir gut?“

Nach einer festen Umarmung und gegenseitig prüfenden Blicken hatte Paige sich wieder aufgerichtet und sah misstrauisch zu ihrem Schatten hinüber, der immer noch an der Tür stand. Der junge Mann hatte ein nichts sagendes Lächeln aufgesetzt und schien sich ein wenig über den neuen Gast zu amüsieren.

Wäre Ai nicht gewesen und die Ungewissheit, wer sich hier im Haus aufhielt, wäre Paige wahrscheinlich schon wieder explodiert. Der Gesichtsausdruck des Fremden erinnerte sie einfach zu sehr an die überhebliche Miene seines Herren. Hier hielt sich wohl alles und jeder für etwas Besseres.

Da überraschte es Paige doch sehr, dass dem Rothaarigen folgende Worte über die Lippen kamen.

„Entschuldigen Sie mich für einen Moment. Ich werde die Sachen für Ihre Übernachtung holen.“

Nach einem kurzen Blick auf das leere zweite Bett im Raum und einem angedeuteten Nicken, verließ er das Zimmer und schloss die Tür leise hinter sich.

Paige lief zur geschlossenen Tür und lehnte ihr Ohr daran, um zu überprüfen, ob er auch wirklich ging. Die sich entfernenden Schritte brachten es tatsächlich fertig sie ein wenig zu beruhigen.

Allerdings war dieses Gefühl schnell dahin, als sie sich wieder neben das Bett ihrer Freundin gestellt und auf sie herabgesehen hatte. Die rot geschwollene Stelle auf ihrer Wange, war nicht zu übersehen.

„Haben die das getan?“

In ihrer Stimme schwang Wut vermischt mit Angst mit. Was, wenn die schöne Fassade wirklich Schlimmes verbarg? Sie konnte die Schwangere nicht einfach so hier rausbringen. Der Wagen in der Einfahrt wäre schnell kurzgeschlossen, aber was dann? Wenn sie es überhaupt bis in die Auffahrt schafften.

Ais warme Hand legte sich auf die von Paige und die Asiatin lächelte ihre Freundin an.

„Nein, nein, keine Sorge. Das ist in der Wohnung passiert, als...“

Sie seufzte leise und blickte dann so direkt in Paiges Augen, dass dieser die Röte ins Gesicht stieg.

„Es tut mir leid, Ai. Ich wollte dich sicher nicht in Gefahr bringen.“

Und doch hatte sie es getan. Das schlechte Gewissen nagte noch mehr an ihr, als die Angst davor, was noch alles passieren könnte.

Selbst Ais beruhigend weiche Stimme half da nicht viel weiter.

„Mir ist wirklich nicht viel passiert. Ein Mann kam in die Wohnung gestürzt und hat sie aufgehalten.“

Ihr Blick wurde leer, als sie kurz überlegte, wie sie weitermachen sollte.

„Ich weiß gar nicht, ob er mich hierher gebracht hat. Das habe ich angenommen.“

Jetzt sah sie Paige wieder direkt an.

„Er war ziemlich groß, schwarz gekleidet. Er hatte wild gescheckte Haare und...“

„Und seltsame Augen.“, unterbrach Paige, da sie schon längst wusste, um wen es sich handelte.

Er hatte Ai also gerettet und dieses Blutbad in ihrer Wohnung angerichtet? Scheiße, jetzt musste sie Eisschrank auch noch dankbar sein. Bloß warum? Warum hatte er seine Haut riskiert, um Ai vor den Einbrechern zu schützen?

„Ja, genau. Kennst du ihn denn?“

Da lag Hoffnung in Ais Stimme.

Paige fing leicht an zu zittern, als ihr klar wurde, dass die Asiatin glaubte, sie wäre hier in Sicherheit. Als wäre das Ganze mit der Rettung durch den seltsamen Hünen vorbei. Wie sehr sie sich doch irrte.

„Na ja... Er... Ich hab ihn beklaut.“

„Was?“

„Und ich hab ihn ziemlich angefackelt.“

„Paige, aber...“

Die dunklen Augen der Asiatin hatten sich erschrocken geweitet und ihre vollen roten Lippen waren leicht geöffnet.

Paige drückte ihre Hand und setzte ein Grinsen auf.

„Naaah, keine Angst, ich hab ihn nicht gebraten. Bin sicher der ist zu zäh, um lecker zu sein.“

Mit großer Geste, die mehr Sicherheit ausstrahlte, als sie ansatzweise besaß, winkte sie ab und zwinkerte ihrer Freundin zu.

Zäh konnte man sagen. Und sicher nicht gerade erfreut darüber, dass Paige ihm zum Dank für Ais Rettung derartige Schmerzen zugefügt hatte.

„Hör zu, ich werd mich hier mal ein wenig umsehen, ok?“

Der Griff um ihre Hand wurde fester, was Paiges Züge nur noch sanfter werden ließ. Sie glaubte nicht, dass sie Ai bis jetzt gut behandelt hatten, um dann unerwartet über sie herzufallen. Zuerst würden sie bestimmt Paige ausschalten wollen. Wenn das überhaupt der Plan war. Um genau das heraus zu finden, wollte sie ein wenig auskundschaften, was hier los war.

Nur widerwillig ließ Ai sie gehen, aber so wirklich konnte sie auch nichts gegen Paiges Dickkopf tun. Also schob sich Paige durch die große Holztür und ging auf den Gang hinaus, der sie zu diesem Zimmer gebracht hatte. Es schien der Hauptflur des Hauses zu sein, der in mehrere andere Räume abzweigte.

Leise, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, schlich Paige von einem zum anderen und sah sich gründlich um. Der Stil erinnerte sie an Eisschranks Wohnung, auch wenn hier eine zusätzliche Note untergemischt schien. Ein paar der Bilder an den Wänden wollten so gar nicht zu dem passen, mit dem er sich in diesem kargen Zimmer in der World Underneath umgeben hatte. Sie besaßen Ausdruck und mehr Gefühl, als sie an dem Kerl bis jetzt gesehen hatte.

In einem großen Raum, der wohl eine Art Wohnzimmer war, mit großem Kamin, gemütlichem Sofa und Sesseln und einem Klavier, blieb Paige vor der riesigen Terrassentür stehen. Sie sah hinaus in den Garten, der von winzigen Leuchten in warmes Licht getaucht war.

„Seltsam...“, verlieh sie ihren Gedanken leise Ausdruck.
 

„So eine Reaktion gab es bisher noch nicht. Normalerweise kommt eher so was wie: wunderschön, übertrieben, kitschig, bezaubernd und mein absoluter Favorit: Wie oft landen hier Ufos?“

Tyler lächelte verschmitzt, als er das Wohnzimmer betrat. Ihm war nicht entgangen, dass er den neuen Gast erschreckt hatte, aber das war er schon gewohnt. Immerhin legte er es meistens darauf an, sich heran zu schleichen, obwohl er eigentlich schon viel zu alt für derartige Späße wäre.

Mit gebührendem Abstand zu dem Gast, stellte er das kleine Blumenbouquet, das er bis jetzt in den Händen gehalten hatte, auf einen kleinen Tisch neben dem Sofa ab und zupfte noch ein paar Blätter daran zurecht. Es war dieses Mal zwar kein Ikebana, aber mit den Blumen dieser Jahreszeit sah das Arrangement auch sehr hübsch aus. Frisch aus dem Garten natürlich.

Jetzt wo offenbar endlich wieder Leben in dieses Haus kam, konnte er endlich mit guter Begründung wieder seine ganzen Fähigkeiten entfalten. Putzen, Gartenarbeit und das bisschen Kochen alleine, war auf die Dauer furchtbar langweilig. Weshalb er auch mitten in der Nacht noch fröhlich am Herumwerkeln war.

„Wenn ich schon einmal hier bin, kann ich Ihnen vielleicht etwas bringen? Eine warme Mahlzeit vielleicht? Ich hätte da noch diverse Köstlichkeiten, die im Kühlschrank darauf warten, beachtet zu werden.“

Von wegen. Er war zeitweise seit Ryons Ankunft kaum noch vom Herd wegzubekommen gewesen. Wusste er doch, wie riesig der Appetit dieses Mannes war. Den Arzt, sich selbst und die schwangere Frau hinzugerechnet, kam er beim Kochen endlich wieder einmal ins Schwitzen. Das wurde aber auch wirklich Zeit.
 

***
 

„Du hast wirklich Glück, dass du diese Lederkluft getragen hast. Ich will mir gar nicht vorstellen, wie du sonst aussehen würdest.“, schimpfte der Arzt leise vor sich hin, während er Ryon die Wunde am Oberarm desinfizierte.

Die Brandverletzungen an seiner Hand waren die schlimmsten gewesen und als erstes versorgt worden, aber wie sich heraus gestellt hatte, war sein Körper von Verbrennungen ersten und teilweise auch zweiten Grades nur so überzogen. Trotz des Leders.

Die Blitze dieses Magiers waren natürlich auch nicht ohne gewesen, aber hauptsächlich war es wirklich dem Werk dieser Feuerdämonin zu verdanken, dass er so aussah, als hätte er Partienweise zu lange in der Sonne gebraten.

Wenn Tennessey sich schon wegen dieser Verbrennungen so aufregte, war Ryon garantiert nicht so dumm, ihm auch noch von den Herzrhythmusstörungen zu erzählen, die die Stromschläge verursacht hatten. Das würde den Arzt garantiert auf die Palme bringen.

„Was glaubst du, weshalb ich dieses Zeug trage? Ich kann dir versprechen, ich bin sicher nicht unter die Biker gegangen.“

Tennessey schnaubte wütend.

„Wenn du jetzt auch noch versuchst, witzig zu sein, schlägt das ganz schön fehl, mein Lieber. Selbst wenn das der erste Anflug von Humor seit langem bei dir sein sollte.“

„Keine Sorge. Ist es nicht.“, erwiderte Ryon so ausdruckslos wie möglich. Immerhin hatte er die Atmosphäre mit seinen Worten nur etwas auflockern wollen. Aber das schien ja wohl nicht geklappt zu haben.

Fester als nötig zog Tennessey den Verband fest und griff ruppig nach Ryons Gesicht, der sich diese Behandlung ohne Gegenwehr gefallen ließ. Wenn der Arzt einmal wirklich seine Ruhe verlor, legte man sich besser nicht mit ihm an. Er war ein guter Mann, konnte aber auch ganz schön ausrasten, wenn die richtige Motivation vorhanden war.

„Du hast Glück, dass du kein normaler Mensch bist, sonst hättest du ab heute ein schönes Andenken für den Rest deines Lebens auf deiner finsteren Miene. Aber von dem Kratzer sieht man kaum noch was.“

Der Arzt ließ ihn endlich los und packte seine Tasche wieder zusammen. Währenddessen begutachtete Ryon den Ledermantel und entschied, dass auch dieser reif für den Müll war. So wie der Rest von den Klamotten die er am Leib trug.

„Du solltest mir lieber etwas vom Zustand der schwangeren Frau erzählen, anstatt mir Vorträge zu halten.“, wies er Tennessey zurecht und stand von dem Stuhl auf, auf den er die ganze Zeit während der Behandlung gesessen hatte.

Noch einmal betastete er prüfend den Verband um seine Hand und stellte fest, dass der Druck ihm schon weitaus weniger Schmerzen verursachte als vorhin noch. Die Salbe wirkte also und zugleich kühlte sie unglaublich angenehm. Endlich hatte er das Gefühl nicht in seiner eigenen Haut gegart zu werden.

„Da gibt es nicht sehr viel zu erzählen. Mutter und Kind geht es gut. Sie ist bei Bewusstsein und hat sogar schon etwas gegessen. Tyler hat’s mal wieder mit dem Kochen übertrieben, also ist auch für dich genug übrig. So wie dein Magen knurrt, vermute ich mal, dass du schon seit ein paar Stunden nichts mehr gegessen hast.“

„Stimmt.“

Wann war das letzte Mal gewesen? Seit dem Frühstück? Ryon könnte es im Augenblick nicht einmal so genau sagen. Inzwischen schien so viel Zeit vergangen zu sein, dass es ihm wie eine Ewigkeit vorkam.

„Du weißt, was du mir versprochen hast?“

Tennessey funkelte ihn todernst an, woraufhin er nur gelassen den Blick erwiderte.

„Ich hatte ein Frühstück, also reg dich wieder ab, alter Mann.“

Mit einem lauten Poltern stellte der Arzt seine Tasche auf dem Tisch ab.

„Verdammt, Ryon! Es ist mir zwar meistens scheißegal, dass du dich so zurichten lässt, aber die Sache mit dem Essen hast du mir geschworen. Ich will dich nicht noch einmal wochenlang hochpäppeln müssen, nur weil du dir selbst vollkommen egal bist. Also sie zu, dass du deinen Arsch in die Küche schiebst und anständig isst, bevor ich dir das Zeug persönlich in den Rachen stopfe!“
 

***
 

Zum wie es ihr vorkam hundertsten Mal an diesem Tag fuhr Paige erschrocken herum und konnte ihre beschuppten Finger mit den schwarzen Nägeln nur in letzter Sekunde vor dem Butler in ihren Ärmeln verstecken.

Besser, wenn er nicht sofort wusste, was sie war. Auch wenn das niemand außer ihr so genau wusste. Manchmal war es von Vorteil, nicht den Normen zu entsprechen, selbst wenn diese sowieso außerhalb aller menschlichen Vorstellungskraft lagen.

Mit zusammen gepressten Lippen und den konzentrierten Blick immer auf den Mann gerichtet, zog Paige sich noch ein Stück vor ihm zurück.

Er arrangierte Blumen auf einem kleinen Tischchen, was ihr völlig skurril vorkam. Sie war doch kein Gast, der zum Kaffee trinken vorbei gekommen war.

Schon allein bei dem Gedanken wurde ihr Magen auf den Plan gerufen, der laut knurrend zu verstehen gab, dass er das Angebot des Butlers zu schätzen wusste. Allerdings würde Paige den Teufel tun und den Leuten hier die Chance geben sie zu vergiften oder zumindest mit irgendwelchen k.o.-Tropfen auszuschalten.

„Danke. Aber Sie können mir den Ausgang zeigen.“, antwortete sie daher verkniffen und bewegte sich langsam auf den Durchgang zum Flur zu.

Verdammt, wenn dieses Haus nicht so riesig wäre. Selbst an den Rückweg zu Ais Zimmer konnte sich Paige nur noch mit Mühe erinnern.

Als sie den Raum schon fast verlassen hatte, sah sie ihre Freundin allerdings bereits über den Gang auf sie zulaufen. Sie sah wirklich erstaunlich gesund aus. Die rosigen Wangen standen ihr ausgezeichnet und machten sie nur noch schöner, als sie ohnehin war.

Paige war bereit die Waffen zu strecken und Eisschrank Recht zu geben. So gut, wie Ai nach nur so wenig Zeit und Zuwendung hier aussah, hatte Paige sie noch nie gesehen. Es war wohl so, dass sie sich wirklich schlecht um sie gekümmert hatte.

„Tyler sagte, dass es Abendessen gibt.“, war die einzige Erklärung, die Ai für ihr Auftauchen vorbrachte. Ihre Augen schienen bei der Aussage aufzuleuchten. Der Butler, den Paige hinter dem Namen vermutete, war wohl ein besserer Koch, als sie selbst. Keine Kunst, wenn man sich überlegte, mit welchen Mitteln sie normalerweise arbeitete.

Mit einem Seufzen und einem stechenden Blick, drehte sich Paige zu dem Rothaarigen um. Er musste schon an ihrer Miene ablesen können, dass er bloß nichts Falsches tun sollte. Trotzdem lächelte er und deutete mit einer fließenden Handbewegung in Richtung einer weiteren Tür, die am Ende des Gangs lag.

Kaum dort angekommen, wollte sich Paiges Magen wegen der leckeren Düfte, die ihr entgegen schlugen, mehrmals aus Vorfreude überschlagen. Spätestens jetzt hatte der Butler sie am Haken, denn sie konnte sich beim besten Willen nicht mehr daran erinnern, wann sie das letzte Mal mehr als ein halbes Sandwich zu sich genommen hatte. Geschweige denn etwas Warmes.

Aber ganz ließ sie ihre Vorsicht nicht fallen, stellte sich schützend vor Ai und ließ den Mann vorgehen.

Ganz langsam und mit wohlgesetzten Schritten folgte sie ihm in den Raum, der ihr vor köstlichen Gerüchen fast den Atem stocken ließ. Irgendetwas blubberte in einem Topf auf dem Herd und der Backofen lief leise mit den Geräuschen der Speise um die Wetter.

Auf dem großen, alten Holztisch, der die Mitte des Raumes füllte, standen bereits wunderschöne, weiße Teller und glitzerndes Besteck. Bei der Auswahl an Gläsern funkelte der Kerzenschein des Leuchters in schillernden Farben. Paige blieb die Spucke weg. Was äußerst selten passierte.
 

Während Tennessey ihm die Nährwerttabelle einimpfte, nach der er so und so viele Kalorien in so und so vielen Zeiträumen am Tag, bei so und so vielen Aktivitäten zu sich nehmen sollte, schweiften Ryons Gedanken absichtlich in gänzlich andere Richtungen. Er zermarterte sich den Kopf darüber, wie er mit seinen wirklichen Problemen weiter vorgehen sollte.

Wäre es nicht so wichtig, er würde das Amulett freiwillig den Auftraggebern der Diebin überlassen. Denn im Grunde war es ein Schmuckstück und somit auch nicht mehr wert, als alle anderen, die er sich hätte leisten könnte. Doch er war nun einmal ein Mann, der sich an Versprechen hielt, die er einmal gegeben hatte und somit war er dazu verpflichtet, den Anhänger zu beschützen. Egal was es ihn kostete.

Denn obwohl er all die Jahre nicht wirklich etwas Ungewöhnliches an dem Amulett hatte feststellen können, so musste es doch etwas an sich haben, was es so wichtig machte, dass man sich freiwillig dafür mit ihm anlegen würde. Die Diebin war nicht die Erste, die versucht hatte, es ihm zu stehlen und so wie er das sah, würde sie auch sicherlich nicht die Letzte sein. Bevor er also einfach nur blind versuchte, es zu beschützen, sollte er sich zunächst auch darauf konzentrieren, mehr darüber in Erfahrung zu bringen. Wenn er wusste, womit er es zu tun hatte, würde sich zeigen, wie tief er wirklich in der Tinte saß.

„Du hast noch jemanden mitgebracht?“

Tennessey hielt seinen Arm zurück, als er gerade die Küche betreten wollte, die inzwischen wohl vom weiblichen Geschlecht infiltriert worden war. Immerhin trug Tyler gerade das Essen auf, während die zwei Frauen an einem Ende am Tisch saßen und die Neuankömmlinge beäugten.

Ryon ging es eiskalt den Rücken runter, als er dem Blick der Diebin begegnete. Er bildete sich fast schon ein, die unerträgliche Hitze ihrer Haut noch immer auf sich spüren zu können, obwohl einige Meter sie von einander trennten.

Vermutlich die Nachwirkungen ihres Angriffs, den er sicherlich nicht so schnell vergessen würde.

Nächstes Mal musste er noch besser aufpassen, um nicht endgültig als Braten zu enden. Wobei er hoffte, dass es kein nächstes Mal geben würde.

„Sieht so aus.“

Er löste sich aus Tennesseys Griff und ging ans andere Ende des Tisches, den beiden Frauen gegenüber. Eigentlich hätte er lieber auf dem Dachboden gegessen, als hier bei ihnen. Aber da musste er wohl einfach durch, da der Arzt seine Drohung mit dem Füttern ernst gemeint hatte.

Um der Dämonin nicht länger in die Augen sehen zu müssen, richtete Ryon seine Aufmerksamkeit auf Tylers roten Haarschopf.

Der Diener war offensichtlich gerade im siebten Himmel, da er ein äußerst zufriedenes Lächeln aufgesetzt hatte, während er die Porzellanteller mit den köstlichen Speisen garnierte und damit zuerst die Gäste bediente. Ab und zu konnte man ihn leise etwas Fröhliches summen hören. Ganz die zufriedene Hausfrau.

„Wie geht’s der werdenden Mutter?“, erkundigte sich Tennessey freundlich bei der Schwangeren, während er ihr ein fürsorgliches Lächeln schenkte.

Wenn es um seine Patienten ging, war der Arzt immer ein Herz und eine Seele. Ryon einmal ausgeschlossen, bei ihm konnte er auch ein wahrer Teufel sein. Was aber im Grunde nur ein Ausdruck verstärkter Sorge war.

Zum Glück übernahm Tennessey das Gespräch, er selbst hatte ganz und gar keine Lust dazu. Er hing lieber seinen Gedanken nach und grübelte über die Möglichkeiten nach, die er hatte, um die beiden Frauen länger hier zu behalten.

So wie er das sah, könnte das fast ein Ding der Unmöglichkeit sein. Aber in einem Punkt, würde er so oder so nicht nachgeben. Die Dämonin konnte gehen, wenn sie es wirklich wollte, weil sie sehr überzeugende Methoden kannte, aber die werdende Mutter einfach so der Gefahr dort draußen auszusetzen und vor allem den niederen Umständen, das würde er nicht tun. Das konnte er einfach nicht. Genauso gut hätte man von ihm verlangen können, er solle mit dem Atmen aufhören.

Erst als Tyler ihm einen Teller mit einer riesigen, bereits in Mundgerechte Stücke geschnittenen Portion vor ihm abstellte, kam Ryon wieder in die Realität zurück und war im nächsten Augenblick seinem Freund sehr dankbar für dessen Aufmerksamkeit. Mit dem dick einbandagierten Arm konnte er unmöglich sein Essen klein schneiden, ohne sich dabei wie ein absoluter Tölpel anzustellen.

Leise bedankte er sich bei dem Wandler, der ihm daraufhin verstohlen zu zwinkerte, ehe er sich selbst an den Tisch setzte.

„Na dann, guten Appetit. Ich hoffe es schmeckt allen und falls nötig, könnt ihr jederzeit noch nach haben. Es ist ohnehin viel zu viel da.“
 

Ohne mit der Wimper zu zucken oder auch nur das polierte Besteck anzurühren, beäugte Paige die Szene.

Es war wirklich lächerlich hier zu sitzen, im Haus des Mannes, den sie bestehlen sollte und mit dem sie schon zweimal gekämpft hatte. Und dabei war es nicht um harmlose verbale Attacken gegangen.

Wie sollte sie jetzt so einfach ihr Misstrauen abstellen, nur oder gerade weil man ihr etwas zu Essen gegeben hatte?

Ai wollte gerade zulangen, als Paige ihre Hand schnappte und sie davon abhielt einen Bissen abzuschneiden. Die Asiatin sah sie verständnislos und beinahe entsetzt an, während Paiges dunkle Augen den Männern am Tisch zu funkelten.

Sie hatten alle bereits etwas gekaut und hinunter geschluckt. Jetzt hieß es noch zwei Sekunden warten.

Nichts passierte. Außer dass sie von allen Seiten angestarrt wurde, als wäre sie nicht ganz richtig im Kopf. Hatten diese Typen denn wirklich gedacht, sie würde dieses Risiko eingehen?

„Du...“

Sie überlegte und ließ dann ihre Stimme um einen Deut weicher werden.

„Tyler. Nichts gegen dein Essen, aber ich will, dass du mit meiner Freundin tauscht.“

Da er bis jetzt weder grün um die Nase geworden, noch vom Stuhl gekippt war, hoffte Paige annehmen zu können, dass seine Portion frei von Giften war. Und wenn die drei zuvor ein Gegengift genommen hatten, dann war das verdammtes Pech. Aber so wie ihr Magen rumorte, würde sie dieses letzte Risiko in den Wind schreiben müssen. Kraftlos konnte sie keinen weiteren Kampf überstehen. Und vor allem konnte sie dann auch Ai nicht mehr beschützen.

Ohne jegliches Murren tauschte der Rothaarige den Teller mit Ai und machte sich dann lächelnd daran weiter zu essen. Jetzt war Paige selbst dran und sie wusste nur zu genau, mit wem sie tauschen wollte.

Noch während sie Ais Hand losließ, machte sie den Mund auf, um Eisschrank anzusprechen. Seinem Essen hatte der Koch, außer zusätzlicher Edelgewürze, sicher nichts zugemischt.

Da fiel ihr Blick allerdings auf seine verbundene Hand, die die Gabel leicht zitternd hielt. Mit einem bereits geschnittenen Stückchen Fleisch daran. Wie gut, dass niemand ihre geröteten Wangen der wirklichen Emotion zuordnen konnte, die sie gerade empfand.

Sie hielt dem Mann ihren eigenen Teller hin und schenkte ihm zusätzlich ein gewinnendes Grinsen.

„Doc, würden Sie bitte?“
 

Am Anfang hatte Paige noch winzige Stücke von jeder einzelnen Speise abgeschnitten, um den Geschmack richtig genießen zu können. Dann hatte sie kleine Kunstwerke aus Fleisch, Beilage und Sauce auf ihre Gabel geschichtet und sie sich genüsslich im Munde zergehen lassen.

Inzwischen war sie in der Phase angelangt, in der sie ihren Hunger nicht mehr nach dem Genuss hinten anstellen konnte. Zumindest hielt sie einigermaßen die Tischmanieren bei, während sie so viel Essen wie sie vertragen konnte, in sich hinein stopfte. Es war aber auch einfach großartig!
 

Hätte er ihre Vorgehensweise nicht im Ansatz verstanden, so wäre er nun wirklich beleidigt gewesen.

Misstrauen war das eine, aber jemanden hinterrücks zu vergiften, wäre wohl das Letzte, was er tun würde. Außerdem, selbst wenn er es gewollt hätte, Tyler würde die sorgsam zubereiteten Speisen doch niemals mit irgendwelchem Gift verschandeln. Selbst wenn es nur ein neutralschmeckendes Schlafmittel gewesen wäre. Als hervorragender Koch könnte man ihm nie wieder richtig trauen und soweit würde er es niemals kommen lassen.

Trotzdem, Ryon hielt den Mund und aß einfach weiter. Er war sauer, das konnte er nicht leugnen, aber zum Glück sah man es ihm nicht an. Es war jedoch eine Tatsache, dass ihn das alles zusehends immer mehr anstrengte.

Erst der Kampf mit den Auftragskillern, dann die Auseinandersetzung mit der Dämonin. Alleine die Tatsache, hier in der Küche zu sitzen und zu essen, machte ihn auf eine Weise fertig, die tiefer saß, als körperliche Erschöpfung.

Für die anderen mochte das vielleicht ein schönes Haus sein, für ihn war es die reine Hölle. Weshalb er auch sehr froh war, als er seinen Magen endlich gefüllt und auch die anderen ihren Hunger gestillt hatten.

Tyler war sofort aufgesprungen, um die Teller abzuservieren.

„Als Nachtisch gibt es Schokoladensorbet.“, verkündete er dabei begeistert, doch Ryon wischte sich den Mund an der Stoffserviette ab und stand schließlich auf.

„Entschuldigt mich. Ich verzichte auf den Nachtisch.“

Er wollte sich nur noch waschen und ins Bett, obwohl es noch viel zu besprechen gebe. Aber es war schon unglaublich spät oder ziemlich früh, je nach dem wie man es sah. Bestimmt konnten sie diese Angelegenheit auch noch um ein paar Stunden verschieben.

Die beiden Frauen konnten ohnehin nicht so einfach das Grundstück verlassen und bestimmt brauchten sie ebenfalls Ruhe nach diesen ganzen Ereignissen.

„Wir reden morgen.“

Sein Blick grub sich in den der Dämonin. Seine Worte machten deutlich, dass das keine Bitte gewesen war. Danach sah er sich noch ein letztes Mal in der ganz und gar seltsamen Runde um, ehe er die Küche verließ.
 

„Na da hat einer aber schlechte Laune.“, murmelte Tyler vor sich hin, während er jedem der Anwesenden ein Schälchen mit dem Dessert hin stellte.

Normalerweise verließ Ryon niemals während des Essens den Tisch und obwohl das letzte Mal schon sehr lange her war, konnte sich der Wandler auch nicht daran erinnern, dass sein Herr sich jemals zurückgezogen hätte, während die Gäste noch anwesend waren. Für gewöhnlich wartete er ab, bis alle versorgt waren. Aber der seltsamen Atmosphäre am Tisch nach zu urteilen, waren das ohnehin keine normalen Gäste. Nach all den Überraschungen in den letzten Stunden wäre das auch sehr verwunderlich gewesen.
 

Automatisch hatten ihn seine Füße den gewohnten Weg entlang getragen, ohne dass er darüber nachdenken müsste.

Hätte er es getan, er wäre sofort umgedreht. Da seine Gedanken jedoch immer noch bei der seltsamen Gesellschaft bei Tische waren, wurde ihm fast zu spät klar, welche Tür er gerade öffnen wollte.

Seine Hand zuckte vor dem Metallgriff zurück, als hätte ihn eine Klapperschlange gebissen, eine Sekunde später stand er mit dem Rücken an der Fensterfront, direkt gegenüber davon. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und er begann zu zittern, während sein Puls in die Höhe schnellte.

Nicht diese Tür … nicht dieser Raum…

Vollkommen blass und mit kaltem Schweiß auf der Stirn drehte er sich um und eilte davon, um sich in eines der Gästezimmer zu flüchten.

Erst als der leicht befremdliche Eindruck des Raumes auf ihn einzuwirken begann, beruhigte sich seine Atmung wieder. Hier hafteten nur sehr wenige Erinnerungen an den Möbeln und Wänden.

Alles vollkommen belanglose Dinge. Dennoch wäre es ein Wunder, wenn er überhaupt ein Auge in diesem Haus zu tat.

Doch irgendwie hatte er es gewusst. Er hätte das Haus schon vor Jahren verkaufen können und hatte es dennoch nicht getan. Irgendwann musste einfach dieser Augenblick kommen, in dem er sich nun befand. Seine Vergangenheit drohte ihn einzuholen und hier war der Ort an dem er sich ihr stellen musste. War das nun Schicksal oder Zufall?
 

Nachdem sie auch noch das leckere Dessert genossen und keinen Hauch davon in der kleinen Schüssel zurück gelassen hatte, war Paige aufgestanden und hatte sich zwischen den beiden verbleibenden Männern umgesehen.

Sie verstand es immer noch nicht, aber hier in diesem Haus schien weder für sie noch für Ai von irgendjemandem Gefahr auszugehen. Selbst Eisschrank hatte sich derart zurückgezogen, dass sie keinen neuen Auftritt vor dem Morgen von ihm erwartete. Nur gut so.

Denn ob Paige es nun wollte oder nicht, sie hatte Schulden bei ihrem Gastgeber. Und die würde sie vielleicht nicht mit dem passenden Entgelt begleichen, sie aber zumindest mit einem Dank abtragen müssen. Denn gerade bei diesem Kerl würde ihr ehrlicher Dank ziemlich schwer fallen.

Jetzt saß sie auf dem frisch bezogenen Bett und sah Ai dabei zu, wie sie sich mit einer weichen Decke zudeckte und das Licht an der kleinen Lampe auf dem Nachttisch herunter dimmte.

Verwunderlich, dass die Asiatin hier wirklich einfach ruhig schlafen konnte. Da war sie Paige offensichtlich einen Schritt voraus, denn sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie hier auch nur ein Auge zutun würde. Dafür spürte sie die drohende Gefahr doch noch zu sehr. Es steckte ihr so zu sagen tief in den Knochen. Die Szene, wie sie selbst an Eisschrank hing, um in zu verletzen, ging ihr nicht so leicht aus dem Kopf.

„Willst du dich nicht auch hinlegen?“

Ais Stimme klang besorgt und durchaus mütterlich. Obwohl sie nur drei oder vier Jahre älter war als Paige. Mal von ihrem sonstigen Verhältnis, wo Paige die Führung übernahm, völlig abgesehen.

„Nein, aber schlaf du nur. Du musst dich ausruhen.“

Mit einem Lächeln lehnte sie sich an die Rückwand des Bettes und setzte sich bequem hin. Die Tatsache, dass sie viele Gedanken hatte, denen sie nachhängen konnte, würde ihr dabei helfen, wach zu bleiben.

Bald konnte sie in der warmen Atmosphäre des Raumes Ais gewohnt ruhige Atmung hören und entspannte sich deshalb ein wenig. Morgen würde sie hier abhauen. Und Ai würde sie mitnehmen. Wenn sie nur wüsste, wohin...

7. Kapitel

Die Sonne kitzelte überraschend auf ihrer Nasenspitze.

Zu einem kleinen Ball zusammen gerollt, lag Paige in dem Bett, ohne sich auch nur eine Decke über den zitternden Körper gezogen zu haben. In der jetzigen Position war ihr auch warm, aber bequem konnte man das Ganze doch nicht nennen.

Sobald auch noch das schlechte Gewissen einsetzte, war sie sofort hellwach und setzte sich so schnell auf, dass sie nicht darauf achtete, wie sie lag und um ein Haar aus dem Bett fiel.

Sofort sah sie zu Ai hinüber, die sie eigentlich hatte in der Nacht bewachen wollen. Die Asiatin schlief noch ruhig und fest, was Paige ein Lächeln entlockte.

Aber nun zu den wirklich wichtigen Dingen. Sie musste Eisschrank finden und dann nichts wie weg von hier.
 

Wie erwartet döste er mehr, als dass er schlief. Das Bett war zwar relativ groß, für seine Verhältnisse aber nicht groß genug, weshalb es unmöglich war, eine Position zu finden, die er auch nur annähernd als gemütlich bezeichnen konnte. Wäre er nicht so erschöpft gewesen, er hätte es noch nicht einmal zu einem Dösen gebracht, doch auch dieser Zustand endete, sobald sich die Dunkelheit vor dem Fenster langsam immer mehr aufhellte.

Ryons erste Handlung an diesen äußerst frühen Morgen bestand darin, sich die Verbände ab zu nehmen, um nach seinen Wunden zu sehen. Er heilte relativ schnell, weshalb es ihn auch nicht wunderte, dass die Brandverletzung zwar noch weh tat, aber das in einem absolut erträglichen Rahmen.

Die Kräutersalbe hatte wirklich meisterhaft gearbeitet und den Heilungsprozess noch beschleunigt, weshalb seine Hand zwar noch immer ziemlich gerötet und etwas unbeweglich war, dafür klaffte aber keine offene Fleischwunde mehr darin. Den glatten Durschuss an seinem Oberarm betrachtete er noch nicht einmal. Diese Verletzung würde auch ohne seine Aufmerksamkeit heilen. Das wusste er.

Als er noch immer müde und absolut nackt ins Bad taumelte, stellte er fest, dass an der Tür ein Kleidersack hing, der gestern definitiv noch nicht dort gewesen war.

Tyler hatte ihn also ohne Probleme aufgestöbert und sich so leise herein geschlichen, dass selbst er ihn nicht hatte hören können. Der Kerl war wirklich eine Klasse für sich.
 

Frisch geduscht, rasiert und in einer Kleidung die schon eher seinem Geschmack entsprach, stand er schließlich in der sonnendurchfluteten Küche und kochte Kaffee.

Die beigefarbene Hose und das weiße Hemd musste sein Freund wohl aus irgendeinem Karton heraus gegraben haben. Immerhin glaubte Ryon nicht, dass seine Klamotten immer noch in einem Kleiderschrank hingen, der seit sieben Jahren nicht mehr benutzt wurde. Zumindest nicht von ihm. Allerdings erinnerte ihn der Gedanke daran, dass – so bewusst er seine Handlungen auch durchführte – alles was er tat, einem altvertrauten Muster folgte, dem er einfach nicht entkommen konnte.

Nach so vielen Jahren hätte er eigentlich vermutet, dass ihn der Anblick der hellen Küchenmöbel befremdlich vorkommen müsste. Tatsächlich erinnerte er sich noch haargenau daran, wo das Besteck lag, die Kaffeebecher standen. Wo er den Filter finden würde und in welchem Schränkchen sich ein wahrer Schatz an selbst zusammen gemischten Teesorten aufhielt.

„Scheiße.“, fluchte er leise, während er sich die schwarze Brühe schnappte, um damit durch die Terrassentür nach draußen zu gehen.

Wenigstens war der Garten kaum noch wieder zu erkennen. Alles war viel größer, die Kräuter viel zahlreicher und üppiger. Ja selbst die Laub- und Nadelbäume neben dem Haus schienen im Laufe der Jahre noch mehr gewachsen zu sein.

Während er so mit bloßen Füßen über die weiche Wiese ging und sich alles genau ansah, stellte er fest, dass er unbewusst den Garten aus seiner Vergangenheit mit dem aus der Gegenwart verglich.

Dieser hier war viel schöner, da er länger Zeit gehabt hatte, sich zu entfalten. Damals war alles noch relativ jung und teilweise noch nicht ganz angewachsen gewesen.

Er hätte ihr gefallen…

Überrascht darüber, dass er diesen Gedanken wirklich gedacht hatte, riss er seinen Blick von den verschiedenfarbigen Mohnblumen los und ging entschlossen die Stufen zum See hinab. Dort setzte er sich ans Ende des Stegs, krempelte die Hosenbeine bis zu den Knien hoch und tauchte seine Füße ins Wasser. Danach nahm er den Kaffeebecher wieder zwischen seine Finger und starrte auf den See hinaus, der türkisfarben in der Sonne glitzerte und so klar war, dass man sogar den Grund sehen konnte. Er war vielleicht nicht sehr groß, dafür aber eine wahre Augenweide.

Während Ryon seinen Gedanken nach hing, wie er es hier schon oft getan hatte, nippte er ab und zu an dem schwarzen Gesöff. Das einzige Detail, dass hier nicht ins Bild passte. Früher hatte er seinen morgendlichen Kaffee anders getrunken.
 

Wie praktisch für Paige, dass Eisschrank sich nicht wirklich verstecken konnte. Mit seiner Statur fiel er hier auf wie ein bunter Hund. Außerdem war die Bewohnerzahl des Hauses ja relativ klein. So hatte sie ihn bei ihrem Rundgang durch das leere Haus nicht übersehen können.

Zu Anfang war sie einfach dem Duft von Kaffee gefolgt und kam gerade um die Ecke des Wohnzimmers, als ihr Gastgeber aus der Küche trat. Er war also auch schon so früh auf und noch dazu bewegte er sich inzwischen wirklich wie zu Hause.

Zuerst fiel ihr auf, dass er barfuß war und außerdem seine Tasse mit nach draußen nahm.

Von der Terrassentür im Wohnzimmer aus, hatte sie ihn eine Weile dabei beobachtet, wie er nachdenklich durch den Garten gelaufen war. Bei jedem Anderen hätte sie der Körperhaltung nach, einen grüblerischen Gesichtsausdruck erwartet. Aber es überraschte sie kaum noch, dass es bei diesem Mann anders war.

Gar nichts spiegelte sich in seinem Gesicht und selbst aus der Distanz konnte Paige sehen, dass seine Augen so tot waren, wie immer. Fast hätte man glauben können, sie kenne ihn schon eine Weile. So, wie sie sich Gedanken darüber machte, ihn jetzt nicht sofort zu stören.

„Blödsinn...“

Mit langen Schritten ging sie hinaus und hinter ihm her, folgte seiner Spur durch das noch feuchte Gras bis zum Ende des Gartens und dann eine Treppe hinunter. Hier sah sie sich das erste Mal wieder genauer ihre Umgebung an. Der Landschaftsgärtner hatte wirklich Ahnung gehabt und dieses Plätzchen mitten im Wald zu einer kleinen Oase gestaltet. Alles schien Ruhe und Frieden auszustrahlen, was noch verwunderlicher war, da selbst Paige, der diese Zustände einigermaßen fremd waren, es fühlen konnte.

Deshalb näherte sie sich dem Mann auch ungewohnt leise und rücksichtsvoll. Beinahe hätte sie ihm sogar einen guten Morgen gewünscht. Aber so weit ging die Beeinflussung durch den Garten dann doch beim besten Willen nicht.

„Sobald Ai wach ist, werden wir verschwinden.“

Mit Zähneknirschen trat sie noch einen Schritt näher und wartete, bis Eisschrank zu ihr aufsah. Es kostete Einiges an Überwindung, aber sie schaffte trotzdem die Worte klar und deutlich über die Lippen zu bringen.

„Danke. Dass du sie gerettet hast.“
 

Der Inhalt des Kaffeebechers schwappte fast über, als er die Stimme der Diebin hinter sich hörte. Ryon war so in seinen Gedanken vertieft gewesen, dass er sie weder gehört, noch gewittert hatte. Weshalb es ihr auch gelungen war, ihn zu erschrecken.

Da er ohnehin nicht besonders gut drauf war, wofür sie aber nichts konnte, stimmte ihre Nachricht ihn auch keinesfalls fröhlich. Sie wollte also verschwinden, ja? Das konnte sie vergessen.

Als er zu ihr aufblickte, bedankte sie sich überraschenderweise bei ihm.

Autsch. Das musste ihr ganz schön gegen den Strich gegangen sein, weshalb er sie auf keinen Fall darauf hin wies, dass er es für Ai getan hatte, nicht für sie.

Sein Blick schweifte wieder auf den See hinaus, während er erneut an seiner Tasse nippte.

„Ai – Liebe auf japanisch … der Name passt zu ihr.“, stellte er fest, ohne weiter auf ihre vorigen Worte zu reagieren. Der Dank war nicht nötig, er würde es immer wieder tun und was das andere anging, würden sie sicher noch einmal aneinander geraten.

„Mein Name ist übrigens Ryon.“

Es wurde endlich einmal Zeit, dass sie sich einander vorstellten, wenn sie schon miteinander zu tun hatten. Zumindest würde er gerne ihren Namen erfahren, bevor sie sich wieder gegenseitig verletzten. Das wäre dem Anlass angemessen, fand er. Vor allem, wenn man bedachte, dass sie in Zukunft noch zusammen arbeiten mussten, um einigermaßen heil aus der ganzen Amulett-Geschichte heraus zu kommen.
 

Sein Name interessierte sie so viel wie ein Blitz, der in seinen Schornstein einschlug. Wollte er hier jetzt auf gepflegte Konversation machen, oder was? Da wäre Paige auf keinen Fall mit dabei. Schon gar nicht, weil sie sich selbst dafür hasste, dass sie dem Mann, ohne lange darüber nachzudenken Ais Namen verraten hatte.

„Ich fürchte, wenn ich sagen würde 'freut mich', wäre das ein böser Scherz.“

Aus ihr unerfindlichen Gründen sprach sie leise und keinesfalls aggressiv. Vielleicht lag es an ihrem Magen, in dem seit so langer Zeit kein Loch mehr gähnte. Oder es war immer noch die Tatsache, dass er Ai gerettet hatte.

Ohne seine Hilfe hätte sie gegen die Männer mit den Waffen nicht die geringste Chance gehabt. Paige konnte gar nicht darüber nachdenken, was passiert wäre, hätte sich... Ryon... nicht zum Helden berufen gefühlt.

Bemüht nicht schon wieder die Nerven zu verlieren, stopfte sie ihre Hände in die Hosentaschen und sah an ihm vorbei ebenfalls auf die unbewegte Oberfläche des Sees.

Was ihr als Erstes in den Sinn kam war, dass hier keine Tiere leben konnte, so klar wie das Wasser war. Schade, so ein Frosch, der ins Wasser sprang und die Atmosphäre damit irgendwie auflockerte, wäre ihr gerade ziemlich recht gewesen.

„Warum hast du das getan?“

Immer noch richtete sie ihren Blick nicht auf seinen Hinterkopf. Das hätte das Ganze bloß noch unwirklicher gemacht.

„Du hättest dir ansehen können, wie sie auf mich warten und mich um die Ecke bringen. Ein Problem weniger.“

Der stechende Zynismus war nicht zu überhören.

Es war nobel gewesen eine schwangere Frau zu retten. Aber warum war er zurück gekommen?
 

Sie fuhr also lieber die anonyme Tour weiter, was ihn zum Teil ärgerte, aber irgendwie auch nicht wirklich überraschte. Immerhin war sie jemand, der ihm zutraute, er könne dabei zusehen, wie mehrere Männer eine schwangere Frau umbrachten. Es gab sicher viele herzlose Bastarde auf der Welt. Er gehörte garantiert nicht dazu.

„Erstens hätte ich nicht dabei zusehen können, wie sich diese Typen mit deiner Freundin die Zeit vertreiben, bis du wieder zurück kommst, um sich dann auch um dich zu kümmern. Du magst mich vielleicht für ein emotionsloses Arschloch halten, was noch lange nicht heißt, dass du damit auch Recht behältst und zweitens würde dein Tod nicht die Probleme aus dem Weg räumen, in denen wir jetzt beide bis zum Hals stecken.“

Ganz im Gegenteil, es würde alles nur noch schwieriger machen. Aber auch das verschwieg er wohlweißlich.

Stattdessen trank er seinen Kaffee aus und stellte den Becher neben sich ab, damit er sich mit seinen Ellenbogen auf den Oberschenkeln abstützen konnte, während seine Füße im Wasser leise herum plantschten. Es war unangenehm, diese Frau in seinem Rücken zu wissen. So als würden feine Nadelstiche seinen Nacken bearbeiten, als befürchte er, jeden Moment von ihr gebraten zu werden.

Bei dem Gefühlsausbruch, den er bei ihr erlebt hatte, würde es ihn auch nicht überraschen. Ryon kannte ihre Reizschwelle noch nicht wirklich, weshalb er sich seine Worte inzwischen gut überlegte, bevor er sie aussprach.

„Wo willst du eigentlich mit Ai hin? Willst du sie in ihrem Zustand wieder in der World Underneath verstecken und darauf hoffen, dass euch niemand findet?“
 

Dass er so gelassen blieb, während er mit ihr redete, missfiel Paige aufs Äußerste. Hatte sie ihm nicht schon gezeigt, dass er sich vor ihr in Acht nehmen musste? Und da paddelte er hier mit den Füßen im Wasser herum, als wäre das ein Sonntagsausflug.

Noch dazu ließen die Bilder, die er in Paige auslöste, sie alles Andere als kalt. Mein Gott, was hätte Ai alles passieren können, wenn er nicht rechtzeitig aufgetaucht wäre!

Na, was hieß auftauchen. Es hätte schon ein großer Zufall sein müssen, wenn er genau zum richtigen Zeitpunkt in die Bresche springen konnte.

„Was willst du genau von mir? Du warst doch bei meiner Wohnung, um Kontakt mit mir aufzunehmen. Und was sind das für Schwierigkeiten?“

Sie steckten beide bis zum Hals in der Klemme? Von sich selbst konnte Paige das wohl behaupten. Immerhin hatte eine Bande von Mördern ihr aufgelauert und ihre Wohnung war gestürmt und nur noch ein Trümmerfeld hinterlassen worden. Soviel also zu den Fakten, die sie kannte.

Nochmal ganz von vorn. Man hatte sie beauftragt, ihm das Amulett abzunehmen. Nachdem sie das nicht geschafft hatte, sollte sie aus dem Weg geräumt werden. Alles noch nachzuvollziehen, aber was wollte dann Eis... Ryon von ihr?

Er hatte sich eingemischt, weil er Ai helfen wollte. Außerdem wollte er etwas von Paige. Wenn das tatsächlich so war, würde sie nur darauf warten müssen, bis er mit der Sprache herausrückte.

„Selbst wenn dich das etwas anginge, würde ich es dir nicht sagen. Glaubst du denn, ich bin ganz allein auf der Welt? Auch wenn dir das unrealistisch erscheint: Ich habe Freunde, die Ai und mir helfen würden.“

Allmählich war sie wirklich genervt davon, hinter ihm zu stehen und nur mit seinem Rücken zu sprechen.

Die matt schwarzen Augen waren nicht wirklich sehr viel mehr wert, was die Reaktion betraf, aber zumindest hätte er ihre Existenz besser wahrgenommen, wenn er ihr ins Gesicht gesehen hätte. Scheinbar war menschlicher Kontakt wirklich nicht seine große Stärke. Oder Paige war ihm so egal, wie sie es vermutete. Letzteres wäre nur zu ihrem Vorteil.
 

„Willst du diese Freunde auch noch in die Sache mit hinein ziehen, wo ihr beide jetzt Killer am Hals habt?“

Er fragte es ganz nüchtern, damit es nicht wie ein Vorwurf klang. Immerhin war es letztendlich ihre Entscheidung. Aber was für Freunde konnten das schon sein?

Tyler und Tennessey würde er auf jeden Fall nicht in so einem Zustand wohnen lassen, wie er die Wohnung der beiden Frauen vorgefunden hatte. Für Flame alleine mochte es sicherlich gerade so genügt haben, solange es trocken und warm war, aber eine schwangere Frau? Wo hätten sie das Kind aufwachsen lassen?

Allein der Gedanke daran verursachte ihm einen bitteren Geschmack auf der Zunge. Seiner Meinung nach hatten Kinder in der World Underneath ohnehin nichts zu suchen. Nicht einmal wenn man ihre nichtmenschliche Natur nicht leugnen könnte.

„Was ich von dir will, sind alle Informationen die du mir über deinen Auftraggeber geben kannst. Mögen sie noch so unwichtig sein. Da du mir aber schon sagtest, dass du nicht wüsstest, wer es sei, musste ich mich an deine Spur heften. Früher oder später hättest du sicher wieder Kontakt mit ihnen aufgenommen, wenn auch nur, um ihnen zu sagen, dass du den Auftrag nicht durchführen konntest. Wie du unweigerlich festgestellt hast, hatte ich Recht. Sonst wert ihr beide nicht hier.“ Leider half ihm das auch nicht viel weiter. Bis auf die Tatsache, dass ein Magier unter ihnen gewesen war. Aber das könnte auch reiner Zufall gewesen sein. Obwohl Ryon schon langsam nicht mehr an Zufälle glaubte.

Mit einem kaum hörbaren Seufzen richtete er sich wieder auf und nahm den Kaffeebecher wieder zwischen die Finger, um sich sozusagen daran fest zu halten. Er würde es nie zugeben, aber das alles machte ihn auf eine Weise nervös, die ihm ganz und gar nicht behagte. Als würde er nur darauf warten, dass die anderen den nächsten Schritt machten.

„Hör zu. Du bist nicht die Erste, die hinter dem Amulett her war und wirst auch leider nicht die Letzte sein. Vor deinem Erscheinen dachte ich, es handle sich nur um Diebe, die persönliches Interesse an dem Schmuckstück hegten und nicht im Auftrag von jemand anderen handelten. Aber langsam glaube ich, dass sie alle auf mich angesetzt worden waren. Weshalb ich denke, dass die gleichen Leute die hinter dir und Ai her sind, auch auf das Amulett scharf sind. Allerdings habe ich noch keine Ahnung weshalb. Tatsache ist aber, dass dir genauso wie mir nur zwei Möglichkeiten bleiben. Entweder ein leben lange Flucht oder wir nehmen die Sache selbst in die Hand.“
 

„Natürlich. Da lasse ich sie lieber im Haus eines Wildfremden, von dem ich zumindest weiß, dass er ein Killer ist.“

Was musste er bloß immer von Ai und Paiges Unfähigkeit sich um sie zu kümmern anfangen? Hatte er das etwa bereits nach so kurzer Zeit als ihren Schwachpunkt erkannt und bohrte nur aus Freude in der Wunde herum?

Sie nahm sich nicht heraus, das nach den paar Stunden, die sie sich kannten schon beurteilen zu können. Aber eins stand für sie fest. Eisschrank Ryon hielt sich auf jeden Fall für die bessere Alternative als jemanden, der sich wenn auch mit kargen Mitteln, liebevoll um Ais Wohlbefinden sorgte und kümmerte. Wenn er so weitermachte, würde Paige garantiert bald wieder explodieren.

Da war es ihr wesentlich lieber, dass er ein anderes Thema ansprach. Auch wenn es von der Sache nicht weit entfernt war. Ganz im Gegenteil sogar. Denn sie musste zugeben, dass er mit seiner Schlussfolgerung Recht hatte. Entweder würde sie sich ab jetzt immer vor diesen Leuten verstecken müssen oder sie nahm die Sache selbst in die Hand. Ob sie da allerdings einen zu groß geratenen Eisklotz brauchen konnte, bezweifelte sie stark.

„Du willst also meine Hilfe?“

Als sie ihren Körper ein wenig straffte, viel irgendetwas, das wohl zwischen den Planken des Stegs gehangen hatte, ins Wasser. Nur ein einzelnes, leises Platschen war zu hören, aber es schien die Frage nur noch zu unterstreichen.

Was bot er ihr denn als Gegenleistung an?

„Ich hab dir schon gesagt, dass ich meine Auftraggeber nicht kenne...“

In der Pause sah sie überlegend auf ihre Schuhspitzen und ihre Haare fielen ihr wirr ins Gesicht. In der fremden Umgebung hatte sie weder Wert darauf gelegt, noch überhaupt daran gedacht, sich mit irgendwelcher Körperpflege zu beschäftigen. Gerade jetzt fühlte sie sich seltsam schmutzig und damit fehl am Platz in diesem Umfeld, an dem alles wie gezupft und gebügelt aussah. Nicht zuletzt ihr Gegenüber.

„Natürlich kann ich dir ein paar Sachen sagen. Aber wer garantiert mir, dass Ai tatsächlich in Sicherheit ist, auch dann, wenn du hast, was du willst? Die Leute, die das Amulett wollen, scheinen ja recht hartnäckig zu sein. Willst du die alle umbringen, um sie zu stoppen? Da verstecke ich mich ehrlich gesagt lieber. Was ist denn an dem Ding so unglaublich kostbar?“
 

Ja, er war ein Killer, genauso wie sie eine Diebin war. Allerdings handelte er dabei nach seinem eigenen Gewissen und führte nicht einfach blind Befehle aus. Weshalb er sehr wohl noch entscheiden konnte, wann er wen wie tötete.

Aber machte das nicht trotzdem ein Monster aus ihm? Flame hatte es ihm schon einmal an den Kopf geworfen und sie ahnte nicht, wie Recht sie damit hatte. Zumindest in ganz seltenen Momenten.

„Dieses Grundstück wird durch diverse Einrichtungen geschützt. Wenn es jemand schaffen sollte, hier einzudringen, dann hat er es wirklich verdient, uns umzubringen und es gebe ohnehin keine Chance, egal wo wir uns befänden. Bis dieser Fall jedoch eintritt, wird es hier sicherer sein, als sonst wo.“

Immerhin wurde dieser Ort nicht nur von modernster Technik geschützt. Auch die Welt des Übernatürlichen mischte dabei mit.

„Wenn du mir also alles erzählst, was dir einfällt, dann könnte ich zumindest herausfinden, wer deine Auftraggeber waren. Somit hätten wir den Vorteil, dass wir den Feind kennen würden. Solltest du mir nicht helfen, würde es sehr viel länger dauern, diese Dinge heraus zu finden und dann könnte es vielleicht schon zu spät sein. Außerdem hast du zugegebenermaßen sehr nützliche Talente.“

Auch wenn er von einigen von ihnen absolut nicht begeistert war.

Schon allein der Gedanke daran, brachte ihn dazu seinen verletzten Arm neben sich auf dem Holz abzulegen. Aus ihrem Blickfeld heraus. Was im Grunde lächerlich war. Wenn sie ihn jetzt angriff und er es nicht schaffte, irgendwie mit ihr zusammen ins Wasser zu gelangen, dann wär’s das für ihn gewesen. Das dünne Hemd, das er nicht ganz zugeknöpft hatte, bot nun wirklich keinen nennenswerten Schutz vor Hitze und Feuer.

„Deine Frage kann ich dir leider nicht beantworten. Ich weiß nicht, was so verdammt wertvoll an diesem Schmuckstück sein soll.“

Ryon fasste sich mit der gesunden Hand an die Brust, genau dort wo sich das Amulett angenehm kühl an seine Haut schmiegte.

„Aber das wird das Erste sein, was ich herausfinden muss.“
 

So, wie er von den Sicherheitsvorkehrungen sprach, schien er sich der Sache wirklich sicher zu sein.

Es war ein verdammt großer Schatten, über den Paige da springen musste. Selbst mehrere Anläufe reichten nur gerade so dazu aus, dass sie ihm ihre Hand hinstreckte. Völlig menschliche, schwache Finger, mit rund gefeilten Nägeln. Eine Hand, die in seiner klein und zerbrechlich aussehen musste. Wenn er sie denn ergreifen würde.

Zunächst sah er sie nur an und Paige vermutete Überraschung, die sie aber in den großen Pupillen nicht finden konnte. Ob er überhaupt wusste, wie gruselig er wirkte? Na, selbst wenn, wäre er nach Paiges Meinung bestimmt noch stolz darauf. Aber darum ging es hier gerade nicht.

„Wenn du schwörst, dass Ai von dir und deinen Leuten keine Gefahr droht; dass sie hier sicher ist, dann helfe ich dir. Aber nur so weit, wie es mir richtig erscheint. Das ist nur meine Sache, soweit es Ais und meine eigene Haut angeht. Nicht mehr, verstanden?“

Dass er ihre Neugier geweckt hatte, musste er ja nicht wissen.

Paiges wachsamen Augen war das Glänzen unter seinem offenen Hemd nicht entgangen. Immerhin war sie nicht umsonst eine der Besten in ihrem Job. Er trug das Amulett also tatsächlich um den Hals. Vermutlich sogar Tag und Nacht. Er mochte nicht gelogen haben und wusste vielleicht nichts über den materiellen Wert des Schmuckstücks, aber Paige sah, dass es ihm sehr viel bedeuten musste. Schon jetzt, wo ihre Hand noch in der Luft schwebte, tat es ihr leid, dass sie sich auf diesen Deal einließ. Das konnte nur Ärger bedeuten.
 

Als sie ihm ihre Hand entgegen streckte, erwartete er Schuppen und lange Krallen wie glühendheiße Nägel, die nur allzu gerne wieder nach seinem Gesicht grabschen würde. Stattdessen blickte er auf eine zarte, weibliche Hand mit natürlichen, gepflegten Fingernägeln, die ruhig in der Luft schwebte.

Das war wirklich eine Überraschung. So hatte er sie noch nie gesehen.

Ryon überlegte sich seine nächsten Worte sehr gut, denn Flame schien das gleiche getan zu haben.

„Ich schwöre dir, dass ihr beide weder durch mich noch meine Freunde Schaden erleiden werdet. Auch nicht, in dem wir etwas unterlassen, dass euch davor bewahrt hätte. Ich bin einverstanden.“

Sogar mit mehr, als das was sie vorgeschlagen hatte. Immerhin lagen ihre Prioritäten hauptsächlich auf Ai. Um sich selbst schien sie wohl weniger besorgt zu sein. Kein Wunder bei dem feurigen Charakter.

Seine Finger lösten sich von dem harten Porzellan und schlossen sich sanft um Flames warme, weiche und in der seinen ziemlich zart wirkenden Hand, um den Schwur zu besiegeln. Während sich ihre Hände berührten, sah er ihr tief in die Augen.

„Ich verlange kein Versprechen von dir, aber wenn du oder Ai etwas brauchen solltet, sag es einfach. Es nützt nichts, wenn ihr durch irgendetwas eingeschränkt werdet.“ Außer den räumlichen Gegebenheiten.

Ryon ließ ihre Hand los, noch immer darüber verwundert, dass es dieses Mal alles andere als weh getan hatte. Er hatte gar nicht gewusst, dass er inzwischen höllischen Respekt davor hatte, sie anzufassen.
 

Paige nickte kurz.

Zu sehr viel mehr war sie im Moment nicht fähig, nachdem er sie wieder losgelassen hatte.

Die Berührung war kurz und für ihre sonstigen Verhältnisse sehr freundlich gewesen. Aber das war es nicht, was sie für wenige Sekunden so verwirrt hatte, dass sie kaum Schlucken konnte. Wieder war das Einzige, das ihr zu dieser Situation und Ryon einfiel das Wort 'seltsam'. Aber wenn sie jetzt zusammen arbeiteten, würde sie da wahrscheinlich variieren müssen.

Während er sie hochrappelte, ging Paige etwas selbstzufrieden verschiedene Möglichkeiten durch.

'Komisch', 'eigenwillig', 'außergewöhnlich', 'belustigend'...

Ihr vielen noch viele Bezeichnungen ein. Aber im Moment würde sie es bei 'seltsam' belassen. Bis er ihr einen besseren Begriff aufdrängte. Immerhin hatte sie 'eiskalt' schon für eine Weile verworfen, da er ihr seinen Namen verraten hatte.

Auf ihrer Seite würde es mit dieser Offenbarung noch eine Weile dauern. Solange Ai sich nicht beim Essen oder sonstigen Gelegenheiten verplapperte.

Als sie sich das Haar zurückstrich, kam wieder dieses unangenehme Gefühl von vorhin in ihr auf. Paige hatte wirklich keine Lust sofort eine Forderung zu stellen... An sich war es ja auch mehr eine Bitte. Aber sie würde sich sehr viel wohler fühlen, wenn er sie ihr gewährte.

„Ehm...“

Sie scholt sich sofort dafür und korrigierte ihre Haltung, als sie die Schultern ein wenig hängen ließ und sich anstellte, wie ein kleines Schulmädchen. Bloß weil sie jetzt einen Deal hatten und er einen Schatten warf, der sie komplett einhüllte, war das noch lange kein Grund, klein bei zu geben. Allein wenn man den Verband an seiner Hand betrachtete, war klar, dass sie sich nicht unbedingt vor ihm fürchten musste.

Daher festigte sie ihre Stimme und fing nochmal von vorne an.

„Ich würde gern duschen, bevor wir uns weiter unterhalten.“

Sie sah zu ihm auf und kniff nun doch die Augen im Gegenlicht zusammen, um sein Gesicht erkennen zu können.

„Außerdem müssen wir Ai aufpeppeln. Sie und das Baby haben bestimmt schon wieder Hunger.“

Wer nicht sagen konnte, dass es ihr selbst genauso ging, hätte wahrscheinlich ein Scheunentor übersehen. Aber das machte nichts. Dass sie sich auf Frühstück freute, das Dank Tyler sicher so göttlich war, wie das Abendessen, sollte ruhig jeder mitbekommen, der es wissen wollte.
 

Seltsam. Für einen Moment hatte er sich eingebildet in dieser Frau jemand ganz anderes zu erkennen. Zerbrechlicher, unschuldiger und zugleich etwas schüchtern.

Als Ryon jedoch noch einmal genauer hin sah, war da wieder die starke Persönlichkeit von Flame, die ihm locker die Haut von den Rippen brennen könnte. Vermutlich war das nur eine Täuschung gewesen. Diese Frau und schwach? Irgendwie konnte er das nicht zusammen bringen.

„Selbstverständlich kannst du duschen gehen.“

Seine Stimme klang ein Spur ernsthafter als sonst. Die Frauen mochten hier vielleicht nicht weg können, aber das hieß noch lange nicht, dass er ihnen Grundbedürfnisse verweigern würde. Eigentlich hätte er angenommen, sie würde einfach tun, was sie wollte, ohne ihn danach zu fragen. Immerhin war das etwas ganz Alltägliches und jedes der Gästezimmer hatte ein eigenes Bad. Sie musste also keine Angst haben, dass ihr dabei irgendjemand in die Quere kam.

„Bring Ai einfach mit, wenn du fertig bist. Bei uns ist noch niemand verhungert.“

Er hob seinen leeren Kaffeebecher auf und ging mit der Diebin zusammen zurück zum Haus. Dem Gespräch nach zu urteilen, hatten sie nun so etwas wie einen Waffenstillstand geschlossen. Hoffentlich würde dieser eine Weile anhalten. Zumindest solange, bis er wieder vollständig hergestellt war. Ryon hasste es, verwundbar zu sein und das war er im Augenblick leider wirklich.

8. Kapitel

Sie waren durch den großen Garten zum Haus zurück gelaufen. Es würde sicher noch eine Weile dauern, bis Paige sich hier auf dem Grundstück und im Inneren auskannte. Dabei hatte sie trotz des vergangenen Gesprächs immer noch kein Bedürfnis so lange hier zu bleiben.

Um ein wenig zu unterstreichen, dass sie bloß wegen ihrer Aussprache jetzt noch keine Freunde waren, ging sie einfach weiter, als sie durch die Terrassentür kamen.

Sie steuerte in die Richtung, in der sie Ais Zimmer vermutete. Noch wollte sie es nicht ihr eigenes Zimmer nennen. Das wäre doch wirklich übertrieben gewesen.

Da sie länger weg gewesen war, als geplant, gab sie sich keine besondere Mühe, die Tür außerordentlich leise aufzumachen. Wie sie vermutet hatte, war Ai sowieso schon wach.

Die Asiatin steckte gerade ihre dicken, glänzend schwarzen Haare mit einem Holzstäbchen zu einem kompliziert wirkenden Knoten hoch und schenkte Paige ein Lächeln, als sie eintrat.

„Guten Morgen.“

Bei Ais Anblick, die immer, egal in welcher Lebenslage, aussah, als wäre sie frisch aus dem Ei gepellt, fühlte Paige sich sogar noch abgekämpfter, als zuvor. Dennoch brachte sie ebenfalls ein warmes Lächeln zustande und ging zu Ai hinüber, um deren Bauch zu streicheln. Das Baby schien hellwach und wieder mal auf Fitnesstraining aus zu sein, so stark, wie es sich bewegte.

Um ihrer Freundin nicht zu zeigen, wie viele Gedanken sie sich doch ihretwegen machte, entschuldigte sie sich und trat in das Bad nebenan. Es gehörte allein zu dem Gästezimmer, denn keine zweite Tür führte in den Raum, der trotzdem größer war, als Paiges ehemalige Küche.

Gerade noch so schaffte sie es die Tür hinter sich zuzudrücken, bevor sie von einem tiefen Seufzer durchgeschüttelt wurde.

Eisschrank hatte Recht. Selbst wenn das hier ein unbekanntes Haus war, wo Ai niemanden kannte, kümmerten sich alle doch kompetenter um sie, als Paige es je gekonnt hätte. Inzwischen wäre sie tausende Deals mit ihrem seltsamen Gastgeber eingegangen, wenn es bedeutet hätte, das Ai hier noch ein wenig gepeppelt und umsorgt wurde.

Ein wenig sauer und zerrissen über die Situation streifte sie sich die Kleider vom Körper und stellte das Wasser an. Im Gegensatz zu ihrem eigenen Zuhause, kam hier sofort heißes Wasser aus der Leitung und sie konnte sich unter einen lauwarmen Wasserstrahl stellen.

Sie mochte zwar manchmal eine feurige Persönlichkeit sein, aber das hieß nicht, dass sie sich immer mit Hitze umgab. Manchmal war ihr etwas Abkühlung sogar ganz lieb. Solange es nicht zu kalt wurde.

Das Shampoo und Duschgel, die auf einem kleinen Regal standen, dufteten herrlich und zart nach Blüten und entspannten Paige noch mehr als die Dusche an sich.

Als sie wieder aus der Kabine stieg, fühlte sie sich herrlich erfrischt und blitzesauber. Jetzt wäre eine Bürste noch der herrliche Abschluss gewesen, aber man konnte nicht alles haben.

Aussicht auf Brunch trieb sie zu hohem Tempo an und sie schleppte Ai fast hinter sich her in Richtung Küche. Auf dem Weg erklärte sie ihrer Freundin noch, dass sie gern darauf verzichten würde, jemandem hier ihren Namen zu verraten, solange es sich verhindern ließ. An ihrem Blick konnte sie erkennen, dass Ai das zwar nicht wirklich nachvollziehen konnte, aber sie würde sich auf jeden Fall nach Paiges Wunsch richten.
 

„Hättest du vielleicht einmal die Güte, uns darüber aufzuklären, was hier zum Teufel noch mal los ist?“

Tyler blickte noch nicht einmal von seiner Tätigkeit hoch, aber die Art, wie er das Messer führte, untermalte seine Worte nur noch. In diesem Augenblick wollte Ryon nicht mit der roten Paprika tauschen.

„Wir haben Ärger am Hals, was dachtest du?“, mischte sich Tennessey ein, ehe er eine Seite der Tageszeitung umblätterte und wieder dahinter verschwand.

„Wenn du damit unsere Gäste meinst, kann ich deine Meinung nicht teilen. Ich bin froh, dass wieder einmal Leben in dieses Haus kommt. Oder kannst du etwa behaupten, dass hier in letzter Zeit nicht ständig eine Grabesstille geherrscht hat?“

„Tyler…“, warnte der Arzt ihn.

„Was ist?“

Der Rotschopf blickte von dem in kleine Würfel geschnittenem Gemüse hoch, sah zuerst Tennessey an, der ihm einen scharfen Blick zuwarf, ehe er sich an seinen schweigsamen Herrn wandte.

Ryon lehnte am Rahmen der Terrassentür und starrte in den Garten hinaus. Man konnte seinen Gesichtsausdruck nicht wirklich interpretieren, aber Tyler musste auch so erkennen, dass man mit der dazu gerechneten Haltung auf – verbissen – kommen würde.

„Ich meine ja nur, dass nicht sehr viel los war.“

Ein schwacher Versuch seine Worte wieder gut zu machen. Das wusste er.

„Der Ärger hat nicht mit den Frauen zu tun. Zumindest nicht direkt.“, durchbrach Ryon endlich die äußerst angespannte Atmosphäre, ohne jedoch einen seiner Freunde anzublicken.

„Daher will ich, dass ihr alles tut, was ihr könnt, um sie zu beschützen. Um den Rest werde ich mich kümmern.“

„Aha. Und vor was sollen wir sie beschützen? Etwa vor Langeweile?“, verlangte der Doc zu wissen.

„Also, wenn du den Clown machst, Tennessey, dann bin ich für die Bewirtung zuständig.“

Ein Zischen unterbrach das Gespräch für einen Moment, als Tyler das geschnitten Gemüse in die Pfanne mit dem bereits erhitztem Öl warf und sich kurz darauf ein köstlicher Geruch ausbreitete.

„Das ist nicht witzig, Tyler.“, brummte der Arzt. „Ich hasse Clowns.“

„Schade, mit dem Waschbärbauch hättest du einen echt spitzenmäßigen Clown abgegeben. Da müsste man das Kostüm gar nicht mehr auspolstern.“

„Wenigstens sehe ich nicht aus, wie Pipi Langstrumpf. Außerdem, wer kocht hier ständig für eine ganze Kavallerie?“

„Ich sehe nicht aus wie Pipi Langstrumpf!“

Tylers Haare wurden mit einem Schlag schwarz und die Sommersprossen verschwanden auf der Stelle aus seinem Gesicht.

Tennessey grinste.

„Stimmt, du hast heute gar nicht deine bunten Strapse an.“

„Jemand ist hinter dem Amulett her.“, verkündete Ryon schließlich, ohne auf das Geplänkel einzugehen.

Mit einem Schlag verstummte das Gespräch und nur noch das Brutzeln in der Pfanne war zu hören, bis es von einem Glasdeckel gedämpft wurde, den Tyler darauf setzte, nachdem er sich aus seiner kurzen Starre gelöst hatte.

„Wer?“, wollte er wissen.

„Warum?“, warf Tennessey ein.

Einen Moment lang schwieg Ryon noch, doch dann drehte er sich zu seinen Freunden herum, um ihnen dabei direkt in die Augen sehen zu können.

„Ich weiß es nicht. Ich habe eine Vermutung, wer dahinter stecken könnte, aber keine Ahnung, weshalb das Amulett so wichtig für sie sein sollte.“

Tyler und Tennessey warfen sich einen vielsagenden Blick zu. „Denkst du, was ich denke?“

Der Arzt nickte. „Du meinst doch diesen Orden, Ryon, oder? Der gegen den Mar~“

Er verstummte mitten im Satz, als Ryon sich erneut und ruckartig von ihnen abwandte. Der Hüne zitterte.

„Tut mir ehrlich leid.“

Sein alter Freund wirkte ehrlich geknickt. Weshalb Ryon sich wieder etwas zu entspannen versuchte, um Tennessey nicht noch mehr in die Eier zu treten, aber es gelang ihm nur sehr schwer. Zumindest schaffte er es, seine Hände wieder zu lockern.

„Schon gut.“, murmelte er leise. Irgendwann würden sie sowieso nicht mehr an dem Thema vorbei reden können. Aber solange es möglich war, wollte er es vermeiden. Seine Freunde wussten das.
 

Sobald Ai mit einer fröhlichen Begrüßung in die Küche trat, war klar, dass sie erwartet wurden.

Nichts Anderes war zu erwarten gewesen, auch wenn Paige auf die Aufmerksamkeit für eine Weile hätte verzichten können. Sie grüßte die Anwesenden ebenfalls, auch wenn sie beim Anblick des Mannes hinter dem Herd kurz stockte.

Er hatte die Züge des Butlers, schien aber alle Attribute eines Rothaarigen verloren zu haben.

Ein Wechselbalg.

Paige schmunzelte in sich hinein. Hätte sie sich eigentlich denken können, dass Ryon sich nicht mit ganz normalen Menschen umgab. Selbst wenn sie für ihn arbeiteten. Jetzt interessierte sie sich umso mehr dafür, was genau in dem Mann steckte, von dem sie nur vermuten konnte, dass er irgendeine Art Wandler war.

Dass ihr 'irgendwas Großes' nicht unbedingt weiterhalf, war klar. Aber auf alle Fälle ein Raubtier, wenn man die Krallen bedachte.

Schon bemerkenswert, dass er sich selbst bei den Kämpfen mit ihr nicht verwandelt hatte. Dabei fühlten sich die Gestaltwandler aus gutem Grund in ihrer tierischen Form stärker und geschützter. Am Ende war er vielleicht doch ein zu groß geratenes Erdmännchen.
 

Der ansonsten riesige Tisch, wirkte unter der Last der vielen Speisen schon ganz und gar nicht mehr so groß. Glich dafür aber eine Art himmlischem Buffet.

Es war so gut wie alles vorhanden, was man sich bei einem Frühstück wünschen konnte. Müsli, Cornflakes, Kakao, Tee, Kaffee, Obst, frische und geschnittene Gemüsesnacks, Omelette, Pfannkuchen, Toast, gekochte Eier, Joghurt mit Früchten, usw.

Auf alle Fälle würde hier niemand zu kurz kommen. Was immer wieder ein gutes Licht auf Tyler warf, der erstaunlich schnell und auch gekonnt ein fünf Sterne Menü auf den Tisch zaubern konnte. Immerhin waren die Speisen nicht einfach nur auf einem Teller oder in einer Schüssel, sondern auch noch mit Kräutern garniert, künstlerisch geschnitten oder aber auch farblich perfekt aufeinander abgestimmt. Dabei meinte Tennessey schon seit Jahren, dass er auch einfach nur mit etwas Dahingepanschten zufrieden gewesen wäre, solange es schmeckte.

Ryon konnte dem nur zustimmen, aber da es seinem Freund offensichtlich so viel Freude bereitete, ließ er ihm seine künstlerischen Freiheiten. Auch den Rest des Hauses versuchte der Diener ständig irgendwie aufzupeppen, ohne die Grundausstattung zu verändern. Offenbar war ihm ab und zu wirklich ziemlich langweilig.

Was sich ab jetzt wohl garantiert ändern würde. Wenn Langeweile Ryons einzige Sorge wäre, könnte er froh sein. Doch das war es nun einmal nicht.

Als die beiden Frauen die Küche betraten, hatte das männliche Dreiergespann bereits zu einem unverfänglicheren Thema übergewechselt.

Ryon war der Ansicht gewesen, später noch einmal in Ruhe mit seinen Freunden zu sprechen. Allerdings hatte er sie auch angewiesen, sich bei Tischgesprächen auf ganz normale Dinge zu konzentrieren. Keiner von ihnen wollte Ai in ihrem Zustand stressen und ihr unnötigen Sorgen bereiten. Vielleicht wusste sie schon von den Problemen, vielleicht aber auch nicht. Es sollte auf alle Fälle vorerst unerwähnt bleiben.

Außerdem wollte Ryon nicht, dass einem seiner Freunde wieder etwas heraus rutschte, was sie später bereuen würden. Er hatte mit der Diebin zwar nun einen Deal, aber das hieß noch lange nicht, dass er sie an seiner Vergangenheit teilhaben lassen wollte. Es würde zwar über Kurz oder Lang nicht zu ändern sein, dennoch würde er sich dabei nur auf das Wesentliche beschränken. Alles andere ging sie absolut nichts an.

Nach dem Frühstück sollten sie auf alle Fälle die weitere Vorgehensweise besprechen. Über das Amulett ließ sich vielleicht etwas in seiner kleinen Bibliothek finden, obwohl er es ehrlich gesagt bezweifelte. Alle Bücher die in jene Richtung führten, lagen gut verstaut in Kartons in der Galerie … nein, dem Dachboden. Mehr war das inzwischen nicht mehr.

Wie nicht anders zu erwarten war, sorgten Tyler und Tennessey ohne Probleme dafür, ein anständiges Gespräch am Laufen zu halten, um kein unangenehmes Schweigen am Tisch aufkommen zu lassen.

Da sie jetzt alle wohl einige Zeit zusammen leben mussten, war es sicher keine schlechte Idee, sich halbwegs mit jedem gut zu stellen. Trotzdem hing Ryon lieber seinen eigenen Gedanken nach, während er sich einen Pfannkuchen nach dem anderen einverleibte. Danach noch Omelettes. Etwas Joghurt mit Früchten. Würstchen mit Speck und anschließend noch eine kleine Schüssel mit Cornflakes. Dazu wieder schwarzen Kaffee.

Ihm entging dabei keineswegs, dass Tennessey immer wieder einen prüfenden Blick auf Ryons Teller warf. Aber offenbar gab es an seinem Appetit nichts auszusetzen, weshalb sich der Arzt schließlich wieder anderen Dingen widmete.
 

Paige konnte ihr Misstrauen nicht so einfach vollkommen ablegen. Bevor sie sich irgendetwas von den Speisen auf dem Tisch nahm, beäugte sie sie kritisch und wartete teilweise sogar darauf, dass einer der Männer zuerst davon aß. Allerdings hielt dieser winzige Widerstand nicht lange an, als sie merkte, dass sich niemand an der riesigen Kanne Kakao bediente.

Ihre Blicke schweiften immer wieder sehnsüchtig hinüber, bis sie sich wirklich nicht mehr beherrschen konnte.

Die filigrane weiße Porzellantasse, erschien Paige viel zu klein, um ausreichend Kakao hinein zu schütten. Da stellte sie die Kanne lieber nicht zu weit von sich weg, damit sie leicht an Nachschub heran kam.

Beide Hände um die Tasse geschlossen, führte sie das dampfende Getränk erst zur Nase, um daran zu schnuppern, bevor sie mit verträumten Augen davon nippte. Wie schön es doch war, keinen nagenden Hunger zu leiden. Dann konnte man sich viel mehr auf den köstlichen Geschmack konzentrieren, die bei Tylers Speisen in ihrem Mund zu explodieren schienen.

Um sämtliche Köstlichkeiten, unter denen sich der Tisch bog, probieren zu können und nicht vorzeitig satt zu werden, zelebrierte Paige zuerst das Essen jener Dinge, die sie besonders mochte und schon lange nicht mehr bekommen hatte. Wer konnte sich schon Speck mit Rührei zum Frühstück leisten?

Vergnügt knabberte sie vor sich hin, nahm sich einen Pfannkuchen und Obst und spülte mit einer großen Menge Kakao nach. In ihrem Inneren schien die Sonne aufzugehen, so wohl fühlte sie sich und merkte gar nicht, wie sie über ihre Tasse hinweg einmal in die Runde strahlte, bevor sie weiter aß.

Nur Ai lächelte wissend zurück und widmete sich mit gleicher Bedacht und Wonne wie Paige ihrem Frühstück. Die beiden Frauen überließen meistens den Männern die Konversation. Sie mochte in 'World Underneath' aufgewachsen sein, aber das bedeutete nicht, dass Paige die Grundregeln der Höflichkeit nicht kannte und mit vollem Mund sprach.

Eine Frage schien der Asiatin allerdings auf der Seele zu brennen, denn sie sprach sie völlig zusammenhangslos aus, als gerade Ruhe in der Runde herrschte.

„Leider kenne ich mich in der Welt des Nicht-Menschlichen nicht besonders gut aus.“

Paige konnte immer wieder kaum fassen, dass Ai mit ein wenig Röte auf den Wangen noch schöner aussah. Die Männer würden ihr jede Frage beantworten, selbst wenn sie wissen wollte, ob sie gerne Frauenunterwäsche trugen.

Es herrschte gespanntes Schweigen, in dem Paige sogar ihr Kauen auf einem Stück Apfel zu laut vorkam.

„Könnte ich erfahren, warum Sie nicht mehr rothaarig sind, Tyler? Es ist mir nur aufgefallen und so jemanden wie Sie, habe ich noch nie kennen gelernt.“

Erst jetzt fiel dem Butler wohl auf, dass er sich seit dem letzten Treffen verändert hatte.

So weit Paige wusste, brauchte es dazu keinen anderen Anlass, als eigene Willkür. Aber das war immerhin wieder ein unverfängliches Thema, über das sie reden konnten. Ihr war keinesfalls entgangen, dass die Anwesenden es genau darauf angelegt hatten. Und dass Ai der primäre Grund dafür war, hielt sie doch für sehr wahrscheinlich.

Also trank sie weiterhin zufrieden ihren Kakao, den ihr anscheinend niemand streitig machen wollte und hörte mehr zu, als dass sie sich ins Gespräch einschaltete. Zumindest so lange, bis das Frühstück langsam zum Erliegen kam und der Zeitpunkt der wirklich ernsten Themen sich kaum noch aufschieben ließ.

Paige stellte die Tasse ab und sah Ryon erwartungsvoll an. Immerhin war er Herr dieses Hauses und musste bestimmen, wo und wann sie sich weiter unterhielten. Allerdings sollte er es nicht mehr sehr lange aufschieben, wenn man bedachte, was er vorhin so richtig bemerkt hatte. Die Typen würden nicht aufgeben und je länger sie zögerten, desto größer wurde die Gefahr, dass die Auftraggeber sie auch hier fanden.
 

Als Ai Tyler wegen seiner neuen Haarfarbe fragte, kamen Ryons Gedanken auf der Stelle zum Erliegen und er hörte aufmerksam zu. Eigentlich hätte er angenommen, dass die Schwangere ebenfalls nicht menschlich war, so wie der Rest der Personen, die hier am Tisch saßen.

Da sie aber andeutete, es eben nicht zu sein, überraschte es ihn umso mehr, dass sie in der World Underneath gewohnt hatte. Für Menschen musste das ganz schön hart sein, auch ohne ständig daran erinnert zu werden, dass man in dieser Stadt als Mensch eindeutig nicht dazu gehörte.

Mit einem gewinnenden Lächeln klärte Tyler die werdende Mutter über seine Natur auf und dass er sich in jede beliebige Person verwandeln konnte, die er wollte. Wenn er jemanden imitieren sollte, wäre es allerdings leichter ein Bild von der gewünschten Person zu haben, da sein Gedächtnis alleine dazu nicht ausreichte. Wenn Ai also einmal mit Brad Pitt oder George Clooney frühstücken wollte, müsste sie Tyler ein Foto von besagten Personen mitbringen.

Dass Tyler so einen Vorschlag überhaupt machte, verwunderte Ryon noch mehr. Der Wandler hasste es schon seit seiner Jungend, ständig von Leuten aufgefordert zu werden, sich in jemanden anderen zu verwandeln. Für seine wahre Erscheinung schien sich dahingehend niemand zu interessieren. Was sicher auch nicht leicht für Tyler sein musste.

Soweit sich Ryon erinnern konnte, hatte er seinen Diener nur einmal mit seinem wirklichen Ich gesehen. Aber das war so lange her, dass er keine Details mehr nennen konnte. Damals war er immerhin erst Vier oder Fünf Jahre alt gewesen.

Wie dem auch sei, Tyler wirkte auf jeden Fall so, als wäre es ihm ein großes Vergnügen Ai zu Diensten zu sein. Für Unterhaltung wäre also gesorgt, sollte sie sich einmal langweilen. Sie war in guten Händen, während er sich mit der Diebin an die Recherchen machen konnte.

Wie auf Stichwort stellte Flame ihre Tasse ab und schenkte ihm über den Tisch hinweg einen für ihn vielsagenden Blick. Es wurde Zeit.

Ryon stellte ebenfalls seine Tasse mit dem schwarzen Gebräu ab, ohne ausgetrunken zu haben und blickte sich dann in der Runde um. Als Tyler einmal kurz seinen Blick von Ai los reißen konnte, ergriff er die Gelegenheit beim Schopf.

„Ai, würde es dir etwas ausmachen, wenn dir Tyler Gesellschaft leistet, sollte dir danach sein? Ich müsste noch etwas mit…“

Er blickte Flame an und wurde sich bewusst, dass sie ihm noch immer nicht ihren Namen verraten hatte. Eigentlich etwas ziemlich Unhöfliches, aber er nahm es ihr nicht einmal übel.

„…deiner Freundin bereden. Es könnte etwas länger dauern.“, vollendete er seinen Satz.

„Falls etwas sein sollte, wir sind in der Bibliothek. Tennessey kennt den Weg.“ Und würde definitiv beim Abwasch helfen müssen. Auch wenn der Arzt bereits jetzt so aussah, als wolle er sich am liebsten davor drücken. Aber Ryon wäre es lieber, wenn beide Männer in Ais Nähe blieben und auf sie aufpassten. Nur für alle Fälle.
 

Natürlich hatte Ai nicht das Geringste dagegen, dass ihr Tyler und Tennessey Gesellschaft leisteten.

Nachdem sie bei Paige meistens in der Wohnung gesessen und mit nicht allzu vielen Leuten Kontakt gehabt hatte, war das eine sehr willkommene Abwechslung. Nicht, dass Paige sie eingesperrt hätte, aber wie Ai schon sagte, war sie mit dem Leben und den Bewohnern von 'World Underneath' nicht besonders vertraut gewesen. Daher war sie eigentlich nur mit Paige zusammen nach draußen gegangen oder vielleicht einmal bis zum Gemüsemarkt, der von ihrer ehemaligen Wohnung nur einen Häuserblock entfernt lag.

Wie schäbig Paige ihr eigenes Leben, das sie für Ai völlig umgekrempelt hatte, gerade vorkam, war kaum auszudrücken. Deshalb ließ sie nur kurz den Kopf ein wenig hängen und nickte der Asiatin dann beschwichtigend zu. Sie hoffte wirklich, sich auf Ryon verlassen zu können. Hier waren sie für's Erste in Sicherheit.

Ihr war sein Stocken aufgefallen, als er versucht hatte, sich mit Paige zu entschuldigen. Noch wusste Ryon ihren Namen nicht und bei der gemütlichen Runde eben am Tisch, war ihr das durchaus unangenehm gewesen. Immerhin war wohl keiner so dumm, nicht zu bemerken, dass er dieses Detail von ihr nicht wusste.

Warum sie ihn diesbezüglich so schmoren ließ, wusste sie selbst nicht genau.

Unter Umständen lag es daran, dass sie sich immer noch ein bisschen dafür rächen wollte, dass er ihr Unvermögen unterstellt hatte, was Ai anging.

Wenn er so wenig von ihr hielt, wie sie vermutete, dann brauchte er Paiges Namen nicht zu erfahren. Es war immer besser, sich nicht ganz zu offenbaren. Sonst konnten selbst Personen, denen man vertraute einem ganz schön böse mitspielen.

Als unbewusste Reaktion auf ihre eigenen Gedanken zog Paige ihre Hände in die Ärmel ihres Oberteils zurück und entzog sie so jeglichen Blicken.
 

Es war ein ganzes Stück durch das Haus, bis sie schließlich schweigend die Bibliothek erreichten. Schon beim Eintreten weiteten sich Paiges Augen, was sich nur noch steigerte, als sie das Ausmaß der Sammlung begriff.

Leise und ehrfürchtig ging sie an einem der Regale entlang, die den Erker förmigen Raum säumten, berührte einen alten Buchrücken mit den Fingerspitzen und las ein paar Titel, die in Gold aufgedruckt und teilweise schon am Abblättern waren. Bücher hatten sie schon immer fasziniert, aber weder als Kind, noch als Erwachsene hatte sie in ihrem Leben Platz für dieses Luxusgut gehabt. Ganz im Gegensatz zu Ryon, wie es aussah.

Kein Wunder, dass er sich oftmals so gewählt ausdrückte.

Bei einer Bank unter einem großen Fenster angekommen, dessen obere Hälfte unterteilt und mit buntem Glas geschmückt war, blieb sie stehen und drehte sich um.

„Ich nehme an, dass du als Erstes erfahren möchtest, was ich weiß.“

Sie wartete gar nicht ab, dass er antworten würde, sondern ließ sich auf die Bank sinken und verschränkte ihre Hände auf den Knien.

„Viel ist es wirklich nicht. Jemand auf dem Umschlagmarkt hat mich angesprochen und mir einen Zettel mit einer Telefonnummer in die Hand gedrückt. Er sagte, dass irgendeine vermummte Person ihm das für mich gegeben habe. Es handle sich um einen Auftrag, der viel Geld einbringen würde.“

Der Händler hatte wirklich nur von einer 'Person' gesprochen und Paiges Stirn kräuselte sich, als sie an die Stimme am Telefon dachte.

„Ich habe mehrmals diese Nummer angerufen. Zuerst, um Informationen über den Auftrag zu bekommen. Wo ich dich aufspüren kann. Irgendwann haben sie mir ein...“

Sie sah ihn prüfend an und dachte an das Foto, das nun wohl immer noch in dem zerfledderten Buch irgendwo in ihrer Wohnung lag, oder inzwischen in den Flammen umgekommen war.

„Ein älteres Bild von dir unter der Tür durchgeschoben. Ai war allein daheim und hat niemanden gesehen. Aber der Stimme am Telefon nach, würde ich auf eine Frau tippen. Vielleicht mehrere verschiedene. Ich könnte im Moment keine Auffälligkeiten benennen, außer...“

Die Furchen auf ihrer Stirn wurden noch tiefer, während sie die Augen schloss, um sich jedes noch so winzige Detail ins Gedächtnis zu rufen.

„Ich glaube nicht, dass es uns weiter hilft, wenn ich sie als 'verträumt' beschreibe, oder?“

Paige zuckte mit den Schultern und ihr Blick war entschuldigend. Obwohl sie ihm von Anfang an gesagt hatte, dass sie nicht viel wusste. Allerdings hatte sie ja immer noch keine Ahnung, welche Rolle er bei der ganzen Sache hatte. Vielleicht sagte ihm diese mehr als dürftige Beschreibung sogar etwas.
 

Ryon blieb bei der verschlossenen Tür stehen und lehnte mit verschränkten Armen daran, während er Flame dabei zusah, wie sie sich in seiner Bibliothek umschaute.

Es war nicht zu übersehen, dass sie etwas für Bücher übrig hatte, vielleicht gefiel ihr aber auch nur die Ausstrahlung, die dieser Raum in sich barg.

Es war auf alle Fälle ein Raum der Ruhe und zum Nachdenken, zudem beherbergte er Wissen von mehreren Generationen.

Seit seine Eltern gestorben waren, hatte er ihre Büchersammlung übernommen und zum Teil selbst erweitert. Aber so gerne er auch Bücher wälzte, er hatte bisher nie wirklich die Zeit gehabt, sich gründlicher um eine Vervollständigung der Bibliothek zu kümmern. Es gab noch viele Kategorien und wertvolle Werke die fehlten.

Als die Diebin sich gesetzt hatte und zu erzählen begann, richtete sich sein Blick auf sie, während er aufmerksam zuhörte. Sie erwähnte verschiedene Frauenstimmen, eine davon hatte ihrer Meinung nach verträumt geklungen. Ein Foto hatten sie von ihm auch noch gehabt?

Diese Tatsache war nicht gerade beruhigend, vor allem, da es ein älteres Foto gewesen war und somit nicht erst vor Kurzem gemacht wurde.

Um wie viel älter?

Selbst nachdem Flame mit ihrer dürftigen Beschreibung fertig war, schwieg er weiter tief in Gedanken versunken. Dabei starrte er den glänzenden Holzboden an, während seine Augen in weite Ferne gerichtet waren.

Frauen … das würde seinen Verdacht bestätigen. Wären die Auftraggeber eindeutig männlich gewesen, hätte er seine Vermutung verwerfen können. Die an die er dachte, würden sich jedoch keinem Mann beugen. Immerhin waren sie sozusagen Hexen.

Freie Frauen mit freiem Willen, die man(n) nicht bändigen konnte und sollte, sofern man an seinem Leben hing. Aber ein schlagkräftiger Beweis war das natürlich auch nicht.

Dennoch, wenn Ryon sich von der Tatsache lossagte, dass das alles nur Zufälle waren und akzeptierte, dass dem eben nicht so war, dann wüsste er zumindest, auf was er seine Aufmerksamkeit richten sollte.

Der Gedanke drehte ihm förmlich den Magen um.

„Anhand der wenigen Informationen bin ich mir natürlich absolut nicht sicher, aber alles deutet daraufhin, dass dein ehemaliger Auftraggeber eine Hexe ist. Auch bekannt unter den Namen: Zauberin oder Magierin.

Garantiert nimmt sie sogar eine höhere Rolle dabei ein. Eine Priesterin oder das Oberhaupt eines ganzen Ordens von Hexen. Normalerweise arbeiten diese Frauen eigentlich nie alleine.“

Das wäre auch ziemlich unpraktisch, wenn es um verschiedene Zeremonien ging, bei denen mehrere andere Gleichgesinnte sich zusammen schlossen.

Bei den guten ‚Hexen‘ waren jene Rituale machtvoller, an denen mehrere Personen teilnahmen. Bei Festen konnte man das sehr deutlich spüren, selbst wenn man keine Hexe war.

„Was allerdings immer noch keinen Aufschluss darüber gibt, weshalb diese Frau oder der ganze Orden hinter dem Amulett her ist. Zumindest kann ich dir aber schon einmal sagen, wenn das wirklich deine Auftraggeber waren, dann werden sie uns hier niemals finden.“

Weiße Magie war genauso machtvoll wie schwarze Magie. Das Grundstück war also mehr als nur sicher, sollte jemand mit magischen Mitteln versuchen, sie aufzuspüren. Es würde garantiert fehlschlagen. Dafür war gesorgt worden.

„Sobald wir das Grundstück jedoch verlassen, sind wir wieder auf uns alleine gestellt. Wenn wir hier in den Büchern also nichts über das Amulett finden, werden wir rausgehen müssen, um weitere Nachforschungen anzustellen. Ich weiß nicht, ob du bei dem Vorschlag dabei bist, aber um zu wissen, weshalb diese Frauen hinter dem Amulett her sind, müssen wir über das Geheimnis des Schmuckstücks selbst etwas herausfinden.“
 

Normalerweise war Paige wirklich niemand, der stumm vor sich hin grübelte, aber diesmal verfiel sie lange Zeit in Schweigen, während sie über Ryons Worte nachdachte.

Er wusste offensichtlich sehr genau, wer da hinter seinem Schmuckstück her sein könnte. Paige selbst wäre nie auf die Idee gekommen, dass es sich dabei um eine Zauberin handeln könnte. Dafür waren die Hinweise, die ihr zur Verfügung standen, einfach zu dürftig gewesen. Aber wenn er wirklich so viel mehr wusste und sie ihm nur eine weitere Bestätigung für seine Vermutung gegeben hatte... Warum machte er sich dann nicht einfach daran und brachte diese Hexe zur Strecke?

Abschätzend sah sie zu ihm auf und musterte ihn ausgiebig. Bis jetzt hatte sie immer nur daran gedacht, Hinweise an ihm zu suchen, die ihr sagen konnte, ob und wie gefährlich er ihr werden konnte.

Jetzt war die Frage, was er Paige alles verheimlichte und warum er das tun sollte. Ihrer Meinung nach hatte sie ihren Teil der Abmachung bereits erfüllt. Von hier aus konnten sie zwar zusammen arbeiten, aber Paige würde ihrem Gegenüber nur durch ihre Fähigkeiten nützen können. Hinweise hatte sie keine. Sie hatte ihre Auftraggeber ja nie gesehen und an der Stimme würde sie sie auch eher schwer wieder erkennen können.

Ihre Augen verengten sich und Misstrauen trat wieder in sie, während sie Ryons Blick suchte.

„Ich will hören, was du über diese Hexe weißt.“

Völlig ruhig, um nicht wieder einen Streit vom Zaun zu brechen, sprach sie weiter, während sie aber ihren bohrenden Blick nicht von ihm nahm.

„Und versuch' erst gar nicht mir weiß zu machen, dass da nichts ist. Du hast mehr als nur eine Idee, wer es sein könnte. Was ist so schwierig daran sie zu finden und kalt zu stellen?“

Sie sah ein, dass es geschickter war, zuerst mehr über das Objekt der Begierde heraus zu finden. Damit hatten sie so etwas wie ein Druckmittel gegen die vermeintliche Obermagierin in der Hand. Aber ein bisschen altmodische Beinarbeit und Befragung hatte noch nie etwas geschadet.

Paige hätte mit dem Händler auf dem Markt angefangen, um zumindest ein paar Details aus ihm heraus zu quetschen. Außerdem war Paige auf dem Umschlagplatz bekannt. Ihr würden auch andere etwas erzählen, wenn sie mehr über diese vermummte Gestalt erfahren wollte. Dazu kam auch, dass vor oder nach ihr selbst bestimmt auch andere bekannte Diebe mit dem Auftrag betraut worden waren. Bei denen konnte man ebenfalls nachfragen. … Wenn sie denn noch am Leben waren, nachdem sie versagt hatten.
 

Geduldig wartete er darauf, dass sie etwas auf seine Worte erwiderte, während er selbst ebenfalls weiter grübelte. Als sie ihm schließlich fest in die Augen blickte, schien selbst die räumliche Distanz zwischen ihnen zu schwinden und sich die Stimmung wieder deutlich aufzuheizen, wo sie doch für eine Weile ziemlich abgekühlt gewesen war.

Woran sie wohl beide schuld waren. Immerhin, Flame wollte nicht, dass er ihr etwas weiß machte, obwohl er das bisher gar nicht versucht hatte. Wenn er ihr etwas nicht verraten wollte, dann erwähnte er es auch erst gar nicht. Punkt. Aber darüber würde er sie garantiert nicht aufklären.

„Falls dir die Leichen in deiner Wohnung entgangen sind, frische ich dein Gedächtnis gerne noch einmal auf: Das waren auf dich angesetzte Killer, aber im großen und ganzen wären sie in einem Orden wie den dieser Hexe lediglich Laufburschen. Die Kerle sind jederzeit austauschbar, auch wenn sie alles andere als ungefährlich sind. Du kannst gerne selbst hochrechnen, wie schwierig es sein dürfte, die Führungsposition dieses Ordens auszuschalten. Außerdem weißt du selbst, was sie mit Leuten machen, die zu viel wissen.“

Ryon löste sich von der Tür und ging zu einem der großen Fensterbögen hinüber, ehe er fortfuhr.

„Ich weiß nicht besonders viel über diese Hexe. Ihren richtigen Namen kennen nur wenige und ich gehöre sicherlich nicht dazu. Also selbst wenn ich schon früher gewollt hätte, könnte ich sie nicht umbringen. Ich wüsste nicht, wo ich sie suchen sollte und solange ich mir nicht absolut sicher bin, dass dieses Weib hinter dem Amulett her ist, werde ich auch nicht jagt auf sie machen. Es könnte sich als fataler Irrtum heraus stellen, weshalb ich mich lieber auf die Suche nach mehr Wissen über das Amulett mache.

So oder so, wird man versuchen, es mir ein weiteres Mal zu entwenden. Nur dieses Mal bin ich darauf vorbereitet und weiß worauf ich achten muss.“

Die Letzten, die versucht hatten, es ihm zu stehlen, waren ohne zu zögern von ihm getötet worden, ohne dass er sie lange hatte plaudern lassen. Diese Frau auf seiner Sitzbank war bisher die einzige Ausnahme.

„Hör zu.“

Er sah Flame wieder an.

„Dieser Orden gehört zu denen, die du als die Bösen bezeichnen würdest. Sie bedienen sich nur zu gerne schwarzer Magie und scheuen auch nicht davor zurück, sich nichtmenschliche Geschöpfe als Haustiere zu halten und für ihre Zwecke zu benutzen. Diese Leute kennen keine Gnade.“

Ryons Tonfall blieb ausdruckslos wie immer, aber er war angespannt. Erst recht, als er seinen Blick wieder abwandte und weiter sprach.

„Es hat sehr lange einen Orden der weißen Magie gegeben, der versucht hat, diese Brut der Finsternis aufzuhalten. Aber inzwischen ist davon niemand mehr übrig geblieben. Seit die Hohepriesterin tot ist, haben die Mitglieder ihre Zuversicht verloren und sich in alle Winde zerstreut.“

Zumindest hatte man ihm das erzählt. Er war nie wirklich bei diesen Machtkämpfen dabei gewesen. Um ehrlich zu sein, hatte ihn das Ganze bisher auch nur wenig interessiert. Es gab immer irgendwelche Leute, die Angst und Schrecken verbreiteten, das war absolut nichts Neues. In der Welt des Übernatürlichen erst recht nicht.
 

Wo er Recht hatte, da hatte er Recht.

Die Leichen waren ihr natürlich nicht entgangen und würden ihr noch eine ganze Weile im Gedächtnis bleiben. Wenn auch nicht so lange wie die auf der Straße, die sie hatte mit eigenen Händen erledigen müssen.

Der Mann mit dem eiskalten Lachen fiel ihr wieder ein und Paige wurde kurz von einem Frösteln durchgeschüttelt.

Nein, es würde nicht so einfach werden, an den Kopf dieses Ordens heran zu kommen. Wenn man es recht bedachte, war es sogar besser, wenn irgendjemand Anderes dahinter stecken sollte. Schon allein die Vorstellung, dass irgendjemand Geschöpfe wie sie selbst als Tiere hielt, machte sie so wütend, dass sich das erste Mal an diesem Tag Schuppen über ihren rechten Handrücken schoben.

Schnell legte sie ihre Linke darüber, die noch völlig menschlich war und deckte ihre nach außen gezeigte Reaktion vor Ryon ab. Immerhin war es nicht seine Schuld und so wie sie das sah, wollte er mit ihrer feurigen Seite bestimmt keinen Kontakt mehr haben.

Inzwischen tat es ihr sogar fast leid, dass sie ihn so stark verbrannt hatte. Aber dass sie einmal auf der gleichen Seite stehen würden, hatte sie zu dem Zeitpunkt in ihrer verwüsteten Wohnung ja nicht wissen können.

Um sich selbst und auch den Mann, der sie nicht aus den Augen ließ, ein wenig abzulenken, sah sie sich wieder im Raum um.

„Denkst du denn, du hast hier irgendwas, wo Informationen über das Amulett drin stehen? Ich nehme doch an, du hast das Ding nicht erst seit letzter Woche...“

Er hatte gesagt, dass es schon mehrere Versuche gegeben hatte, es ihm abzunehmen. Wenn Paige selbst im Besitz so eines Schmuckstückes wäre und sich zudem so viele Andere dafür interessierten, dann hätte sie schon längst versucht, mehr darüber zu erfahren. Oder änderte sich das, wenn man so viel Geld hatte, dass man sich alles kaufen konnte, was man wollte?

Fiel dann so ein Amulett und ein paar kleine Diebe, die es einem abnehmen wollten, nicht mehr ins Gewicht?

„Wo willst du anfangen?“

Hoffentlich verstand er, dass das ihre Art war Frieden zu schließen. Wenn sie sich hier weiter irgendetwas an den Kopf warfen, dann würden sie gar nicht weiterkommen. Außerdem stand zu befürchten, dass sie sowieso noch genug streiten würden.
 

„Ich weiß es nicht. Vielleicht findet sich etwas hier in der Bibliothek. Ein paar Bücher könnten irgendetwas Nützliches enthalten, selbst wenn es nur Informationen über diese Hexen sind. Das Internet können wir ohnehin ausschließen. Dort habe ich vor ein paar Tagen schon gesucht und nichts gefunden. Es hätte mich auch gewundert, wenn es anders wäre.“

Wer würde es schon wagen, so gefährliche Daten für alle Welt zugänglich zu machen?

Ryon vermied es noch, den Dachboden zu nennen, wenn es um mögliche Informatsionsquellen ging. Er würde diese Möglichkeit erst nutzen, wenn sie hier nichts fanden. Bis dahin blieb die Hoffnung, bereits in den anwesenden Büchern fündig zu werden.

Was das Amulett anging, hatte er bisher nicht das Bedürfnis verspürt, etwas darüber heraus zu finden. Für ihn war es noch nicht einmal so wertvoll, weil es aus purem Gold und Juwelen bestand. Er hatte andere Gründe.

„Wenn dir jemand Ohrringe schenkt, würdest du auch eine gründliche Recherche darüber anstellen oder dich einfach nur darüber freuen?“, fragte er rein rhetorisch, während er zwischen den Reihen der Bücher verschwand, um nicht länger Zeit zu vergeuden, auch wenn ihm trotz der erschreckenden Erkenntnis über Flames Auftraggeber, schon etwas wohler war. Zumindest lief ihnen die Zeit wohl doch nicht so einfach davon. Sie waren hier vorerst sicher.

9. Kapitel

Nach dem er auf dem Couchtisch auch noch den letzten Stapel alter Bücher abgestellt hatte, den er noch hatte auftreiben können, ließ er sich auf das Sofa gegenüber von Flames Sitzplatz am Fenster fallen.

„Das wäre soweit alles, was ich finden konnte.“

Bücher über Okkultismus, Geheimbünde, seltene Artefakte, Mythen und Legenden, Reiseberichte von Schatzsuchern, Archäologie und mehr stapelten sich auf den kleinen Tisch und machten mit ihrer bloßen Anzahl klar, dass sie hier mindestens bis zum Abend sitzen würden, um den Inhalt jeder Seite zu überfliegen. Wenn nicht sogar noch länger. Sie hatten also ein ganzes Stück Arbeit vor sich.
 

Inzwischen saß Paige mit angewinkelten Beinen und einem großen Kissen im Rücken auf der Bank und blätterte sehr viel langsamer als zu Beginn in einem alten Folianten.

Das Buch an sich musste schon ein Vermögen wert sein, wenn man das Alter und den kunstvollen Druck bedachte. Selbst wenn sie gewollt hätte, wäre es Paige nicht möglich gewesen einfach über die wunderschönen, alten Illustrationen hinweg zu blättern. Manche von ihnen zeigen erschreckende Darstellungen davon, wie sich die Menschen früher die Wesen vorgestellt hatten, die im Schatten neben ihnen lebten. Werwölfe mit langen Zähnen und Krallen wie Sicheln, Meerjungfrauen, die so schön waren, dass sie Seefahrern den Verstand raubten. Das war alles gar nicht so weit von der Realität entfernt, bloß dass diese Wesen etwas Besseres zu tun hatten, als sich jeden Tag mit einem unwichtigen Menschlein auseinander zu setzen.

Vorsichtig legte sie das Buch auf ihrem Schoß ab, während sie die Beine ausstreckte und zum Fenster hinaus sah. Es war inzwischen später Nachmittag und die Sonne tauchte den Garten und den dahinter liegenden Wald in für diese Jahreszeit sehr warmes Licht.

Inzwischen war Tyler kurz aufgetaucht, hatte lautlos das Zimmer betreten und leicht amüsiert den Kopf über die beiden geschüttelt. Erst als ihr der Duft von warmem Kakao, Kaffee und Keksen in die Nase stieg, bemerkte Paige, dass jemand in dem Raum gewesen war.

„Manche sind zu ihrem Job berufen...“, meinte sie mit einem Lächeln in Ryons Richtung, bevor sie sich einen Keks und die Tasse mit heißem Kakao schnappte.

Als sie nun ihren Blick über das Grundstück vor dem Fenster schweifen ließ, nippte sie an dem restlichen Inhalt der großen Tasse und konnte nicht verhindern, dass ihre Gedanken abschweiften.

Als Kind hatte sie sich oft überlegt, wie ihre Mutter ausgesehen haben mochte. Ihr Vater hatte nicht viel von ihr erzählt. Wenn er sich überhaupt einmal Zeit für seine Tochter genommen hatte.

Sobald sie alt genug war, hatte sie auf eigenen Beinen gestanden und ihre Umgebung so gut es ging erkundet. Oftmals auch, um Freunde zu finden. Was in 'World Underneath' allerdings kein leichtes Unterfangen war. Es war eindeutig kein Ort für Kinder und so zogen die meisten Bewohner es vor, ihren Nachwuchs in der Oberwelt groß zu ziehen. Wenn sie denn die Möglichkeit dazu hatten.

Paige hatte so gut wie gar keine Spielkameraden im gleichen Alter gehabt und das war wahrscheinlich nicht der einzige Grund gewesen, warum sie sich zurück zog und sich meistens still und unauffällig selbst beschäftigte. Mal davon abgesehen, dass sie immer und jederzeit versuchte die Aufmerksamkeit ihres Vaters zu gewinnen oder ihm ein Lob für irgendetwas abzuringen, das sie ganz allein geschafft hatte. Jetzt, da sie erwachsen war, verstand sie ein bisschen besser, warum ihr Vater es einfach nicht konnte. Paige hatte ihn zu sehr an ihre Mutter erinnert. Und dabei war das Kind noch nicht einmal mit deren Schönheit oder seinen ganzen Fähigkeiten gesegnet. Wie hatte er einmal gesagt? Sie war nichts Halbes und nichts Ganzes. Und irgendwann würde sie diese Tatsache in Kombination mit ihrem Temperament das Leben kosten.

Mit einem leisen 'Klock' stellte sie die Tasse aufs Fensterbrett zurück, streckte sich einmal aus und griff dann wieder den Buchrücken, um weiter in dem Folianten zu blättern.

Der Bücherstapel auf dem Tisch war schon sehr stark geschrumpft, aber gefunden hatten sie bis jetzt noch nichts.

Einmal war Paige etwas untergekommen, das sie dazu veranlasst hatte, Ryon aus seiner eigenen Lektüre zu reißen. Das beschwingte Gefühl war aber nur allzu schnell verflogen, als sie in einem anderen Band, auf den verwiesen wurde, herausfanden, das das erwähnte Schmuckstück schon vor langer Zeit zerstört worden war. Außerdem war es aus einem anderen Material gewesen.

Verdammtes Pech, dass es sogar im selben Stil hergestellt worden war wie Ryons Anhänger.

Nur verstohlene Blicke hatte Paige immer wieder auf seinen offenen Hemdkragen geworfen, wo zumindest ab und zu der obere Teil des Amuletts zu sehen war. An ihm wirkte es regelrecht klein, obwohl es recht massiv gearbeitet schien. Gern hätte sie ihn gebeten, es einmal genau betrachten zu dürfen. Aber irgendetwas hielt sie davon ab.

Sie kannte den Mann, der ihr gegenüber saß nicht. Gerade mal einen Tag hatten sie in Gegenwart des Anderen verbracht und das auch noch schweigend und in Büchern versunken. Und dennoch war klar, dass die Frage nach dem Amulett die völlig Falsche gewesen wäre.

„Ryon?“

Sie legte das Lesebändchen zwischen die Seiten und klappte den großen Band zu, bevor sie weitersprach.

„Was hältst du davon, wenn wir eine Pause machen? Was essen vielleicht. Ich kann kaum noch geradeaussehen.“

Es war sowieso bald Zeit zum Abendessen. Das konnte ihnen beiden vielleicht auch den Frust ein wenig nehmen. Und Paige hatte, wenn sie ehrlich war, einfach keine Lust mehr, dieses spezielle Buch weiter durchzuackern.
 

Es war ermüdender, als gedacht, dafür schien die Zeit nur so zu verfliegen, obwohl sich die Bücherstapel nur langsam verkleinerten. Dass ihnen Tyler schließlich eine Kleinigkeit brachte, war wenigstens eine kurze Abwechslung.

Ryon liebte Bücher, aber heute konnte er wirklich keine geschriebenen Wörter und Abbildungen mehr sehen. Das war einfach nicht mit einer anspruchsvollen Lektüre zu vergleichen, von der man sich nicht mehr lösen konnte. Immerhin mussten sie das meiste grob überfliegen. Er selbst hatte dabei immer wieder Probleme, sich nicht von den Themen ablenken zu lassen. Immerhin waren die meisten davon ziemlich interessant und regten nur zu oft dazu an, sich eingehender damit zu befassen. Wenn sie aber damit anfingen jedes Buch durchzulesen, wären sie in ein paar Wochen noch nicht damit fertig. Weshalb er seinen Augen schließlich einen Moment der Erholung gönnte, während er mit einer Hand die Kaffeetasse hielt und an einem Keks knabberte.

Dabei konnte er nicht umhin, Flame zu beobachten. Sie hatte ebenfalls zu Lesen aufgehört und blickte gedankenverloren aus dem Fenster.

Ryon gab es zwar nur ungern zu, aber diesen Tag schweigend mit ihr zu verbringen, war doch ein ganz und gar seltsames Gefühl. Bisher hatten sie sich entweder angegiftet, gegenseitig angegriffen oder sonst irgendwie attackiert. Da war die Waffenruhe fast schon schreiend laut dagegen. Was ihm aber am meisten auffiel, war die Tatsache, sie dort an diesem Platz sitzen sehen zu können, ohne ein schlechtes Gefühl dabei zu verspüren.

Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er ebenfalls so wie jetzt da gesessen, nur mit dem Unterschied, dass er nicht gelesen, sondern den leeren Platz ihm gegenüber angestarrt hatte.

Bevor Flame seinen intensiven Blick jedoch bemerkte, stellte er seine Tasse wieder ab und machte sich mit einem lautlosen Seufzen erneut an die Arbeit. Seine Hoffnung, hier noch etwas Wichtiges zu finden, war schon längst gestorben. Er wollte es sich nur noch nicht eingestehen.
 

Flames Stimme riss ihn aus einem interessanten Bericht über Hexenverbrennungen, gerade als er darüber nachdachte, wie viele echte Hexen die Kirche in Wahrheit wirklich erwischt hatte und wie viele unschuldige Frauen wegen bloßer Anschuldigungen hatten auf dem Scheiterhaufen sterben müssen. Was für grausame Zeiten das damals doch gewesen waren. Dabei war die Gegenwart auch schon schlimm genug.

„Ja, du hast Recht.“

Ryon legte das fast schon zerlesene Buch beiseite und rieb sich mit einer Hand die Augen. So lange still zu sitzen, war er nicht gewohnt, weshalb er sich auch automatisch streckte und dehnte, um seine Muskeln wieder zu entspannen.

„Wenn ich mich nicht irre, riecht es sowieso schon nach Braten.“, meinte er gelassen, aber sein Magen knurrte bereits ziemlich und machte nur zu deutlich klar, wie groß sein Hunger ohne Mittagessen geworden war. Was den Duft nach gebratenem Fleisch anging, so irrte er sich garantiert nicht. Er konnte das Essen bis hierher riechen. Bestimmt war Tyler mit dem Kochen fast fertig.
 

Auf dem Weg zur Küche, fragte er Flame, ob sie in ihrem jetzigen Buch auf irgendeine Spur gestoßen war und erzählte dabei von seiner eigenen Niederlage. Sein Gefühl sagte ihm, dass sie hier nichts finden würden, aber sein Verstand wollte jede noch so winzige Chance durchgehen, wenn auch nur, um wirklich alle Möglichkeiten ausgeschöpft zu haben.

Tatsächlich war das Essen schon fertig und Tennessey deckte gerade den Tisch, während Tyler die Teller anrichtete.

Ai saß plaudernd daneben und machte den Eindruck, als wolle sie auch unbedingt bei irgendetwas helfen. Was die beiden Männer natürlich niemals zulassen würden, um sie nicht zu überanstrengen. Manchmal konnte man es zwar mit der Fürsorge übertreiben, aber Ai war erwachsen. Sie würde sicher den Mund aufbringen, wenn sie sich durchsetzen musste.
 

Beinahe hätte sie ihn gefragt, ob er mit Braten etwa ein ganzes Stück Fleisch meinte. Das konnte sie zwar noch rechtzeitig hinunter schlucken, aber sicher nicht verhindern, dass ihr allein bei dem Gedanken das Wasser im Munde zusammen lief. Wie er da noch so entspannt auf seinem Stuhl sitzen konnte, würde sie nicht verstehen. Paige selbst war längst aufgesprungen und auf dem Weg zur Tür.

Warum er aus dieser Entfernung schon riechen konnte, was in der Küche zubereitet wurde, ließ sie beiseite.

Wandler waren ihr diesbezüglich immer etwas unheimlich gewesen. Angeblich konnten die ja alles Mögliche riechen, wenn man ihnen nur zu nahe kam. Wieder eine seltsame Vorstellung.

Auf dem Weg durch den Flur fragte Ryon sie, ob sie mit dem Folianten irgendwelches Glück gehabt hatte. Wohl ganz im Gegensatz zu ihm, so wie es sich nach dem kurzen Bericht anhörte.

„Nein, es ist auch nicht das Richtige. Hauptsächlich Abbildungen von Fabelwesen und Unsereins.“

Sie zuckte mit den Schultern. Ein Kapitel hatte sie noch nicht durchgeblättert, aber da die Überschrift von 'Nixen und andere Unwesen in Flüssen' handelte, glaubte sie nicht, dort mehr Erfolg zu haben.

„Mich würde interessieren, wie lange es diesen Hexenzirkel schon gibt. Immerhin wurde zu fast allem ein Buch geschrieben. Da möchte man doch vermuten, dass dieses Thema nicht ausgelassen wurde.“

Aber wahrscheinlich gammelte dieses Buch in irgendeiner öffentlichen Bibliothek vor sich hin oder war längst verloren gegangen. Oder diese Hexe hatte es in ihrem Besitz, was Paiges Meinung nach nur klug gewesen wäre.

Ryon hielt ihr die Tür auf und Paige wurde von dem Duft, der sie augenblicklich umfing, fast in den siebten Himmel gehoben.

Sofort fing ihr Magen laut an zu knurren, was sie dadurch zu kaschieren versuchte, dass sie zu Ai hinüber ging und sich neben ihr an die Arbeitsfläche lehnte.

So wie es aussah, hatten die drei sich in den vergangenen Stunden gut unterhalten. Paige fand es nach der Stille sehr angenehm das gelöste Plaudern ihrer Freundin und der beiden Männer zu hören und sich dabei diesmal auch anzuschließen.

Auf die Gefahr hin, dass Tyler ihr eins mit dem Kochlöffel überziehen würde, riskierte sie einen Blick unter den Topfdeckel und anschließend mit großen Augen durch das Glas des Backofens. Wenn der Butler ein Schleifchen um sein Werk gebunden hätte, wäre es für Paige als Weihnachts- und Geburtstagsgeschenk zusammen durchgegangen.

Daher konnte sie auch kaum still auf dem Stuhl sitzen, während Tyler auftrug und alle noch gepflegt ihre Servietten auseinander falteten.

Es roch einfach zu gut, als dass sie sich hätte beherrschen können.

Nach einem prüfenden Blick in die Runde schnitt sie sich einen großen Bissen von ihrem Braten ab und steckte ihn so schnell in den Mund, dass niemand die dunkle, gespaltene Zunge darin bemerken konnte. Sie schlang sie um das Fleisch, leckte daran herum, bevor sie darauf biss, um noch mehr des Aromas auf ihre Geschmacksknospen tropfen zu lassen. Nur indem sie ihre Zehen in ihre Schuhsohlen grub, konnte sie einen seligen Seufzer unterdrücken.

„Und? Habt ihr euch ausgesprochen?“

Ai holte sie in die Gegenwart zurück, auch wenn es Paige schwer fiel, für den Moment ihre dämonische Seite ganz wieder hinunter zu kämpfen. Deshalb lächelte sie auch ein wenig zu lange und kaute auf nicht existierendem Fleisch herum, bis sie sicher war, dass ihre Zunge wieder angemessen menschlich aussah, bevor sie antwortete.

„Naja...“

Da sie nicht wusste, was sie antworten sollte, griff sie nach ihrem Wasserglas und nahm einen ordentlichen Schluck. Während sie trank, warf sie einen Blick über den Tisch in Ryons Richtung.

„Schon. Denke ich.“

Ais Gesichtsausdruck wurde bloß noch fragender und Paige verstand durchaus, dass das keine zufrieden stellende Antwort war.

„Wir konnten Einiges klären. Allerdings hat sich rausgestellt, dass die Männer, die uns überfallen haben, wohl nicht die Letzten sind, die uns was antun wollen.“

Die beiden Männer sahen perplexer drein als die Asiatin, die den Angriff immerhin live miterlebt hatte. Der blaue Fleck in ihrem Gesicht zeugte nur zu auffällig davon.

„Deshalb hat Ryon angeboten, dass wir noch etwas hier bleiben können. Wo wir sicher sind.“

Entgegen ihrer Annahme sah Ai nicht besonders erleichtert oder zufrieden aus. Ihre Freundin kannte Paige wohl zu gut, als dass sie einfach über so eine Halbwahrheit hinweg sehen konnte.
 

Seine Gabel hielt mitten auf dem Weg vom Teller zu seinem Mund inne, als Flame förmlich eine Bombe platzen ließ.

Sicherlich nicht mit Absicht, aber sie konnte auch nicht wissen, dass seine Freunde bisher noch nicht einmal etwas von dem Überfall gewusst hatten. Alles was er ihnen bisher erzählt hatte, war, dass sie alle nun in der Klemme steckten und sie auf die beiden Frauen aufpassen sollten. Zu mehr war er noch nicht gekommen.

Was vermutlich auch der Grund war, wieso Tyler und der Doc ihn nun förmlich mit fragenden Blicken durchbohrten, während Ais Aufmerksamkeit auf ihrer Freundin ruhte.

Um nicht sofort irgendetwas dazu sagen zu müssen, steckte er sich das Fleischstück in den Mund und kaute mehr als nur gründlich.

„Das sind ja interessante Neuigkeiten.“, stellte Tennessey schließlich nüchtern fest und begann wieder zu essen.

„Stimmt. Sag mal, Ryon. Wann hattest du vor, uns diese nette, kleine Info mitzuteilen?“

Tyler konnte es sich natürlich nicht verkneifen und gab tüchtig seinen Senf dazu. Bildete Ryon sich das nur ein, oder sah sein Freund sogar etwas verärgert aus? Warum? Es wäre nicht das erste Mal, dass er seinen Freunden etwas verschwieg und würde auch garantiert nicht das letzte Mal sein. Außerdem hatte er ohnehin vorgehabt, es ihnen zu erzählen, also brauchten sie ihn jetzt nicht so anzusehen.

„Zu einem gegebenen Zeitpunkt, aber bestimmt nicht beim Abendessen.“

Zwar hörte man seinen Unmut nicht aus seiner Stimme heraus, aber der Blick, den er den beiden schenkte, genügte für seine Freunde auch so. Dafür kannten sie ihn gut genug. Er wollte das jetzt nicht hier bei Tisch besprechen.

„Fest steht, dass es hier sicher ist und auch bleiben wird. Mehr hab ich im Augenblick auch nicht dazu zu sagen.“

Um seine Worte noch zu unterstreichen, schob er sich ein weiteres Stück von dem köstlichen Braten in den Mund und sprach Tyler anschließend darüber sein Lob aus. Was diesem Kerl natürlich auch freute, auch wenn er seinen Unmut dadurch deutlich machte, dass er das Kompliment von Ryon einfach ignorierte.
 

Es kam nicht häufig vor, aber jetzt hatte Paige ein schlechtes Gewissen.

So, wie sich die drei Männer verhielten, hatte der Gastgeber nicht erzählt, warum die Frauen hier waren. Und wenn sie es richtig interpretiert hatte, dann war genau jetzt der absolut falsche Zeitpunkt, damit herauszuplatzen.

Zugegeben hatte Paige kein besonders großes Talent dafür, Taktgefühl in solchen Dingen zu beweisen, aber dass das nun so schlimm sein sollte, verstand sie nicht.

Um ihre roten Wangen zu verstecken widmete sie sich ihrem Abendessen und stocherte zuerst ein wenig auf ihrem Teller herum, bevor sie den Rest des Fleisches zu sich nahm. Selbst wenn der Nachtisch nicht aus Vanillecreme bestanden hätte, wäre Paige nicht nach Dessert gewesen. Auch wenn sie keiner wirklich ansah, schien ihr die Gesellschaft auf einmal zu viel und sie wollte bloß weg aus der Küche.

Solange Ai ihre Creme aß, hielt sie es noch bei Tisch aus, aber danach sprang sie auf, als hätte sie die ganze Zeit auf einer Reißzwecke sitzen müssen.

Alle Blicke meidend, entschuldigte sie sich bei den Männern und griff Ais Hand, um sie mit sich in ihr Zimmer zu ziehen.

Dort ließ sie sich mit einem tiefen Seufzer auf ihr Bett fallen und starrte auf das Muster des Parkettbodens.

„Was hast du denn?“

Ais federleichtes Gewicht drückte die Matratze neben Paige kaum ein, als die Asiatin sich setzte und eine Hand auf das Knie der Jüngeren legte. Mit einem Lächeln sah diese hoch und fand nicht zum ersten Mal, dass sie ziemliches Glück hatte, nicht mehr ganz alleine zu sein.

„Ach, die Stimmung war mir gerade etwas zu viel.“

Mit einem Nicken gab Ai zu verstehen, dass sie gar nicht mehr hören musste.

„Er ist ein bisschen frostig, nicht wahr?“

Paige lachte leise und fiel Ai für einen Moment um den Hals. Niemals würde sie ihre Dankbarkeit dafür ausdrücken können, dass ihre Freundin manche Sachen einfach so viel einfacher machte.

„In Gedanken hab ich ihn von Anfang an Eisschrank genannt. Ich muss mich wirklich zusammen reißen, dass ich ihn nicht vor allen so nenne.“, meinte sie grinsend und drehte sich so, dass sie Ai nun direkt ansehen konnte.

Sie hatten Einiges zu bereden, denn obwohl die Asiatin sich natürlich nicht zu sehr aufregen sollte, wollte Paige keine Geheimnisse vor ihr haben, was den Aufenthalt in diesem Haus anging.

Sie erzählte ihr davon, wie sie Ryon – alias Eisschrank – überhaupt über den Weg gelaufen war, dass der Raub fehlschlug und er sie aufgespürt hatte. Dann von dem Überfall. Nur die kleine Episode mit dem Magier auf der Straße ließ sie aus. Darüber hätte sich Ai auf jeden Fall zu viele Sorgen gemacht. Immerhin war Paige nur um Haaresbreite entkommen, was ihre Freundin aus gutem Grund aufregen würde. Selbst wenn sie sich nun gesund und munter gegenüber saßen.

„Und warum bietet er nun an uns zu beschützen?“, wollte Ai nach ein paar weiteren Fragen wissen und streichelte dabei versonnen über ihren gewölbten Bauch.

„Es hat mit dem Schmuckstück zu tun, das ich ihm stehlen sollte. Meine Ex-Auftraggeber sind wohl schon eine Weile hinter dem Ding her und werden nicht so schnell aufgeben. Er meint, dass ich ihm bei der Suche helfen kann. Als Gegenleistung darfst du hier bleiben, wo man dich beschützt und du gut versorgt bist.“

Jetzt, wo sie es das erste Mal laut aussprach, hörte es sich für Paige nach einem verdammt guten Deal für sie an. Egal, was während ihrer Recherche mit Ryon und ihr selbst passierte, Ai würde auf jeden Fall geschützt sein.

Als sie selbstzufrieden in Ais Gesicht sah, wunderte sie sich gehörig, dort nicht das gleiche Gefühl widergespiegelt zu finden. Sofort musste das gute Gefühl einer leichten Panik weichen und sie lehnte sich ein Stück vor, um ihrem Gegenüber besser zuhören zu können.

„Ist was nicht in Ordnung, Ai? Fühlst du dich hier nicht wohl? Wir können bestimmt auch was Anderes finden, wenn du hier weg willst.“

Mist, daran hatte sie gar nicht gedacht. Natürlich hatte Ai sich mit den Männern unterhalten, die sie gerettet und gepflegt hatten. Was war ihr auch wirklich Anderes übrig geblieben? Das hieß aber noch lange nicht, dass sie für eine Weile ihr Heil in deren Hände legen wollte. Noch dazu, wenn Paige wohl nicht immer an ihrer Seite bleiben würde.

„Nein“, beschwichtigte die schlanke Frau ihre Freundin sofort.

„Es liegt nicht daran, dass ich glaube, dass hier Gefahr auf mich lauert.“

So einen tiefen und intensiven Blick hatte sie von Ai schon lange nicht mehr gesehen. Er klebte sie direkt in ihrer aufmerksamen Position auf dem Bett fest.

„Ich glaube nur, dass du mal wieder viel zu wenig auf dich achtest. Du hast doch nicht im Sinn, ebenfalls hier auf dem geschützten Gelände zu bleiben, oder?“
 

Das war nicht die erste Diskussion in dieser Art, die sie miteinander führten. Wenn das Thema die Sorge um die jeweils Andere war, konnten sie stundenlang im Kreis reden. Und nicht anders lief es auch diesmal.

Paige versuchte hin und her zu argumentieren und dabei nicht die Geduld mit sich selbst oder ihrer Freundin zu verlieren. Irgendwann ging das auch nicht mehr, weil sie gar nicht mehr vorwärts kamen.

Sie schlug sich zum x-ten Mal die Hand vor den Mund, um das Gähnen einigermaßen in Zaum zu halten, aber es nützte nichts. Inzwischen liefen ihr sogar Tränen über die Wangen vor lauter Müdigkeit und sie konnte sich keinen Deut weit mehr konzentrieren. In der vergangenen Nacht hatte sie einfach zu wenig qualitativen Schlaf bekommen.

„Ai, bitte. Können wir das für jetzt ruhen lassen und schlafen gehen? Ich fall gleich um.“

Das tat sie wenige Augenblicke später auch tatsächlich, nachdem sie für diese Nacht Waffenstillstand geschlossen und sie sich aus ihren Klamotten gekämpft hatte.

Die Laken waren so schön weich und rochen nach absoluter Sauberkeit und leicht nach Waschmittel. So müde war Paige schon lange nicht mehr gewesen und sie schlief ein, bevor sie noch ein vollständiges „Gute Nacht“ nuscheln konnte.
 

„Die beiden hatten es ja ganz schön eilig, findet ihr nicht?“, fragte Tyler in aller Unschuld, wofür er sich von Tennessey einen Klaps auf den Hinterkopf einfing, wodurch der Diener beinahe das schmutzige Geschirr fallen ließ. Er fing sich jedoch äußerst geschickt.

Tennessey sah ihn schnaubend an: „Jetzt rate doch mal, warum?“

„Hmm … vielleicht weil du nicht deine Klappe halten konntest, Doc?“

„Seid still. Alle beide.“

Ryon erhob sich vom Tisch, während er seinen Freunden ernsthaft in die Augen blickte.

„Ihr wolltet doch wissen, weshalb die beiden Frauen hier sind, oder? Dann probiert es einmal mit Zuhören.“, schlug er vor, ehe er sich selbst etwas vom Tisch schnappte, um beim Abräumen zu helfen.

Während er also die Essensreste sorgfältig in Plastikbehälter verpackte und Tennessey beim Geschirrspülereinräumen half, berichtete Ryon alles, was die beiden wissen mussten. Angefangen von dem versuchten Diebstahl des Amuletts, über seinen Erfolg beim Aufspüren der Diebin, bis hin zu der Sache in der Wohnung der beiden Frauen, wo er einfach eingegriffen hatte, ohne lange darüber nachzudenken.

„Ihr versteht jetzt sicher, weshalb die beiden einige Zeit lang hier bleiben werden.“

Tyler nickte diensteifrig.

„Schon klar. Von mir aus können die beiden auch für immer hier bleiben, solange ich dadurch endlich mal etwas zu tun habe. Was mich aber jetzt brennend interessieren würde, ist die Frage, wie du weiter vorgehen willst?“

„Weißt du denn nun mit Sicherheit wer die Auftraggeber sind? Ist es wirklich dieser Hexenorden?“

Ryon blickte Tennessey schweigend an. Seinem Freund war der Orden genauso wenig unbekannt, wie Tyler. Die beiden wussten genau, welchen er meinte. Weshalb sie auch absolut nicht darüber begeistert sein würden, wenn er ihnen mitteilte, dass er genau diese Frauengruppierung im Blick hatte. Aber sie würden es ohnehin erfahren müssen.

„Mit ziemlicher Sicherheit, ja. Es ist ‚dieser‘ Orden.“

Tyler hörte auf, den Tisch abzuwischen und starrte stattdessen den Putzlappen an.

„So eine Scheiße aber auch!“

„Amen, Bruder.“

Als Motivationshilfe waren seine Freunde wirklich nicht zu gebrauchen. Darüber konnte Ryon in Gedanken nur den Kopf schütteln. Konstruktive Vorschläge oder überraschende Informationen wären ihm lieber gewesen. Aber er konnte kein Wunder erwarten, so sehr er es auch hoffte. Solche Dinge schüttelte man sich nicht einfach aus dem Ärmel.

„Wenn euch dazu nichts Besseres einfällt, sage ich jetzt gute Nacht.“

Er stieß sich von der Arbeitsfläche ab, an der er schon die ganze Zeit gelehnt hatte und ging zur Tür. Als er schon die Küche endgültig verlassen wollte, rief Tennessey ihn noch einmal zurück.

„Warte kurz. Tyler hat mir erzählt, dass du und die Frau heute den ganzen Tag in der Bibliothek Bücher gewälzt habt. Wenn du nach Informationen suchst, wieso verschwendest du dann dort deine Zeit? Du weißt doch selbst, dass du in Marlenes Sachen wesentlich mehr Glück mit deiner Suche hättest. Immerhin hat sie doch…“

Es ging alles so schnell, dass Ryon nicht einmal darüber nachdachte.

Einen Moment lang stand er noch in der Tür, im nächsten hatte er plötzlich sein Hand um Tennesseys Kehle geschlungen, wodurch dessen Redefluss mit einem Ruck erstarb. Seine goldenen Augen schienen förmlich zu lodern.

„Verdammt, Ryon. Er hat’s doch nicht so gemeint. Lass ihn wieder los.“

Tylers Stimme war ganz ruhig, auch wenn er offensichtlich so aufgeregt war, dass er vergaß, seine Gestalt bei zu behalten. Seine Haare färbten sich flammend Rot und drückten somit deutlich dessen Gefühlsleben aus.

Der Hüne ignorierte ihn, genauso wie der Arzt es tat, denn dieser blickte ihn unverwandt und vollkommen ruhig an, obwohl er kaum noch Luft bekam.

„Hör zu…“, krächzte er, zwischen schweren Atemzügen, versuchte aber nicht Ryons Hand von seinem Hals zu bekommen.

„…du kannst das, was geschehen ist … nicht ewig verdrängen… Siehst du nicht … wie es dich kaputt macht?“

Ryon sah es. Er sah es in Tennesseys Augen. Sein Spiegelbild blickte daraus hervor. Sah ihn mit schmerzerfüllten Augen an, bis er schließlich die Hand runter nahm und schweigend den Raum verließ.

„Tolle Aktion, Doc.“

Tyler verpasste ihm nun seinerseits eine Kopfnuss, obwohl dieser schon angeschlagen genug war.

„Bist du seit Neuestem selbstmordgefährdet?“

Im krassen Gegensatz zu seinen Worten, besah er sich den Hals seines Freundes näher, ehe er laut und offen seufzte.

"Ich mach dir einen Hals-Wohl-Tee."
 

Ryon kehrte nicht in sein Zimmer zurück, sondern verließ das Haus. Während er einfach planlos zum See hinunter lief, um das viele Adrenalin in seinem Körper mit Bewegung abzubauen, verfolgte ihn noch immer die Szene von gerade eben in der Küche.

Er hatte die Beherrschung verloren. Das war schon sehr lange nicht mehr passiert. Er hätte nicht gedacht, dass er nach so langer Zeit, immer noch so empfindlich auf ihren Namen reagierte.

Dabei hatte Tennessey Recht gehabt. Er sollte den Quatsch mit der Bibliothek sein lassen und in ihren Sachen nach Informationen suchen. Immerhin gehörte sie früher einer kleinen Splittergruppe von Heilerinnen an, die versucht hatten, einen neuen Orden der weißen Magie ins Leben zu rufen. Sie mussten garantiert selbst ein paar Informationen zusammen getragen haben.

Aber Ryon wollte nicht. Er wollte weder hier sein, noch wollte er den Dachboden betreten. Schon gar nicht, wollte er wieder in der Vergangenheit graben, die ihn bereits seit sieben Jahren nicht los ließ. Er wollte doch einfach nur noch alles vergessen!

Erst als seine Füße im kalten Wasser baumelten, kam er wieder zur Besinnung. Er saß am Steg, so wie er es bereits heute morgen getan hatte.

Kein Wunder, dass seine Füße ihn wie von selbst hierher getragen hatten. Das war sein Ort des Nachdenkens. Hier hatte er immer die Füße ins Wasser gesteckt und während die Wellen seine Haut beruhigend umspielten, waren seine Gedanken in weite Ferne gereist. Doch dieses Mal konnten sie ihn nicht beruhigen.
 

Als seine Zehen schon ganz taub vor Kälte waren, raffte er sich schließlich wieder auf. Inzwischen waren auch seine wirren Gedanken zum Erliegen gekommen, da sein Gehirn vor Müdigkeit den Betrieb eingestellt hatte. Zumindest jetzt würde er in der Lage sein, zu schlafen. Aber das änderte nichts an dem, was der nächste Tag ihm bringen würde.

So absolut schwer es ihm auch fiel, seine Entscheidung war gefallen. Das sinnlose Suchen in der Bibliothek würde sein Ende nehmen.

10. Kapitel

Mit einem Grummeln zog sich Paige das dünne Laken über den Kopf und hielt die Augen noch eine Weile geschlossen.

Als sie aufgewacht war, hatte sie flach auf dem Rücken gelegen, ihr Gesicht zum Fenster gedreht. Wenn sie bedachte, wie sehr ihr die Sonne ins Gesicht schien, wollte sie lieber gar nicht wissen, wie spät es schon war. Noch dazu, da sie sich einbildete, Ai vor einiger Zeit gehört zu haben, wie sie aufgestanden war und das Zimmer verlassen hatte. Aber im Halbschlaf hatte man oft ein sehr verschobenes Zeitgefühl. Also konnte das auch nur einige Momente her sein. Fakt war, dass sich Paige allein im Zimmer befand, denn sie konnte ihre Mitbewohnerin nicht hören und im Bad schien sich auch nichts zu rühren.

Das passte ihr, wenn sie ehrlich war, gerade auch ganz gut in den Kram. Direkt nach dem Aufwachen wollte sie die Diskussion der letzten Nacht bestimmt nicht weiter führen. Dabei wäre nicht wirklich etwas Konstruktives heraus gekommen. Also lag sie noch eine Weile unter dem Laken, das wie ein Zelt über ihr Gesicht hing und sich bei jedem ihrer Atemzüge ein wenig blähte.

Ihr Kopf war einigermaßen leer, wenn sie auch nicht sagen konnte warum. Es hätte mehr als genug Dinge gegeben, die sie hätten beschäftigen müssen. Und doch genoss sie nur den weichen, glatten Stoff, der sich an ihre Haut schmiegte und die Wärme der Sonne, die auf das Bett schien.

Am liebsten wäre sie noch einmal eingeschlafen und erst in ein paar Tagen wieder aufgewacht. Oder noch besser, wenn das alles hier vorbei war. Sollte Eisschrank – nein, sollte Ryon – sich doch allein um die Sache kümmern. Ihre eigene Rolle in dem ganzen Durcheinander verstand sie sowieso nicht.

Ein paar Male warf sie sich noch von einer Seite auf die andere, versuchte sich einzureden, dass schon jemand kommen würde, wenn man sie brauchte und versuchte trotz immer größer werdender Gewissensbisse wieder einzuschlafen.

Als alles nichts brachte, zog sie sich doch das Laken vom Kopf und sah nur mit einem geöffneten Auge auf die große Uhr, die über der Tür zum Badezimmer hing. Es war gerade mal halb zehn.

„Oooh man...“

Da jetzt sowieso nicht mehr an Schlafen zu denken war, raffte sie sich hoch, hüllte sich in ihr Bettlaken und stand endgültig auf. Hier im Raum würde sie bestimmt niemand beobachten. Darum war es auch nur zweitrangig, dass sie mitsamt Laken ins Bad schlurfte. Sie hatte einfach schon viel zu lange nicht mehr so gut geschlafen und wollte das Gefühl mit dem Bettzeug noch ein wenig mit sich herumtragen.

Sehr seltsam, dass sie gerade hier die ständig nagenden Sorgen ein wenig los wurde. Dabei war sie zuerst davon ausgegangen, dass es sich hier um eine Art Gruselvilla handelte. Wie es aussah, weit gefehlt.

Allerdings ging Paige immer noch stark davon aus, dass hier ein paar Geheimnisse im Argen lagen.

Mit einem Schulterzucken ließ sie das Bettlaken schließlich fallen und stellte sich unter die Dusche. Nachdem sie sich ordentlich eingeseift und gewaschen hatte, rubbelte sie sich mit einem der weichen Handtücher ab und stellte sich dann vor den Spiegel.

Irgendwann in den nächsten Tagen würden ihr ihre Klamotten garantiert zu viel werden. Zu allererst bei Unterwäsche angefangen, würde sie für Ai und sich selbst gern etwas Frisches besorgen.

Darauf, dass in diesem Haus auch noch Frauenkleidung zu finden war, konnte man ja beim besten Willen nicht hoffen.
 

Wenige Minuten später schlich Paige durch den Flur. Einfach nur aus dem Grund, dass es überall im Haus – eigentlich wie immer – unglaublich still war. So etwas war sie aus ihrem Viertel überhaupt nicht gewöhnt. Da musste man sich eher mit den dauernden Geräuschen anfreunden, die selbst mitten in der Nacht nicht abrissen.

Als sie schließlich die Küche betrat, fand sie nur Tyler vor, der bereits an der Arbeitsfläche stand und vor sich hin werkelte.

„Guten Morgen. Schlafen Sie denn nie?“, wollte sie in freundlichem Tonfall wissen und kam auf den Mann zu, der heute blond war und ihr Lächeln erwiderte.

Ihre nächste Frage war, ob sie irgendwie helfen konnte, nachdem sie gestern nach dem Abendessen so sang- und klanglos verschwunden war. Paige konnte gar nicht so schnell gucken, wie sie eine Pfanne und einen ganzen Teller voll Speck zum Anbraten in die Hände gedrückt bekam. Mit einem Grinsen nahm sie stillschweigend an, dass Probieren erlaubt war.
 

Er erwachte mit hämmernden Kopfschmerzen und empfindlichen Augen. Man könnte fast schon meinen, dass er einen Kater hatte. Zumindest fühlte es sich teilweise so an. Dass sein Unterbewusstsein vermutlich nur nach Ausreden suchte, um noch länger im Bett zu bleiben, entging Ryon keineswegs. Weshalb er sich folterte, in dem er sich die warme Decke vom Leib riss und nackt ins Bad schwankte.

Dort genehmigte er sich erst einmal eine warme Dusche, um den Kopf wieder halbwegs frei zu bekommen. Doch alles woran er denken konnte, war sein heutiges Vorhaben und dass er kurz davor stand, zu kneifen.

Nein, noch hatte er niemandem gesagt, dass er auf den Dachboden gehen würde, um sich dort umzuschauen. Also müsste er auch niemanden enttäuschen, wenn er es nicht tat.

Außer sich selbst natürlich. Zudem musste er sich eingestehen, dass er ein verdammter Schwächling war, der vielleicht nach etwas aussah, aber was diese Sache anging, alles andere als mutig sein konnte.

Verzweifelt lehnte er die Stirn gegen die kalten Fließen und schloss die Augen. Er würde diesen Tag nicht schadlos überstehen und das wusste er. Dennoch konnte er sich dem nicht entziehen, also brachte es auch nichts, sich noch länger unter der Dusche zu verstecken. Wenn er schon leiden musste, dann wollte er es nicht noch mehr in die Länge ziehen.

Äußerlich ruhiger denn je, stieg er nach einigen Minuten schließlich aus der Kabine, trocknete sich ab und zog sich frische Sachen an. Inzwischen hatte Tyler den Kleiderschrank gefüllt. Wie der Kerl das immer anstellte, wollte er gerne einmal wissen, aber sicherlich nicht heute.

Bevor er sich dazu durchringen konnte, jemanden an diesem Morgen zu begegnen, begab er sich in die Bibliothek und nahm sich viel Zeit dafür, die Bücher wegzuräumen und wieder an ihren Platz zu stellen. Als letztes hielt er den Folianten in den Händen, den Flame zuletzt gelesen hatte.

Einen Moment dachte er an gestern zurück und wie sie gedankenverloren auf der Bank vor dem Fenster gesessen hatte. Was ihr da wohl durch den Kopf gegangen sein mochte?

Ryon legte schließlich auch dieses Buch zurück und machte sich schließlich auf den Weg in die Küche. Zwar hatte er absolut keinen Appetit, aber es würde auffallen, wenn ein Mann seiner Statur am Tisch fehlte. Tennesseys Strafpredigt wollte er sich auch nicht anhören, erst recht nicht nach dem gestrigen Vorfall. Er würde sich noch bei seinem Freund entschuldigen müssen.
 

Natürlich stieß er als Letzter zur Frühstücksgesellschaft, weshalb sich auch die Blicke aller Anwesenden bei seinem Eintreten auf ihn richteten. Er wünschte nur ein knappes guten Morgen, ehe er sich auf seinen Stuhl setzte und sich eine riesige Portion Kaffee einschenkte.

Obwohl er im Augenblick keinen Anlass dazu gehabt hätte, wäre er in diesem Moment am liebsten vom Erdboden verschluckt worden. Er konnte den Doc noch nicht einmal ansehen, geschweige denn den Rest des Quartetts. Eigentlich wollte er niemanden sehen, weshalb er lieber ausgiebig mit dem Omelette auf seinem Teller flirtete.
 

'Seltsam.', dachte sie bloß wieder, als sie ihr Müsli löffelte und genauso wie alle anderen immer wieder einen prüfenden Blick zu Ryon hinüber warf. Egal, ob sie ihn nun kannte oder nicht, dass er es war, der mit seinem Eintreten gewaltsam die Stimmung auf den Gefrierpunkt gezogen hatte, musste ihr niemand erklären.

Es wurde auch auf keinen Fall besser, während er jeglichen Blickkontakt mied und sich aus den ohnehin schon kargen Gesprächen völlig heraus hielt. So interessant konnte sein Essen auch wieder nicht sein. Und genau deshalb konnte Paige gut nachvollziehen, wie es in ihm aussehen mochte. Bloß warum, wusste sie nicht. Keiner würde es ihr verraten, deshalb hielt sie auch lieber den Mund und aß ihr Frühstück.

Das Klimpern von Besteck auf den Tellern erstarb nur langsam. Tyler war bereits aufgestanden und räumte ab, während die Anderen noch damit beschäftigt waren, sich den Mund mit einer Serviette abzutupfen oder – in Ryons Fall – den Zustand seiner Fingerspitzen zu überprüfen.

Das Klima in der Küche behagte Paige überhaupt nicht. Selbst in ihrer menschlichen Form konnte sie es so schockgefrostet einfach nicht lange ertragen. Daher tat sie das Einzige, das immer zuverlässig eine Reaktion hervor rief.

Sie schob ihren Stuhl zurück, stand auf und sah direkt zu Ryon hinüber.

„Ich weiß nicht, wie's dir geht, aber ich würde gern weiter kommen. Wieder in die Bibliothek, nehme ich also an?“

Sie war nie davon ausgegangen, dass es eine gute Reaktion sein musste, die sie bekam.
 

Im Nachhinein wusste er noch nicht einmal, was er alles gegessen hatte. Weiter als bis zu dem Omelette reichte seine Erinnerung nicht, danach war da nur ein großes schwarzes Loch. Weshalb er auch wie ertappt zusammen zuckte, als Flame ihn direkt ansprach.

Sein Herz begann schneller zu schlagen, während sich sein Puls zugleich beschleunigte.

Wusste sie etwas? Ahnte sie es? Warum fragte sie sonst, ob sie wieder in die Bibliothek gehen würden? War das eine indirekte Frage für etwas ganz anderes? Hatte Tennessey ihr etwas über den gestrigen Vorfall erzählt?

Allein dieser Gedanke traf ihn wie eine eiskalte Keule in den Bauch, auch wenn er einen Moment später selber zu der Erkenntnis kam, dass er sich nur verrückt machte und seine Gedanken absoluter Schwachsinn waren. Vermutlich war sie einfach nicht sicher, ob er gleich wieder an die Arbeit gehen wollte und fragte lieber noch einmal nach. Sie selbst schien entschlossen zur Tat schreiten zu wollen. Genau diesem Beispiel musste er ebenfalls folgen, wenn er nicht an der Sitzfläche seines Stuhls anwachsen wollte.

Ryon stand auf, hob seinen Blick und erstarrte beim Anblick der Diebin. Ihn traf soeben eine weitere erschreckenden Erkenntnis, an die er bisher noch gar nicht gedacht hatte – sie würde auch dort sein…

Sein Herz setzte einen Schlag lang aus, ehe es pochend weiter raste. Das war aber auch schon das Einzige, das wieder in die Gänge kam. Ganz im Gegensatz zum Rest seines Körpers.

Seine goldenen Augen starrten unverwandt in die ihren, bis er sie schloss, um sich endlich wieder zusammen zu reißen. So konnte das nicht weiter gehen. Er war absolut nicht mehr zu retten, wenn ihn diese Sache nach sieben Jahren immer noch umzubringen drohte. Vielleicht war es wirklich an der Zeit, den Geistern der Vergangenheit gegenüber zu treten, um endlich damit abzuschließen. Er konnte nicht ewig so weiter machen. Entweder er stellte sich diesen Ängsten oder er ließ es endgültig bleiben und schloss hier auf der Stelle mit seinem Leben ab. So war das nichts Ganzes und nichts Halbes. Er konnte nicht ewig auf einem Fleck stehen bleiben.

Entschlossen stellte er sich schließlich erneut dem Blick der Diebin. Während seine schwarzen Augen sie herauszufordern schienen, meinte er äußerlich vollkommen gelassen: „Ich habe die Bücher weggeräumt. Es wäre Zeitverschwendung, noch weiter dort nach Informationen zu suchen. Heute werden wir in der … Galerie unser Glück versuchen.“

Tyler ließ ein Teller fallen, so dass dieser laut krachend auf dem Boden zerschellte, während Tennesseys Kinn auf seine Brust sank und er Ryon fassungslos anstarrte.

Ryon ignorierte sie beide, als er sich umdrehte und mit ruhigen Schritten aus dem Raum ging. Darauf vertrauend, dass die Diebin ihm folgen würde. Immerhin war sie es gewesen, die sich wieder ans Werk machen wollte, also sollte sie jetzt bloß nicht trödeln.
 

Der Weg von der Küche aus bis zur Treppe die in die Galerie führte, kam ihm einer Prozession zu seiner Hinrichtung gleich, nur dass das Urteil noch nicht gefällt und der Ausgang dieser Passion noch nicht festgelegt war.

Würden seine Gefühle ihn ans Kreuz nageln, oder geschah am Ende doch noch ein Wunder? Er konnte es nur herausfinden, in dem er den Sprung ins Unbekannte wagte.

Dennoch zitterten seine Finger, als er die Tür zur Galerie mit einem Schlüssel aufsperrte und den Türknauf herumdrehte. Ryon zögerte.

Sein Herz donnerte ihm nun bis zum Hals und das Blut rauschte ihm so laut wie ein Orkan in den Ohren. Er konnte das. Er musste einfach…

Die Tür schwang nach innen auf und gab den Blick auf einen hellen, lichtdurchfluteten Raum mit hoher Decke frei.

Ryon erkannte ihn kaum wieder.

Vorsichtig tat er ein paar Schritte ins Zimmer, während er sich zögerlich umsah. Die Staffelei und die Ölfarben waren verschwunden. Verhängte Bilder in verschiedenen Größen lehnten an der Wand. Kartons und stabile Holztruhen standen geschützt unter großen, weißen Tüchern in den Ecken und ließen dadurch den Raum sogar etwas kleiner wirken, als er für gewöhnlich war.

Ryon hatte keine Ahnung, was er nun wirklich erwartet hatte. Aber dieser Anblick zwang ihn nicht in die Knie. Es sah nicht mehr aus wie eine Galerie, in der eine Künstlerin ihrer Inspiration nach ging, sondern war einfach zu einer Abstellkammer geworden.

Dennoch, die Sachen unter den Tüchern die sie vor Staub schützen sollten, gehörten definitiv nicht ihm persönlich. Sie gehörten dem Anlass, der seine Brust sich schmerzhaft zusammen ziehen ließ und ihm das Atmen schwer machte.

Da Ryon nur zu deutlich wusste, dass er nicht viel Zeit hatte, bis ihn alles wieder einholen würde, ging er zu den gut verstauten Sachen hinüber, zog das weiße Tuch herunter und ließ so unbeteiligt wie möglich einen Blick über die darunterliegenden Gegenstände schweifen, um nach einer einzigen, kleinen Holzkiste Ausschau zu halten.

Den ersten Schlag bekam er von einer großen Truhe aus honigfarbenem Holz mit kunstvollen Schnitzereien daran. Es war eine Truhe für die Aussteuer einer Braut.

Beim Anblick eines zusammen gefalteten Paravents wurde ihm schlecht und hätte er nicht rechtzeitig, das gesuchte Objekt gefunden und an sich gebracht, die bunte Ecke eines halb verdeckten Gemäldes hätte ihn auch ohne besagten Gegenstand aus dem Raum vertrieben.

Im letzten Moment konnte er Flame noch ausweichen, sonst hätte er sie mit der kleinen Holzkiste in den Armen nieder gerannt.

Egal für wie bekloppt sie ihn nach dieser kurzen Episode in der Galerie halten würde, er ging trotzdem weiter, ohne auf sie zu warten.

Wenn er schon den Inhalt dieser Truhe durchwühlen musste, dann wollte er das in der Bibliothek tun, in der er sich gestern halbwegs normal gefühlt hatte.

Nachdem er die Truhe auf den Tisch abgestellt und mehrmals tief durchgeatmet hatte, riss er einfach das Vorhängeschloss ab, da er den dazugehörigen Schlüssel nicht hatte. Danach öffnete er rasch den Deckel, damit er nicht in Versuchung kam, diese Aufgabe lieber Flame zu überlassen, sollte er selbst nicht den Mut dazu aufbringen.

Der Inhalt entsprach ungefähr dem, was er erwartet hatte. Schriftrollen, Landkarten, allerhand loser Blätter, ein paar Bücher und ... das Notizbuch.

Wenn Ryons Herz schon vorher wie wild gepocht hatte, so schnappte es nun förmlich über, als er nach dem ledernen Einband griff und das Buch beinahe ehrfürchtig in Händen hielt.

Da seine Füße nachzugeben drohten, ließ er sich schwer auf das Sofa fallen, während er das kleine Buch in seinen Händen eine ganze Weile einfach nur anstarrte, ohne es zu öffnen. Inzwischen war auch Flame zu ihm gestoßen, weshalb er sich dazu zwang, einen Moment lang, den Gegenstand in seinen Händen zu vergessen und die Frau ihm gegenüber anzusehen.

„Wenn es Informationen gibt, dann werden wir sie in dieser Truhe finden.“

Ryon machte sich nicht die Mühe, Flame darüber aufzuklären, weshalb er ihnen nicht schon gestern Zeit erspart und die Truhe geholt hatte. Stattdessen forderte er sie mit einem Blick auf, ruhig zuzugreifen. Er würde ihr sicherlich nicht die Hand abbeißen, solange er dieses Buch in seinen Händen hielt, auf das er nun wieder vollkommen seine Aufmerksamkeit richtete.

Eigentlich dürfte er nicht hinein blicken. Sie hatte es stets von ihm fern gehalten, als hätte sie Angst, er würde es heimlich lesen. Was er jedoch niemals getan hätte. Und doch würde er es jetzt tun?

Was, wenn das eigentlich ihr Tagebuch gewesen war und ihre Gedanken nicht für ihn bestimmt waren?
 

Ryon kämpfte mehrere Minuten lang mit seinem Gewissen, bis er schließlich einfach den Einband öffnete und ohne Umschweife zu lesen begann. Dabei den heftig aufflammenden Schmerz unterdrückend, der ihm beim Erkennen der feinen Handschrift einholte, bis er schließlich vollkommen erstarrte, während seine Augen wie besessen nicht mehr fähig waren, sich von den Worten los zu reißen.

Es waren nicht ihre Notizen. Es war nicht ihr Tagebuch. Stattdessen war es ... für ihn...
 

-Dinge, die ich dir niemals sagen kann … von deiner Gefährtin Marlene-
 

Es tut mir leid, Ryon, dass ich überhaupt damit angefangen habe, in dieses Buch zu schreiben. Immerhin konnte ich dir bisher immer alles sagen, da du der aufmerksamste Zuhörer in meinem Leben bist. Doch seit Kurzem habe ich festgestellt, dass es Dinge in unserem gemeinsamen Leben gibt, die ich dir nicht mitteilen kann, ohne dir das wunderschöne Lächeln aus dem Gesicht zu wischen, das ich so gerne an dir sehe…

Manchmal füge ich dir mit einem einzigen Satz Wunden zu, ohne es zu wollen, da ich Zweifel in dir wecke. Dabei gibt es keinen Grund für deine Zweifel. Du bist das einzig Wichtige in meinem Leben. Darum muss ich das hier tun. Weil ich dich liebe und nur das Beste für dich möchte.

Da ich es jedoch nicht ertrage, Geheimnisse vor dir zu haben, kam mir die Idee zu diesem Buch. Ich bete dafür, dass die Seiten leer bleiben mögen, doch sollten sie sich nach und nach dennoch füllen, so werden meine Worte nicht verloren sein. Der Zeitpunkt wird kommen, an denen du sie liest. So habe ich es vorausgesehen … danach werden keine Geheimnisse mehr zwischen uns stehen und dieses Buch hoffentlich aufhören, seinen Zweck zu erfüllen…
 

7. Jänner

Ich bedaure es zu tiefst, dass erst drei Wochen vergangen sind, seit ich dieses Buch zum ersten Mal aufgeschlagen habe. Aber gerade eben kommst du von oben bis unten voll geschneit zur Tür herein, mit diesem strahlenden Funkeln in deinen goldenen Augen, das mir inzwischen nur zu vertraut ist. Dabei wolltest du noch Brennholz für den Kamin holen, aber offenbar hast du es auf deinem Weg hier her vollkommen vergessen.

Es ist mein Geruch, nicht wahr? Seit gestern kannst du keine Minute lang von meiner Seite weichen. Das ist mir nicht entgangen. Immer wieder treibst du mir die Röte auf die Wangen, wenn du mich mit diesem hungrigen Blick beschenkst.

Obwohl ich mir der Auswirkungen deiner Natur sehr genau bewusst bin, kann ich nicht widerstehen.

Doch im Augenblick scheinst du dagegen anzukämpfen. Ich sehe ganz genau, wie du den Atem anhältst, oder versuchst, nicht zu oft in meine Richtung zu schauen und dabei kaum fähig bist, die Knöpfe deines Mantels richtig zu öffnen.

Deine Gedanken sind ganz wo anders. An einem Ort, an dem wir keine Kleidung benötigen.

Gerne wäre ich jetzt ebenfalls dort, um die E-Mail aus meinen Kopf zu bekommen, die ich während deiner Abwesenheit empfangen habe.

Anstatt mich sofort davon abzulenken, verschwindest du jedoch gerade in der Küche. Mach mir doch bitte auch einen Kaffee, ja? Mit viel Milch und Zucker, so wie wir ihn beide kennen und lieben.

Während du weg bist, muss ich unbedingt los werden, was mich bedrückt, denn spätestens wenn du dicht neben mir sitzt, weißt du, dass etwas nicht stimmt. Ich kann es dir aber nicht sagen. Diese Bürde muss ich alleine tragen.

Kylie ist konvertiert. Du kennst sie sicher noch vom Abschlussball auf dem College. Die kleine Dunkelhäutige mit den bernsteinfarbenen Augen und dem feenhaften Aussehen. Sie war unserem Zirkel lange Zeit eine treue Begleiterin während der Zeremonien, bei denen du nicht mitmachen darfst, da du keine Frau bist.

Darum weißt du auch nicht, dass wir inzwischen Konkurrenz bekommen haben. Ich weiß, die Menschen halten uns für irgendeinen bekloppten Esoterikverein, aber mir wäre diese Bezeichnung sogar ganz recht, wenn ich wüsste, dass diese andere Gruppe ebenfalls nichts anderes als kräuterfanatische Hexen wären. Aber das sind sie nicht.

Ich habe sie in meinen Träumen gesehen. Habe gesehen, dass sie nicht dem Wohle ihrer Mitmenschen dienen, sondern sich finsteren Mächten hingeben.

Sie benutzen geopfertes Blut für ihre Rituale, machen sich unsichere Hexen untertan und locken andere magische Geschöpfe mit falschen Versprechungen in die Falle, so wie sie es mit Kylie getan haben.

Ich weiß nicht, was mit ihr geschehen wird. Ich weiß nur, dass die Zukunft dieses dunklen Zirkels keine gute ist. Noch bestehen sie aus wenigen Mitgliedern, doch das wird sich schon bald ändern.

Ich sehe Bilder von vergangenen Zeiten, kann sie aber nicht richtig deuten. Die Zukunft ist mein Gebiet, weshalb mich die Vergangenheit immer wieder frustriert. Aber eines weiß ich ganz genau. Es hat vor langer Zeit einen Orden von Heilerinnen gegeben, die sich diesen Ausgeburten des Bösen in den Weg stellten. Sie waren es, die das Gleichgewicht erhalten haben, doch was ist aus dieser Zusammenkunft von mächtigen Frauen geworden?

Im Augenblick komme ich mir wie ein kleiner verzweifelter Lichtfunke vor, der von einem riesigen Schatten erstickt zu werden droht. Wenn es mir nicht gelingt noch andere kleine Lichtfunken zu finden, wird der Schatten die Oberhand gewinnen und danach kann niemand mehr sagen, wie das für die guten Hexen, ja vielleicht sogar für die Menschen enden wird.

Ich habe Angst um unsere Zukunft, Ryon und dennoch lächle ich liebevoll, als du mit zwei dampfenden Bechern randvoll mit Milchkaffee herein kommst. Dein Blick sagt mehr als tausend Worte…
 

8. Jänner

Es ist vier Uhr morgens. Du bist gerade völlig erschöpft eingeschlafen, aber das zufriedene Lächeln kann dir selbst der Schlaf nicht nehmen.

Was würde ich nicht dafür geben, das gleiche zu empfinden…

Versteh mich nicht falsch, ich bin wund, ich bin gesättigt und körperlich spüre ich immer noch die köstlichen Nachwirkungen deiner Präsenz, aber mein Kopf … der lässt mir einfach keine Ruhe. Kylie hast du mich im Augenblick vergessen lassen, dafür nagt etwas anderes an mir.

Was wirst du denken, wenn ich in ein paar Tagen unsere Erwartungen nicht erfüllen kann? Wirst du einfach darüber hinwegsehen und dich in ca. 29 Tagen auf eine weitere Reihe schlafloser Nächte einstellen? Was, wenn ich niemals schwanger werde? Hättest du dann das Gefühl, ich sei unvollkommen, da ich nur ein Mensch bin?

Ich kann es nicht sehen, Ryon. Ich kann kein Kind in unserer gemeinsamen Zukunft sehen. Dabei hatte ich bisher nie Probleme mit meiner Gabe. Immerhin wusste ich schon ein Jahr vorher, an welchem Tag genau du mich fragen würdest, ob ich deine Freundin sein möchte und musste alles an Selbstbeherrschung zusammen kratzen, um nicht schon Tage vorher vollkommen außer mir vor Glück über beide Ohren zu strahlen.

Oh… Diese Geschichte kanntest du auch noch nicht…
 

21. Jänner

Ich kann es nicht glauben. Sollte ich mich so sehr in meinen hellseherischen Fähigkeiten getäuscht haben? Aber bisher habe ich mich bei keiner einzigen Vision geirrt. Noch nie und trotzdem… Ich bin schwanger!
 

22. Februar

Ich bin der Verzweiflung nahe. Sarah, Michelle, Nicole und Diana sind einfach spurlos verschwunden und jetzt ist auch noch Jessica zu diesem schrecklichen Orden konvertiert.

Die Reihen meines Zirkels lichten sich immer mehr. Die Plätze können bei den Ritualen kaum noch ausgeglichen werden. Manche Zeremonien müssen wir sogar ganz ausfallen lassen.

Boudicca ist nicht zu stoppen. Diese schreckliche Frau beherrscht nun schon mehr als die Hälfte aller magischen Anhängerinnen. Wenn das so weiter geht, wird es in dieser Stadt keine einzige gute Hexe mehr geben!

Was soll ich nur tun? Bald werde ich nur noch alleine da stehen. Unser Zuhause wird nicht mehr sicher sein, denn ich weiß, dass sie es irgendwann auf mich – den letzten Widerstand – absehen wird.

Wie kann ich dich und das Baby nur beschützen?

Zwar habe ich nichts in diese Richtung gesehen, aber ich mache mir Sorgen darüber, ob sie nicht auch irgendwann auf dich und deine andere Seite aufmerksam wird. Diese Magierin kann Blutlinien lesen, sie wird also schnell herausfinden, dass du von einem mächtigen Kriegerclan abstammst, auch wenn dir das selbst nicht mehr bewusst ist.

Deine Vorfahren waren Jahrhunderte lang hervorragende Kämpfer und wenn ich dir so durchs Fell streichle und jeden stahlharten Muskel unter deiner Haut spüre, kann ich mir das nur allzu gut vorstellen, auch wenn ich dich seit dem Sandkasten nie etwas Bösartiges oder Zerstörerisches habe tun sehen.

Umso mehr Sorgen mache ich mir um dich. Du bist so friedfertig und mitfühlend. Wirst du auf dich selbst aufpassen können?
 

15. März

Alice ist tot.

Meine beste und treuste Freundin wurde gerade grausam ermordet in ihrer Wohnung aufgefunden. Die Polizei wird behaupten, jemand sei bei ihr eingebrochen und wäre von ihr ertappt worden, weshalb sie sterben musste.

Ich kenne die Wahrheit. Ich habe ihren Tod in meinen Träumen gesehen und bin schreiend aufgewacht.

So erschrocken habe ich dich noch nie gesehen. Du dachtest, mit dem Baby sei etwas nicht in Ordnung.

Es tut mir leid, ich musste dich belügen. Aber es war doch nur ein Alptraum! Wenn auch einer, der am Ende wahr geworden ist. Dennoch erklärt das nicht, weshalb ich so schrecklich weine, nicht wahr?

Morgen wirst du es in der Zeitung lesen, mich mit deinen goldenen Augen vorwurfsvoll anblicken und dann in die Arme nehmen, um mich zu trösten, egal, ob ich dich belogen habe oder nicht. Es wird dir nicht wichtig sein.

Aber ich weine nicht nur, wegen dem schmerzlichen Verlust, sondern weil ich weiß, dass mit der letzten Verbündeten, auch der Zirkel der weißen Heilerinnen gestorben ist.

Boudicca hat es geschafft.

Sie hat ihre Gegenwehr zerschmettert. Ich habe versagt, denn nun wird sie hinter mir und allem was mir lieb und teuer ist her sein. Wie kann ich uns nur beschützen?
 

20. März

Mein Glaube an etwas Höheres war in den letzten Tagen stark erschüttert worden, doch nun habe ich ihn wieder gefunden.

Meine Visionen sind deutlicher als je zuvor und sie scheinen mich führen zu wollen. Ich begreife zwar nicht, weshalb die Zukunft unserer Familie für mich verschlossen bleibt, doch zumindest wurde mir ein Weg gezeigt, wie ich dich und das Baby beschützen kann.

Gestern Nacht erschien mir im Traum eine wunderschöne Frau in weißen Leinengewändern. Sie kam mir seltsam vertraut vor, wie eine Verwandte oder gute Freundin. Sie trug ein wunderschönes Amulett um den Hals, das schwach golden schimmerte.

Kaum fiel mein Blick darauf, nahm die Frau meine Hand und legte es auf das Schmuckstück. Es war warm und hatte eine unglaublich beruhigende Ausstrahlung. In diesem Augenblick hatte ich zum ersten Mal seit langem das Gefühl, nichts und niemand könne uns Dreien etwas antun.

Als ich erwachte, war es mir, als hörte ich die seltsamen Worte: „The Dark Side of Paris“.

Du warst bereits bei der Arbeit, weshalb ich mich sofort an das Notebook gesetzt habe, um dieser Eingebung zu folgen. Ich war selbst überrascht, als ich fündig wurde.
 

Jetzt weißt du, dass ich nicht bei meiner Mutter, sondern in Paris war.

Ich kann gar nicht sagen, wie sehr mir diese Lüge leid tut, aber dafür habe ich es gefunden … das Amulett aus meiner Vision!

Ein Händler namens Crilin hat es mir förmlich aufgedrängt, dabei hatte ich noch nicht einmal danach gefragt.

Wenn ich so darüber nachdenke, war die ganze Reise merkwürdig. Meiner Intuition folgend, fand ich nur zu leicht den Eingang der Anderswelt. Niemand der finsteren Kreaturen, die dort unten wohnten, belästigte mich, meine Füße schienen mich wie magisch vor die Tür des Händlers zu tragen.

Ich bin mir sicher, das alles sollte so sein, sonst wäre ich niemals so weit gekommen. Egal was alles in den vergangenen Wochen und Monaten passiert ist, die lichte Seite scheint noch immer ihre Hand über mich zu halten. Darum bleib ganz dicht an meiner Seite, damit auch dir nichts geschieht, mein Geliebter.
 

24. April

Das Baby ist sehr kräftig und scheint ständig in Bewegung zu sein.

Die Tage werden wieder wärmer, vielleicht werde ich deshalb so schnell müde. Das rasche Wechseln des Wetters erschöpft mich. Aber wenigstens bist du an meiner Seite, verwöhnst mich von vorne bis hinten und leistest mir Gesellschaft.

Ich kann in deinen Augen sehen, wie glücklich du bist und seit du dieses Amulett von mir angenommen hast, fühle auch ich mich beruhigter.

Vielleicht ist es nur ein Schmuckstück, ohne irgendein besonderes Talent, aber für mich ist es inzwischen zu einem Talisman geworden. Solange ich es an dir sehe, habe ich das Gefühl, nichts könne dir geschehen.

Vielleicht habe ich dich deshalb gebeten, darauf aufzupassen. Damit du es nie wieder ablegst. Und die verzauberte Kette daran, wirst du mir hoffentlich auch irgendwann verzeihen. Aber zumindest kannst du selbst es abnehmen, wenn du es möchtest. Ich wollte nur sicher gehen, dass es niemand stehlen kann. Dafür seid ihr beide mir zu wertvoll…
 

30. April

Boudiccas Anhänger machen die Gegend unsicher, sind bisher aber noch nicht auf unser Grundstück gestoßen. Die Verschleierungszauber halten also stand, obwohl ich sie nur noch ganz alleine errichten konnte…

Ist es falsch, mich ab und zu einsam zu fühlen, obwohl du kaum von meiner Seite weichst?

Ich vermisse meine Freundinnen, den Zirkel und die stärkenden Rituale unter dem aufgehenden Vollmond. Selbst das Malen gibt mir nicht mehr den Elan zurück, wie es früher einmal gewesen war.

Dir ist das bereits aufgefallen, nicht wahr? Versuchst du mich deshalb immer wieder zum Malen zu bringen, in dem du dich mir samt Fell vor die Füße wirfst und dich posierend räkelst?

Dabei weißt du doch genau, dass ich nur mit der Komposition von Farben arbeite und dich niemals so perfekt auf die Leinwand bringen könnte, wie ich dich mit meinen Augen sehen kann. Niemand der meine Bilder ansieht, würde je Ähnlichkeit mit den Modellen erkennen. Aber solange man die Gefühle beim Betrachten begreifen kann, ist das für mich auch nicht wichtig.
 

14. Mai

Ich weiß jetzt, warum unsere gemeinsame Zukunft für mich stets verhüllt bleibt. Ich ahne es und bete doch jeden Tag dafür, dass es sich nicht bewahrheiten möge…
 

30. Mai

Die Verschleierungszauber verstärke ich nun jeden Tag und seit heute habe ich damit begonnen eine magische Barriere um die Mauern des Grundstückes zu ziehen. Das alles schwächt mich, doch mir bleibt keine andere Wahl.

Boudicca erlangt mehr und mehr an Macht. Nicht mehr lange und sie könnte auf dich aufmerksam werden. Das kann ich nicht zulassen…
 

12. Juni

Heute hast du mich gedrängt, zu einem Arzt zu gehen. Bisher hast du es immer akzeptiert, dass ich nicht auf die moderne Medizin vertraue, sondern nur auf meine eigenen Fähigkeiten, aber natürlich ist dir nicht entgangen, dass ich Gewicht verloren habe.

Dr. Tennessey ist nett und hat mich untersucht, obwohl ich ein einfacher Mensch bin. Normalerweise ist er für übernatürliche Wesen zuständig.

Er meinte, dass eine Schwangerschaft wie meine nicht sehr oft vorkommt und ich mich besonders schonen sollte.

Mit dem Baby ist aber alles in Ordnung. Es wächst rasch und entwickelt sich gut. Ich werde dir nicht sagen, dass es ein Mädchen wird. Sonst baust du am Ende das komplette Kinderzimmer neu um, nur weil es nicht extra auf ein Mädchen abgestimmt wurde.

Ich liebe das Zimmer und besuche es immer, wenn du einmal nicht da bist. Ich weiß, das Zimmer sollte eine Überraschung für mich werden, aber ich wollte nicht bis zur Geburt warten…
 

21. Juli

Dank dir liege ich nun meistens faul herum und lasse mich von Tyler bedienen. Ich protestiere zwar jedes Mal, aber nur, damit du dir keine Sorgen machst. Denn in Wahrheit kann ich nicht mehr genug Ruhe bekommen. Ich fühle mich geschwächt, erneuere aber immer noch einmal in der Woche die Schutzzauber.

Je näher der Tag von Valerias Geburt heran rückt, umso dringender habe ich das Gefühl, wie wichtig diese Zauber sein werden.

Gefällt er dir? Der Name unserer Tochter meine ich. Wie du wahrscheinlich schon selbst darauf gekommen bist, ist das der Name deiner Urgroßmutter. Sie muss nach Tylers Erzählungen eine bemerkenswerte Frau gewesen sein. Schon seltsam. Wie lange lebt ein Formwandler eigentlich?
 

29. August

Zum ersten Mal in meinem Leben bereue ich es tatsächlich nur ein Mensch zu sein. Hätte ich nur etwas von deiner Stärke, mein Geliebter, ich würde dir nicht solche Sorgen bereiten. Nun bin ich gezwungen, dich permanent über meinen Zustand anzulügen. Selbst Dr. Tennessey erkennt noch nicht, was ich inzwischen mit Gewissheit weiß…

Es tut mir leid, Ryon. So unendlich leid…
 

5. September

Heute Nacht besuchten mich in meinen Träumen die Frauen meiner Blutlinie. Sie wachten an meinem Bett und wenn ich die Augen schließe, kann ich ihre Anwesenheit immer noch spüren.

Es wird langsam Zeit. Ich weiß es.

Ich fühle mich sicher in deinen Armen. Dein Herzschlag ist wie ein Schlaflied für mich… Ich möchte noch etwas schlafen…
 

8. September

Ich bin froh, dass du meine Tränen nicht sehen kannst. Bin froh, dass du noch nicht den Schmerz fühlst, den ich nun nicht mehr länger leugnen kann. Aber er wird kommen, nicht wahr?

Ich bin deine Gefährtin, ich weiß, was das für dich bedeutet. Darum quält es mich nur noch mehr. Ich wünschte, ich könnte dir den kommenden Schmerz nehmen, denn du wirst mich vermissen. Das machst du mir jeden Tag, mit jedem Blick, jedem Lächeln, jedem Kuss und jeder zarten Geste klar. Ich bin dein Leben…

Warum werde ich nur dazu gezwungen, es dir zu entreißen? Warum tun die Götter dir das an? Wieso haben sie dich mit einer menschlichen Frau wie mir gestraft? Warum konntest du nicht jemand anderen lieben? Warum musste ausgerechnet ich es sein?

Dennoch kann ich es nicht bereuen, dir damals im Sandkasten die Plastikschaufel auf den Kopf gehauen zu haben. - Schade, dass du nicht sehen kannst, dass ich selbst jetzt noch darüber lachen kann…
 

14. September

Bin müde und schlafe eigentlich nur noch. Dr. Tennessey war kurz hier und hat dir geraten, mich ins Krankenhaus zu bringen. Gerade packst du meine Sachen ins Auto.

Ich werde sie nicht brauchen…
 

15. September

Die Wehen haben eingesetzt. Ich kann vor Schmerzen kaum noch denken, dabei ist es nicht mein Körper der schmerzt, sondern mein Herz.

Du bist gerade bei Dr. Tennessey, der dich über meinen schlechten Zustand aufklären wird.

Kaiserschnitt. Etwas anderes wird ihm nicht übrig bleiben, um Valeria zu retten.

Der Gedanke tröstet mich etwas, dass du nicht ganz alleine sein wirst. Er hat mich in den letzten Tagen aufrecht gehalten, ansonsten wäre ich schon längst am Boden zerstört gewesen. Meinen bevorstehenden Tod kann ich akzeptieren, aber dass du dadurch leiden wirst, ist für mich die pure Hölle…

Ich liebe dich. Wieso muss ich dir nur so weh tun?
 

Bitte Valeria, bitte pass auf deinen Vater auf. Sorge dafür, dass er anständig isst, dir immer eine Gutenachtgeschichte vorliest und schnell wieder glücklich wird. Ihr beide werdet für immer mein Leben bleiben, doch ihr zwei werdet ein neues Kapitel in eurem Leben aufschlagen. Sorgt für einander und denkt ab und zu an mich, aber lasst euch eurer Glück nicht nehmen. Das ist das Einzige, das ich mir für euch wünsche. Den Rest schafft ihr auch alleine. Ganz bestimmt.

Ich liebe euch, meine beiden Herzen.

Ich liebe euch...
 

Ein Tropfen fiel auf das letzte Wort, das ihre Handschrift trug und ließ die Tinte leicht verschwimmen. Kurz darauf folgte ein weiterer und danach noch zwei, die dazu beitrugen, diese letzte beschriebene Seite mit Flecken zu übersähen.

Das Buch fiel aus Ryons kraftlosen Händen. Verursachte auf dem dicken Teppich jedoch kaum ein Geräusch.

Er hätte es ohnehin nicht hören können.

Er war wie betäubt. Nein, mehr als das.

Er stand vollkommen unter Schock.

Erst als seine schmerzenden Lungen ihn dazu zwangen, das Atmen wieder aufzunehmen, begann er zu zittern. Zuerst leicht, dann stärker, bis sein ganzer Körper förmlich bebte und er sich langsam wieder spüren konnte.

Mit dem zurückkehrenden Körpergefühl kehrte auch der Rest erneut zurück.

Ryon kam taumelnd auf seine schwachen Beine, ehe er sich die Hand vor den Mund schlug und aus dem Raum stürmte.

Er kam ungefähr zwei Topfpflanzen weit, bis er sich heftig würgend übergab und sein Verstand anschließend die Notbremse zog. Er brach bewusstlos zusammen.
 

Paige kam sich ein wenig so vor, wie an dem Tag, als er das erste Mal in ihrem Leben aufgetaucht war.

Von dem Zeitpunkt an, als er sie mit seinen goldenen Augen beinahe so angeflammt hatte, wie sie ihn körperlich noch vor zwei Tagen, war sie still geworden.

Oft sah man es nicht, aber Paige war keinesfalls jemand, der immer über den Gefühlen anderer stand. Und dass hier gerade irgendetwas kurz vorm Explodieren stand, was viel zu lange gegoren hatte, machte nicht nur der Teller klar, dessen winzige Scherben bis zu ihren Füßen gespritzt waren.

Zwischen dem Heiß und Kalt, das Ryon seiner Umgebung aufzwang, wusste Paiges Körper nicht, ob er frieren oder schwitzen sollte. Daher entschied er sich für leichtes Zittern und ein ungutes Gefühl, das sie fast aus der Haut fahren ließ.

Wie damals folgte sie ihm so unauffällig wie möglich. Mit Argusaugen behielt sie seinen breiten Rücken im Blick, während sie ihm in einen Teil des Hauses folgte, den sie noch nicht gesehen hatte. Es musste nicht weit zur Bibliothek sein, aber das war nur eine Schätzung.

Sie sagte nichts, als er in dem Studio, in dem verhangene Bilder wie Reliquien an den Wänden lehnten, nach irgendetwas kramte.

Als er sie beinahe umzurennen drohte, tat sie einfach einen Schritt zur Seite und ließ ihn durch, um dann ordentlich die Tür hinter sich zu schließen, abzusperren und Ryon zu folgen. Im Gegensatz zu sonst bewegte er sich so laut, dass sie damit keine Mühe hatte.

Die Schätzung war also goldrichtig gewesen. Paige kam in der Bibliothek an, wo er gerade die Kiste geöffnet und sich mit einem kleinen, ledergebundenen Band auf das Sofa gesetzt hatte.

Sie solle sich an den Sachen in der Holztruhe bedienen, irgendwelche Hinweise suchen, von denen er sicher wusste, dass sie da waren.

Hielt er sie für so dumm?

Er wollte allein sein. Nicht gestört werden bei der Lektüre dieses Buches, das er in den Händen hielt, als könne es jeden Moment zu Staub zerfallen. Und er gleich mit.

Je länger sie dort stand – unbeweglich und wachsam – desto stärker wurde das leise Zittern in ihrem Körper.

Die Atmosphäre kühlte ab, um dann bloß noch stärker auf sie einzuschlagen. Am liebsten wäre sie aus dem Raum gegangen, aber irgendetwas hielt sie fest. Es fühlte sich so ähnlich an wie damals, als sie den Mann beobachtet hatte, der ein paar verschnürte Müllsäcke in eine Seitenstraße getragen hatte.

Viel zu groß, um irgendwelchen alten Hausrat zu enthalten. Etwas hatte sich darin bewegt. Schon damals hätte Paige sich umdrehen und gehen können. Genauso wie heute, hatte sie es auch damals nicht getan. Denn er hatte sie nicht gebeten zu gehen.

Sie sah das Buch fallen, hörte allerdings keinen Aufschlag. Die Tränen auf seinen Wangen, die ihm aus den goldenen Augen liefen, waren sehr viel wichtiger, als ein Buch aus einer alten Truhe.

Wie in Zeitlupe trat sie ihm wieder aus dem Weg, als er an ihr vorbei aus der Bibliothek stürmte.

Sie drehte sich um, noch bevor sie ihn würgen hörte und war in einem Sprint rechtzeitig bei ihm, um seinen Fall ein wenig abzufedern.

Sie stürzten beide, doch Paige hatte hoffentlich dafür gesorgt, dass er sich nicht wehtat.

Es war nicht leicht, ihn ein Stück auf ihr Bein zu ziehen, damit sie prüfen konnte, ob er atmete.

Mit ihrem Ärmel wischte sie ihm das Gesicht um den Mund herum sauber und hielt ihn dann einfach nur fest und wiegte ihn ein bisschen in ihren Armen.

Niemals hätte sie gedacht, dass dieser Mann so zerbrechlich aussehen könnte.
 

Sie war nicht lange so dort gesessen, bevor Tyler und Tennessey mit Ai im Schlepptau angestürmt kamen. Den dumpfen Aufschlag hatte man wohl durchs ganze Haus hallen hören.

Noch immer blieb Paige still, als man ihr Ryon abnahm und sie es zu dritt mit vereinten Kräften schafften ihn in sein Zimmer zu bringen. Bei dem geschäftigen Treiben, das seine Freunde veranstalteten, kam sie sich in kürzester Zeit überflüssig vor und schloss leise die Tür hinter sich, als sie sein Zimmer verließ.

Als sie hoch blickte und Ais Blick traf, zeichnete sich ein mitleidiges Lächeln auf ihrem Gesicht ab.

„Keine Ahnung, was passiert ist. Aber wenn ich raten müsste, würde ich sagen, dass ihm die Vergangenheit gerade sein Innerstes nach außen gekehrt hat.“, beantwortete sie die stumm gestellte Frage und ging dann mit Ai in ihr eigenes Zimmer, um die Spuren der Geschehnisse zumindest aus ihrem Oberteil zu waschen.

11. Kapitel

„Und wie geht’s unserem Komapatienten?“, wollte Tyler merkwürdig tonlos wissen, während er wie ein Besessener in einer Rührschüssel den Teig bearbeitete.

Tenessey kam gerade zur Tür herein gestapft, schnappte sich noch den Rest des Kaffees der vom Morgen übrig geblieben war und schenkte sich eine große Tasse davon ein.

„Er ist einmal kurz aufgewacht, hat mich aber nicht gesehen. Danach war er auch schon wieder weg.“, berichtete der Arzt und schaufelte sich massenhaft Zucker in den Kaffee.

„Ich habe die Gelegenheit auch gleich genützt, und ihm eine Aufbauspritze gegeben. Vermutlich wird er die nächsten Tage entweder nicht in der Lage sein, etwas zu essen oder er wird wieder eine Fastenkur einlegen.“

Der Arzt setzte sich an den Tisch und beobachtete Tyler dabei, wie dieser den Teig nun in eine runde Kuchenform gab, glatt strich und in das vorgeheizte Backrohr schob.

„Gibt’s was zu feiern?“

Tennessey begann seinen Freund mit fachmännischen Blick zu mustern, als wolle er sicher gehen, dass Tyler jetzt nicht überschnappte. Warum sollte er sonst Kuchen backen?

„Klar doch.“

Sein Freund drehte sich mit einem Lächeln um. Es sah echt aus und kein bisschen verrückt.

„Immerhin ist unser Mister Kellogs Frostie endlich einmal zum Leben erwacht.“

Die Anspielung auf besagte Cornflakesmarke war mehr als nur zweideutig. Ihr kleiner Insiderwitz, bei dem sie sich hüteten, ihn laut vor Ryon auszusprechen.

„Du weißt aber schon, dass er gerade in seinem Bett liegt und sich lieber in die Ohnmacht flüchtet, anstatt sich den Tatsachen zu stellen?“, wollte Tennessey zur Sicherheit noch einmal wissen. Er kam bei Tylers Gedankenwelt im Moment nicht ganz mit.

„Ja, das kennen wir doch oder? Ist ja schließlich nichts Neues. Aber weißt du, entweder er packt es dieses Mal, oder geht ganz unter. Da ich an Letzteres nicht glaube, bin ich zuversichtlich, dass er sich endlich mit dem Geschehenen auseinandersetzt. Ich meine, du hast ihn doch beim Frühstück gehört. Er hat den Dachboden die ‚Galerie‘ genannt. Wann hast du ihn dieses Wort das letzte Mal sagen hören? Ich glaube, da hattest du noch nicht einmal graue Strähnchen. Außerdem können die Mädels sicher auch eine ordentliche Kalorienbombe gebrauchen. Hoffentlich mag Ai Schokolade.“

Tylers Gesicht bekam einen leicht verträumten Ausdruck, als sein Blick in die Ferne schweifte.

„Sag mal, träum ich oder sitze ich hier in einem Haus bei dem die Naturgesetze außer Kraft gesetzt wurden?“

Ungläubig starrte er Tyler ins Gesicht, als wolle er ihm eine Antwort abringen. Dieser zuckte jedoch nur unschuldig mit den Schultern und machte sich fröhlich pfeifend daran, die Glasur für den Kuchen zuzubereiten.

Der Kerl war mehr als zweihundert Jahre alt und zeigte zum ersten Mal, seit Tennessey ihn kannte, so etwas wie Interesse am weiblichen Geschlecht. Noch dazu, einer werdenden Mutter.

Vielleicht lag er falsch, vielleicht drehten hier im Haus nicht langsam alle durch, sondern einfach nur er alleine.
 

Sie hatte sich beharrlich geweigert, einen Bericht über das abzugeben, was passiert war.

Völlig überflüssig sie danach zu fragen, wo sie doch selbst nicht die geringste Ahnung hatte, was genau vor sich gegangen war.

Es hatte etwas mit dem Buch, ihrer Suche nach dem Amulett und wohl mit dem Haus ansich zu tun. Sonst hätte Ryon beim Betreten der Galerie nicht schon gezittert wie Espenlaub.

Wer wusste schon, welche Geister hier noch alles herum spukten?

Mit noch nassem Ärmel machte sich Paige wieder auf den Weg in die Bibliothek. Auf dem Gang hatte Tyler trotz der ganzen Aufregung schon sauber gemacht und bloß der Raum, den sie beide vorhin so überstürmt verlassen hatten, zeugte von irgendeiner Aktivität.

Für einen Moment blieb sie bei der Tür stehen, wie eine Stunde zuvor und sah sich nur die Szenerie an.

Die Truhe auf dem Tisch, angefüllt mit Blättern, alten Papierrollen und sogar ein paar Bildern.

Das Buch auf dem Teppich vor dem Sofa.

Entschlossen drückte Paige die Tür zur Bibliothek zu und trat anschließend ein paar Schritte vor.

Mit einem tiefen Seufzer schaltete sie das Licht auf dem Schreibtisch an und war dann bereit anzufangen.
 

„Sie verhalten sich beide ungewöhnlich. Findet ihr nicht?“

Ai saß mit Tennessey und Tyler in der Küche.

Die beiden Männer sahen sie nur mit einem Ausdruck von Zustimmung an. Allerdings wussten sie mehr als die Asiatin selbst. Zumindest was Ryons Zustand anging, der sich seit seinem Zusammenbruch vor ein paar Tagen nicht einmal hatte blicken lassen.

Paige verhielt sich ähnlich. Bei ihr wusste Ai allerdings, dass es reine Sturheit war, die sie antrieb und an diesen Holzstuhl in der Bibliothek fesselte.

Bloß zum Frühstück und Abendessen kam sie heraus und wollte auch sonst bei ihren – wie sie es nannte – Recherchen nicht gestört werden. Erst mitten in der Nacht kam sie in das Gästezimmer, das sie mit Ai teilte und fiel völlig erledigt ins Bett, um einzuschlafen, bevor sie sich überhaupt umdrehen konnte.

Ai war keine neugierige Natur, aber bald würde sie vermutlich doch nachfragen müssen, wenn ihr keiner erklärte, was hier vor sich ging. Von den beiden Männern, die ihr hauptsächlich Gesellschaft leisteten, wenn sie sich nicht gerade um Ryon kümmerten, erwartete sie gar keine wirkliche Auskunft. Womöglich würde sie ein wenig mehr Geduld am Ende weiter bringen.
 

„Denkst du, wir sollten es den beiden sagen?“, fragte Tyler in die angenehme Stille hinein, während er sich noch einen Schluck von der bernsteinfarbenen Flüssigkeit aus einer Glaskaraffe in sein Glas einschenkte.

Tennessey drehte eine vorsichtige Runde auf Ryons Bürostuhl, während er an die Decke starrte und an seinem eigenen Glas nippte.

„Nein. Es sei denn, er lässt sich nach einer ganzen Woche immer noch nicht blicken. Dann allerdings würde ich mir anfangen, Sorgen zu machen. Solange ist er noch nie in den Wäldern herum gestreift.“

Ein zustimmendes Murmeln von der schwarzen Ledercouch, die unter Ryons Bürofenster stand und auf die Tyler sich nun nieder ließ. Jetzt wo sein Glas wieder aufgefüllt war.

„Hast du eine Ahnung, was ihn so umgehauen hat? Die Galerie alleine kann’s ja wohl nicht gewesen sein. Immerhin habe ich während seiner Abwesenheit die Sachen ordentlich unter gebracht, damit nichts kaputt geht.“

„Keine Ahnung. Er wird es uns auch bestimmt nicht sagen.“

Tennessey stoppte den drehenden Sessel mit den Füßen und stützte sich auf dem Schreibtisch mit seinen Ellenbogen ab.

„Ich hasse diese Warterei. Sag mal, Tyler. Du kennst ihn doch schon seit seiner Geburt. Glaubst du, er baumelt da draußen im Wald an einem Ast?“

„Nö.“

Die Antwort kam schnell und absolut sicher. Daran gab es nichts zu rütteln.

„Sein Vater war schon ein sturer Hund. Sein Großvater war nicht besser und von seinem Urgroßvater will ich gar nicht erst reden und dann auch noch diese Frauen! Nein, Ryon würde sich nicht einfach an den nächsten Baum hängen. Selbst wenn er es sich jeden Tag, zu jeder Stunde mehr als nur sehnlichst wünschen würde. Wenn er es damals nach dem Tod seiner eigenen Tochter nicht getan hat, dann wird er es jetzt erst recht nicht tun. Er wird es mir zwar nicht glauben, aber die Zeit heilt letztendlich alle Wunden. Auch wenn sie gewaltige Narben hinterlässt. Wirst sehen, spätestens in den nächsten Tagen wird er wieder auftauchen und dort weiter machen, wo er aufgehört hat.“

Tennessey schwieg dazu, hob aber skeptisch seine Augenbraue. Er war sich da nicht so sicher.
 

Im Verlauf der letzten vier Tage und halben Nächte hatte sich Paige fast durch die gesamten Dokumente in der Truhe gearbeitet.

Zuerst hatte sie wild drauf los gelesen, einfach mit der obersten Schriftrolle begonnen, die ihr in die Finger fiel. Nachdem diese unzusammenhängende Leserei aber nichts brachte, hatte sie es mit System versucht. Angefangen bei ein paar Zeitungsmeldungen, die sie immerhin nach Datum ordnen konnte. Dann Briefe, bei denen sich ebenfalls die Reihenfolge feststellen ließ, auch wenn hier die jeweiligen Gegenstücke fehlten. Kleine Notizzettel, ein paar davon mit E-mail- oder Internetadressen.

Heute am späten Nachmittag war sie bei den Schriftrollen angelangt, die sie mit großer Sorgfalt auf dem Tisch ausbreitete, um sie nicht zu beschädigen.

Im Moment stand sie, eine Tasse Kakao in der einen, eine Lupe in der anderen Hand vor einem großen Pergament und versuchte erst einmal die Überschrift zu entziffern. Latein war noch nie ihre große Stärke gewesen. Aber glücklicherweise war sie hier in einer gut ausgestatteten Bibliothek.

Vorsichtig stellte sie die Tasse in sicherer Entfernung zum Papier auf dem Tisch ab und ging auf ein Regal zu, wo sie einige Wörterbücher hatte stehen sehen. Erleichtert zog sie einen leicht angestaubten Band der Sprache heraus, die sie benötigte.

Ihr Rückweg führte sie am Fenster vorbei.

Das Buch lag noch immer dort. Auf dem Fußboden, wo es liegen geblieben war, nachdem Ryon es hatte fallen lassen.

Nachdem sie gesehen hatte, was es in ihm auslöste, hatte Paige sich nicht durchringen können, es wegzuräumen. Sie wollte auf keinen Fall riskieren, dass er sie verdächtigte, es gelesen zu haben. Das war seine persönliche Bundeslade und ging Paige nur etwas an, wenn er sie mit ihr zusammen öffnen wollte.
 

Stunden später, es musste bereits weit nach Mitternacht sein, stützte sie sich mit dem Ellenbogen auf dem polierten Tisch ab, da ihr bleischwerer Kopf sonst bestimmt auf das Pergament geknallt wäre.

Paige war unsäglich müde und ihre Augen brannten bei jedem winzigen Buchstaben, den sie zu entziffern versuchte, nur noch mehr. Aber es waren nur noch fünf Zeilen. Der Druck war auch nicht allzu schlecht und vergilbt. Bevor sie es nicht fertig gelesen hatte, wollte sie nicht ins Bett gehen. Dieser staubtrockene Text sollte sie am Morgen nicht erwarten, wenn sie sich mühevoll aus den Laken schälte.

Aber vielleicht konnte sie ihren Kopf nur ein bisschen auf ihrem Arm ausruhen. Bloß die Augen ein kurzen Moment schließen, damit sie frischer waren und nicht so brannten. Die Lupe war auch recht schwer, wie sie so in ihrer Hand lag...

Mit einem leisen 'Klonk' fiel die Lupe keine zwei Minuten später aus ihren Fingern auf das immer noch nicht fertig gelesene Dokument.
 

Als er lautlos die Bibliothek mit nackten Füßen betrat, war sein Haar taufeucht und kleine Blätter und Zweige hingen darin. Es war wild zerzaust, untermalte jedoch lediglich seine urige Ausstrahlung, die ihm eine gewisse Natürlichkeit verlieh.

Der Saum seiner Hose war zerrissen und der Stoff selbst mit Flecken übersät. Genauso wie sein zerschlissenes Hemd, das nur noch halbherzig zugeknöpft war.

Während er sich in dem Raum umsah, hüllte ein Duft aus Wald, feuchtem Moos und frischer Erde ihn ein. Vermischt mit seinem ganz eigenen Geruch.

Ryons Blick fiel auf das Buch, das halb unter dem kleinen Tisch noch immer so da lag, wie er es zurück gelassen hatte. Die Truhe war verschwunden.

Sie stand am Fuße des Schreibtischs, wo Flame ruhig zwischen Büchern und Pergamenten schlief, noch immer mit einer Lupe direkt neben ihrer Hand. Sie sah erschöpft aus.

Lautlos ging er zu dem kleinen Tisch und bückte sich. Das Leder fühlte sich kalt in seinen warmen Händen an, als er das Buch zuschlug und darauf legte.

Er betrachtete es nur einen Moment lang, ehe er sich zu der schlafenden Frau umwandte und näher heran kam.

Dem Anblick nach zu urteilen, war sie fast den Inhalt der Kiste durch. Darin war alles schön zusammen geräumt wieder abgelegt worden. Ganz anders, als er es vorgefunden hatte, nachdem er mit der Kiste in die Bibliothek geeilt war.

Ob sie etwas heraus gefunden hatte? Vielleicht aber auch nicht, dennoch war er ihr dankbar, für ihre Mühen.

Vorsichtig, um sie nicht zu wecken, ging Ryon neben ihr in die Hocke, um ihr schlafendes Gesicht besser betrachten zu können.

Sie sah friedlich aus, ganz anders, als er es an ihr kannte. Wagte er es deshalb sachte ihre Schulter zu berühren, ohne Verbrennungen zu fürchten?

Sie sollte nicht hier schlafen. Der Stuhl sah auch so schon unbequem genug aus. Aber sie wachte nicht auf.

„Flame?“, flüsterte er leise. Alles andere wäre ihm in dieser Stille wie ein Schrei vorgekommen.

Sie wachte nicht auf.

Kein Wunder, dass war nicht ihr Name. Den kannte er nicht. Trotzdem wollte er sie nicht die ganze Nacht hier so ungeschützt schlafen lassen. Also richtete er sich wieder auf, knipste die Schreibtischlampe aus und griff vorsichtig nach ihr.

Flame war um Vieles leichter, als er angenommen hatte. Was vermutlich daran lag, dass er bisher stets versucht hatte, sie mit Gewalt von sich herunter zu bekommen. Jetzt, wo er nicht mit ihr kämpfen musste, wurde er sich bewusst, wie viel kleiner diese Frau im Gegensatz zu ihm wirkte und trotzdem hatte sie ihm ganz schön eingeheizt. Erstaunlich.
 

Ai war noch wach, als er das Zimmer betrat.

Sie musste auf Flame gewartet haben, denn sie wirkte zunächst nicht überrascht, als jemand die Tür öffnete. Als sie jedoch ihn erblickte, mit ihrer Freundin in den Armen, schienen ihr die Worte zu fehlen.

Das machte nichts.

Ryon war nicht nach Reden zu Mute. Stattdessen legte er Flame in ihrem Bett ab, zog ihr die Decke bis zu den Schultern hoch und verließ so leise wie er gekommen war, wieder das Zimmer.

Es wurde Zeit, den Wald von seiner Haut zu waschen und wieder in die Zivilisation zurück zu kehren. Die Zeit des Stillstands musste ein Ende haben. Immerhin hatten sie etwas zu erledigen.
 

„Guten Morgen.“

Tyler ließ beinahe die Bratpfanne mit dem frisch gebratenen Speck fallen, als er zu Ryon herum fuhr. Auch Tennesseys Tasse klapperte auf dem Unterteller, den er soeben mit Kaffee überflutet hatte.

„Doc, ich glaube, ich halluziniere. Hast du irgendeine Spritze dagegen?“, verlangte Tyler mit großen Augen zu wissen.

„Hätte ich eine, würde ich sie mir selbst geben.“

Ryon ignorierte die offensichtliche Anspielung der Beiden und ging schnurstracks zur Kaffeemaschine, um sich selbst einen großen Becher davon einzuschenken. Frische Milch fand er in der Tür des Kühlschranks und wo Tennessey war, konnte der Zucker auch nicht mehr weit sein.

Als er sich mit dem Milchkaffee auf seinen Stammplatz an den Tisch gesetzt hatte, blickte er seine Freunde wieder an, die ihn völlig entgeistert anstarrten.

„Was?“, wollte er wissen.

„Ach gar nichts.“, murmelte Tyler.

„Ich dachte nur, du würdest dich gleich in eine asiatische Schönheit verwandeln, da ich garantiert träume.“

Er wandte sich wieder seiner Pfanne zu und legte ein paar Würstchen hinein.

Tennessey betrachtete Ryon dagegen auch weiterhin mit diesem ganz speziellen Blick, als würde er ihn gerade auf einem OP-Tisch aufschneiden und nachsehen, was sich unter der Oberfläche verbarg.

Viel Glück, beim Suchen, alter Mann.

„Ich bin wirklich enttäuscht.“, brummte der Arzt schließlich sichtlich verärgert.

„Und ich bin hungrig.“, gab Ryon ungerührt zurück.

Er wusste, worauf sein Freund hinaus wollte. Die pechschwarzen Augen, der emotionslose Gesichtsausdruck, der Blick als wäre überhaupt nichts passiert. Das alles war für ihn kein gutes Zeichen.

Ryon sah das anders. Im Augenblick konnte er wieder klar denken. Er fühlte nur noch einen dumpfen Schmerz in seiner Brust, den er ertragen konnte. Was er dafür aufgegeben hatte, war ihm nur zu deutlich bewusst, aber es wäre nicht das erste Mal, dass er seine andere Seite tief in sich vergraben hielt, um seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. Im Augenblick war ein nüchterner Verstand besser, als aufwühlende Gefühle, die ihn wahnsinnig machten. Immerhin musste er herausfinden, wie er das Amulett beschützen konnte und die ersten wichtigen Informationen hatte er dank Marlenes Buch gefunden…
 

Paige war einigermaßen verdutzt, als sie in ihrem Gästebett aufwachte. Anscheinend war sie wohl doch noch aufgestanden und hatte sich hierher geschleppt. Daran konnte sie sich gar nicht erinnern.

Selbst wenn sie das Pergament noch zu Ende gelesen hatte, fielen ihr jetzt, wo sie versuchte, sich zu erinnern, keine Inhalte mehr ein.

Mit einem Stöhnen kniff sie die Augen zu und schob sich das Laken bis zur Hüfte hinunter, bevor sie die Beine aus dem Bett schwang.

Der Holzboden war kühl unter ihren Sohlen, aber so früh am Morgen konnte es eigentlich nicht mehr sein. Paige fühlte sich einigermaßen ausgeruht und frisch. Und ihr stand der Sinn nach Kaffee und Frühstück. Ohne das schwarze Gebräu würde sie heute nicht ganz in die Gänge kommen. Die letzten paar Nächte hatten sie einfach zu sehr geschlaucht. Und zu allem Übel hatte sie noch nicht einmal besonders interessante Dinge herausfinden können. Mal von einer Mixtur abgesehen, die auf einem einzelnen Blatt verzeichnet gewesen war.

Gähnend schlappte sie zuerst ins Bad und dann in Richtung Küche, wo sie bereits ein paar Meter vor der Tür den Duft von Speck einfing.

Als sie gerade nach dem Knauf der Tür griff, blieb sie mitten in der Bewegung wie eingefroren stehen.

Unentschlossen, was sie tun sollte, sah sie auf ihre Hand, die immer noch den Knauf festhielt.

Sie hatte ganz deutlich seine Stimme gehört. Ryon war zurück oder aus den Tiefen des Hauses wieder aufgetaucht. Ai und ihr hatte man nicht gesagt, wohin oder ob er überhaupt verschwunden war. Paige hatte angenommen, dass er sich von dem Schock in seinem Zimmer erholte. Jedenfalls war er alles Andere als präsent gewesen. Im Gegensatz zu jetzt. Und genau das machte sie unsicher.

„Paige?“

Sie machte sogar einen Satz und ließ die Tür los, als Ai so unvermittelt neben ihr auftauchte und sie ansprach.

Ihr Herz raste von dem Adrenalinschock und sie hielt sich für zwei Sekunden die Hand vor die Brust und atmete tief durch.

„Was ist denn los?“

Es kam ihr so vor, als müsse sie flüstern. Vielleicht hatte man in der Küche sogar ihren Namen gehört. Ai hatte die Vorsicht wohl aufgegeben und sich nicht gerade leise verhalten.

„Ich... Ryon ist wieder da.“

Das dicke schwarze Haar fiel der Asiatin in einer Welle über die Schulter, als sie den Kopf ein wenig schräg legte.

„Aber das ist doch schön. Dann geht es ihm besser.“

Paige hätte sich die eigenen dunklen Haare raufen können.

„Klar ist das... schön.“

Gerade dieses Wort zu benutzen fiel ihr nicht gerade leicht. Es war gut, dass er wieder auf den Beinen war. Beruhigend in gewissem Sinne, aber ob gerade 'schön' es für Paige traf? Für Ai offensichtlich schon.

„Aber?“

„Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Hast du etwa kein Problem..?“

Paige zog ihre Freundin am Arm ein wenig von der Tür weg, damit man ihr Gespräch nicht doch noch mitbekam und versuchte sich dann mit hängendem Kopf und ausweichendem Blick zu erklären. Ihr Flüstern war zischend und eindringlich.

„Immerhin ist er vor meinen Augen zusammen gebrochen. Wie verhalte ich mich denn jetzt? Wir sind keine Freunde ... und ich glaube nicht mal, dass er vor denen gern so eine Schwäche zeigt.“

Gott, was war sie froh, dass er nicht wusste, dass sie ihm Erbrochenes vom Gesicht gewischt hatte.

Ais breites Lächeln war überraschend. Das war wahrscheinlich auch ihr Vorteil, der es möglich machte, dass sie Paige auf die Küchentür zu und in den Raum hinein schob. Bevor die Anderen sie bemerkten, raunte sie ihr noch ihre Antwort ins Ohr.

„Du hast das doch bis jetzt sehr gut gemacht.“

Völlig perplex über diese Aussage, blieb Paige neben der Tür stehen, bis jeder ihr einen guten Morgen gewünscht hatte und sie gar nicht anders konnte, als das zu erwidern.

Mit einem 'Guten Morgen' setzte sie sich auch an den Tisch, bloß um dann gleich wieder aufzustehen und sich eine halbe Tasse Kaffee einzugießen.

Sie mochte dieses Getränk nicht besonders und so aufgewühlt, wie sie sich durch Ryons Anwesenheit gerade fühlte, dürfte sie eigentlich auch das Koffein nicht brauchen.

Unter ihren langen, schön geschwungenen Wimpern hervor, sah Ai freundlich zum Mann am Kopf der Tafel hinüber und sprach ihn an, als wäre es das Einfachste der Welt.

„Schön, dass du wieder mit uns isst. Tyler hatte mit uns allein schon wieder Langeweile.“
 

Sie wirkte ausgeruht, als sie mit ihrer Freundin die Küche betrat. Zumindest sah Flame besser aus, als gestern noch, wo sie erschöpft geschlafen hatte. Auch wenn er so etwas wie Nervosität an ihr riechen konnte.

Es war auch nicht für ihn ganz leicht, ihr heute Morgen zu begegnen. Immerhin hatte er nicht vergessen, was das letzte Mal passiert war, als sie sich gesehen hatten. Allerdings flammten in ihm keine Gefühle hoch, die ihn noch mehr verunsichert hätten. Er hielt sie wohlweißlich unter Verschluss.

„Eigentlich glaube ich nicht, dass Tyler Langeweile hat, seit ihr zwei hier seit. Aber mir ging sein Essen auch schon ab.“

Er nickte seinem Freund zu und schob sich ein Stück Speck in den Mund. Heute würde er mehr essen müssen, als normal, da schon die paar Tage ausgereicht hatten, um ihn leicht zu schwächen und sein Gewicht zu reduzieren.

Das war noch ein Nachteil seiner Natur. Er brauchte ständig haufenweise Kalorien, um seinem schnellen Stoffwechsel gerecht zu werden. Wenn er die nicht hatte, baute sein Körper sofort ab und er verlor an Kraft und Energie. Deswegen beobachtete Tennessey jeden einzelnen seiner Bisse mit Argusaugen.

Da er heute keine Probleme hatte, sich an der Tischkonversation zu beteiligen, war die Atmosphäre auch halbwegs als annehmbar zu bezeichnen. Aber je näher das Ende des Frühstücks heran rückte, umso deutlicher lag etwas in der Luft.

Er musste mit Flame über ihre weitere Vorgehensweise sprechen und ihr erzählen, was er herausgefunden hatte, was wiederum keine leichte Sache sein würde. Doch solange er sich auf ihre Aufgabe konzentrierte und objektiv blieb, würde es schon irgendwie gehen.

Allerdings war da immer noch sein Nervenzusammenbruch direkt vor ihren Augen. Den wollte er ihr weder erklären, noch darüber sprechen. Aber wenn er dazu einfach schwieg, würde sie das so einfach hinnehmen?

Ryon hoffte es, denn letztendlich würde ihr ohnehin nichts anderes übrig bleiben. Im Augenblick konnte und wollte er nicht darüber sprechen. Was er nach dem Frühstück auch deutlich machte, nachdem sie schweigend den Weg zur Bibliothek hinter sich gebracht hatten.

„Mir ist aufgefallen, dass du schon fast mit der Kiste durch bist. Hast du etwas Nützliches herausfinden können?“

Seine Stimme blieb absolut neutral, während er sich vollkommen auf Flames Gesichtszüge konzentrierte, um nicht das kleine Buch auf dem Tisch anzusehen. Er bekam immer noch Herzklopfen, wenn er daran dachte, obwohl seine inneren Abwehrmauern dicker denn je waren und massiv stand hielten.
 

„Nein, nichts, was uns Nützlich sein könnte, befürchte ich. Ein paar Zeitungsausschnitte, über Todes- oder Unfälle. Allerdings liegen die schon über sieben Jahre zurück. In dem Dokument, das ich gestern durchgesehen habe, wird das Amulett beschrieben. Allerdings habe ich manche Abschnitte wegen der kryptischen Ausdrucksweise und der doch recht antiken Sprache nur ansatzweise verstanden. Hat es denn zwei sehr unterschiedliche Seiten?“

Sie war sich wirklich nicht sicher, wie sie die paar Andeutungen auf der Rolle verstehen sollte. Gestern nacht war sie ziemlich fertig gewesen und hatte sich kaum noch konzentrieren können.

So ähnlich wie jetzt, wo sie sich unter seinen schwarzen Augen wie beim Röntgen vorkam.

War das ein Wettkampf, wer es zuerst nicht mehr aushielt und wegsah?

Wie Paige bereits erwartet hatte, war Ryon mit keinem Wort auf seinen Zusammenbruch eingegangen. Also auch nicht im Bezug darauf, was ihn verursacht hatte. Aber es musste etwas mit dem Buch zu tun haben, das dort auf dem Tisch lag. Wie sollte sie die Frage, die sie stellen wollte, nur so vorsichtig formulieren, dass sie keine Angst davor haben musste, er würde als Reaktion darauf vor ihren Augen wieder zusammenklappen?

„Was ist mit dir? Irgendwas über das Amulett?“

Das schloss hoffentlich erkennbar aus, dass sie etwas über seinen Zustand wissen wollte. Er hätte es ihr sowieso nicht erzählt. So weit konnte sie ihn bestimmt einschätzen.
 

Von wem die Todes- und Unfallanzeigen auf den Zeitungsausschnitten waren, hatte er schon früher gewusst, jetzt allerdings verstand er auch den Zusammenhang.

Wie hatte er das nur nicht sehen können? Er war wirklich blind gewesen.

„Zwei unterschiedliche Seiten, sagst du?“

Ryon blickte an sich hinab, wo er das Amulett zwischen den obersten geöffneten Knopfreihen von seiner Sicht aus sehen konnte. Ihm wäre nie aufgefallen, dass es zwei unterschiedliche Seiten hätte. Auch wenn er nicht ganz verstand, auf was für Seiten sich Flames Frage eigentlich genau bezog.

Nachdenklich lehnte er sich an die Kante des Schreibtischs und griff in den Ausschnitt seines Hemds.

Zum ersten Mal hatte er keine Angst davor, es in die Hand zu nehmen UND anzusehen. Er fühlte kaum etwas dabei. Was jedoch mehr war, als eigentlich sein sollte, doch im Augenblick ignorierte er diese Tatsache.

„Das Amulett wurde in einer Anderswelt unter der Stadt Paris erworben. Allerdings habe ich noch keinen Hinweis darauf gefunden, was so besonders daran sein soll.“ Da Ryon in Flame inzwischen weniger eine Diebin als eine helfende Hand sah und sie daher gedanklich auch nicht mehr als solche bezeichnete, hielt er das Schmuckstück vor ihr hoch, damit sie es besser sehen konnte. Sie würde es ihm ohnehin nicht mehr abnehmen. Darauf vertraute er inzwischen, selbst wenn er sich darin irren sollte. Es würde ihr ohnehin nicht gelingen, auch ohne, dass er Gewalt anwandte.

„Außerdem kenne ich nun den Namen deiner ehemaligen Auftraggeberin. Sie heißt Boudicca.“

Damit ließ er wohl eine Bombe hochgehen, ohne dass er sein neu erworbenes Wissen erklärte. Aber damit konnte er sich jetzt nicht aufhalten.

Flame den ganzen Zusammenhang zu erklären, wäre zu viel, als das er es hätte bewältigen können. Es reichte, dass er sich bei dem Namen absolut sicher war. Marlene hatte hellseherische Fähigkeiten besessen. Sie würde sich in solchen Dingen niemals irren, denn bis zum Schluss hatten sich ihre Visionen bewahrheitet, auch wenn sie manches nicht hatte kommen sehen…
 

Das Amulett baumelte vor Paiges Gesicht, während sie nicht wagte, näher als einen halben Meter an Ryon heran zu gehen und sich ein wenig vorlehnte, um es eingehend zu betrachten. Es war fein gearbeitet und wirklich hübsch, wenn man auf solch verschnörkelten, alten Schmuck stand.

„Du scheinst Recht zu haben, ich kann auch keine auffällige zweite Seite erkennen. Vielleicht hieß es auch etwas Anderes. So sicher bin ich mir da nicht.“

Und gleich anschließend an diese Unsicherheit schmiss er ihr Informationen an den Kopf, der ihre gesamte Arbeit der letzten Tage und Nächte scheinbar unwichtig machten.

Er wusste also nicht nur, wo das Amulett herkam, sondern auch, wer es wollte. Wieder dachte Paige sofort daran, was sie dann überhaupt noch hier machte. Mal davon abgesehen, dass sie vor Neugier geradezu brannte.

Die ganze Kramerei in der Schatzkiste und den alten Dokumenten, hatte sie in die Sache weiter hinein gezogen, als es bestimmt so manch Anderes geschafft hätte. Ihre Schwäche für Bücher hatte sich mit ihrer Liebe für Rätsel gepaart. Und dass sie auch noch ein paar Bösewichten einen Strich durch die Rechnung machen konnte, war bloß das bisschen Zuckerguss auf dem Muffin.

Sie zog sich zurück und schwang sich auf den Tisch, direkt neben Ryon, der immer noch an der Kante lehnte. Mit den Ellenbogen auf die Knie gestützt, blickte sie versonnen auf ihre Handfläche und ihre Finger.

Während sie sprach, begannen Schuppen sie zu überwachsen und ihre Nägel, mit denen sie eine winzige Flamme von einem Finger zum nächsten und dann wieder im Kreis über ihre Handfläche zurück zum Daumen hüpfen ließ, wurden schwarz und scharf.

„Boudicca... Hört sich schon nicht sonderlich sympathisch an, finde ich. Und die ist die verträumte Oberhexe dieses bösen Ordens?“

Die Flamme ruhte schwebend in ihrer Handfläche, als sie zu Ryon aufsah.

„Wir werden sie aber doch nicht in Paris finden, oder? Sie ist irgendwo hier. Ich denke nicht, dass sie sich so weit von dem Amulett entfernen würde.“

Sie starrte wieder in die Flamme in ihrer Hand und ließ sie abwechselnd anwachsen und schrumpfen.

„Was willst du als Nächstes tun?“
 

Nachdem sich Flame neben ihn gesetzt hatte, ließ er das Amulett wieder in seinem Halsausschnitt verschwinden und starrte aus dem Fenster, obwohl es am anderen Ende des Raumes lag. Allerdings stellten sich sofort sämtliche Härchen in seinem Nacken und den Armen auf, als Flame bezeichnenderweise eine Flamme in ihrer Handfläche entstehen ließ. Wieder hatten sich ihre Hände zu dem verwandelt, das seinem Gesicht ganz schön zu gesetzt hatte.

Wäre Ryon emotional nicht gerade so hohl wie ein Kürbis zu Halloween, er hätte es nicht geschafft, neben ihr sitzen zu bleiben.

Ob sie sich darüber bewusst war oder nicht, der Schmerz, den sie ihm zugefügt hatte, hatte sich tief in sein Gedächtnis eingebrannt und auch wenn ihm im Augenblick von ihr keine Gefahr drohte, so würde er es dennoch nicht vergessen können.

Sie war gefährlich und vor wenigen Tagen hatte sie ihm noch das Fleisch von den Rippen brennen wollen. Egal was inzwischen passiert war, das konnte er nicht vergessen und er sollte es vielleicht auch nicht.

Sie war noch immer eine Fremde, immerhin wusste er noch nicht einmal ihren richtigen Namen. Aber sie war nun auch seine Partnerin, wenn es darum ging, diese ganzen Rätsel aufzuklären. Denn offenbar machte sie nicht den Eindruck, als wäre für sie die Sache bereits erledigt.

„Ich denke auch nicht, dass sie den Hauptsitz ihres Ordens verlassen würde, aber ihre Spitzel und Schergen ganz bestimmt.“

Ryons Blick zuckte noch einmal kurz zu Flames Händen hinüber, ehe er sich von der Tischkante löste und zum Fenster am anderen Ende des Raumes ging. Sein Blick fiel auf den See.

„Wir wissen also, dass der letzte Besitzer des Amuletts in Paris lebt oder gelebt hat. Wenn wir also mehr darüber heraus finden wollen, müssen wir uns wohl auf die Suche nach diesem Kerl machen. Ich nehme nicht an, dass dir der Name Crilin etwas sagt?“
 

„Nein, sagt mir leider nichts.“

Paige schloss ihre Hand und erstickte damit die kleine Flamme. Mit leerem Blick sah sie dabei zu, wie sie sich wieder in ganz normale, menschliche Hände verwandelten.

„Wahrscheinlich ist es zu erwarten, dass man Leute nach uns suchen lässt. Immerhin hat man meine Leiche nicht gefunden...“

Jetzt sprang sie auch vom Tisch und rollte vorsichtig das Pergament zusammen. Sie legte es in die Truhe zu den anderen Dokumenten und sprach dann ruhig weiter.

„Glaubst du, dass sie dort noch nicht gesucht haben? Ich meine in Paris. Vielleicht ist dieser Crilin gar nicht mehr am Leben und wir würden die Reise völlig umsonst auf uns nehmen.“

Dabei würde ihr so eine Reise sehr gefallen. Es hätte zwar nicht unbedingt mit diesem emotional instabilen Eisklotz sein müssen, aber Fakt war nunmal, dass sie aus der Stadt noch nie wirklich heraus gekommen war. Kaum aus der 'World Underneath', wenn man ehrlich war.

„Und da ist noch ein Problem...“

Er hatte sich wieder zu ihr umgedreht und was sie als nächstes sagen würde, war ihr so unangenehm, dass sie von einem Fuß auf den anderen trat. Sie fühlte sich so, als hätte sie Ryon sowieso schon völlig überstrapaziert.

„Ich werde zu dem Ganzen finanziell auf keinen Fall was beisteuern können.“

In ihrem Kopf verfluchte sie sich, dass sie aus Scham rot wurde. Sie konnte nichts dafür, dass sie arm war. Aber es erinnerte sie wieder daran, dass Ryon sie diesbezüglich für einen Nichtsnutz hielt.

Mit aller Kraft versuchte sie seinem Blick aus den matten schwarzen Augen so lange wie möglich Stand zu halten.

Wenn er sie dafür verurteilte, dann würde er eben allein gehen müssen.
 

„Um ehrlich zu sein, mache ich mir weniger Gedanken darüber, ob sie dort bereits gesucht hatten. Immerhin wissen sie, dass das Amulett hier ist und ich es nun besitze. Selbst wenn sie bei ihrer Suche diesen Crilin zur Strecke gebracht haben, wir sollten es auf einen Versuch ankommen lassen, ob nicht doch irgendeine Spur in dieser Stadt zu finden ist. Wenn auch nur ein kleiner Hinweis. Wir sollten also auf alle Fälle dorthin reisen.“

Ryon wurde nachdenklich, während er in Gedanken schon die Reisevorbereitungen traf. Flame holte ihn jedoch sofort wieder aus der Grübelei zurück, als sie ein weiteres Problem ansprach. Welches?

Er drehte sich zu ihr um, damit er ihr in die Augen sehen konnte, bemerkte so aber auch, dass es ihr offensichtlich unangenehm war, darüber zu sprechen. Ihre Körperhaltung drückte eindeutig Unbehagen aus, genauso wie es ihre Witterung tat.

Als sie endlich mit der Sprache heraus rückte, hätte er vor Erleichterung aufgelacht, wenn er denn Lachen würde, so aber sah er sie schweigend an.

Wieso sollte das für sie ein Problem sein? Niemals hätte er von ihr verlangt, für ihre Reisekosten aufzukommen. Selbst wenn sie mehr Geld besessen hätte, um mit Ai an einem anderen Ort zu leben.

„Das hätte ich auch nicht von dir verlangt.“, durchbrach er schließlich das unangenehme Schweigen. „Selbst wenn du für deine Lebenserhaltungskosten nicht schwer arbeiten müsstest.“

Er drehte sich wieder zum Fenster. Zwar mochte er es nicht zeigen, aber ihm selbst war das Thema auch nicht angenehm. Immerhin konnte er nicht nachvollziehen, wie es für jemanden sein musste, tagtäglich ums Überleben zu kämpfen.

Ryon war in eine reiche und wohlhabende Welt hineingeboren und nur seinen gutherzigen Eltern war es zu verdanken, dass ihm dieser Umstand niemals zu Kopf gestiegen war. Er bildete sich keinesfalls etwas auf den Reichtum seiner Familie ein, denn er hatte ihn sich nicht selbst verdient, obwohl er seit Beendigung seines Studiums gearbeitet hatte.

„Du wirst einen Reisepass brauchen.“, wechselte er schließlich das Thema.

„Wenn du mir ein paar fiktive Daten über dich aufschreibst, kann ich dir bis morgen einen besorgen. Außerdem wirst du frische Kleidung brauchen…“

Wobei sie dann doch wieder beim Thema wären. Würde sie von ihm überhaupt etwas annehmen?
 

Wie zu erwarten, tat Ryon auch diese Bedenken mit vollkommener Emotionslosigkeit ab. Er sah sie mit seinen schräg geformten Augen eine Weile an, bevor er ihr eröffnete, dass er gar nicht wollte, dass Paige irgendetwas zu der Reise beisteuerte.

Ihr kam der Gedanke, dass der schweigsame Riese mit diesem einsamen Schloss mitten im Wald vielleicht ganz dankbar für etwas Gesellschaft war. Auch wenn es skuril wirkte, dass er gerade die Frau mit in die 'Stadt der Liebe' nahm, die noch vor wenigen Tagen versucht hatte, ihn zu braten. Aber das war aus guten, verständlichen Gründen geschehen und irgendwann würde er ihr das vermutlich sogar verzeihen können.

Sie würden gezwungen sein relativ viel Zeit miteinander zu verbringen. Mit einem schiefen und beinahe zweifelnden Gesichtsausdruck folgte Paige mit den Augen den Schemen seiner Silhouette. Ob sie irgendwann sogar so etwas wie Freunde sein würden?

Immerhin waren sie von Feinden schonmal zu Partnern aufgestiegen. Ein großer Schritt, den sie da geschafft hatten. Wenn sie es recht bedachte, konnte sich Paige selbst im Nachhinein nicht erklären, wie sie das tatsächlich hinbekommen hatten. Zumal es ihr selbst so vorkam, als wäre es mühelos gewesen. Anders als es normalerweise vor sich ging, wenn man sich mit jemandem engagierte.

Jetzt, wo er von ihr verlangte, sich eine neue Identität zurecht zu legen, kam es ihr noch lächerlicher vor, mit ihrem richtigen Namen länger hinterm Berg zu halten.

Sie ging zu ihm hinüber und lehnte mit verschränkten Armen gegen ein Regal direkt neben dem Fenster. So standen sie nebeneinander und sahen auf den See hinaus, an dessen Ufer sie ihren Deal geschlossen hatten.

Die Stille war weder unangenehm noch belastend. Sie schien die beiden sogar auf eine nicht ganz nachvollziehbare Weise zu verbinden. Trotzdem war es nicht schwer, sich erneut zu äußern.

„Ich bin deiner Meinung. Paris ist das Beste, was wir haben. Sollte dieser Crilin nicht mehr aufzufinden sein, weiß vielleicht jemand in der Unterwelt von ihm.“

Mit einem Lächeln, das den Schelm hinter ihren Augen kein Stück verbergen wollte, sah sie zu Ryon hoch.

„Du bist doch gut darin, Leute auszuquetschen, um zu finden, wen du suchst.“

Sie selbst und vor allem ihre Wohnung nach dem kurzen, aber heftigen Zusammenstoß an der Spalte in der Schachtmauer aufzufinden, hatte Geschick erfordert. Oder große Überredungskünste. Was bei Ryon schätzungsweise nicht unbedingt mit rücksichtsvoller Konversation einherging. Sie mochte gar nicht wissen, was derjenige für Ängste ausgestanden hatte, der letztendlich mit ihrem Wohnort herausgerückt war.

„Daher nehme ich auch an, dass du meinen Decknamen kennst.“

Mit den nun wieder weichen Fingerspitzen tippte sie sich in einer überlegenden Geste an die Unterlippe. Der Name 'Fe' war ja nicht absolut aus der Luft gegriffen. Dann konnte sie ihn auch weiter benutzen. In abgewandelter Form natürlich.

„Wie gefällt dir 'Flora Burke'? Ich finde, das passt zu mir.“

Wieder sah sie in den Garten hinaus und strickte weiter an der Identität für den illegalen Pass. Dass Ryon so schnell daran kommen konnte, wunderte Paige nicht im Geringsten. Mit Geld konnte man nunmal so gut wie alles kaufen.

Seine Haltung änderte sich in einer Weise, die sie erneut aufblicken und seinen Augen begegnen ließ.

Sie sahen wirklich fast matt aus. Groß und schwarz. Absolut nichtssagend, selbst wenn man intensiv darin zu lesen versuchte. Ganz anders, als der golden flammende Blick, den er vor seinem Zusammenbruch durch eben diesen Raum geworfen hatte.

Da war wohl nach dem Lesen dieser Lektüre etwas aus ihm heraus gebrochen, das er sonst nicht gerne zeigte.

Paige hätte es gern einmal gesehen. Erlebt, wie Ryon sich verhielt, wenn er auch nur irgendein Gefühl nach außen dringen ließ. Ok, vielleicht sollte es zu Anfang wenn möglich eine positive Empfindung sein, damit er sich nicht wieder übergeben musste und dann ohnmächtig wurde.

Die Zeit, die sie ihm in die Augen gestarrt hatte, erschien ihr inzwischen so lang, dass sie die Stille wieder mit etwas unterbrechen wollte. Bevor sich doch noch eine peinliche Situation entwickelte.

„Paige.“

Es kam keine Reaktion, da er den Sprung gar nicht nachvollziehen konnte. Selbst Verwirrung war an seinen Zügen nicht abzulesen. Schade; es hätte das Lächeln, das sich in ihre Gesicht schlich, noch breiter machen können.

„Mein Name. Ich heiße Paige.“

Da wieder keine körperliche Reaktion kommen würde, drehte sie sich zurück zum Fenster.

„Meine Kleidergröße werde ich dir aber nicht verraten. Für Paris kaufe ich lieber selbst ein, wenn es dir Recht ist.“
 

Sie ließ auf eine mögliche Reaktion warten, was seine Worte betraf. Weshalb er sich vermutlich Gedanken darüber machen sollte, ob er sich mit Flame in den nächsten Minuten wieder auf einem verbalen Kriegszug befinden würde. Worauf er im Augenblick eigentlich nicht wirklich Lust hatte. Ryon war erschöpft. Auf eine nicht körperliche Art.

Flame kam zu ihm herüber und lehnte sich locker mit verschränkten Armen an ein Bücherregal, während sie seinem Blick folgte und ebenfalls den See betrachtete. Sie schwieg noch immer.

Wenn man sie beide so sah, könnte man wohl nicht wirklich glauben, dass sie sich vor ein paar Tagen höchstens so nahegekommen waren, um sich gegenseitig zu verletzen. Im Augenblick herrschte aber deutlicher Frieden zwischen ihnen.

Er konnte auch keinerlei Abwehr gegen diese Frau mehr spüren, auch wenn er sich wohl noch lange zweimal überlegen würde, sie anzufassen. Außer wenn sie friedlich schlief. Dann fielen alle Bedenken von ihm ab, aber das war nichts Ungewöhnliches. Vermutlich war er im Schlaf ebenfalls ganz anders, als im Wachzustand.

Ihre Augen lächelten mit ihrem Mund um die Wette, als er ihr einen kurzen Seitenblick zuwarf.

Fand sie es tatsächlich amüsant, wie er zu seinen Informationen kam? Offensichtlich, denn sonst würde sie nicht so aussehen. Dabei hatte sie in seiner Gegenwart noch nicht wirklich viel Grund zum Lächeln gehabt. Es war ein merkwürdiges Gefühl, dass ausgerechnet er es ausgelöst haben sollte.. Er war nicht der Mensch, der andere zum Lächeln brachte. Nicht mehr…

Ob er ihren Decknamen kannte? Natürlich. Fe.

Wieso man sie allerdings so nannte, war ihm immer noch ein Rätsel. Diese Frau sah alles andere als wie eine Fee aus. Genauso wenig wie eine ‚Flora Burke‘, wenn er schon einmal dabei war.

Mit ihrer gesunden Hautfarbe, dem schwarzen Haar, den dunklen Augen, der für eine Frau schon relativ gut gewachsenen Größe und nicht zuletzt ihren Fähigkeiten, war sie alles andere als feenhaft, oder?

Ryon sah wieder zu ihr, um sie mit völlig neuen Augen zu mustern. Ja, ihr Haar war glänzend schwarz und unglaublich glatt. Bestimmt gab es ein seidig weiches Gefühl, wenn man mit den Fingern hindurch fuhr.

Ihre Hautfarbe glich der Farbe von Milchkaffee, gerade da man es nicht wirklich als Sonnenbräune bezeichnen konnte. Es war eher ihre natürliche Hautfarbe, die ihr Aussehen für andere sicher interessant machte.

Wenn sie bleich wie die Wand gewesen wäre, hätte sie vermutlich wie eine Kreatur der Nacht ausgesehen.

Ihre Gesichtszüge waren fein, konnten aber auch energisch sein und so manchen das Fürchten lehren, aber andererseits, wenn sie lächelte, wirkte es herzlich und freundlich. Fast erhielt man den Eindruck von Offenheit, obwohl sie für ihn dadurch auch nicht weniger ein Rätsel blieb.

Doch dann waren da noch ihre Augen. Von einem dunklen, erdigen Ton. Im Gegensatz zu seinem schwarzen, kalten und leeren Blick, war der ihre warm und trotz der Geheimnisse doch so voller Leben. Außerdem glitzerten darin goldene Sprenkel, die man aber nur erkennen konnte, wenn man ihr ganz nahe kam, oder so wie er, ein ausgezeichnetes Sehvermögen hatte.

„Paige.“

Dieses Wort riss ihn aus seinen Gedanken und zugleich von ihrem Anblick los. Was hatte sie gerade gesagt?

Verwirrt versuchte er ihr zu folgen, weshalb er auch froh sein konnte, dass sie ihm eine genauere Erklärung zu dem Wort abgab.

Ihr Name war also Paige?

Wie merkwürdig, dass er sich erst an diesen Namen gewöhnen musste. Als würde man versuchen, neue Schuhe anzuziehen, die sich erst als bequem erweisen würden, wenn man lange genug darin herumgelaufen war. Immerhin hatte er sie nun schon eine ganze Weile in Gedanken ‚Flame‘ genannt.

Ryon brauchte noch einen Moment, bis er sich wieder auf das Gespräch von vorhin konzentrieren konnte.

„Für den Pass muss ich die auch nicht wissen. Aber ein Geburtsdatum wäre sehr hilfreich.“

Außerdem hatte er trotz ihrer Einwände nicht vor, sie alleine in die Stadt fahren zu lassen. Da er ohnehin noch einiges erledigen musste, konnten sie den Weg auch ruhig zusammen antreten.

„Wir können noch heute in die Stadt fahren und alles nötige besorgen.“

Er musste zudem auch noch in dem Hotel auschecken, wo er seit dem Verlassen seiner Wohnung angeblich wohnte. Dort hatte er auch noch ein paar neue Kleider von seinem Schneider liegen und das Buch aus der Bibliothek, wo er geglaubt hatte, etwas über das Amulett gefunden zu haben. Inzwischen war er sich jedoch sicher, dass es sich hierbei um ein anderes Schmuckstück handelte. Zudem würde auch Ai ein paar neue Kleider brauchen.

12. Kapitel

„Das gleiche Modell hätten wir auch in Dunkelblau. Aber ich finde, Sie können das Gold durchaus tragen. Fühlen Sie sich denn wohl darin?“

Mal davon abgesehen, dass es nunmal ein goldenes Kostüm war? Nein. Paige kam sich in der langen, eng geschnittenen Jacke und dem Rock, der sich um ihre Knie wickelte, wie eingeschnürt vor.

Nicht dass dieses Designerding ihr zu eng gewesen wäre, aber sie mochte es nunmal, sich frei bewegen zu können. Paris hin oder her. Außerdem würde sie bei den Begleitumständen dort sicher einmal klettern oder rennen müssen. Das konnte sie in dieser goldenen Unmöglichkeit total vergessen. Und das war bis jetzt nicht das Schlimmste, das sie angezogen hatte.

Die Dame in dem Laden, der so aussah wie ein Klamottenmuseum – mit seinen Glasregalen und Würfeln, auf denen nur hin und wieder ein einzelnes Kleidungsstück lag – hielt es, nachdem Ryon mit irgendeiner Platinkarte gewedelt hatte, wohl für ihre Pflicht Paige irgendetwas 'Chickes' anzudrehen.

„Ehm... Um ehrlich zu sein, ist es mir ein wenig zu...“ Einengend, stocksteif, hässlich. „Konservativ.“

Die Verkäuferin sah so aus, als hätte sie gerade in eine Zitrone gebissen.

„Haben Sie nicht etwas Schlichtes? Vielleicht in Schwarz und der Rock etwas weiter geschnitten?“ Bitte.

Wie hatte Ryon sie nur hier allein lassen können? Bei dieser Krähe, die doch eigentlich auf sein Geld aus war und nicht auf Paige. Sie wäre viel lieber in einen der In-Läden gegangen, die am Ende der Hauptstraße lagen. Vielleicht ein paar neue T-Shirts, Karoröcke und Jeans.

Aber immer wieder ermahnte sie sich. Es ging nach Paris. Also ging sie mit einem unterdrückten Seufzen in die Kabine zurück, zog den Vorhang zu und knöpfte Jacke und Bluse auf, um schnell aus diesem strammen Kostüm heraus zu kommen.

Wie jedes Mal erschrak sie, als völlig ohne Vorwarnung der Vorhang zur Seite gerissen wurde und jeder, der es wollte am Körper der Verkäuferin vorbei auf Paige in Unterwäsche starren konnte. Nicht, dass sonderlich viel Betrieb geherrscht hätte in diesem Laden.

„Probieren Sie vielleicht mal das hier an. Der Rock ist noch von der letzten Saison, aber ich denke, er könnte dem entsprechen, was Sie ... sich vorstellen.“

Zu dem Rock, den sich Paige anscheinend nach Meinung der Dame 'vorstellte', bekam sie ein hellblaues Oberteil. Schulterfrei und aus fließendem Stoff. Ja, mit hohen schwarzen Stiefeln und einem Lederband konnte sie sich das vorstellen.

„Haben Sie auch schwarze Stiefel? Ich finde, das könnte gut zum Rock passen?“

Denn der sah wirklich nicht schlecht aus. Schräg geschnitten und in mehreren Schichten über einander gelegt. Sogar an den Enden mit ausgefransten Schlaufen versehen.

Mit einem Grinsen überlegte sich Paige, dass sie ihn schon allein deswegen gern genommen hätte, weil die Verkäuferin dann über sie den Kopf schütteln konnte.

Unter dem Vorhang schob eine Hand mit blutroten Fingernägeln ein Paar weiche, schwarze Lederstiefel hindurch.

Paige blieb beinahe das Herz stehen, als sie das Preisetikett sah. Aber sie wollte es ja auch nur einmal zusammen anprobieren.

Den Blick noch auf ihren Bauch gerichtet, wo sie das Oberteil zurecht zupfte, schob sie den Vorhang zur Seite und trat aus der Kabine.
 

Da Ryon schon seit Jahren keine Kleidung für sich in einem Geschäft kaufte, hatte er auch nicht wirklich eine Ahnung davon, wo Flame … Paige etwas Passendes finden könnte. Zumindest etwas, das für mögliche Fälle in Paris gefordert sein könnte. Man konnte immerhin nie genau wissen, ob man in einer dreckigen Gosse herumschnüffeln oder zwischen Champagner, Kaviar und dem unerträglichen Geschwafel von Snobs seine Tarnung aufrecht erhalten musste. Weshalb Ryon sie auch in diesen Laden geschickt hatte, während er sich auf den Weg machte, um aus dem Hotel aus zu checken.

Dem Hotelpersonal war es natürlich egal gewesen, dass er schon mehrere Tage nicht mehr sein Zimmer aufgesucht hatte, aber er hätte es ohnehin nicht anders erwartet.

Nachdem er seine Sachen im Kofferraum seines Wagens verstaut hatte, erledigte er die nötigen Anrufe, die dafür sorgen sollten, dass ihrer Reise nach Paris nichts im Wege stand.

Zunächst einmal buchte er ihnen einen Privatjet. Alles andere wäre ihm zu unsicher gewesen. Bei mehreren tausend Metern über dem Erdboden, wollte er garantiert kein Risiko eingehen.

Als er auch die Daten für den Reisepass durchgegeben hatte, machte er sich wieder auf den Weg zu Paige. Wenn sie fertig war, brauchten sie noch ein Foto von ihr, um den Pass zu vervollständigen.

Gerade als er wieder die Boutique betrat und sich nach seiner Begleiterin umsah, wurde der Vorhang der einzigen besetzten Kabine beiseite geschoben und Paige kam heraus.

Ryons Blick glitt zu den auffallend schwarzen Stiefel, wanderte über den hervorragend geschnittenen Rock hinweg nach oben, über eine Bluse, die genau wusste, wo sie sich anschmiegen musste und woran sie sich festhalten konnte, bis er irgendwann bei Paiges Gesicht ankam.

Dieser Frau würden mit ihrem Teint bestimmt alle Farben passen, die einen mal mehr, die anderen weniger. Blau stand ihr zumindest sehr gut und obwohl es natürlich absolut unangebracht war, hätte er dieses Oberteil auch gerne in einem dunklen Rot an ihr gesehen. Aber er konnte auch so, nur schwer die Augen davon abwenden.

„Wie fühlst du dich damit?“, fragte er schließlich, um die inzwischen peinlich gewordene Stille zu überbrücken, an der wohl seine gründliche Musterung schuld war.

Es war lange her, dass er einmal eine Frau auf diese Art angesehen hatte und sich Gedanken über ihre Kleidung machte. Für gewöhnlich war er nur so gründlich, wenn es um seine Aufträge ging, von denen er alles mögliche zu erfahren versuchte, um sie später effizienter ausschalten zu können und das wollte er bei Paige ganz bestimmt nicht. Es war nur...

Ryon versuchte den Gedanken nicht weiter zu verfolgen, sondern sich stattdessen zu fragen, wie seltsam seine Reaktion doch gewesen war.

Sollte er Paige nicht eigentlich sagen, dass ihm das Outfit an ihr gefiel? Vermutlich, aber ihm hatte einmal jemand lang und breit erklärt, dass es nicht gar so wichtig sei, wie man in etwas aussah, sondern wie man sich damit fühlte. Man konnte sich in einem einfachen Kleid wie die schönste Frau der Welt fühlen, während man sich in einem Designerkostüm in Grund und Boden schämen konnte, obwohl es einem rein optisch gesehen, absolut stand. Am Ende zählte ohnehin die Ausstrahlung.

Ein Grund vielleicht, wieso er so gerne Anzüge oder zumindest immer etwas mit Hemd und gepflegter Hose trug, anstatt ausgewaschene Jeans und ein Muskelshirt. Es passte einfach nicht zu ihm.
 

Paige biss sich auf die Wange, um nicht blöd zu grinsen, während Ryon sie von oben bis unten musterte, oder besser gesagt, von unten bis oben.

Entweder hielt er sie für ein Gespenst oder ihm gefiel, was er sah. An seinem Gesicht konnte man natürlich weder das Eine, noch das Andere ablesen.

Es könnte also auch sein, dass er sie in diesem Outfit hässlich fand. Wie es ihr selbst gefiel, musste sie erst nach einer Drehung zum Spiegel herausfinden. Ein wenig Herumziehen am Oberteil, eine halbe Drehung, um sich das Ganze auch von hinten anzusehen. Und doch konnte es alles nichts daran ändern, dass sie es auf jeden Fall haben wollte.

Scheiße, wenn es bloß nicht so verdammt teuer wäre. So viel Geld hätte sie nicht für zwei Wochen Lebensmittel ausgegeben. Die Stiefel noch gar nicht mit eingerechnet.

Mit einem Blick in Richtung Kasse, wo die Verkäuferin mit irgendwelchen Zettelchen hantierte, checkte sie die Lage und sah dann wieder Ryon an.

„Ganz ehrlich? Es gefällt mir. Auch wenn es ein bisschen fein ist...“

Mit dem Preisschildchen des Rocks zwischen den Fingern machte sie eine Geste, die bedeuten sollte, dass es völlig überteuert war.

Ein weitere Blick in Richtung der aufdringlichen Dame an der Kasse, bevor sie Ryon unhörbar für diese zuraunte.

„Es wäre total leicht, es einfach mitgehen zu lassen.“

Sie zwinkerte ihm zu, um zu vermitteln, dass sie es nicht ernst meinte und ging in die Kabine zurück, um sich ihre eigenen Sachen wieder anzuziehen. Da er nun wieder da war, hatte Paige keinen Grund mehr hier länger zu bleiben.
 

Während sie sich selbst im Spiegel betrachtete, beobachtete Ryon sie ganz genau. Vor allem ihr Gesicht, um ihre Reaktionen auf das Outfit feststellen zu können. Offenbar fühlte sie sich darin nicht nur wohl, sondern es gefiel ihr auch. Trotzdem machte sie ihm deutlich klar, dass sie sich selbst sowas niemals kaufen würde, da es viel zu teuer war und es auch andere schöne Sachen für weniger Geld gab.

Nun, da stimmte er ihr im Geiste absolut zu, aber Menschen, die mit einem goldenen Löffel im Mund zur Welt gekommen waren, konnte man nicht so leicht täuschen, was Kleidung betraf. Für ihn selbst war klar, dass er hauptsächlich für den Markennamen bezahlen würde, aber genau das war es meistens, auf was die Reichen achteten.

Wie viel Geld man für welchen unnötigen Blödsinn ausgegeben hatte, nur um zu zeigen, dass man es sich leisten konnte. Würde es nur darum gehen, hätte er sich Paige geschnappt und wäre wo anders hin gegangen. Aber ihr gefielen die Sachen und sie würde sie auch nach der Parisreise sicherlich noch gebrauchen können.

Als sie ihm leise mitteilte, sie könne es auch locker klauen und ihn dann anzwinkerte, schweifte sein Blick zu dem herausgeputzten Pfau alias die Verkäuferin hinüber. Sie sah vielleicht kompetent aus, aber vermutlich mit null Charakter.

„Verlockendes Angebot.“

Allerdings absolut unter Paiges Niveau. Es wäre einfach zu leicht.

Als sie wieder in der Umkleidekabine verschwand, lehnte er sich leicht gegen die hölzerne Seitenwand, damit er sich immer noch mit ihr unterhalten konnte, ohne dass der ganze Laden etwas davon mit bekam.

„Dir ist doch klar, dass ich mit diesem Outfit in einer Tragetasche heim gehe, ob mit oder ohne dich.“

Im Klartext, egal was sie sagen würde, er würde es trotzdem kaufen und wenn er es sich am Ende an die Wand pinnen musste, nur um diesen Kauf zu rechtfertigen, egal wie überteuert es war.
 

Es überraschte Paige, dass sie Ryons Stimme so nah an der Kabine hören konnte. Kurz zuckte sie in der Erwartung zusammen, dass diese unverschämte Verkäuferin das Taktgefühl eines Nilpferds bewies und den Vorhang zur Seite riss. Aber das passierte nicht und sie konnte sich in Ruhe umziehen.

Vorsichtig und weiterhin von dem weichen, fließenden Stoff des Oberteils und den schönen Stiefeln fasziniert, faltete sie die Sachen zusammen und legte sie auf einen kleinen Stapel. Dann zog sie auch ihre eigenen Schuhe wieder an – schwarze Turnschuhe, deren Sohlen schon ziemlich abgelaufen und glatt waren.

Mit einem breiten Lächelnd trat sie erneut aus der Kabine, den Stapel ihrer neuen Kostbarkeiten vor sich auf dem Arm.

„Ich glaube aber nicht, dass dir die Sachen besonders gut stehen würden.“

Ganz im Gegensatz zu dem maßgeschneiderten Anzug, den er trug. Vor allem das cremefarbene Hemd gefiel ihr an ihm. Es ließ ihn nicht ganz so steinhart wirken, als wenn er zu dem dunklen Anzug auch noch Schneeweiß getragen hätte.

Paige wusste selbst nicht, warum sie sich doch so nah an ihn heran wagte. Es schien immer die Gefahr zu bestehen, sich Frostbeulen zu holen.

„Du weißt, dass das meine völlig unangebrachte Art ist 'Danke' zu sagen, hoffe ich.“

Sie schafften es unfallfrei und ohne zu viel Smalltalk zu bezahlen und mit einer rosa glänzenden Papiertasche mit silbernen Tragegriffen das Geschäft zu verlassen. Paige wog kurz ab, ob sie die Sachen nicht auch in ihrem Rucksack hätte transportieren können. Aber das wäre alles Andere als 'chick' gewesen.

Wie sie dort kurz auf der Straße standen und sich nach dem nächsten Zielpunkt umsahen, grübelte Paige darüber nach, wie viel Geld sie noch in ihrer kleinen, bunten Geldbörse hatte.

„Was hältst du davon, wenn wir etwas für die werdende Mutter besorgen und ich dich anschließend zu einem Kaffee einlade?“

Es sollte keine Wiedergutmachung oder ein Ausgleich sein, dafür hätte ein mickriger Kaffee und ein Stück Gebäck niemals ausgereicht. Aber Paige hätte einfach gern so etwas Normales gemacht, wie in einem Café zu sitzen und sich über ihre Beute zu freuen.

Sie nahm nicht an, dass es zu unvorsichtig war. Hier in der Oberwelt und mitten am Tag würde niemand so dumm sein, um sie zu überfallen. Schon gar nicht mit magischen Kräften. Das könnte das gesamte Gleichgewicht durcheinander bringen.

Andererseits konnten sie ja auch einen Kaffee to go nehmen. Wenn Ryon ihr Angebot überhaupt annahm.
 

Als sie auf der Straße standen und überlegten, wo es als Nächstes hingehen sollte, nahm Paige ihm diese Entscheidung ab. Womit sie natürlich, ohne es zu wissen, seine eigenen Gedanken aussprach. Zumindest was die Sachen für Ai anging.

„Einverstanden. Ich weiß auch schon, wo wir das Richtige finden werden.“

Auf die Gefahr hin, dass sie insgeheim an seiner Wahl zweifeln würde, wenn man den letzten Laden bedachte, den er ausgesucht hatte, ging er los, um Paige zu zeigen, welchen er meinte.

Es war nicht weit, nur zwei Blocks und die konnten sie auch zu Fuß zurück legen. Allerdings hatte Ryon in diesen Minuten auch gründlich Zeit, sich seinen Vorschlag noch einmal zu überlegen, was sich als äußerst ungünstig heraus stellte.

Obwohl er den Firmennamen über der Boutique noch nicht lesen konnte, begann sein Herz bereits schneller zu schlagen. Sein Puls schoss in die Höhe, als er die vertrauten Farben erkannte, die sich noch immer nicht verändert hatten.

In sanft geschwungenen Lettern schlug ihm die Aufschrift ‚Mother‘s World – alles für die werdende Mutter‘ so deutlich entgegen, als wäre sie aus hellgrünem Neon und würde dazu auch noch auffordernd blinken. In Wahrheit verschwand der Name eher unauffällig zwischen den anderen protzigen Läden.

Sein Handflächen wurden feucht.

Bevor sein Körper ihn jedoch noch mehr verraten konnte, in dem er zu zittern anfing, schlug Ryon kräftig die Tür zu seinem Innersten zu und verriegelte sie mit so vielen Schlössern, wie er fand. Danach beruhigte sich auch der Rest von ihm wieder.

Er zögerte keinen Moment, als sie den Laden betraten, der eine so heimelige Atmosphäre ausstrahlte, dass man auch als Nichtschwangere sofort den Wunsch nach einem Baby verspüren könnte. Alleine um die Chance zu bekommen, diese Sachen auch einmal tragen zu können. Was er als Mann natürlich nur bedingt nachvollziehen konnte, aber dennoch war es sehr angenehm.

Im Laufe der Jahre hatte sich einiges geändert, die Inneneinrichtung war erneuert worden, die Kleidung umgeschlichtet und auch die freundliche Bedienung mit dem ehrlichen Lächeln war eine andere, aber trotzdem blieb es der selbe Laden.

Bevor die Verkäuferin für sie Zeit hatte, da sie gerade noch eine andere Kundin mit deutlich gerundetem Bauch bediente, drehte Ryon sich zu Paige herum und brach endlich sein Schweigen. Er war auf dem Weg hierher merklich ruhiger geworden, als sonst auch schon.

„Tennessey meinte, Ai sei ungefähr in der 25. Schwangerschaftswoche. Weshalb wir ihr auch Kleidung mitbringen sollten, die sie zwar jetzt noch nicht anziehen, aber schon für später brauchen kann. In den nächsten Wochen wird sie mit Sicherheit ganz schön an Umfang zulegen und das in sehr kurzer Zeit.“

Allein nur wegen des Kindes, obwohl natürlich auch zu hoffen war, dass Tylers Küche ihr noch etwas mehr Fleisch auf die Knochen zaubern würde.

Ryon trat sofort voller Tatendrang an einen Kleiderständer und begann sich durch die Sachen zu suchen. Er wusste nicht, welchen Geschmack die beiden Frauen hatten, aber er würde ohnehin Paige die Auswahl überlassen.

Seine Finger sollten nur etwas zu tun haben, außerdem waren die meisten Sachen aus sehr angenehmen Materialien. Sie waren zwar ebenfalls nicht ganz billig, aber das lag an den kostbaren Stoffen, die kaum Kunstfaser beinhalteten und besonders verträglich waren.
 

Ihre Empfindungen wechselten von überrascht zu misstrauisch, als Ryon ankündigte, er wisse genau, wo sie für Ai einkaufen könnten und dann auch schon mehr oder weniger davon rannte.

Allerdings schienen seine Schritte immer zögerlicher zu werden, bis er fast stehen blieb, als das Geschäft schließlich in Sichtweite kam.

Paige hatte ihn damals, als er noch ihr Opfer werden sollte, sehr genau beobachtet. Dass er sich wie jetzt, die Hände immer wieder am Stoff seiner Hose abwischte, war normalerweise kein Tick von ihm. Machte ihn der Laden etwa nervös?

Was hätte Paige bloß für eine Regung in diesem Gesicht getan. Sie hätte genauso gut versuchen können, seine inneren Vorgänge aus einem Teesatz zu lesen. Vielleicht sollte sie das irgendwann mal probieren...

Da sie üblicherweise sowieso wenige Worte miteinander wechselten, fiel Ryon anscheinend nicht weiter auf, dass Paige kein Gespräch in Gang bringen wollte. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, ihn unauffällig im Auge zu behalten. Sie wusste ja nicht, ob er in den nächsten Sekunden nicht wieder wegkippte. Mehr als den blauen Fleck am Knie, mit dem sie ihren gemeinsamen Sturz in seinem Haus aufgefangen hatte, wollte sie bitte in einer Woche nicht kassieren.

Kaum dass sie den gemütlichen Laden betreten hatten, redete er davon, was sie für Ai besorgen mussten.

Paige kam sich wie eine Diletantin vor, weil sie selbst nicht die geringste Ahnung hatte, wie sich der Körper einer Schwangeren in den verschiedenen Monaten genau veränderte. Damit hätte sie sich einfach zur gekommenen Zeit auseinander gesetzt. Warum wusste er solche Sachen?

Über einen Ständer mit Umstandskleidern hinweg musterte sie Ryon so unauffällig wie möglich und versuchte sich einmal wieder einen Reim auf ihn zu machen.

Er hatte sofort diesen Laden vorgeschlagen. Ohne Grund wussten Männer so etwas nicht...

Wie alt mochte Ryon eigentlich sein? Irgendwas Anfang dreißig vielleicht. Dann gab es nicht allzu viele Möglichkeiten. Aber Paige hatte weder in seiner Wohnung, die sie bis ins Kleinste auf den Kopf gestellt hatte, noch in seinem Haus Anzeichen auf Familie gefunden. Wäre es nur eine Schwester oder Cousine gewesen, hätte er sich den Laden sicher nicht gemerkt...

Erschrocken über sein Hochblicken senkte Paige ihren Blick blitzartig auf den Kleiderständer und schob ein paar Bügel hin und her.

„Das finde ich eigentlich ganz hübsch...“

Ein Kleid aus weichem, etwas dickerem Stoff in Pink mit unauffälligen gelben Mustern. Eventuell wäre es Ai etwas zu kurz. Nicht zuletzt, um die Tarnung aufrecht zu erhalten, hielt Paige sich selbst das Kleid vor den Körper. Es ging ihr bis zu den Knöcheln.

„Zu kurz.“

Jetzt sah sie wieder zu ihm hinüber und es fiel ihr schwer das fröhliche Schauspiel bei diesem stechenden Blick aufrecht zu erhalten.

„Ich werde mal die Verkäuferin fragen, wo die Abteilung für schwangere Exmodels ist.“

Damit war sie aus seinem Blickfeld verschwunden und erkundigte sich wirklich nach Sachen, die für Ai passend wären.

Die Verkäuferin stand ihr mit Rat und Tat zur Seite, während Paige immer wieder flüchtige Blicke zu Ryon hinüber warf.
 

Da Paige sich um die Kleiderfrage kümmerte, während sie dabei durch die Verkäuferin unterstützt wurde, sah sich Ryon gründlich im Laden um und überlegte fieberhaft, was Ai noch alles brauchen könnte.

Er war natürlich nicht der Typ, der haufenweise Zeugs kaufte, weil er einfach lieber auf Nummer sicher gehen wollte, anstatt nur die Sachen zu besorgen, die man wirklich brauchte. Aber er wäre nicht der erste nervöse, werdende Vater in der Geschichte dieser Welt gewesen. Der auch noch das nötige Kleingeld für solcherlei Beschäftigungstherapien zur Hand hatte.

Nun aber wandte Ryon sich von den Kleidersachen ab und ging zu den nützlichen Kleindingen über wie: saugfähige Einlagen für den BH, Stilltücher, Milchpumpe, Tees für die verschiedenen Bedürfnisse, und noch vielem mehr.

Er blieb schließlich bei den Cremes stehen, die für die Haut einer werdenden Mutter besonders unterstützend wirkten und somit Schwangerschaftstreifen und Nachlassen der Elastizität der Haut vorbeugen sollten.

Marlene hatte sich diese Dinge immer selbst mit den Zutaten aus ihrem Kräutergarten zusammen gemischt, aber Ai könnte sicher nicht schaden, wenn sie ihr welche mitnehmen würden. Ihre Haut würde sich sicher freuen.

Während er so mit einer Creme in der Hand da stand, deren Hauptinhalt Sheabutter war, schweiften seine Gedanken ab.

Da er den Riegel vor seine Gefühle fest vorgeschoben hatte, verspürte er nur ein unangenehmes Gefühl in der Brust, als würde ihm etwas zu schweres darauf sitzen, aber es war ihm trotzdem möglich, sich wieder zurück zu erinnern.

Seine Gefährtin hatte immer alles Mögliche aus ihren Kräutern gemacht, um sie bei der Schwangerschaft zu unterstützen. Dahingehend hatte er ihr nie etwas besorgen können, selbst die Babysachen hatte sie selbst genäht. Manchmal sogar, als wäre sie wie besessen.

Ryon hatte sie damals zwar mehrmals gefragt, warum sie nicht auch einfach noch die fehlenden Sachen kaufen konnten, aber die Tätigkeit schien ihr gut zu tun und sie zu beruhigen. Weshalb er schließlich nicht weiter in sie drängte.

Jetzt wusste er jedoch, dass wohl auch sie so etwas wie eine Beschäftigungstherapie benötigt hatte und das war nun einmal das Nähen gewesen.

Manchmal hatte er ihr stundenlang dabei zugesehen, während er vor dem Kamin ausgestreckt dagelegen hatte und sie ihre nackten Füße an seinem Fell wärmte.

Ruhig stellte Ryon die Cremedose wieder zurück. Einen Moment lang musste er sich daran erinnern, wie man atmete. Dabei sollte er gar nichts fühlen. Absolut gar nichts!

Um nicht noch einmal der Versuchung zu erliegen, sich an etwas zurück zu erinnern, von dem er sich geschworen hatte, er wolle es für immer vergessen, trat er schließlich zu den beiden Frauen und nahm Paige die Kleidung ab, die sie bereits ausgewählt hatten, um ihr wieder Platz für mehr zu schaffen.

Er wollte jetzt nicht reden, weshalb er den beiden Frauen stumm folgte, den ein oder anderen Kommentar aus rein objektiver Sicht zu den Sachen abgab, bis sie sich einmal durch den ganzen Laden durchgearbeitet hatten und schließlich wieder an der Kasse standen.

Während die Verkäuferin die Preise einscannte, plauderte sie immer noch fröhlich und absolut nicht aufdringlich weiter.

„Wenn Sie einen Laden für Babysachen suchen, könnte ich Ihnen ein paar gute Adressen mitgeben. Gute Qualität, guter Preis und viel Auswahl. Sie wissen ja sicher, dass die Kleinen so unglaublich schnell wachsen in den ersten Monaten. Was heute passt, kann morgen schon wieder viel zu klein sein.“

Ryon nickte wissend. Das hatte er alles schon mehrmals gehört.

„Danke. Wir lassen es uns durch den Kopf gehen.“

Oh ja, auf diesen Ladenbesuch konnte ein Kaffee wirklich nicht schaden. Wenn auch nur, um wieder auf andere Gedanken zu kommen.
 

Sie traten wieder aus dem Laden, in jeder Hand eine Tasche mit Sachen für die werdende Mutter und dem hübschen Outfit für Paige.

Ryon war wieder ruhig und eisig wie immer. Das vorhin in der Boutique schien sich als ein Ausrutscher heraus zu stellen. Dabei hatte sie wirklich das Gefühl gehabt, er hätte ganz gern ein wenig mit ihr gesprochen.

Inzwischen war sich Paige gar nicht mehr so sicher, ob sie tatsächlich einen Kaffee zusammen trinken sollten. Vorhin war ihr das noch wie eine nette Idee erschienen, aber jetzt, nachdem sie über seine eventuelle Familie, Frau, Kinder nachdenken musste, war ihr nicht mehr wirklich danach. Unter Umständen wäre sie bei so viel Kontakt doch ihrer Neugier erlegen und hätte ihn danach gefragt. Was sie aus unerfindlichen, aber laut schreienden Gründen für keine Gute Idee hielt.

„Wir haben recht schöne Sachen ausgesucht finde ich. Sie werden Ai gefallen. Und die praktischen Dinge hast du gut ausgesucht. Ich hätte daran gar nicht gedacht. Ich hatte bisher aber auch noch nicht wirklich viel Erfahrung damit.“

Am liebsten hätte sie sich ohne den Schutz ihrer Schuppen in Flammen gesetzt. Was redete sie da nur?
 

Hätte man ihm eine Bratpfanne über den Schädel gezogen, das Geräusch wäre nicht leiser gewesen, als dieses gefühlsmäßige ‚Dong‘, als Paige den letzten Satz zu ihm gesagt hatte.

Wenn Ryon nicht schon jahrelang darin Übung besessen hätte, jegliche Reaktionen zu vermeiden, wären ihm die Tüten aus der Hand gefallen, als ihn die Erkenntnis traf, dass er sich nicht wie ein Mann benahm, der schon seit der Steinzeit Single war und noch länger kein Interesse mehr an Frauen gehegt hatte. Stattdessen war er zielgenau in einen Laden für Schwangerschaftsmode gegangen, hätte auch noch diverse Läden für Babysachen gewusst und wäre auch dazu in der Lage gewesen, bei sehr weiblichen Gesprächen in ganz speziellen Richtungen lautstark mitzureden. Ganz und gar nicht dem Image entsprechend, das er schon seit Jahren vervollständigte.

Wie sah Paige ihn wohl?

Das war das erste Mal, dass er es dachte.

Bisher war es ihm egal gewesen, was die Leute von ihm hielten. Seine Freunde kannten den alten Ryon sowie den neuen und gaben darüber kein Urteil ab. Oder zumindest versuchten sie es für sich zu behalten. Das waren eben die einzigen Freunde, die er noch hatte. Alles andere war ihm bisher egal gewesen und auch jetzt bekam er nicht einmal ein Jucken im Hintern, wenn er darüber nachdachte, was diese Frau neben ihm wohl über ihn dachte.

Was aber definitiv nur alleine daran lag, dass er im Augenblick an überhaupt nichts wirklich Interesse zeigte. Ein Nachteil, wenn man zu einem gefühlskalten Fleischberg mutierte.

Trotzdem, ob es nun Absicht gewesen war oder nicht, in Paiges letztem Satz hatte mehr mitgeschwungen, als nur diese offensichtliche Feststellung.

Während sie also wieder einmal auf der Straße standen und nicht genau wussten, wohin, sah er auf sie herab, direkt in ihre dunklen Augen.

Man merkte deutlich, dass er wohl etwas dazu sagen wollte, da das Schweigen keinesfalls angenehm war, aber selbst seine Gedanken konnten sich nicht dazu durchringen, ihre unausgesprochene Frage zu beantworten. Also wechselte er schließlich einfach das Thema.

„Wenn du irgend ein Café bevorzugst, dann gib mir ruhig bescheid. Wir können auf dem Weg auch noch die Sachen ins Auto bringen, außerdem brauche ich noch ein Foto von dir für den Reisepass, damit wir ihn in ungefähr einer Stunde abholen können.“
 

Natürlich. Kaffee...

Paige wusste gar nicht, was sie erwartet hatte. Dass er ihr sein Herz ausschütten würde?

Wenn sie jetzt darüber nachdachte, kam ihr diese Vorstellung so lachhaft vor, dass sie gar nicht glauben konnte, sich überhaupt solche Gedanken gemacht zu haben. Warum wollte sie über Ryon überhaupt mehr herausfinden? Dazu hatte sie, wenn man es mal objektiv betrachtete, überhaupt keine Veranlassung. Er war an ihr nicht weiter interessiert, weil er wusste, dass sie nur Partner waren. Sobald er alles über das Amulett wusste und sie die Leute erledigt hatten, die ihnen auf den Fersen waren, würde sie aus seinem Leben verschwinden, so schnell, wie sie gekommen war. Und in ihre eigene Welt zurückkehren.

Ihr Lächeln war nur deshalb etwas wehmütig, da sie noch nicht sagen konnte, was aus Ai werden würde.

Bei Ryon ging es ihr gut, aber dort würde sie nicht bleiben können, wenn diese Mission erst beendet war. Paige hatte sich schon, bevor sie Ryon getroffen hatte, überlegt, dass es verdammt eng werden würde Ai und auch noch ein Kind durchzufüttern. Sie selbst auch nicht ganz zu vergessen. Denn wenn sie noch weniger zu sich nahm, als sie es sowieso schon getan hatte, würde sie auch keine Diebstähle mehr durchführen können, um ihre Schutzbefohlenen zu ernähren. Ein Teufelskreis. Aber auch das würde sie irgendwie schaffen. Bis jetzt hatte Paige es immer irgendwie geschafft.

Als sie aus diesen Gedanken wieder zu sich kam, waren sie schon fast beim Auto angekommen. Sie verstauten die Tüten in dem winzigen Kofferraum des Sportwagens und besah sich dann interessiert das Ergebnis.

Ihre eigenen Einkäufe, also das einzelne Outfit aus der Boutique, waren unter den Stücken aus dem Babygeschäft kaum noch zu sehen. Was hieß, dass sie an den second hand – Shops doch nicht ganz vorbei gehen musste. Immerhin konnte sie nicht nur und vor allem nicht in jeder Situation in diesen teuren Sachen herumlaufen. Sie brauchte auch etwas für hier und jetzt, bevor sie nach Paris flogen. Und anpassen würde sie sich auch nicht. Bloß weil sie im Moment in diesem großen, luxuriösen Haus zu Gast war und zu einer Reise eingeladen wurde, hieß das nicht, dass sie zu Jackie O. mutieren musste.

„Lass' uns zuerst das mit den Photos hinter uns bringen.“

In ihrem Fall war es wahrscheinlich sogar von Vorteil, wenn das Bild aus einem dieser billigen Automaten und nicht von ein einem professionellen Fotografen stammte. Immerhin war es nicht so wichtig, dass man sie auf dem Foto erkannte. Paige hatte sogar im Moment die größte Lust auf einen richtigen Mudshot.

Sie ging direkt zu einer Kabine, in deren Umgebung es trotz der noblen Umgebung unangenehm nach Urin und anderen Substanzen roch. Der Automat funktionierte aber noch tadellos.

Paige setzte sich nur mit ein paar Ekelgefühlen auf den kalten, festgeschraubten Metallhocker und hörte sich die Anleitung der Kabine an. Sie drehte sich so zurecht, dass ihr Gesicht auf dem Bildschirm in dem Kreis zu sehen war und lächelte geziert. Die vier Bilder konnten so gewählt werden, dass jedes unterschiedlich war. Beim Zweiten schob Paige sich die Haare ein wenig ins Gesicht. Das Dritte war ein Bild mit Schielen und herausgestreckter Zunge. Und das Vierte wurde genau dann ausgelöst, als sie wegen des vorherigen Bildes über sich selbst lachen musste.

Mit spitzen Fingern zog sie den eingerissenen Plastikvorhang zur Seite und sah, dass der Streifen zum Trocknen bereits in dem Ausgabefach lag. Es musste noch eine Minute trocknen, bevor sie das oberste Bild fein säuberlich abreißen und es Ryon reichen konnte. Die anderen Fotos steckte sie in ihren Geldbeutel. Das alberne Bild würde Ai bestimmt gefallen.

„Kaffee?“

Sie mussten nicht lange die Straße entlang laufen, um das erste Café zu finden. Das hatte aber in etwa den Charme einer Tiefgarage mit all dem Glas und Metall. Da rein hätte sich Paige nichtmal gesetzt, wenn sie Kaffee und Kuchen umsonst bekommen hätten.

Stattdessen ging sie entschlossen weiter und fand zwischen einem Musikgeschäft und einem Laden für Wohn-Accessoire genau das, was sie suchte.

Der Eingang war so unauffällig wie auch das kleine Geschäft an sich. Wenn man in den Raum mit den kleinen Tischen und den gemütlichen Sesseln wollte, musste man sich an der Theke mit den selbst gebackenen Kuchen und kleinen Muffins vorbei schlängeln. Was natürlich ein schlauer Schachzug war, da sich Paige bei der netten, jungen Bedienung gleich einen Schoko-Bananen-Muffin zu ihrem Chai Latte bestellen musste.

Nachdem auch Ryon geordert hatte, sah sie erst einmal die anderen Gäste an.

Nicht viele Leute und eigentlich interessierten sie Paige auch nicht wirklich. Aber besser, als zugeben zu müssen, dass ihr kein Thema einfiel, über das sie sich mit ihrem Shoppingpartner unterhalten konnte. Weder das Amulett noch die Reise nach Paris waren ein angebrachtes Thema. Obwohl sie hier an der Oberfläche waren, konnte es irgendwelche ungewünschten Zuhörer geben. Was dann?
 

Die Sachen ins Auto zu bringen, das Foto für den Reisepass, die Suche nach einem passenden Café, das alles ging unglaublich unkompliziert und trotzdem wurde Ryon das Gefühl nicht los, als würde seit dem Verlassen des Umstandsmodengeschäfts etwas so unübersehbar zwischen ihnen stehen, wie ein nackter Mann in einem Nonnenchor. Als müsse er irgendeine Erklärung abgeben, obwohl er bisher doch nie das Gefühl gehabt hatte, jemanden Rechenschaft schuldig zu sein. Er nannte niemals seine Gründe für sein Tun und hätte gedacht, das würde auch immer so weiter gehen. Aber plötzlich war er sich da gar nicht mehr so sicher.

Seine Gedankengänge wurden unterbrochen, als er hinter Paige her in einen kleinen gemütlichen Laden marschierte und an der Theke seine Aufmerksamkeit gefordert wurde.

Auf die Schnelle bestellte sich Ryon einfach etwas, nur um seinen Wunsch eine Sekunde später auch schon wieder zu vergessen. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, sich so unauffällig wie möglich zwischen den beinahe filigran wirkenden Möbelstücken hindurch zu schlängeln. An sich war es wirklich ein nettes kleines Café, aber für jemanden seiner Statur war es der reinste Spießrutenlauf.

Endlich hielt Paige an einem Tisch an, den auch er selbst gewählt hätte.

Nachdem er auf seinem Stuhl platz genommen hatte, fühlte er sich schon etwas wohler, auch wenn er sich in der Öffentlichkeit niemals behaglich fühlte. Ob er nun wollte oder nicht, er zog mit seinem Aussehen immer wieder mehr oder weniger unauffällige Blicke auf sich. Es war ja nicht nur seine Größe, sondern auch sein Körperbau und seine buntgefärbten Haare. Auf den ersten Blick musste er aussehen wie ein selbstverliebter Schnösel, dessen einzige Beschäftigung es war, seinen Zeit im Bodybuildingstudio zu verbringen oder beim Frisör.

Zum Frisör ging er jedoch erst dann, wenn seine Haare schon fast bis auf die Schultern reichten und dann auch nur zum Schneiden. Das Fitnessstudio konnte ihm wohl keiner übel nehmen, da er dort ungestört mehrere Kilometer am Stück in aller Ruhe laufen konnte.

Wäre die Bedienung mit ihrer Bestellung nicht so schnell gewesen, Ryon wäre gar nicht aufgefallen, dass noch jemand bei ihm am Tisch saß. Er war es nicht gewohnt, mit jemand anderen einfach nur da zu sitzen und etwas zu sich zu nehmen. Nur zu oft hing er für gewöhnlich seinen eigenen Gedanken nach. So aber blickte er fast schon etwas neugierig auf seine Bestellung. Es war ein großer Becher Milchkaffee mit Sahne.

Fast eine Minute lang starrte er das Getränk vor sich an, bis er schließlich seine Hände darum legte und zu Paige aufblickte.

Warum zum Teufel hatte er eigentlich wieder diese alte Gewohnheit angenommen? Der Teil in ihm, der sich danach sehnte, war gefesselt und verschnürt hinter schalldichten Wänden vergraben. Warum kamen dessen Wünsche dennoch hindurch, ohne dass er es bemerkte?

„Von woher kennen Ai und du euch eigentlich?“

Das war die erstbeste Frage, die ihm auf die Schnell einfiel, damit er seinem Gegenüber endlich die Aufmerksamkeit schenkte, die es verdiente. Er hatte Paige schon lange genug ignoriert, auch ohne es zu wollen.
 

Seit sie beschlossen hatte aus Ryon nicht mehr schlau werden zu wollen, wurde Paige irgendwie leichter ums Herz. Was jetzt auch immer passierte, es würde einfach als eine Episode während der Zusammenarbeit mit diesem Mann in ihrem Gedächtnis abgelegt werden.

Paige war jemand, der gern Freundschaften schloss, sich für Andere interessierte und gern teilte, aber wie sie nun wieder ihr Gegenüber betrachtete, fiel ihr auf, dass es bis jetzt vergebene Liebesmüh gewesen war. Mal davon abgesehen, dass sie sich nicht mehr verletzen wollten, waren sie sich kein Stück näher gekommen. Schätzungsweise würde nichts und niemand Ryon näher kommen, der keine persönliche Einladung von ihm dazu bekam. Und darauf konnte man bestimmt lange warten.

Mit ihm würde sie nie lachen können, ohne dass ihr danach auffiel, dass er nicht mitgelacht hatte. Er würde immer diese ausdruckslose Miene beibehalten, die ihn gelangweilt und überheblich wirken ließ.

Wäre da nicht sein Zusammenbruch gewesen, Paige hätte wirklich angenommen, dass er nicht nur so tat, sondern dass er tatsächlich keinerlei Gefühle hatte. Aber das war nicht möglich. Ohne Emotionen konnte niemand leben. Existieren vielleicht, aber leben...

Sie hatte ihn dabei beobachtet, wie er die Tasse vor ihm auf dem Tisch fixierte. Kein Zeichen, ob er mit der Anwesenheit des Getränks zufrieden oder unzufrieden war. Das war nur daran abzulesen, dass er den Kaffee schließlich in die Hand nahm.

Es war auch das, was Paige vor allem in Hinblick auf ihre Zusammenarbeit für etwas Gefährliches hielt.

Manchmal musste man die Stimmung und damit die Aktionen seines Partners einfach schon früher lesen können, als er reagierte. Das würde bei Ryon nie möglich sein. Bei ihm würde sie erst wissen, was er vorhatte, nachdem er es getan hatte.

Mit den seltsamen Augen wurde sie nur unter größter Konzentration immer wieder fertig. Und die Frage war auch irgendwie seltsam. Wieder etwas, das mit Ai zu tun hatte.

„Ich denke nicht, dass Ai möchte, dass ich dir diese Geschichte erzähle.“

Und auch Paige wollte nicht, dass Ryon wusste, welche Umstände zum Zusammentreffen der beiden Frauen geführt hatte. Egal, wie sie es umschrieben hätte, es wäre für Ai, selbst jetzt, wo sie wieder wohl auf war, eine Bloßstellung gewesen.

„Sagen wir einfach, ich bin über sie gestolpert. Ihr Exmann wollte keine Verantwortung für sie und das Kind übernehmen, deshalb... hat er sie rausgeworfen.“

Im wahrsten Sinne des Wortes.
 

Ryon rührte langsam in seinem Becher um, damit sich der Zucker besser auflösen konnte, während er Paige zuhörte. Also gab es auch bei den Frauen genug Dinge, über die sie nicht sprechen wollten. Nur zu verständlich. Nach allem, was er wusste, hatten es die beiden bisher nicht sehr leicht gehabt.

Paiges Jobs, Ai in ihrem Zustand und trotz allen Mühen immer kurz vorm Verhungern. Zumindest hatte er diesen Eindruck gewonnen. Wenn man bedachte, mit welchem Appetit die werdende Mutter am Tisch aß.

„Verstehe.“

Das war zunächst alles an Reaktion, die er auf das Gesagte wiedergab. Allerdings machte er sich im nächsten Moment bewusst, dass Paige vermutlich nicht ganz mit seiner Antwort zufrieden war, weshalb er sie schließlich weiter ausführte, um das beginnende Gespräch nicht schon am Anfang wieder im Keim zu ersticken.

„Ich meine, ich verstehe, warum Ai das sicherlich nicht möchte und dass du natürlich das Bedürfnis hast, sie auch während ihrer Abwesenheit in Schutz zu nehmen. Ich hatte bisher den Eindruck, dass dir sehr viel an ihr liegt. Immerhin, ohne sie wäre dein Leben sicherlich anders verlaufen, was die wichtigsten Grundbedürfnisse angeht und trotzdem teilst du ohne Zögern. So etwas ist bewundernswert. Ganz im Gegenteil zu diesem Kerl…“

Ryon naschte etwas Sahne von seinem Löffel, ehe er diesen sorgsam weglegte, obwohl ihm noch mehr zu diesem ... Kerl eingefallen wäre.

„Ich kann die Denkweise solcher Männer nicht einmal nachvollziehen.“, gestand er schließlich, während er die Landschaftsbilder an der Wand neben ihnen betrachtete und sich auch sonst relativ aufmerksam im Raum umsah, bis er wieder in Paiges Augen blickte.

„Hast du deshalb diesen ganz speziellen Job?“

Wäre seine Frage nicht genauso ruhig wie die andere davor auch, man hätte sie fast schon für neugierig halten können. Was sie auch war, obwohl er sich das vor sich selbst niemals eingestehen würde.
 

'Bewundernswert'...

In Gedanken wiederholte sie das Wort noch einmal, das Ryon gerade für sie selbst oder vielmehr ihr Verhalten verwendet hatte.

War es das denn wirklich? Bewunderte sie irgendjemand für das, was sie getan hatte? Wenn Ryon wüsste, was mit Ais Exmann geschehen war, würde er wahrscheinlich anders über die Sache sprechen.

Wieder sah er ihr nach einer kurzen Inspektion des Cafés in die Augen. Mit der nächsten Frage hatte sie in diesem Zusammenhang allerdings nicht gerechnet.

Ob sie deswegen diesen Job machte? Eigentlich war es ja gar kein Job in dem Sinne. Sie bestahl andere Leute, um deren Hab und Gut für sich selbst zu Geld zu machen. Etwas Illegales und Unsoziales. Etwas, worauf sie nicht stolz war. Obwohl sie zu einer der Besten in 'World Underneath' gehörte und das nicht erst, seit Ai bei ihr lebte.

Wie war sie eigentlich dazu gekommen, zu stehlen?

Es hatte schon früh angefangen. Als sie noch jung gewesen war und die Aufmerksamkeit ihres Dads noch in irgendeiner Weise auf sich hatte ziehen wollen.

Egal ob es nun gute oder schlechte Aufmerksamkeit war. Immerhin war sie ein paar Mal erwischt worden, als sie, typisch Anfänger, nach ein paar gelungenen Raubzügen zu übermütig und selbstsicher geworden war. Das hatte ihr bei den ersten Malen Verwarnungen von den Ordnungshütern und später Prügel eben jener eingebracht. Doch die konnten nie so schmerzen, wie die andauernde Ignoranz ihres Vaters.

Er hatte sie weder als seine Tochter, Störenfried oder irgendetwas Anderes wahrgenommen. Vielleicht noch als eines seiner vielen Objekte für seine Experimente. Aber selbst dafür taugte sie mit ihrer halben Natur nicht viel.

„Nein, nicht allein deshalb.“, antwortete sie schließlich und vermied es mit ihren Fingern zu überprüfen, ob das Samtbeutelchen, das sie aus ihrem Badezimmer mitgenommen hatte, noch immer in ihrem Rucksack lag.

„Aber es hat geholfen.“

Sie nippte an ihrem heißen Chai Latte und steckte sich einen Bissen Muffin in den Mund. Die Schoko-Bananen-Masse schien auf ihrer Zunge sofort zu schmelzen, was Paiges Augen zum Leuchten brachte. Sie kaute genüsslich und nahm dann noch einen Schluck, bevor sie sich weiter erklärte.

„Allein mit Kellnern und Singen hätte ich das Geld nicht aufbringen können. Und ich habe Nichts gelernt. Zumindest nicht das, was ich wollte...“

Sie wäre gern Bibliothekarin geworden, umgeben von alten Büchern und damit Tonnen von Wissen, dass sie nach und nach in sich aufsaugen konnte. Aber daraus war nichts geworden.
 

Zwar warf Ryon immer wieder einen unauffälligen Blick auf die Straße und machte mit seinen Augen eine Runde durch das Café, doch hauptsächlich konzentrierte er sich auf Paige und wie sie ihren Muffin aß.

Er schien ihr deutlich zu schmecken, denn in ihren Augen lag offensichtlich so etwas wie Wohlbehagen. Ihre Worte schienen daher nicht ganz zu diesem Ausdruck zu passen, aber das war auch nur zu verständlich.

Ryon hätte zwar nicht sagen können, was alles hinter den wenigen Worten lag, wusste jedoch sehr genau, dass es sehr viel mehr war, als sie ihm mitteilte. Jemand, der selbst mit der vollen Wahrheit sehr sparsam umging, erkannte leicht, wann auch der andere nur vom Nötigsten berichtete. Es musste noch sehr viel mehr geben. Garantiert sogar, jemanden wie ihr war er immerhin noch nie begegnet.

Ryon hatte zwar schon so einige Dämonen erledigt und auch alle möglichen anderen Kreaturen, aber jemand wie Paige war ihm noch nie untergekommen. Ihre Fähigkeiten waren selbst für ihn respekteinflößend, aber vor allem auch sehr gefährlich. Er fragte sich sogar, wie weit die Schuppen und das Feuer ihrer Kontrolle unterlagen. Teilweise hatte er das Gefühl, es wären sehr gefühlsbedingte Reaktionen gewesen und dann gab es da wieder Momente, wo sie es ganz bewusst einsetzte. Wie viel wohl davon ebenfalls von ihren Emotionen bestimmt wurde?

Wenn Ryon nicht schon seit Jahren das andere Ich in sich unterdrückt gehalten hätte, er wäre anhand dieser anderen Seite in sich auch eine ganz andere Persönlichkeit. Ob er nun wollte oder nicht, jemand wie er wurde von seinen Instinkten und Trieben geführt. Da er diese zu unterdrücken versuchte, blieb ihm nichts anderes mehr, als sein logischer Verstand und der dachte eben einfach nur logisch. Mehr nicht und doch war er noch nicht so weit, sich als lebende Maschine zu bezeichnen. Immerhin gab es durchaus noch Entscheidungen in seinem Leben, die mit rein logischer Schlussfolgerung nicht hätten erklärt werden können.

„Ich kenne Leute, die würden jemanden wie dich als Abschaum bezeichnen. Keine Bildung, mieser Job und dazu noch deine nächtlichen Aktivitäten. Dabei ist das sicher ein hartes Leben und trotzdem hast du nichts von deiner Menschlichkeit verloren. Mitgefühl, die Fähigkeit zu teilen, Fürsorge… Ich finde das sind Dinge, auf die es im Leben wirklich ankommt. Ausbildungen kann man immer nachholen, aber wenn man diese grundlegendsten Dinge nicht einmal beherrscht, ist meiner Meinung nach ohnehin schon alles zu spät.“

Mit dieser Aussage schnitt er sich zwar teilweise selbst ins eigene Fleisch, aber es war nicht so, dass er absolut gnadenlos gewesen wäre.

In vielen Situationen in die er geriet, war das eben keine Wahl zwischen guter Junge, böser Junge. Wenn er seine eigenen zwielichtigen Jobs nachging, musste er der böse Junge sein, um nicht Gefahr zu laufen, am Ende selbst auf der Abschussliste zu stehen.

Paige hingegen, wollte er mit seinen Worten nur seine Sicht der Dinge darlegen. Er sah in ihr inzwischen keine Diebin mehr und auch sonst nichts, was man auf der Straße einfach links liegen lassen würde.

Was er von dieser Frau bereits wusste, machte unwichtig, wie sie ihren Lebensunterhalt verdiente. Dass sie ein guter Mensch war, war das Einzige, was in diesem Fall zählte. Mit jemand anderen hätte er niemals auf diese ruhige Art zusammen gearbeitet. Zwar würde er seine Vorsicht bei ihr nicht einfach so fallen lassen, aber er musste wohl auch nicht befürchten, in einem unachtsamen Moment ein Messer im Rücken zu haben, das Paiges Handschrift trug.
 

Paige versteifte sich und ließ fast ihre Tasse fallen, als Ryon anfing ihr zu erklären, dass mancher sie als Abschaum bezeichnen würde.

Gefühlslosigkeit hin oder her, aber beleidigen lassen musste sie sich von ihm auch nicht. Hätte seine Rede sich bei der Hälfte nicht doch noch um hundertachzig Grad gedreht und er von ihr in ganz anderen Tönen gesprochen, hätte der Rest Chai in ihrer Tasse unweigerlich blubbernd zu kochen begonnen.

Von Feingefühl war bei Ryon keine Spur zu finden.

Schon komisch, dass sie das selbst bei ihm erwartet hätte. Vielleicht, weil er seine Worte normalerweise recht sorgfältig zu wählen schien. Aber das war wohl mehr das Vokabular, als die eigentliche Aussage.

„Danke. … Glaub ich.“, sagte sie darauf kopfschüttelnd und trank noch den letzten Schluck ihres nun doch wieder recht heißen Getränks aus.

„Es gibt schätzungsweise ebenso viele Leute, die dir eine solche Ansicht nicht zutrauen würden. Wenn man dich nur flüchtig kennt, meine ich.“

Alles Weitere hätte sie zu Kommentaren verleitet, die Ryon möglicherweise falsch verstanden hätte.

Es war ja nicht so, dass sie ihm zu seiner eisigen Fassade auch noch ein Kompliment machen wollte. Auch wenn ihr inzwischen zumindest dämmerte, dass es nur eine Fassade war und in diesem Mann doch ein Quäntchen Gefühl stecken musste. Obwohl er es gut zu verstecken wusste.

Ob ihm seine aalglatte Ausstrahlung wirklich gefiel? Paige konnte sich nicht vorstellen, dass man es mögen könnte, bei jedem, dem man begegnete, eher ein misstrauisches als offenes Gefühl auszulösen. Für sie persönlich war es schwer auch nur daran zu denken, ihr Wesen derart hinter Schloss und Riegel zu stecken. Vielleicht damit niemand engeren Kontakt zu ihm aufnahm?

„Darf ich dich mal was fragen? Dir ist Ai recht sympathisch, oder?“
 

Die Frage war wohl eher, wie viele Menschen kannten ihn überhaupt flüchtig? Aber im Grunde hatte sie Recht, weshalb er auch nicht weiter auf ihre Erwiderung einging, sondern stattdessen von seinem Milchkaffee trank, in welchem er inzwischen die ganze Sahne verrührt hatte.

„Bisher: Ja.“, beantwortete er ihre Frage, die er etwas seltsam fand. Warum sollte sie das interessieren?

„Was ich so bei den Gesprächen während der Mahlzeiten mitbekommen habe, scheint sie ein angenehmer, offener Mensch zu sein. Dafür, dass sie nur rein menschlich ist, kommt sie mit dem Übernatürlichen sehr gut klar. Sie hat offenbar sehr viel Mut…“

Da war sie nicht der einzige Mensch, der sich nicht vor andersartigen Wesen fürchtete oder sie zumindest nicht verurteilte und ihnen mit Misstrauen und Abneigung begegnete. Leider immer wieder nur eine seltene Ausnahme.

Bei den meisten Menschen musste man so tun, als gehöre man völlig zu ihnen, dabei scheint es einem so vorzukommen, als könne man es ihnen schon an der Nasenspitze ansehen.

„Ich glaube, Tyler mag sie. Er kocht mit einer Hochstimmung, die ich noch nie bei ihm erlebt habe und letztes Mal hat er seine selbstgebackenen Kekse vor Tennessey verteidigt, als wäre er eine besorgte Glucke, die auf ihre Kinder aufpasst, aber Ai hat er sofort, als sie zur Tür herein kam, welche angeboten.“

Das musste doch etwas zu bedeuten haben.
 

„Ja, mit dem Mut könntest du Recht haben. Immerhin war sie mit einem Wasserspeier verheiratet.“

Allein der Gedanke ließ Paige wieder darüber nachdenken, dass man manchmal von den Linien der verschiedenen übernatürlichen Wesen durchaus auf ihren Charakter schließen konnte.

Von einem Wasserspeier oder Steindämon konnte man eben keine großen, warmen Gefühle erwarten. Mal von Liebe ganz zu schweigen.

„Ich glaube, dass er sich am Anfang hauptsächlich mit ihr schmücken wollte. Ein wunderschönes Model an seiner Seite. Als sie dann schwanger wurde, war das mit dem Vorzeigen für ihn anscheinend vorbei. Er hätte sich tatsächlich um sie kümmern müssen. Dabei hat dieser Mistkerl in seinem Leben bestimmt weder was von Liebe, noch von reiner Zuneigung oder Menschlichkeit je was gehört.“

Sie stoppte sich gerade rechtzeitig, bevor ihr Finger mehr als ein leichtes Braun auf die Tischoberfläche brennen konnten.

Die Bilder von dieser Nacht in der Gasse waren nie ganz aus ihrem Kopf verschwunden. Ais blaue Lippen in dem ausgemergelten Gesicht, da sie in dem Müllsack nicht hatte atmen können. Der Brandfleck an der Wand, den ihr Wutausbruch am Ende hinterlassen hatte.

Die Finger nun ineinander verschränkt, atmete sie zweimal tief durch, bevor sie über das nachdachte, was Ryon ihr gerade noch eröffnet hatte. Dabei hätte es auch ein Blinder mit Stock bemerkt, dass Tyler für Ai etwas übrig hatte.

„Ja, es ist mir aufgefallen, dass Tyler sich um sie bemüht. Ich finde das süß. Und nach allem, was sie erlebt hat, hat sie so eine Behandlung auch mehr als verdient.“

Als sie weiter dachte – sehr viel weiter – musste sie schmunzeln und sah dann wieder in Ryons Gesicht. Bei ihm regte sich kein Muskel, aber trotzdem hatte sie das Bedürfnis ihm ihre Gedanken mitzuteilen.

„Wie viel älter ist er eigentlich? Dreihundert Jahre älter als sie? Ai steht auf Männer mit Erfahrung, musst du wissen...“
 

Ihr Geruch brannte sich in seine Nase, als sie zuerst mit der Geschichte über Ais Exmann anfing und dann inne hielt, um an etwas zu denken, dass auch noch zusätzlich für einen leichten Brandgeruch sorgte.

Ohne es bewusst zu wollen, lehnte sich Ryon in seinem Stuhl zurück, ließ aber seine Hände nicht von dem fast leer getrunkenen Becher vor sich. Also war vieles an Paige wirklich emotionsbedingt, wenn man den Brandfleck auf dem Tisch bedachte und dabei hatte sie sogar noch ihr menschliches Aussehen beibehalten.

Zum Glück wechselte sie schließlich zu einem unverfänglicherem Thema, auf das er auch sofort ansprang. Nicht, dass er an Paiges Selbstbeherrschung gezweifelt hätte, zumindest nicht zu stark, aber Reaktionen wie damals in ihrer Wohnung wollte er natürlich nicht extra auch noch provozieren.

„Mindestens. So genau weiß ich sein Alter auch nicht, aber auch wenn das jetzt deutlich nach einem Verkupplungsversuch klingt: Er ist auf seine humorvolle Art hoch anständig, hat immense Freude daran, andere zu verwöhnen und wenn man dazu rechnet, dass er schon seit Generationen für meine Familie da ist, ist er auch unglaublich loyal.“

Das nur so nebenbei bemerkt. Das der Kerl zusätzlich niemals Angst wegen Rechnungen haben musste, brauchten die beiden Frauen nicht zu wissen. Falls nötig, würde Ai das schon selbst heraus finden.

Ryons Blick schweifte zu seiner Uhr. Ein paar Minuten hatten sie noch, dann sollten sie langsam los, um das Bild abzuliefern. Danach würden sie rasch den Reisepass bekommen.

„Wir müssen gleich los. Danach haben wir aber noch etwas Zeit, weshalb ich dich zwecks Weiterbildung fragen wollte, in welchem Geschäft du als eigenständige und selbstbewusste Frau einkaufen würdest. Damit ich in Zukunft Bescheid weiß.“

Es klang zwar sicher nicht so, aber in diesen Sätzen steckte nicht nur eine weitere Gelegenheit, um Paige zum Kauf weiterer neuer Kleider zu bewegen, die sie sicher auch noch nach Paris gebrauchen konnte, sondern auch sein Eingeständnis an seine Niederlage beim Auswählen der ersten Boutique.

Wenn er diese Hürde einmal geschafft hatte, konnte Paris ruhig kommen.

13. Kapitel

Als sie von der Autobahn auf die normale Hauptstraße fuhren, die allerdings um diese Tageszeit in Paris nicht weniger vollgestopft war, kam Paige bereits aus dem Staunen gar nicht mehr heraus.

Die schönen Alleen, die sich neben der Straße über Fußwege zogen, Straßencafés, in denen jeder Gast eleganter aussah, als der andere und trotz des anfangenden Herbstes waren überall noch Blumen zu sehen. In ihren Augen schien hier alles kunstvoll arrangiert und was die Deko anging, nichts dem Zufall überlassen zu sein. Eigentlich mochte sie ja keine Zwänge, vor allem nicht, wenn es um so etwas wie die Natur selbst ging, aber hier konnte sie sich an den kunstvoll zusammengestellten Farben und Formen kaum satt sehen.

Als sie eine Weile gefahren waren und in einiger Entfernung ein großes Gebäude in Sicht kam, das wage dem ähnlich sah, was ihr Ryon gezeigt hatte, kam sie sich vor, wie ein kleines Kind auf Entdeckungstour. Selbst das Hotel, das nach den Standards ihres Reisepartners fünf Sterne und irgendeine Mütze für die Küche hatte, war eine Zierde.

Ihr wurde von einem älteren Herrn in Uniform die Autotür geöffnet und eine behandschuhte Hand bot sich ihr an, um ihr beim Aussteigen zu helfen. Natürlich hätte sie das auch allein gekonnt, aber den Umständen entsprechend ... warum sich nicht helfen lassen?

Hier wurde man wahrscheinlich sowieso nur dann akzeptiert, wenn man so tat, als wäre man ein Schnösel.

Mit einem leicht fiesen Lächeln dachte sich Paige, dass sie sich da lediglich ihrem Begleiter anpassen musste. Der machte den Schnösel mit Bravour vor. Schon allein, wie er dem Taxifahrer einen Haufen Scheine zusteckte, um seine Geldnadel gar nicht erst wieder zu verstauen, sondern gleich dem Herrn in Uniform, der sich um das Gepäck kümmern würde, ein saftiges Trinkgeld zu geben.

Also gut, dann würde Paige das Frauchen mimen. In ihren dunklen Stoffhosen mit Bügelfalte, den hohen Schuhen, einer grauen Bluse unter dem dazu passenden grauen Mantel, ging sie schweigend und mit sanftem, nichts sagenden Lächeln hinter Ryon her.

Das hier war seine Welt und sie würde seinem Beispiel folgen und wenn irgend möglich so wenig wie möglich auffallen. Schon jetzt dankte sie ihm dafür, dass er sie zu mehr als einem eleganten Outfit überredet hatte.

Wenn sie erst einmal in der Unterwelt von Paris unterwegs waren, konnte sie anziehen, was sie wollte. Aber hier oben wäre sie in den Klamotten, die ihr behagten, selbst neben Ryon aufgefallen, wie ein bunter Hund. Und das galt es um jeden Preis zu vermeiden.

Sie gingen zusammen über einen roten Teppich, der sie direkt zu Anmeldung und dann weiter zu den Aufzügen führte. Gebucht hatten sie zwei Zimmer, die nebeneinander lagen, aber irgendetwas war schief gelaufen und jetzt wurden sie durch die gesamte Länge des Ganges getrennt. Was allerdings auch nichts ausmachte. Sie hatten sich weder als verheiratet noch irgendwie verwandt ausgegeben. Flora Burke würde gut allein in ihrem großen Doppelbett schlafen können, ohne einen schnarchenden Wandler im gleichen Raum auf der Couch liegen zu haben.

Kaum auf ihrem Stockwerk angekommen, sah Paige sich nach eventuellen Mithörern um, bevor sie sich wieder an Ryon wandte.

„Was hältst du davon, wenn wir keine Zeit verlieren? In zwei Stunden unten in der Lobby?“

Mal davon abgesehen, dass sie sich hier völlig fehl am Platze fühlte, wollte Paige auch aus anderen Gründen die Tour durch die Unterwelt keinesfalls aufschieben. Je näher sie dem Hinweis auf das Amulett kamen, desto brennender wurde ihr Verlangen das Rätsel zu lösen. Ihre Neugier brannte hell wie ein Leuchtfeuer.
 

Ryon konnte nicht gerade behaupten, dass er die Reise nach Paris genossen hatte. Es war angenehm gewesen, das schon, aber er war schon so lange nicht mehr in der Weltgeschichte herum gekommen, dass er sich erst wieder einmal daran gewöhnen musste. Allerdings kam er schnell wieder hinein, als sie schließlich in ein Taxi stiegen und er die Adresse des Hotels nannte, in dem sie bereits reserviert hatten.

Wie das alles auf Paige wirken musste, wäre sicherlich interessant zu erfahren gewesen, aber er gab sich damit zufrieden, ihr bei ihrer stummen Neugierde zuzusehen.

Paris oder zumindest die Gegend, in der sich Leute seines Standes aufhielten, war wirklich wunderschön. Sauber, gepflegt und kein Schnörkel schien zu viel des Guten zu sein, obwohl alles einen regelrecht anzuziehen schien. Zumindest bekam man immer genug zu sehen. In jeder Jahreszeit.

Sein Französisch war schon ziemlich eingerostet, nachdem er es seit seinem Studium nicht mehr verwendet hatte, aber nur zu schnell fand er wieder hinein und konnte somit ohne Probleme klären, was mit ihrer Reservierung schief gelaufen war. Schließlich hatten sie die Schlüsselkarten, das Gepäck war inzwischen auch hoch gebracht worden, bis sie alleine im Flur standen und er Paige ihre Schlüsselkarte in die Hand drückte.

„Gut. In zwei Stunden dann in der Lobby.“

Ryon verabschiedete sich kurz von ihr, ehe er sein Zimmer betrat und die Tür hinter sich schloss. Es war nicht viel Zeit, aber mehr brauchte er auch nicht, um sich die Reise vom Körper zu waschen, sich etwas zu erfrischen und über ihre nächste Vorgehensweise nachzudenken. Immerhin wussten sie noch nicht, wo sich ‚The Dark Side of Paris‘ befand. Besser gesagt, der Eingang dazu.

Allerdings dürfte das nicht allzu schwierig sein, wenn man bedachte wie man bei ihnen zur ‚World Underneath‘ kam. Dann nur noch dem Geruch des Übernatürlichen nach und sie würden fündig werden. So hoffte er zumindest.

Nur noch mit einem Handtuch bekleidet und feuchten Haaren legte er seinen Koffer aufs Bett, um sich nach den unauffälligeren Kleidungsstücken umzusehen, die er wohlweislich eingepackt hatte: Schwarze Hose, dunkles Hemd und darüber seinen beigefarbenen Mantel, damit zumindest bis zum Verlassen des Hotels der Anschein von Geschniegelt und Poliert erhalten blieb. Das einzig Wertvolle, dass er schließlich noch am Leibe trug, würde das Amulett sein.
 

Ungefähr eine Stunde und fünfzig Minuten später, stand Ryon in der Lobby neben einer großen Topfpflanze mit breiten Blättern. Sie lag etwas abseits, wodurch es ihm möglich war, weniger aufzufallen, er aber dabei die ganze Halle überblicken konnte.

Er sah zu, wie andere reiche Snobs und ihre aufgetakelten Frauen eincheckten, sich andere Damen und Herren ebenfalls wartend umsahen, während das Hotelpersonal permanent wie unsichtbar zwischen ihnen hin und her wuselten, um ihrem Job nachzugehen.

Ein oder zwei von den anwesenden Menschen waren nichtmenschlicher Herkunft. Das erkannte man nicht an ihrem Aussehen, sondern an der Art, wie sie sich bewegten, wie sie ihre Umgebung beäugten und vor allem, wie sie rochen. Es war kein unangenehmer Geruch, aber eben nicht einfach nur der von rein menschlichen Körpern.

An Ryon würde man so einen Geruch inzwischen nicht mehr feststellen. Da er schon seit sehr langer Zeit sein anderes Ich von sich abgekapselt hatte, war auch der Geruch von eben diesem langsam verschwunden. Er roch nun wirklich nur nach Mensch. Manchmal vielleicht sogar, mit ein paar Emotionen hinter der fleischlichen Hülle.
 

„Ich glaube nicht, dass die uns sehr viel weiter helfen werden.“

Paige hatte es als eine Art Spiel angesehen, sich an Ryon heran zu schleichen, ohne dass er sie bemerkte. Ihr war klar, dass sie das unter normalen Umständen niemals geschafft hätte.

Obwohl sie ihn noch nie in seiner tierischen Form gesehen hatte, wusste sie sehr wohl, wie viel besser die Sinnesorgane von Wandlern waren und dass er sie im wahrsten Sinne des Wortes auf weite Entfernung gegen den Wind riechen konnte. Vor allem deswegen, weil er ihren eigenen, persönlichen Geruch inzwischen wahrscheinlich schon unter vielen anderen herauskannte. Diese Eigenschaft war Paige als Halbdämonin nicht zu eigen. Sie konnte Gerüche in Form von Geschmäcker sehr viel intensiver wahrnehmen, wenn sie ihr Schuppenkleid und ihre gespaltene Zunge trug, aber in ihrer menschlichen Form war sie eben nur das – menschlich. Was sie allerdings mit ihrer Übung als Diebin in diesem Fall wettmachte.

Ihr schwarzer Mantel, der sie vollkommen einhüllte, reichte nicht ganz bis zum Boden, damit er nicht um ihre Knöchel flatterte und sie am Gehen oder Rennen hindern konnte. Die Sohlen ihrer Schuhe gaben ebenfalls kein Geräusch von sich, wenn sie es darauf anlegte, wie jetzt, äußerst leise zu sein.

Sie trug ihre Haare in einem Pferdeschwanz und hatte den Mantel trotz des milden Wetters zugeknöpft. Hier im Hotel und wahrscheinlich auch noch auf der Straße, wäre ihr schwarz-weißer Karorock und das schwarze T-Shirt mit der Comicfledermaus darauf sicher aufgefallen.

Lediglich die Tatsache, dass sie sich hier in der Öffentlichkeit und unter vielen Menschen und anderen Wesen befanden, machte es Paige neben ihrem Talent leichter, sich an Ryon tatsächlich unbemerkt heran zu pirschen. Und von ihm zum Dank nicht sofort angegriffen zu werden. In einer angespannten Situation hätte er ihr wahrscheinlich unbesehen den Kopf abgerissen.

So starrte er ihr nur für eine Minute in die Augen, was Paige dadurch unterband, dass sie weitersprach. Sie nickte zu einem mit Goldschmuck und Perlen behangenen Pärchen hinüber, das eindeutig nicht der menschlichen Seite der Welt angehörte, auch wenn sie sich in ihrer jetzigen Form sehr wohl zu fühlen schienen.

„So jemand wie die wird nicht in die Unterwelt gehen. Das heißt, wir werden von hier aus niemandem folgen können. Hast du eine Ahnung, wo wir anfangen sollen zu suchen?“
 

Als ihre Stimme sein Gehör erreichte und er ihre Anwesenheit mit einem Mal auch deutlich spürte, zuckte zwar noch nicht einmal ein einziger Muskel in Ryons Leib, aber um ein Haar hätte er sich zu spät zurück gehalten. Eine einzige Handbewegung hätte genügt und Paige wäre tot gewesen, noch ehe ihr Körper auf dem Boden aufschlug. Selbst ihre faszinierenden Fähigkeiten hätten ihr nicht mehr helfen können. Bestimmt könnte sie bewusst nie so schnell reagieren, wie er es instinktiv und aus reinem Reflex getan hätte.

Ohne ihr von der Gefahr zu erzählen, in der sie gerade noch geschwebt und sein Verstand die Kontrolle wieder übernommen hatte, ging er vollkommen gleichgültig auf ihre Worte ein.

„Das würde ich ohnehin nicht annehmen. Man müsste schon selten dämlich sein, wenn man in dem Outfit in die Unterwelt gehen würde.“ Oder auf der Suche nach etwas Bestimmten, so wie sie es waren.

Allerdings hatte Paige mit ihrer letzten Frage nur zu Recht. Wo sollten sie mit der Suche beginnen? Paris war eine große Stadt mit ebenso vielen Schichten wie Einwohnern. Einen der Eingänge zur Unterwelt zu finden, dürfte daher selbst für Wesen wie sie beide es waren, nicht so einfach werden. Zumal Ryon unmöglich sagen konnte, ob sich die ‚World Underneath‘ sehr von dieser hier unterschied oder nicht. Eines zumindest dürften beide gemeinsam haben: Gefährlich würde es immer sein. Das hatten nun einmal nichtmenschliche Wesen auf einen Haufen zusammen gewürfelt so an sich.

„Lass uns erst einmal ein Taxi rufen.“, schlug er schließlich vor.

Immer einen Schritt nach dem anderen, dann würde sich schon eine Lösung finden. Wie Marlene das alles so einfach geschafft hatte, würde wohl immer ein Rätsel bleiben. Sie mochte zwar eine Hexe gewesen sein, mit übernatürlichen Wesen hatte sie aber hauptsächlich nur dank ihm und seiner Natur zu tun gehabt. Wohin das geführt hatte, konnte man heute sehen…

Der schmerzhafte Stich in Ryons Brust erinnerte ihn wieder daran, seine Gefühle zu kontrollieren. In diesem Sinne war der Schmerz ein sicheres Warnsignal für ihn, sich noch mehr zu beherrschen und sein Wesen noch tiefer in sich zu vergraben. Da aber immer wieder doch noch Gefühle zu ihm durchdrangen, vor allem schmerzliche, war ihm auch das gewaltige Ausmaß dessen bewusst, das er da immer wieder in den letzten Winkel seines Geistes zurück stopfte.

Bald würde dort sicher kein Platz mehr sein. Zumindest hatte er jetzt schon das Gefühl, bald bersten zu müssen. Was dann passierte, sollte wohl besser niemand zu Gesicht bekommen. Vor allem nicht Paige. Sie war die letzte, die er verletzen wollte.

Um seinen düsteren Gedanken und inneren Kämpfe einen Riegel vorzuschieben, marschierte er los, direkt mitten durch die Eingangshalle, hinaus auf die Straße. Die Szenerie draußen hatte sich so deutlich verändert, als hätten sich einige Naturgesetze umgekehrt. Es goss wie aus Kübeln, der Himmel schien kurz vorm Einsturz zu sein, so tief hingen die schwarzen Gewitterwolken und immer wieder erhellte ein Blitzlichtgewitter die sonst so trostlose Stimmung.

Irgendwie passend, fand Ryon zumindest. Aber dass das Wetter so schnell umgeschlagen hatte, war nicht ungewöhnlich. Es war nun einmal nicht zu ändern. Obwohl so heftiger Regen um diese Jahreszeit eher selten war. Vermutlich hatte es schon seit Wochen nicht mehr geregnet und würde auch bald wieder damit aufhören. Wenn sie nicht von oben bis unten durchnässt werden wollten, sollten sie das auch hoffen.

Da ihr Hotel wie es den fünf Sternen auch angemessen war, eine Überdachung vor dem Eingang hatte und somit die ankommenden Gäste auch beim Aussteigen vom Regen schützte, wurden sie nicht nass. Aber die Luft war feucht genug, um winzig kleine Wassertröpfchen auf seinem Mantel, seinem Haar und der Haut zu bilden. Bei Letzterem jedoch, verschwanden sie rasch wieder. Der Hitze seines Körpers waren sie nicht gewachsen.

Ein Taxi war schnell herbei gewunken. Ryon hielt Paige die Tür auf, ehe er selbst einstieg und auf französisch dem Taxifahrer mitteilte, dass er zur nächstmöglichen U-Bahnstation wollte.

Warum lange Zeit mit Suchen verschwenden, wenn sie auch einfach auf gut Glück los fahren konnten? Immerhin lag die ‚World Underneath‘ auch unterhalb des U-Bahnnetzes und die Zugänge meistens ebenfalls in deren Nähe. Vielleicht war es in Paris nicht anders. Ansonsten könnten sie es noch bei den Friedhöfen versuchen. Viele davon waren reinste Touristenattraktionen, auch wenn er das ziemlich schräg fand.

Ryon war sich mehr denn je bewusst darüber, wieso er seinen Körper niemals in Mitten von anderen Leichen eingebuddelt haben wollte. Feuer… Das war das einzig Akzeptable.

Sie fuhren gerade über die Seine, als Ryon seine Aufmerksamkeit von der Landschaft draußen, wieder auf die Frau neben sich richtete. Sie schien trotz des Wetters immer noch sehr von der Stadt angetan zu sein. Kein Wunder, Paris war auch wirklich beeindruckend. Vor allem wenn man noch nie hier gewesen war. Bei ihm war es ebenfalls schon sehr lange her. Damals war er noch nicht einmal volljährig gewesen.

„Irgendetwas Interessantes entdeckt?“, wollte er wissen, nachdem er sie eine Weile beobachtet hatte.

Wieder flammte ein Stich in seiner Brust auf. Neugier zählte definitiv auch zu Gefühlen. Aber das hielt er aus, weshalb er diesem Impuls auch nachgegeben hatte. Zu lange schon war es her gewesen, dass er mit jemanden auf Reisen gegangen war. Dabei hatte er früher einmal behauptet, nirgendwo wirklich zu Hause zu sein, da er das Herumreisen so sehr liebte. Nun, Lieben konnten sich im Laufe des Lebens ändern, bis auf einige wenige.
 

Ob sie etwas Interessantes entdeckt hatte? Paige konnte ihren Blick kaum von der Fensterscheibe und der Szenerie dahinter losreißen, so faszinierend fand sie die Stadt, die an ihnen vorbei zog.

Am liebsten hätte sie die Scheibe trotz des immer noch strömenden Regens herunter gekurbelt, um sich bessere Sicht zu verschaffen. Die Gebäude mit den teilweise sehr verschnörkelten Fassaden gefielen ihr gerade in diesem grauen Licht des Gewitters mit den kurzen Phasen des grellen Lichts, in die Blitze die Umgebung tauchten. Wäre auch nur ein kleines Stück aufgerissene Wolkendecke zu sehen gewesen, hätte die Sonne bestimmt wunderschöne helle Strahlen, wie Lichtspots auf Paris hinunter geschickt. Es fühlte sich für Paige fast so an, als mache ihr die Stadt mit diesem Bühnenauftritt ein Geschenk.

Paige hatte schon fast Mitleid mit Ryon, der sich – wie immer – überhaupt nicht zu freuen schien. Aus dem kurzen Blick, den sie ihm schenkte, bevor sie sich doch lieber wieder dem Ausblick zuwandte, hätte man einiges lesen können, wenn man sie denn ein bisschen besser als nur ein paar Tage lang kannte.

„Leider nichts, was uns weiter helfen könnte. Aber wie zu Hause werden die Franzosen sicher auch kein Ortsschild für ihre Unterwelt aufstellen, nehme ich an.“

Das wäre es doch. Ein blinkendes Schild, das bei der richtigen Straßenabfahrt oder der entsprechenden U-Bahnhaltestelle auf die Welt unter der Stadt hinwies. Wie auf einen richtigen Stadtteil.

Letztendlich hätte jede Ansiedlung von übernatürlichen Wesen, wie auch die 'World Underneath' das Paiges Meinung nach verdient. Sie alle waren Nachbarn, auch wenn die Menschen das einfach nicht wahrhaben wollten und sie lieber ignorierten. Wobei, besser ignoriert als tot oder im Labor unters Mikroskop gelegt.

Wie nebenbei legte sie die Beine übereinander, um zu überprüfen, ob sich die kleine Vorrichtung mit der Glasphiliole noch dort befand, wo Paige sie mit einem speziellen Lederband am Oberschenkel festgemacht hatte. Natürlich war noch alles in Ordnung. So wie immer. Aber man konnte ja nicht vorsichtig genug sein. Auch wenn Paige selbst nicht verstand, warum sie gerade in Ryons Gegenwart und in letzter Zeit immer wieder und nachdrücklicher an die beiden schäumenden Flüssigkeiten erinnert wurde. Normalerweise trug sie die Essenzen nicht ständig am Körper. Sie hatten bis zu seinem Auftauchen ruhig und am Rande des Vergessens im Spülkasten geruht. Vielleicht wäre es besser gewesen, sie wären dort geblieben.

„Da ist ein U-Bahn-Eingang.“

Das Taxi wurde bereits langsamer, als der Fahrer seinen Zielort ebenfalls erkannte und am Straßenrand anhielt, um sie aussteigen zu lassen. Als Paige die Tür öffnete, während Ryon noch das mit der Bezahlung übernahm, schüttete es immer noch in Strömen und sie wäre um ein Haar in die riesige Pfütze getreten, die sich auf dem Bürgersteig sammelte.

Damit sie sich beide nicht aufhielten und so bloß noch nasser wurden, als ohnehin unvermeidlich war, zog Paige ihren Mantel über den Kopf, so weit es ging und sprintete los. Ein paar Treppenstufen aus hartem Beton hinunter, zwischen Passanten mit Regenschirmen, Einkaufstüten oder Rucksäcken vorbei, erreichte sie eine überdachte Zwischenebene. Hier stellte sie sich unter einen der Fahrpläne und wartete darauf, dass Ryons riesenhafte Silhouette auftauchte.
 

Eigentlich war seine Frage nicht so gemeint gewesen, wie Paige sie beantwortet hatte. Aber vermutlich war es für sie nicht offensichtlich gewesen, dass er nach ihren persönlichen Interessen an der Stadt gefragt hatte. Kein Wunder.

Er sprach meistens so nichtssagend, dass man am besten Fuhr, wenn man ihn einfach wirklich nur beim Wort nahm. Die Sache mit der veränderten Stimmlage und wie viele verschiedene Möglichkeiten in Form und Aussage man dadurch mit jedem Wort erhielt, konnte er einfach nicht mehr. Seine Stimme würde immer glatt wie polierter Marmor sein, ohne lauter oder leiser, tiefer oder höher zu werden. Wie gedruckte Worte auf einem weißen Blatt Papier.

Da Ryon sich nun lieber wieder auf ihre Umgebung konzentrierte, versuchte er auch nicht, erneut ein Gespräch in Gang zu bringen. Es war in Hinsicht auf ihre Aufgabe, ohnehin im Augenblick völlig sinnlos. Auch wenn ein winziger Teil in ihm, sich eingestehen musste, dass er gerne mit Paige sprach. Zumindest war das tausendmal besser, als sich von ihr in einen Braten verwandeln zu lassen.

Der Himmel hatte noch immer seine Schleusen geöffnet, nachdem er den Fahrer bezahlt hatte und ebenfalls ausstieg.

Paige war in dem trüben Dämmerlicht und den Unmengen von Menschenmassen nicht mehr zu sehen, aber er wusste, sie würde nicht weit sein. Dennoch war ihm unbehaglich zumute, sie hier in dieser fremden Stadt alleine zu wissen. Etwas in ihm, stellte sich vollkommen quer, bei der Vorstellung, nicht in ihrer Nähe zu sein, um aufzupassen. Sie hatte es bestimmt nicht nötig, aber wenn schon er nichts an diese Gefühl ändern konnte, dann sie erst recht nicht. Ryon war deswegen mehr verwirrt, als er zugeben wollte. Paige verwirrte ihn.

Da Ryon weder das Wetter kümmerte, noch die Tatsache, dass er trotz seiner Bemühungen seine Gefühle nie ganz unter Kontrolle hatte, sah er sich erst einmal aufmerksam in der Umgebung um, während das Wasser nur so in Strömen auf ihn nieder prasselte.

Bei dieser Nässe konnte er keine Witterung aufnehmen und war somit gezwungen, sich auf seine anderen Sinne zu konzentrieren. Doch es schien keine Gefahr zu herrschen. Niemand hatte sie verfolgt, auch wenn er glaubte, dass das ohnehin keiner tun würde. Zumindest niemand, der von dem Amulett wusste. Boudicca würde sie doch sicherlich nie in Paris vermuten.

Als er nach kaum einer Minute los ging, um nach Paige zu sehen, war er bereits pitschnass und seine Haare klebten ihm in nassen Strähnen am Kopf. Doch unter seinem Mantel war er immer noch trocken. Nicht umsonst war der Stoff imprägniert.

Er fand sie vor einem Linienplan.

„Ich würde vorschlagen, wir sehen uns hier einfach einmal um. Das Untergrundnetzwerk ist ziemlich verzweigt, also ideal, um irgendwo heimlich Zugänge zu verbergen.“

Er schüttelte sich leicht, mehr denn Tier als Mensch, ehe er sich die feuchten Haare zurück strich.

Danach sah er sich den Linienplan genauer an und prägte ihn sich weitestgehend ein, ehe er eine Geste machte, um Paige in einen der Gänge zu führen, durch dem sie zu der Metro gelangten.

Da viele Menschemassen an ihnen vorüber zogen, ging er näher an sie heran, als er es normalerweise getan hätte, aber die Enge und seine Größe waren nur ein Punkt, der ihn dazu trieb. Auf der anderen Seite wollte er sie nicht in dem Getümmel verlieren. Was wäre, wenn das jedoch trotzdem einmal passierte?

„Wir sollten uns einen Plan zurecht legen, falls wir von einander getrennt werden.“, sprach er seine Überlegungen laut aus, ehe er Paige zu einen der Schalter führte, wo er für sie beide je eine Karte ‚Paris Visite‘ kaufte, die ihnen den Zugang für eine Woche zu jeder Linie der Metro gewährte, ohne ständig bei den Metallschranke die Karte durchzuziehen. Auch wenn er nicht annahm, dass sie hier eine Woche mit Suchen zubrachten.

An der Haltestelle angekommen, führte er sie in eine etwas abgelegene Ecke, wo sie alles überblicken konnten und trotzdem nur so aussahen, als würden sie auf die Bahn warten. Auch hier herrschte viel Getümmel, es waren sogar zwei Straßenmusiker hier, die einem die kurzen Wartezeiten mit etwas Musik vertrieben.

Ryon sog tief die kühle Luft in sich ein, da hier genug Gerüche in der Luft waren, um etwas zu wittern. Leider nicht immer nur die besten.

Paris konnte noch so eine saubere Stadt sein, gewisse Dinge änderten sich nie. Weshalb er vorwiegend Urin, Fäkalien und den Gestank von Verwesung wahrnahm. Auch die verschiedensten Düfte von Parfums und Aftershaves waren nicht gerade hilfreich, verdeckten sie doch häufig den Körpergeruch selbst. Aber auch so konnte er ein paar übernatürliche Wesen wahrnehmen, die wie jeder andere Bürger auf dem Weg zur Arbeit oder nach Hause aussahen. Von einem wild knutschenden Pärchen war er sogar ziemlich sicher, dass ER nicht wusste, dass SIE eine Werwölfin war. Aber das einzige wirklich Unverständliche daran war die junge Frau.

Wie alle Tiermenschwesen war sie sehr leidenschaftlich. Menschen konnten da nur selten mithalten, obwohl sich der Kerl wirklich alle Mühe gab, ihrem Hunger gerecht zu werden. Er schien nicht mehr von ihr zu lösen zu sein, selbst als die erste Bahn ankam. Ihre Lippen klebten aufeinander, als wären sie verwachsen und würde sich außer Ryon sonst noch jemand für die beiden interessieren, hätten alle anderen Anwesenden sofort mitbekommen, wie diese Knutscherei unweigerlich enden würde. Die Reaktionen des Kerls waren einfach nicht zu übersehen, von dem Geruch der Lust ganz zu schweigen.

Mit Entschlossenheit wandte Ryon seinen Blick von dem Pärchen ab und beobachtete stattdessen eine alte Dame bei ihren Selbstgesprächen. Sie sah genauso verrückt aus, wie sie sich geben wollte. Aber bestimmt war sie es nicht. Sie nahm die Welt einfach nur mit anderen Augen war. Ein einfacher Mensch, aber auf jeden Fall einer mit geistigen Fähigkeiten. Wie Marlene…

Als sich Ryon zur Ordnung rief, stand er so still und steif da, als wäre er nichts anderes, als der überlaufende Mistkübel in ihrer Nähe. Einen Moment lang blendete er die Frau neben sich völlig aus, während er innerlich schon wieder damit begann, die ganzen Risse und Furchen zu kitten, aus denen ständige diese Gedanken und Gefühle hervor brachen.

Natürlich war klar gewesen, dass ihn hier, so weit weg von dem Haus trotzdem alles an SIE erinnern würde, aber er durfte sich dem nicht hingeben. Es war vorbei. Es gab kein Zurück mehr. Er konnte nichts mehr an der Sache ändern und die Schuld würde ewig auf ihm lasten. Das hatte er bisher akzeptiert und dennoch nahmen diese Gefühlsattacken kein Ende.

Bevor Paige versucht hatte, ihn auszurauben, war er mehr oder weniger auf einem Level stehen geblieben, wo das Leben ihm zwar auch weiterhin scheißegal gewesen war, aber er auch nicht mehr jeden Tag zu jeder Stunde an Marlene hatte denken müssen. Jetzt, nachdem Paige ihn dazu gezwungen hatte, ob nun bewusst oder unbewusst spielte hier keine Rolle, musste er sich wieder mit den verdrängten Problemen abgeben. Dabei wollte er es nicht mehr. Er hatte diesen ständigen Kampf so satt!

Die nächste Bahn traf ein und Ryon entschied sich dazu, sich einfach nur noch auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. Alle anderen Gedanken würde er strengstens unterbinden.

„Was meinst du, wollen wir einsteigen und etwas in der Gegend herumfahren?“

Alles war besser, als einfach nur dumm in der Gegend herum zu stehen.
 

Paige war gerade schmunzelnd damit beschäftigt gewesen, dem knutschenden Pärchen auf dem Bahnsteig zu zu sehen. Die Dame war eindeutig nicht menschlicher Natur. Paige hätte aus Haltung der jungen Frau, der gekrümmten, leicht ins Gelbliche gehenden Nägel und der Schuhgröße auf Harpye getippt – in Paris vielleicht eher eine Werwölfin. Jedenfalls schien der Kerl, den sie in den Krallen hatte, durchaus schmackhaft zu sein. Ob er wohl so aus dieser Sache heraus kam, wie sich das sein kleines Hirn in seiner zu engen Jeans vorstellte?

Sie spürte den dumpfen Luftzug, den die Bahn aus dem Tunnel heraus vor sich her schob, bereits in den Haaren, bevor sie auch das Vibrieren und leichte Pfeifen auf den Gleisen hören konnte. Hier war es wirklich so voll, dass sie nur die Möglichkeit hatten, von einem fahrenden Wagen aus Ausschau nach möglichen Zugängen im Tunnel zu halten. Sich einfach über die Absperrung auf den Weg in den Schacht zu machen, war unmöglich.

Paige musterte ihren Partner, der mit leicht zusammen gekniffenen Augen in Richtung der ankommenden U-Bahn sah.

Allein wäre sie in diesem Moment, wo sich jeder auf das Eintreffen des Transportmittels konzentrierte, sehr wohl unbeobachtet in den Tunnel gekommen. Man hätte die Gestalt in dem dunklen Mantel, die sich auf die Gleise schwang, sicher nicht wahrgenommen, wenn sie den richtigen Moment abgepasst hätte. Aber zu zweit und mit einem riesigen Eisschrank an ihrer Seite...

Trotz ihrer geänderten Meinung über Ryon, konnte sich Paige diesen Spitznamen für ihn manchmal einfach nicht verkneifen. Es war zu treffend, um die Bezeichnung einfach fallen zu lassen. Sollte er sich irgendwann als Ausbund an Emotionen oder gar so etwas wie Leidenschaft entpuppen, würde sie ihr Urteil sofort revidieren.

Als er ihr seine eiskalten, schwarzen Augen zuwandte und völlig monoton eine Frage stellte, musste sie grinsen. Auf Leidenschaft konnte sie wohl warten, bis die Hölle oder ihre eigenen Nervenbahnen zufroren.

„Ok, mir fällt für den Augenblick auch nichts Besseres ein.“

Sie ließen sich von den anderen Wartenden in den Wagon schieben und blieben an der hinteren Tür stehen, von wo aus sie einen guten und gleichzeitig wenig auffälligen Ausblick nach draußen hatten. Wenn Ryon sich ein wenig anders drehte, würde noch nicht einmal jemand bemerken, dass sie hinter seinem Körper vor der zweiten Tür überhaupt vorhanden war.

„Was, wenn wir wirklich einen Zugang sehen? Es herrscht zu viel Betrieb, um ungesehen hin zu kommen.“

Sie murmelte nur so laut vor sich hin, dass Ryon sie vermutlich verstehen konnte. Noch immer wusste sie nicht, ob sie es wegen seines inneren Tieres auch bei einem Flüstern hätte belassen können. Aber sie wollte zumindest so weit wie möglich sicher gehen, dass sie niemand belauschen konnte. Dass sie sich hier in einem Land befanden, wo die Bevölkerung eine andere Sprache sprach, hieß ja nicht automatisch, dass niemand sie verstehen konnte.

„Ich glaube eigentlich nicht dran, dass sie den Eingang in die Metro gebaut haben. Wäre viel zu auffällig, wenn jeder Werwolf oder Wandler an den Menschen vorbei müsste, um nach Hause zu kommen.“

Sie hatte ihre Stimme noch mehr gesenkt, sah aber nicht eine angestrengte Muskelfaser auf Ryons Gesicht, das sie konzentriert beobachtete. Er verstand sie also scheinbar noch problemlos. Naja, Erdmännchen hatten ja auch recht gute Ohren.
 

In der Bahn selbst herrschte ein so dichtes Drängen, dass Ryon dazu gezwungen wurde, flach zu atmen. Der ganze Geruchsmix überforderte seine Sinne und ließ leichte Übelkeit in ihm aufsteigen. Denn nicht alle Anwesenden konnten so gut duften, wie seine Begleiterin. Es gab auch durchaus mehr als nur ungewaschene Körper in seiner Nähe, deren Geruch selbst für Menschen nicht verborgen blieb. Was man an dem minimalen Sicherheitsabstand durchaus erkennen konnte.

Paige war zwar alles andere als klein, aber bei dem dichten Gedränge stand er nur zu bereitwillig direkt vor ihr, um als Wellenbrecher zu dienen. Er hatte mit seiner Größe den Vorteil, dass er das ganze Abteil problemlos überblicken konnte und somit jeden Anwesenden gründlich durchmusterte, während Paige sich offensichtlich auf die Gegend draußen konzentrierte. Manchmal war es sehr nützlich vier Augen zu haben, als zwei. Man sah einfach mehr, obwohl auch er natürlich immer wieder nach draußen blickte, wenn eine Station in die Nähe kam, oder die Bahn eine Weile über der Oberfläche fuhr, nur um wieder im dunklen Untergrund abzutauchen.

Als Paige ihm leise etwas zuraunte, musste er sich stark konzentrieren, da ihre Stimme im Lärm vom Rest regelrecht unter zu gehen drohte. Doch nachdem er sich erst einmal auf sie eingestellt hatte, war es kein Problem mehr.

Er selbst senkte nur leicht die Stimme, da er nicht annahm, dass sie ebenfalls so gut hörte, wie er. Was er auf keinen Fall beleidigend meinte, sondern schlicht und ergreifend einfach eine Tatsache sein musste. Im Augenblick schien sie so sehr Mensch zu sein, dass er nichts anderes annehmen konnte.

„Ich bin deiner Meinung. In beiden Punkten. Aber bald ist es ohnehin dunkel...“ Was nicht bedeutete, dass es merklich ruhiger werden würde. Ganz bestimmt nicht, aber es waren garantiert mehr von der anderen Sorte unterwegs.

„Vielleicht treffen wir auf ein paar von uns, an dessen Fersen wir uns heften können.“

Er konnte sich nicht vorstellen, dass all jene, die sich nicht sehr gut als Menschen tarnen konnten, in grellem Licht aufhielten. Dunkle, zwielichtige Orte wären besser dafür geeignet, einmal Frischluft zu schnappen.

Als die Welle der Rushhour nicht mehr zu leugnen war, wurde Ryon zusehends immer dichter an Paige und sie noch weiter zurück an die hintere Wand gedrängt, bis er schließlich beinhart einfach stehen blieb und jedem, der ihn mit Ellenbogen oder Schulter anrempelnd zur Seite schieben wollte, einen Blick zu warf, der töten könnte, auch wenn sein Gesicht dabei genauso emotionslos blieb, wie eh und je. Es machte ihm nichts aus, wenn ihm ständig ein hartes Körperteil in die Seite oder den Magen gebohrt wurde, aber er mochte es nicht, Paige mit seiner Größe zu zerquetschen. Weshalb er ihr alle Leute, sich selbst inklusive, so weit vom Leib hielt, dass er sie nicht einmal berührte.

„Bald sind wir bei der Endstation. Danach können wir umkehren oder zu Fuß weiter suchen.“, gab er schließlich bescheid, während er einen arroganten Geschäftsmann fast gleicher Größe dazu brachte, einen Schritt von ihm weg zu machen, obwohl kaum Platz dafür war. Der Kerl hatte ihm lange genug eine Kante seines Aktenkoffer gegen die rechte Kniescheibe gedrückt. Ryon war inzwischen den ganzen Menschenhaufen samt dem Gestank so überdrüssig, dass er lieber draußen weiter suchen wollte, als noch länger hier in diesem Abteil eingepfercht zu sein.

Nicht mehr lange und er würde irgendjemandem weh tun. Denn obwohl er nichts spürte, was man als gereizt oder total genervt bezeichnen konnte, stand er doch körperlich völlig unter Strom. So lange still zu stehen und sich berühren zu lassen, machte ihn auch ohne seine Psychosen ganz kirre.

Er hasste es, ohne Privilegien angefasst zu werden, selbst wenn es unabsichtlich passierte. Was zu viel war, war einfach zu viel. Weshalb er Paige schließlich einfach bei der nächsten Station hinaus ins Freie schob, ohne auf eine Antwort abgewartet zu haben.

Wie zufällig drängte er dabei auch diesen überheblichen Geschäftsmann zur Seite und plötzlich - oh wie konnte das denn passieren – klappte dessen Aktenkoffer auf und verteilte dessen gesamten Inhalt auf dem Bahnsteig, wo eine Menge Leute ungerührt darüber hinweg trampelten.

Nun, selbst das cleverste Zahlenschloss konnte nichts gegen rohe Gewalt ausrichten. Dabei hatte er dafür nur zwei Finger benötigt.

Erst als der Bahnsteig außer Sicht war, blieb Ryon wieder stehen und entspannte sich etwas, während er seinen Mantel öffnete. Ihm war ziemlich heiß geworden.

„Da drüben sind Schließfächer. Wenn du nichts dagegen hast, würde ich gerne dort meinen Mantel deponieren.“

Selbst auf die Gefahr hin, dass er ihn nie wieder abholen würde.
 

Paige beobachtete die Felswände, die an ihnen vorbei huschten so lange, bis ihr leicht schwindlig davon wurde. Hellere oder dunklere Stellen in den Grau- und Schwarztönen der Tunnel auszumachen, war von Anfang an ein sinnloses Unterfangen gewesen. Bei ihrer Fahrgeschwindigkeit entdeckte Paige zu ihrem eigenen Bedauern rein gar nichts, was ihnen einen Hinweis auf einen Zugang hätte geben können. Im Gegenteil kamen ihr die Wände hier sogar in den Bereichen, wo kein Passant Zutritt hatte, wie poliert und versiegelt vor.

Mit gerunzelter Stirn drehte sie sich um und stellte erstaunt fest, dass ihr die ganzen Menschen, die sich im Verlauf der Fahrt in den Wagon gedrängt hatten, gar nicht aufgefallen waren. Ryon schirmte sie mit seinem Körper so sehr von allen Anderen ab, dass sie sich vorkam wie in einem Kinderplantschbecken, während der Rest der Anwesenden im Meer schwamm. Und dabei war es doch eigentlich er, der sich nicht gern mit Menschenaufläufen abgab. Oder hatte sie da etwas falsch interpretiert aufgrund seiner abgeschiedenen Lebensweise?

Innerlich zuckte sie die Schultern und verließ an der Endstation mit sämtlichen Passagieren den Wagon.

Hinter sich hörte sie Flattern von Papier und ein paar laute Worte auf Französisch, die sie auch ohne der Sprache mächtig zu sein, als Flüche identifizieren konnte. Keine halbe Sekunde später tauchte Ryon neben ihr auf und übernahm die Führung zu einem Durchgang, in dem sie eine Reihe von Schließfächern erkennen konnte.

„Klar, mach nur.“

Paige wunderte sich, wann er plante, nach ihrem forschenden Spaziergang noch einmal zurück zu kommen. Immerhin wollten sie ja fast ans andere Ende der Stadt. Aber sie konnten genauso gut die letzte Bahn in die Gegenrichtung nehmen, um wieder zum Hotel zurück zu kommen. Hoffentlich dann mit positiven Ergebnissen oder schon den Informationen über das Amulett, die sie suchten.

Während Ryon sich zu einem der Schließmechanismen begab, um für ein paar Stunden zu zahlen und seinen Mantel einzusperren, blieb Paige in dem Bogen stehen, der den Raum von dem Zugang zum Bahnsteig trennte. Mit dem Rücken zur Wand stand sie da und beobachtete die vorbei hetzenden Menschen. Viele von ihnen waren bestimmt auf dem Weg von der Arbeit nach Hause. Zu ihren Partnern oder Familien. Einige bestimmt auch nur zu ihrer Katze.

Paige überlegte sich nicht zum ersten Mal, ob ihr so ein Leben besser gefallen würde. Ob es zu ihr passen würde einen täglichen Job zu machen, von neun bis fünf zu arbeiten und dann heim zu fahren, zu Mann und Kind, um zu kochen und dann vor dem Fernseher einzuschlafen.

Als sie gerade dabei war ihre Antwort in ihrem Kopf zu formulieren, wurde sie von der Seite angerempelt. So stark, dass sie einen Schritt zur Seite, weg von dem Raum mit den Schließfächern wich und sich dann erst denjenigen ansah, der sie geschubst hatte.

Der Mann war klein und entsprach genau dem, was Paige als ihr eigenes stereotypes Bild von einem Franzosen bezeichnet hätte. Schwarze Haare, Schnurrbart, sogar ein Ringelpullover unter der schwarzen Jacke und eine schiefe Mütze auf dem Kopf, der ihn wirklich wie eine Werbefigur aussehen ließ. Allerdings roch er zwei Meter gegen den Wind nach Übernatürlichem.

Paiges Muskeln spannten sich und es juckte verdächtig unter ihrer Haut, während sie dem Mann in die hellblauen Augen sah und ein fragendes Gesicht machte. Er sprach sie auf Französisch an, was ihr schlagartig bewusst machte, wie hilflos sie in diesem Moment in dieser fremden Stadt war. Der Mann hätte alles sagen können, von einer Entschuldigung für sein Verhalten angefangen, bis zu einer Drohung. Paige wurde unwohl, als der Mann offensichtlich auf eine Antwort wartete.

„Es... es tut mir leid. Ich spreche kein Französisch. Ich kann leider nicht verstehen, was Sie sagen.“

Wieder fing er an auf sie einzureden und kam dabei immer näher. Seine Hand zeigte von ihr Weg in Richtung Ausgang, doch Paige wollte dem Wink nicht folgen, um ihre eventuell notwenige Deckung nicht fallen zu lassen.
 

Als Ryon seinen Mantel verstaut hatte und sich zu Paige umdrehte, war sie weg. Gerade eben hatte sie noch am Durchgang gestanden, jetzt aber konnte er sie nicht mehr sehen.

Irgendetwas in ihm drin rastete ein.

Ohne darauf zu achten, wem er im Weg stand und wie viele Leute gerade noch so anhalten konnten, bevor sie gegen ihn prallten – manche taten es tatsächlich – ging er schnurgerade auf die Stelle zu, wo seine Begleiterin gerade eben noch gestanden hatte. Noch bevor er um die Ecke bog, konnte er immer noch ihren Geruch wahrnehmen, allerdings lag auch bereits eine Nuance von ihrer anderen Seite darin. Was seine letzten Schritte nur noch beschleunigte.

Als er schließlich direkt neben Paige auftauchte, die offenbar gerade von einer absoluten Witzfigur angemacht wurde, obwohl sie ohnehin kein Wort zu verstehen schien, strahlte er eine derartige Kälte aus, dass der Kerl mitten in seinem Redeschwall über Paiges offenkundige Schönheit und wie bezaubernd sie doch aussah, stoppte und in mit offenen Mund anstarrte. Gerade eben hatte er noch damit anfangen wollen, dass er ihr die Stadt auf eine Art und Weise zeigen konnte, wie sie es noch nie gesehen hatte.

Ryon unterdrückte nur mit Müh und Not ein deutliches Knurren, als er sich neben Paige stellte. Er wollte nicht so tun, als könne sie sich nicht selbst verteidigen, weshalb er seinem ersten Impuls nicht nachgegeben hatte. Sonst hätte er direkt zwischen den beiden gestanden. Aber auch so machte er klar, dass der kleine Penner die falsche Frau angemacht hatte.

„Hör zu, du möchtegern Casanova.“, begann er absolut ruhig auf französisch zu sprechen, aber es lag ein seltsam vibrierender Unterton in seiner Stimme. Ryon fühlte die auflodernde Wut zwar nicht, da er es nicht zuließ, aber sein Körper war gespannt wie ein Drahtseil. Eine falsche Bewegung und er würde den Kerl noch kleiner machen, als er ohnehin schon war.

„Ich gebe dir eine einzige Chance, dich lebend zu verpissen. Sag mir, wie wir in die Unterwelt kommen und du kannst deinen Schwanz noch länger behalten. Wenn nicht, werden alle weitere deiner Anmachen völlig sinnlos werden und du wirst dir einen neuen Zeitvertreib suchen müssen.“

Der Franzose wurde so bleich, wie eine Leiche und begann am ganzen Leib zu zittern. Zwar klappte sein Mund immer wieder auf und zu, aber er brachte keinen Ton heraus. Ryon trat einen Schritt nach vor und überragte den Kerl somit um mehr als zwei Häupter.

„Im Allgemeinen bin ich nicht gerade für meine Geduld bekannt.“

Eine Lüge, aber das musste der Kerl ja nicht unbedingt wissen.

„P-Père Lachaise - J-Jean-Pierre Augereau 1772–1836…“, stammelte der Kerl schließlich, woraufhin Ryon mit einem Kopfnicken klar machte, dass der Typ verschwinden konnte. Was dieser auch sofort machte.

Erst als der Kerl verschwunden war, ließ Ryon seine angespannte Haltung etwas fallen und drehte sich zu Paige um.

„Ich hoffe, du magst Friedhöfe.“, war alles was er auf diese Szenerie hin sagte. Es war zwar sehr nützlich gewesen, dass Paige diesen Idioten angelockt hatte, aber dennoch billigte er diesen Vorfall auf keinster Weise. Noch einmal würde kein Kerl die Gelegenheit bekommen, sich an sie heran zu machen. Ob sie es nun wollte oder nicht, im Augenblick war sie mit ihm auf Reisen. Punkt.
 

Paige war froh, dass Ryon über kurz oder lang neben ihr und diesem leicht aufdringlichen Fremden auftauchte. Zwar wäre sie selbst schon irgendwie aus der Situation heraus gekommen, aber es machte sie dennoch nervös, dass sie nicht im Geringsten abschätzen konnte, welche Reaktion angebracht war.

Im Fass konnte sie immer sehr gut abschätzen, welcher der Kerle, der sich etwas zu anhänglich aufführte einfach nur betrunken und welcher angespitzt war. Dementsprechend konnte sie reagieren und dafür sorgen, dass sie alle ohne blaues Auge aus der Sache heraus kamen. Hier war das etwas anderes, weil sie überhaupt nicht wusste, mit was sie es zu tun hatte. Außer einem dauergrinsenden, geschwätzigen kleinen Dunkelhaarigen, der große Gesten liebte.

Die aufgebaute Spannung klärte sich allerdings auch mit Ryons Erscheinen nicht. Eigentlich hätten Eiskristalle an seinen immer noch leicht feuchten Haarspitzen hängen müssen, so wie er sich hier aufbaute.

Der Begriff Eisschrank war gerade nicht einmal mehr angemessen. Hatte sie den Kerl, der nun anscheinend seine Stimme verloren hatte, etwa um so Vieles unterschätzt? So wie Ryons matte, leere Augen auf seinem sehr viel kleineren Gegenüber hafteten, überlegte sich Paige ernsthaft, ob sie als nächstes wohl ein Messer zwischen den Rippen gehabt hätte.

Ryon sprach wie immer mit aalglatter Stimme mit dem Mann, auch wenn man an dessen Reaktion ablesen konnte, dass die Worte wohl von Anfang an nicht besonders freundlich gewesen waren. Das Lächeln, das im Gesicht des Franzosen wie festgeklebt gewirkt hatte, verschwand nach Ryons erstem Satz auf nimmer Wiedersehen. Dass sie sich trotz des ruhigen Tonfalls offensichtlich über etwas Ernsthaftes und Wichtiges unterhielten, machte Paige hibbelig.

Ihre Schuppen bewegten sich unter nur noch dünnen Hautschichten und drohten in den nächsten Minuten hervor zu brechen, wenn sie nicht jemand darüber aufklärte, was hier Sache war. In diesem Schwebezustand, in dem ihr Körper bereits die Verteidigung aufbauen wollte, für die ihr Verstand noch nicht bereit war, überkam Paige immer ein ungutes Gefühl. Es war jedes Mal ein wenig unangenehm, wenn sie ihr dämonisches Wesen nach außen ließ. Es schmerzte nicht so, wie ihr einige Gestaltwandler deren Veränderung beschrieben hatten. Denn Paiges Schuppen lagen immer unter ihrer Haut, waren aber stark mit ihrem Nervennetz verbunden, das beim Erscheinen ihres Schuppenkleides ebenfalls in höhere Schichten ihrer Haut gezerrt wurde. Dass Feuerdämonen leicht reizbar waren, lag nicht allein an ihrem Charakter. Auch wenn das keine geringe Rolle spielte.

So stand Paige da und beobachtete die Szene, in denen sie weder die Position des einen, noch die des anderen Mannes genau feststellen konnte. Und anstatt für sie Licht ins Dunkel zu bringen, rannte der Mann mit der Werbeaufmachung davon, als wäre ein Schwarm Hornissen hinter ihm her, während Ryon sich in gewohnt emotionsloser Weise zu ihr umdrehte. Paiges Gesichtsausdruck musste auf seine Andeutung hin so aussehen, wie ein sprichwörtliches Fragezeichen.
 

„Wenn die hier noch mehr Klischees auffahren, dann will ich kein warmes Abendessen. Ich stand noch nie auf Schnecken.“

Sie stapften schon eine Weile nebeneinander her eine breite Straße entlang, die an den Ort führen sollte, den der Mann als Zugang zur Unterwelt genannt hatte. Paige war nicht nur skeptisch – sie war allmählich auch wirklich schlecht gelaunt.

Anstatt weiter die diffuse Stimmung des Wetters im Zusammenspiel mit den grauen Fassaden der Stadt zu genießen, ärgerte sie sich inzwischen nur noch über die Pfützen auf dem Bürgersteig und den Wind, der ihr an dem langen Mantel zupfte.

An Ryons Stelle, der sich tatsächlich dafür entschieden hatte, seinen Mantel in dem Schließfach zu lassen, wäre ihr ziemlich kalt gewesen.

„Wandler müsste man sein. Friert ihr eigentlich nie?“

Eigentlich war ihre schlechte Laune nur darauf zurück zu führen, dass sie sich wirklich so fühlte, als wäre sie auf Ryon angewiesen. Selbst in der Hauptstadt sprach kaum jemand ihre Sprache. Und selbst wenn es anders gewesen wäre, hätte sie sich wahrscheinlich nicht besonders gut zurecht gefunden. Das hier war wahrlich nicht ihre Welt und das nervte Paige. Schwäche konnte sie sich durchaus eingestehen, aber das hieß ja noch lange nicht, dass sie sie ohne Gemurre einfach hinnehmen musste.

Durch den Eingang des Friedhofs schlug ihr eine Windbö den Mantelkragen zurück und schickte ihr ein Frösteln über den gesamten Körper. Was nicht allein an der Kälte lag. Eins musste man ihnen lassen, wenn sie schon einen Eingang zu ihrer Unterwelt bauten, dann aber bitte an einem Ort mit Stil.

„Klingt es naiv, wenn ich mir wünsche, dass die hier einen Orientierungsplan haben?“, murmelte sie leise, während sie mit Ryon langsam zwischen den Säulen hindurch auf den Hauptweg des Friedhofs trat.
 

Schon seit sie eine Weile an der Oberfläche unterwegs waren, spürte Ryon deutlich Paiges Unmut. Irgendetwas regte sie langsam aber sicher auf, ohne dass er hätte sagen können, was der Grund dafür war. Dieser kleine Franzose konnte es ja wohl kaum gewesen sein. Mit dem hätte sie locker selber fertig werden können.

Dabei war er selbst alles andere als schlecht gelaunt. Eigentlich hätten sie gleich auf die Idee kommen können, einfach ein übernatürliches Wesen nach dem Weg zu fragen. Natürlich war das riskant und nicht jeder hätte Auskunft gegeben, aber von Übermensch zu Übermensch wäre das sicherlich kein allzu großes Problem gewesen.

Trotzdem, auch Ryon grummelte innerlich noch immer vor sich hin. Er war nicht schlecht gelaunt, so wie Paige, sondern körperlich betrachtet noch immer nicht von seiner Anspannung herunter gekommen. Was seine Nerven auf die Dauer ganz schön strapazieren würde. Allerdings nicht bei seiner Begleitung.

„Sollte einmal der Fall eintreten, weiß ich ja, an wen ich mich halten muss, um eine heiße Umarmung zu bekommen.“

Das war natürlich ein Scherz. Er wollte nie wieder von Paige abgefackelt werden, aber er musste seine instinktiven Ängste in dieser Richtung nicht auf einem Pranger vor sich her tragen. Schwäche war für ihn schon immer etwas gewesen, dass er peinlichst genau vor anderen verheimlichte.
 

„Oh mein Gott. Ryon...!“

Sie sah ihn mit großen Augen an und verlangsamte ihre Schritte, die sie nun über den erstbesten breiten Weg auf das Zentrum des Friedhofes zuführten. Er blieb bei dieser Reaktion selbst beinahe stehen und überflog mit seinen Blicken kurz die Umgebung, ehe er sie fast fragend anstarrte.

„Ein Scherz. Du hast gerade tatsächlich einen Scherz gemacht.“

Natürlich zog sie ihn auf. Aber ihre Bestürzung war nicht annähernd so stark gespielt, wie man hätte meinen können. Er hatte sie mit dem kleinen ironischen Seitenhieb wirklich überrascht – sehr im positiven Sinne.

Lachend und mit einem amüsierten Kopfschütteln stapfte sie weiter, während sie ihre Fäuste tief in den Manteltaschen vergrub.

Konnte man vielleicht an einigen Stellen doch ein paar Risse im Eis sehen? Das wäre doch was. Dann könnten sie sich einmal länger als zwei Sätze miteinander unterhalten.
 

Auf der Stelle schrillten in Ryon alle Alarmsirenen los, als Paige so heftig reagierte. Seine Sinne wurden mit einem Schlag noch schärfer, da er sie noch bewusster nach allen Richtungen ausstreckte, doch er konnte keine Gefahr ausmachen, was auch letztendlich nicht der Auslöser für Paiges Reaktion gewesen war. Sondern er selbst.

Offenbar hatte sie ihm bisher nicht zugestanden, dass er auch einen Scherz machen konnte und um ehrlich zu sein, er selbst hätte es auch nicht gedacht. Trotzdem fühlte es sich seltsam an, dass jemand so überrascht auf seinen doch immer noch ziemlich kalten Humor reagierte.

Früher hatte er ohne Probleme sofort die Stimmung eines ganzen Raumes hoch schnellen lassen können. Paiges Lachen zu hören, war daher wie eine zurück gekehrte Erinnerung aus der Vergangenheit.

Ryon fühlte sich mit einem Schlag vollkommen unwohl. Ihr Lachen, so kurz es auch gewesen sein mochte, ließ seine Nackenhärchen zu Berge stehen und ein elektrisierendes Prickeln rauschte durch sein Rückenmark, bis es direkt in seinem Bauch landete. Daraufhin versteifte sich seine Haltung noch mehr.

Er hatte keine Ahnung, warum ihr Lachen ihm so derartig in Mark und Bein ging. Vermutlich, da sie es das erste Mal in seiner Anwesenheit getan hatte.

„Warum frierst du überhaupt?“, wollte er dann doch wissen, um sich selbst abzulenken und da es ziemlich seltsam klang, wenn es von einer Pyromatin kam, die ein paar Eigenschaften von einem Drachen hatte. Im positiven Sinne gesprochen. Charakterlich war sie sicherlich kein alter Drachen.

Als sie durch den Torbogen des Eingangs gegangen waren, verstand Ryon auf Anhieb nicht, wie man so etwas nur schön finden konnte.

Dieser Friedhof war zugepflastert von oben bis unten nur mit ein paar grünen Elementen darin. Er als Wandler konnte diese Art der Bestattung absolut nicht nachvollziehen. Tote Körper gingen wieder zurück zur Natur, nur davon war hier absolut nichts zu sehen. Das war wirklich eine bildhafte Darstellung für die Unmengen von Egoisten, die nie vergessen werden wollten, egal wie unwichtig sie am Ende doch gewesen waren. Hier hatten sie sich auf ihre Art verewigt.

Ryon fand das alles einfach nur geschmacklos und da es auch Nacht und ziemlich trostlos war, erschien der Ort auch noch auf seine Weise ganz schön unheimlich. Bei diesem Wetter waren kaum Leute unterwegs und nicht jeder von den Seitenwegen war beleuchtet. Der Schein vieler Kerzen erhellte zwar das Meiste, aber für ihn stand schon einmal fest. Diese Sehenswürdigkeit würde er nie wieder in Betracht ziehen.

Paige hatte natürlich auch recht, was die Größe dieser Egostätte anging. Pläne gab es sicher und bestimmt auch eine Liste, auf der man einige der berühmten Leute finden konnte, aber um diese Uhrzeit und bei diesem Wetter, würden sie kein Glück haben. Allerdings wollte er es auch nicht für heute sein lassen und es morgen noch einmal versuchen. Jetzt wo sie schon hier waren, konnten sie sich zumindest schon einmal umsehen, während Paige ihm seine Frage beantwortete.
 

„Erstmal bin ich ja keine ganze Dämonin.“

Ein prüfender Blick zur Seite und in Ryons Gesicht sagte ihr nicht, ob er das bereits wusste. Er hatte ihre andere Seite zu sehen und auch schon zu spüren bekommen. Möglicherweise war ihm gar nicht in den Sinn gekommen, dass sie etwas Anderes als eine Feuerdämonin sein konnte. Wäre ja auch die logische Schlussfolgerung.

„Als Mensch ist mir durchaus kalt.“

Wenn man den Rock bedachte, zu dem sie sich hatte hinreißen lassen, war das im Moment sogar noch ein wenig untertrieben. Sie hoffte bloß, dass sie bald diesen Eingang fanden.

„Wie viel weißt du denn über Feuerdämonen? Wir sind... - oh, sieh mal!“

Sie deutete auf eine Gestalt, die wie sie beide gegen den kalten Wind kämpfend ein wenig nach vorn gebeugt, gerade zwischen zwei hohen Grabsteinen verschwand.

Paige konnte zwar nicht riechen, um was für ein Wesen es sich handelte, aber wenn derjenige hier nachts so zielstrebig herumlief, dann konnte das nur etwas Gutes für sie bedeuten. Bestimmt könnte er ihnen sagen, wo sie den Abstieg zur Unterwelt fanden.

Kaum, dass sie den Gedanken zu Ende gedacht hatte, steuerte sie hinter dem Fremden her ein paar glitschige Steinstufen hinauf und dann auf eine Wiese. Dort sah sie kurz an einem der Grabsteine hoch, bevor sie sich zwischen ihnen hindurch schob und nach der Silhouette des Mannes im Zwielicht Ausschau hielt. In dem bisschen Kerzenschein und der Beleuchtung des Hauptweges war für sie nicht viel zu erkennen. Sie sah über ihre Schulter, als sie Ryon hinter sich über das Gras kommen hörte.

„Ich hab keine Ahnung, wo genau er hin ist. Möglicherweise ist er d – AAAAAAAAAH!“

Der Boden kam unter ihren Füßen derart ins Rutschen, dass sie sich nirgendwo festkrallen konnte. Das Gras, an dem sie sich festklammerte, riss einfach aus dem vom Wasser aufgelösten Schlamm. Wurzeln schlugen ihr ins Gesicht, während sie von einer kleinen Schlammlawine mit in ein kleines Loch im Erdreich gerissen wurde. Ein Stück fiel sie sogar und landete unsanft auf ihrer Kehrseite, bevor ein ganzer Schwall Erdreich auf sie hinunter prasselte.

Mit einem Stöhnen setzte sich Paige auf und wischte sich erst einmal den klebrigen, kalten Dreck aus den Augen. Die Umgebung war bis auf das wenige Licht, das von oben herein fiel, stockdunkel. An ihrem Zeigefinger flammte ein Feuerschein auf, der sofort wieder erlosch, als sie erschrocken zusammen fuhr.

14. Kapitel

Gerade als er sie fast eingeholt hatte, nachdem sie ihm einfach so davon gelaufen war, war sie plötzlich mit einem Schlag verschwunden. Zumindest ihr Körper, denn hören konnte er sie immer noch.

Erneut alarmiert war er mit einigen wenigen Sätzen am Rande des Lochs, in das Paige gefallen war. Obwohl es wohl eher wie ein geschaufeltes Grab aussah, schien es doch tiefer zu sein und so weit er das von hier aus beurteilen konnte, ging es auch noch weiter.

„Paige?“

Er ging an einer stabil wirkenden Seite des Lochs in die Hocke und spähte in das Dämmerlicht hinein. Sie saß fast direkt darunter, schmutzig aber so wie es aussah, unverletzt. Gott sei Dank.

Eine Welle der Erleichterung fuhr durch ihn hindurch, ohne dass er es mit bekam. Denn noch bevor sie irgendwie reagieren konnte, sah Ryon sich noch ein letztes Mal nach allen Seiten um, ob die Luft rein war und drückte sich dann vom Boden ab, um ebenfalls in das Loch zu gelangen.

Lautlos und weich landete er knapp neben ihr auf seinen Füßen, blieb aber in der Hocke, während er sich wachsam umsah. Seine Nachtsicht war zwar perfekt, aber hier unten herrschte so wenig Licht, dass er selbst gerade nur noch schwarzgraue Konturen erkennen konnte. Für Farbe reichte es einfach nicht mehr.

Paige hingegen sah er dank des Lichts von Oben noch ganz genau, während alle anderen Sinne immer noch auf ihre Umgebung gerichtet waren. Offenbar saßen sie hier mitten in so eine Art unterirdischem Tunnel. Niemand war zu sehen, aber es roch nicht nur nach feuchter, modriger Erde… Ryon witterte Blut.

„Alles okay, bei dir?“, fragte er leise, da ihm alles andere viel zu laut vorgekommen wäre. Ohne großartig darüber nachzudenken wischte er Paige Steine, Dreck und Erde von ihrem Mantel.

„Tut dir irgendetwas weh?“, wollte er wissen, während er ihre Fußknöchel abtastete und bewegte. Offenbar war soweit alles noch in Ordnung. Gebrochen war zumindest schon einmal nichts. Aber aus dieser Höhe wäre das auch eher großes Pech gewesen. Trotzdem ging er lieber auf Nummer sicher.

Als er sich näher zu Paige hin lehnte, wurde der Blutgeruch stärker, wodurch ihm bewusst wurde, dass er von ihr kam.

Sofort schnellte seine Hand nach vor, berührte ihre Wange, um ihren Kopf sanft zur Seite zu drehen.

„Du blutest.“, war seine vollkommen ruhige Feststellung, als er ihr seinen Hemdärmel an den aufgekratzten Hals drückte und die Verletzung zumindest grob von dem Dreck säuberte, der an ihr haftete. Danach nahm er den Stoff weg und sah sich die Wunde genauer an.

„Nur eine Schramme. Die Blutung hat schon fast aufgehört. Ist nicht weiter schlimm.“

Er ließ sie wieder los und stand auf.

„Kannst du aufstehen?“

Er streckte ihr die Hand hin.
 

Paige hatte die ganze Zeit nicht von der Stelle weg gesehen, die sie derart erschreckt hatte. Ryons Berührungen bemerkte sie erst, als er ihren Kopf zur Seite drehte.

Sie zuckte erneut zusammen, als ihr bewusst wurde, wie nah sie sich waren. In der Hocke lehnte Ryon ein Stück über ihr, da sie immer noch auf ihrem Hintern im kalten Dreck saß. Die Lippen ein wenig geöffnet atmete sie flach, als er ihren Hals abwischte und sich sogar noch ein wenig näher zu ihr hin lehnte, um sich ihre Verletzung anzusehen. Auf ihrer dunklen Zunge konnte sie seine Wärme schmecken, von seinem Geruch ganz zu schweigen.

Und dann war es auch schon wieder verschwunden. Er stand auf und hielt Paige die Hand hin, um ihr aufzuhelfen.

Als sie endlich ebenfalls wieder aufrecht stand, stampfte sie vorsichtig mit beiden Füßen auf, um sicher zu gehen, dass alles noch so funktionierte, wie es sollte. Bei dem Sturz hatte sie sich nichts verstaucht oder irgendwie sonst verletzt. Von der 'Schramme' am Hals einmal abgesehen. Aber die brannte auch nur noch ein wenig.

Paige trat einen Schritt von Ryon weg und auf die Stelle zu, die sie eine ganze Weile misstrauisch im Auge behalten hatte. Wieder flammte warmes Licht auf, als sie ihre brennende Hand vor sich ausstreckte und damit den gesamten Gang erhellte. Nun erschrak sie nur innerlich, anstatt das kurze Entsetzen auch nach außen zu lassen und es dem Mann hinter ihr zu zeigen.

Stattdessen kniff sie die Augen zusammen und starrte in die gähnende Leere, die sich vor ihr auftat. Der Fremde, dessen Gesicht sie vorhin im kurzen Aufflackern ihrer Flamme gesehen hatte, war verschwunden und hatte für sie keine erkennbare Spur hinterlassen.

„Ein Wasserspeier.“

Mit verdammt großen Zähnen, wenn sie dem Bild trauen sollte, dass sie von dem kurzen Erkennen im Kopf hatte.

„Er ist da lang.“

Sie zitterte leicht, was Ryon hoffentlich auf die Kälte schob. Aber sie musste sich bestimmt keine Sorgen machen. Weit konnte es zur Unterwelt nicht mehr sein.
 

Als das Licht so plötzlich aufflammte, wich Ryon automatisch einen Schritt vor Paige zurück.

Zum Glück konnte sie seine Reaktion nicht sehen, da sie sich auf einen Punkt in die entgegen gesetzte Richtung konzentrierte, aber es reichte für ihn selbst, um sich zu fassen.

Diese Frau war nun einmal, was sie war. Er sollte es akzeptieren und in dieser Umgebung war ihre Fähigkeit sogar ganz nützlich. Dadurch musste er seine Augen nicht so sehr anstrengen, um etwas zu erkennen.

„Ein Wasserspeier…“

Deshalb hatte er also nichts wittern können. Wenn diese Gestalt ein vollkommener Wasserspeier ohne menschlichem Blut war, würde er ihn nie wittern können. Zumindest würde es immer irgendwie erdig oder nach Stein riechen. Selbst wenn er in menschlicher Gestalt herum ging. Gestaltwandler waren nun einmal keine Alleskönner. Man konnte auch ihre Sinne täuschen.

Da es Paige offensichtlich gut ging und sie ohnehin andeutete, dass sie dem Weg oder besser gesagt, der Erscheinung folgen wollte, die er nicht mehr hatte sehen können, trat er neben sie, aber mit gewissem Abstand aus Respekt vor ihren Fähigkeiten.

„Meinst du, der Weg führt direkt zur Unterwelt?“

Die Frage war eigentlich unwichtig, da sie das sowieso gleich heraus finden würden, dennoch stellte er sie.

Er fühlte sich in diesem Gang keinesfalls wohl und langsam konnte er das Kribbeln in seinen Gliedern nicht mehr ignorieren. Ryon war nicht nur in höchster Alarmbereitschaft, sondern auch bis auf den letzten Nerv absolut angespannt. Keiner von ihnen konnte sagen, was sie erwarten würde und genau das war es, was ihn reizbar machte – das Unbekannte.

„Lass uns einfach nachsehen.“, schlug er schließlich vor, da untätig herum stehen noch mehr an ihm zerrte. Handlung war gut. Handlung zwang ihn dazu, etwas von der Anspannung in Energie umzuwandeln, um zu funktionieren. Stillstand war also äußerst schlecht. Außerdem hatte er immer noch Adrenalin im Körper, das Paiges Fall in dieses Loch ausgelöst hatte. Auch das wollte abgebaut werden.
 

„Ich weiß es nicht. Aber der Typ schien nicht sonderlich beeindruckt von dem kleinen Sturz. Er wirkte genauso zielstrebig wie an der Oberfläche.“

Paige konnte sich nicht erklären, wie der Wasserspeier hier unten seinen Weg finden konnte, ohne zuvor hier gewesen zu sein. Aber andererseits hatten sie auch nur zwei Möglichkeiten. Entweder nach vorn, dorthin wo der Fremde verschwunden war, oder in die entgegen gesetzte Richtung. Was allerdings ihre Chancen Paiges Meinung nach verminderte. Das musste ungefähr die Richtung sein, die in mehreren hundert Metern unter die Hauptstraße zurück und vielleicht sogar in einen der Tunnel der Metro führte. Genau konnte man das aber auch nicht sagen. Immerhin konnten Biegungen und Wegänderungen auf sie warten, egal für welche Richtung sie sich entschieden.

Als sie sich nun in Bewegung setzten, blieb Paige wenn möglich einen halben Schritt vor Ryon, um ihm den Weg zu erleuchten. Ihr war aufgefallen, dass er sich ziemlich weit von ihr fern hielt. Erst jetzt kam ihr der Gedanke, dass er ihre dämonische Seite mit den Flammen noch weniger mochte, als den Rest von ihr. Verständlich, wenn man bedachte, wie sie seine Hand zugerichtet hatte. Eindeutig schlechtes Gewissen begann an ihr zu nagen, auch wenn sie sich für ihre damalige Reaktion nicht schämen wollte. Es war ihrer Meinung nach angemessen gewesen. Jetzt würde sie doch nur derartig in die Luft gehen, wenn er ihr tatsächlich irgendwann ans Leder wollte.

Sie folgten dem Gang langsam und bedächtig. Immerhin konnten sie nicht wissen, was im Dunkeln vor ihnen lauerte. Selbst wenn es lediglich dieser Steindämon sein sollte, dem sie zu sehr auf die Pelle rückten, wäre das vermutlich nicht angenehm geworden.

Nach einer Weile konnte Paige allerdings nicht anders, als diese uralte Schutzfunktion auszuspielen, die auch die Menschen anwandten, wenn sie sich in unbekannte Gefilde vorwagten, die ihnen Angst machten.

Um sich selbst zumindest ein wenig zu beruhigen, fing sie an zu summen. Zuerst ganz leise, bis es zu einem vorsichtigen, aber klaren Singen wurde. Für sie selbst schob es die dunklen Schatten besser zur Seite, als die Flamme, die sie auf ihrer Handfläche vor sich hertrug.
 

Da sie beide mit äußerster Vorsicht vor gingen, konnte es natürlich nicht sehr schnell voran gehen, weshalb sie auch bereits eine ganze Weile unterwegs waren, ohne auf irgendetwas zu stoßen. Was die Situation eigentlich noch schlimmer machte, weil man das Gefühl bekommen konnte, gleich müsse irgendetwas passieren und je länger man darauf wartete, desto größer wurde dieses Unbehagen.

Ryons Blick schoss bereits unruhig hin und her, tastete alles ab, was er erwischen konnte, um auf mögliche Fallen oder Gefahren vorbereitet zu sein. Sein Geruchssinn half ihm nicht sehr viel weiter. Er konnte nur Paige wittern und den modrigen Geruch von Erde.

Zu wissen, dass über ihren Köpfen Leichen verscharrt waren, machte das Ganze nicht wirklich besser. Zum Glück war der Weg teilweise leicht abschüssig, was bedeutete, dass sie sich von den Gebeinen der Toten entfernten.

Als ein leises Summen von Paige zu ihm herüber drang, wollte er ihr schon sagen, sie solle damit aufhören, da er so noch weniger hören konnte. Das Geräusch ihrer beiden Schritte war in dieser Stille schon laut genug, um verdächtige Geräusche zu spät erkennen zu lassen, aber ihr Summen merzte auch noch den letzten Rest davon aus.

Doch bevor er den Mund aufmachen konnte, registrierte er, wie das Kribbeln in seinen Fingern nach ließ und auch die vollkommene Angespanntheit sich in ihm etwas zurück zog. Es war verrückt, aber ihre Stimme zu hören, schien ihn körperlich etwas zu beruhigen. Wie bei einer Katze die trotz ihrer Angst schnurrte, um sich selbst die Furcht etwas zu nehmen. Also kannten auch Halbdämonen wie sie diesen Trick.

Vielleicht war es aber auch nur eine rein menschliche Reaktion. Er konnte es nicht sagen. Schwieg aber schließlich weiterhin, selbst als sie leise zu singen anfing. Ihre Stimme war sehr schön.
 

Irgendwann, nachdem er schon keine Steine und Erde mehr sehen konnte, kamen sie endlich an etwas, das man eine Abzweigung nennen konnte, an. Allerdings war keinerlei Hinweisschild aufgestellt, wo es nun zur ‚Dark Side of Paris‘ ging. Nicht einmal Fußspuren waren zu sehen, da der Boden im Laufe der Jahre von vielen Füßen ganz fest getrampelt worden war und Gerüche schienen sich hier rasch zu verflüchtigen.

„Was nun?“, durchbrach er die aufkommende Stille, nachdem Paiges Gesang ebenfalls verstummt war. Vermutlich wusste sie genauso wenig weiter, wie er.
 

Die beiden Gänge, die sich vor ihnen geöffnet hatten, gaben keinerlei Hinweis darauf, wo sie hinführten. Von ihrer Position aus konnte man nicht einmal sehen, ob sie nicht schon nach wenigen Metern wieder zusammen führten.

„Es sieht nicht so aus, als wäre der eine Durchgang öfter benutzt worden, als der andere. Wenn wir Glück haben, führt jeder von ihnen früher oder später zum Ziel.“

Automatisch und völlig unbewusst hatte Paige angefangen von einem Fuß auf den anderen zu treten. Ihr war immer kälter geworden und gerade die Finger, über denen die kleine Flamme loderte, waren reinste Eiswürfel.

Ihrer dämonischen Seite war die kühle und vor allem sonnenfreie Umgebung wie ein Dorn im Fleisch. Lange würde sie es in dieser Finsternis nicht aushalten. Vor allem dann nicht, wenn sie das Feuer aufrecht erhalten musste. Sie selbst hatte es schon oft ironisch gefunden, dass sie angreifbarer wurde, je besser sich ihr Körper gegen Angriffe rüstete. Als einfacher Mensch konnte sie es unter der Erde wesentlich länger aushalten. Auch wenn sie dann ebenfalls frieren musste. Zumindest büßte sie dann weder an Beweglichkeit noch bewussten Sinnen ein.

Aber über eventuelle Ausfälle machte sie sich im Moment wenig Sorgen. Bald hätten sie die Unterwelt bestimmt gefunden und dann konnten sie nicht nur die Informationen einholen, für die sie hergekommen waren, sondern es war auch ein heißes Essen oder ein Kakao drin. Davon würde Ryon sie selbst mit seiner gesamten Körperkraft nicht abhalten können.

„Lass' uns nach links gehen.“

Sie hatte keine logische Erklärung, warum links besser sein sollte als rechts. Aber es machte wahrscheinlich auch keinen Unterschied. Irgendeinen Weg würden sie nehmen müssen und der eine war so gut wie der Andere.

„Oder hast du Argumente für den Weg?“

Mit der flammenden Hand zeigte sie auf den rechten runden Eingang. Ein Stück ging sie auf die Gabelung zu, steckte auch ihre zweite Handfläche in Brand und breitete die Arme aus. So konnten sie ein wenig mehr sehen. Allerdings zeigte sich für Paige nichts, was ihre Entscheidung änderte.

Diesmal vorsichtiger als bei ihrem Vorstoß oben auf dem Friedhof, trat sie einen einzelnen Schritt in den linken Gang hinein. Dann noch einen, als fürchte sie, dass der Boden wieder unter ihr nachgeben könnte. Nichts dergleichen geschah und noch dazu blieb alles unheimlich still.

Sogar ihr Schlucken schien von den kalten Steinwänden wieder zu hallen. Genauso wie Ryons Schritte, als er ihr folgte.

Sie gingen schweigend weiter. Immer geradeaus, ohne auf eine neuerliche Weggabelung zu treffen. Immer wieder schienen sie näher an die Oberfläche zu kommen, bloß um dann wieder tiefer nach unten zu laufen.

Einmal wand sich sogar eine Art Treppe aus Wurzeln in die Erde hinunter, was Paige freudiges Herzklopfen bereitete. Das wurde aber am Ende der Stufen enttäuscht, wo sie bloß wieder in einem anderen dunklen Gang landeten.

Bevor Ryon es bemerken konnte, wechselte sie die flammende Hand und bewegte an der Rechten ihre Finger, bevor sie sie in die Manteltasche steckte. Sie konnte die Kälte sogar an ihrem Körper durch den Stoff der Jacke und ihres Oberteils spüren.

Ohne das verdächtig eingeschüchterte Schwingen in ihrer Stimme unterdrücken zu können, wandte sie sich an ihren Begleiter. Jetzt staunte sie nur noch mehr darüber, dass ihm die dunklen Haare auf den Unterarmen nicht in einer Gänsehaut zu Berge standen.

„Was, wenn wir hier nie wieder rausfinden?“
 

Da für ihn ein Weg genauso gut wie der andere erschien, erhob er keine Einwände was Paiges Wahl anging. Bisher deutete nichts daraufhin, dass es ihre Entscheidung irgendwie beeinträchtigen würde, wenn sie dem linken, statt dem rechten Pfad folgten. Das Ende von beiden lag im Dunkeln. Hoffentlich führte wenigstens einer von ihnen irgendwo hin.

Die Hoffnung und Zuversicht sank im gleichen Maße, wie die Anspannung in ihm wieder heran wuchs. Je länger sie gingen, ohne irgendwo anzukommen, umso rastloser wurde er. Paige hatte nicht wieder damit begonnen zu Summen, weshalb es unangenehm still blieb, während nur ihre Schritte zu hören waren.

Ryon war aufgefallen, dass seine Begleiterin vermutlich frieren musste, da sie leicht zitterte. Da sie sich aber nicht beschwerte, sagte er nicht viel dazu. Für ihn war es zwar auch nicht gerade angenehm warm, aber wenn man eine Kerntemperatur von ungefähr 41° C hatte, waren die paar Grade unter der Erde leicht zu ertragen. Außerdem war sie eine Feuerdämonin. Sie hatte mit ihrer Hitze sein Fleisch verbrannt, es wäre im Grunde daher ziemlich absurd, wenn sie fror. Bestimmt war es nur die Anspannung, die auch ihm in den Knochen saß. Also ging er wortlos weiter und folgte dem Licht, das sie spendete.

Wieder marschierten sie viele Minuten, ohne auf irgendetwas bemerkenswertes zu treffen. Die Steintreppe war ein kleiner Hoffnungsschimmer und zugleich der Hammer, der diesen wieder zerstörte, als sie nur in einen weiteren Gang führte. Ryon begann seine Geduld zu verlieren. Weshalb er schließlich auch stehen blieb, als er den Tonfall in Paiges Stimme nur zu genau deutete. Das war einfach genug, weshalb er auch darauf wartete, bis sie ebenfalls stehen blieb und sich zu ihm herum drehte.

Ryon starrte sie mit einem Mal einfach nur an. Reglos, ohne irgendetwas von den Gedanken preiszugeben, die sich hinter seiner Maske hin und her schoben. Er hatte sich gewaltig geirrt. Sie musste völlig durchgefroren sein.

„Deine Lippen sind blau.“

Das war keine Beleidigung, sondern eine Feststellung und wenn er sich nicht irrte, zitterte sie sogar noch mehr, als vorhin schon.

„Lass uns umkehren, bevor du hier unten erfrierst. Es dürfte noch nicht so schwer sein, den Weg zurück zu finden.“

Er hatte einen guten Orientierungssinn, auch wenn er im Augenblick keine Garantie darauf geben würde. Zeitweise hatte seine Konzentration anhand des eintönigen Anblicks dieser Höhlen stark nachgelassen.

Er hätte wohl doch seinen Mantel mitnehmen sollen, denn selbst wenn sie jetzt in einem schnellen Tempo voran gingen, würden sie noch immer eine ganze Weile brauchen, um wieder zu ihrem Ausgangspunkt zu kommen. Hoffentlich war Paige bis dahin kein Eiszapfen.
 

Paiges Gesicht wurde an den Stellen von Schuppen überzogen, wo die Flammen ansonsten über ihre bloße Haut geleckt hätten. Sie berührte ihre zusammen gepressten Lippen, die nach Ryons Aussage die Kälte, die sich immer weiter in ihr Inneres hineinfraß, nur allzu deutlich zeigten.

Sie hatte schon seit einiger Zeit bemerkt, dass auch ihre Gelenke nicht mehr so geschmeidig funktionierten, wie sie es sonst gewohnt war. Als hätte sie eine Grippe, taten ihr die Knochen inzwischen bei fast jeder Bewegung weh.

Es waren keine unerträglichen Schmerzen, aber unangenehm war es allemal. Von dem immer stärker werdenden Zittern ihrer Muskeln vollkommen abgesehen. Im Moment war ihr sogar schon die Schwäche egal, die sie vor Ryon so überhaupt nicht verbergen konnte. Sie wollte einfach nur noch so schnell wie möglich hier raus. An einen Ort, wo es warm war und sie sich ein wenig ausruhen konnte.

Erst jetzt, wo sie nach dem langen, eintönigen Gehen einmal still stand, wurde ihr bewusst, wie müde sie war. Ihre Lider wurden von einer Sekunde auf die Andere so schwer wie Blei und sie stieß einen kleinen Seufzer aus, bevor sie nickte. Ja, sie sollten zurück gehen. Das hier war nur allzu wahrscheinlich doch der falsche Weg gewesen.
 

Jede Biegung kam ihr genauso bekannt vor wie die vorherige. Außerdem schienen sie inzwischen stundenlang gelaufen zu sein. Nach Paiges Meinung nach noch dazu im Kreis, denn so lang war ihr die Stecke auf dem Hinweg nicht vorgekommen. Vielleicht lag es aber auch nur an der Trostlosigkeit, die sich bei dem Gedanken in ihr breit machte, dass ihr Ziel bloß die Weggabelung und dann ein weiterer vielleicht endloser Fußmarsch sein würde.

Die Flamme auf ihrer Hand flackerte nun schon geraume Zeit in immer kürzer werdenden Abständen und ihr war so kalt, dass ihre Zähne hart aufeinander klapperten.

Selbst der dicke Mantel, den sie bis oben hin zugeknöpft und eng um sich geschlungen hatte, nützte überhaupt nichts. Die Kälte kam schon lange nicht mehr wirklich von außen, sondern wurde von ihrem immer kühler werdenden Blut bloß ununterbrochen weiter in ihrem Körper verteilt. Paige kam sich schon so vor, als wäre sie aus dem Stein gemacht, der sie umgab. Kalt und unbeweglich und tonnenschwer.

Im Gegensatz zu ihrem immer wieder strauchelnden Gang kamen ihr Ryons Schritte fast federleicht vor. Er ging neben ihr her, als wäre er die Fitness in Person. Und wenn sich ihre Gefühle in Farbe hätten ausdrücken können, wäre sie leuchtend grün vor Neid auf seine hohe Körpertemperatur geworden.

Mit der Schulter blieb sie an einem vorstehenden Felsen hängen und stolperte so stark, dass sie sich nur knapp vor dem Fall fangen konnte. Wütend auf sich selbst und ihre Schwäche zog sie wieder die andere Hand aus der Tasche und wechselte mit der, die sich unter den Flammen bereits kein Stück mehr spüren konnte. Selbst das Bewegen der Finger fiel ihr schwer und wenn sie ein wenig Leben in ihre Handflächen hauchen wollte, entkam ihr nur ein eisiger Hauch.

Sie musste nicht zu Ryons dunklen Augen aufsehen, um zu wissen, dass ihm ebenfalls klar war, dass sie es nicht mehr weit schaffen würde.

„V...V...Vi...“ Sie brach ab und biss sich mit einem Laut des Unmuts vor Wut selbst auf die blaue Unterlippe. Selbst das Sprechen war schon zu einer Herausforderung geworden?

Mit loderndem Ärger in den Augen presste sie jedes einzelne Wort gewaltsam hervor, ohne ihren Begleiter dabei allerdings direkt anzusehen.

„Du. Solltest. Allein. Gehen.“

Ein tiefer Atemzug, bei dem ihr Körper von einem Zittern regelrecht durchgeschüttelt wurde.

„Kannst. Mich. Später. Hier. Abholen.“

Sie würde nicht weggehen. Wenn sie sich einfach in einer Felsnische zusammen rollte, wäre sie wie eingefroren, bis er zurück kam. Und wenn er nicht zurückkommen sollte, blieb da immer noch eine andere Möglichkeit. Ein letzter Ausweg, der ihr selbst in ihrem jetzigen Zustand noch einen Schauer über den Rücken laufen ließ, der ihr Kälteempfinden völlig in den Schatten stellte.

Hoffentlich würde Ryon zurück kommen...
 

Obwohl er seine Gefühle so tief in sich vergraben hatte, wie er konnte, schien es noch immer nicht genug zu sein. Es war eine Folter, mit anzusehen, wie Paiges Schritte und ihre Haltung immer steifer wurden, wie die Flamme immer mehr flackerte, als würde ihr bald der Sauerstoff oder die Kraft ausgehen, um weiter zu brennen und das Klappern ihrer Zähne untermalte diesen völlig durchgefrorenen Eindruck nur noch mehr.

Während Ryon sich auf den Weg zu konzentrieren versuchte, kämpfte er innerlich mit seinen eigenen Dämonen, weshalb er manchmal fast die falsche Abbiegung genommen hätte. Aber bisher war er sich sicher, dass sie auf dem richtigen Weg waren, auch wenn sie nur noch langsamer voran kamen. Paige schien kaum noch vorwärts zu können.

Als sie auch noch fast gestolpert wäre, strebte sein innerer Kampf dem Höhepunkt entgegen. Eigentlich wäre alles absolut einfach gewesen. Er war warm, sie war kalt. Zusammen würde das wohl eine angenehme Temperatur ergeben. Allerdings bedeutete das, dass er ihr dabei näher kommen müsste.

Körperprivilegien, um genauer zu sein. Die niemand bei ihm hatte.

Sie ihr zu gewähren, wäre bei seiner Art gleichbedeutend mit Vertrauen. Das hatte sie nicht. Nicht in diesem Ausmaße.

Allerdings wurde dieser Umstand langsam zur Nebensache, während sie ihm mit Müh und Not einen völlig lächerlichen Vorschlag unterbreitete. Zumindest war er in seinen Augen lächerlich.

Glaubte sie wirklich, er brächte es fertig, sie hier einfach alleine zurück zu lassen, um was zu tun? Mit einem Plan dieser Tunnel und einer Tonne von Wärmeflaschen wieder zu kommen? Das war einfach unsinnig. Er würde nur mit ihr zusammen diesen Ort verlassen und wenn er sie mit den eigenen Händen tragen müsste. Wenn er seinen Stolz hinunter schlucken konnte, würde sie es einfach ebenfalls tun müssen.

Trotzdem war diese ganze Sache nicht so leicht, was an dem noch immer laufenden Kampf in ihm, nur zu deutlich erkennbar war.

Paige Körperprivilegien zu gestatten, würde definitiv eine Grenze überschreiten, die sie beide nicht wollten. Sie waren Partner, um ihrer Sicherheit willen. Danach würden sich ihre Wege für immer trennen. Vielleicht sollte er gerade deshalb nicht alles so eng sehen. Was machte es schon, wenn sie sich am Ende ohnehin nicht mehr begegneten?

Das tiefsitzende und äußerst unwohle Gefühl in ihm, versuchte ihm etwas zu sagen, aber er konnte es nicht hören, da er es nicht wollte. Weshalb er alle Emotionen beiseite schob und sich auf Paige konzentrierte. Hier heraus zu kommen, war im Augenblick das Einzige, was sie beide wollten. Also war es folglich nur logisch, wenn er Paige half, um sie beide hier sicher heraus zu bringen. Danach würden sie weiter sehen.

„Mach die Flammen aus. Ich brauche kein Licht, um etwas zu erkennen.“

Erst jetzt fiel Ryon auf, dass er seine Begleiterin schon eine ganze Weile nur unbewegt angesehen hatte, während er seinen Entschluss fasste. Er würde Paige helfen, aber nur, wenn sie die Flammen verschwinden ließ.

Nicht nur, dass er nicht verbrannt werden wollte, offenbar schien es ihr auch Kraft zu kosten, sie am Leben zu erhalten. Sonst würde die Flamme wohl nicht so flackern.

„Ich werde dich hier nicht zurück lassen, also bitte ich dich, mir wenigstens dieses eine Mal zu vertrauen. Ich will dir nicht schaden.“

Sie hatte keine Ahnung, was für eine Überwindung ihn sein nächstes Handeln kosten würde, dennoch wartete er auf so etwas wie ein Einverständnis von ihr, dass er ihr helfen durfte. Egal was er verlangte.
 

Mit aller Geduld, die sie aufbringen konnte, wartete Paige auf eine Reaktion. Ihre Füße wollten sie kaum noch tragen und die Flamme auf ihrer Handfläche wurde immer kleiner. Im flackernden Schein des winzigen Feuers sah sie Ryons matte Augen, die zwar in ihre Richtung blickten, sie aber nicht wahrzunehmen schienen. Genau konnte sie das aber auch nicht sagen.

Ihr Atem ging zitternd und Paige blinzelte mit Gewalt gegen die Müdigkeit an, die sie in die Knie zwingen wollte. Sie wusste genau, dass es vorbei war, sobald sie sich hinlegte. Dann würde sie schlafen, bis jemand sie weckte. Oder bis irgendeine Wärmequelle ihr wieder Leben einhauchte.

Wie immer hörte sich Ryons Aussage wie ein Befehl an. Er bat sie nicht die Flamme zu löschen, sondern verlangte es von ihr. Ohne Gründe dafür anzugeben.

Anstatt zu tun, was er gesagt hatte, schien sich ihr Körper regelrecht aufzubäumen. Sie sollte ihre Deckung aufgeben?

Paige spürte, wie die Schuppen für mehrere Augenblicke über ihren gesamten Körper brachen. Wellen von juckender Panzerung wanderten über ihre Haut und verstärkten die eisige Kälte nur noch, bis sie ihr letztes Bisschen Kraft zusammen gekratzt und ihre dämonische Seite bis auf die winzige Flamme in ihrem Handteller zurück gedrängt hatte. In ihrem Zustand hätte sie sich ohnehin nicht mehr gegen ihn verteidigen können...

Noch einmal hob sie ihre Hand, sodass die Flamme genau auf der Linie lag, wo sich ihre Blicke kreuzten. Dann ließ sie das Flämmchen verlöschen.
 

Wie sehr sie ihm selbst misstraute, zeigte ihr Schuppenkleid, das einen Moment lang jeden Zentimeter ihrer Haut überzog und ebenso schnell wie ein flüchtiger Schatten wieder verschwand. Ein letztes Zeichen ihres Widerstands.

Für sie war das also ebenso schwer, wie für ihn. Vielleicht hatten sie mehr gemeinsam, als sie glaubten, doch selbst wenn dem nicht so sein sollte, sein Entschluss wurde dadurch nur noch bestärkt. Ryon konnte es sich nicht wirklich erklären, aber er wollte das Vertrauen, das sie ihm schenkte, als sie schließlich die Flammen erlöschen ließ, auf keinen Fall enttäuschen.

„Danke.“, hauchte er kaum hörbar. Er brachte es kaum über seine Lippen, war es doch ein Eingeständnis an seine Erleichterung darüber.

Während sich seine Augen nun an die vollkommene Dunkelheit und somit den schwarzgrauen Schatten gewöhnen mussten, knöpfte er lautlos sein Hemd auf. Paige brauchte Wärme und das schnell. Ob es ihr nun bewusst war oder nicht, sie schwankte bereits bedenklich stark und sah so aus, als würde sie auf der Stelle einschlafen.

Menschen würden bei dieser Art von Unterkühlung nie wieder daraus erwachen. Selbst wenn das bei ihr nicht der Fall sein sollte, er würde sie nicht schlafen lassen. Nicht, wenn es endgültig sein könnte.

Vorsichtig streckte er seine Hände nach den ihren aus, doch bevor er sie berührte, hielt er dicht darüber inne.

„Ich werde versuchen, dich etwas aufzuwärmen, also bitte erschreck nicht. Ich lasse dich jederzeit wieder los, wenn du das wünscht.“

Er musste verrückt sein, ihr die Wahl zu überlassen, während er sich selbst dazu zwingen musste, schließlich nach ihren Händen zu greifen. Alles in ihm wollte sich einen Moment lang dagegen sperren, aber als er ihre erschreckend kalte Haut auf seiner förmlich brennen fühlte, fiel jeder Wiederstand mit einem Mal von ihm ab. Seine Finger schlossen sich nur noch enger um die ihren und hüllten sie schützend ein.

Ihre Hände... Sie waren überraschend klein in den seinen. Damit hätte er nicht gerechnet. Sie hatte stets immer so stark auf ihn gewirkt, dabei war sie keinesfalls nur ein kratzbürstiger Drachen, sondern eine Frau mit schlanken Fingern und feinen Handgelenken. Vermutlich war ihr starker Charakter an seiner falschen Annahme schuld. Aber das war jetzt unwichtig.

Ryon führte ihre Hände zusammen, so dass er sie in seinen halten und näher zu seinem Gesicht führen konnte. Er trat einen Schritt auf Paige zu, während er seinen warmen Atem auf ihre Finger hauchte und dabei mit seinen vorsichtig etwas die Wärme hinein massierte. Währenddessen ließ er sie keinen Moment lang aus den Augen.

Auch wenn sie ihn absolut nicht sehen konnte, wollte er doch gewarnt sein, sollte es für sie zu viel werden. Was er durchaus verstehen würde. Ihn selbst kostete es nicht gerade wenig Kraft, noch einen Schritt näher an sie heran zu treten. Dennoch tat er es, denn sie schwankte schon sehr bedenklich.

Ryon schluckte hart, als er seine rechte Hand löste, da auch seine Linke dazu ausreichte Paiges Finger wärmend zu umschließen.

„Ich lege gleich meinen Arm um dich.“, warnte er sie vor, da sie seine Bewegung unmöglich sehen konnte.

„Sonst fällst du mir gleich um.“

Seine Stimme war noch immer gesenkt und doch so kalt, wie der krasse Gegensatz zu seiner körperlichen Hitze. Aber daran konnte er nun einmal nichts ändern. An ihrer eigenen Kälte hingegen schon, weshalb er schließlich mehr als zögerlich seinen Arm um ihren Rücken herum führte und sie schließlich näher an sich heran zog.

Selbst ihre Kleidung rieb eiskalt auf seiner nackten Haut.

Bis seine Hitze dort hindurch kam, könnte es einige Minuten dauern. Es gäbe natürlich eine Möglichkeit, die Sache zu beschleunigen. Aber dazu müsste sie ihren Mantel öffnen und ob er das wirklich wollte, konnte er nicht sagen, weshalb er sich auch nicht dazu durchringen konnte, sie um Erlaubnis zu fragen. Selbst diese völlig harmlose einseitige Umarmung ließ seine inneren Schilde in ihrer Grundfeste erschüttern, da Gefühle von der anderen Seite dagegen drängten und ihn überfluten wollten.

Welche Art von Gefühlen konnte er nicht sagen. Vielleicht nur so etwas banales wie Scham, Abneigung oder Nervosität, aber auf jeden Fall etwas, dass er nicht zulassen wollte. Dass er körperlich vor Anspannung leicht zu zittern anfing, reichte ihm schon völlig an Reaktion. Ganz ohne Emotionen, die womöglich auch noch mitmischen wollten. Das konnte er im Augenblick wirklich nicht gebrauchen. Sonst würde er ihr womöglich sofort wieder ihre Privilegien entziehen und dann müsste sie hier unten wirklich auf ihn warten. Was er nicht mit seinem Gewissen vereinbaren könnte. Also hielt er still und Paige einfach fest. Solange sie sich nicht von ihm abwandte, war da noch die Hoffnung, dass sie alleine durch diese wagen Berührungen schon wieder etwas Wärmer wurde. Selbst wenn es lange dauern könnte.
 

Als Antwort auf seine Ankündigung, kam von ihr nur ein zitterndes Summen. Mehr brachte ihr von Kopf bis Fuß schlotternder Körper nicht mehr zustande.

Ihre Augen versuchten die absolute Dunkelheit zu durchdringen, um zu sehen, ob er wirklich nur vorhatte sie aufzuwärmen. Und wie er das genau vorhatte. Eigentlich wäre es ihr in diesem Augenblick lieber gewesen, wenn er ihre Vorschlag angenommen hätte. Er konnte vorgehen und sie später holen. Wenn er eine warme Decke und heißes Wasser mitbrachte, würde er sie schon auf die Füße bringen. Wie wollte er sie denn jetzt aufwärmen?

Ihr fiel nur eine Möglichkeit ein. Was auch seine Bitte mit der gelöschten Flamme erklären würde. Aber das würde er doch nicht wirklich tun...

Eisschrank wollte sie mit seiner Körperwärme wieder zum Laufen bringen?

Wären ihre Lippen nicht so taub gewesen, sie hätte bei dem Gedanken gern breit gegrinst.

Erstmal hatte sie überhaupt keine Chance seine Bewegungen selbst so nah vor ihr zu erkennen. Sie hörte nur leises Rascheln, als er sich bewegte und keine Sekunde später nahm er ihre Hände. Also wollte er das tatsächlich tun?

Na, ihr war es egal. Der Gedanke an warme Haut hatte sogar etwas Wohliges, das sie nur noch mehr schwanken ließ, als sie lange blinzelte.

Paiges Lider waren so schwer, dass sie nur mit halb geöffneten Augen dorthin sah, wo sie ihre eigenen Hände in denen von Ryon wusste. Die Wärme seines Atems schien an ihren eiskalten Fingern förmlich abzuprallen, denn sie spürte zwar den Hauch, er drang aber nicht durch ihre Haut, um irgendeine Wirkung zu tun. Wenn seine Körpertemperatur irgendetwas geholfen hätte, müsste sie eigentlich ein unangenehmes Stechen in ihren Nervenenden spüren. Aber nichts dergleichen passierte, auch wenn sie durchaus die Hitze seiner Handflächen wahrnehmen konnte.

Dass er sie umarmen wollte, kam wie zähflüssiger Honig in Paiges Hirn an und war ihr so egal, wie es sich bei Ryon anhörte.

Es fühlte sich eigentlich so an, als wäre die Kälte gar nicht mehr so schlimm. Wenn sie es richtig bedachte, war das Gefühl so gut wie völlig aus ihr verschwunden. Pelzig wäre wohl der Begriff gewesen, den sie für ihr Körpergefühl angegeben hätte, wenn ihr auch nur im Geringsten nach sprechen gewesen wäre. Dafür war sie allerdings viel zu müde.

Paige blieb aufrecht stehen, während ihr Gehirn auf Winterschlaf stellte und ihr die Augen zufielen.

Ihr Herz hatte schon seit einer Weile begonnen seinen Rhythmus zu verlangsamen und noch weniger Blut durch ihren Körper zu schicken. Lediglich an der Tatsache, dass sie langsam aber sicher aufhörte zu zittern und blass und kalt wie eine Porzellanpuppe wurde, konnte man erkennen, dass sie nicht mehr bei sich war.
 

Sie rührte sich keinen Millimeter mehr. Sogar das Zittern ihres Körpers hatte aufgehört und erst jetzt, da er darauf achtete, war ihm auch bewusst, wie langsam ihre Atmung geworden war. Genauso wie ihr Herzschlag.

Ihr fielen die Augen zu.

„Paige?“

Der Druck in seiner Brust wurde stärker, je drängender Gefühle aus ihm hervor brechen wollten. Ryon hielt sie mit aller Gewalt zurück, denn er wusste auch so, was er empfinden würde. Er machte sich Sorgen.

Langsam ließ er ihre Hände los, woraufhin ihre Arme kraftlos ihren Körper entlang nach unten sanken und wie leblos daran hängen blieben.

Ihr Kopf fiel plötzlich zur Seite auf ihre Schulter und hätte er den Arm nicht um sie geschlungen, sie wäre vermutlich einfach zu Boden gesackt.

„Paige!“

Ryon schüttelte sie sachte, während er ihr Gesicht berührte. Ihre Wangen waren eiskalt, als würde man über eine Eisskulptur streichen.

Sie war nicht mehr bei Bewusstsein. Würde ihr Herz nicht immer noch sehr zaghaft weiterschlagen, man könnte sie für tot halten.

Obwohl es ihn enorme Überwindungskraft kostete und er vermutlich später noch gründlich dafür bezahlen würde müssen, zog er sich mit Paige zusammen in einen dunkleren Winkel des Höhlensystems zurück. Mitten auf dem Präsentierteller wollte er nicht stehen, wenn er das wirklich tun würde, was er gleich vor hatte. Aber im Augenblick wären ihm Paiges eigensinnige Worte lieber, als dieses wehrlose Eisbündel in seinen Armen.

Vorsichtig, auch wenn sie vermutlich ohnehin nichts mehr spürte, legte Ryon seine Begleiterin auf den fest gestampften Boden ab und beugte sich über sie. Er holte noch einmal tief Atem und schloss seine Augen, während er sich zu sammeln versuchte.

Und wie er dafür büßen würde.

Mit zittrigen Fingern begann er ihren bis obenhin zugeknöpften Mantel zu öffnen. Was darunter hervor kam, war nicht nur ein ungewohnter Anblick für ihn, sondern auch wirklich nichts, womit er gerechnet hätte. Kein Wunder, dass sie sich in einen lebenden Eiszapfen verwandelt hatte. Sie trug immerhin kaum etwas am Leib. Es bedeckte zwar alles, was bedeckt gehörte, aber wärmend waren ihre kurz geschnittenen Sachen nicht. Selbst ihre nackten Waden waren eiskalt!

Da es jetzt ohnehin kein Zurück mehr gab und er Paige auch nicht in ihrem Zustand ins Hotel zurück bringen konnte, ohne schwer zu beantwortende Fragen aufkommen zu lassen, zog er ihr den Mantel aus, was anhand ihrer leicht steifen Glieder nicht gerade einfach war. Danach streifte er sein eigenes Hemd ab und hängte es ihr zusammen mit ihrem Mantel um ihre Schultern, ehe er sie vom Boden auf seinen Schoß zog und ihren dürftig bedeckten Oberkörper gegen seinen lehnte. Ihr Kopf sank dabei an seine Halsbeuge, wo Ryon ganz schwach ihren eisigen Atem auf seiner Haut spüren konnte.

Unter den losen Kleidungsstücken, die ihren Rücken bedeckten, schlang er seine nackten Arme um ihren Körper, um zusätzlich für Wärme zu sorgen. Es war, als würde man eine Marmorstatue umarmen. Denn irgendwie schienen sie vollkommen inkompatibel zu sein.

Obwohl er Hitze wie ein Generator ausstrahlte, hatte es den Anschein, als würde es sie nur oberflächlich berühren und selbst das nicht richtig. Als würden sie sich gegenseitig abstoßen. Aber davon ließ Ryon sich nicht aufhalten. Stattdessen begann er damit, ihren Rücken sanft zu reiben, um die Durchblutung anzuregen, nachdem er ihre Hände so zwischen ihren Körpern arrangiert hatte, dass sie direkt auf seiner Brust lagen und sich dort ihre Finger an ihm direkt anwärmen konnten, sofern es überhaupt etwas brachte.

„Paige…“

Er flüsterte ihr ihren Namen direkt ins Ohr. Es würde alles sicher sehr viel leichter werden, wenn sie wieder bei Bewusstsein war.

Schaltete der Körper im Schlafmodus nicht einen Gang zurück? Ryon hatte keine Ahnung, aber ihm wäre zumindest sehr viel leichter zumute, wenn sie wieder ein Lebenszeichen von sich geben würde, das nicht von ihrer schwachen Atmung oder dem viel zu langsamen Herzschlag kam.

„Komm schon, Paige.“

Schon etwas energischer strich eine seiner Hände über ihren Rücken, die Oberarme, über ihre eiskalten Beine, um auch diese nicht zu vernachlässigen. Langsam, aber sicher begann sich etwas an ihrer Temperatur zu ändern.

Zumindest rein Oberflächlich, war sie nicht mehr so kalt, wie noch vor wenigen Minuten, weshalb er die Kleiderschichten nur noch enger um sie hüllte, während er sie fest hielt.

Sein eigenes erhitztes Blut rauschte ihm dabei in dieser Stille viel zu laut in den Ohren, während sein Herz nur so hämmerte und für noch mehr Hitze sorgte.

Die ganze Situation brachte ihn völlig durcheinander, aber solange er sich der Aufgabe widmen konnte, Paige wieder Leben einzutrichtern, hielt sich die Verwirrung in Grenzen. Am Besten er schaltete seinen Verstand gar nicht erst ein, denn wenn er länger darüber nachdenken würde, wäre er am Ende absolut nicht sicher, wie er reagieren sollte.

Das hier überstieg jegliche Privilegien, die er seit langem ihm vertraute Personen gewährt hatte. Dabei gehörte Paige noch nicht einmal zu diesem kleinen Kreis.
 

Ihr Herz schlug langsam, aber gleichmäßig, um ihre lebenswichtigen Funktionen aufrecht zu erhalten. Paige spürte in ihrer Kältestarre nichts von der Verwirrung ihres eigenen Körpers, der mit dem schnellen Temperaturwechseln, den Ryon ihm aufbürdete ziemlich zu kämpfen hatte. Die Umgebungstemperatur der Höhle lag immer noch unter dem für sie benötigten Minimum. Ihr Blut hatte sich den Umständen angepasst und bewegte sich mit den gleichen Graden durch ihren Körper, während ihr Hirn so wenig Energie wie möglich damit verbrauchte sie im Schlafmodus zu halten. Das Ganze war eine natürliche Schutzfunktion, die ihre vollblütigen Verwandten im Winter vor dem Kältetod bewahren sollte. Erst wenn die Temperatur wieder in annehmbare Gefilde kletterte, wurde der Stoffwechsel angeregt und der Erstarrte aufgeweckt.

Nun wurde sie aber in Ryons Umarmung auf seinem Schoß in eine Art Wärmekammer gesteckt, die ihren Körper einigermaßen verwirrte.

War es zu früh die Kältebarrikade aufzugeben? Oder wäre es doch besser sich den Gegenheiten anzupassen und sie aufwachen zu lassen?

Fett, an dem ihr Organismus für eine Weile zehren konnte, hatte sie sowieso zu wenig auf den Rippen.

Das war auch eher der entscheidende Punkt als Ryons Reiben über ihren Rücken und anderen Glieder, dass Paige zuerst leicht und dann immer heftiger zu zittern begann. Ihre Muskeln versuchten dabei zu helfen sich wieder auf menschliche Maße aufzuheizen.

Als die Nervenenden sich überschlangende Signale versendeten, riss das Bewusstsein an ihrem schlafenden Geist wie ein überspanntes Gummiband.

Da ihr Kopf und Oberkörper mit den lebenswichtigen Organen zuerst mit Wärme versorgt wurden, spürte sie das Stechen als erstes dort. Winzige spitze Nadeln schienen sich in jeden Zentimeter ihrer Haut zu bohren, während sie immer noch zitterte wie Espenlaub.

Mit einem Stöhnen schob sie sich ein wenig näher an denjenigen heran, der sie da aufwärmte, auch wenn ihr nicht klar war, dass es eine lebende Wärmequelle war, die sie da gerade unter Schmerzen wieder in den Wachzustand zurück holte. Sie wand sich in dem Zustand des Hin- und Hergerissenwerdens zwischen Flut vor dem, was ihr Schmerzen bereitete und dem Bedürfnis nach genau dem.

Als sie die Augen aufschlug war es immer noch stockfinster. Sie blinzelte ein paar Mal, konnte aber trotzdem nicht erkennen, wo sie sich befand. Während sie versuchte zu ermitteln, wer, wann und wo sie war, lag sie still da und horchte auf die Geräusche der Umgebung.

Etwas hielt sie, lag fest um ihre Schultern und drückte sie gegen etwas Warmes. Ihre Finger bewegten sich nur Millimeter, um die weiche Oberfläche zu erforschen, auf der sie lagen. Der Geschmack der Wärme kam ihr bekannt vor. Endlich konnte sie das Geräusch zuordnen, das sie schon die ganze Zeit hörte. Atmen, das nicht von ihr kam.

"Hallo.", hauchte sie leise.
 

Das Zittern ihres Körpers war die erste richtige Reaktion, die er an ihr wahrnehmen konnte und zugleich auch eine sehr gute Nachricht. Zittern war gut. Es bedeutete, ihre Muskeln versuchten sich selbst wieder aufzuheizen, in dem sie sich bewegten.

Als Paige sich dann auch noch leise stöhnend an ihn drängte und somit langsam wieder zu sich kommen zu schien, wurde er selbst ganz starr. Eine Hand kam auf ihrem Nacken zum Stillstand, während die andere direkt mitten in der Bewegung auf ihrem Oberschenkel liegen blieb. Nach dem Kribbeln überall in seinem Körper und der Unruhe zu urteilen, wurde er nervös.

In einem Punkt hatte er sich also schon einmal geirrt. Vielleicht war es doch nicht so eine gute Idee, dass Paige wach wurde. Nun, natürlich würde das bei dem Aufwärmprogramm sicher nützlich sein, aber andererseits war es plötzlich etwas ganz anderes, sie auf seinem Schoß liegen zu haben, gegen seine Brust gedrückt und mit direktem Hautkontakt zu ihr, wenn sie das nicht als bewusstloses Bündel tat, sondern stattdessen alles voll und ganz mit bekam.

Das Ganze begann ihn deutlich zu überfordern.

Ryon konnte nicht an mehreren Fronten gleichzeitig kämpfen, so gerne er es auch gekonnt hätte. Weshalb er es ihren Körpern überließ, Paige wieder aufzuwärmen, während er sich bewusst darauf kontrollierte, seine Instinkte und Triebe nicht hoch kochen zu lassen. Denn dass inzwischen seine Beherrschung nur noch von einer dünnen Barriere aufrecht gehalten wurde, die ihn vom Rest seines wahren Wesens abschirmte, wurde er sich mit deutlicherem Schmerz immer mehr bewusst.

Gerade in dieser Angelegenheit konnte er sich keine Gefühle leisten, aber gerade weil er dazu gezwungen war, Paige auf diese Weise zu helfen, forderte die Situation sie heraus. Als würde etwas tief in seinem Innersten herum wühlen und sie hervor zerren wollen.

Der Kampf mit seinen hochschäumenden Gefühlen wurde je unterbrochen, als er Paiges leise Stimme direkt auf seiner Haut zu spüren schien. Inzwischen hämmerte sein Herz regelrecht gegen seinen Brustkorb, aber seine Atmung ging ruhig.

Ryon brachte keinen Ton heraus, obwohl er den Mund öffnete, um etwas zu sagen. Allerdings fehlten ihm die passenden Worte dazu, weshalb er ihn schließlich wieder schloss und sich leicht bewegte, um sich eine bequemere Position zu bringen. Seine Hand rutschte dabei weiter ihren Oberschenkel nach unten, direkt auf ihre aneinanderliegenden Knie. Ihr Oberkörper war inzwischen schon deutlich wärmer, aber ihre Beine strahlten noch immer eine Eiseskälte aus, weshalb er sie schließlich ebenfalls an sich heran zog, so dass Paige fast wie ein zierliches Knäuel auf seinem Schoß lag.

„Deine Zehen… Spürst du sie?“

Nun, zumindest war ihm etwas eingefallen, über das er sprechen konnte, ohne irgendetwas von dem Chaos in sich selbst zu zeigen.

Vielleicht sollte er ihr die Schuhe ausziehen und dort mit der durchblutungsfördernden Massage weiter machen. Nicht, dass ihr am Ende noch irgendetwas abfror.
 

Seine Stimme war wie ein Schlag ins Gesicht. Sofort wurde Paige wieder ins Hier und Jetzt gerissen, als sie Ryon und auch sich selbst erkannte. Der Nebelschleier in ihrem Hirn und die verschlafenen Reaktionen waren wie weg geblasen, als sie sich bewusst wurde, was passiert sein musste.

Die Wärme, die ihr in die Wangen stieg und dort brannte, war alles Andere als angenehm. Nur einmal war sie in Gegenwart eines Anderen unvorbereitet in Kältestarre verfallen. Damals war ihr das aber nicht annähernd so peinlich gewesen wie jetzt in diesem Augenblick. Und dass Ryon sie offensichtlich mit seiner Körperwärme aus ihrem Tiefschlaf zurück geholt hatte, machte die Sache nicht besser.

Völlig nervös und mit fahrigen Bewegungen versuchte sie sich von ihm zu lösen. Ihren Kopf von seiner Schulter zu nehmen, nicht mehr an seinem Oberkörper zu lehnen, der sich unter ihren Händen fest, glatt und doch nachgiebig anfühlte. Scheiße, war er etwa nackt?!

Um bloß nichts Falsches oder am besten gar nichts an seinem Körper zu berühren, zog sie ihren Mantel mit einer Hand fest um sich und versuchte dann ohne sich abzustützen aufzustehen. Obwohl es stockdunkel war und sie nichtmal ihre Hand vor Augen sehen konnte, geschweige denn ihren aufopferungsvollen Begleiter, kniff sie peinlich berührt und mit glühendem Gesicht die Augen zusammen, bis sie neben ihm auf der Erde saß.

"Ehm..."

Das Zittern ihrer Stimme kam nicht annähernd von der Kälte, die sie immer noch empfand. Vor lauter Unwohlsein wusste sie kaum wohin mit sich.

Zu allem Überfluss konnte sie ihre Beine noch nicht richtig spüren. Von den Zehen ganz zu schweigen.

Mit ihren immer noch leicht steifen Fingern massierte sie ihre Knie und Beine hinunter, während sich ihre Gedanken überschlugen. Was genau hatte er getan? Seine Stimme war wie immer völlig ruhig und emotionslos gewesen. Vielleicht war ihm das alles gar nicht peinlich.

Paige versuchte sich vehement einzureden, dass sie Ryon ungefähr so egal wie einer der Kieselsteine unter seinem Hintern war. Wenn das klappte, konnte sie ihm vielleicht irgendwann wieder ins Gesicht sehen. Warum drängte sich nur der Geschmack seiner Wärme, sein Geruch und das Gefühl seiner Haut unter ihren Fingerspitzen so in ihr Hirn? 'RAUS DA!'

"Ja, danke, geht gleich wieder.", sagte sie leichthin, als hätte ihr Blackout überhaupt nie stattgefunden.
 

Wie ausgewechselt wurde Paige plötzlich ganz schön lebhaft, dafür, dass sie gerade noch in so eine Art Starre verfallen war. Obwohl er eigentlich nur froh darüber sein konnte, dass sie sich von ihm losmachen wollte, ließ er sie eher unfreiwillig los. Sie war noch nicht einmal annähernd so weit aufgewärmt, dass sie es bis aus diesem unterirdischen Labyrinth heraus schafften, ohne dass sie wieder vor Kälte umfiel.

Denn auch wenn ihre Wangen nun schon mehr Farbe zu haben schienen, sah der Rest von ihr noch genauso blass und steif aus. Bestimmt waren sogar ihre Lippen noch immer blau.

Vielleicht hätte er wirklich nicht versuchen sollen, sie zu wecken.

„Um ehrlich zu sein, das bezweifle ich.“

Seine Stimme war nun wieder kräftiger, obwohl er immer noch das Gefühl hatte, Paige überall auf seiner Haut zu spüren.

Die Kälte hatte seiner eigenen Hitze zwar nichts ausgemacht, aber dafür war er umso empfänglicher für ihre Nähe gewesen, da der Kontrast so stark zu spüren war. Von ihrem Geruch einmal vollkommen abgesehen. Im Augenblick witterte er sogar nur noch ganz wage ihre Umgebung, so intensiv hing er immer noch in seiner Nase.

„Hör zu, Paige.“, begann er vorsichtig, weil er sie nicht verärgern wollte, da das hier sonst nie etwas wurde.

„Du kannst dich kaum richtig bewegen. Deine Füße sind bestimmt vollkommen durchgefroren, also hast du zwei Möglichkeiten. Entweder wir wärmen dich soweit auf, dass wir diesen Ort verlassen können oder ich muss dich tragen.“

Ob sie es mit diesen Eisklötzen an den Beinen zu Fuß schaffte, stand für ihn nicht einmal zur Debatte. Er sah doch ganz genau, wie stark sie immer noch vor Kälte zitterte und nun, da sie sich seiner Wärme entzogen hatte, würde ihre eigene Temperatur schon bald wieder ins Gegenteil umschlagen.

Anscheinend war ihr Körper nicht in der Lage, seine Kerntemperatur konstant zu halten, wenn es zu kalt wurde. Das war auch bei Menschen der Fall, aber nur bei wirklich extremen Bedingungen und nicht bei den paar Grad über Null, die hier unten herrschten. Dazu müssten sie schon mehrere Stunden lang reglos hier unten verbringen. Einem Wandler wie ihm, machte selbst das nichts aus. Eher würde er hier verhungern.
 

Paige starrte in der tiefschwarzen Umgebung auf den Fleck, wo sie normalerweise ihre Hand gesehen hätte, die ihr Knie umschlungen hielt.

Er hatte Recht. In ihrem jetzigen Zustand würde sie nicht weit gehen können. Wenn sie ehrlich zu sich selbst war, musste sie zugeben, dass es sogar ziemlich unwahrscheinlich war, dass sie aufstehen konnte. Ihre Zähne schepperten schon wieder recht stark aufeinander und sie konnte spüren, wie mit Ryons auch ihre eigene Körperwärme sie wieder verließ.

Wäre die beißende Kälte nicht so nachdrücklich und unüberwindlich gewesen, hätte sie sich für seinen zweiten Vorschlag entschieden. Der Weg konnte nur noch ein paar Meter oder eine Strecke von mehreren Stunden betragen. Sie konnte von Ryon nicht verlangen, dass er sie auf unbestimmte Zeit durch die Gegend trug. Selbst wenn sie annahm, dass ihm das bei seiner Statur kaum etwas ausgemacht hätte.

Also doch aufwärmen...

Ihr Atem entwich in einem resignierenden Schnauben, während sie mit leicht bebenden Lippen zu dem Punkt hinüber sah, an dem sie sein Gesicht vermutete. Sie konnte nicht einmal einen Schemen erkennen. Hätte sie die Augen geschlossen, hätte das keinen Unterschied gemacht.

Immer noch war sie hin und her gerissen, während sich die Kälte vom Boden aus wieder durch ihren Körper fraß.

Sie hatte keine Wahl. Und wenn er ihr hätte etwas tun wollen, dann war die Gelegenheit vorhin zum Greifen nah gewesen. In ihrer Starre hätte er sonstwas mit ihr anstellen können...

Von der Erkenntnis überraschend getroffen, erstarrte Paige für eine Sekunde völlig. Sogar ihr Zittern setzte einen Herzschlag lang aus, als sie in ihren immer noch recht tauben Körper hinein horchte. Kälte, schmerzende Haut und Gelenke, Kopfweh... aber nichts, was Ryon verursacht haben könnte.

"Okay..."

Ohne sich einen Gedanken zu gestatten, kroch sie mit den Händen voran auf ihn zu. Sie hörte das Scharren seiner Schuhe auf dem Boden, als sie nur noch wenige Zentimeter von ihm entfernt sein musste. Auf ihren Fingerkuppen konnte sie bereits seine Wärme spüren.

Zog er sich doch zurück?

Er schwieg beharrlich. Auch als sie ihn schließlich doch berührte und wieder die Augen zusammen kniff, damit sie selbst nicht zu sehr darüber nachdachte, was sie vorhatte.

Wie...? Ihre Hand berührte seinen Oberschenkel kaum, wanderte leicht wie eine Feder daran hinauf, bis sie seinen Bauch fand, der ihrem Empfinden nach vor Hitze glühte.

Die zweite Hand fand im Dunkeln seine Brust und auch seine Schulter, an der sie sich festhielt, um sich zurück auf seinen Schoß zu ziehen.

Er hatte sich die ganze Zeit kein Stück bewegt, sein gesamter Brustkorb hob und senkte sich angespannt bei jedem Atemzug, den er tat, so dass sie deutlich das Muskelspiel darunter spüren konnte.

Paige ignorierte es. Immerhin war das doch sein Vorschlag gewesen.

Sie streifte ihre Schuhe ab, warf aber den Mantel auch darüber, als sie sich selbst auf Ryon zusammen rollte und mit dem Kleidungsstück eine Hülle formte, die seine Wärme noch mehr speichern sollte.

Die Nase tief in den Stoff des Mantels vergraben, versuchte sie seine Gegenwart zu übersehen, überhören, überriechen.

Sie wollte ihn nicht schmecken, sich nicht bewusst darüber sein, dass sie sich so nah waren. Schon allein bei dem Kampf gegen dieses Bewusstsein stieg ihr wieder die Röte in die Wangen. Bloß gut, dass Ryon das alles zumindest scheißegal war.

15. Kapitel

Geduldig und mit völlig angespannten Nerven, wartete er darauf, wie sie sich entscheiden würde. Beide Optionen waren nicht unbedingt das, was Ryon als Herzenswunsch bezeichnen würde. Aber er tröstete sich damit, je eher sie es hinter sich brachten, umso schneller würden sie wieder aus dieser mehr als nur heiklen Lage heraus kommen. Wenn er dann wieder alleine in seinem Hotelzimmer war, konnte er immer noch den Schaden richten, den das alles hier seiner emotionslosen Fassade angetan hatte.

Das „Okay.“ traf ihn wie einen Peitschenhieb und ließ für einen Moment seinen Atem stocken, ehe er bemüht ruhig, weiter zu atmen versuchte. Gut, dass Paige in diesem Augenblick sein Gesicht nicht sehen konnte, oder seine ganz und gar angespannte Haltung. Er hatte sich kaum noch im Griff.

So leicht ihre Finger auch seinen Oberschenkel berührten, so spürte er diese Geste doch umso deutlicher, da es dunkel war und er wusste, was ihnen beiden gleich bevor stand.

Ryon biss sich auf die Unterlippe, bis es deutlich schmerzte, während seine Augen die Bewegung ihrer Hand verfolgten, die sich zu seinem nackten Bauch hoch arbeitete.

Seine Finger gruben sich in den festen Boden unter ihm, als seine durchgefrorene Begleiterin ihn auch an den Schultern berührte und sich dann wieder auf seinen Schoß zog, wo sie zitternd und zu einem Ball zusammen gerollt, schweigend liegen blieb.

Sie war auf keinen Fall zu schwer und trotzdem schien ihm in seiner eigenen Haut zu eng zu werden.

Sein erster Instinkt wäre Flucht gewesen, da er aber bekanntlich wenig auf das hörte, was sein Körper ihm sagen wollte, blieb er ruhig sitzen und schwieg ebenfalls, bis die Stille lauter als ein Schrei wurde.

Verdammt, konnte sie sein rasendes Herz klopfen hören? Hoffentlich nicht. Das war das einzige an seinem Körper, das er nicht kontrollieren und einer ruhigen Fassade unterwerfen konnte.

Jede Sekunde die auf diese vollkommen ungewöhnliche Art verging, schien sich bis in die Ewigkeit zu ziehen und ihn so sehr zu foltern, dass er das Gefühl hatte, eine ganze Armee von Armeisen mit Elektroschockern würden durch seine Nervenbahnen marschieren.

Wenn er vorhin schon geglaubt hatte, er wäre angespannt und völlig Energie geladen, dann musste er feststellen, dass das nichts im Vergleich zu jetzt war. Still zu halten, wurde plötzlich zu einer unmöglichen Sache, weshalb er schließlich etwas dagegen tun musste, um nicht zu zappeln anzufangen. Egal was. Alles war besser, als dieses stumme Verharren, also hob er langsam seine Arme und schloss sie wieder um Paiges zitternden Körper, während er seinen Rücken etwas krümmte, um die schützende Wärmehülle, in die seine Begleiterin bereits steckte, noch etwas zu verstärken.

Er zog sogar seine Knie leicht an. Erst da wurde ihm deutlich bewusst, wie zierlich sie im Gegensatz zu seiner großen Statur wirkte. Sie war nur ein kleiner Ball auf ihm, das Gewicht feder leicht und köstlich zu fühlen...

Ryon zuckte unmerklich zusammen. Das hatte er doch gerade nicht wirklich gedacht, oder?

Doch, er musste, denn sonst würden ihn jetzt nicht Zeus Blitze persönlich die Brust durchlöchern. Seine Gefühlsbarrikade hatte soeben ein deutliches Leck bekommen. Seine andere Seite wollte sich an die Oberfläche kämpfen, um das längst ausgehungerte Bedürfnis nach körperlicher Nähe wenigstens nur einen flüchtigen Moment lang zu befriedigen. Selbst wenn es nur ein ganz kleines Bisschen war.

Automatisch zog Ryon Paige noch enger an sich heran. Ein schwacher und sinnloser Versuch das klaffende Loch in seiner Brust zu füllen, das dort brennend immer größer zu werden drohte.

Er begann zu zittern, aber garantiert nicht vor Kälte. Ganz im Gegenteil, der Kampf um die Kontrolle mit sich selbst, verbrannte ganz schön Energie und deren Nebenprodukt war noch mehr Hitze.
 

Jedem Menschen wäre diese Situation wahrscheinlich zu Kopf gestiegen und hätte ihn schläfrig gemacht. Ryons Hitze sammelte sich unter dem Mantel und hüllte Paige ein, bis sie endlich spüren konnte, dass ihr eigener Körper die Wärme annahm.

Es dauerte lange, quälend langsam vergingen die Minuten, die sie so an ihn gelehnt ausharrte. Immer darauf bedacht ihm trotz der körperlichen Berührung nicht zu nahe zu treten. Was sich nicht ganz einfach gestaltete. Immerhin funktionierte die Wärmeübertragung gerade an den Stellen am besten, an denen ihre nackte Haut seine direkt berührte.

'Bloß nicht darüber nachdenken, Paige.', ermahnte sie sich selbst und versuchte sich stattdessen eine Ferieninsel vorzustellen. Ein Liegestuhl in der Sonne. Am Strand, wo es warm war und das Meer gegen den Sand schlug. Auf jeden Fall irgend ein Ort, wo sie nicht frieren musste.

Ryons Bewegungen waren wie ihre eigenen nur klein und hauptsächlich dazu da, ihre Position so zu ändern, dass keinem von ihnen beiden ein Körperteil einschlief. Paige versuchte peinlichst darauf zu achten, ihm nicht zu schwer zu werden oder ihm irgendeine unbequeme Position aufzubürden. Daher spannte sie die Muskeln leicht an und rollte sich noch mehr zusammen, als er die Beine leicht anzog und sich weiter aufsetzte. Bestimmt wurde es ihm mit der Zeit-

Paiges Augen wurden groß und sie hielt so lange den Atem an, bis sie glauben konnte, was gerade passiert war. Was allerdings glücklicher Weise ungefähr mit dem Zeitpunkt zusammen fiel, der kurz vor dem lag, an dem sie vor Sauerstoffmangel blau angelaufen wäre.

Ryon hatte die Arme unter dem Mantel um sie geschlungen. Allein das war so völlig fern jeder seiner Reaktionen, die sie sich vorstellen konnte, dass sie das Folgende kaum noch härter treffen konnte.

Er zog sie an seinen Körper und hielt sie so fest, dass Paige automatisch mit einer Hand nach seinem Arm griff.

Das hier war nicht allein der Wärme wegen. Allein an seiner Haltung, wie sie seinen Atem in ihrem Haar spüren konnte, als wolle er sein Gesicht darin vergraben, verriet ihr schon genug. Das leichte Zittern machte sie daraufhin nun doch völlig fertig.

Sie konnte sein Gesicht nicht sehen. Das machte das ganze nicht nur unangenehm, sondern ängstigte sie beinahe. Mit jeder Faser ihres inzwischen wieder recht wachen Körpers, versuchte sie zu erfühlen, was mit ihm los war. Er würde doch nicht wieder weinen... Oder sich übergeben... Wenn er hier in Ohnmacht fiel...

Während ihrer Überlegungen waren ein paar Augenblicke verstrichen. Ryons Atmung war nicht anders als sonst. Er zitterte nur leicht und machte keine Anstalten etwas anderes zu tun, als sie festzuhalten. Aber was sollte Paige denn nun tun? Sie hatte das Gefühl, das sie auch damals überkommen hatte, als er vor ihren Augen zusammen gebrochen war. Er kam ihr verletzlich vor. Und sie wollte ihm helfen, soweit sie es konnte. Immerhin hatte er ihr noch vor einer geschätzten halben Stunde das Leben gerettet.

Zaghaft streichelte ihr Daumen über seinen Handrücken. Sie versuchte ihre Haltung etwas zu entspannen, ohne allerdings ihre Wachsamkeit aufzugeben. Wenn sich sein Verhalten in dieser Weise änderte, konnte es vermutlich auch sehr schnell in das Gegenteil umschlagen.
 

Sie war leicht. Sie war sanft und zugleich doch so gewaltig, dass sie seine Mauern für einen Moment vollkommen niederriss. Diese kleine, zögerliche Geste, als Paiges Daumen über seinen Handrücken streichelte, war für jemanden wie Ryon, der seit Jahren keinerlei körperlichen Kontakte dieser Art an sich heran ließ, so enorm wie ein reißender Fluss nach einer ewig langen Dürre.

Das körperbetonte Tier in ihm brach sich gewaltsam mit Krallen und Zähnen seinen Weg an die Oberfläche und nutzte Ryons stumme Überraschung über Paiges Handel gnadenlos aus. Nie hätte er damit gerechnet, dass sie ihn auf diese Art berührte und das vollkommen freiwillig.

Während sein Verstand wie gelähmt war, da so viele verschiedene Gefühle auf ihn einstürmten, dass er damit nicht fertig wurde, schmiegten sich seine Arme regelrecht um Paiges zarten Körper, der kein Gramm Fett zu viel zu haben schien. Sein Gesicht vergrub sich in ihr köstlich duftendes Haar, um mit einem einzigen Atemzug ihre Witterung tief in sich aufzunehmen und als wäre das nicht bereits schlimm genug, ließ seine Bestie ein tiefes auf und ab steigendes Vibrieren in seiner Brust entstehen.

Verdammt noch mal, er schnurrte voller Wohlbehagen!

Sein Kopf knallte so stark gegen die Felsen hinter ihm, dass er einen Moment lang nur noch Sterne sah und das Geräusch durchaus deutlich hörbar durch den Gang hallte. Wäre er nicht so ein Dickschädel, er würde sicherlich bluten, so aber kam ihm der stechende Kopfschmerz ganz gelegen. Er gab Ryon die Kraft das verräterische Biest zurück in sein Innerstes zu jagen und dort mit dicken Fesseln einzusperren, wo es sich jaulend und jammernd nach mehr von dieser Wärme sehnte, die die eiskalte Einsamkeit in seinem Herzen für einen winzigen Augenblick lang hatte verschwinden lassen.

Gnadenlos schlug Ryon die Tür zu dem Käfig zu, um das Winseln nicht mehr hören zu müssen. Das Tier sollte ruhig weiter in der Stille leiden. Es war an allem Schuld. Niemals würde er ihm auch nur noch einen weiteren Moment der Zufriedenheit gönnen. Das Biest hatte es nicht anders verdient und er ebenfalls nicht.

Weshalb er sich schließlich sanft aber bestimmt von Paige löste.

„Tut mir leid, Paige. Ich kann das nicht länger.“, gestand er leise, aber ehrlich. Scheiß auf seinen Stolz und die Preisgabe seiner Schwäche. Das war einfach zu viel und so weit schien sie ja wieder aufgewärmt zu sein. Wenn nötig, würde er sie wirklich bis an die Oberfläche tragen. Dort war es bestimmt warm genug, um sie nicht noch einmal erstarren zu lassen.
 

Paige hielt den Mund. Normalerweise nahm niemand ihr so schnell die Worte von der Zunge, aber Ryon schaffte es mit seinen merkwürdigen Anwandlungen immer wieder.

Nachdem er sich zuerst tatsächlich schnurrend an sie gekuschelt hatte, war er mit einem Ruck zurück geschreckt und hatte sie losgelassen. Was den dumpfen Schlag ausgelöst hatte, konnte sie nur zu leicht erraten, aber warum er sich selbst wehtat, würde sie wahrscheinlich nie erfahren.

Es versetzte ihr einen winzigen Stich, dass er sie nicht nur von sich herunter schob, sondern ihr auch noch diese Worte hinpfefferte.

Es tat ihm leid? Das hörte sich so an, als hätte sie ihn darum gebeten. Ob nun um seine Wärme oder darum, dass er sie an sich gezogen hatte wie ein lang vermisstes Plüschtier. Keines von beidem hatte sie von ihm verlangt. Warum sollte er sich also dafür entschuldigen, dass er es ihr wieder entzog. Sie konnte im Moment auf beides nur zu gut verzichten.

Als sie aufgestanden war und zufrieden die wiedergekehrte Elastizität ihrer Gelenke registriert hatte, wollte sie ihren Mantel wieder ordentlich anziehen. Erst als sie einen Arm in das Innenfutter stecken wollte fiel ihr die zweite Lage Stoff auf. Wieder ein kleiner Stich und ein säuerlich verzogener Mund, als sie sich erneut aus den Klamotten schälte und Ryon das Hemd in den Schoß fallen ließ.

"Danke, dass du mich aus der Kältestarre geholt hast."

Für sonst nichts. Warum konnte sie nicht genau sagen, aber Paige war beleidigt. Es tat ihm leid, dass er sie umarmt hatte. Das hatte ihr noch nie jemand an den Kopf geworfen.

"Du wirst vor mir her gehen müssen, damit ich den Weg im Dunkeln finde. Die Flamme werde ich nicht wieder anmachen, bis wir wissen, dass es nicht mehr weit ist."

Damit zog sie sich auch noch ihre Schuhe wieder an, ehe sie ihre Hand an auf die klate Felswand legte und darauf wartete, dass Ryon in die Gänge kam. Dass er sich das Hemd anzog und voraus ging. Paige selbst hatte leider nicht die geringste Ahnung, wie weit es noch bis zu der Weggabelung und dann durch den anderen Gang zur Oberfläche war. Aber sie würde schweigend hinter ihm herstapfen. Zum Reden hatte sie keine Lust und bevor sie ihn angiftete, war Schweigen auch die wesentlich bessere Alternative.
 

Er roch ganz genau, dass sie sauer war, dazu müsste er noch nicht einmal ihre Worte hören, die zwar absolut nichts sagten, aber sie brachte nun mal nicht seinen gefühlskalten Tonfall zu stande, weshalb weniger immer noch mehr war, als er benötigte, um zu verstehen.

Schweigend nahm er sein Hemd und stand auf.

Während er es sich überstreifte und zuknöpfte, nutzte er die Gelegenheit, die Risse in seiner Fassade mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln notdürftig abzudecken, bis er die Chance hatte, sie in aller Ruhe völlig zu verschließen. Das würde einen Haufen Arbeit bedeuten. Denn was da gerade passiert war, hatte nicht nur alte Wunden aufgerissen, sondern neue Dinge hinzugefügt. Ryon hatte gewusst, dass er seine Hilfe noch bereuen würde. Die Quittung bekam er jetzt dafür.

Wieder einmal verfluchte er das eingesperrte Tier in sich. Hätte er es gekonnt, er hätte es völlig umgebracht, um es los zu sein.

„Gut.“

Das war alles, was er dazu zu sagen hatte.

Da Ryon wusste, dass Paige protestieren würde, griff er einfach nach ihrer Hand und hielt sie fest, so dass sie sich ihm nicht mehr entziehen konnte, danach zog er sie hinter sich her, dabei die Unebenheiten auf dem Boden ausweichend, damit sie nicht stolperte. Er würde sie erst los lassen, wenn sie da waren, oder sie ihm die Finger verbrannte. Allerdings konnte sie bei Letzterem dann versuchen, selbst hier heraus zu kommen.
 

"Hey!"

Seine Berührung machte sie nur noch wütender. Glaubte er denn wirklich, dass sie bloß wegen dieses Ausfalls nicht mehr allein laufen konnte? Sie brauchte den großen Helden Ryon nicht, um hier heraus zu kommen.

Naja, doch, sie brauchte ihn. Aber er musste sie nicht hinter sich herschleifen, als wäre sie ein Kindergartenkind, das man bei der Hand nehmen musste.

Bei jedem Stein, über den sie in der Dunkelheit stolperte und jedem Riss im Boden, an dem ihre Schuhspitze hängen blieb, wurde ihre Laune schlechter. Sie grummelte vor sich hin und würde bald explodieren, wenn sie den Ausgang nicht bald fanden. Jedem Beobachter wäre sie mit ihrem Gesichtsausdruck und dem bockigen Gehabe bestimmt tatsächlich kindisch vorgekommen, aber das war ihr jetzt auch herzlich egal. Am liebsten hätte sie die Sache von eben mit Ryon ausdiskutiert. Die Tatsache, dass er einfach gar nicht oder mit dieser blasierten Stimme antworten würde, machte sie rasend.
 

Zum Glück hatten sie schon ein gutes Stück des Wegs geschafft, bevor Paige zusammen geklappt war, so kamen sie dank des schnellen Tempos schon nach einigen Minuten in die Nähe des Lochs, wo sie, vor einer Ewigkeit wie es schien, hindurch gefallen war. Als sie direkt darunter standen, ließ er ihre Hand wieder los, froh darüber, noch vollkommen unversehrt zu sein. Er hätte es sogar verstanden, wenn sie ihm weh getan hätte.

Erst jetzt drehte er sich wieder zu ihr herum und sah sie an. Jetzt war er auch wieder dazu in der Lage, Farben zu erkennen, weshalb ihre Erscheinung auf Anhieb plastischer erschien und somit noch realer, als es ihr Geruch ohnehin schon war. Gewaltiges Unbehagen erfüllte ihn, fühlte sich aber so dumpf und wattig an, dass er es nicht genau zu ordnen konnte. Ganz im Gegensatz zu dem pochenden Schmerz in seinem Kopf, der mit seinem beständigen Hämmern, ihn seiner Reizschwelle gefährlich nahe brachte.

Wüsste er es nicht besser, würde er sagen, seine Finger zuckten vor Wut immer wieder leicht unkontrolliert. Selbst wenn dem wirklich so sein sollte, war er alleine der Grund dafür. Paige hatte nichts falsch gemacht. Sie traf keine Schuld. Wie immer lag sie nur bei ihm selbst. Weshalb er sich noch mehr zusammen riss.

„Kommst du alleine hoch?“, fragte er daher mit gesenkter Stimme, da das die Tonlosigkeit darin etwas dämpfte. Er wollte jetzt nicht austesten, wie hoch Paiges eigene Reizschwelle war. Verdammt, was würde er froh sein, endlich alleine in seinem Hotelzimmer zu sein. Auch wenn Flucht absolut zwecklos war, so war der Gedanke daran, dennoch sehr verlockend.
 

Jetzt konnte sie ihn erst recht nicht ansehen. Genau das, was sie befürchtet hatte, war eingetreten.

Hätte er seine Arme nicht um sie gelegt und dann so seltsam reagiert, hätten sie diese Episode einfach vergessen und weiterhin normal mit einander umgehen können. Soweit es einen normalen Umgang zwischen ihnen beiden überhaupt gab.

Aber jetzt war sie sauer und ihr Stolz war verletzt. Was noch schlimmer wog als die Verwirrung über Ryons Verhalten. Er war ein komischer Typ, aber das vorhin hätte er sich wirklich sparen können! Und jetzt also da weiter, wo der Mist begonnen hatte?

Paige sah zu dem Stückchen Nachthimmel hinauf, das sie durch die Öffnung über ihren Köpfen erkennen konnte. Es war ein ganz schöne Strecke, bis zu dem schrägen Stück, das sie herunter gerutscht war. Aber die Blöße noch weiter auf seine Hilfe angewiesen zu sein, würde sie sich vor Ryon nicht geben. Nicht jetzt und hier.

Ein paar dickere Wurzeln hingen aus dem Erdreich, die Paiges Einschätzung nach kräftig genug waren, um ihr Gewicht für einen Moment zu halten.

Sie sprang und erwischte das Geflecht, sodass sie ein Bein zur Sicherung hochschwingen und dann ihre Fingernägel in der Erde vergraben konnte.

Jetzt, wo sie die Oberfläche bald erreichen würden, konnte sie getrost auf ihre dämonische Seite zurück greifen. Draußen war es lange nicht so kalt wie dort unten in den Tunneln. Ihr Körper würde sich ganz von allein aufwärmen und sie musste sich kein Sorgen mehr machen, in eine Starre zurück zu fallen.

Mit mehr Anstrengung als ihr lieb war, aber trotzdem recht zügig erkletterte sie den Weg zum Rand des Lochs und zog sich auf die noch feuchte Wiese zwischen den Grabsteinen, wo sie zwei Atemzüge lang auf dem Bauch liegen blieb, um sich umzusehen. In der näheren Umgebung war nichts und niemand auffälliges zu entdecken. Eigentlich schade. Paige hätte sich gern an irgendetwas abreagiert. Wo waren diese aggressiven Wasserspeier, wenn man sie denn mal brauchte?

Schnell rappelte sie sich hoch, um nicht so auf der Erde zu liegen, wenn Ryon ebenfalls die Oberfläche erreichte. Wenn sie hätte wählen können, wäre sie einfach ohne ihn weiter über den Friedhof gelaufen und hätte den Eingang gesucht. Immerhin lag das auch noch zusätzlich zu allem Ärger zwischen ihr und ihrem Begleiter ziemlich stark auf ihrer Seele. Sie waren ihrem Ziel kein Stück näher gekommen.
 

Ryon blickte ihr nicht hinterher oder sah dabei zu, wie sie sich nach oben kämpfte. Stattdessen starrte er die Felswand ihm gegenüber an, als wäre sie das Interessanteste, das er je gesehen hatte. Am liebsten hätte er seine Fäuste dort hinein gerammt.

Sein Körper war inzwischen das reinste Nervenbündel und das ganz ohne Gefühle. Wenn er die auch noch ertragen müsste, wäre er vermutlich schon längst explodiert.

So sehr wie in diesem Augenblick hatte er sich die Kampfarena noch nie herbei gesehnt.

Der Aufstieg zur Oberfläche war viel zu leicht und viel zu schnell vorbei, um wirklich etwas von der viel zu hohen Konzentration an Energie in ihm abzubauen. Da Klettern für jemanden wie ihn, keine große Sache war, würde er sich wo anders abreagieren müssen. Aber erst, wenn er alleine war. Paige musste nicht noch mehr von den Dingen mitbekommen, mit denen er persönlich zu kämpfen hatte. Es reichte schon, dass sie ihn vermutlich für vollkommen durchgeknallt hielt.

Als er an der Oberfläche ankam, wartete Paige bereits auf ihn. Kein Wunder, er hatte wesentlich länger gebraucht als sie, um hier her zu kommen, auch wenn es nicht an der Kletterei gelegen hatte.

„Was hältst du davon, wenn wir es für heute gut sein lassen und morgen weiter suchen?“

Es war schon spät, sie beide waren nicht gerade das Abziehbild von Sauberkeit und er brauchte für heute nicht noch weitere Angriffe von seinem Inneren, gegen die er in Paiges Gegenwart am Besten auch noch standhalten sollte.

Allerdings bedeutete das auch, dass sie wieder mit der Metro fahren mussten. Hoffentlich waren wenigstens um diese Uhrzeit nicht mehr so viele Leute unterwegs. Noch einmal würde er es bestimmt nicht, bei einem ruinierten Aktenkoffer belassen.

16. Kapitel

Paige lugte um die letzte Tür, die sie von ihrem Ziel trennte und erkannte nichts, was darauf hindeutete, dass sie hier jemand sehen könnte. Eine einzige Überwachungskamera drehte sich mit einem leisen Summen ab und an von einer Seite zur anderen und fuhr einen Großteil des Daches ab. Aber ein Großteil hieß zum Glück nicht alles.

Als die Linse von der Tür weg schwenkte, stahl sich Paige durch die Tür auf das flache Betondach des Hotels und lief bis zu der Stelle an der sie selbst ungesehen über die Stadt blicken konnte. Von ihrem Zimmer aus konnte sie nur ein Stück der Allee vor dem Hotel und hübsche Häuserfronten sehen. Von hier oben breitete sich die Stadt in einem Lichtermeer vor ihren nackten Füßen aus.

Ryons Verhalten nagte an ihr. Sie würde es vor ihm niemals zugeben, aber er hatte einen sehr offen liegenden Nerv bei ihr getroffen. Und das lag weniger daran, dass er sie zurückgestoßen hatte. Damit hätte sie leben können. Jeder musste mal damit zurecht kommen, dass nicht jeder auf der Welt ihn sympathisch fand oder näher mit ihm zu tun haben wollte. Das war es auch nicht, was sie so wütend machte, dass sie es in ihrem Zimmer nicht mehr ausgehalten hatte. Sie hatte mehrere Minuten mitten in dem sauberen, hübsch gestalteten Raum gestanden und die Sprinkleranlage an der Decke angestarrt.

Keine Chance sich unbemerkt auch nur ein wenig Luft zu machen. Also war sie hierher gekommen. Hier, wo sie den weichen, weißen Bademantel kurz von ihrem nackten und mit roten und schwarzen Schuppen übersähten Körper gleiten lassen konnte.

Noch einmal vergewisserte sie sich mit einem Blick über die Schulter, dass man den Nachtwächter am nächsten Tag nicht für verrückt halten würde, weil er eine brennende Frau auf dem Überwachungsmonitor gesehen zu haben glaubte.

Als sie sicher war, schloss sie die Augen. Ihre Wut leuchtete weit, für eine Weile stand sie am Rande des Daches und schrie ihren verletzten Stolz mit einer lodernden Flamme hinaus über die Stadt, ohne dass es jemand gehört hätte.

Doch mit ihrem Feuer verging auch der Ärger. Es hatte nicht den richtigen getroffen und würde es auch nicht. Aber Paige hatte sich Luft gemacht und war zumindest mit sich selbst wieder im Reinen. Das war alles, was sie brauchte um ruhig und in den Bademantel gehüllt wieder auf ihre Etage und in ihre Zimmer zurück zu gehen.

Selbst als sie an Ryons Zimmertür vorbeikam, fühlte sie kein giftiges Stechen in ihrem Inneren. Mit einem winzigen Lächeln atmete sie tief durch und ging schließlich in ihrem eigenen Bad unter die Dusche, gönnte sich einen alten Cartoon auf dem riesigen Fernseher und schlief dann in dem riesigen Bett, alle Viere zufrieden von sich gestreckt ein. Von Eisschrank würde sie sich nicht zu lange die Laune verderben lassen. Dafür war er viel zu unwichtig.
 

Nackt und nur mit einem viel zu kleinen Handtuch bekleidet, saß er auf seinem Bett.

Die Füße im Lotussitz verschränkt, mit aufgerichtetem Oberkörper und geschlossenen Augen hatte er seinen Geist so weit beruhigt, dass er sich auf den heutigen Vorfall konzentrieren konnte, ohne wieder in unkontrolliertes Zittern auszubrechen. Sein Körper fühlte sich im Augenblick weit von ihm entfernt an, was auch gut so war, sonst wäre seine Konzentration auf der Stelle dahin gewesen. Er hatte viel zu viel Energie in sich, die er nicht heraus lassen konnte. Nicht, ohne dafür das Zimmer verlassen zu müssen.

Im Augenblick beschäftigte er sich allerdings mehr damit, Schicht für Schicht seiner Barrikaden zu reparieren, neue aufzubauen und die Fehler der alten zu beheben.

Dass eine einzige Geste ihn heute so lahmgelegt hatte, dass sogar das Tier in ihm sich selbstständig machen konnte, durfte nie wieder vorkommen. Selbst Überraschung hätte er nicht fühlen dürfen. Eigentlich sollte er aus nichts bestehen. Nur scharfe, eiskalte Logik ohne emotionaler Anbindung daran. Hätte er das heute beherzigt, wäre seine Hilfe für Paige keine große Sache gewesen. Er hätte sie aufgewärmt und sie wären ohne großartig einen weiteren Gedanken darüber zu verschwenden zurück gekehrt. Allerdings war alles schief gegangen, was schiefgehen hatte können.

Verdammt noch mal, er hatte geschnurrt!

Vor wie vielen Urzeiten das letzte Mal gewesen war, musste er sich noch nicht einmal vorstellen, um diese Tatsache als erschreckend real und zugleich gefährlich zu betrachten. Ryon schnurrte nicht. Er lächelte noch nicht einmal, was unter den gegebenen Umständen weit aus weniger besorgniserregend gewesen wäre. Aber selbst dann hätte er sich fragen müssen, wie weit er vor dem absoluten Zusammenbruch stand.

Noch war er nicht nahe daran, einfach durchzudrehen, aber wenn diese Reise mit Paige weiterhin so verlief, würde es irgendwann unweigerlich darauf zu steuern.

Sein größter Fehler im Laufe der Jahre war es gewesen, sich darauf zu verlassen, dass er seine Bestie für immer und ewig bezwingen konnte und somit auch die damit einhergehenden Gefühle. Doch die bittere Wahrheit sah leider so aus, dass er am Ende doch nicht immer die Kontrolle über das Tier behalten konnte.

Wenn sein Verstand nicht ständig aufpasste, könnte es so einen Vorfall wie heute wieder geben. Er konnte eben nicht rund um die Uhr ständig wachsam sein. Irgendwann einmal musste er immerhin schlafen und nur allein der Tatsache, dass dann auch sein Körper ruhte, war es zu verdanken, dass er noch keinen Schaden angerichtet hatte.

Ob an sich selbst oder anderen, in beiden Fällen wäre es auf keinen Fall entschuldbar. Also blieb ihm nichts weiter übrig, als dickere Mauern, undurchdringlichere Palisaden und Wälle zu errichten, auch wenn etwas bei jedem weiteren Schild, dass er geistig um sein Herz und seine Seele zog, tiefes Bedauern empfand.

Es war der kleine Teil, der dem Tier bei seiner Tat heute absolut Recht gegeben hatte. Der winzige Teil, der es früher einmal geliebt hatte, Wärme, Geborgenheit, Vertrauen und Fürsorge zu verdienen. Aber dieser Teil musste still schweigend weiterhin leiden, denn die nackte Wahrheit sah nun einmal so aus, dass er es nicht mehr verdiente. Er hatte in voller Länge versagt und damit das nicht noch einmal passierte, ließ er es ganz bleiben.

Lieber ein Leben als ungeliebter, emotionsloser und verkrüppelter Gestaltwandler fristen, als sich dem zu stellen, das sich da so viele Jahre lang in seiner Brust hatte ansammeln können.
 

Nach zwei vollen Stunden schlug Ryon seine nachtschwarzen Augen auf und fühlte sich dabei so hohl und leer, wie die bauchige Nachttischlampe sich wohl fühlen musste. Er war auf der Welt, aber nur insofern von Bedeutung, dass er irgendeinem Zweck diente, um anderen nützlich zu sein. Ob er das wirklich sein wollte oder nicht, stand außer Frage. Er hatte sich entschieden.

Von weit her, hörte er das ersterbende Brüllen einer sich im Todeskampf windenden Raubkatze, die man in ein unendlich tiefes Verließ für immer vom Leben in Freiheit abgeschnitten hatte.

Ungerührt stand er vom Bett auf, zog seine Joggingsachen an und verließ das Zimmer, um sich nun seinem Körper zu widmen.

Vielleicht würde ihm Laufen bis zur Erschöpfung von den auf gestauten Aggressionen, verdrängten Leidenschaften und nie genutzten sexuellen Energien befreien, die eigentlich seinem Wesen im Übermaß zur Verfügung standen. Er wäre schon froh, wenn er es bis zum Frühstück schaffte, den ständigen Drang zu kämpfen, etwas zu mildern.
 

Paige schlief tief und fest, wachte nur ab und zu auf, um sich wieder wohlig und mit zufriedenem Schmunzeln in die weiche Decke zu kuscheln.

Sie träumte von Dingen, die sie sich wünschte. Dinge, die sie mit einem Lächeln aufwachen ließen, das selbst die Realität nicht aus ihrem Gesicht wischen konnte. Wie so oft fand sie, dass sie sich trotz allem wirklich nicht beschweren konnte. Es ging ihr gut. Sehr gut sogar. Aber sie hatte das große Bedürfnis mit Ai zu telefonieren, was sich nicht so leicht machen ließ.

Erstens wusste sie die Nummer von Ryons Haus nicht und zweitens wäre es nicht schlau gewesen, dort von ihrem Hotel aus anzuklingeln. Sie waren wegen des Hexenzirkels hier. Das durfte sie trotz ihrer schönen Träume nicht vergessen. Sie war verfolgt und ihr Leben war bedroht worden. Wegen des Amuletts um Ryons Hals hatte man schon mehrere Leben bedroht. Also keine besonders gute Idee eine Fährte zu dem Ort zu legen, an den man Ai zurückverfolgen und sie in Gefahr bringen konnte.

Dabei hätte es Paige einfach brennend interessiert, wie es ihrer Freundin und dem Baby ging.

Sie waren nicht einmal zwei Tage weg, aber das beruhigte Paiges Neugier kein Stück. In zwei Tagen konnte verdammt viel passieren. Wenn sie darüber nachdachte, hatte sich das gestern nur zu deutlich gezeigt.

"Naja, neuer Tag, neues Glück...", sagte sie leise, während sie ihren Koffer auf das Bett warf, ihn öffnete und sich Klamotten für den Tag heraus suchte. Heute sicher etwas Wärmeres. Ein Rollkragenpullover und eine dunkle Stoffhose. Dem Frühstück hier im Hotel hoffentlich angemessen. Sogar ein paar Ohrringe hatte sie dabei, die sie für heute anlegte.

Darüber, dass sie die Form von kleinen Libellen hatten, mussten die Snobs eben hinweg sehen. Oder sie machte diesen Leuten sogar eine Freude, da sie sich über Paiges Geschmack beim Nachmittagstee so richtig auslassen konnten.

Nachdem sie sich fertig gemacht hatte, schnappte sie sich die Schlüsselkarte und verließ ihr Zimmer in Richtung Aufzug.

Man hatte ihnen schon beim Einchecken gesagt, dass der Speiseraum ganz oben neben dem Panorama-Restaurant lag. Paige war bei ihrem kleinen Ausflug in der letzten Nacht daran vorbei gekommen. Und doch rief der Anblick dieses schieren Luxus großes Staunen in ihr hervor, als sie den großen Raum mit den riesigen Fenstern betrat.

Es war relativ voll, aber der zuvorkommende Kellner, der sie nach ihrer Zimmernummer fragte, führte sie anschließend zu einem kleinen Tisch, der in der Nähe des Buffets war und auf dem zwei Gedecke lagen. Beide waren noch unberührt.

Ohne auf Ryon zu warten, von dem sie nicht wusste, ob er überhaupt hier erscheinen würde, bestellte sie Kakao und schaffte es sogar dem netten Kellner, der gebrochen ihre Sprache sprach, zu sagen, dass sie kein gekochtes Ei wollte. Kaum dass der hilfsbereite Herr verschwunden war, stand sie mit ihrem blendend weißen Teller in der Hand auf und ging um das schwer beladene Buffet herum.

Paige konnte nicht verstehen, wie all diese Menschen - denn das waren die meisten von ihnen - diese Speisen einfach auf ihren Teller schaufeln konnte, ohne sie vorher zumindest einen Moment lang bewundert und gewürdigt zu haben. Es gab so viel frisches, genüßlich aussehendes Obst, so dass Paige über das Schwärmen fast vergaß, dass sie es auch essen durfte. Dann noch verschiedene Müslisorten und Croissant mit Marmelade. Sogar welche, die mit Schokolade gefüllt waren. Da konnte sie nun wirklich nicht widerstehen.

Mit einem völlig überladenen Teller kehrte sie fast tänzelnd zu ihrem Tisch zurück und setzte sich zu ihrer dampfenden Tasse Kakao. Kauend sah sie auf die Stadt hinaus, die sich heute zumindest wettertechnisch von einer besseren Seite zeigte als am Tag zuvor. Erst jetzt fiel ihr ein, dass sie gern etwas von den Touristenorten besucht hätte.

Als er vorbei kam, fragte sie den Kellner, ob er ihr sagen könne, wie weit es zum Eiffelturm war. Er verstand ihre Erklärung nicht gleich und versuchte mit Händen und Füßen zu erklären, dass er jemanden holen konnte, der ihre Sprache besser beherrschte.

Paige winkte lachend ab.

"Nein, ist gut. Danke."

Sie deutete die Form des Turms mit den Fingern in der Luft an, was den Kellner und dann auch sie zum Lachen brachte. Er hatte sie offensichtlich verstanden, denn er zückte Block und Stift und kritzelte irgendetwas vor sich hin, während er versuchte halb auf Französisch eine kleine Unterhaltung zu starte. Da der Mann ungefähr sieben oder acht Jahre jünder sein musste, als sie selbst, fand Paige das einfach nur nett. Er brachte sie zum Lachen und zeigte ihr eine recht grobe Zeichnung des Weges, der sie zum Eiffelturm bringen würde.
 

Er lief, bis ihm die Lungen brannten, seine Beine so sehr schmerzten, dass sie beinahe schon taub waren und trotzdem verlangsamte er sein Tempo erst, als er kurz vor dem Hotel ankam. Inzwischen war schon längst die Sonne aufgegangen, was ihm zusätzlich noch mehr Schweiß ins Gesicht getrieben hatte, aber dafür war die anschließend kühle Dusche eine wahre Wohltat. Genauso wie die sanfte Erschöpfung seines Körpers.

Allzu lange würde es nicht anhalten, das wusste er. Nicht nur sein Stoffwechsel und Kalorienverbrauch waren sehr hoch, auch seine leeren Batterien ladeten sich viel zu schnell wieder auf, um stets für optimale Bedingungen zu sorgen, wenn es um seinen Selbsterhaltungstrieb ging, gegen den auch er nichts ausrichten konnte. Immerhin war es eine rein körperliche Reaktion und hatte mit seinem Verstand nicht sehr viel zu tun. Aber zumindest würde er jetzt einige Stunden lang nicht mehr der lästigen Spannung in sich drin ausgesetzt sein, weshalb er sich auch schnell abtrocknete und sich frische Sachen anzog. Eine dunkelblaue Hose, kombiniert mit einem weißen Hemd, dass seinen goldbraunen Teint unterstrich und ihm zusätzlich den Eindruck von Frische verlieh. Nach der ganzen Schwitzerei ein sehr angenehmes Körperempfinden.
 

In dem gut besuchten Frühstückssaal musste Ryon sich erst einmal gründlich umsehen, um Paige an einem Zweiertisch direkt am Fenster zu entdecken.

Da sie sich gerade mit einem Mann zu unterhalten schien, mit dem sie sich offenbar gut verstand, schnappte er sich zwei große Teller und lud sie voll mit sowohl gesundem Essen, wie auch absoluten Kalorienbomben, bei denen so manche Frau allein beim Gedanken daran, auch nur einen Bissen davon zu essen, in Ohnmacht gefallen wäre. Dabei gab es wohl kaum etwas Köstlicheres als französische Schokoladensorten in einem Spitzenhotel.

Dagegen war das, was man in ihrem eigenen Land bekam, der reinste Müll. Nur zu leicht, konnte man sich mit diesen Süßigkeiten für immer verderben, was den Geschmack anderer Schokoladenmarken anging. Es war einfach kein Vergleich.

Paiges Sorge von gestern, dass sie hier gezwungen waren Schnecken oder so etwas in der Art zu essen, war vollkommen unbegründet. Immerhin gab es noch genügend andere leckere Spezialitäten.

Als Ryon schließlich an den Tisch heran trat und seine Teller abstellte, wünschte er beiden auf französisch ein völlig gelassenes guten Morgen und setzte sich. Er tat nicht einmal so, als wäre gestern nichts geschehen, sondern viel mehr, hatte er die Sache zu den Akten gelegt. Punkt.

Da er die Zwei nicht in ihrer Unterhaltung stören wollte und Paige ohnehin schon mit dem Essen angefangen hatte, machte er sich selbst auch daran, angemessen zivilisiert aber äußerst gründlich seinen monströsen Hunger zu stillen, während er den Ausblick betrachtete.

Paris war eine schöne Stadt. Ohne Zweifel bei Tag und bei Nacht.
 

Sie hatte seinen Auftritt gar nicht übersehen können. Ryon fiel auch hier auf wie der Wolf unter den Schafen, als er durch den Speisesaal ging und sie nicht einmal eines Blickes oder kurzen Nickens würdigte. Stattdessen steuerte er direkt auf das Buffet zu und ließ sie und den Kellner, der inzwischen fast am Ende seiner Erläuterung angekommen schien, links liegen.

Erst als er sich anscheinen die Portion für ungefähr fünf Menschen auf die beiden Teller geladen hatte, bequemte er sich doch dazu, ihnen einen guten Morgen zu wünschen und sich mit an den Tisch zu setzen.

Das Gesicht des Kellners verriet Verwirrung. Er verstand offensichtlich nicht, wie Paige mit diesem Riesen zusammen gehörte. Sie konnte es ihm nicht verdenken und schenkte ihm ein warmes Lächeln, das aber genauso wenig aussagte wie ihre derzeitige Nichtreaktion auf Ryons Anwesenheit.

Etwa vier Sätze später musste sich der junge Mann wieder seinem Job widmen, wünschte den beiden Gästen einen schönen Tag und war dann auf leisen Sohlen verschwunden. Das Stück Papier, auf dem er Paige den Weg zum Eiffelturm skizziert hatte, lag neben ihrem Teller.

"Dir auch einen guten Morgen."

In ihrer Stimme lag kein Ärger. Aber auch ihre gute Laune ging keineswegs daraus hervor, als sie ruhig weitersprach und dabei das Schokocroissant vorsichtig mit den Fingerspitzen in mundgerechte Stückchen zerpflückte.

Ihr Blick ruhte auf einer kleinen, weißen Praline, die in ihrer perfekten halbrunden Form so göttlich auf Ryons Teller thronte, dass Paige gar nicht anders konnte...

Als sie nach ihrer Tasse mit dem Kakao griff, stellte sie sich etwas ungeschickt an und das Wasserglas mit dem langen Stil kam bedenklich ins Schwanken. Gerade noch vor dem klirrenden Sturz konnte sie es auffangen und eine Überschwemmung verhindern.

Als Ryon seinen Blick, den er für wenige Augenblicke auf die Szene gerichtete hatte, wieder über Paris schweifen ließ, fehlte die kleine weiße Halbkugel mit den dunklen Schokoladenfäden auf seinem Teller.

Paige schmunzelte in sich hinein und nahm einen großen Schluck Kakao, bevor sie sich doch dazu durchrang ein Gespräch zu eröffnen.

"Wann willst du's wieder versuchen? Heute gegen Abend? Tagsüber herrscht dort sicher ziemlicher Betrieb. Für Touristen ist es bei diesem Wetter bestimmt ein beliebtes Ziel."

Sie wollte so gern auf das Wahrzeichen der Stadt, dass sie ihm sogar vorschlagen würde, sich bis zum Abend zu trennen. An einen derart mit romantischen Assoziationen behafteten Ort mit Ryon zu gehen, widerstrebte Paige zutiefst. Vor allem seit gestern.
 

Da gab Ryon ihr Recht. Er würde aber trotzdem wieder zum Friedhof gehen und das tun, was er nun einmal auch sehr gut konnte. Sich auf die Lauer legen, beobachten, abwarten, geduldig sein.

Dass Paige da mit machen würde, hielt er eher für unwahrscheinlich. Außerdem … um ehrlich zu sein … er wollte eine Weile alleine sein. Im Augenblick machte es ihm nichts aus, hier mit ihr am Frühstückstisch zu sitzen, aber je weniger Zeit er in ihrer Nähe verbrachte, umso unwahrscheinlicher war es, dass sie wieder an seinem Innersten kratzte, ob sie es nun wollte oder nicht.

Zudem war ihm nicht die Zeichnung entgangen, die neben ihrem Gedeck lag. Es war der Weg zum Eifelturm.

Wenn sie nicht daran interessiert wäre, hätte sie sich wohl kaum danach erkundigt. Weshalb er ihr die Mühe abnahm, eine Ausrede zu suchen, stattdessen nahm er ein Schluck von dem Wasser und sah sie über den Tisch hinweg an.

„Ich schlage vor, wir schonen uns bis zum Abend und treffen uns dann wieder so um acht Uhr hier beim Essen. Was hältst du davon?“

Das war genügend Zeit für sie, ein paar Erkundungen zu unternehmen und das in aller Ruhe, während er seinen eigenen Zielen nachstrebte. Ebenfalls in aller Ruhe. Dass sie verloren gehen würde, bezweifelte er. Sie war immerhin eine erwachsene Frau, die nicht auf den Mund gefallen war. Solange sie sich an den Touristenplätzen aufhielt, würde ihr schon nichts passieren.
 

"Ok, gut."

Mit einem breiten Lächeln steckte sie sich die Praline in den Mund, die sie ihm ungesehen von seinem Teller gemopst hatte und freute sich innerlich über die Möglichkeit, ein wenig allein die Stadt zu erkunden.

Die weiße Schokoladenhülle schmolz auf ihrer Zunge und gab das Aroma von Haselnüssen und Krokant frei. Paiges Mundwinkel hoben sich noch mehr und sie seufzte leise, als sie genüßlich auf den Kern der Praline biss und noch ein größeres Geschmackserlebnis zu spüren bekam.

Natürlich hätte sie sich auch selbst ein paar von diesen kleinen Kalorienbomben vom Buffet holen können. Aber gerade die Tatsache, dass sie von Ryons Teller kam, machte sie irgendwie ... besonders lecker.

Da Paige inzwischen aufgegessen hatte und nach dem guten Schlaf vor Energie förmlich aufgezogen war, entschuldigte sie sich bei Ryon und stand entschlossen vom Tisch auf. Mit einem erwartungsvollen Glitzern in den Augen schnappte sie sich den kleinen gezeichneten Plan und war schon fast am Verschwinden.

"Ich wünsch dir was. Bis später."

Damit rauschte sie aus dem Frühstücksraum und in ihr Zimmer zurück, um sich eine Handtasche zu schnappen. Beim Concierge erstand sie sogar noch eine kleine Wegwerfkamera, mit der sie ein paar Schnappschüsse machen wollte, die sie Ai später zeigen konnte.

Mit ihrem Ex war die Asiatin zu Anfangszeiten der Beziehung zwar viel in der Welt herum gekommen, aber Paige war sich sicher, dass Ai sich trotzdem über ein paar Bilder ihres Ausflugs freuen würde. Immerhin saß sie mitten im Nirgendwo in einem Stück Wald fest.

Ob sich die beiden Männer wenigstens gut um sie kümmerten?

Paige grinste wieder und überlegte sich, ob Tyler sich schon in einer Weise um ihre Freundin kümmerte, von der sie selbst lieber doch nichts wissen wollte. Oder am Besten jedes noch so kleine Detail. Je nachdem.
 

Ryons Gabel hielt mitten in der Luft inne, als er sah, wie Paige sich eine rundliche Praline in den Mund schob und man förmlich sehen konnte, wie ihre einzelnen Geschmacksrezeptoren zu arbeiten begannen.

Zuerst wurde ihr Lächeln noch breiter, was offenbar daraufhin wies, dass die Schokolade ganz nach ihrem Geschmack war, doch dann kam da dieser absolut verträumte Gesichtsausdruck vermischt mit dem leisen Seufzer der Entzückung. Vermutlich hatte sie in diesem Augenblick keine Ahnung, wie etwas so absolut banales wie Süßigkeiten zu essen bei ihr zu etwas absolut Sinnlichem wurde.

Verblüfft über diese neue Erkenntnis und darüber, dass sie einen so schnellen Abgang machte, ließ er die Gabel wieder sinken.

Die Frau hatte wirklich Glück, dass sein Gefühlsleben gerade mit dem eines Steins konkurrierte. Seinem Tier hätte die Vorstellung von eben garantiert gefallen.
 

Nach dem er gedankenverloren den Rest seines Essens verdrückt hatte, ohne aber noch etwas richtig zu schmecken, verließ er das Hotel mit einem neuen Plan in seinem Kopf.

Er würde heute garantiert noch zu diesem Friedhof gehen, aber vorher wollte er noch etwas anderes erledigen und dabei konnte er auch gleich seinen Mantel abholen, der bestimmt schon sehnsüchtig auf ihn wartete.

Als er nach zwei Stunden wieder ins Hotel zurückkehrte, war Paige bestimmt schon weit von ihrem Zimmer entfernt, weshalb Ryon keine Bedenken hatte, dem Concierge eine kleine edel verpackte Schachtel in DIN A 5 Format zusammen mit ordentlich Trinkgeld in die Hände zu drücken. Damit er es in ihr Zimmer legen konnte.

Ryon verstaute nur schnell seinen Mantel, ehe er sich auch schon wieder auf den Weg machte, aber in Gedanken ging er noch einmal die Notiz auf der mit goldenen Lettern geprägten Grußkarte von „La Maison du Chocolat“ durch: Bessere wirst du nirgendwo finden … nicht einmal auf meinem Teller…

Ja, er fand es passend, vor allem da es im Grunde nichtssagend war, aber wenn es schon nicht als Entschuldigung für sein gestriges Benehmen diente, so würde es ihr hoffentlich wenigstens schmecken.

Mit den Gedanken daran, was sie wohl gerade trieb, stieg Ryon wieder in die Metro und machte sich auf dem Weg zum Friedhof, um sein eigentliches Vorhaben in die Tat umzusetzen.
 

Paige war überrascht, dass es hier so grün war. Sie hatte nur einmal einen Film gesehen, der in Paris spielte und dort hatte es so gewirkt, als wäre das Wahrzeichen mitten zwischen den Häusern zu finden. Dem war aber nicht so.

Mit weit ausholenden Schritten, ihren Blick aber über die Umgebung schweifend, ging sie auf den Turm zu. Es war wie zu erwarten, viel los. Menschen aus aller Herren Ländern saßen auf Bänken oder dem Rasen, der sich in einem Park um den Eiffelturm zog.

Paige steuerte direkt auf das Ende der Schlange zu, die sich vor dem Ticketschalter gebildet hatte und stellte sich an.

Während sie darauf wartete zu dem kleinen Häuschen mit der Glasscheibe zu gelangen, sah sie den Leuten zu, die an ihr vorbei liefen. Viele waren Pärchen, die Händchen haltend die Stadt der Liebe erobern wollten. Damit hätte sie hier wohl rechnen müssen. Der Eiffelturm war nunmal nicht nur das Wahrzeichen der Stadt, sondern schien das Symbol für Liebe schlechthin zu sein.

Wer Paris mit seinem oder seiner Liebsten besuchte, der musste auch hier gewesen sein und sich bei einem Kuss auf oder vor dem Turm fotographieren lassen. So kam es, dass Paige einem kanadischen Paar den Gefallen tat und ein Bild von ihnen vor der Kulisse der Stadt schoss.

Sie hatte sich nach Studieren der Preise und des Inhalts ihres Geldbeutels dafür entschieden die Treppe zu nehmen. Zwar hätte sie sich den Aufzug in den zweiten Stock noch leisten können, aber sie hatte vor, später noch etwas zu trinken, während sie in einer großen Runde zum Hotel zurück lief.

Also war sie geduldig und mit nicht abreißendem Elan die Metallstufen nach oben geklommen, bis sich der Blick auf Paris vor ihr geöffnet hatte.

Wäre sie nachts nicht bereits vor einem entzückenden Lichtermeer gestanden und hätte die Eindrücke in sich aufgesaugt, wäre sie wahrscheinlich vor Ehrfurcht wie angewurzelt an der Treppe stehen geblieben.

Paris war von hier oben genauso schön wie von der Straße gesehen. Allerdings konnte man sich auf der Aussichtsplattform sogar noch einem Empfinden von Freiheit und Ruhe hingeben, was einem auf dem Rasen dort unten auf jeden Fall fehlte.

Genau in dem Moment, als sie sich an das Geländer stellen und einen direkten Blick nach unten richten wollte, war sie von der Frau angesprochen und um das Bild gebeten worden. Natürlich hatte sie sich dazu bereit erklärt. Was war schon dabei? Die beiden stellten sich an den Rand der Plattform und zogen sich gegenseitig in die Arme, während sie für das Photo und Paige strahlend lächelten. Als der Auslöser ein leises Klicken von sich gab, blinzelte Paige.

Ihr Lächeln war zwar freundlich, aber im Innern nicht mehr so überzeugt, wie es noch vor dem Bild gewesen war.

Nachdem die beiden Glücklichen abgezogen waren, stellte sie sich doch ans Geländer und sah eine Weile starr vor sich hin, bevor sie den Kopf ein wenig hängen ließ. Manchmal war es wirklich schade allein zu sein.
 

Nach einem langen Spaziergang durch die Stadt, bei dem sie sich zumindest einmal ordentlich verlaufen hatte, kehrte sie noch fast eine Stunde zu früh ins Hotel zurück.

Als sie ihr Zimmer erreichte, warf sie ihre Tasche in die Ecke und überlegte sich, wie sie die Zeit bis zum Essen noch überbrücken konnte.

Wenn sie so an sich hinunter sah, brauchte sie sich eigentlich nicht noch einmal umzuziehen. Vielleicht später, bevor sie aufbrachen. Dann würde sie sich diesmal ein paar Jeans und einen anderen Pullover überziehen. Die konnte sie ja schonmal aus dem Koffer kramen.

Als sie ihre Klamotten auf dem Bett auslegte, fiel ihr Blick auf ein kleines Päckchen auf dem Kopfkissen.

Erstaunt legte sie den Pullover weg und griff nach dem Geschenk, das mit einer goldenen Schleife verschlossen war und ziemlich teuer aussah. Eine Aufmerksamkeit des Hotels?

Nein. War es nicht.

Spätestens als sie den Hinweis mit dem Teller las, brauchte sie die Unterschrift nicht mehr zu entziffern.

Paige sah mit einem Lächeln auf die Karte, das man vielleicht als melancholisch bezeichnen konnte. Und das Einzige, was ihr dazu einfiel, war, dass Erdmännchen nicht schnurren konnten.
 

Da er dieses Mal Zeit hatte und das Wetter auch mit strahlendem Sonnenschein mit spielte, ließ sich Ryon mit dem Besucherstrom treiben, während er sich die Steinbauten, Grabsteine und Mausoleen in Ruhe ansah.

Es war wesentlich freundlicher hier, jetzt, da kein Nebel und Grauton die Gegend zu etwas Unheimlichen machte. Dennoch war er sich sicher, dass hier freiwillig kein einziger Gestaltwandler seine letzte Ruhe finden wollte. Es sei denn, er hatte es schon zu Lebzeiten genossen, ständig angegafft zu werden und sich Seite an Seite inmitten von unzähligen anderen Menschen und Wesen zu befinden.

Es war einfach kein Vergleich zu den Friedhöfen, wo nur ein Schlichter Grabstein daraufhin wies, dass hier jemand ruhte. Ein paar Blumen, ja, aber ansonsten überall Gras, Bäume … Stille…

Bei einer Steinskulptur, welche die Form einer verschleierten Frau hatte, kamen seine Schritte schließlich zum Erliegen. Ohne auf die Menschen zu achten, die sich an ihm vorbei schlängelten, kam er näher.

Das steinerne Gesicht ähnelte ihr überhaupt nicht, dennoch konnte er es nicht verhindern, bei ihrem Anblick an seine Gefährtin zu denken.

Bisher hatte er sich nie wirklich Gedanken darüber gemacht, ob Marlene und ihr gemeinsames Kind der Ort, den er für ihre letzte Ruhe erwählt hatte, überhaupt gefiel.

Ob sie manchmal einsam waren, da niemand je sie besuchte?

Zumindest keine menschlichen Wesen. Aber so wie er Marlene kannte, wäre sie für den Frieden, den er ihnen dadurch ermöglicht hatte, dankbar gewesen. Niemand würde ihre Ruhe stören, keiner glotzte ihr Grab an, ohne überhaupt zu wissen, wer die Menschen waren, die so früh so schnell gestorben waren. Außerdem, er könnte es nicht ertragen, zu wissen, dass noch jemand anderes ihre letzte Ruhestätte besuchte…

Ryon ging weiter, reihte sich wieder in den Besucherstrom ein und ließ sich treiben. In seinen Händen spürte er den zerknitterten Flyer, der die Karte des Friedhofs auf der Rückseite hatte und auf dem auch sämtliche berühmten Gräber aufgelistet waren und in welcher Division man sie finden konnte.

Der gesuchte General war auch darauf, weshalb er nun nicht mehr blind suchen musste, sondern zielstrebig der Information dieses französischen Charmeurs folgte.

Vor dem Eingang eines genauso unauffälligen Mausoleums, wie es sie hier zu Hauf gab, blieb er schließlich stehen. Er stand auf einem weniger besuchten Seitenweg, da es hier nicht sehr viele aufregende Berühmtheiten in der Nähe gab und auch sonst wohl niemanden, der eines der nahegelegenen Gräber besuchen wollte. Hier war es sogar fast vollkommen still, bis auf den Wind, der durch die wenigen Kronen der Bäume wehte.

„Hallo, mein Hübscher. Gehst du nun rein, oder nicht?“

Ryon folgte der hellen, fast schon singenden Stimme, die ihn da auf verführerischstem Französisch angesprochen hatte. Einen Moment war er über den Tonfall verwirrt gewesen, doch als er die beiden Top Models erkannte, die hüftschwingend und nur wage bekleidet auf ihn zukamen, war ihm alles klar – zwei Nymphen.

„Pardon?“

Er tat einen Moment lang so, als wüsste er nicht, was die Blonde der beiden gemeint hatte. Vielleicht war es ganz nützlich, sich dumm zu stellen.

„Ah, französisch mit Akzent, wie reizend!“, trällerte die Rothaarige voller Begeisterung.

„Hast du das gehört, Jaqueline? Ein Tourist!“

Die Blonde nickte zustimmend, während sie ihn mit ihren Blicken von oben bis unten musterte. Rotschopf tat es ihr gleich und setzte dabei einen fast schon obszön hungrigen Blick auf.

Ryon ignorierte diese offensichtliche Zurschaustellung von Interesse. Sie waren Nymphen. Sie konnten gar nicht anders. Sex war ihr Glaube, ihr Gebet und ihre Nahrung.

Jaqueline kam ohne zu zögern mit strahlendem Lächeln näher. Rotschopf folgte.

„Können wir dir irgendwie helfen, Süßer? Du siehst so verloren aus. Willst du in die ‚Dark Side of Paris?“

Einmal von den offensichtlichen Avancen abgesehen, die ihn völlig kalt ließen, konnten die beiden Frauen ihm vielleicht wirklich nützlich sein, wenn sie ihn für einen übermenschlichen Touristen hielten.

Ryon sprach leiser und gedämpfter, was die Kälte aus seiner Stimme nahm und mit viel Einbildung als etwas hilflos durchgehen könnte.

„Ich muss gestehen, ja, das möchte ich. Allerdings gibt es dafür keinen Reiseführer.“

Die Rothaarige lachte kokett.

„Aber Chéri, du brauchst doch keinen Reiseführer, wenn du uns haben kannst. Wir würden dich mit Freuden in unsere Welt ‚einführen‘ und dir alles zeigen.“

Das konnte sich Ryon lebhaft vorstellen. Vermutlich sah diese kulturelle Einführung in die französische Unterwelt bei ihnen so aus, dass sie alle drei ganz zwanglos auf Seidenlaken herum wälzten.

Obwohl er diese Vorstellung kein bisschen verlockend fand und ihm nun nicht mehr nur das dezente Parfum dieser beiden Ladys in die Nase drang, blieb er doch für seine Verhältnisse freundlich und zurück haltend.

„Ihr würdet mir schon sehr helfen, wenn ihr mir den Weg beschreiben könntet. Ich habe keinen sehr guten Orientierungssinn.“

Die Rothaarige trat nun näher an ihn heran. Mit ihren halsbrecherisch hohen Absätzen reichte sie ihm bis zur Nasenspitze. Sie senkte ebenfalls die Stimme, was fast schon wie ein leises Schnurren klang.

„Ich verspreche dir, Chéri. Uns würdest du nicht verloren gehen. Also, was hältst du davon, wenn wir dir den Weg persönlich zeigen? Jaqueline und ich würden uns schon gut um dich kümmern. Wir haben alle Zeit der Welt.“

„Charlotte hat Recht. Wir kennen da ein paar ganz besondere Sehenswürdigkeiten, die du dir absolut nicht entgehen lassen solltest.“

Bei diesen Worten zupfte die Blondhaarige wie zufällig an ihrem hautengen Strickkleidchen herum, so dass sowohl ihr üppiger Busen, wie auch ihre Beine noch mehr zu sehen waren.

„Du wirst es auf keinen Fall bereuen.“, bestätigte die Rothaarige und obwohl sie ihn nicht berührte, sah man ihr an, wie gerne sie es getan hätte. Aber irgendetwas hielt sie davon zurück. Genauso wie Jaqueline. Offensichtlich hatten sie noch keine genaue Vorstellung davon, was seine andere Seite war, oder sie wussten es doch und kannten die Regeln der Gestaltwandler. Was aber absolut nichts an ihrem Interesse änderte. Sie warteten lediglich ab, dass er den ersten Schritt tat, um somit indirekt sein Einverständnis zu geben. Aber darauf konnten sie noch lange warten. Er wollte nicht mit den beiden ins Bett, sondern lediglich den Weg in die Unterwelt finden. Dem galt sein eigenes Interesse.

„Ladys, ich bedaure zu tiefst, dass ich dieses reizende Angebot nicht annehmen kann. Durch meine Unfähigkeit zur Orientierung habe ich leider schon zu viel Zeit vergeudet, weshalb ich gleich wieder los muss.“

Man musste den Damen zu Gute halten, dass sie sich überhaupt nicht an seiner emotionslosen Fassade störten. Entweder kam ihnen jemand wie er, des Öfteren unter, oder es war ihnen einfach egal.

Mit dem für französischen Frauen nur zu allbekannten Schmollmund gaben die beiden ihr Bedauern kund. Charlotte seufzte sogar traurig, während sie sich eine rotgelockte Haarsträhne hinter ihr Ohr schob.

„Da kann man wohl nichts machen. Aber du kommst uns doch einmal besuchen, oder? Wir arbeiten im ‚Passion‘. Das liegt nicht weit vom Ausgang zur ‚Dark Side of Paris‘ entfernt. Wir würden uns sehr freuen.“

„Und wie.“, stimmte Jaqueline mit einem noch immer leicht enttäuschten Lächeln zu.

„Bei Gelegenheit gerne, allerdings müsste ich erst einmal dorthin finden.“ Offenbar hatten die Nymphen schon wieder vergessen, weshalb er eigentlich hier in der Gegend herum stand. Kein Wunder, wenn einem das Hirn ins Höschen rutschte, konnte man schon ein paar Details vergessen.

„Oh, natürlich. Excuse-moi.“

Rotschopf reagierte als erstes und begann in ihrer Handtasche herum zu kramen. Sie zog ein weißes Seidentaschentuch hervor und begann mit schwarzem Eyeliner etwas darauf zu zeichnen. Danach reichte sie es ihm.

„Wenn du dort hinein gehst“ Sie deutete auf das Mausoleum. „Dann einfach die Statue umrunden und danach immer nach links gehen, egal welche Abbiegung kommt. Wenn du wieder zurück willst, einfach bis zur Statue wieder immer nur nach rechts gehen. Auf der Karte findest du das ‚Passion‘. Es ist nicht zu verfehlen.“

Sie zwinkerte ihm mit einem verführerischen Lächeln zu.

„Merci, meine Damen. Ihr habt mir wirklich sehr geholfen.“

Jaqueline winkte lächelnd ab.

„Keine Ursache, Chéri. Wir helfen doch gerne.“

Noch einmal bedankte sich Ryon, ehe er sich endgültig von den Nymphen verabschiedete und sich schleunigst auf den Weg zurück ins Hotel machte. Denn er hatte nicht gelogen, er würde zu spät kommen!

Ohne es zu wissen, hatte er auf dem Friedhof ganz schön viel Zeit verplempert, erst sein Blick auf die Uhr hatte ihm die nackten Tatsachen vor Augen geführt. Hoffentlich würde Paige nicht zu sauer sein. Eigentlich war er der absolut pünktliche Typ.

17. Kapitel

Obwohl er sich so sehr beeilt hatte, dass sogar seine Haare etwas durch den Wind waren, als er den Speisesaal betrat, kam er knapp zwanzig Minuten zu spät.

Ryon hatte sich nicht damit aufgehalten, noch ins Zimmer zu eilen, um sich umzuziehen. Das konnte er später auch noch nachholen. Stattdessen war er schnurstracks sofort hier her gekommen, um Paige nicht noch länger warten zu lassen.

Etwas außer Atem, mit vom kühlen Wind leicht geröteten Wangen und leicht zerzauster Frisur, glitt er auf seinen Platz Paige gegenüber und entschuldigte sich mit voller Ernsthaftigkeit für seine Verspätung, nannte aber keine Gründe dafür. Erst danach kam er langsam zur Ruhe und richtete sich unauffällig wieder seine Haare.
 

Paige nippte zum ungefähr hundertsten Mal an ihrem Mineralwasser und sah auf die Uhr.

Bereits zehn Minuten vor der verabredeten Zeit war sie in den Speiseraum gekommen und hatte noch freudig festgestellt, dass sie sogar vor ihm da war.

Als allerdings die Minuten vergingen und sie schon der zweite Kellner fragte, ob sie nicht etwas bestellen wolle, wurde ihre Laune schlechter.

Es war gar nicht die Tatsache, dass sie jedes Mal ablehnen musste, da sie nicht unhöflich sein und ohne Ryon anfangen wollte. Die mitleidigen Blicke und das Lächeln des Angestellten, der sie bereits am Frühstückstisch bedient hatte, machte sie einfach nur fertig.

Bestimmt glaubte der junge Mann, dass Ryon ihr Begleiter war und sie das Frauchen, das sich jedes Mal aufs Neue von ihm hinhalten ließ. Schon beim Frühstück war er später am Tisch aufgekreuzt als sie selbst. Dass sie dafür allerdings keine Zeit ausgemacht hatte, die er hätte einhalten sollen und überhaupt, dass sie keinerlei romantische Beziehung irgendeiner Art pflegten, konnte der Kellner ja nicht wissen.

Aber als aus den zehn Minuten fünfzehn wurden, dann siebzehn, neunzehn ... wäre Paige am liebsten einfach gegangen. Noch zu bestellen, ohne dass ihr Begleiter aufgekreuzt war, wäre ihr trotz aller realen Unverfänglichkeit peinlich gewesen.

Als ihr Minutenzeiger gerade die Kurve über die vier kratzte und Paige das Glas entschlossen auf dem Tisch abstellte, um sich zu verdrücken, sah sie Ryon in den Raum eilen.

Er sah so aus, als wäre er ein wenig außer Atem und schlängelte sich durch die voll besetzten Tische auf seinen Platz zu. Sobald er seinen Mantel über die Stuhllehne warf und sich anschließend setzte, konnte sie sehen, dass er tatsächlich ein wenig durch den Wind war. Sein minimal zerzaustes Haar gefiel Paige fast besser, als diese strenge, geschleckte Frisur, in der er sie normalerweise trug.

Der Frisör hatte sich zwar Mühe gegeben, ihn nicht zu aalglatt aussehen zu lassen, aber gelungen war das nur in Ansätzen. Hätte man ihm einmal kräftig durch die sicher dicke Mähne gerubbelt, wäre das Ergebnis bestimmt ansehnlich gewesen. Ryon sah das offensichtlich anders und strich sich jede einzelne Haarsträhne wieder an ihren ordentlichen Platz, bevor er zur Karte griff, um sich etwas auszusuchen.

Paige überflog das Angebot nur noch, da sie schon zu Beginn ihrer Wartezeit lange in dem Menü geblättert und es genauestens studiert hatte.

"Es stehen Escargot auf der Karte", stellte sie wie nebenbei fest, um die Stimmung etwas aufzulockern und ein Gespräch zu beginnen. Ryon reagierte zwar darauf, indem er hochsah, zeigte aber ansonsten keinerlei Regung. Kein Lächeln.

Naja, es war einen Versuch wert gewesen.

Nachdem sie bestellt hatten - Paige hatte sich für Ratatouille mit Pilzen entschieden - blickte Paige zu ihrem Gegenüber und überlegte, was sie sagen sollte. Da sie seit zwei Tagen mit Ryon unterwegs war, hatte sie logischerweise kaum ein Wort gesprochen. Unterhaltung war einfach nicht seine große Stärke und Paige fehlte dieser Austausch unheimlich.

Ihre Mundwinkel zuckten leicht, während sie versuchte zu entscheiden, wie sie vorgehen sollte. Am liebsten hätte sie wieder mit einem Scherz angefangen.

'Na, Schatz, wie war dein Tag?'

Aber da das an Ryon abgeperlt wäre, wie Wasser an einer Glasplatte, ließ sie es bleiben.

"Ich war beim Eiffelturm", begann sie stattdessen. "Es war wirklich schön dort. Gar nicht so zugepflastert, wie ich es erwartet hatte. Es gibt eine große Rasenfläche und sobald man oben auf der Plattform ist, kann man über die ganze Stadt sehen..."

Ihre Begeisterung fand ein jähes Ende, als ihr etwas bewusst wurde.

"Aber das weißt du sicher."

Mit einem Seitenblick sah sie sich nach dem Kellner um, der hoffentlich bald das Essen brachte. Eine Beschäftigung für ihr Mundwerk, damit sie sich hier nicht lächerlich machte. Natürlich war Ryon schon auf dem Eiffelturm gewesen. Er hatte keine Anstalten gemacht, sie zu begleiten. Also war das Wahrzeichen für ihn sicher nichts Neues.

Der junge Kellner hatte ein perfektes Gespür für Timing und brachte zwei dampfende Teller mit Essen, das mehr als nur vorzüglich duftete genau im richtigen Moment an ihren Tisch.

Er lächelte und nickte Paige kurz zu, als er ihnen beiden einen 'bon appetit' wünschte, um dann unauffällig wieder zu verschwinden.

Das Gericht schmeckte köstlich und Paige genoss jeden kleinen Bissen. Auch wenn sie sagen musste, dass ihr Tylers Küche noch mehr zusagte.

"Hast du dir auch was angesehen?", wollte sie nach einer Weile wissen.

Die Stille war einfach zu viel für ihr neugieriges und kommunikatives Gemüt.
 

Ryon bestellte sich Suprême de canard à l’orange oder um es einfach auszudrücken: Barbarie Entenbrust in Orangensauce.

Er hatte so etwas noch nie gegessen, aber es hörte sich lecker an und wenn er schon einmal in einem anderen Land zugange war, wollte er auch einfach einen Sprung ins Unbekannte wagen. Für gewöhnlich war das meiste Essen genießbar, wenn der Koch nicht gerade seine kreative Phase hatte und herum zu probieren begann.

Während sie auf das Essen warteten, hörte Ryon Paige aufmerksam zu. Offenbar war für sie der Ausflug zum Eifelturm wirklich toll verlaufen, zumindest ihrer Begeisterung nach zu urteilen. Allerdings brach ihre Stimmung schnell ab, da sie annahm, ihn würde das vermutlich sowieso nicht interessieren, da er den Eifelturm wahrscheinlich schon tausendmal gesehen hatte.

Ryon war noch nie oben gewesen.

Das Essen kam, noch ehe er etwas darauf sagen konnte und als schließlich Schweigen sich ausbreitete, war irgendwie der richtige Moment verpasst, an dem er noch etwas hätte darauf erwidern können, also probierte er lieber ein Stück von der Ente. Die übrigens vorzüglich schmeckte und sofort Lust auf noch einen Bissen machte.

Wieder war es Paige, die versuchte ein Gespräch in Gang zu bringen. Das fiel ihm aber erst auf, als sie ihn nach seinem eigenen Ausflug fragte. Bis dahin, hatte er sich einfach schweigend seinem Essen gewidmet. Kein Wunder, dass ihm derartige Gepflogenheiten nicht einmal mehr auffielen. Er aß seit Jahren alleine, ohne Gesprächspartner.

Da er aber eine gute Kinderstube genossen hatte, versuchte er auf das Gespräch einzugehen. Immerhin war es nicht so, dass er nicht mit Paige hätte sprechen wollen. Das alles war einfach nur wieder vollkommen neu für ihn. Bisher hatte er auf niemanden mehr Rücksicht nehmen müssen. Aber da er vermutlich noch länger mit ihr zu zweit sein würde, sollte er sich etwas anstrengen. Nach dem gestrigen Vorfall, konnte es sicherlich nicht schaden, sich von einer besseren Seite zu zeigen, damit sie ihn nicht für noch durchgeknallter hielt, als es ohnehin schon der Fall sein musste.

„Ich habe Paris noch nie von oben gesehen.“, gestand er schließlich. Ignorierte damit zwar vorübergehend ihre Frage, ging aber dennoch auf das Gesprächsthema ein.

„Natürlich habe ich schon Bilder gesehen, die man vom Eifelturm aus gemacht hat, aber ich war noch nie dort. Dem zu Folge hast du mir schon einmal etwas voraus.“

Ryon schob sich ein weiteres Stück Ente auf die Gabel, ehe er Paige ansah.

Zwar konnte er nicht sagen, was in ihrem Kopf vor ging, aber bestimmt wunderte es sie, dass er noch nie auf dem Eifelturm gewesen war. Immerhin hatte sie das doch vorhin noch stark angenommen.

Um sich also nicht alles aus der Nase ziehen lassen zu müssen, beantwortete er einfach die nicht ausgesprochene Frage des ‚Warum‘.

„Ich habe Höhenangst.“

Er steckte sich den Bissen in den Mund und kaute in aller Ruhe, als hätte er nicht gerade eine starke Schwäche von sich preis gegeben.

Nun, zugegeben, seine Höhenangst war nicht so ausgeprägt, wie bei manch anderen, aber ab einer gewissen Höhe wurde ihm nicht nur schlecht und schwindelig, manchmal setzte dabei auch sein Bewusstsein vor Angst aus.

Vor allem betraf es gewisse Höhen die er grundsätzlich nicht heil überstehen würde, wenn er von dort ausgehend in die Tiefe fiel. Ein Baum oder der zweite Stock eines Hauses war demnach noch nicht wirklich schlimm. Aber der Eifelturm … nein. Alleine wenn er daran dachte, überkam ihn ein Schauder.
 

"Ach wirklich?"

Das war eine Angst, an die Paige nie einen Gedanken verschwendete. Sie selbst mochte Höhen und konnte das Unwohlsein bei freien Aussichten oder einem Abgrund nicht nachvollziehen.

Wenn sie auf einem Gebäude stand und über eine weite Fläche sehen konnte, fühlte sie sich frei. Es hatte etwas von Fliegen, das sie in ihrem Leben nur sehr selten erlebt hatte. Sie hatte immer angenommen, dass es vielen Wesen in 'World Underneath' so ging und sie hoch hinaus wollten, um dieses Gefühl von freiem Atmen zu genießen. Einmal diejenigen ausgeschlossen, die Paiges Meinung nach das große Glück hatten, mit Flügeln gesegnet zu sein. Es musste wunderschön sein, sich jederzeit von der Enge der Unter- und der menschlichen Welt entfernen zu können.

Aber Ryon gehörte ja auch nicht wirklich in die Unterwelt.

Seine kleine Wohnung hatte dort gelegen, aber wenn Paige so darüber nachdachte, war das Haus im Wald sein Zuhause und nicht dieser winzige, abgeschottete Raum in dem herunter gekommenen Mehrfamilienhaus.

"Das hätte ich nicht gedacht."

Immerhin hatte er sie ohne mit der Wimper zu zucken aus der Felsspalte gezerrt und sie einige Meter über dem Boden an die Luft gehalten. Damals wäre ihr die Schwäche an ihrem Gegner bestimmt aufgefallen. Denn sie hatte auf einen kleinen Ansatzpunkt geachtet, um sich einen Vorteil zu verschaffen. Hatte er etwa hinter seinen leeren Augen auch Angst gehabt abzustürzen?

"Ab welcher Höhe ist es dir denn unangenehm? Hat dir dann der Flug hierher auch etwas ausgemacht?"

Man konnte sagen, Paige hatte Blut geleckt.

Es war das erste Mal, dass Ryon ihr etwas von sich erzählt hatte. Und dann auch noch etwas, das so viel mit Gefühl zu tun hatte. Er hatte eine Angst vor ihr zugegeben. Wie hätte sie da nicht nachhaken können, um mehr zu erfahren?

Für eine Weile vergaß sie sogar das leckere Essen auf ihrem Teller, legte die Gabel ordentlich auf ihrer Serviette ab und faltete ihre Hände unter dem Kinn. Interessiert und offen sah sie ihn an, während sie auf weitere Worte wartete.
 

Paige hätte schon Hellseherin sein müssen, um zu wissen, dass auch er vor etwas so banalem wie Höhe Angst hatte, wo er doch sonst nicht großartig auf die meisten Dinge reagierte. Vermutlich kam auch daher ihre Neugier und da es für Ryon ein relativ unverfängliches Thema war, hakte er einfach ein. Vor allem, da sie sich auch schon darauf vorbereitet hatte, ihm zuzuhören, statt nebenbei weiter zu essen. Er sah das als sehr höflich an, weshalb er ihr auch den gleichen Respekt zollen sollte.

Selbst auf die Gefahr hin, dass die Ente kalt wurde, legte auch er sein Besteck weg, berührte aber mit Daumen, Zeige- und Mittelfinger den Stiel seines Wasserglases, um sich unbewusst an irgendetwas fest zu halten.

Es war reine Angewohnheit, dass er sich bei Gesprächen immer mit den Händen beschäftigte. Zumindest wenn sie länger dauerten und er sich nicht hinter einer steinerne Fassade verstecken musste.

Natürlich legte er diese nicht ganz ab, aber er konnte auch nicht behaupten, sich gerade unwohl zu fühlen.

„Fliegen ist kein Problem. Ich sehe zwar gut, aber bei mehreren tausend Metern, bleibt trotzdem alles nur noch ein Farbengemisch und man kann nicht direkt etwas erkennen. Beim Start und bei der Landung sehe ich einfach nicht aus dem Fenster.“

Ryon suchte Blickkontakt und blieb dann auch bei ihren Augen hängen.

Paige anzusehen fiel ihm nicht besonders schwer. Zumindest in diesem Augenblick nicht. Manchmal, da wich er dem Ausdruck ihrer Augen gerne aus. Zwar konnte man darin nicht wie in einem offenen Buch lesen, aber das Wechselspiel von Gefühlen war manchmal nicht zu übersehen, obwohl sie so dunkel waren.

„Bäume sind auch kein Problem, egal wie hoch sie sind. Bei Häusern wird es schon schwieriger. Ich könnte in einem Penthouse nur schwer von der Terrasse hinunter blicken. Es klingt vielleicht seltsam, aber für mich sind die Höhen am Schlimmsten, bei denen ich von vornherein weiß, dass ich sie nicht überleben könnte. Demnach finde ich steile Berge nicht so schlimm, wie senkrecht abfallende Klippen.“

Das war reiner Überlebensinstinkt. Denn wäre es nicht so, seine Angst vor Höhen würde ebenfalls mit all den anderen Gefühlen verschwinden, wenn er sein Tier in sich einsperrte.
 

"Das ist tatsächlich bemerkenswert.", meinte Paige völlig ehrlich, während sie ihre Position nicht aufgab und weiter auf ihre Hände gelehnt in Ryons Gesicht sah.

"Ich habe noch nie gehört, dass sich Höhenangst so äußert. Eigentlich war ich der Meinung, dass man entweder alle Höhen verträgt oder eben gar keine. Hm..."

Eine Weile hatte sie auf seine Finger gesehen, die ein wenig unruhig am Stil seines Glases lagen.

Von drängender Neugier gepackt, sah Paige wieder auf. Ihrem Gegenüber genau in die leeren, matten Augen.

Sie konnte selbst nicht sagen wieso, aber der Moment schien ihr günstig, sich Ryon noch einmal genauer anzusehen. Und zwar so, dass er es mitbekam. Nur so lange, dass es zu keinem peinlichen Moment führte, betrachtete sie seine Augen. Die großen schwarzen Pupillen, die nur von einer gelblich goldenen Iris eingefasst waren wie riesige dunkle Perlen. Paige wäre nicht Paige, wenn sie der Anblick nicht dazu aufgestachelt hätte, diesem toten Dunkel irgendwann doch noch eine Reaktion entlocken zu wollen. Noch dazu, wo es gestern in dem Tunnel, dort im Finstern, in der Kälte irgendetwas gegeben hatte.

Je mehr sie darüber nachdachte, desto weniger verstand sie, was passiert war. Aber das musste sie auch nicht.

Bevor Ryon ihr sagen konnte, sie solle ihn nicht so schamlos anstarren, griff sie wieder zu ihrer Gabel und führte das Gespräch fort, als wäre nichts gewesen.

"Soweit mir bewusst ist, habe ich keine Phobie. Ok, ich glaube die Wenigsten können Krabbeltiere besonders gut leiden, aber wenn mir eine Spinne über den Handrücken krabbelt, finde ich das noch lange keinen Grund auszuflippen."

Während sie weiter überlegte, stach sie schwungvoll mit der Gabel in einen halben Champignon.

"Warst du denn dann unten am Eifelturm? Auf dem Platz?"
 

Kurz trat Schweigen zwischen ihnen ein, während Paige ihm tief in die Augen sah. Ryon hatte das Gefühl, sie versuche darin etwas zu erkennen. Einfach nur irgendetwas, doch er wusste, dass sie nichts finden würde. Selbst jetzt war er innerlich leer und nur eine lebende, atmende und denkende Hülle.

Gerade in ihrer Gegenwart, versuchte er sich immer besonders zusammen zu reißen. Das gestern war einfach ein Ausrutscher zu fiel gewesen. An den Vorfall in der Bibliothek wollte er gar nicht erst denken.

Trotzdem ließ er sie ihn in Ruhe ansehen, bis sie selbst wieder den Gesprächsfaden aufnahm. Sein eigenes Besteck ließ er, wo es war, als er antwortete, denn er könnte sich im Augenblick ohnehin nicht auf den Geschmack der abkühlenden Ente konzentrieren.

„Als ich zehn war, haben mich meine Eltern dorthin geschleift, aber ich habe mich solange quer gestellt, bis sie es aufgaben, mich mit nach oben zu nehmen. Sie sind dann alleine mit dem Aufzug hoch gefahren, während ich unten gewartet und Leute beobachtet habe. Damals fand ich dieses ganze Geturtel der Pärchen ziemlich komisch…“

Zumindest oberflächlich betrachtet. Immerhin wusste er damals schon, was es hieß, verliebt zu sein. Wenn auch noch in absolut kindlicher Unschuld.

„Beim zweiten Mal war ich siebzehn und mit Freunden unterwegs. Die haben erst gar nicht den Versuch gestartet, sondern mich lieber gleich in ein Museum gehen lassen. Um ehrlich zu sein, einmal von der Geschichte abgesehen, hat mich der Eifelturm nie wirklich interessiert.“

Bevor er hier noch so richtig gesprächig wurde, konterte er lieber mit einer Gegenfrage. Immerhin wollte er nicht den Anschein erwecken, Paige würde ihn auf keinerlei Weise interessieren. Dabei war doch das absolute Gegenteil der Fall. Immerhin war er jemandem wie ihr noch nie begegnet und dabei hatte er geglaubt, schon viel gesehen zu haben.

„Du bist noch nicht sehr viel gereist, nicht wahr? Gefällt es dir denn bisher?“

Damit die Ente nicht doch noch im Abfall landete, begann nun auch er wieder zu Essen, wenn auch nur, um dadurch immer wieder den Blickkontakt zwischen ihnen abzubrechen.

Jetzt gerade wurde es wieder schwerer. Er erzählte nicht oft von sich selbst, schon gar nicht vor der Zeit, als für ihn die Welt noch in Ordnung gewesen war.
 

Ein Zucchinistück gesellte sich zu dem halben Champignon auf ihrer Gabel und landete in ihrem Mund.

Ryon war also mal ein Kind und ein Teenager gewesen? Na, das hätte sie ihm unter Umständen gar nicht wirklich zugetraut. Vor allem nicht, dass er so einfach darüber reden würde. Paige hatte immer das Gefühl, dass er am liebsten den Eindruck aufrecht erhalten würde, dieser muskelbepackte Eisberg sei schon immer da gewesen und werde auch immer so sein, wie er war. Als würde er in einer Zeitschleife festhängen und sich die Welt in ihrer Banalität um ihn bewegen.

Na, so gehässig wollte sie auch nicht sein. Aber was den Eindruck von eingebildetem Schnösel betraf, gab Ryon meistens einfach zu viel Angriffsfläche.

Seine nächste Frage schien in dieses Muster zu passen. Aber andererseits auch wieder nicht. Einen Moment sah sie ihn prüfend an, darauf bedacht herauszufinden, ob die Feststellung eine Spitze gewesen sein könnte. Da sie sich nicht sicher war, antwortete sie vorsichtig.

"Nein... In meinem Leben bin ich noch nicht besonders viel in der Welt herum gekommen."

Was hatte er in diesem Moment Glück, dass selbst wenn er es empfinden sollte, kein Zug von Mitleid auf seinem Gesicht zu lesen war.

"Irgendwann hätte ich das schon gemacht. Später mal."

Jetzt stocherte sie ein wenig auf ihrem Teller herum. Schob ein Stück Tomate um einen weiteren Pilz herum, bloß um dann beides liegen zu lassen.

"Aber es gefällt mir."

An dem Glitzern in ihren Augen musste er sehen können, dass es die pure Wahrheit war.

"Vielleicht nicht alles", fügte sie mit einem Lachen beim Gedanken an ihren Fall in das Loch auf dem Friedhof an. "Aber ein bisschen Tourist spielen macht großen Spaß."
 

Während Ryon ihr aufmerksam zuhörte, jagte seine Gabel ein Stück Ente quer durch die Orangensoße, schob sie hin und her, bis er sie schließlich aufspießte, aber sich nicht in den Mund steckte, sondern einfach nur ansah.

Er schwieg.

Eine Weile, es dauerte bestimmt nicht länger als eineinhalb Minuten, hing er seinen Gedanken nach, bis er schließlich mit kaum verändertem, aber bestimmt trotzdem deutlich erkennbarem Tonfall zu einem völlig neuen Thema ansetzte.

„Schon seltsam, wie das Schicksal so spielt. Ich meine, früher bin ich ständig durch die Weltgeschichte gereist, dachte, auch der Rest meines Lebens würde so verlaufen und dann kommt es plötzlich doch ganz anders.“

Er war häuslich geworden…

„Oder hättest du vor zwei Wochen geglaubt, mit einem völlig Fremden nach Paris zu reisen? Versteh mich bitte nicht falsch, du bist noch jung und besitzt absolut die Kraft und Entschlossenheit deinen Wünschen nach zu gehen. Aber bestimmt hättest du nicht damit gerechnet, dass dein Leben von heute auf morgen so einen Wandel vollzieht und das so schnell. Manchmal denke ich, man wird vom Leben nicht geführt, sondern regelrecht in eine bestimmte Richtung getreten…“

Und worauf zum Teufel wollte er mit dieser glorreichen Ansprache überhaupt hinaus?

Er musste gestehen, er wollte auf gar nichts hinaus, sondern es einfach mit jemanden teilen. Vorzugsweise mit jemanden, der es vielleicht verstehen könnte, was er damit sagen wollte. Allerdings gab er Paige nicht die Chance darauf zu reagieren, denn er wechselte schon wieder das Thema, nachdem er den letzten Bissen auf seinem Teller verputzt hatte.

„Apropos Tourist. Ich hab mich noch einmal auf dem Friedhof umgesehen und bin zufälligerweise auf zwei Französinnen gestoßen, die mir den Weg in die Unterwelt erklären konnten. Wir müssen also nicht mehr blind in der Kälte herum irren.“
 

Paige fühlte sich gerade weniger vom Leben an sich, als von ihrem Gegenüber in der Gegend herum geworfen, als befände sie sich in der Trommel einer laufenden Waschmaschine. So schnell war sie von niemandem zuvor durch dessen Leben gehetzt worden. Schon gar nicht mit derartigen Lücken dazwischen, die er offensichtlich nicht füllen wollte.

Wenn Ryon glaubte, dass er sich mit dem schlussendlichen Themenwechsel so leicht aus der Affäre ziehen konnte, dann aß er gerade mit der falschen Fremden zu Abend - wie er es so schön ausgedrückt hatte.

"Dir ist klar, dass du nicht uralt bist, oder?", wollte sie wissen und ließ damit seinen Versuch auf den weiteren Verlauf der Nacht zu schwenken vollkommen auflaufen.

Sie lächelte ihn an. Völlig wertfrei. Und dennoch lag mehr dahinter, als ihr selbst bewusst war.

"Wieviel älter als ich bist du, Ryon? Ein paar Jahre? Und selbst wenn wir beide hundert würden... Unsere Wünsche können wir uns immer erfüllen."

Wenn er von sich selbst sprach, als wäre schon alles dahin, wurde sie ungeduldig. Obwohl sie ihn nicht kannte und er es verdammt gut hin bekam, sein Wesen so aussehen zu lassen, als wäre er wirklich aus Stein ... sie wusste doch, dass dem nicht so war.

Er sah sie eisig an. Wie immer. Ach, was sollte es? Er hatte sie nicht darum gebeten ihn wieder ... zusammen zu setzen.

"Französinnen?"

Paige nahm einen großen Schluck Wasser und sah sich anschließend die Bläschen an, die am Inneren des Glases nach oben strebten.

"Gut. Dann haben wir heute hoffentlich mehr Glück."
 

Das Ryon erst einunddreißig war, sich aber desweilen wie hundert fühlte, teilte er ihr nicht mit. Genauso wenig, setzte er sie darüber in Kenntnis, dass er eigentlich keinerlei Wünsche und Träume mehr im Leben hatte. Wieso sollte er auch? Diese Luftschlösser waren schon alle zerplatzt.

„Ich denke, die einzige Schwierigkeit, wäre dann noch, diesen Crilin zu finden. Wir dürfen nicht zu aggressiv nach ihm suchen, sonst macht der Kerl die Fliege, noch ehe wir etwas aus ihm heraus gebracht haben. Was hältst du von einer unauffälligen Vorgehensweise? Vielleicht sollten wir zuerst nach allen Schmuck- und Antiquitätenhändlern Ausschau halten und unauffällige Erkundigungen einholen.“ Für Vorschläge war er natürlich immer offen. Diesbezüglich machte er sich keine Sorgen darüber, dass Paige auf den Mund gefallen war.

18. Kapitel

Da sie alles weitere auch noch auf dem Weg bis zum Friedhof besprechen konnten, war das Essen schließlich schnell beendet. Sie trennten sich noch kurz, um sich umzuziehen. Paige würde hoffentlich auf wärmere Klamotten zurückgreifen, während er sich lediglich wieder ein dunkles Hemd anzog und dazu eine schwarze Lederjacke in edlem Design überstreifte.

Allerdings nahm er das Kleidungsstück weniger für sich selbst, als mehr für mögliche Kälteeinfälle für Paige mit. Ryon hätte es immerhin auch bei Minusgraden noch kuschelig warm in seiner Haut gehabt. Kein Wunder. Das Land seiner Herkunft war nicht gerade die sonnige Karibik.

Selbst um diese Uhrzeit war in der Metro noch immer alles gerammelt voll, so dass sie wieder einmal dicht an dicht mit anderen Menschen standen.

Nur gut, dass Ryon noch nicht geschlafen hatte, was sich als sanfte Erschöpfung im Körper breit machte und ihn auf einem normalen Level hielt. Sonst hätte er dieser kleinen Gruppe von Japanern mit ihren Fotoapparaten und den Eifelturmshirts schon gezeigt, wo sein Revier war.

So aber, hielt er sich lediglich an einem Haltegriff fest, während er die ganzen ungewollten Berührungen über sich ergehen ließ. Einmal von dem Übermaß an Aftershave abgesehen, das hier irgendjemand wie eine Windfahne vor sich her trug und ihm in der Nase brannte.
 

"Ganz ehrlich gesagt finde ich es nie schwierig einen Händler zu finden ... wenn man das Richtige anzubieten hat.", meinte sie leicht hin, während sie neben Ryon her den Weg hinunter ging, dem sie schon in der vergangenen Nacht gefolgt waren. Diesmal würde sie sich nicht ohne triftigen Grund von ihrem Begleiter entfernen. Die Kältestarre war ihr eine Lehre gewesen.

Erstens trug sie Jeans und einen Pullover über ihrem Spaghetti-Shirt und zweitens würde sie Ryon dem Plan entlang folgend, dem man ihm gegeben hatte. Selbst wenn sie in eine Falle liefen - was sie aus unerfindlichen Gründe nicht annahm - wäre Paige diesmal nicht so leichtsinnig. Bereits seit sie den Friedhof betreten hatten, ließ sie ihre Schuppen nur kurz unter ihren obersten Hautschichten hin und her laufen.

"Warten deine Französinnen eigentlich auf uns?"
 

Da er natürlich einen ausgezeichneten Orientierungssinn hatte und demnach die Nymphen schamlos angelogen hatte, fand er nicht nur den Weg zum Mausoleum rasch wieder, sondern hatte auch keinerlei Probleme damit, sich dort unauffällig Zugang zu verschaffen und Paige mit sich zu ziehen.

Der Ort für diesen Eingang in die Unterwelt war wirklich gut gelegen, denn für Gewöhnlich kam hier nur selten jemand den abgelegenen Pfad entlang. Das hatte er heute Nachmittag schon feststellen können.

Es war beengend in dem Mausoleum und sie mussten dazu auch noch an einem steinernen Grab in dessen Mitte vorbei, aber statt der Rückwand mit der gewaltigen Statue eines Engels darin, die offenbar eine optische Täuschung durch gekonnte Lichteffekte war, ging es dahinter noch ein Stückchen weiter, so dass man die Statue tatsächlich umrunden konnte und dahinter eine Treppe nach unten fand.

„Vermutlich nicht.“, gab er zu, ohne Paiges Frage ganz zu verneinen.

Es waren Nymphen gewesen. Sie fanden bestimmt ganz schnell jemand anderen, den sie in ihr Reich ‚einführen‘ konnten. Um es einmal in ihren Worten auszudrücken. Bestimmt hatten sie ihn schon wieder vergessen und er würde auch auf keinen Fall im ‚Passion‘ nach ihnen suchen. Alleine schon der Name ließ vermuten, dass es sich hierbei um ein Etablissement handelte, in dem Minderjährige keinen Zutritt hatten. Geld aber immer willkommen war.

Im Mausoleum selbst war es noch dämmrig gewesen, aber kaum am unteren Ende der Treppe angekommen, war es so finster, dass er wieder nur Schemen erkennen konnte. Was aber auch so ausreichte, um den Weg erkennen zu können. Immer nur nach Links zu laufen, war auch garantiert kein Problem. Vor allem jetzt, da sie wussten, wo sie hin mussten.

Ryon blieb am Fuße der Treppe stehen und wartete auf Paige. Entweder, sie setzte ihre Fähigkeiten ein, hatte eine Taschenlampe dabei oder sie ließ sich wieder von ihm führen. Diese Entscheidung überließ er dieses Mal ganz ihr.
 

Paige legte den Kopf in den Nacken und warf einen raschen Blick durch das Mausoleum, in das Ryon sie geführt hatte. So beengt wie hier die Verhältnisse waren, konnte sie sich nicht vorstellen, dass der Eingang zur Unterwelt tatsächlich hier war. So ganz anders, als zu Hause...

Ein kleiner Schauer lief ihr über den Rücken, als sie ungewollt den Stein des Sarkophags in der Mitte des kleinen Raumes berührte. Vor den Toten brauchte man nur in den seltensten Fällen Angst zu haben. Schon gar nicht, wenn man dem Element des Feuers zugeordnet war. Aber das hieß ja nicht, dass einem diese Aufbahrungsorte der Menschen nicht unheimlich vorkamen. Eine Art den Körper an die Erde zurück zu geben, die Paige nie verstehen würde.

Ein kalter, modriger Hauch schlug ihr aus der engen Nische entgegen, in der Ryon erstaunlicher Weise verschwunden war. Sie hörte seine Schritte nach unten verschwinden und blieb einen Moment wie angenagelt auf der obersten Stufe stehen. Was sollte sie jetzt tun? Stockdunkle Finsternis und Kälte erwarteten sie und erinnerte sie nur zu deutlich daran, was gestern in den Gängen passiert war. Wieder konnte sie nicht einschätzen, wie weit es bis zur Unterwelt von Paris war. Noch einmal in Kältestarre zu verfallen war alles andere als eine gute Aussicht.

Mit vor Anspannung etwas steifen Fingern zog Paige eine Injektionspistole aus ihrer Manteltasche. Eine kleine Phiole mit einer schäumenden Flüssigkeit war darin eingespannt.

Paige atmete tief durch. Einmal. Zweimal.

Die Substanz war die Richtige für diesen Anlass... Dennoch zögerte sie noch einen Augenblick, bevor sie zur Tat schritt.
 

An ihren Fingerspitzen glimmten winzige Flammen, die ausreichten, um die Treppe zu ihren Füßen zu erhellen.

Unten angekommen sah sie kaum zu Ryon hoch, sondern machte mit ihrer Haltung klar, dass sie bereit war weiter zu gehen. Wenn möglich so schnell es ging. Aber das sollte ihm selbst auch klar sein.
 

Paige stieß schließlich nach kurzer Verzögerung wieder zu ihm. Wie immer war sie ihre eigene Beleuchtung, was allerdings Nachts unter der Bettdecke beim Lesen sicher nicht ganz ungefährlich gewesen wäre. Dafür wäre das Brandrisiko wohl viel zu hoch. Aber auch so fand er ihre Fähigkeiten recht praktisch.

Ryon hatte in der Zwischenzeit die Gelegenheit gehabt, sich gründlicher umzusehen. Im Gegensatz zu dem Loch von gestern und dem daran anschließenden Labyrinth war hier der Tunnel mit Steinen ausgelegt worden und auch die Gefahr im Dunklen zu stolpern war trotz der sanften Neigung des Bodens viel geringer. Wäre es nicht trotzdem kalt und feucht gewesen, hätte der Gang mit ein paar Lichtern sogar richtig einladend gewirkt. Aber bestimmt war das nicht unbedingt die Absicht der Erbauer gewesen.

Ryon vermutete sogar, dass es mehrere Eingänge zur Unterwelt gab und sie sich sozusagen auf einem Nebeneingang herumdrückten. Auf jeden Fall war der Weg unkomplizierter als der von gestern. Jetzt, da er wusste, wie er die vielen Abzweigungen zu nehmen hatte.

Wer diese simple Vorgehensweise nicht kannte, würde sich wohl immer verwirren. Ob deshalb keine Wächter zu sehen waren? Ryon konnte auf jeden Fall weder etwas Verdächtiges sehen, noch wittern. Da war nur der Geruch von nassem Stein, modriger Erde und natürlich Paige.

Ihr Geruch war für ihn inzwischen unverkennbar geworden. Dank seines gestrigen Ausrutschers und durch die Beihilfe seines Tiers, wusste er nun auch ganz genau, wie ihr Haar duftete und wie seidig weich es sich auf seiner Haut angefühlt hatte. Ganz anders, als die Beschaffenheit ihres Schuppenkleids und trotzdem fand er auch die dämonische Seite an ihr keinesfalls abstoßend. Viel eher würde er es als interessant bezeichnen.

Denn obwohl er schon mit so einigen merkwürdigen Wesen zu tun gehabt hatte, war er früher einmal doch stets vorzugsweise unter den Menschen geblieben. Da seinesgleichen im Grunde Einzelgänger waren, hatte er mit anderen seiner Sorte nie viel zu tun gehabt. Selbst seine Eltern lebten viele Flugstunden weit entfernt an einem relativ dünn besiedelten Ort. Daher war Paige letztendlich etwas sehr Exotisches für ihn.

„Eigentlich hätten wir gleich nach dem richtigen Weg fragen können.“, stellte Ryon fest, da Paige ihn vorhin an die Nymphen erinnert hatte.

„Immerhin gibt es offenbar auch noch andere von uns, die keine Macke wie dieser möchtegern Charmeur haben. Die Französinnen waren dahingehend fast normal. Von ihrer Eigenart einmal abgesehen.“

Oder mussten sie beide immer so tun, als bestünde die Welt nur aus Bösartigkeit?

Ryon vertraute zwar niemanden, aber gerade diese beiden Ladys hatten ihn auf etwas hingewiesen, das er in seinem alleinigen vor sich hin vegetieren schon ganz vergessen hatte. Sie mochten zwar alle keine richtigen Menschen sein, aber das hieß noch lange nicht, dass nicht jeder von ihnen wüsste, was Menschlichkeit bedeutete. Die einen ignorierten diesem Umstand, manch anderen nutzten ihn aus, aber er gehörte im Grunde nicht zu dieser Kategorie. Das sollte er nicht vergessen.

Ohne sofort zu wissen, was es war, nahm Ryon plötzlich die Witterung von etwas Neuem auf. Es war so leicht und zart, dass er es sich auch nur einbilden könnte. Denn selbst in Hundert Jahren hätte er nicht sagen können, was genau er da roch, aber eines stand für ihn fest. Wenn es keine Einbildung war, dann kam es von Paige.

„Alles in Ordnung mit dir?“, wollte er schließlich wissen, nach dem sie schon einige Zeit lang die dunklen Gänge entlang gegangen waren. Immer dem linken Gang einer Abzweigung folgend.
 

Ihre Atmung hörte sich für sie selbst laut und verräterisch an. Als könne jeder ihre Angespanntheit hören, das Warten auf das Einsetzen der Wirkung. Bereits jetzt war Paige schlecht. Sie hätte es nicht tun sollen. Warum tat sie sich das überhaupt an? Bestimmt wäre es auch sehr gut ohne gegangen...

Als sie ein Kribbeln auf dem rechten Schulterblatt bemerkte, wäre sie beinahe in Panik ausgebrochen. Ihre erste Reaktion schreiend um sich zu schlagen, um das loszuwerden, was sich da gerade in ihrem Körper aufbaute, konnte sie hinunter kämpfen. Die Dosis war nicht hoch gewesen. Gerade mal ein Hundertstel von dem, was ihr Vater an ihr erprobt hatte. Also kein Grund kopflos zu werden. Zumindest für's Erste nicht.

Mit zusammen gebissenen Zähnen und konzentriertem Gang lief sie neben Ryon her. Sie spendete ihnen beiden Licht und versuchte alles außer seiner Stimme und ihrer direkten Umgebung aus ihrem Kopf zu wischen. Etwas krabbelte ihr Bein hoch.

Paige konnte ein Wimmern unterdrücken, obwohl sie wusste, dass das Ding nicht außen an ihr hinauf kletterte.

Hätte es etwas genützt, wäre sie in der nächsten Ecke verschwunden und hätte sich den Finger in den Hals gesteckt, um sich zu übergeben. Aber das Zeug wirkte nunmal am besten, wenn man es ihr direkt ins Blut spritzte.

'Immerhin wirst du nicht nochmal in Kältestarre verfallen.'

Ryons Frage, die direkt an sie gerichtet war, kam bei Paige kaum an. Das Kribbeln zog sich langsam ihren Rücken hinunter, um ihre Hüfte herum...

Sie fühlte selbst, wie sie grün um die Nase wurde, als sich die Essenz unter ihre Schuppen ihren ganzen Bauch entlang ausbreitete.

"Ja. Mir geht's gut. Keine Anzeichen von Kälteschock."

Das hatte er doch gemeint, oder? Natürlich, wie sollte er auch auf etwas Anderes kommen? Er konnte es nicht sehen. Solange sie die Klamotten anbehielt und es sich nicht bis zum Gesicht vorarbeitete...

Zumindest log sie ihn nicht an. Was den Kälteschock anging.

"Meinst du, das wir bald da sind? Was sagt denn dein Plan?"

Paige hatte das wage Gefühl, ihn ablenken zu müssen. Nur für eine Weile. Es würde nicht lange vorhalten. Bald war es wieder vorbei. Gott sei Dank.
 

Ryon schenkte ihr einen langen Seitenblick, da er sich nicht ganz sicher war, was ihre Worte anging. Sie schien zumindest nicht zu frieren, was ihn beruhigte, aber da war dieser… Ach, bestimmt bildete er sich das nur ein.

„Der Plan besagt, immer nur nach links gehen. Allerdings weiß ich nicht, wie lange, aber dem Neigungswinkel nach zu urteilen, müssten wir inzwischen schon relativ tief unter der Erde sein. Ich denke, es kann nicht mehr allzu lange dauern.“

Die Karte auf dem Taschentuch erwähnte er nicht. Er hatte sie sich vorhin einmal kurz angesehen. Darauf war nur die Wegbeschreibung zum ‚Passion‘ gezeichnet.

Der Geruch wurde stärker, was ihn langsam wirklich zu wurmen begann. Entweder, sein Verstand bildete sich diesen flüchtigen Hauch so intensiv ein, dass er einfach nur auf trügerischer Weise deutlicher wurde, oder...

Ryon blieb stehen und drehte sich zu seiner Begleiterin herum.

„Entschuldige, Paige…“

Er trat einen Schritt näher an sie heran, beugte sich noch näher zu ihr hin und sog tief die Luft ein. Einen Moment schloss er zwecks leichterer Analysierung die Augen.

Danach richtete er sich wieder auf und ging weiter, allerdings tief in Grübelei versunken.

Zwar hatte Ryon nicht an ihr direkt geschnüffelt, aber die geringe Distanz zwischen ihnen war für seine Sinne kein Hindernis gewesen. Mit ziemlicher Sicherheit, hatte er sich nicht geirrt. Da war etwas…

Warum er nicht noch einmal eindringlicher nach fragte, wusste er nicht genau. Vielleicht weil Paige vor ihm ihre Geheimnisse haben durfte, da auch er genug davon hatte. Oder einfach, weil sie nicht so aussah, als würde jeden Moment etwas passieren. Es war auch so schon unhöflich genug gewesen, so offensichtlich an ihr zu schnüffeln. Wer weiß, vielleicht einfach irgendeine hormonbedingte Reaktion ihres Körpers auf eine Weise, die er nicht zu deuten vermochte, da sie mit ihrem Mischlingsblut etwas völlig Neues für ihn darstellte.

„Wir sind bald da.“, kündigte er schließlich an, während er sich immer noch fragte, was in ihr vor ging.

„Ich kann bereits Stimmengewirr und anderen Lärm hören, der definitiv nicht von Oben kommt.“
 

Flüssige Substanz. Mehr war es nicht. Das Ding, das sich da durch ihren Körper bewegte, unter ihrer Haut herum kroch und sie zu dem machen wollte, was ihr Vater als ihren einzigen Nutzen angesehen hatte, war nichtig.

Es hatte kein Hirn, kein Herz – lebte im ursprünglichen Sinne nicht und würde dennoch bald sterben. Wie ein kurz aufflammendes Feuer, dem das Futter ausging. Die Essenz zehrte von sich selbst und ein wenig von Paiges Blut. Solange sie es in winzigen Dosen abbekam, würde sie immer die Oberhand behalten. Nicht einmal ein Gegenmittel war nötig, um es irgendwann wieder loszuwerden.

Und dennoch war es unwahrscheinlich unangenehm und ekelerregend. Paige hätte sich am liebsten selbst die Haut von Leib gezogen, um das Ding beim nicht vorhandenen Hals zu packen und es aus sich zu entfernen.

Der Vorteil war winzig. Wenn man bedachte, dass es sich so anfühlte, als würden Blutegel in ihrem Körper herumkriechen. Unter jedem Zentimeter ihrer Haut.

Aus Selbstschutz wagte Paige es nicht auf ihre Hand zu sehen, die vom Licht ihrer flammenden Finger ebenfalls erhellt wurde. Sie hätte sich schlussendlich doch noch übergeben müssen.

So starrte sie voran in die Richtung, die sie in die Unterwelt führen sollte. Immer nach links sollten sie abbiegen, um schließlich ihr Ziel zu erreichen.

Vor ihnen gingen erneut zwei Gänge ab und Paige trat direkt auf den Linken zu, als sie um ein Haar gegen eine Mauer gelaufen wäre.

Ryon war stehen geblieben und drehte sich um. Leicht panisch zog Paige ihre Hand aus seinem direkten Sichtfeld und versuchte sich nicht auffällig vor ihm zurück zu ziehen, als er zu ihr hinüber kam.

Was, wenn er es sehen konnte? Wenn gerade in dem Moment, in dem er ihr ins Gesicht sah...

Paige wagte nicht zu atmen und glaubte sogar das Ding innehalten zu spüren, als Ryon sich vorlehnte und tief die Luft einzog.

Die Sekunde schienen wie Kaugummi in der Luft zu kleben. In ihr sträubte sich alles dagegen, dass Ryon es entdeckte. So stark, dass die Essenz darauf reagierte. Hatte Paige bis jetzt schon das Gefühl gehabt, ihr Körper würde von der Substanz in Beschlag genommen, fühlte es sich nun so an, als würde er für einer Sekunde nicht mehr ihr selbst gehören.

Ein Rumoren ging von ihrem Magen aus, das bis in ihren Kopf drang und sogar ihren Blick kurz verschleierte.

Gleich würde ihr das Abendessen hochkommen.

Rote Schleier zogen sich über ihr Blickfeld, bis sie das Ding mit ein paar tiefen, aber einigermaßen unauffälligen Atemzügen niedergekämpft hatte. Dann war es still. Zumindest verhielt es sich wieder so, wie es sollte. Kletterte ihr Schuppenkleid entlang und sorgte für Wärme in ihrem Körper.

Hätte Paige sich dazu entschieden, das ganze Potential der Substanz auszunutzen, hätte es noch sehr viel mehr vermocht. Aber es hätte auch sehr viel mehr zerstören können.

Ryon hatte sie gewähren lassen. Egal, ob er nun etwas bemerkt hatte oder nicht. Diesmal war Paige froh, dass er so schweigsam und emotionslos war. Es kam ihr nur gelegen, dass er nicht über das sprechen wollte, was ihn zu dieser seltsamen Prüfung ihres Geruchs verleitet hatte.

Lieber ging sie darauf ein, dass sie ihr Ziel wohl bald erreicht hatten. Paige selbst konnte noch nichts von dem hören, was Ryon wahrnahm. Aber sie wollte ihm nur zu gerne glauben, dass es nicht mehr weit sein konnte.

Ablenkung und Menschenmassen, in denen sie untergehen konnten. Wenn sie ehrlich war, stieg ihre Spannung und Neugier auf die fremde Welt, mit jedem Schritt, den sie ihr näher kamen. Ob es so viel anders war, als zu Hause? Bestimmt hatte die Bevölkerung hier in Paris andere Schwerpunkte. Nicht umsonst schlug ihr auch zu dem Zeitpunkt, als sie ebenfalls Lärm vernehmen konnte, kaum ein anderer Geruch als Stein entgegen.
 

Ryon verlangsamte seine Schritte, als er der Geräuschkulisse immer näher kam. Jetzt konnte er auch Stimmengewirr erkennen. Manche Sätze verstand er sogar. Sie mussten also ganz nahe sein.

Obwohl er damit gerechnet hatte, hörte der Gang plötzlich so abrupt auf, dass Ryon einen Moment vollkommen verwirrt war, weil er einfach vor einer Wand stehen blieb. Nur dank dem Licht, das Paige spendete, erkannte er, dass sie wie bei der Engelsstatue um die Mauer herum gehen mussten, so dass sie schließlich in einer kleinen Nische, an einer unauffälligen Stelle heraus kamen.

Als Ryon ins Freie trat, wich er zur Seite aus, um Paige ebenfalls durch zu lassen, aber allen voran, betrachtete er den Anblick vor sich mit großen Augen.

Die Höhle war riesig und darin befand sich nicht einfach nur ein zusammen gewürfelter Haufen von Gebäuden und Bruchbuden, sondern teilweise waren kleine Kostbarkeiten aus dem Boden geschossen.

Verschnörkelte Fassaden, steinerne Wasserspeier, als stammen die Gebäude aus einem anderen Jahrhundert. Mit auf einander abgestimmte Farben, die trotz des Dämmerlichts regelrecht leuchteten und eine saubere Atmosphäre boten, obwohl die Straßen nicht ganz so gepflegt waren, wie über der Erde, aber immer noch wesentlich sauberer als bei ihnen zu Hause.

Hier liefen zwar ebenfalls die seltsamsten Gestalten herum, aber irgendwie wirkte alles weniger gefährlich, sondern viel mehr einladend. Wie eine bunte Traumwelt, die wahr geworden war.

Ryon war positiv überrascht.

„Was hältst du davon, wenn wir uns erst einmal in der Stadt umsehen?“, fragte er schließlich, nachdem er seine Sprache wieder gefunden hatte.

Sich hier umzusehen, wäre wirklich eine gute Idee. Vor allem, da es seine heimliche Neugier stillen könnte.

An so einem Ort war er noch nie gewesen, obwohl er schon sehr viel herum gereist war. Aber das war auch meistens in der Welt der Menschen gewesen. Hier unten, das war die mystische, die geheime und ja, auch manchmal verbotene Seite des Lebens und zugleich machte es ihm deutlich, wie viel er von den Geheimnissen der Welt noch nicht kannte. Das Amulett war nur ein Beispiel dafür.

Der Gang durch die Straßen ließ ihn sogar eine Weile vergessen, weshalb sie wirklich hier unten waren. Allerdings war er gerade hier in dieser befremdlichen Welt besonders wachsam. Zwar konnte sich jemand wie sie hier unten frei bewegen, ohne schräg angesehen zu werden, das hieß aber noch lange nicht, dass es die Gegend auch harmloser machte. Ryon ging automatisch dichter neben Paige her. Er wollte sie hier auf keinen Fall verlieren.

Gerade, als sie den Weg zum Markt einschlagen wollten – hier gab es sogar Wegweiser! – kam das, was er im Augenblick am Wenigsten erwartet hätte.

„Chéri‼!“

Ryon blieb stocksteif stehen und schaffte es gerade noch, sich herum zu drehen, als er auch schon eine rotgelockte Frau am Hals hängen hatte, die ihn in ganz französischer Manier links und rechts auf die Wangen küsste.

Als eine Parfumwolke ihn einnebelte, erstarrte er vollkommen. Zum Glück ließ Charlotte ihn schnell wieder los, als Jaqueline sie bei der Hand nahm, von ihm herunter zog und ihrer Freundin eine Warnung zu flüsterte. Trotzdem strahlten beide über das ganze Gesicht.

„Tut mir wirklich leid, mein Hübscher. Charlotte vergisst gerne einmal die Anstandsregeln. Sei ihr also bitte nicht böse. Sie meinte es nicht so.“

Die Blondine setzte eine Unschuldsmine auf, die irgendwie das Gegenteil bewies.

„Natürlich habe ich es so gemeint. Dich hier zu sehen, Chéri, das hätte ich so schnell nicht erwartet. Aber tut mir trotzdem leid, wegen des Überfalls. Da ging wohl etwas mit mir durch.“

Ganz bestimmt ihr Höschen.

Ryon richtete sich den Kragen seines Hemds, ehe er einen halben Schritt näher an Paige heran trat und somit etwas von den Frauen zurück wich. Die beiden Nymphen so schnell wieder zu sehen, war nicht gerade das, was er sich von diesem Ausflug erhofft hatte. Noch dazu, wenn die eine ihn so stürmisch anfiel und gegen die Regeln des Gestaltwandleranstands verstieß, auch wenn sie es nicht böse gemeint hatte. Es war ihm trotzdem unangenehm.

„Jaqueline … Charlotte, dank euer Wegbeschreibung habe ich schneller hergefunden, als gedacht. Darf ich vorstellen, das ist meine Partnerin, Flora Burke.“

Zumindest Partnerin in geschäftlichen Dingen. Aber auf alle Fälle wollte er nicht so tun, als wäre die Frau an seiner Seite Luft. Sie war ihm tausendmal lieber als das Modelduo.

„Deine Partnerin?“

Beide setzten eine deutlich enttäuschte Schnute auf, allerdings konnte man in ihren Augen genau sehen, dass sie das nicht von möglichen Schandtaten abbringen könnte. Das war ein Grund, aber kein Hindernis, solange er Paige nicht als seine Gefährtin vorstellte, denn dann wäre der Zug abgefahren.

„Ach, Flora. Du bist wirklich zu beneiden. Lass dir diesen Mann, ja nicht vom Haken springen. “, erklärte Jaqueline, während Charlotte zustimmend nickte.

„Sonst schnappt ihn dir noch eine andere weg. Oder mehrere.“

Beide kicherten.

Ryon warf einen Seitenblick auf Paige und war in diesem Augenblick wirklich froh, dass sie kein Wort von dem verstand, was die beiden Nymphen da von sich gaben.

„Ach ja, Chéri. Wenn du ins ‚Passion‘ willst, ist gerade eine gute Zeit. Noch nicht so voll und unsere Pause ist in einer halben Stunde auch vorbei. Wir würden uns mit Freuden um euch beide kümmern.“

Charlotte lächelte lasziv und schnurrte beinahe. Alleine die Andeutung auf einen Vierer stellte ihm die Nackenhärchen zu Berge. Wenn sie nicht schon unter der Erde wären, hätte er sich unter Umständen überlegt, vielleicht in einem Erdloch zu verkriechen. Gut, dass er nichts dergleichen empfand.

„Das ist wirklich nett. Aber eigentlich sind wir hier, weil wir jemanden suchen.“ Warum diese delikate Angelegenheit nicht gleich zu ihrem Vorteil nützen? Wer in einem Freudenhaus arbeitete, kannte doch bestimmt so einige Leute. Vielleicht auch einen Schmuck- und Antiquitätenhändler namens Crilin?

„Ach ja? Wen denn? Vielleicht können wir dir weiterhelfen. Wir kennen hier so gut wie jeden in der ‚Dark Side of Paris‘.“

Kein Zweifel. Mit seiner Vermutung lag er also richtig.

Mit einem so beiläufigen Tonfall wie möglich, warf Ryon den Namen ‚Crilin‘ in die Runde. Woraufhin sich die beiden Französinnen einen Moment lang in die Augen blickten und dann gleichzeitig zu grinsen anfingen.

„Ja. Den kennen wir.“ Charlotte konnte sich das Lachen nun gar nicht mehr verkneifen.

„Großes Ego, kleiner … Geldbeutel.“

„Mich wundert es jedes Mal, wie er sich unsere Dienste leisten kann.“, warf die Blondine ein. Aber irgendwie schien sie es nicht böse zu meinen.

Der Tonfall der beiden war schon fast als mitleidig, wenn nicht sogar als gutmütig zu bezeichnen.

„Was willst du denn von ihm?“

Charlotte wurde wieder etwas ernster.

Ryon überlegte, ob er die beiden belügen sollte, andererseits, wenn sie ihnen so eben stundenlanges Suchen und anstrengendes Nachforschen ersparten, konnte er ruhig etwas großzügiger sein.

„Ich möchte mich nach einem Schmuckstück erkundigen.“

Die Wahrheit, wenn auch nicht die ganze Wahrheit.

„Oh. Da seit ihr bei ihm an der richtigen Stelle. Es ist zwar meistens alles nur alter Plunder, das er verkauft, aber dafür preiswert. Manchmal hat er sogar wahre Schätze anzubieten. Wenn ihr wollt, können wir euch zu ihm bringen. Sein Laden liegt gleich hier um die Ecke.“

Ryon wollte sein Glück noch nicht fassen, weshalb er sich mit Begeisterung zurück hielt. Es könnte sich alles noch als Enttäuschung herausstellen. Immerhin gab es sicherlich nicht nur einen Schmuckhändler namens Crilin auf der Welt.

„Merci. Das wäre sehr nett.“
 

Es sah aus wie im Süßigkeitenland. Paige fand die bunten Hausfassaden und übertriebenen Schnörkel wunderschön. Die Menschen taten ihr in gewisser Weise leid, weil sie sich selbst nicht erlaubten so in den Farbtopf zu greifen, was ihr Umgebung anging. Als würde es ihnen den gebührenden Anstand oder die Ernsthaftigkeit nehmen.

Hier unten war man aber offensichtlich sehr stolz auf die Andersartigkeit und zelebrierte sie so gut man konnte. Das gefiel Paige außerordentlich. Immerhin hatte sie nicht umsonst in einer der buntesten Ecken von 'World Underneath' gewohnt. Und dorthin wollte sie auch wieder zurück, wenn das hier alles hinter ihr lag.

Sie kamen an Verkaufsständen vorbei, an denen Paige gern angehalten und ein wenig gestöbert hätte. Das Angebot an langen Ketten mit bunten Glasperlen hatte es ihr wirklich angetan. Aber sie konnte den Mann an ihrer Seite sicher nicht darum bitten, ihr Ziel ein wenig nach hinten zu verschieben.

Vielleicht hatten sie nach einem positiven Treffen mit Crilin etwas Zeit. Die Kette mit den fliederfarbenen Steinen gefiel ihr wirklich gut. Da blieb sie glatt ein wenig hinter Ryon zurück, um sie sich länger aus der Ferne anzusehen.

Als sie sich umdrehte, hatte anscheinend eine rotgelockte Schönheit die Lücke bereits ausgefüllt.

Paige klappte beinahe die Kinnlade herunter, als sie sah, dass die Frau Ryon ihre Arme um den Hals geschlungen hatte und ihm Küsse auf jede Wange drückte.

Die helfenden Damen, wie Paige vermutete. Nymphen noch dazu. Und wie sie sich verhielten, war Ryon für sie ein echter Leckerbissen.

Zumindest hätten sie bestimmt ganz gern an ihm geknabbert.

Paige zog eine Augenbraue hoch, als ihr der Gedanke kam, dass die beiden Damen vielleicht das vermeintliche Vergnügen gehabt hatten...

Sie musterte Ryon prüfend, während er sich unterhielt und schließlich ihren Decknamen fallen ließ. Das brachte die Nymphen zum Schmollen und Paige zu einem übertrieben breiten Lächeln, das vor allem auch eine Art Schutzmechanismus war. Denn sie wurde von einer der Sexbomben direkt angesprochen. Natürlich auf Französisch. Ryon hatte wohl nicht klargestellt, dass sie diese Sprache nicht beherrschte. War auch egal. Sie legte ehrlich gesagt keinen großen Wert auf ein ausführliches Gespräch mit den Frauen.

Ryon selbst beendete seine Diskussion mit einem 'merci' und drehte sich dann zur Seite. Sie wollten wohl gehen, wie es aussah.

Fragend blickte Paige zu ihm hoch und verkniff es sich ihn nach dem nächsten Schritt zu fragen. Er würde schon wissen, was er vorhatte.

Vertrauen. Irgendwie verlangte er das für ihre kurze Partnerschaft schon recht oft von ihr. Wenn auch nicht immer deutlich ausgesprochen.

Wüsste er, was sich gerade in ihrem Bauch sammelte, sich langsam aus ihrem Körper verflüchtigte ... hätte er sich bestimmt noch zu weniger Vertrauen hinreißen lassen, als er überhaupt schon zu ihr gefasst hatte.

Gab es weniger als garnichts - fragte sich Paige, als sie schweigend hinter Ryon und seinen Nymphen herging, die sich wohl am liebsten je auf einer Seite von ihm an seine breiten Schultern geschmiegt hätten.

Nicht zum ersten Mal kam sich Paige in Gesellschaft anderer übernatürlicher Frauen etwas kurz geraten vor.

19. Kapitel

Da war sie wieder, die Anspannung. Das elektrische Knistern, der beständige Strom der ihn aufstachelte und seine innere Ruhe langsam zunichte machte.

Ryon spürte nur zu deutlich, wie die sanfte Erschöpfung wild um sich schlagender Energie weichen musste, die nicht nur von der aufkommenden Erwartung geschürt, sondern auch noch von den beiden Französinnen überstrapaziert wurde.

Jede seiner Nervenenden schien sich langsam zu strecken, zu dehnen und auf etwas bereit zu machen, das viel Energie und Einsatzfähigkeit benötigte. Als würde sein Körper bereits etwas wissen, von dem sein Verstand noch keine Ahnung hatte. Vielleicht arbeitete aber auch sein Unterbewusstsein mit seinem Körper zusammen, da sein Geist keine Gefühle zulassen wollte, die ihm genauere Auskunft darüber hätten geben können, was gerade in ihm vor ging. Ryon konnte es sich aber auch so denken.

Nicht nur die Tatsache, dass er gleich einem Mann gegenübertreten würde, der seine Gefährtin ohne sein Wissen gekannt hatte, schürte die Anspannung, sondern auch der nur zu leicht deutbare Geruch der Nymphen machte ihn unruhig.

Der eine würde schon bald die Beständigkeit seiner inneren Mauern prüfen, die seine Fassade aufrecht erhielt und die anderen appellierten mit ihren Körpern auf die Reaktionen des seinen. Hormone ließen sich nun einmal nicht direkt mit dem Verstand beeinflussen. Doch zumindest Letzteres konnte Ryon ausschließen.

Sex wäre selbst in einer anderen Ausgangssituation das Letzte, woran er bei den beiden Nymphen denken würde. Selbst ohne sie, war Sex ein für ihn abgeschlossener Bereich. Wer keine Gefühle zu ließ, tat sich schwer, Erregung zu heucheln. Demzufolge vermisste er absolut nichts. Um den Rest kümmerten sich die natürlichen Funktionen seines männlichen Körpers, um ihn gesund zu halten, auch ganz ohne seinem zutun.

Trotzdem, ein leichtes Gefühl von Unbehagen ließ sich nicht leugnen, da er den beiden Nymphen viel zu nahe war, während die einzige Person, der er gewisse Privilegien durchaus schon einmal zugesprochen hatte, deutlich Abstand hielt. Paige stieg in seinem Ansehen immer mehr. Das konnte er nicht abstreiten.
 

Der Laden von Crilin war so unscheinbar und herunter gekommen, dass Ryon ihn selbst dann nicht gefunden hätte, wenn er dreimal daran vorbei gelaufen wäre.

Eingezwängt zwischen einem altertümlichen Buchladen und einem farbenfrohen Esoterikladen mit vielen bunten Kristallen, Tarotkarten, Dekoseidentücher und Traumfänger, war nur eine mit alten Büchern, Schriftrollen, Kaleidoskopen voll gestopftes Schaufenster zu sehen, dass wohl zuletzt im 16. Jahrhundert etwas Wasser und einen Putzfetzen gesehen hatte. Man konnte den ganzen Müll hinter all dem Dreck darin kaum noch erkennen.

Der Schriftzug über der quietschenden Tür war kaum noch zu lesen, da die Farbe teilweise abgeblättert war, trotzdem war klar, dass der Laden früher einmal etwas ganz anderes feilgeboten hatte. Vielleicht eine Apotheke oder ein Laden für Mixturen und Tränke.

Das Holz der Ladentür war rissig, verwittert und von Holzwürmern zerfressen. Das Glas darin so schmutzig, dass es nicht nur dem Schaufenster, sondern auch einem Milchglas Konkurrenz machen konnte. Es sah alles andere als nach einem Schmuckgeschäft aus. Eher wie ein Laden, Jahre nach dem Bankrott.

Trotzdem war die Tür nicht abgeschlossen, als Charlotte sie mit enthusiastischem Schwung öffnete und begleitet vom Läuten einer verstimmt klingenden Glocke einen freundlichen Gruß in das dämmrige Innere sandte.

Jaqueline tat es ihr gleich, woraufhin Ryon die Gelegenheit nutzte und sich zu Paige umdrehte, um sie über die Situation aufzuklären.

„Angeblich ist das der Laden von diesem Crilin, den wir suchen. Offenbar scheint er ein guter Kunde von den beiden zu sein, da sie ihn ziemlich gut zu kennen scheinen. Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob wir so viel Glück haben und er wirklich der ist, den wir suchen.“

Er zweifelte es doch stark an und machte mit seinen Worten auch keinen Hehl aus seiner Meinung. Er wollte auch in Paige keine unnögiten Hoffnungen wecken, wenn er dafür nicht garantieren konnte.

Sie würden gewiss noch genügend Rückschläge auf ihrer Suche erfahren, um sich nicht gleich zu Anfang durch einen Fehlschlag entmutigen zu lassen. Trotzdem hatte Ryon das Gefühl, seine Haarspitzen müssten vor lauter Spannung sich knisternd von seinem Kopf ablösen, während sein Herz einen neuen Trommelrhythmus anschlug, als würde es eine ganze Horde von Wilden in den Krieg begleiten.

Noch einmal überprüfte er gedanklich die Festung um seine Gefühle, schuf noch weitere Käfige für sein inneres Tier, dessen Laute schon längst nicht mehr zu ihm durch drangen und betrat schließlich entschlossen den Laden.

Egal was auch passierte, er würde nicht die Fassung verlieren. Das war es nicht wert. Immerhin wollten sie lediglich Informationen über das Amulett. Mehr nicht.

Das Innere des Ladens war schockierend groß, wie man es von Außen nie erwartet hätte. Allerdings wie auch beim Schaufenster draußen, war alles ziemlich voll geräumt mit allerlei altem Gerümpel, der eher auf den Müll gehörte, als in eine staubige Glasvitrine. In einer Ecke neben der Tür stand sogar ein ausgestopfter Grizzlybär mit mottenzerfressenem Pelz und vom Staub getrübten Glasaugen.

Das Maul weit und gefährlich aufgerissen, doch letztendlich hatte es ihm nichts gebracht. Tiere waren schon immer traurige Opfer der Menschen geworden. All jenen, die nicht wussten, wie es war, eines in sich zu tragen, denn auch wenn einige Menschen ihn für eine gefährliche Bestie gehalten hätten, so würde er doch niemals so etwas perverses mit einem Feind anstellen. Nichts anderes war Präparation von toten Körpern für ihn. Eine Perversion.

Ein erschrockenes Keuchen brachte ihn dazu, seinen Blick von dem ausgestopften Tier zu lösen und sich an den Ladenbesitzer zu wenden.

Ryons Körper versteifte sich mit einem mal. Das Kribbeln in seinen Fingerspitzen zeugte davon, was man dort gefunden hätte, hätte er seiner inneren Bestie nicht die Klauen gestutzt. Aber auch ohne seine Krallen strahlte er mit einem Mal einen Hauch von Gewalt aus, ehe er seine Überraschung überwand und sein Innerstes wieder zur Ruhe kam.

Entweder war die Welt ziemlich klein, oder das Schicksal hatte wirklich einen makaberen Sinn für Humor. Crilin war also offenbar nicht nur das Abziehbild eines Franzosen, sondern hatte auch noch den Fehler begangen Paige auf offener Straße anzumachen.

Ryon konnte es nicht fassen. Vor ihm stand der möchtegern Casanova.

„Jaqueline … Charlotte, ich danke euch für eure Hilfe.“, begann er ruhig, nach einem sehr gewichtigen Moment des Schweigens und stillen Anstarrens.

„Aber ich möchte mit Crilin etwas Geschäftliches besprechen…“

Beide Frauen ließen ihre Blicke zwischen den beiden Männern hin und her schweifen, als verstünden sie die deutliche Anspannung in der Luft nicht. Doch da kam auch schon Paige zur Tür herein, was Crilin nun förmlich erbleichen ließ.

Charlotte erfasste die Situation als Erstes.

„Schon gut, Chéri. Schon verstanden. Da hat einer in deinem Revier gewildert.“

Sie lächelte ungerührt und hakte sich bei ihrer blonden Freundin ein, die Crilin eine Kusshand zu warf.

„Pardon, Crilin. Wir müssen leider gehen. Unsere Pause ist gleich wieder um. Nächstes Mal solltest du dich an uns wenden, wenn du ‚Bedürfnisse‘ hast. Wir machen dir auch einen guten Preis. Ganz ohne Gefahrenzulage.“

Beide kicherten und Jaqueline wandte sich an Ryon.

„Lass aber noch ein bisschen was von ihm übrig, ja? Er hat … so seine Reize…“ Welche das sein sollten, konnte er sich zwar absolut nicht vorstellen, aber wer konnte schon diese beiden Frauen verstehen. Ryon wollte es auf jeden Fall nicht einmal versuchen.

„Au revoir, Chéri. Hoffentlich sehen wir uns bald wieder.“

Charlotte winkte noch zum Abschied, ehe die beiden mit kokettem Hüftschwung den Laden verließen, während Crilin den beiden Frauen fast schon panisch hinterher blickte. Als hätten die beiden Nymphen ihn retten können, vor dem, was ihm da noch blühen könnte. Doch im Moment wollte Ryon sich noch nicht zu weit aus dem Fenster lehnen. Er wusste noch nicht einmal, ob das wirklich der Mann war, den sie suchten. Wenn doch, dürfte das aber auf jeden Fall ein äußerst interessantes Gespräch werden.

„Sprichst du Englisch.“, fragte er ohne Umschweife auf Französisch, da er hoffte, dass er so nicht ständig würde Übersetzen müssen. Auch Paige sollte mitbekommen, was gesprochen wurde. Das fand er nur richtig.

„Nein!“, antwortete Crilin schließlich wie aus der Pistole geschossen. Dabei warf er einen verstohlenen Seitenblick auf Paige, dem Ryon skeptisch folgte. Was hatte dieser fast schon panische Blick zu bedeuten?

Einer Ahnung folgend trat er näher an den gläsernen Warentisch heran und blickte dem Besitzer tief und schweigend in die Augen, bis sein Gegenüber immer mehr zu schrumpfen schien. Die Antwort war einfach zu schnell gekommen.

„Oui … etwas…“, gestand Crilin schließlich kleinlaut.

Hatte es sich Ryon also gedacht. Der Typ hatte es vermutlich nur leugnen wollen, da er Paige bei seiner rüden Anmache offenbar sehr wohl verstanden hatte und somit auch, dass sie keine Ahnung gehabt hatte, was er damals von ihr wollte. Er hatte es einfach ignoriert.

„Dann kratz mal in deiner kleinen Birne die richtigen Vokabeln zusammen, sonst muss ich sie persönlich mit meinen Fingern heraus puhlen.“

Ryon brauchte keinen ernsthaften Tonfall um seine Worte glaubhaft genug zu machen. Sein Blick sagte schon alles, selbst als er schließlich in ein ruhiges Englisch verfiel, dass nun auch Paige verstehen konnte.

„Wir sind hier, weil wir uns nach einem Schmuckstück erkundigen wollen, das angeblich vor einigen Jahren über deinen Ladentisch ging. Wenn du uns ein paar nützliche Informationen darüber geben kannst, wo du es her hattest, sind wir auch schon wieder weg.“

Crilin begann sich etwas zu entspannen. Vermutlich da Ryon keine Anstalten machte, seine Drohungen in der Metro wahr zu machen. Zugegeben, er konnte die Nymphen doch nicht um einen Kunden bringen.

„Um was für ein Schmuckstück handelte es sisch? Isch habe schon Vieles verkauft.“ Offenbar konnte der Franzose doch besser Englisch, als er zugeben wollte. Die kurzen Seitenblicke zu Paige bestätigten, wie gut es wohl wirklich war.

Crilin mochte sich zwar etwas entspannt haben, aber offenbar machte er nicht den Fehler, die Wut einer Frau zu unterschätzen, die man hatte herein legen wollen. Darum machte sich Ryon keine Sorgen. Er würde sie nicht aufhalten, wenn sie es denn wollte. Solange sie vorher die benötigten Informationen erhalten hatten.

Ryon griff in seine Jackentasche, was der Händler mit nervösem Blick verfolgte, doch statt einer Waffe, zog er lediglich ein Handy mit breitem Display heraus und tippte einen Moment lang darauf herum, ehe er es den Ladenbesitzer vor die Nase hielt.

„Es handelt sich um das hier, um genau zu sein.“

Crilins Gesichtsfarbe änderte sich noch schneller, als eine Ampel im dichten Verkehrsgewühl. Erst wurde er leicht grün um die Nase, danach so blass wie die Wand, bis er schließlich einen nervös roten Kopf bekam und stark zu schwitzen anfing.

Er wich deutlich entsetzt einen Schritt vor dem Bild auf dem Handy zurück, das eine gute Abbildung des Amuletts zeigte.

„Isch nicht kennen. Isch noch nie gesehen habe!“

Hätte er sich in großen fetten Lettern – Lüge – auf die Stirn tätowiert, wäre es nicht weniger offensichtlich gewesen.

Noch einen Moment lang hielt Ryon ihm das Handy vor die Nase, ehe er es wieder einsteckte und Crilin lange und tief in die Augen sah.

„Dir ist doch hoffentlich klar, dass ich Wege und Mittel kenne, dich in Scheibchen zu schneiden und darauf zu achten, dass erst der letzte Schnitt dich umbringt? Übrigens dauert dieser Prozess für gewöhnlich Tage. Bei guter Laune sogar Wochen.“, sprach er ruhig auf Französisch, ehe er wieder ins Englische wechselte.

„Sag mir einfach, was du weißt und wir lassen uns nie wieder hier blicken.“

Jetzt begann der Franzose zu beben, nahm seine Mütze vom Kopf und ließ sie zwischen seine zittrigen Fingern herum wandern, um sich wohl davon abzuhalten, einfach davon zu laufen.

Ryon war klar, dass sehr viel Druck auf dem Kerl lastete, weshalb er etwas von der Drohung seiner Worte nahm, in dem er seinen Blick von Crilin weg, direkt auf dessen Verkaufsgegenstände richtete. Er griff nach einem alten Dolch und erinnerte sich dabei an den Tag, als er einen anderen Antiquitätenhändler dazu gebracht hatte, ihm so viel wie möglich über Paige zu verraten. Allerdings hatte er nicht das Gefühl, dass er so eine Aktion auch vor ihren Augen abziehen konnte. Irgendetwas hemmte ihn, also legte er das Messer wieder weg und griff nach etwas unverfänglichem.

Ihm fiel eine filigrane Glasfigur auf, die fein gearbeitet war und obwohl sie vermutlich nicht sehr viel kostete, war sie doch sehr schön. Sie stellte ein Pferd dar und lag klein und zerbrechlich in seinen Händen. Seine Finger glitten sanft darüber, während seine ganze Aufmerksamkeit auf Crilin gerichtet blieb, der nun langsam endlich in die Gänge kam.

„Isch ... schwöre. Isch habe das Amulett nischt mehr.“

Beinahe hätte Ryon die Augen verdreht. Musste er dem Kerl alles aus der Nase ziehen?

„Das weiß ich. Was ich wissen will, sind nähere Details über das Amulett. Wo kommt es her? Oder ist etwas Besonderes daran?“

„Ehm… Es ischt nichts Besonderes. Pures Gold zwar und die Juwelen mit vollendetem Schliff, aber … ehm … sowas findet man überall… Es war schnell verkauft…“

Beinahe hätte Ryon geschnaubt. Der Kerl wollte ihn wohl auf die Schippe nehmen. Trotzdem hielt er seinen Blick auf das Glasfigürchen gesenkt, während er seine nächsten Worte sehr genau formulierte.

„Sag mir, wenn du es verkauft hast, wie kommt es dann, dass du noch immer so einen schäbigen Laden führst? Das Amulett muss mehrere hunderttausend Euro wert sein. Sag bloß, du hast das ganze Geld im ‚Passion‘ gelassen.“

Was er nicht glaubte, immerhin wusste er ja, dass seine Gefährtin es für einen Spotpreis aufgedrängt bekommen hatte.

„Isch habe es zu einem angemessenen Preis verkauft. Weit unter dem Normalpreis. Die Frau hat ein gutes Geschäft gemacht!“, behauptete Crilin entschieden, mit einem seltsamen Unterton in der Stimme. Seine Worte klangen zweischneidig. Aber vielleicht kam es Ryon auch nur so vor, da ihm mit einem Mal ein eisiges Kribbeln die Wirbelsäule hinunter lief. Er hatte von Marlene gesprochen.

„Seit wann macht jemand wie du, freiwillig ein Verlustgeschäft?“

Ryon blickte Crilin nun wieder fest in die Augen. Der goldene Rand um seine Pupillen war etwas breiter geworden.

„Es war kein Verlust!“

Crilin setzte entschieden seine Mütze wieder auf und starrte trotzig zurück. Was gab ihm nur diesen Mut?

„Warum?“

Ryon war ganz ruhig.

„Warum? Merde.“

Jetzt kam Crilin langsam in Rasche.

„Warum willst du das wissen? Ist doch vollkommen egal! Es ist weg! Isch bin es los. Der Fluch wird misch nicht mehr treffen!“

Jetzt schrie er beinahe, doch als Ryons Augen golden aufflammten, verstummte er auf der Stelle, als ihm sein Fehler klar wurde. Er hatte sich verplappert

Ryon stellte in aller Ruhe das Glasfigürchen auf seinen Platz zurück und wandte sich nun wieder vollends an den Händler.

„Nur damit ich dich richtig verstanden habe. Es liegt ein Fluch auf dem Amulett?“

Crilin kratzte sich fahrig in einem Anflug von Nervosität am Hinterkopf und suchte offenbar nach einer Ausrede, aber er hatte sich bereits verquatscht und das konnte er nicht mehr glatt bügeln.

„Ehm… Oui… Es bringt Unglück. Ein alter Freund von mir, hat es von einem reichen Mann aus London gestohlen, der es in seiner privaten Sammlung ausgestellt hatte, nachdem dieser plötzlich verstorben war. Mein Freund hat es vorübergehend bei mir untergebracht, wollte es von mir schätzen lassen. Er kam nie wieder, um es abzuholen. Isch habe mir nichts weiter dabei gedacht. Hab es behalten, wollte es verkaufen. Fand aber keinen Käufer und dann fing das mit den Unfällen an. Hab mir das Schlüsselbein gebrochen, als isch die Treppe hinunter gefallen bin. Danach wurde isch krank. Keiner wusste, was los war. Also hab isch regergiert und herausgefunden, dass das Amulett verflucht ist. Bringt dem Träger Unglück. Tötet ihn früher oder später. Also wollte isch es los werden. Doch bevor isch es wegschmeißen konnte, kam da diese blonde Frau. Erkundigte sich ausgerechnet nach diesem Schmuckstück. Isch konnte nicht anders. Hab es ihr praktisch geschenkt. Seit dem bin isch den Fluch los.“

Crilin zuckte mit den Schultern.

„Sie ist nie gekommen, um sich zu beschweren.“

„Weil sie tot ist.“

„Oui. Vermutlich.“

Mit einem Mal war sie da. Tief eingeschlossen und trotzdem so nahe an der Oberfläche, als hätte es nie Ketten gegeben, die sie bändigten und unter Verschluss hielten.

Die Raubkatze brüllte in seinem Kopf und Ryon reagierte.

Er wusste nicht, wie er die kurze Distanz zwischen sich und Crilin überbrückt hatte, aber er spürte deutlich den dürren Hals in seiner Hand, fühlte das Gewicht, als er ihn hoch hob und mit voller Wucht durch das Glas des Ladentischs rammte. Danach packte er ihn am Kragen und warf ihn quer durch den Raum in ein Bücherregal hinein, als wöge er nichts.

Ryons Gesicht war eine Maske aus eiskalter Wut und in seinen Augen stand der Entschluss zu töten. Oh ja, er würde diesen Mann umbringen. Er würde ihn in Fetzen reißen, für das, was er getan hatte, ohne auch nur noch einmal einen Gedanken daran zu verschwenden!
 

Ihr halbes Sichtfeld verschwamm in Grautönen, während Paige versuchte trotz des Rumorens in ihrem Magen geradeaus zu laufen. Bei jedem Schritt drohte sie das Gleichgewicht zu verlieren und das Atmen fiel ihr schwer. Sie schien zu wenig Sauerstoff zu bekommen, um das Ziehen und Krampfen ihres Bauchs zu überstehen. Bevor es vorbei ging, war es immer am Schlimmsten. Beim ersten Mal hatte sie fest damit gerechnet an den Schmerzen sterben zu müssen.

Jetzt war ihr Halt der Mann, der unbeirrt vor ihr her ging. Zwei Nymphen mit schwingendem Gang neben ihm her, als wäre Paige gar nicht vorhanden. Im Moment wäre sie auch liebend gern nicht existent gewesen. Ein Schlag in ihrem Magen und sie musste würgen.

'Gleich ist es vorbei. Keine Angst...'

Da war ein winziger Fussel an seinem Kragen. Ein Faden, der für Paiges Augen fast hell leuchtend und anziehend wirkte. Solange sie ihn nicht verlor, würde sie aufrecht stehen bleiben können. Den Dreien unauffällig hinterher laufen, wohin sie auch gingen.

Ein wenig brach ihr der Schweiß aus, während sie wartete. Auf Erlösung hinter der Qual, die sie sich selbst auferlegt hatte.

Ein weiterer Schlag und sie blieb zurück. Verlor den Faden am Jackenkragen aus dem Blick und die Welt färbte sich schwarz-weiß. Nicht die Hand auf den Bauch legen. Den Fehler hatte sie einmal begangen und würde es nicht wieder tun. Sie wollte die Bewegung in sich nicht unter den Fingern spüren müssen.

Nur die Dauer eines Wimpernschlags lang wurde es dunkel um sie, während Paige Halt an einer Mauer suchte. Ihre Zähne schlugen aufeinander, bis auf einmal absolute Stille in ihr herrschte. Sie war allein.
 

Als sie den Laden betrat, fühlte sie sich wieder stabiler auf ihren Füßen. Beschwingt war sie nur beim ersten Mal gewesen, als sie das Gefühl ihren Körper wieder für sich zu haben, noch voll genossen hatte. Eigentlich sollte man sich dafür mehr Zeit nehmen.

In diesem Zusammenhang konnte sie gar nicht anders, als den beiden Schönheiten, die an ihr vorbei flatterten wie Rosenblätter im Wind, ein breites Lächeln zu schenken. Wenn Nymphen viel von etwas verstanden, dann war es ihren Körper als ihre absolute Kostbarkeit zu schätzen. Paige hatte vor, es ihnen in etwas geregelteren Bahnen in Zukunft nachzutun.

Da sie sich inzwischen daran gewöhnt hatte, nichts von den Konversationen zu verstehen, die Ryon mit den Einheimischen führte, hörte sie gar nicht erst hin und war nicht einmal an Crilins Erscheinung interessiert. Ihr Blick wanderte über die Vitrinen und verstaubten Regale, blieb aber an nichts hängen, das sie als bemerkenswert bezeichnet hätte.

Als die Unterhaltung – oder sollte sie es besser als Befragung titulieren? - allerdings auf Englisch zu ihr durchdrang, horchte sie auf. Und jetzt fiel ihr auch auf, mit wem sich Ryon da eigentlich gerade an der Ladentheke abgab. Werbefranzose war Crilin?? Und er sprach Englisch. Sehr gut sogar.

Wäre Paige der Kerl nicht sowas von egal und ihr die Situation in der U-Bahn nicht doch sehr unangenehm gewesen, sie hätte ihn angebrutzelt. Für alle weiteren Frauen, denen er sich so unverschämt aufdringlich nähern würde, wäre es eine gute Sache gewesen. Aber übertrieben.

Der Laden sah so aus, als könnte ein kleiner Funke das gesamte Inventar in Rauch aufgehen lassen. Das war das Würstchen nicht wert. Denn als mehr konnte man Crilin mit seiner geduckten Körperhaltung und den immer arbeitenden Händen, dem nervösen Blick und den Schweißperlen auf der Stirn nicht bezeichnen.

Deshalb überließ Paige auch weiterhin Ryon das Ruder, während sie still durch den Laden streifte.

Zu Anfang warf ihr der Besitzer immer wieder leicht irritierte oder besorgte Blicke zu, bis Ryon dessen Aufmerksamkeit vollkommen beanspruchte.

Da war es wieder. Verdammt nochmal, wenn sie nicht aufpasste, würde sie selbst noch auf Ryons Masche reinfallen.

Bloß weil er hier vor sich hin plauderte, als würde er über die Qualität der Croissants bei der Bäckerei an der Ecke reden... Das hieß bei ihm überhaupt nichts.

Paige straffte sich, als sie seine Augen sah. Ihr Eindruck war anders als sonst. Nur ein wenig, aber deutlich erkennbar, wenn man die matten Pupillen kannte. So ähnlich hatte er schon einmal ausgesehen...

Paige reagierte viel zu spät.

Der kleine Franzose gab noch nicht einmal einen Laut von sich, als er mit Gewalt durch den Glastisch gedrückt wurde, der unter dem Gewicht in Scherben aufging. Ryons Blick flammte und Paige hätte mit ihrem Körper am liebsten das Gleiche getan.

Als Crilin wie eine große Puppe durch den Raum flog und mit einem Schrei und anschließendem Stöhnen in einem Regal landete, war es mit Paiges Beherrschung vorbei.

In zwei Sätzen war sie zwischen den beiden Männern und ihre Hände standen in Flammen. Sie hielt sie Ryon nicht entgegen, der zum zweiten Mal, seit sie sich kannten nicht so aussah, als wären seine Gesichtszüge aus Wachs gegossen. Allerdings verhieß die blinde Wut in seinen Augen nichts Gutes. Es war fast so, als sähe er Paige gar nicht. Wenn sie ihn nicht auf sich aufmerksam machte, würde er nicht nur den Franzosen umbringen. Es bestand auch die Gefahr, dass Paige dabei unter die Räder geriet.

Sie konnte ihr bereits zum Sprung ansetzten sehen, als sie ihre Stimme fand.

„Keinen Schritt weiter!“

Mit ausgebreiteten Armen stand sie wie ein Schutzschild vor dem Händler, der sich wimmern unter einem Stapel alter Bücher und zerbrochenen Regalbrettern wand.

„Wenn du ihn umbringst, bringt er uns überhaupt nichts!“

Aber das war nicht der Grund, warum sie hier stand. Sie war dem Gesprächsverlauf nicht gefolgt. Aber den Zeitpunkt, an dem Ryon ausgetickt war, hatte sie mitbekommen. Und seine Reaktion war mehr als übertrieben. Paige würde nicht zulassen, was Ryon vorhatte. Das war keinesfalls gerechtfertigt.
 

Nein!

Die Bestie brüllte in seinem Kopf wild auf, als sich plötzlich Paige zwischen ihn und seine Beute stellte. Ihm die Sicht darauf verstellte und ihn somit zwang, in seiner Bewegung inne zu halten und sie damit den Tod dieses Bastards nur um unnötige Sekunden länger hinauszögerte.

Wie konnte sie nur!?

Ryons Wut war wie eine wilde Kreatur, die ihre Krallen in seinen Bauch und Brustkorb rammte und daran zerrte und riss, bis die Wunde so offensichtlich klaffte, dass er eigentlich auf der Stelle hätte tot sein müssen. Doch stattdessen machte ihn der rasende Schmerz nur noch wütender.

Er konnte noch nicht einmal mehr richtig Atmen, sondern keuchte, als wäre er Meile um Meile gelaufen, ohne auch nur einmal das Tempo verringert zu haben. Dem Gefühl nach müssten seine eigenen Gefühle ihn jeden Augenblick zerreißen.

„Dir bringt es vielleicht nichts, mir schon!“, seine Stimme war zu einem tiefen Donnergrollen angeschwollen, in dem sowohl pure Aggression, als auch drohendes Knurren mitschwang. Seine Fingernägel verlängerten sich deutlich sichtbar. Wurden zu rasiermesserscharfen Krallen, die noch schneller töten konnten, als seine bloßen Hände.

„Geh mir aus dem Weg…“

Seine wilden Augen funkelten Paige mit ihrer goldenen Farbe fast glühend heiß an, bemerkten sehr wohl ihre brennenden Hände und trotzdem schreckte die Bestie nicht davor zurück. Ganz im Gegenteil. Sie wurde davon nur noch angestachelt.

Ryon erkannte gerade noch rechtzeitig, den silbrigen Dunst, der plötzlich seine Sicht für einen Moment trübte, als er ihn einzuhüllen begann.

Der Schmerz hatte sich bereits zu verschieben begonnen, doch er konnte die Verwandlung noch im letzten Moment verhindern. Der Schleier lichtete sich wieder, aber auch wenn die Bestie nun weiterhin in seinem Kopf tobte, er stimmte ihr zu. In jeder noch so kleinen Gefühlsempfindung, verstand er sein Tier nur zu gut und wollte genau das Gleiche. Der Bastard hatte seine Gefährtin absichtlich dem Tode ausgesetzt, um sein eigenes minderwertiges Leben zu retten. Seine Tochter hatte ebenfalls deswegen sterben müssen…

Der Schmerz war unerträglich. Ryon rammte seine Faust in die Standuhr zu seiner Linken, die daraufhin mit einem leisen Gong zerbrach, ohne dass er seine Augen von Paige abgewandt hätte.

„Geh mir aus dem Weg, PAIGE!“, schrie er sie an, ehe er einen Schritt auf sie zu trat.
 

Warum konnte sie nicht gehen? Einfach die Augen schließen oder wegsehen, wie es so viele Andere getan hätte. Warum stand sie hier zwischen einem manisch schizophrenen Wandler, der allmählich völlig außer Kontrolle geriet und seiner auserkorenen Beute? Einem Schwächling, der auf dem Gesicht der Welt bestimmt nicht fehlen würde...

Ihr 'nein', das sie nicht nur aussprach, sondern auch dadurch unmissverständlich vermittelte, dass sich rote Schuppen erkennbar über die Flächen ihrer Haut zogen, die er sehen konnte, prallte an Ryon ab.

Paige sah die Krallen an seinen Fingern und seine veränderte Augen. Das Grollen in seiner Stimme machte nur zu deutlich, dass sie es mit einem gefährlichen Tier zu tun hätte, wenn er es denn schließlich an die Oberfläche ließ.

Einen Moment lang traf sie die Angst so stark und unvermittelt, dass es nur an etwas liegen konnte, das unter ihrem bewussten Radar hindurch gekommen war.

Würde er sich wandeln?

Und wenn ja, wie viele Chancen hätte sie gegen die geballte Kraft, der kein logisches Denken mehr inne wohnte, an das sie hätte appellieren können?

Keine. Sie wäre tot, bevor sie auf dem Boden aufschlug.

Aber noch war es nicht so weit.

Der Knall seiner Faust auf dem Material der Standuhr ließ sie erschrocken zusammenfahren. Und dennoch hielt sie seinem Blick stand.

„Das werde ich nicht.“, sagte sie ruhig, während sie weiter in die Knie ging und ihre Arme noch mehr spreizte.

Ja, sie hatte Angst vor ihm.

Als er auf sie zukam, fand sich ein Teil von ihr damit ab, dass sie sterben würde. Und dennoch hörte sie sich weiter sprechen.

„Wenn du ihn willst, dann musst du an mir vorbei. Und das ist er verdammt nochmal nicht wert.“

Sie meinte es so ernst, wie es die Situation erforderte.
 

Sie war wie eine unüberwindbare Wand zwischen der Bestie und deren Opfer. Weder konnte er an ihr vorbei, durch sie hin durch, noch über sie hinweg.

Paige war in diesem Augenblick die geballte Entschlossenheit, die ihn davon abhielt, ein weiteres Mal in seinem Leben zu töten.

Sie stand ihm im Weg und würde nicht weichen, das hatte sie klar gemacht. Ihr Blick war unmissverständlich. Ryon müsste sie zuerst ausschalten, wenn er an das wimmernde Häufchen Dreck heran kommen wollte, das sich hinter ihr vor Schmerzen krümmte. Doch er konnte es nicht.

Vielleicht hätte er es gekonnt, als sie damals in der kleinen Seitenstraße zum ersten Mal Auge in Auge gegenüber gestanden hatten. Jetzt aber war es zu spät. Nicht nur, dass es der schwangeren Ai das Herz brechen würde, wenn er ihre Freundin umbrachte, auch Paige selbst erwies sich inzwischen als unentbehrlich. Gestern noch hatte er ihr Körperprivilegien gestattet, wenn auch nur kurz. Jemandem den er töten könnte, ohne sich danach schlecht zu fühlen, würde er so etwas nie erlauben.

Aber das änderte nichts daran, dass er gleich zu explodieren drohte, so sehr verbrannte ihn seine eigene Wut. Er wollte, musste auf irgendetwas einschlagen, sich abreagieren und am besten wäre dieses skrupellose Arschloch dafür geeignet. Natürlich würde das seine Schmerzen niemals lindern können, aber wenigstens einen Moment lang, könnte er dadurch so etwas wie Befriedigung empfinden, auch wenn seine Schuldgefühle dadurch nicht verringert werden konnten.

„Verdammt noch mal, was kümmert es dich, was ich mit diesem verfickten Arschloch anfange?!“

Ryon schrie zwar nicht mehr, war aber immer noch mehr als ungehalten. Seine Finger zuckten leicht nervös und er musste sich beherrschen, dass er Paige nicht mit gefletschten Zähnen anknurrte. Er konnte nicht an ihr vorbei. Er konnte ihr nichts tun. Er konnte nicht gehen. Was also blieb ihm anderes übrig, als auch noch über den Tod eines anderen zu verhandeln. Das war wirklich die beschissenste Lage, in der er sich seit langem befunden hatte und es machte ihn schier wahnsinnig.

Als Ryon schließlich wütend herum fuhr, um sich von Paige abzuwenden, fegte er die ramponierte Standuhr endgültig von ihren Füßen, so dass sie am Boden zerschellte. Danach trat er auf den zerbrochenen Ladentisch zu. Einen Moment lang blieb er vollkommen reglos mit dem Rücken zu Paige stehen, versuchte die Wut in sich zu kontrollieren, doch ein einziger Gedanke an das vorhin geführte Gespräch über das verfluchte Amulett und seine Fäuste machten sich selbstständig.

Mit der Kraft seiner geballten Wut, donnerte er sie immer wieder auf das Möbelstück nieder, bis es nur noch so krachte und splitterte und schließlich die Beine des massiven Ladentischs nachgaben und er ihn somit in die Knie zwang. Schließlich verpasste er den Trümmerhaufen noch einen letzten Tritt, ehe er seine zerschundenen Hände so fest zu Fäusten ballte, dass sie schmerzhaft pochten, während er seinen Schmerz und die unendliche Frustration einfach hinaus brüllte. Danach war er völlig still.

„Warum musst du diesen skrupellosen Dreckskerl vor mir beschützen?“, wollte er nach einer Weile wissen. Sein Tonfall war traurig und … müde…

Seine nie endenden Schuldgefühle, der Schmerz, die Wut, die Einsamkeit… Das alles war er schon so müde und jetzt durfte er noch nicht einmal einen flüchtigen Moment der Befriedigung erfahren, da Paige ihn dazu zwang, Crilin am Leben zu lassen.
 

Paiges Muskeln zitterten vor Anspannung und Angst, als Ryon seine Wut schon ansatzweise an der Theke und weiterem Inventar des Ladens ausgelassen hatte. Ihre Hände brannten noch und sie hatte es noch nicht gewagt einen Blick auf Crilin hinter sich zu werfen, ob er schnelle Hilfe brauchte.

Jede Alarmglocke in ihrem Hirn schrillte so laut, dass Ryons Brüllen damit eine seltsame Mischung ergab, die ihr tatsächlich einen eiskalten Schauer die Wirbelsäule hinunter jagte. Da war etwas anderes in seiner Stimme als nur Wut und Aggression. Sein Tier mischte eindeutig bei dieser ganzen Sache mit – wie sollte es auch nicht? Er war nun einmal, was er war – und für Paige klang er in diesem Moment genau so. Wie ein tief verletztes Tier, das nicht anders konnte, als seine Schwäche in Angriff umzusetzen.

Die anschließende Stille zermürbte Paige noch mehr, als es seine offensichtlichen Pläne getan hatten, sie und den Franzosen anzugreifen. Es konnte nur die Ruhe vor dem Sturm sein.

Was sie als nächstes in seiner Stimme hörte, konnte sie nicht recht zuordnen. Es schienen so viele Gefühle in ihr mitzuschwingen, dass es ein regelrechtes Gewirr ergab, bei dem Paige noch nicht einmal wusste, wo sie mit dem entwirren beginnen sollte. Dazu kam noch, dass sie ihn so zuvor noch nie gehört hatte. Und noch war da seine aggressive Haltung, die geballten Fäuste und auch seine Augen, die ihr sagten, dass es noch nicht vorbei war.

Es würde sie eines Tages ihren Hals kosten. Aber wie meistens sah Paige ihre beste Chance darin, alles auf eine Karte zu setzen.

Wenn Ryon sie erledigen wollte, dann würde er es tun. Und wenn nicht, dann konnte sie ihn vielleicht tatsächlich davon abhalten, dass er jemanden ermordete.

„Weil es richtig ist.“
 

„Und woher willst du das wissen?“

Ryon drehte sich wieder zu ihr um, konnte Paige aber nicht in die Augen sehen, stattdessen ließ er seinen Blick über die zitternde Gestalt hinter ihr zu ihren Füßen schweifen. Er konnte zwar nicht alles von Crilin erkennen, aber dessen ängstlich geweiteten Augen, die ihn panisch anblickten, entgingen ihm nicht. Der Kerl versuchte sich noch mehr hinter Paige zu verstecken, als er seinem Blick begegnete. So ein verfluchter Feigling!

Ryons Wut drohte bei diesem Anblick sofort wieder in die Höhe zu schnellen, weshalb er sich gewaltsam dazu zwang, sich auf etwas anderes zu konzentrieren. Zum Beispiel den Trümmerhaufen, den er zurück gelassen hatte.

Warum musste bloß jemand wie er überhaupt so etwas wie Gefühle besitzen. Sie zerstörten nur. Ihn selbst und auch andere. Trotzdem. Er konnte es nicht ändern.

„Wer entscheidet denn, was richtig oder falsch ist? Das Leben dieses Kerls im Austausch gegen zwei andere. Ich finde das mehr als nur richtig. Wer weiß, wie viele er noch auf dem Gewissen hat!“

Oder dieses Amulett, wie viele hatten schon deswegen sterben müssen?

Ryon legte seine Hand auf das Schmuckstück, umschloss es durch den dünnen Stoff seines Hemds mit den Fingern, versuchte Wärme in das kühle Metall zu bringen. Nichts geschah. Es blieb ein kaltes, emotionsloses Stück, das ihm die zwei wichtigsten Menschen im Leben genommen hatte.

Eigentlich sollte er wohl eher versuchen, dieses Schmuckstück zu zerstören, anstatt den Mann zu töten, der es nur weiter gereicht hatte… So gesehen, hatte Paige Recht. Es war nicht Crilin selbst, der seine Gefährtin und seine Tochter umgebracht hatte, aber er hatte gewusst, was das Amulett anrichten konnte und es trotzdem ohne jeden Skrupel weiter gegeben. Das alleine schon, reichte aus, um in Ryons Augen den Tod zu verdienen.
 

"Ach? Funktioniert das so, ja?"

Paige neigte etwas den Kopf, um seinen Blick einzufangen, der ihr ausgewichen war. Sie hatte mitbekommen, dass es Ryon schwer fiel, seine Augen direkt auf ihre zu richten. Vielleicht war es Übermut, andere würden sagen es sei Wahnsinn...

Ein weiteres lautes Wimmern erklang hinter ihrem Rücken und Paige konnte hören, wie Crilin versuchte sich in dem Schuttberg zu verstecken, aus dem er seit Ryons Angriff einigermaßen wieder hervor gekrochen war. Sie hatte die Hände sinken lassen. Kein Feuer umtanzte mehr ihre Fingerspitzen und sie war völlig ruhig.

Überraschung lag in Ryons Blick. Vor wenigen Stunden hätte sie sich über eine derartige Gefühlsregung bei ihm noch gefreut.

Auch jetzt lächelte sie, aber ihr Gesicht spiegelte absolute keine Fröhlichkeit. Eher das Gegenteil.

"Na dann los..."

Ihre Stimme war fest, aber leise.

"Wenn du mit solcher Sicherheit weißt, was Gerechtigkeit bedeutet, dann ist es gut dass ich hier stehe. Und nur richtig so."

Inzwischen war das Wimmern des Franzosen zu einem panischen Röcheln geworden, denn Paige ging sogar einen Schritt auf den Mann zu, den sie gerade indirekt dazu aufgefordert hatte, zu beenden, was er begonnen hatte. Allerdings immer noch mit den gleichen Konsequenzen.

"Du schaffst gleich zwei kleine Ganoven aus dem Weg. Sogar zwei Mörder, wenn ich die Rolle unseres Freundes hier richtig verstanden habe."

Inzwischen konnte man die Traurigkeit in ihren Augen lesen.

"Aber ich denke nicht, dass du die zwei Leben dann zurück bekommen wirst."

Sie hatte ihn kämpfen und auch töten sehen. Er hatte es zu oft versucht, um nicht zu wissen, dass dieser Deal nicht funktionierte.
 

Seine Augen wurden groß, als Paige es mit wenigen Worten schaffte, seine eigene verworrene Logik wieder gerade zu biegen, so dass er das von ihm Gesagte in einem anderen Licht gerückt sah. Ohne der blinden Wut und den rasenden Schmerzen.

Was er da von sich gegeben hatte, war im Grunde auch sein eigener Richtspruch. Wie oft hatte denn er schon im Leben getötet? Wie viele andere Leben waren an diese Tode geknüpft gewesen, von denen er nichts wusste?

Das aufkommende Gefühl von Entsetzen war wie ein Schlag mitten in die Magengrube. Ihm wurde eiskalt und als Paige auf ihn zu kam, wich er sogar vor ihr zurück, bis er an den Überresten der Theke stehen blieb, da er nicht mehr weiter konnte.

Mit einem Mal war die Kraft, die sich ihm gerade noch entgegen gestellt hatte, so viel größer als er selbst, auch wenn die Frau dahinter noch immer die selbe war, sogar ganz ohne Flammen und Schuppen.

Langsam senkte sich sein Blick auf seine zerschundenen Hände. Seine Krallen hatten sich schon seit einer ganzen Weile zurück gezogen, da man mit ihnen nur schwer Fäuste machen konnte, doch nun lockerte er auch diese und stellte fest, dass seine Finger zitterten.

Wie sehr er seine Fassung verloren hatte, wurde ihm erst jetzt langsam bewusst, jetzt wo der schlimmste Sturm vorüber war und nun die Schäden des Gewitters zum Vorschein kamen. Wenigstens etwas war unbeschadet geblieben.

Sein Blick suchte wieder den von Paige. Die Frau, die ihn gerade dazu aufgefordert hatte, auch über sie und ihre eigenen Taten zu richten, als wäre er etwas Besseres, um diese Position inne zu haben. Dabei war er noch weniger als das.

„Du hast Recht.“, hauchte er kaum hörbar.

„Ich bin nicht in der Position, um zu urteilen und egal was ich auch aufbringe, nichts wird sie mir je wieder bringen…“

Ryon wollte Paige eigentlich nicht so stehen lassen, aber er brauchte dringend frische Luft, weshalb er schließlich auch mit knirschenden Schritten den Laden verließ und vor der Tür ein paar Mal tief Luft holte.

Allerdings machte es die Lage dieser Stadt auch nicht besser. Die vorhin noch so fröhlichen Gebäude beengten ihn, die verstohlenen Blicke der vorbeigehenden Passanten, waren wie Hagelschläge und die Luft um ihn herum war einfach nicht so kühl und frisch, wie er es im Augenblick dringend benötigt hätte. Er wollte keinen Beton, kein Glas, keine Menschen mehr sehen. Im Augenblick gäbe er sonst was dafür, mutterseelenalleine im Wald herum streifen und über seine eigene Unmenschlichkeit nachdenken zu können.
 

Glas knirschte in dem stillen Raum, Papier flatterte, als Paige ein Buch unachtsam mit der Fußspitze zur Seite schob. Sie ging in die Hocke und legte den Kopf schief, um den Mann vor ihr anzusehen. Seine Augen waren immer noch panisch geweitet und er stank sogar für ihre menschliche Nase gen Himmel nach Schweiß und Angst.

Ihr Lächeln war eisig.

"In diesem Spiel gibt es für dich leider kein 'Guter Cop', 'Böser Cop'. Ich hoffe, dass du das verstanden hast..."

Crilin krabbelte auf allen Vieren ein Stück den Berg aus Schutt hinauf, wobei er versuchte Paige nicht aus den Augen zu lassen und gleichzeitig nicht wieder auf sie zuzurutschen.

Mit gelassener Geste nahm sie ein dünnes, altes Buch zwischen die Finger und hielt es vor Crilins Gesicht. Sie konnte sich seiner Aufmerksamkeit sicher sein, als die den Buchrücken so drehte, dass der Franzose ihre beiden Gesichtshälften wie durch einen Strich getrennt sehen konnte. Dann ließ sie ihre beiden Seiten plastisch vor ihm erscheinen, während das Papier zwischen ihren Fingern in Flammen aufging.

"Ich werde dich nicht umbringen."

Mit ihrem schiefen Lächeln konnte sie ihr Gegenüber augenscheinlich nicht von der Wahrheit dieser Aussage überzeugen. Er zitterte wie ein eingeschüchtertes Kind und tat Paige so leid, dass sie die weiteren Sätze kaum mehr so über die Lippen brachte, wie sie es geplant hatte.

"Hätte ich deinen Tod gewollt, hätte ich mir meine Hände nicht schmutzig machen müssen."

Ihr Blick huschte zur Tür, wo Ryon gerade verschwunden war. Wie erleichtert ihr Herz aus diesem Grund schlug, war fast berauschend. Aber noch war keine Zeit ihr Überleben zu feiern.

"Aber..."

Wie Spinnenbeine ließ sie ihre Finger über kaputte Gegenstände und Überreste des Regals auf ihn zuwandern.

"Verbrennungen tun so weh, dass du dir bald wünscht, er hätte dich in Stücke gerissen..."

Als sie Crilins Knöchel packte und ein wenig Hitze über ihre Haut auf seine leitete, quiekte er wie ein angestochenes Schwein.

Paige wurde beinahe übel.

"Sag mir einfach, von wem genau dein Kumpel das Amulett geklaut hat. Dann kommst du mit dieser einen Brandblase davon."
 

Die Türklingel schepperte einen Moment, bevor sich die Tür endgültig hinter Paige schloss und sie im Freien stand. Ihr Herz schlug bei Ryons Anblick so schnell, dass sie das Gefühl hatte, sie könne deshalb kaum atmen.

Sie selbst konnte die Emotionen kaum auseinander halten, die sie mit seiner Person nun verband. Eine davon war allerdings neu und stach hervor, da Paige mit ihr niemals gerechnet hätte. Es war Mitleid.

Genau deswegen sah sie ihn auch nicht an, als sie neben ihm stehen blieb und ihm einen kleinen, schneeweißen, gefalteten Zettel hinhielt.

"Der verstorbene Sammler. Ich weiß nicht, ob uns dort noch jemand weiterhelfen kann, aber..."

Wenn man es recht bedachte, sollte sie mit ihm zurück fliegen, sich Ai schnappen und dann so weit fliehen, wie sie konnte.

Vor wenigen Minuten hatte Ryon ihr etwas bewiesen, was Paige gedroht hatte zu vergessen. Er war verdammt gefährlich. Und das nächste Mal würde sie vermutlich nicht so viel Glück haben und mit heiler Haut davon kommen.
 

Er hatte sich noch immer nicht gefasst, als er Crilin im Laden plötzlich aufschreien hörte, als würde Paige beenden, was er angefangen hatte.

Das anschließende Wimmern jedoch, war ihm Bestätigung genug, dass sie nicht so war wie er. Allerdings glaubte er auch nicht, dass Paige sich jemals so gefühlt hatte, wie Ryon es in diesem Augenblick tat.

Die vernunftbegabte, die logisch denkende Seite in ihm, hatte gehört, was sie gesagt hatte. Verstand, worauf sie hinaus gewollt hatte und hatte deshalb von Crilins Tod abgelassen. Doch der Rest von ihm, dem es egal war, ob er gegen Vernunft und Recht verstieß, der wollte sofort wieder in den Laden zurück, um diesen Bastard das Leben herauszuprlügeln.

Aus diesem Grund blickte Ryon sich nicht um, sondern kämpfte darum, dem Drang nicht nachzugeben. Es war im Augenblick nicht möglich, seine inneren Schilde wieder hoch zu fahren. Im Moment sahen sie immerhin so aus, als wären sie irreparabel beschädigt, doch darum würde er sich später kümmern. Später, wenn er weit genug weg von diesem Laden und somit keine Gefahr mehr war.

Dank seiner noch immer schwer gereizten Sinne zuckte er heftig zusammen, als er die alte Türglocke zum Laden hörte, als Paige diesen verließ und neben ihn trat. Sie sah ihn nicht an und er tat es ihr gleich.

Im Augenblick hatte er das Gefühl, ihr nie wieder in die Augen sehen zu können. Nicht etwa, weil sie einem Jäger die Beute verwehrt hatte, sondern weil er dank seiner Aktion die feinen und zerbrechlichen Bande der Partnerschaft zwischen ihnen beiden mit einem Schlag zerfetzt hatte.

Schlimm genug, dass er nicht hatte seine Liebsten rächen können. Er hatte auch noch etwas zerstört, das ihm in gewisser Weise wichtig erschien, da so viel daran verknüpft war und das völlig umsonst.

Schweigend nahm Ryon den Zettel entgegen, steckte ihn mit zittrigen Fingern in seine Jackentasche, ohne ihn gelesen zu haben, machte aber keinerlei Anstalten, sich zu rühren. Er konnte es noch nicht fassen, aber die Schwere die sich auf sein Herz legte, ließ ihn nicht vergessen, dass dieser Zettel nicht nur das Ende dieser Reise, das Ende von Paris, sondern vielleicht auch das Ende weiterer Dinge bedeuten könnte.

Nach einer halben Ewigkeit wie ihm schien, holte er schließlich tief Luft, doch anstatt eines ganzen Redeschwalls den man Anhand des vielen Sauerstoffs erwartet hätte, entkam ihm nur ein leises ‚Danke‘. Das allerdings wesentlich mehr beinhaltete als reine Höflichkeit.

20. Kapitel

Je weiter die Zeit voran schritt, je deutlicher wurde das Ausmaß seines Tuns. Nicht nur, dass sie kaum mehr ein Wort mit einander wechselten, außer wegen Dingen, die sie für die Abreise besprechen mussten, es lag auch unmissverständlich etwas Gewaltiges in der Luft. Direkt zwischen ihnen.

Da der Flug erst am Morgen gegangen war, ob Privatjet oder nicht, hatte Ryon wenigstes die Chance erhalten, an sich selbst einige Reparaturarbeiten sowohl körperlich als auch psychisch in seinem Hotelzimmer durchzuführen. Während er sich also Glas- und Holzsplitter aus den Händen zog, bevor sich seine Wunden darüber schließen konnten, kittete er grob das riesige Leck in seinem Inneren ab, das noch immer dafür sorgte, dass er sich so mies fühlte, wie er es kaum ertragen konnte.

Die unterschiedlichsten Gefühle donnerten permanent auf ihn nieder, ohne das er wüsste, wie er mit ihnen fertig wurde, außer auf die einzige ihm bekannte Art und Weise. Allerdings war das Tier in ihm so aufgewühlt und aggressiv, dass selbst er es nicht vollends zum Schweigen brachte.

Was konnte schon sein kühler, logischer Verstand gegen die geballte Urkraft von Trieben und Instinkten anrichten, die zu so feurigen Gefühlen wie Leidenschaft, Liebe und Schmerz fähig waren?

Um ehrlich zu sein, im Augenblick nicht sehr viel. Weshalb er auch die ganze Nacht damit zu brachte, langsam aber sicher sein Denken abzustellen, damit nicht noch mehr Gefühle in ihm hochkochen konnten. Als schließlich ein halbwegs annehmbares Level erreicht war, konnte auch das Tier nicht mehr gegen seine Willensstärke ankämpfen und musste schließlich aufgeben.

Ryon sperrte es nur mit sehr schwerem Herzen weg.

Sie beide teilten das Leid, nur dass er es alleine dem Tier aufbürdete, so oft er nur konnte. Aber wer hatte schon behauptet, er wäre gerecht? Paige hatte ihm gestern gründlich darauf hin gewiesen, dass er es eben nicht war. Sondern etwas viel Schlimmeres.

Im Flugzeug schließlich war er so erschöpft gewesen, dass er trotz allem schon während des Starts, bei dem er die Augen geschlossen gehalten hatte, eingeschlafen war. Weshalb sich eine weitere Gelegenheit über die vorgefallenen Dinge zu sprechen, erneut als unmöglich erwies.

Erst das Rumpeln bei der Landung weckte ihn wieder auf und danach hieß es erst einmal, den Leihwagen suchen, den Tyler besorgt hatte, da es einfach sicherer war, so wenig Angriffsfläche für den Hexenclan zu bieten, wie nur möglich. Immerhin waren auch sie ein noch sehr viel größeres Problem, dass Ryon zeitweilig sogar völlig vergessen hatte.

Erst im Wagen hätten sie die Möglichkeit noch einmal über alles zu sprechen, ehe sie bei den anderen ankamen, aber hätte man Ryon eine Maulsperre verpasst, es hätte nicht weniger gewirkt. Er brachte kein Wort über die Lippen, obwohl er inzwischen so weit wieder hergestellt war, dass sich sogar seine Augen bei einem Blick in den Rückspiegel wieder als seelenlose schwarze Löcher zeigten. Lediglich der goldene Rand zeugte davon, dass dem nicht endgültig so war. Aber fast.
 

Paige machte kein Auge zu. Weder im Hotelzimmer, wo sie versuchte, sich mit einer heißen Dusche zu entspannen, noch im Flugzeug, wo Ryon sich der Situation mit etwas Schlaf entzog.

Wie gern hätte sie es ihm gleich getan. Aber auch Paiges andere Seite hatte etwas von einem Tier. Und ihres war kein Räuber. Die Nerven, die sich in doppelter Zahl eines normalen Menschen durch ihren Körper zogen, lagen vollkommen blank. Ihr natürlicher Instinkt verbot es ihrem System auch nur einen Augenblick abzuschalten, solange sie in seiner Nähe war. Es war so, als würde sich Paige jeden Moment des Tages und auch der Nacht seinen zum Angriff bereiten Krallen gegenüber sehen.

Als sie nach der Autofahrt beim Haus ankamen, wäre sie am liebsten noch während sie in die Auffahrt einbogen aus dem Wagen gesprungen. Ihre Beine zitterten leicht und wollten sie mit einem Satz aus der Nähe ihres Angreifers bringen. Selbst wenn es nicht so gewesen wäre, dass jede Faser ihres Körpers nach Flucht schrie, hatte Paige ihre Entscheidung getroffen.

Kaum war das Auto zum Stehen gekommen, wurde die Haustür geöffnet und Tyler trat mit Ai heraus.

Paiges Gurt klackerte laut, als sie ihn zurückschnellen ließ und nun tatsächlich schnell aus dem Wagen sprang. So gut sie konnte, brachte sie Abstand zwischen sich und Ryon, während sie zusätzlich versuchte ihre Freundin abzuschirmen.

Tylers „Willkommen zu Hause“, prallte total an ihr ab, wohingegen Ais besorgter Blick und ihr Schweigen zusammen Bände sprachen.

„Entschuldigt uns.“

Sie brauchte Ais Hand nicht fest zu packen. Die Asiatin hatte schon bei Paiges Anblick, den Schatten unter den Augen und dem verkniffenen Mund bemerkt, dass etwas nicht stimmte. Sie mussten reden. Dafür gab es keinen Aufschub.
 

Mit beiden Händen stemmte Paige die Tür zu Ais Zimmer zu und hörte das befriedigend schwere Klacken des Schlosses, als es unter dem Drehen des Schlüssels einrastete.

Atemlos und angespannt, drehte sie sich um, lehnte sich mit dem Rücken an das kühle Holz und sah Ai von unten herauf an.

Anstatt etwas zu sagen, tat sie das, was ihr in diesem Moment am meisten half ein wenig herunter zu kommen. Mit zwei Schritten war sie bei Ai, die sie gleichzeitig in ihre Arme zog, wie Paige sich an sie schmiegte. Der Bauch der Schwangeren schien selbst in den paar Tagen größer geworden zu sein und auch Ai fühlte sich unter der Umarmung nicht so knochig an, wie Paige es gewohnt war. Natürlich, das hier musste noch schwieriger werden, als ohnehin schon.

Wie bei einem Kind schob Ai ihr die Haare aus dem Gesicht, ohne sie loszulassen. Nur, damit sie freier sprechen konnte. Obwohl Paige das in diesem Moment eigentlich gar nicht wollte. Viel lieber hätte sie die Tatsachen ignoriert und erst einmal zwei Tage lang geschlafen.

„Es tut mir leid, Ai.“

Kein besonders guter Anfang. Aber außer kleinen Fäusten oder Füßen, die sich unter ihrem Bauch Paige entgegen stemmten, konnte sie von ihrer Freundin keine körperliche Reaktion spüren.

„Was tut dir leid?“

Noch einmal tief Luft holen, bevor sie es ihr sagte.

„Ich habe einen Fehler gemacht.“

Jetzt, da die Verantwortung so schwer auf ihr zu lasten schien wie eine Tonne Beton, musste sie sich aufrichten, um Ai anzusehen.

„Ich hätte den Deal mit Ryon nicht eingehen sollen. Es war von Anfang an viel zu gefährlich. Sobald wir die Gelegenheit haben, werde ich uns hier raus bringen. Irgendwo hin, wo wir wirklich sicher sind.“

Ai verstand nicht. Das konnte man an ihren großen, wunderschönen Augen sehen und an ihrem Mund, der in ihrem makellosen Gesicht genauso perfekt wirkte, wie der Rest.

„Was meinst du damit, Paige. Hat er dir was getan?“

Ihr Blick suchte Paiges Körper nach Verletzungen ab, fand aber natürlich nichts, was die Situation erklärt hätte.

„Nein, hat er nicht. Er hat mich nicht verletzt. Aber Ai, er ist... unzurechnungsfähig. Wahrscheinlich nicht krank oder verrückt, aber wahnsinnig gefährlich. Gestern hätte er beinahe jemanden umgebracht. Ohne Bedrohung, ohne ersichtlichen Grund. Und wenn ich nicht dazwischen gegangen wäre...“

„Was?“

Nun lagen Ais Hände auf Paiges Schultern. Prüfend war der Blick in ihren Augen, ob ihre Freundin tatsächlich die Wahrheit sagte. Denn wer würde ernsthaft so dumm sein, sich einem mordlüsternen Wandler in den Weg zu stellen.

„Keine Sorge, ich war mir sicher, dass er mich nicht töten würde.“

„Wie konntest du denn sicher sein? Gerade sagtest du noch...“

„Ich weiß auch nicht.“

Paige riss sich los und winkte entschieden ab. Sie war sich nicht sicher, was sie als Erstes erzählen sollte. Wo konnte man anfangen? Wo aufhören?

„Einen Tag vorher hat er mir vielleicht das Leben gerettet.“

Mit einem Seufzen ließ sie sich auf das nächst gelegene Bett sinken und vergrub ihr Gesicht für einen Moment in ihren Händen.

„Ich versteh ihn einfach nicht. Am einen Tag holt er mich aus einer Kältestarre, indem er mich mit seinem eigenen Körper aufwärmt. Es war unheimlich genug, dass er mich umarmt und in meine Haare geschnurrt hat. Aber dann dreht er sich um 180 Grad und will einem armen Würstchen von Versager einfach so den Kopf abreißen.“

Als sie hochsah, konnte sie sehen, dass Ai noch dort stand, wo sie sich von ihr losgerissen hatte. Mit wertfreien Augen sah sie auf Paige hinab, die gequält feststellen musste, dass die Asiatin so gut aussah, wie noch nie. Ihr Teint blühte in sanftem rosa und Tyler hatte es in der kurzen Zeit wirklich geschafft, dass sie ein bisschen zugenommen hatte.

„Wenn ich dich so sehe, würde ich am liebsten nicht nur dich, sondern auch Tyler mitnehmen. Er scheint dir zu bekommen.“

„Oh Paige...“

Jetzt kam Ai auf sie zu, setzte sich neben ihr aufs Bett und legte den Kopf auf Paiges Schulter ab, während sie einen Arm um ihre Freundin schlang.

„Du weißt, dass ich dir mehr vertraue, als jedem Anderen. Wenn du denkst, dass wir gehen müssen, dann werde ich mit dir kommen...“

Das 'aber' lag so schwer in der Luft, dass Paige das Wort auf den Lippen schmecken konnte.

„Solange er in der Nähe ist, werde ich Angst um dich haben, Ai.“

Was blieb ihnen denn für eine Alternative? Paige schwirrte der Kopf und ihr fiel in dem Zwielicht des Zimmers auf, wie müde sie war. Neben ihrer Freundin schien ihr Körper endlich herunter zu fahren und ihre Lider wurden schwer wie Blei. Und dennoch würde sie nachdenken müssen. Was sie tun konnte, um Ai in Sicherheit zu bringen. In wirkliche Sicherheit. Und das so schnell wie möglich.

Sie merkte gar nicht, wie sie sich in der warmen Umarmung ihrer Freundin immer mehr entspannte. Die Gedanken rasten noch immer, aber bald wurde es zu einem nebensächlichen Summen in ihrem Gehirn, das ihre Müdigkeit nur noch mehr hochkommen ließ. Was sollte sie nur tun?
 

Was Paige mit Hochgeschwindigkeit hinter sich brachte, erledigte er in Schneckentempo.

Sie war schon längst aus dem Auto, bevor Ryon überhaupt auf die Idee kam, den Motor des Wagens abzustellen. Bis er sich abgeschnallt hatte, waren die beiden Frauen schon auf und davon, als würde es irgendwo brennen. Oder ein Rudel Wölfe wäre hinter ihnen her. Auf jeden Fall war es dringend und Ryon ahnte nur zu gut, weshalb das so war. Das hatte er verdient.

Tyler und Tennessey warteten bereits mit finsteren Ungeduldsmienen. Das Geschworenenduo war also auch schon zur Stelle, allerdings nicht um zu urteilen, sondern um sich die neuesten News in Mr. Kelloggs Frosties versautem Leben anzuhören.

Ja, Ryon wusste genau, wie sie ihn gerne hinter seinem Rücken nannten. Wie passend. Allerdings war er im Augenblick alles andere, als in Plauderstimmung, weshalb er einfach um den Wagen herum ging, um das Gepäck zu holen, anstatt erst einmal seine langjährigen Freunde zu begrüßen.

„Also, nach dieser wirklich herzzerreißenden Begrüßungsszene zu urteilen, lief es wohl wirklich klasse. Ich tippe Mal auf die Kategorie ‚Desaster‘.

Wird’s schon warm oder soll ich noch weiter raten?“

Tylers Tonfall war nicht nur absolut ernst, sondern auch genauso besorgt wie seine Miene andeutete. Tennessey hingegen beobachtete ihn nur stirnrunzelnd und schweigend. Der Arzt analysierte erst den Zustand seines Patienten, ehe er eine Diagnose stellte. Aber so wie sein kleiner Finger nervös zuckte, stand der Patient wohl auf Messers Schneide.

Kein sehr gutes Anzeichen, wenn sogar er das sofort erkannte. Ryon selbst fühlte sich immerhin so instabil, wie schon lange nicht mehr. Weshalb er schließlich entgegen Tylers Proteste, ihm das wenige Gepäck in die Hand drückte, schweigend wieder in den Wagen stieg, um sich selbst um die Rückgabe des Leihwagens zu kümmern. Er würde nach Hause laufen. Das war das Beste, was er für alle Anwesenden im Augenblick tun konnte und auch für sich selbst.
 

„Zeit für einen Notstandsgipfel.“, kündete Tennessey an, während er herum fliegendem Kies auswich, als Ryon den Wagen ruckartig wendete und auch schon davon raste.

„Jetzt erst gemerkt?“, gab Tyler mit knirschenden Zähnen zurück, ehe er sich von der Staubwolke abwandte, die immer kleiner wurde und im Wald verschwand.

Er trug das Gepäck in die Eingangshalle. Ryons Sachen ließ er dort einfach stehen, die von Paige nahm er mit.

Es wurde Zeit an die Vernunft der Weiblichkeit zu appellieren. Nicht um sonst, galt dieses Geschlecht als das Gesprächigere von den beiden. Hoffentlich traf das auch in diesem Fall zu. Aus dem Kater würde im Augenblick nichts heraus zu bekommen sein. Wenn er überhaupt in den nächsten Tagen hier auf tauchte. Bei Ryon wusste man das nie so genau. Immerhin war es für ihn auch kein Problemen, sich einmal ein oder zwei Jährchen gar nicht mehr blicken zu lassen.

Tennessey folgte ihm auf dem Fuße. Die Rückendeckung würde er zwar nicht brauchen, aber entweder hieß es jetzt vier Personen die zusammen saßen und ernsthaft redeten, oder zwei gegen zwei. Wobei Tyler ein eher sehr stark wankelmütiger Verbündeter wäre. Als könne er sich jemals gegen etwas stellen, das Weiblich und überaus reizend war. Er hätte schon verloren, ehe es überhaupt begonnen hatte.

Sein Klopfen war leise, höflich aber auch eindringlich. Er wollte jetzt wissen was Klartext war, sonst konnten hier alle bis auf Ai ihr Abendessen vergessen. Dann würde er einfach streicken und die Küche kalt bleiben.
 

Beim ersten kleinen Geräusch war Paige wieder auf den Füßen, hatte eine Hand nach vorn gestreckt und ihre Nerven brannten mit ihren Fingern um die Wette.

"Verschwinde."

Da sich die Auswahl an Personen, die geklopft haben könnten, auf drei beschränkte, war für Paige die Gefahr zu hoch, einfach die Tür zu öffnen. Dass sie hier in diesem Zimmer festsaßen, machte sie halb wahnsinnig. Und jetzt wollte auch noch jemand zu ihnen herein. Was, wenn sie nicht schnell genug gewesen war? Hätte sie Ai einfach gleich packen und wegzerren sollen?

"Wir möchten nur mit euch sprechen."

Tylers Stimme.

Paiges Blick huschte zu Ai hinüber, die immer noch auf dem Bett saß und der wenig Gefühlsregungen anzusehen waren. Die Asiatin hatte natürlich Zutrauen zu dem Butler und dem Arzt gefasst. Keiner von beiden hatte sie in Paiges Abwesenheit schlecht behandelt.

"Wo ist Ryon?"

Wenn sie reden wollten, konnte er definitiv nicht in der Nähe sein. Sonst hätten sich die beiden um ihren Freund gekümmert und wären nicht hier aufgetaucht.

"Gibt den Wagen zurück.", war die knappe Antwort, der ein kurzes gemurmeltes Gespräch vor der Tür folgte. Paige konnte die Worte nicht verstehen, die zwischen den Männern gesprochen wurden.

Mit einem Ruck drehte sie den Schlüssel um und zog die Tür auf. Ein Schritt zurück ließ ihr Platz, um Tennessey und Tyler ihre flammende Hand entgegen zu halten. Bloß weil sie sich um Ai gekümmert hatten, hieß das nicht, dass sie nicht gefährlich waren. Jeder konnte den Guten spielen.

"Ich nehme an, ihr wisst jetzt, wo Ryon seine Brandwunden her hatte."

Ihre Augen verengten sich drohend zu Schlitzen.

"Keine Spielchen. Was wollt ihr?"

Sie sahen nicht gerade entgeistert aus. War bei Paige mit dieser Reaktion wirklich schon zu rechnen? Sie selbst glaubte eher, dass der Herr des Hauses nicht zum ersten Mal so einen Trubel herauf beschworen hatte. Das machte die Sache aber nicht gerade angenehmer.
 

Tyler sah Paiges brennende Finger an. Eher der Interesse wegen, anstatt vor Angst. Er war schon zu alt, um sich von so ein paar Flämmchen einschüchtern zu lassen. Immerhin, dieses Haus hatte genug Feuerlöscher an den richtigen Stellen, dass er mit Sicherheit sagen könnte, wer hier letztendlich den Kürzeren zog.

„Also, wir haben natürlich darüber wild spekuliert, ob er vielleicht Wrestling mit einem Drachen veranstaltet hat, aber die offizielle Bestätigung für Tennesseys Mutmaßung haben wir gerade eben von dir erhalten.“

Tyler drehte sich halb zu dem Arzt herum.

„Die fünfzig Mäuse bekommst du später.“, flüsterte er ihm zu, ehe er sich wieder an Paige wandte. Diesmal voller Ernsthaftigkeit.

„Wir wollen reden. Mehr nicht, aber auch sicherlich nicht weniger. Wir sind es ja gewohnt, dass Ryon Neuigkeiten immer ausreichend hinterm Berg hält und für Gewöhnlich lassen wir ihm das auch durchgehen. Aber mein Instinkt sagt mir, dass uns diese Sache dieses Mal alle betrifft. Weshalb wir gerne wüssten, was hier für ausreichend Tiefdruckgebiet sorgt.

Dass Ryon bis zum Hals in der Scheiße steckt, können wir auch selbst erkennen. Wir wüssten nur gerne, was genau vorgefallen ist, bevor wir hier irgendjemanden verurteilen.“

„Dem Kater können wir auch später das Fell über die Ohren ziehen, falls es der Fall verlangt.“, warf Tennessey ein, während er sich mit verschränkten Armen an den Türrahmen lehnte. Er würde genauso wie Tyler hier Wurzeln schlagen, falls nötig.
 

Mit zusammen gepressten Lippen sah sie zwischen den beiden Männern hin und her. Die Hand hielt sie immer noch vor sich wie eine Waffe, die sie ja tatsächlich auch war. Von den paar leichthin gesagten Worten würde sie sich nicht umstimmen lassen.

"Nein, sie betrifft euch nicht."

Einen Moment lang konnte sie den Blick nicht von Tyler abwenden und fühlte Ais Präsenz nur zu deutlich in ihrem Rücken. Verdammt, sie könnte heulen, wenn sie daran dachte, wie sehr sie Ai jemanden gönnte, der sich um sie kümmern konnte.

Aber nicht unter diesen Bedingungen.

"Wir werden verschwinden, bevor er zurückkommt."

Sie wichen um keinen Zentimeter zurück.

Paige hatte einen Schritt nach vorn gemacht und wollte deutlich machen, dass sie ihr im Weg standen. Sie verfluchte, dass die Männer zu wissen schienen, dass Paige sie nicht verletzen würde, solange sie selbst nicht angriffen.

In die Enge getrieben loderten die Flammen an ihrer Hand für einen Moment hoch.

"Was interessiert es euch überhaupt, was passiert ist? Ändert es irgendwas, wenn ich euch sage, dass er ausgeflippt ist? Das dürfte ja wohl nichts Neues sein."

Was genau ihren Redeschwall verursachte, konnte Paige nicht sagen. Aber die Worte sprudelten nur so heraus, als sie sich den beiden gegenübersah, die denjenigen vertraten, dem sie ihre Rede viel lieber an den Kopf geworfen hätte.

"Er hat mir zugesichert, dass Ai gut aufgehoben sein würde. Ich hab ihm geglaubt. Das war wahrscheinlich die größte Dummheit, die ich seit Langem begangen habe."

Die Müdigkeit zerrte an ihr und ließ sie bloß noch wütender werden. Sie wollte hier raus. So schnell wie möglich.

"Eigentlich hätte ich von Anfang an wissen müssen, dass er völlig durchgeknallt ist. Spätestens als er zusammen gebrochen ist, wegen dieses Buches."

Als sie mit der Hand durch die Luft wedelte, hinterließen die Flammen eine helle Spur.

"Aber nein, ich bin so bescheuert und fliege mit ihm nach Paris, wo er sich zuerst als der große Retter aufspielt und sich schnurrend an mir festhält."

Ihr entkam ein hilfloser Laut, durchmischt mit sinnloser Wut.

"Da hätte mir schon klar sein müssen, dass er nicht zurechnungsfähig ist. Aber nein, ich muss bleiben und mich auch noch in Gefahr bringen, indem ich mich zwischen ihn und seine auserwählte Beute werfe.

Dass er mich kaum ein paar Stunden nach seiner Umarmung nicht in Stücke gerissen hat, war wohl reines Glück."

Paige hatte sich so in Rage geredet, dass sie gar nicht mehr auf Tyler und Tennessey achtete. Sie würden sie nicht aufhalten können. Der Gedanke, dass Ryon schon auf dem Rückweg sein könnte, ließ Paiges Herz panisch schneller schlagen.

Mit ihrer menschlichen, kühlen Hand griff sie die von Ai und zog sie hoch.

"Wir werden gehen."

Ein Blick in Tylers Richtung.

"Es tut mir leid. Aber ich kann nicht darauf warten, dass er ihr vielleicht doch was tut."

Immer noch wichen die Männer keinen Schritt zur Seite.

"Lasst uns gehen."

In ihrem Blick lag mehr Verzweiflung, als das 'Bitte', das sie mit den Lippen formte, je hätte ausdrücken können.
 

Vorhin hatten sie beide keinerlei große Überraschung gezeigt, als Paige ihnen die Flammen entgegen gehalten hatte, doch das was sie sagte, war tausendmal verrückter, unwahrscheinlicher und überhaupt so vollkommen unmöglich, dass sie die Frau einfach nur noch mit offenen Mündern anstarren konnten. Zumindest solange, bis sie wieder die Sprache fanden.

„Er hat geschnurrt.“, wiederholte Tyler ungläubig, während er sich das vorzustellen versuchte.

„Wann war das letzte Mal? Was meinst du, vor George W. Buschs Amtsantritt?“ Tennessey sah Tyler fragend an. Der Butler überlegte.

„Hm… Vielleicht ein Jahr später. Weiß nicht mehr so genau. War damals ganz schön chaotisch.“

Tennessey nickte zustimmend, danach blickten beide wieder überlegend auf Paige. Jetzt würden sie erst recht nicht den Raum verlassen. Das war einfach so derart absurd, dass es schon fast wieder echt klang.

„Jetzt einmal ganz langsam der Reihe nach, damit wir hier bloß nichts falsch verstehen.", versuchte Tyler etwas Ordnung in dieses Chaos zu bringen.

"Der Kerl wird sowieso nicht vor ein paar Stunden zurück kommen, selbst wenn er sich die Seele aus dem Leib hetzt.“

Immerhin war die Autoverleihfirma fast eine dreiviertel Stunde mit dem Auto entfernt. Wenn man schnell fuhr. Sie hatten also alle Zeit der Welt.

„Also Erstens, Ryon würde sich eher selbst kastrieren, bevor er Ai auch nur böse anguckt. Zweitens, wie zum Teufel kam es dazu, dass du ihn dazu gebracht hast, sich schnurrend an dir fest zu halten? Dir ist doch schon klar, dass er ein Gestaltwandler ist, oder? Schon ganz normale von der Sorte lassen sich nur ungern von Fremden anfassen. Ryon ist in diesem Punkt noch einen deutlichen Knacks entschiedener. Außerdem hat er dich nicht betrogen, was Ai angeht. Wir haben uns gut um sie gekümmert.“

Dabei warf Tyler der Asiatin ein kleines Lächeln zu, ehe er seinen Blick wieder auf ihre Freundin richtete und mit seinen Worten fortfuhr.

„Und was den Zusammenbruch angeht… Verdammt noch mal, mir wäre es nicht besser ergangen. Ich meine, was da so in dem Buch stand… Das war schon heftig… Selbst ich konnte mir ein paar Tränen nicht verkneifen.“

„Du hast das Buch gelesen?“

Tennessey starrte Tyler schockiert von der Seite her an. Dieser nickte ernsthaft, ohne den Arzt anzusehen.

„Klar. Irgendeiner muss hier ja den Überblick bewahren. Er kann natürlich gerne versuchen, mich deshalb einen Kopf kürzer zu machen. Das hat er bisher ohnehin noch nie geschafft.“

„Was stand drin?“, hakte Tennessey nach, der den ersten Schock langsam überwunden hatte und den langsam dafür die Neugier aufzufressen begann. Sein kleiner Finger zuckte jetzt nicht mehr, sondern begann sogar nervös auf seinen Oberarm zu tippen.

„Staatsgeheimnis. Aber du kannst dir vorstellen, von wem es ist. Immerhin hat sie es oft genug bei sich herum getragen.“

„Stimmt. Was mich jetzt aber auch interessieren würde, ist das, was du zum Schluss gesagt hast, Paige. Soweit ich das richtig verstanden habe, ist Ryon vor deinen Augen ausgeflippt, wegen was auch immer und du hast dich zwischen ihm und demjenigen geworfen, auf den er es abgesehen hatte?

Ich will dir ja nicht noch mehr Angst machen, aber dafür dass er nur wegen einer einzigen Sache in seinem Leben ausflippen würde, siehst du mir noch ziemlich lebendig aus. Wären also ein paar Details zu viel verlangt, was diese brisante Situation aufklären würde? Wer war diese Beute und was hat sie getan oder gesagt, dass eine so heftige Reaktion herausfordern könnte?“
 

Inzwischen war ihr Blick fast gehetzt. Sie würden sie nicht gehen lassen.

Paiges Finger krampften sich um Ais Hand, weil sie keinen Ausweg fand, ohne die Verteidigung ihrer Freundin aufzugeben. Noch dazu machte sie dieser Plauderton völlig fertig. Bekamen die Männer nicht mit, um was es hier ging?

Aber mit einem hatten sie Recht und das war es letztendlich, was Paige ruhiger werden ließ.

Ai war an sie heran getreten und hatte sie von hinten umarmt. Ihre feingliedrige Hand schloss sich um Paiges Handgelenk und sorgte unumgänglich dafür, dass die Flammen erstarben.

Mit einem schwachen Lächeln sah sie zu Ai hoch. Es war ja nicht so, dass sie nicht zu gern glauben würde, dass ihr keine Gefahr drohte.

"Ich sage euch das nur, weil ich dafür erwarte, dass man mir sagt, was hier vorgeht, verstanden?"

Der Versuch der Einschüchterung war voll und ganz fehlgeschlagen. Aber das hieß ja nicht, dass sie sich von den beiden vollkommen überfahren lassen musste.

Allerdings war ihr die Geschichte mit der Umarmung ziemlich peinlich. Deshalb sah sie auch nicht auf, als sie die Fakten in einem Affentempo heraussprudelte, um das Ganze hinter sich zu bringen.

"Wir waren auf einem Friedhof. Vielmehr in einem Tunnelsystem unter den Gräbern. Um die Unterwelt von Paris zu finden. Wir haben uns verirrt und meine dämonische Seite hat mich so zu sagen ausgeschaltet. Ich bin in Kältestarre gefallen."

Wären Ais Arme nicht gewesen, die sie immer noch festhielten, sie hätte nicht weiter erzählt. Erinnerten sie Paige doch zu sehr an diese seltsame Situation in den Tunneln.

"Eigentlich hatte ich Ryon gesagt, er solle weiter die Unterwelt suchen und mich später abholen... Stattdessen hat er mich mit seiner Körperwärme zurückgeholt."

Ihre Erzählweise wurde noch hektischer.

"Ich hätte gut allein gehen können. Vielleicht nur langsam. Ich hab ihn jedenfalls nicht gebeten! Er hat mir vorgeschlagen, dass er mich ganz auftauen könnte. Bis ich es wieder sicher zurückschaffen kann."

Eine weitere Pause, in der sie in die dunklen Augen ihrer Freundin blickte, die sie mit einem Druck ihrer Hand an Paiges Schulter ermunterte.

"Völlig unerwartet hat er mich umarmt. Nur leicht zuerst, aber es fühlte sich so an ... als steckte irgendwie mehr dahinter. Da hab ich... Ich hab nur seine Hand gestreichelt. Sonst gar nichts. Ich meine, ich wollte nicht..."

Mehr brauchte sie nicht zu sagen. Zumindest nicht zu diesem Thema. Deshalb welchselte sie genauso schnell zur nächsten Situation, wie es auch Ryons Charakter in der jeweiligen Gegenwart getan hatte.

Sie berichtete von dem Gespräch, das die beiden Männer geführt hatten. Über das Amulett, das angeblich Unglück brachte und das dieser Crilin einer blonden Frau verkauft hatte. Dann die letzten paar Sätze, bevor Ryon rot gesehen hatte.

Als sie zu Ende war, sah sie für einen Moment stumm zuerst Tyler und dann Tennessey an.

"Für wie dumm ihr mich auch immer halten mögt. Ich bin nicht so naiv, dass ich mir nicht denken kann, welche Leben er gegen das des Franzosen hat eintauschen wollen. Die blonde Frau - seine Frau, nehme ich an. Und..."

Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals. Es machte zu viel Sinn, um Zufall zu sein. Der Babyladen, auf den Ryon so zielstrebig zugesteuert war, Ais Rettung... Trotzdem sprach sie es nicht aus. Sie wollte es nicht, weil es das Gefühl wieder hochbrachte, das sie für Ryon empfunden hatte, als er vor dem Laden stand. Und das würde sie wahrscheinlich davon abhalten ihn einfach allein weiter nach dem Hexenzirkel suchen zu lassen.
 

Tyler und Tennessey sahen Paige lange einfach nur schweigend an, nachdem sie ihre Fragen mehr als nur deutlich beantwortet hatte. Keiner der beiden schien dazu das Richtige sagen zu können, selbst Tyler nicht, der ansonsten absolut nicht auf den Mund gefallen war. Aber was sie da erzählt hatte, war einfach … schwerwiegend. Sehr sogar. Nicht nur, dass Ryon offenbar nach all den Jahren, langsam seine ganz persönliche Art der Starre zu verlieren schien, alles schien noch dazu mit Paige angefangen zu haben und nach dem, was sie über diesen Crilin erzählt hatte, war es wirklich ein Wunder, dass er sie nicht einfach zur Seite gedrängt und den Mistkerl erledigt hatte. Aber er hatte sie noch nicht einmal angerührt.

Schließlich sahen sich die beiden Männer gegenseitig in die Augen, als würden sie einen non-verbalen Austausch führen, bis der Arzt nickte und Tyler sich wieder an Paige wandte. Allerdings ohne etwas zu sagen, denn es war Tennessey, der das Schweigen brach.

„Sie war nicht seine Frau… Marlene war seine Gefährtin. Von einer Frau kann man sich scheiden lassen. Gefährten… Sagen wir es mal so. ‚Bis dass der Tod euch scheidet‘ passt zu den meisten Gestaltwandlerpartnerschaften viel besser, als zu unzähligen menschliche Ehen. In Ryons Fall hat dieser Satz seine Wirkung getan…“

Da die Katze ohnehin schon aus dem Sack war und der Kater ihnen dafür nicht einmal den Kopf abreißen konnte, da er Paige offensichtlich selbst die nötigen Infos zugespielt hatte, war es auch sicherlich nicht länger nötig, noch länger Stillschweigen zu waren. Es wurde ohnehin an der Zeit, dass diese Geschichte endlich aufgearbeitet wurde. Ryon hatte sie lange genug tot geschwiegen.

„Was die Sache im Tunnel angeht“, schaltete sich Tyler nun doch ein.

„So können wir nur Mutmaßungen anstellen. Keiner der hier Anwesenden ist ein Gestaltwandler, weshalb eine endgültige Aufklärung seines Gefühlslebens sicher nicht möglich ist, aber ich kenne ihn schon seit seiner Geburt. Er ist kein böser Mensch. Zugegeben, in den letzten Jahren hat er alles dafür getan, sich selbst zu schützen und zwar vor sich selbst. Was ein Grund dafür sein mag, weshalb er sich seit dem Tod seiner Gefährtin so rapide und schwerwiegend verändert hat.

Soweit ich das mitbekommen habe, gibt er seinem Tier die Schuld an allem. Weshalb er es einsperrt und seit dem nie wieder heraus gelassen hat. Daher diese eiskalte und gleichgültige Ausstrahlung…“

Tennessey nickte zustimmend. Die beiden Männer wussten ganz genau, was alles seit damals vor sich gegangen war. Sie hatten alles hautnah miterlebt, ohne etwas dagegen tun zu können. Ihre Hilflosigkeit dem gegenüber, konnten sie nur mit der Hoffnung überbrücken, dass die Zeit letztendlich alle Wunden heilte. Wenn auch nicht vollständig.

„Dieses Phänomen ist noch relativ unerforscht, aber da ich Arzt bin und Ryons charakterliche Veränderungen verstehen wollte, habe ich regergiert und mich in der Anderswelt umgehört. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass ein Gestaltwandler, der sein Tier in die Knie zwingt, schlussendlich genau den Bereich seines Wesens niederkämpft, der für sein Gefühlsleben zuständig ist. Was übrig bleibt, sind logische Handlungen, weit entfernt von irgendwelchen Intuitionen, Instinkten und Trieben.“

Tennessey stieß sich vom Türrahmen ab und begann auf und ab zu laufen, so wie er es immer tat, wenn er nachdachte, um aus etwas seine Schlüsse zu ziehen.

„Meiner Meinung nach musste Ryon dort im Tunnel nicht nur über seinen eigenen Schatten springen, um dir zu helfen, sondern auch noch mit den daraus resultierenden Konsequenzen fertig werden. Denn nachdem er dir Privilegien der Körpernähe gewährt hatte, was – wie wir wissen – bei Wandlern keine Selbstverständlichkeit ist, muss sein Tier zu diesem Zeitpunkt stark gegen ihn angekämpft haben. Denn sonst wäre ihm das alles vollkommen gleichgültig gewesen und auf keinen Fall hätte er geschnurrt, nur weil du ihn gestreichelt hast. Ob nun die menschliche oder tierische Seite, wenn Wandler einmal Körperprivilegien erteilt haben, schätzen sie sie sehr. Was das Schnurren und die Umarmung erklären sollte. Vermutlich war das sein erster Instinkt, bevor der logische Verstand dazwischen pfuschen konnte. Denn genau das ist passiert, nicht wahr?“

Einen Moment lang, blieb der Arzt stehen, um die beiden Frauen anzusehen, danach ging er wieder grübelnd weiter, machte aber keinerlei Anstalten noch etwas zu sagen, weshalb Tyler wieder die Gesprächsführung übernahm.

„Ich denke, damit dürfte auch geklärt sein, warum er so ausgerastet ist, nachdem Crilin ihm mitgeteilt hatte, dass er der blonden Frau – seiner Gefährtin – vorsätzlich ein verfluchtes Schmuckstück verkauft hat, das sie mit hoher Wahrscheinlichkeit umbringen würde. Viel mehr hat es nicht gebraucht, als das beiderseitige Verständnis zwischen Mann und Tier.“

Zusätzlich mussten seine Schuldgefühle noch mehr zugenommen haben. Tyler hatte Marlenes Buch gelesen und wusste, dass sie das Amulett nur zu Ryons Schutz gekauft hatte.

„Außerdem glaube ich, dass unser Kater den Punkt erreicht hat, an dem auch Verdrängung nichts mehr nützt. Das mag ihn jetzt zwar unberechenbarer machen, aber andererseits werden sich dadurch ein paar Fakten trotzdem nicht ändern. Zum einen würde er einer schwangeren Frau niemals ein Leid an tun und da er dich, Paige, verschont hat, obwohl du dich direkt in die Schusslinie geworfen haben, halte ich es doch für sehr unwahrscheinlich, dass er dir bei einer weniger intensiven Auseinandersetzung dann doch noch Schaden zufügen würde. Ansonsten verpasse ich unserem Goldjungen einen schönen Maulkorb. Immerhin sind hier noch andere, die gegen Gewalt in diesem Haus sind.“
 

Paige hatte genickt, als Tennessey sie nach dem Einschalten von Ryons Verstand im Tunnel gefragt hatte. Ja, das erklärte den dumpfen Schlag. Und auch der Rest kam ihr logisch und nachvollziehbar vor. Er hatte den wichtigsten Menschen verloren, den es für ihn gegeben hatte. Man hatte ihr die Frage zwar nicht direkt beantwortet, aber es lag nahe, dass mit ihr auch ein Kind gegangen war.

Das hätte so manchen Menschen ebenfalls um den Verstand gebracht. Auch wenn sie es ihr anders erklärten, konnte Paige sich Ryons Desaster in seinem Kopf nicht anders erklären.

Jetzt war nur die Frage, ob sie den beiden, die ihr hier gegenüber standen und ihr versicherten, dass Ai nichts passieren würde, trauen sollte. Wie Tyler sagte, kannte er Ryon schon sein Leben lang. Und trotz seiner Anwandlungen, waren diese beiden Männer bei ihm geblieben. Wenn er von ihnen verlangte, die beiden Frauen zu gefährden, würden sie es dann tatsächlich nicht tun?

"Wenn ich richtig verstehe, dann hat also Ryons Gefährtin das Amulett bei Crilin gekauft. Und vermutlich hat der Fluch sie getötet."

Paige senkte die Lider und überlegte, bevor sie weiter sprach. Ai hatte sie inzwischen losgelassen, da sie merkte, wie ihre Freundin ihre Schutzschilde herunter fuhr. Heute Nacht würden sie auf jeden Fall nicht mehr hier weg gehen.

Mit einem Blick, der keinen Widerspruch duldete, sondern einzig und allein Kooperation, sah Paige zu Tyler auf.

"Ihr kümmert euch weiter um Ai. Sorgt dafür, dass ihr kein Haar gekrümmt wird."

Sie griff sich Tennesseys Arm und lächelte ihn grimmig an. Ihr war eine Idee gekommen.

"Ryon hat einen Wagen, nicht wahr? Ich brauche die Schlüssel."

Er würde hoffentlich so viel mit seinem Innenleben zu tun haben, dass er nicht daran dachte die Adresse auf dem Zettel schon heute aufzusuchen.

Paige kribbelten die Fingerspitzen und sie lächelte in sich hinein. Seit dem Einbruch in Ryons Wohnung hatte sie keinen Fischzug mehr gestartet. Einrosten wollte sie auch nicht...
 

„Selbstverständlich. Es wird ohnehin Zeit fürs Abendessen.“, erklärte Tyler im Brustton der Überzeugung, während er Ai spitzbübisch angrinste.

„Als Dessert gibt es Schokopudding.“

Tennessey ignorierte seinen Freund und dessen Ansicht, Liebe würde durch den Magen gehen, sondern nickte Paige zögerlich zu.

„Ich weiß zwar nicht, was du vorhast, aber ich werde einfach so tun, als hätte ich dich nicht mit den Schlüsseln gesehen.“

Er senkte die Stimme und beugte sich etwas zu ihr hinüber.

„Sie hängen in einem kleinen Schränkchen direkt neben der Garagentür.“

21. Kapitel

Den Leihwagen zurück zu geben, war eine relativ schnelle Sache. Natürlich hätte Ryon sich von dort aus locker ein Taxi bis zur Grenze seines Grundstücks nehmen können, aber gerade weil er einmal Abstand brauchte, hatte er den Wagen selbst zurück gebracht.

Jetzt marschierte er zügig über Felder, Wiesen und Weiden außerhalb der Stadt. In den Wäldern lief er sogar, wenn er glaubte, keiner würde ihn dabei sehen.

Sein Tempo war – wenn er sich nicht zurück hielt – wesentlich schneller, als dass ein Mensch so hätte rennen können. Allerdings legte er auch immer wieder Pausen ein, in denen er langsam vor sich hin schlenderte und den Duft der Natur einsog. Die frische, kühle Luft tat so unglaublich gut, dass er sich schon etwas besser fühlte, als er die Hälfte der Strecke zurück gelegt hatte. Inzwischen war es Nacht geworden, weshalb er noch mehr Stille und Ruhe um sich hatte.

Ideale Voraussetzungen, um mit seinem Gewissen zu ringen und das tat er gründlich.

Einerseits musste er sich einfach eingestehen, dass ihn wohl noch eine Weile lang die Tatsache bedrängen dürfte, dass er nicht in Crilins Eingeweide herum gepuhlt hatte. Andererseits war er langsam ganz froh darüber, dass Paige ihn aufgehalten hatte. Crilin war vielleicht alles andere als ehrenwert, aber er sah eher wie ein kleiner Ganove aus, als wie ein Berufskiller. Trotzdem würde das nichts ändern. Ryon hasste diesen Mann aus ganzer Seele.

Genauso wie er das Tier verfluchte, dass ihm inne wohnte. Wäre es nicht da, er wäre niemals in diese Lage gekommen, in der er nun steckte.

Seine Gefährtin wäre nicht tot. Seine Tochter würde nicht ebenfalls bei ihr Ruhen und er würde Paige nicht kennen… Allerdings hätte er dann Ai nicht helfen können. Paige war eine gute Frau mit einem guten Charakter, sie hätte ihre Freundin sicherlich nicht im Stich gelassen, aber manchmal reichte all der gute Wille nicht aus. Manchmal musste das Schicksal eingreifen…

Wenigstens diesen einen Punkt konnte er nicht bereuen. Auch wenn es ihm noch immer schwer fiel, in seinem alten Haus herum zu gehen und die vielen Erinnerungen daran nicht los lassen zu können, so war es – wenn er es sich zugestand – doch angenehm, es so voller Leben zu wissen.

Seine Freunde wohnten dort schon seit Jahren, verwalteten das Haus, kümmerten sich um den Garten, ließen nicht zu, dass die Zeit es zugrunde richtete. Doch erst mit den beiden Frauen war auch wieder etwas Farbe darin erschienen. Neues Leben würde bald einkehren, zumindest wenn Paige bis dahin Ai nicht zusammen gepackt und weit fort gebracht hatte.

Ryon blieb mitten im Wald stehen und starrte ins Nichts. Die Bestie schwieg, trotzdem hatte er das Gefühl gehabt, ein leises Winseln gehört zu haben. Nicht mit den Ohren, sondern mit seinem kümmerlichen Herzen.

Ja, er musste gestehen, so absurd es auch war, sein letzter Gedanke hatte leicht weh getan.

Aber die Wahrheit sah nun einmal so aus, dass dieses Haus, das er mit seinen eigenen Händen gebaut und gestaltet hatte, niemals das Lachen fröhlicher Kinder hören würde. Obwohl er sich damals genau das beim Bau erhofft hatte.

Ryon sank auf einen großen Felsen, stützte seinen Kopf in seine Hände und ließ seine Schultern hängen. Er brauchte eine Pause.
 

"Oh Mann", mit der Einstellung des Fahrersitzes auf Ryons Größe erreichte Paige die Pedale nicht einmal mit den Fußspitzen. Sie zerrte an einem Hebel und schob den Schalensitz des Autos so weit nach vorn, dass es bequem für sie war, stellte die Spiegel ein und steckte den Schlüssel ins Zündschloß. Ihr Mundwinkel hob sich anerkennend, als sie das Aufheulen des Motors hörte. Sein Geschmack für teures Spielzeug ließ ihn also auch bei Autos nicht im Stich.
 

Das eingebaute GPS lenkte sie zielsicher in die kleine Straße, die bei dem einstmals bekannten Sportstadion um die Ecke lag. In diesem Teil von London war es ruhig, grün und gepflegt. Teuer nicht zu vergessen. Paige staunte nicht schlecht über die Häuserfronten, die man oftmals nur hinter hohen Zäunen oder abwehrenden Toren sehen konnte.

Neben einer korrekt gestutzten Ginsterhecke stellte sie das Auto ab, stieg aus und sah sich noch einmal nach der Hausnummer um, die an einem der beiden Pfeiler prangte, die einen Torbogen stützten. Wenn sie es richtig deutete, hatte an den vier Löchern im Stein vor ein paar Jahren noch ein Schild des Antiquitätenhändlers gehangen.

Schlechte Karten dafür, dass sie hier noch etwas Brauchbares finden würde. Aber einen Versuch war es wert.

Paige stellte sich an eine der dunkelsten Flecke neben der Hecke und sah sich nach allen Seiten um.

Ja, den Versuch war es wert und außerdem konnte sie mit ein wenig Arbeit hoffentlich die Gedanken an Ryon, seine Gefährtin und das Kind aus ihrem Kopf verbannen. Je schneller sie das Rätsel löste, den Hexenzirkel zerschlug, desto schneller konnte sie ihn wieder aus ihrem Leben streichen.

Naja, wenn das mit Tyler und Ai weiterhin so gut lief, würde Ryon vielleicht als Randnotiz in ihrem Leben bestehen bleiben. Aber mehr Platz wollte sie ihm nicht zugestehen. Kaputt war sie selbst schon genug...

Bevor sie noch weiter vor sich hin sinnieren konnte, raffte sie sich auf, drückte sich durch die Hecke und stand schließlich auf dem perfekt gepflegten Rasen des Grundstücks. Alles lag im Dunkeln und ihre Schritte waren auf dem weichen Gras nicht zu hören, als sie sich dem großen Herrenhaus von der Seite her näherte. Wie schön, dass es immer eine Terrassentür oder ein kitschiges Rosengitter gab, das den Zugang ins Innere erleichterte. Auch wenn kleine Herausforderungen von Zeit zu Zeit mehr Spaß machten.

In diesem Fall fand Paige eine Kellertür, die für sie wie eine große, bunte Einladung aussah und stahl sich nach geglücktem Knacken des Schlosses ins Innere.
 

Der Ruf einer Eule schreckte ihn auf. Seine Glieder fühlten sich leicht steif an, als er sich streckte und sein Rücken schmerzte. Er war wohl tatsächlich für einen Moment eingenickt.

Lange konnte es auf keinen Fall gewesen sein, da der Stand der Sterne noch nicht sehr viel weiter gewandert war. Es machte Ryon trotzdem klar, wie zerschlagen sich nicht nur sein Verstand, sondern auch sein Körper fühlte. Vielleicht sollte er sich langsam auf den Weg machen, wenn er heute noch eine heiße Dusche und ein weiches Bett haben wollte.

So viel Grübeln auch manchmal brachte, im Augenblick tat ihm der Kopf zu sehr weh, um noch weiter sein schlechtes Gewissen zu streicheln. Damit konnte er auch morgen noch weiter machen. Wenn die Welt da nicht schon wieder völlig anders aussah … schlimmer.

Der Wind frischte auf, wehte ihm vertraute Gerüche um die Nase, die er tief in sich einsog. Rehe waren ganz in der Nähe, irgendwo befand sich auch der Bau eines Fuchses und Raben.

Seltsam. Waren die Vögel nicht eigentlich um diese Zeit schon an ihrem Schlafplatz? Oder lag der nicht direkt neben Feldern sondern geschützt tief im Wald? Ryon kannte sich mit diesen Vögeln nicht genug aus, um das genau sagen zu können. Weshalb er schließlich wieder auf seine Beine kam, sich noch einmal kräftig streckte und anschließend los lief.

Es war fast stockfinster, trotzdem wich er Bäumen und Büschen aus, die an ihm vorbei sausten. Der Wind pfiff um seine Ohren, dennoch war ihm klar, dass er kaum Geräusche hinterließ. Allerdings war Laufen in Menschengestalt nicht zu vergleichen. Aber das musste es auch nicht. Er war nicht hier, um Spaß zu haben, sondern um sich wieder zusammen zu bauen, bis er auf seinem Grundstück ankam

Natürlich konnte er nicht so tun, als wäre nichts gewesen. Er würde mit Paige sprechen müssen, wenn sie denn noch da war, aber ganz für sich alleine, wollte er wieder halbwegs stabil sein. Da dieses Gefühlschaos auf Dauer ziemlich anstrengend und vor allem äußerst unberechenbar war. Aber solange er an gewisse Dinge einfach nicht zu viele Gedanken verschwendete, fühlte es sich fast wieder wie vor dem Besuch von Crilins Laden an.

Vielleicht, wenn er sich nur etwas mehr anstrengte und mehr Zeit verging, könnte er seinen Urzustand vor der Begegnung mit Paige wieder herstelle und ganz rationell an die Sache mit dem Hexenzirkel herangehen. Allerdings war er jetzt, da er erfahren hatte, dass das Ding um seinen Hals verflucht war, fast schon bereit dazu, dieser Boudicca das Schmuckstück hinterher zu werfen. Vielleicht brachte es diese alte Hexe auch um. Das wäre doch einmal was!
 

Ein staubiger Keller, eine Treppe, die ins Erdgeschoss führte, das zwar weniger staubig, aber dafür angestaubt wirkte. Als würde hier gar niemand mehr leben. Es war so aufgeräumt und leblos, dass es sie an Ryons Haus erinnerte. Nur älter. Die Möbel waren schwer und dunkel, gepaart mit dicken Vorhängen und gemusterten Teppichen, die zumindest weiterhin Paiges Schritte dämpften.

Kameras konnte sie zumindest an den gewohnten Stellen nicht entdecken. Was ihr Hoffnung hier auf Informationen zu stoßen sinken ließ. Denn hätte der Besitzer dieses Hauses noch eine lohnende Sammlung, wäre bestimmt die ein oder andere Kamera vorhanden. Genauso wie Lichtschranken, von denen sie ebenfalls keine entdecken konnte.

Von einem Zimmer schlich sie ins nächste, wobei sie das erste Obergeschoss erst einmal mied. Dort befanden sich bestimmt die Schlafzimmer und damit auch die Bewohner des Anwesens, die Paige nicht aufschrecken wollte.

Eine Tür öffnete sich zu einem Raum, der früher einmal für Ausstellungen genutzt worden sein musste. Noch immer standen Truhen, alte Regale und Schaukästen herum. In Einigen lagen sogar noch ein paar antike Münzen, die aber auf den ersten Blick nicht so aussahen, als wären sie noch besonders viel wert.

Von einer Spur das Amulett betreffend konnte leider keine Rede sein.

Was hatte sie denn auch erwartet? Dass hier eine Broschüre über die Ausstellung lag, in der es vorgeführt worden war? Oder das jemand mit der Geschichte seiner Herkunft auf sie wartete? Um ehrlich zu sein, wusste Paige überhaupt nicht genau, was sie hier eigentlich suchte.

Sie schnaubte leise, um vor sich selbst nicht laut zugeben zu müssen, dass sie einfach nicht mehr in diesem anderen leeren Haus hatte bleiben wollen. Dass sie hier war, um Nachforschungen anzustellen, war mehr oder weniger nur ein Vorwand. Sie hätte genauso gut einfach mit dem Auto in der Gegend herumfahren können. Das hätte in etwas genauso viel gebracht.

Mit behandschuhten Fingern strich sie über eine Reihe alter Bücher, schenkte den Titeln aber nur oberflächliche Beachtung. Es waren alte Münzkataloge, Briefmarkenalben und ähnlicher Plunder. Auch im Regal fand sie leider kein Buch mit der Aufschrift: 'Fragen zum verfluchten Amulett? Antworten finden Sie hier!"

Bei einem Band, der zumindest nicht völlig abwegig aussah, streifte sie durchs Inhaltsverzeichnis, bevor sie es wieder zu den Anderen stellte.

Fehlanzeige.

Sie würde doch nicht wirklich hinauf gehen und den Besitzer mit einer lodernden Drohung aus dem Bett zerren müssen. Wenn sie sich recht erinnerte, war der Mann, dem das Amulett damals entwendet worden war, doch bereits tot...

Als sie auf den Gang hinaustrat, fror sie mitten in der Bewegung ein. Ein Knarzen über ihrem Kopf. Jemand bewegte sich im Stockwerk über ihr - genau auf die Treppe zu, die in die Halle führte. Paige stand wie auf dem Serviertablett, während die Schritte sich weiter näherten.
 

Mit zerwühlten Haaren, zerknittertem Anzug, nackten, schmutzigen Füßen und vollkommen außer Atem, öffnete Ryon die Tür zur Küche, so dass sich drei Köpfe mitten aus einem Gespräch zu ihm herum drehten und ihn zuerst erschrocken, dann aber schon wesentlich freundlicher entgegen blickten.

„Mein Gott, ich dachte schon Big Foot käme zum Abendessen vorbei und hätte sich dafür sogar rasiert. Allerdings kommst du zu spät, Ryon. Es gibt nur noch kalte Küche.“

Tyler war so freundlich und fröhlich wie eh und je, vor allem, da er sich gerade noch zu Ai hinab gebeugt hatte, die ihm irgendetwas gezeigt hatte, das sie in den Händen hielt. Es sah aus wie gestrickte Babyschühchen mit einem ganz besonders schönen Muster und feiner Wolle.

Einen Moment lang kam Ryon ganz aus dem Konzept, betrat dann aber den Raum und schloss die Tür wieder hinter sich, denn es wurde Abends ganz schön frisch draußen. Zumindest für Nicht-Wandler.

Langsam beruhigte sich auch sein schneller Atem wieder und der Puls hämmerte ihm nicht mehr so laut in den Ohren.

„Wo ist Paige?“

Kein Hallo, keine Begrüßung und allen voran keine Umschweife. Dass sie fehlte, war nicht ungewöhnlich, aber trotzdem leicht beunruhigend. Gerade jetzt, wo sie so schnell mit Ai abgezogen war, hätte er eigentlich geglaubt, die beiden Frauen wären noch eine ganze Weile nicht mehr auseinander zu bringen. Da hatte er sich wohl geirrt.

„Ist ausgeflogen.“, kündigte Tennessey wie nebensächlich an, während er sich über ein paar seiner Notizen beugte und sie aufmerksam studierte.

„Sie ist weg?“

Ryon stellten sich mit einem Mal alle Nackenhärchen auf und Blei legte sich schwer um seinen Magen. Sie war doch nicht etwa… Oder doch?

„Bevor dich dein schlechtes Gewissen auffrisst, sei dir gesagt, dass sie eine junge, attraktive Frau ist, die ihren eigenen Kopf und deine Autoschlüssel hat. Gönn ihr doch ein bisschen den Spaß. Schließlich siehst du auch so aus, als hättest du den Kopf aus dem Fenster eines rasenden Porsche gesteckt. Also beschwer dich nicht. Sie hat dabei nur mehr Stil bewiesen.“

Entweder hatte hier keiner eine Ahnung, was vorgefallen war und sie machten sich deshalb keine Sorgen, oder hier war etwas verdammt faul. Sie benahmen sich alle so, als wäre nichts gewesen. Als hätte es heute Nachmittag ein herzliches ‚Hallo‘ und ‚schön dass ihr wieder zurück seid‘ gegeben und nicht dieses ‚Desaster‘, wie Tyler es so passenderweise bezeichnet hatte. Außerdem blickte Tennessey noch immer nicht hoch, obwohl der Arzt bei seinem Intellekt die Seite schon dreimal durchgelesen haben müsste.

Wenn der Doc allerdings recht hatte und Paige einfach das gleiche Verlangen verspürt hatte, wie er, dann konnte er nichts dagegen tun. Bestimmt würde sie niemals Ai zurück lassen, wenn sie vorgehabt hätte, abzuhauen. Weshalb er sich nicht zu viele Gedanken darüber machen sollte.

„Ich weiß zwar nicht, was hier los ist, aber wenn ich wieder komme, will ich ein paar Antworten hören. Ihr verheimlicht mir etwas.“

Seine Stimme war alles andere als ausdruckslos. Das tiefe Knurren war fast zu spüren, obwohl man es nicht hören konnte. Er hatte sich noch immer nicht ganz im Griff, aber das schrieb er auf seine Müdigkeit.

Da hier sowieso alle den Eindruck machten, als würden sie nicht aus dem Nähkästchen plaudern wollen, zumindest vorerst nicht, und auch nichts, was wichtig wäre, beschloss Ryon erst einmal duschen zu gehen. Er war vollkommen durchgeschwitzt.
 

Mit kontrollierten Atemzügen presste sie sich gegen eine raue Holzwand. Das Bild, das an der selbigen hing, drohte ins Schwanken zu geraten, als sie den Blick an die Decke richtete, um besser einschätzen zu können, wann der Mensch auf der Treppe ankommen würde.

Wo er oder sie dann hinsteuern mochte, konnte sie natürlich deswegen noch lange nicht sagen. Ihr Herz klopfte lauter mit jedem Geräusch, das ihr die Person näher brachte. Derjenige war auf der Treppe. Nackte Füße auf den Holzstufen, die hinunter führten.

Der Lüster in der Halle warf gleißend helles Licht durch den Raum, an dessen Rand Paige mit angehaltenem Atem klebte. Die Versuchung sich in das nächste Zimmer zu bewegen war groß. Aber diese Bewegung war genau der falsche Weg. Wenn der Mann, der gerade im gestreiften Morgenmantel die letzten Stufen hinunter ging sie nicht bemerken sollte, musste sie stehen bleiben, wo sie war.

Vor Erleichterung hätte sie am liebsten laut geseufzt. Der Mann mit den grauen Haaren, dem verschlafenen Gesichtsausdruck und dem großen Schnurrbart hatte sich in die ihr entgegen gesetzte Richtung gewandt. Dorthin schlappte er in seinen hellblauen Hausschuhen und als Paige schon um die Ecke im Salon verschwand, konnte sie das typische Geräusch einer sich öffnenden Kühlschranktür hören.
 

Erst als der ältere Herr die Stufen wieder hinauf und in sein Schlafzimmer gegangen war, sah Paige sich vorsichtig in dem letzten Raum des Erdgeschosses um. Der Salon war offensichtlich gleichzeitig als Studierzimmer eingerichtet worden.

Mit einem großen Schreibtisch, weiteren Bücherregalen und auch ein paar Zeugnissen an der Wand. Der Herr war kein Antiquitätensammler, sondern Archäologe. Passte zu dem Eindruck, den Paige bei dem flüchtigen Anblick von ihm gewonnen hatte. Sie konnte ihn sich so richtig in kurzen Kakihosen und Helm bei einer Ausgrabung vorstellen.

Nach kurzem Herumsuchen, fand sie sogar einen Zeitungsausschnitt mit einem Bild, auf dem er in ähnlicher Ausstattung zu sehen war. Er schüttelte einem recht korpulenten Mann die Hand, der breit in die Kamera lächelte und älter aussah als der Archäologe. Dieses Bild war vor fast neun Jahren in Agypten aufgenommen worden. Zumindest wenn man den Angaben im Zeitungsausschnitt glauben durfte.

"Die gefundenen Schätze seien atemberaubend und werden direkt in die Sammlung des bekannten Antikenkurators Ben Smith übergehen, der sie in zwei Monaten für die Öffentlichkeit zugänglich machen möchte."

Schätze aus Ägypten. Es wäre wirklich bloßer Zufall...

Paige fuhr mit den Fingerspitzen über die Schubladen des Schreibtischs und zog einige daran leise auf. Darin befand sich ein Chaos an Stiften, Papieren, Schmierzetteln und anderen Dingen. Allerdings nichts, was auf diese alte Ausstellung hingewiesen hätte.

Eine Schublade hatte ein winziges Schloss, an dem der Schlüssel fehlte. Langasm ließ sich Paige in die Hocke sinken, zog die obligatorische Klammer aus ihrem Haar und schob sie in das Schlüsselloch. Bereits nach wenigen Drehungen gab das Metall ein leises 'klick' von sich und sie konnte die Lade aufziehen.

Die Aufgeräumtheit überraschte vor allem im Gegensatz zu den anderen Fächern. Vielleicht war es auch der übersichtliche Inhalt, der Ordnung in diesem Fall leicht machte.

Paige griff sich eines von vier Büchern, auf denen jeweils ein Zeitraum von vier Jahren eingeprägt war. Das Jahr des Artikels war auch darunter.

Ein flammender Finger erleichterte ihr das Lesen, als sie mit schnellen Blicken die Seiten überflog. Erst als sich ein zufriedens Lächeln auf ihrem Gesicht ausbreitete, schob sie die Schublade wieder zu, steckte das Buch ein und verließ unauffällig auf dem Weg das Haus, auf dem sie gekommen war.
 

Im Auto angekommen ließ sie den Motor an und fuhr aus dem Viertel heraus in die Innenstadt. Mehr oder weniger ohne Sinn und Ziel fuhr sie eine Weile durch die Gegend, bis sie an einem Imbiss ankam, der rund um die Uhr geöffnet hatte.

Das Buch in der Hand betrat sie den in Bonbonfarben gestalteten Laden und bestellte sich eine große Portion Kaffee.

Jedem Jahr waren in dem Buch 150 eng handschriftlich beschriebene Seiten gewidmet. Selbst für das betreffende Jahr, das sie interessierte, würde sie eine ganze Zeit lang brauchen. Immerhin versprach es ein wenig Erfolg. Sie würde nicht mit völlig leeren Händen und einem ebenso vollen Benzintank zum Haus zurück kommen.
 

Die Dusche dauerte länger, als gedacht. Er hatte erst Blätter und kleine Zweige, manchmal sogar Flechten aus seinen Haaren entfernen müssen. Die ihm bis dahin gar nicht aufgefallen waren. Auch seine Füße mussten richtig geschrubbt werden, bis die ganze Erde daran verschwunden war. Doch schließlich war er annehmbar sauber, trocknete sich rasch ab und zog sich eine locker auf den Hüften sitzende Leinenhose in Ocker an und dazu noch einen gut anliegenden Kaschmirpulli, der jedoch dünn genug war, um ihm nicht zu heiß zu werden.

Noch bevor er schließlich auf leisen Fußsohlen der Küche auch nur nahe kam, fiel ihm die vollkommene Stille im ganzen Haus auf.

Sein erster Eindruck bestätigte sich auch noch, als er die Küchentür aufschob und ihm nur die für seine Nachtsicht erkennbaren Umrisse einer sauberen und verlassenen Küche entgegen blickten.

Das Trio hatte also beschlossen, einfach schlafen zu gehen und ihn mit seinen Fragen einfach allein zu lassen. So konnte man sich natürlich auch vor Verantwortung drücken.

Was blieb ihm bei so viel Sturheit anderes übrig, als sich für heute resigniert geschlagen zu geben. Doch anstatt selbst ins Bett zu gehen, wanderte er ins Wohnzimmer, wo er auf ganz altmodische Weise zuerst Holz im Kamin stapelte und es dann zum Brennen brachte.

Aus alter Gewohnheit setzte er sich nicht auf die davor stehende auslandende Couch, die ihm und einer weiteren Person genug Platz geboten hätte, sondern setzte sich davor auf den weichen Teppich und lehnte mit dem Rücken dagegen. Er zog seine Knie an seine Brust und umschlang sie mit seinen Armen, während er das Kinn darauf ablegte und ins Feuer starrte, das rasch eine heimelige Wärme verbreitete.

Lange rührte er sich nicht, sondern wartete.

Wartete auf zarte Hände, die ihm nie mehr durchs Haar kraulen würden. Wartete auf einen warmen Schoß, gegen den er nie wieder seinen Kopf lehnen konnte. Wartete auf den weiblich femininen Duft, der stets seine Sinne berauscht hatte.

Er wartete, bis das prasselnde Feuer nur noch ein sanftes glimmen geworden war und seine Augen voller Anstrengung brannten, bis er sie schließlich schloss und sein Gesicht in seinen Armen vergrub.

„Ich vermisse dich…“, gestand er sich schließlich ein, als das Warten für ihn ein nie endender Prozesse geworden zu sein schien.

Er würde immer warten, auch wenn er wusste, dass es sinnlos war. Was blieb ihm auch anderes übrig.

Er war jetzt nun einmal alleine.
 

Es war nahezu fahrlässig in ihrem Zustand noch Auto zu fahren. Sie war so müde, dass die Welt vor ihren Augen zu tanzen drohte und ihr Körper ihr nicht nur auf diese Art und Weise sagen wollte, dass es nun endgültig reichte.

Paige zitterte und gähnte abwechselnd, während sie den Wagen vorsichtig den unbefestigten Weg zum Grundstück und schließlich nach der Kontrolle am Tor die Auffahrt zum Haus hinauf lenkte.

Ihr war klar, dass sie nicht nur wegen des Buches so lange in der Stadt geblieben war. Die Seiten hätte sie auch durchaus in dem Zimmer bei Ai oder in der Küche lesen können. Aber das Gefühl hierher zu kommen, war genauso unangenehm, wie sie es sich ausgemalt hatte.

Für Paige war es in diesem Moment nicht anders Ryons Haus zu betreten, als vor einigen Stunden der Einbruch bei dem Archäologen.

Bloß, dass man es ihr hier noch einfacher machte. Die Tür vom Inneren der Garage zum Haus war nicht abgeschlossen. Nachdem sie den Autoschlüssel wieder an seinen Platz gehängt und alle Lichter draußen gelöscht hatte, ging sie auf Zehespitzen durch den Flur, um bloß niemanden aufzuwecken.

Bei der Garderobe angekommen, streifte sie ihre Stiefel ab und blieb einen Moment zitternd stehen, bevor sie den Mantel ebenfalls auszog und ihn aufhängte. Dabei legte sie das mitgebrachte Buch nicht einen einzigen Moment aus der Hand. Sie hatte tatsächlich etwas darin gelesen, was sie weiterbringen könnte. Ob es allerdings mehr als nur ein Hoffnungsschimmer war, würde Ryon entscheiden müssen. Sie würde ihm das Buch einfach irgendwo hinlegen, mit einer Notiz, auf welchen Seiten er die Hinweise finden konnte. Paige hatte vor, Morgen auszuschlafen und je länger sie ihm aus dem Weg gehen konnte, desto besser.
 

Etwas rüttelte an seinem schlafenden Verstand. Instinktiv zucken seine Ohren leicht und er neigte den Kopf etwas zur Seite, um besser hören zu können.

Sein Gehirn arbeitete mit der Geschwindigkeit von im Koma liegenden Omas. Er begriff erst dann, dass er knirschenden Kies gehört hatte, als auch schon die Tür von der Garage ins Haus geöffnet und wieder geschlossen worden war. Leise Schritte strichen über den Flur und rissen ihn endgültig aus seinem Dämmerschlaf.

Ruckartig fuhr sein Kopf in die Höhe und er sah sich blinzelnd und leicht verwirrt um.

Das Feuer im Kamin war inzwischen fast ganz verloschen und sein Hintern kribbelte, da dieser vom Sitzen ebenfalls eingeschlafen war und gerade erst aufwachte.

Lautlos kam Ryon auf seine nackten Füße, wich diversen Möbelstücken aus und schob die angelehnte Tür zum Wohnzimmer auf, die in den Hausflur führte. Er sah die Silhouette einer Person, wie sie langsam auf den Weg zu den Gästezimmern ging.

„Paige?“, flüsterte er noch immer leicht schlaftrunken, ehe er etwas lauter weiter sprach.

„Du bist zurück?“

Eher eine Frage, als eine Feststellung. Vielleicht träumte er auch immer noch, weshalb er sich kurz über die müden Augen rieb.

Die Gestalt war immer noch da.
 

Nein!

Sie zuckte zusammen, als hätte ihr Name sie wie ein winziges Geschoss in den Rücken getroffen. Sie griff das Buch in ihrer Hand fester und drehte sich um.

Ryon stand in der Tür zum Wohnzimmer, aus dem nur noch eine Winzigkeit von warmem Licht hervorglimmte. So, wie er sich anhörte, war er wohl auf der Couch eingeschlafen und sie hatte ihn geweckt.

Am liebsten hätte sie innerlich über seine Wandlernatur geflucht. Aber nach dem, was sie inzwischen über ihn wusste, würgte sie diesen Gedanken ab, bevor er entstehen konnte.

Wie angenagelt stand sie dort, wo er sie mehr oder weniger 'erwischt' hatte und war bloß froh, dass sie auf die Entfernung seine leeren Augen nicht sehen konnte.

"Hallo. Ja, ich war nur kurz weg."

Obwohl niemand sie in diesem Haus hören würde, sprach Paige nur halblaut. Was sollte sie denn bitteschön sagen? Warum ging er denn nicht einfach schlafen?

Warum sie selbst nicht einfach dorthin ging, wohin sie unterwegs gewesen war, wusste sie ebenfalls nicht. Müdigkeit wäre absolut keine Ausrede gewesen. Stattdessen stand sie unbeweglich im Flur, bis ihr das kleine Gewicht in ihrer Hand wieder einfiel.

"Hier." Sie hielt ihm das Buch entgegen, in dem sie mit einem Zettel zumindest den Anfang des richtigen Jahres markiert hatte.
 

Gott sei Dank. Wenigstens sprach sie überhaupt noch mit ihm. Das Schweigen war in letzter Zeit immer bedrängender geworden und war somit auch schon ohne die damit begleitende Ausstrahlung sehr unangenehm gewesen. Zurecht zwar, aber sie konnten beide nicht Ewig so weiter machen. Es sei denn, Paige hatte vor, schon morgen mit Ai zusammen das Haus zu verlassen und sich alleine durch zu schlagen, obwohl die Bedrohung durch den Hexenzirkel immer noch über ihnen hing.

Zugegeben, bis jetzt hatte sich noch nicht sehr viel an dieser Front getan, aber für diese Ruhepause konnten sie eigentlich nur dankbar sein. Sie hatten innerhalb ihrer Reihen schon genug Probleme. Wenn jetzt auch noch Druck von außen dazu käme, würde das wohl endgültig den hauchzarten Zusammenhalt innerhalb dieses Haushaltes sprengen. Zumindest was die Konstellation mit den beiden Frauen anging.

Ryon wäre zwar lieber einfach davon gelaufen, anstatt sich diesen unangenehmen Problemen zu stellen, aber schlussendlich würde ein Aufschub die ganze Sache nur noch verschlimmern. Warum sich also nicht jetzt gleich damit befassen?

Etwas zögerlich löste er sich von seinem Platz an der Tür und kam lautlos zu Paige hinüber, da sie ihm etwas entgegen gestreckt hielt, das er erst bei genauerer Betrachtung als kleines Buch erkannte.

Es war keines aus seiner Bibliothek, soviel konnte er schon auf den ersten Blick erkennen. Aber woher hatte sie es dann und vor allem, was war so interessant daran?

Für den Augenblick schob er diese Fragen beiseite, während er das Buch entgegen nahm, aber keinen weiteren Blick mehr darauf warf, sondern Paige in die Augen blickte. Was sein Unbehagen nur noch verstärkte, doch wenigstens standen sie sich nicht in vollem Rampenlicht gegenüber, weshalb die Intensität durch die dämmrigen Lichtverhältnisse abgemildert wurde.

„Hast du einen Augenblick Zeit?“, wollte er mit gesenkter Stimme erfahren. Er war noch immer müde, aber bei vollkommen klarem Verstand. Trotzdem lag nichts Kaltes in seiner Stimme. Im Moment hatte er nicht die Kraft, sich hinter irgendetwas zu verbergen. Dafür würde Morgen noch genug Zeit bleiben.

„Ich kann natürlich verstehen, wenn du lieber schlafen möchtest, immerhin ist es schon spät, aber… Ich würde gerne mit dir reden.“

Seine Finger glitten über den weichen Ledereinband des Buches in seinen Händen. Es war schon älter und abgegriffen, aber offenbar von edler Herkunft. Ein Tagebuch vielleicht? Auf jeden Fall fühlte es sich nicht wie eine gedruckte Ausgabe von etwas an. Auch wenn er das eher nur am Rande wahrnahm. Er sah immer noch Paige an … wartend.
 

Wie sie ihn für etwas Anderes als eine Raubkatze hatte halten können, war Paige unbegreiflich.

Als Ryon sich auf sie zu bewegte, völlig lautlos und dennoch ohne sichtliche Anstrengung darauf verwendend, konnte sie gar kein anderes Tier mit ihm überein bringen. Aber gerade weil sie jetzt wusste, was in ihm wohnte, da sie es deutlicher sehen konnte, als jemals zuvor, hämmerten ihr die Gedanken an seine Vergangenheit in den Verstand.

Als er sie fragte, ob sie Zeit zum reden hätte, wollte sie am liebsten verneinen. Paige war schon zu oft in dieser Situation gewesen, um nicht zu wissen, was jetzt kommen würde. Alles in ihr sperrte sich gegen die Bereitschaft ihm zuzuhören und dadurch in die Sparte 'gute Freundin' gedrängt zu werden.

Es musste daran liegen, dass sie auf der kühlen Distanz ihrer Partnerschaft bestehen wollte. An der allerdings allein seine Tonlage zu rütteln vermochte. Er war immer noch nicht der, den sie kennen gelernt hatte. Da war Gefühl in seiner Stimme. Wenig zwar, aber im Gegensatz zu sonst einfach unüberhörbar.

In einer Übersprungshandlung schob sie die kalten Hände in ihre Hosentaschen und nickte leicht.

"In Ordnung."

Sie würde jederzeit gehen können.
 

Im Flur war es kühler, als in den Zimmern, da die großen Fensterbögen zwar sehr gut isoliert waren, aber trotzdem mehr Angriffsfläche boten. Aber nicht nur deshalb, wandte er sich wieder zum Wohnzimmer herum und hielt Paige die Tür auf. Er wollte diese Dinge nicht stehend im Flur bereden, außerdem war er seit dem Vorfall im Tunnel deutlich aufmerksamer, wenn es um Temperaturen in ihrer Nähe ging. Denn auch wenn er ihren Körper nicht verstand, so vermutete er doch, dass sie nicht selbst ausreichend Wärme erzeugen konnte und deshalb wärmere Orte vorziehen würde.

Der noch immer warme Kamin war dafür sicher eine passende Alternative. Vor allem, als er noch einmal Holz nachlegte, nach dem er die Tür hinter ihnen geschlossen hatte.

Entgegen seiner Gewohnheit setzte er sich dieses Mal auf einen der weichen Couchsessel. Es fühlte sich befremdlich an, aber lange nicht mehr so neu und ungebraucht, wie er es noch in Erinnerung gehabt hatte. Seine Freunde hatten wohl schon viele Tage und Nächte lang die Zeit genutzt und seine Möbel eingesessen. Trotzdem wusste Ryon nicht so recht, wie er sich hinsetzen sollte. Er hätte den Boden vorgezogen.

Er saß eine Weile schweigend da, hielt noch immer das Buch fest in seinen Händen, während er den kleinen Flämmchen im Kamin zu sah, wie sie langsam an dem trockenen Holz leckten und somit immer größer wurden, bis sie wieder richtig brannten und der Klang von knackendem und zischendem Holz die Stille beendete. Daran nahm er sich ein Beispiel.

„Ich wollte, dass du weißt, dass die Drohung in diesem Laden nicht dir gegolten hat.“, begann er schließlich leise und ruhig, ohne von dem Feuer aufzublicken.

„Ich möchte mich dafür entschuldigen, dass ich mich dir gegenüber so benommen habe. Das hattest du nicht verdient.“

Da er zwar das Verlangen hatte, sich bei ihr zu entschuldigen, aber nichts an dem ändern konnte, was er dennoch empfand, wenn er an diese Situation dachte, versuchte er auch gar nicht erst mit irgendwelchen Erklärungen zu kommen. Wenn er könnte, er würde Crilin immer noch töten. Das machte ihn zwar nicht besser, aber er war nun einmal jemand, der schon oft getötet hatte. Diese Unschuld konnte ihm also nichts mehr zurück bringen, er hatte also gar keine andere Wahl, als damit zu leben.

„Ich würde verstehen, wenn du nach all dem, was du gesehen hast, Zweifel an unserm Deal hast. Aber ich kann ehrlich und mit reinem Gewissen sagen, dass ich nicht die Absicht habe, dir oder Ai zu schaden. Ob du mir das glaubst, oder nicht.“
 

Sie war ihm ins Wohnzimmer gefolgt und unendlich dankbar, dass der Kamin dort noch brannte und Ryon es sogar noch weiter anfachte. Trotzdem konnte sie ein leichtes Zittern ihres Köpers nicht unterdrücken, das von der Müdigkeit und den überspannten Nerven herrührte. Nach dem Gespräch mit seinen Freunden war sie von ihrer Abwehrhaltung einigermaßen wieder herunter gekommen. Aber jetzt hier allein mit Ryon in einem leeren Zimmer seines Hauses zu sitzen, setzte sie in gewisser Weise wieder einem hohen Grad an Stress aus.

Sie ließ ihn keinen Moment aus den Augen, beurteilte jede seiner Bewegungen nach dem Potential das sie enthalten könnte. Nur weil er ruhig aussah, musste das nicht heißen, dass er das in zwei Minuten auch noch sein würde.

Allerdings sollte sie, wenn sie ein bestimmtes Thema nicht anschnitt, einigermaßen sicher sein.

Dass er genau mit der Situation anfing, die sie zum Zweifeln an seiner Zurechnungsfähigkeit gebracht hatte, war irgendwie passend. Offensichtlich hatten ihn die Anderen nicht darüber informiert, was in der Zwischenzeit besprochen worden und passiert war. Ryon wusste also nicht, was Paige wusste. Das machte die Sache nicht gerade leichter. Sollte sie ihm denn sagen, dass ihr klar war, warum er so ausgerastet war? Dann würde er seine Freunde wahrscheinlich als Verräter ansehen. Das waren sie in gewissem Sinne auch, aber Rache hatten sie trotzdem nicht verdient.

Obwohl der Raum überall angenehm warm war, hatte Paige sich an den Punkt gesetzt, der dem Feuer am nächsten war. Ein Sessel, ähnlich dem, auf dem Ryon Platz genommen hatte. Beide standen sich an jeweils einer Seite der Couch gegenüber. Paige drängte sich der Vergleich mit einem Schachspiel auf. Auch wenn kein Brett auf einem Tisch zwischen ihnen stand.

"Ja, ich habe sogar sehr große Zweifel. Und es ist nur dein Glück, dass du so gute Freunde hast..."

Wären sie nicht gewesen, hätte er Ai und Paige nie wieder gesehen.

"Ich vertraue darauf, dass die beiden sich gut um Ai kümmern werden."

Ihre Augen funkelten ihn an.

"Und darauf, dass du ihr kein Haar krümmen wirst."

Sie war nicht mehr so sauer, dass diese Aussage den Nachdruck gehabt hätte, den sie sich wünschte. Es hörte sich eher wie eine eindringliche Bitte an.

Wieder gähnte sie leise hinter vorgehaltener Hand. Eingeschlossen von der Wärme des Feuers und in dem bequemen Sessel hätte sie am liebsten einfach die Augen geschlossen und hätte geschlafen. Aber das stand nicht zur Diskussion.

"Die Entschuldigung ist angenommen.", meinte sie leise und deutete auf das Buch, das sie ihm mitgebracht und das er auf einem Tischchen neben der Couch abgelegt hatte.

"Das habe ich von jemandem, der nun das Haus des Antiquitätensammlers bewohnt. Es enthält den Bericht einer Ausgrabung in Ägypten. Ich denke, dass dein... dass es dich interessieren wird."

Sie vermied es sogar, das Amulett direkt anzusprechen. Dabei war das bis jetzt noch nie ein Problem gewesen. Was die Informationen, die sie inzwischen erhalten hatte, alles ausmachten.
 

Da er es für sinnlos hielt, sich noch einmal zu wiederholen, schwieg er lieber, was die Sache mit dem Schutz der beiden Frauen anging. Er würde ihnen nichts tun. Ebenso wenig wie seine Freunde. Wahrscheinlicher war auf jeden Fall das Gegenteil davon. Immerhin war Ai hier, weil er sie beschützen wollte und Paige, weil sie zusammen eine Lösung für ihr gemeinsames Problem suchten. Ryon konnte also noch so oft beteuern, dass er keine Hintergedanken bei alle dem hatte. Sinnvoller war es daher, es ihr einfach zu zeigen, auch wenn sich seine Worte nur schwer beweisen ließen. Aber vielleicht würde die Zeit selbst für seine Ehrlichkeit in diesem Fall sprechen. Man konnte nur abwarten.

Ryon gab sich damit zufrieden, dass Paige seine Entschuldigung angenommen hatte. Das war mehr, als er von ihr verlangen konnte und erleichtere ihn etwas.

„Ägypten?“, hakte er bei ihrem Themenwechsel ein und blickte erst das Buch und dann die Frau ihm gegenüber an.

„Ich bin zwar kein Archäologe, aber für mich sieht das Amulett nicht wie ägyptisches Handwerk aus. Allerdings… Nach allem was ich bisher darüber gehört habe, würde es mich nicht wundern, wenn es viel herum gekommen wäre. Wer weiß, wie alt es ist…“

Wenn die Besitzer alle nach einander starben, blieb es nicht lange in ein und demselben Besitz. Da war es kein Wunder, dass es so weit gereist war.

Was ihn selbst in dieser Sache betraf, fühlte er sich wahrlich verflucht, allerdings gab es keine Anzeichen dafür, dass das Schmuckstück auch ihn umbringen wollte. Wenn er es nicht besser wüsste, würde er sagen, es wäre einfach nur schön anzusehen und mehr auch nicht.

Ryon wurde von einem Gähnen geschüttelt, dass sogar seine Augen leicht tränen ließen. Er fühlte sich so müde und erschöpft, dass er sich am liebsten zum Schlafen auf dem Teppich vor dem Kamin zusammen gerollt hätte. Ihm war nicht entgangen, dass es Paige vermutlich ähnlich ging. Zumindest was die Müdigkeit betraf.

„Ich danke dir für das Buch und wenn du nichts dagegen hast, würde ich mich gerne morgen weiter mit dir darüber unterhalten. Aber im Augenblick halte ich es für besser, wenn wir schlafen gehen. Ich wollte dich ohnehin nicht allzu lange aufhalten.“

Die Reise hier her war anstrengend gewesen und sie beide hatten sich danach trotzdem keine Pause gegönnt. Dabei brauchten sie ihre Kräfte, wenn sie weiter machen wollten. Jetzt, da wenigstens wieder etwas zwischen ihnen halbwegs gerade gebogen worden war. Wie lange das allerdings anhielt, konnte er nicht sagen. Fast schon befürchtete er, dass er wieder etwas verbocken würde. Irgendwie war das in Paiges Nähe vorprogrammiert. Aber auch darüber wollte er sich jetzt keine Gedanken mehr machen. Das Gästezimmer wartete auf ihn.

Ryon nahm das Buch zur Hand und stand auf. Einen Moment lang, blickte er schweigend zu Paige hinüber. Musterte ihre Gesichtszüge. Die stetig wachsamen Augen. Den wortgewandten Mund, das feine und doch energische Kinn. Wie ihre Augenbrauen arbeiteten, wenn sie Gefühle zeigte.

Er wusste noch ganz genau, wie es aussah, wenn sich ihre Schuppen wie ein schützender Panzer über ihre Haut zogen. Die Flämmchen, wenn sie züngelnd darüber tanzten.

Paige war vielleicht nur eine halbe Feuerdämonin, aber zugleich gab es etwas, in dem sie beide sich ähnelten. Auch sie konnte tierische Elemente annehmen, hatte sogar teilweise Eigenschaften einer Echse und trotzdem schien sie keinen Kampf gegen sich selbst führen zu müssen. Sie war was sie war und lebte trotzdem offen ihre Gefühle.

Für Ryon war sie die lebende Erinnerung daran, wenn nicht sogar eine Art Mahnung dafür, dass es ihm einst genauso ergangen war.

Er konnte seinem Tier noch so oft weh tun, es einzwängen, ihm die Freiheit nehmen und es leugnen. Letztendlich blieben sie ein Wesen.

Der Schmerz des Tieres würde auch immer sein eigener sein, so wie seiner, das Tier zum Wehklagen brachte.

Vielleicht sollte er eines Tages in Erwägung ziehen, ihm zu verzeihen und es wieder zu respektieren, so wie früher. Aber selbst wenn, so würde es noch ein weiter Weg bis dorthin sein. Zumindest Paige schubste ihn mit dem was sie war, ein bisschen in die richtige Richtung. Sie führte ihm, ohne es zu wollen, vor Augen, was er sein könnte und was er nicht war.

Das allein genügte, um ihr einen winzigen Hauch … lediglich einen Schatten von einem aufkommenden Lächeln zu schenken, als er ihr eine gute Nacht wünschte und den Raum verließ.
 

Paige saß noch eine Weile vor dem niederbrennenden Feuer. Es erstarb nur langsam und es wurde für ihre empfindliche Haut schnell sehr viel kühler im Raum. Doch gerade weil sie so müde war, schien ihr der Weg in das Gästezimmer zu weit.

Sie hatte ihre Füße auf den Sessel gezogen, sich halb umgedreht und lag mit dem Kopf an das Ohr des Sessels gelehnt.

Um sich nicht weiter verwirren zu lassen, versuchte sie für sich selbst einen Plan zum weiteren Vorgehen zu erstellen.

Erst einmal die Fakten.

Ein Gähnen schüttelte sie so durch, dass sie ihre Arme um ihren Körper schlang und kurz die Augen schloss.

Das Amulett war aus Ägypten gekommen. Bei einer Ausgrabung war es zusammen mit anderen Schmuckstücken gefunden und dann in einer Ausstellung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden. So weit, so gut. Allerdings war in dem Tagebuch des Archäologen die Rede von einem zweiten Teil des Schmuckstückes gewesen. So etwas wie ein Gegenstück oder... eine zweite Seite?

Paige raffte sich aus dem Sessel hoch und wollte in die Bibliothek. Das kam ihr doch alles zu bekannt vor, als das sie es hätte bis zum Morgen ruhen lassen können. Wobei es bis zum Sonnenaufgang sowieso nur noch ein paar Stunden sein konnten.

Sie sollte schlafen und hier nicht wie ein Zombie herumgeistern. Wenn ihr Herz nicht wie eine Kesselpauke vor sich hindröhnen würde, hätte sie auch nichts lieber getan, als sich in ihr Bett zu verkriechen. Allerdings wusste sie nur zu genau, was sie vermutlich sehen würde, sobald sie die Augen schloss.

Da war es so viel besser, sich noch eine Weile wach zu halten, bis sie buchstäblich einfach vor Müdigkeit umfiel und gar nichts mehr träumte.

Leise betrat sie den Raum, in dem ihre Reise so zu sagen angefangen hatte. Tyler hatte die Truhe mit den Dokumenten fein säuberlich an einen freien Platz gestellt. Als Paige sie öffnete, lag das Pergament, das sie suchte oben auf.

Wie damals, als sie noch nach einem ersten Hinweis auf das Schmuckstück gesucht hatte, knipste sie die Schreibtischlampe an und strich das Dokument mit vorsichtigen Fingern glatt, um die Stelle zu suchen, die ihr beim ersten Lesen bereits aufgefallen war.

Zwei Seiten. Da war es. Paige hatte sich also richtig erinnert. Wenn sie die Informationen auch jetzt nicht besser verstand als damals. Ryon hatte nachgesehen und ihr versichert, dass das Schmuckstück keine deutlich unterscheidbaren Seiten hatte. Nichts, das diesem Eintrag entsprechen könnte. Aber Zufall konnte es dennoch nicht sein. Es gab ein Gegenstück.

Paige ließ sich in dem harten Stuhl zurücksinken und blickte zur Decke auf. Das Gegenstück - vielleicht sogar ein gegensätzliches Teil - musste von dem Amulett getrennt sein. Sonst machte es keinen Sinn. Es gab also bestimmt zwei von der Sorte. Mit dem selben Fluch belegt? Aber warum war dann der Begriff 'Gegenstück' gefallen?

Mit kühlen Händen versuchte sie ihre Unterarme etwas warm zu rubbeln, auf denen sich Gänsehaut gebildet hatte. Sie gehörte dringend ins Bett. Denken konnte sie ohnehin nicht mehr.
 

Als sie sich mit leisem Frösteln unter die Decke kuschelte, versuchte sie im Dunkeln die Augen offen zu lassen. Das hatte sie als Kind oft getan, damit sie augenblicklich einschlief, sobald sich ihre überstrapazierten Augen endgültig nicht mehr offen halten ließen. Denn das bedeutete, dass sie zu müde war, um den Nachhall des Tages in Gedanken noch einmal durchleben zu müssen. Paige wollte es nicht sehen und mit ihrem kleinen Trick schaffte sie es, das Bild nicht aufkommen zu lassen.

Doch es besuchte sie im Schlaf. Zusammengerollte und mit einem grüblerischen Runzeln der Stirn seufzte sie leise über das, was ihr Verstand und auch ein anderer Teil von ihr sie noch einmal sehen ließ. Ein Lächeln, wo sie es nicht erwartet hätte, bevor die Hölle zufror.

22. Kapitel

Soweit sich Ryon erinnern konnte, hatte er es nicht einmal mehr geschafft, sich die Decke über den Körper zu ziehen, sondern war einfach auf der Überdecke eingeschlafen. Warum er jetzt allerdings förmlich in derselben Decke und auch das Laken darunter eingewickelt war, als hätte man ihn fesseln wollen, könnten vermutlich nur seine Träume erklären. Allerdings hatte er keine Ahnung mehr, worum es gegangen war. Nur dass er verdammt unruhig geschlafen und sich oft herum geworfen hatte. Etwas, das er normalerweise nicht tat. Erst recht nicht, wenn er so vor Erschöpfung weggebrochen war.

Vielleicht lag es an den stechenden Schmerzen in seiner Brust, von den Kopfschmerzen ganz zu schweigen oder es war die Tatsache, dass er auf der Stelle in Tränen aufgehen könnte. Was auch immer der Grund für diese Unruhe gewesen war, es war noch nicht vorbei. Sein Herz tat ihm so unendlich weh.

Mit fast schon an Gewalt grenzender Intensität, strampelte er sich frei, ignorierte dabei das deutlich hörbare Reißen von Stoff, ehe er sich zu einem Ball zusammen rollte.

Nackt und der Luft so ungeschützt ausgesetzt, fröstelte er beinahe.

Etwas lief ihm heiß und feucht übers Gesicht und brachte seine zusammengepressten Lippen zum Beben.

Er bekam kaum noch Luft, so fest schlang er die Arme um seinen Oberkörper, um nicht einfach auseinander zu fallen. Das Gefühl, sonst einfach zu zerbrechen, war übermächtig und doch kannte er es. Allerdings wurde ihm diese Tatsache erst bewusst, als er schluchzend nach Luft schnappte und sich dieser Laut kaum noch menschlich anhörte.

Das Tier!

Schlagartig wurde sich Ryon wieder bewusst, warum er sich so sterbendselend fühlte. Gestern war er schon zu müde und erschöpft gewesen, um es deutlich wahrzunehmen, jetzt aber fiel ihm seine Nachlässigkeit wieder ein. Seine mentalen Schilde waren alle herunter gefahren. Sein Tier war so dicht an der Oberfläche seines Verstandes, dass er nur mit Müh und Not dem Drang widerstehen konnte, seinem Körper den Impuls für seine Wandlung zu geben. Obwohl es sich wie die pure Verlockung anfühlte, kämpfte er dagegen an.

Nein, er konnte im Augenblick nicht zulassen, dass sein Tun, sein Handeln von seinen schmerzenden Gefühlen gesteuert wurden. Es würde ihn blind machen. Da war er sich sicher. Immerhin machte es ihn schon jetzt zu einem kläglichen Häufchen, dass nicht in der Lage war, seine verkrampfte Haltung aufzugeben.

Konzentriert schloss Ryon wieder seine nassen Augen, stellte sich vor, er würde seinem Tier gegenüber stehen, das im Augenblick beständig auf sein Vorrecht zu Leben bestand. Es wollte frei sein. Frei, um seine Gefährtin zu betrauen, um sie zu beklagen, wie er – der Mann – es bisher nie auf die einzig richtige Weise getan hatte.

Ryon sah genau, wie verletzt das Tier sich deshalb fühlte. Wie verraten.

Es hatte zwar keine menschlichen Gesichtszüge, doch die goldenen Augen waren voller Vorwürfe und Schmerz. Sein Herz krümmte sich schmerzhaft zusammen bei diesem Anblick. Er stand da nicht nur seinem Tier gegenüber, sondern all den Gefühlen, die er nicht haben wollte und trotzdem ein Teil von ihm waren.

‚Nein. Noch nicht … ich kann das noch nicht…‘, versuchte er es seinem Tier zu erklären und somit sich selbst. Doch die Bestie funkelte ihn nur wütend an, in dem Wissen, was er gleich tun würde. Sie schien ihm mit seinem Blick einen verdammten Feigling zu schimpfen.

Wie Recht sie doch hatte und trotzdem war jeder Kampf gegen ihn sinnlos. Selbst als er ihr wieder Ketten anlegte. Ihr einen Maulkorb verpasste, die Augen verband, die Glieder verschnürte, sie taub werden ließ und sie schließlich in die Dunkelheit verbannte, die ihr bereits schon so vertraut sein musste. Doch statt Erleichterung darüber, dass der Schmerz in seiner Brust endlich zu einem erträglichen Stich abflaute, fühlte er eine Leere, die voller Verrat angefüllt zu sein schien.

Nicht sein Tier war die Bestie, sondern er. Dieser Tatsache konnte er sich nicht mehr länger entziehen. Weshalb er sie vorübergehend zur Seite schob, um sich duschen und anziehen zu können.

Aufgaben warteten auf ihn, auf die er sich konzentrieren sollte. Denn immerhin stand mehr als nur sein eigenes Leben auf dem Spiel.
 

Eigentlich hätte Ryon von seinen Freunden eine Erklärung wegen gestern fordern sollen, da sich aber wenigstens oberflächlich wieder alles bei ihm eingerenkt hatte, erwähnte er es noch nicht einmal, als er schließlich die Küche betrat und Tennessey schweigend beim Tischdecken half.

Seine Miene war so verschlossen, wie üblich, was der Doc nicht nur mit spitzen Seitenblicken, sondern auch mit einem deutlich vernehmbaren Schnauben quittierte. Tyler grummelte dagegen leise vor sich hin, während er in mehreren Töpfen und Pfannen umrührte.

Ryon tat so, als könnte er nicht haargenau jedes einzelne Wort von ihm verstehen, obwohl einige davon absolut nicht jungendfreie Kraftausdrücke enthielten, die ihm galten.
 

"Paige?"

Die Decke wurde angehoben und Paige rückte automatisch zur Seite, um Ai Platz zu machen, die sich mit in das warme Bett zu ihr legte. Ihre Augen schienen wie zugeschwollen, weswegen sie noch nicht einmal den Versuch startete, sie zu öffnen.

"Hast du dich entschieden? Werden wir bleiben?"

Sie lag auf dem Rücken, die Decke über ihrem Gesicht und atmete ruhig und gleichmäßig.

Hatte sie sich denn entschieden? Oder war sie nach dem Gespräch gestern einfach davon ausgegangen, dass man ihr die Entscheidung für's Erste abgenommen hatte? Die beiden Männer wollten sich weiterhin um Ai kümmern. Ihr Essen geben und dafür sorgen, dass das Baby einen guten Start ins Leben bekam. Was sollte sie daran rütteln wollen?

Gut, da war immer noch Ryon. Den sie nach wie vor nicht einschätzen konnte. Aber wenn die Informationen, die sich langsam wieder in ihrem Hirn nach vorn schoben, stimmten, dann würde sie ihn wahrscheinlich für eine Weile von diesem Haus wegbringen können. Die Suche würde höchstwahrscheinlich in Ägypten weiter gehen. Also weit außerhalb der Entfernung, in der Ryon Ai gefährlich werden könnte. Paige wollte außerdem nur zu gern daran glauben, dass es ohnehin keinen Unterschied machte.

Von der Decke etwas gedämpft und mit verschlafener Stimme antwortete Paige schließlich auf die Frage. Ihr war nicht ganz wohl dabei, aber es war nunmal die beste Option, die sie im Moment hatten. Was hasste sie es, arm zu sein!

"Ja, wir bleiben noch. Es sieht nicht so aus, als wolle er dir gefährlich werden... Uns beiden."
 

Ai hatte sie kurz gedrückt, bevor sie aufgestanden war und Paige allein gelassen hatte. Doch nur für einen Moment und nur im Bett. Denn Paige sprang wie von der Tarantel gestochen auf, als ihr klar wurde, was ihre Freundin vorhatte.

"Warte. Ich komme mit zum Frühstück."

Bloß, weil sie hier bleiben konnten, hieß das nicht, dass Paige das Risiko eingehen würde, Ai in Ryons Gegenwart allein zu lassen.

Sie gähnte laut und schüttelte sich einmal, bevor sie ins Bad tapste, sich etwas Wasser ins Gesicht warf und die Haare machte. Allerdings vermied sie es in den Spiegel zu sehen. Die drei Stunden Ruhe nach zwei schlaflosen Nächten hatten sich derart in ihrem Gesicht niedergeschlagen, dass sie es fühlte. Sie musste die geschwollenen Augenlider und die dunkeln Ringe unter den Augen nicht auch noch sehen.

Schnell zog sie sich an und ging neben Ai her in Richtung Küche, wo sie bereits das Klappern von Geschirr und die Geräusche von Tylers Kochen hören konnte. Die Männer unterhielten sich nicht, was Paige einigermaßen wunderte. Aber im Allgemeinen waren sie ja keine so gesprächigen Wesen wie die Frauen.

Als sie eintraten, hellte sich zumindest Tylers Miene sichtlich auf und er wünschte strahlend einen guten Morgen. Auf dem Fuße kam Ai ihr abhanden und Paige stand etwas unnütz in der Gegend herum.

"Morgen. Kann ich irgendwie helfen?"

Es sah so aus, als wäre der Tisch schon fertig gedeckt und das Essen jeden Moment fertig. Also vertrieb sich Paige die Zeit damit, ein sauberes Glas vom Regal zu nehmen und sich Orangensaft einzuschenken, den sie in einem Schluck hinunter stürzte.
 

Als Tyler das Essen schließlich auf den Tisch stellte und auch noch kalte Sachen dazu legte, bei denen man sich nach Lust und Laune bedienen konnte, begann langsam wieder Stimmung am Tisch aufzukommen. Tyler bewies ein weiteres Mal, dass er die Quasselstrippe unter den Männern war und einzig und allein sein Blick auf Ai festklebte. Er lächelte ständig, wenn er sie ansah, erkundigte sich nach ihren Wünschen, machte Witze, erzählte so manch spannende Geschichten, die nicht nur sie zum Lachen brachte, sondern bei denen auch Tennessey ab und zu mit schmunzelte, obwohl er nebenbei etwas auf seinen Block kritzelte, während eine Scheibe Toast in seinem Mundwinkel klemmte, an der er mehr herum nuckelte, als dass er sie aß.

Ryon wusste, das so einiges von Tyler wirklich lustig war, fand es aber nicht komisch genug, um überhaupt an Lachen zu denken. Stattdessen steckte er sich lustlos einen Bissen nach dem anderen in den Mund, bis er ein deutliches Sättigungsgefühl verspürte und schließlich das Besteck auf seinen Teller legte und sich mit einer Serviette den Mund abwischte. Danach hielt er sich an seinem Milchkaffee fest, während er immer öfter zu dem Arzt hinüber spähte, der nun wieder tief in Gedanken versunken zu sein schien.

„Sag mal, Tennessey. Was schreibst du da die ganze Zeit?“, wollte er schließlich leise wissen, versuchte aber dabei nicht auf den Block zu schielen. Immerhin ging es ihn nichts an, wenn der Doc nicht darüber reden wollte. Sowas respektierte er für gewöhnlich.

„Ach, nur Beobachtungen und meine Notizen dazu. Immerhin bin ich so eine Art Wissenschaftler und nur weil ich im Augenblick eine Pause von meiner Arbeit mache, heißt das ja nicht, dass ich nicht trotzdem für mich selbst arbeiten kann. Wer weiß, vielleicht könnte das einmal für ein paar meiner Kollegen ganz hilfreich sein.“

Er zuckte mit den Schultern und schrieb weiter. Offenbar wollte er nicht mehr dazu sagen.

Ryon bohrte nicht nach, sondern trank seinen Milchkaffee aus und sah dann auf seine Uhr, die auch die Wochentage anzeigte. Heute war Samstag. Er war also verabredet, auch wenn er dort nicht um jeden Preis hin müsste.

„Braucht jemand etwas aus der Stadt?“, warf er in die Runde, als einen Moment lang Schweigen herrschte.
 

Paige hatte die ganze Zeit einigermaßen unauffällige Blicke zu Ryon hinüber geworfen, während der ruhig sein Frühstück aß. Bei Licht besehen schien er so, als wäre rein gar nichts passiert. Auf Anhieb war Paige sich nicht sicher, ob ihr das besser gefiel oder sie mehr beruhigte, als seine mit Gefühlen unterlegte Art der letzten Nacht.

Sie hielt sich aus jedem Gespräch mehr oder weniger heraus. Zwischen Tyler und Ai wollte sie sich ohnehin nicht drängen und als Ryon sich kurz mit Tennessey austauschte, konnte sie auch nichts beitragen. Also sah sie auf ihren Teller, auf dem immer noch eine Scheibe Toast und eine halbe Tomate lagen. Ihre Müdigkeit verdarb ihr an diesem Morgen den Appetit und immer wieder musste sie ein Gähnen unterdrücken.

Trotzdem sah sie auf, als Ryon seinen Plan kundtat, in die Stadt zu fahren. Sie wollte nicht fragen, hätte aber zu gern gewusst, was er dort vorhatte. Wollte er weiter Nachforschungen anstellen?

"Ich werde mitkommen.", hörte sie sich sagen, ohne genau zu wissen, warum. Allerdings formte sich der Gedanke in ihrem Kopf, dass sie möglicherweise einen Abstecher in die 'World Underneath' machen könnte. Immerhin hatte sie noch ein paar mehr Freunde als Ai, die sicher erfahren wollten, dass sie noch am Leben war und es ihr gut ging. Davon war nach dem Zustand ihrer Wohnung zu urteilen, bestimmt niemand ausgegangen.
 

Mit Paiges Antwort hätte er nicht gerechnet. Weshalb er sie einen Augenblick lang nur stumm ansah, bis er schließlich nickte.

„Ich fahre um ein Uhr los. Wir werden wohl so gegen Abend zurück kommen.“

Zwar hatte Ryon keine Ahnung, was Paige in der Stadt wollte, aber das war auch nicht so wichtig. Was er selbst vor hatte, bedurfte keinerlei Heimlichkeiten und wenn sie auf eigene Faust los zog, so wie gestern Nacht, dann sollte es ihm nur recht sein. Sie konnte auf sich selbst aufpassen.

Eigentlich hätte er ja vorgehabt, schon früher los zu fahren, aber Paige sah ungefähr genauso müde aus, wie er sich immer noch fühlte. Er würde sich noch einmal hinlegen, um halbwegs fit zu sein. Ihr konnte er nur das Gleiche raten, denn immerhin verließen sie den Schutz dieses Grundstücks und in dieser Stadt hatte Boudicca ihre Finger im Spiel. Vorsicht war also auf alle Fälle bei jedem ihrer Schritte geboten. Sie sollten also immer im Besitz ihrer vollen Kräfte sein und das waren sie im Augenblick wirklich nicht.

Weshalb er schließlich auch aufstand und sein Geschirr wegräumte, um seinen Plan sofort in die Tat umzusetzen. Jetzt, da er seine Schilde wieder hochgefahren hatte, würde ihn wenigstens ein ruhiger Schlaf zuteil werden. Ohne dieses schreckliche Erwachen danach.
 

Das fröhliche Lachen von Kindern summte ihm förmlich in den Ohren, während er auf spielerische Weise dabei mithalf, die Picknicksachen wieder einzupacken.

Die kleine Mia saß dabei die ganze Zeit auf seinen Schultern, hielt sich mit ihren kleinen Händchen in seinen Haaren fest und kicherte ohne ersichtlichen Grund immer wieder in sein Ohr. Sie war keine Last für ihn, trotzdem passte er sehr genau darauf auf, dass sie ihm nicht herunter fiel, wenn sie einmal mehr versuchte, sich statt an seinen Haaren, an seinen Ohren fest zuhalten. Das brachte Susan und Amelia immer wieder zum Grinsen.

Offenbar ging es der zweiten Betreuerin wieder besser. Man sah ihr nicht an, dass sie letztes Mal noch krank im Bett gelegen hatte.

Eine Weile hatte er sich mit ihnen über völlig belanglose Dinge unterhalten. Dabei war er das Gefühl nicht los geworden, dass seit dem letzten Mal und heute eine ganze Epoche dazwischen lag. Einerseits war das Treffen vertraut und andererseits vollkommen ungewohnt. Es war so … alltäglich. Ganz anders, als die Ereignisse der letzten Tage und da auch Paige nicht hier war, könnte er sich fast einbilden, das alles wäre gar nicht passiert. Sein Leben wäre nicht auf einen Schlag umgekrempelt worden und er würde sich gleich wieder auf den Weg in die kleine, herunter gekommene Wohnung machen, die er für seine Lebensansprüche umgerüstet hatte.

„Katse…“, kicherte Mia ihm wieder einmal ins Ohr.

Amelia meinte, seit letztem Mal hätte sie dieses Wort ständig vor sich hin gesprochen. Ihr erstes und einziges Wort, das sie bisher überhaupt von sich gegeben hatte. Und während sie es nun langsam sogar wie ein Lied immer wieder aufsang, streichelte sie ihm durch die Haare und machte zwischendurch ein seltsames Geräusch, als versuche sie das Schnurren einer Katze nachzumachen.

Ryon war schnell klar, was das bedeutete.

Kinder waren in manchen Dingen viel aufmerksamer als Erwachsene. Allerdings hatte er keine Ahnung, wie das kleine zweijährige Mädchen darauf kam, ihn ständig ‚Katze‘ zu nennen. Einfach nur so oder hatte sie irgendwie ein Gespür dafür?

„So Mia, jetzt lass ‚Katze‘ einmal aufstehen, damit er sich auch von den anderen verabschieden kann. Ja?“

Auf der Stelle fing Mia zu heulen an, was Amelia mit einem seufzenden Lächeln quittierte.

„Schon okay. Es geht auch so.“

Ryon griff in seinen Nacken und holte Mia zu sich auf den Arm, ehe er sich von den anderen Kindern verabschiedete, während er das weinende Mädchen wieder beruhigte und ihr versprach, bald wieder zu kommen, wenn sie jetzt brav war und mit den Betreuerinnen mit ging.

Das half zumindest auch dieses Mal, die ganze Truppe ohne Probleme Abmarsch bereit zu machen. Danach konnte er sich auch von den zwei Frauen verabschieden, ehe er ihnen hinterher sah.

Er fühlte sich angenehm entspannt. Banalitäten waren vielleicht manchmal ganz gut, nach Zeiten von Stress. Vor allem, da diese Tage für ihn trotzdem immer etwas Besonderes blieben.

Als Ryon sich gerade zum Gehen umwandte, um beim Auto auf Paige zu warten, fiel ihm ein kleiner Teddybär auf, der verlassen in der Wiese lag und bestimmt einem der Kinder gehörte. Immerhin war er vorhin noch nicht da gewesen, als sie sich diesen Platz ausgesucht hatten.

Nun, da die Truppe schon weg war, würde er ihn nächstes Mal zurück geben. Allerdings änderte sich seine Meinung schlagartig, als er das Plüschtier berührte, um es aufzuheben.

Wäre ein Blitz in seinem Gehirn eingeschlagen, die Wirkung wäre nicht weniger schmerzhaft gewesen, als zuerst ein deutliches Kribbeln und Summen seine Fingerspitzen hoch schoss und sich direkt in seinem Kopf zu einer kräftigen Explosion zusammen braute.

‚Magie‘, fiel ihm dazu noch ein, ehe er ohnmächtig wurde.
 

Paige lag auf einem harten, kalten Untergrund. Es war uneben und ließ sie langsam und mit einem unangenehmen Geschmack im Mund aufwachen.

Warum schlief sie überhaupt? Hatte sie sich nicht gerade noch mit Ryon am Auto treffen wollen?

Sie hatte Jazz in dessen Wohnung besucht. Ihm gesagt, dass es ihr gut ging. Zwei Stunden lang hatten sie Tee getrunken und so getan, als wäre alles in bester Ordnung. Also würde Paige nur Urlaub machen, bevor sie in die 'World Underneath' und zu ihrem Job im Fass zurück kehrte. In den Augen des Walddämons hatte sie lesen können, dass er sie am liebsten nicht mehr hätte gehen lassen. Und auch Paige hatte kurz gezögert, als sie sich an der Wohnungstür gegenüber gestanden hatten. Aber schließlich war sie doch gegangen. Hatte den Weg zur Oberwelt ohne Zwischenfälle zurück gelegt und war ungefähr fünf Minuten vor der abgesprochenen Zeit am Auto gewesen.

Ein kleiner Zettel hatte unter dem Scheibenwischer des Wagens gesteckt. Ein Strafzettel vielleicht oder eine Nachricht von Ryon, dass es später werden würde? Paige hatte danach gegriffen. Dann war sie k.o. gegangen.

Gequält schlug sie die brennenden Augen auf und sah sich um. Sie lag in einem riesigen Raum. Vielleicht so etwas wie eine Halle? Nein, dafür sah die Decke zu kunstvoll aus. Als wäre unter der grauen Schicht einmal so etwas wie ein Bild gewesen.

Die Antwort bildete sich ganz langsam in ihrem Kopf und genauso vorsichtig setzte Paige sich auch auf. Sie lag so auf dem Boden, wie sie von Ryons Haus aus losgefahren war. Mit all ihren Kleidern und ohne irgendwelche Verletzungen. Mal von einem kleinen roten Fleck an ihrem Zeigefinger abgesehen, mit dem sie den Zettel berührt hatte.

In dem Raum roch es seltsam. Eine Mischung aus... bereits lange verschwundenem Weihrauch und noch etwas Anderem. Etwas, das Paige bekannt vorkam und ihr Herz eine Spur schneller schlagen ließ. Der Duft war süßlich und schwebte wie in rosa Wolken gehüllt, aber nicht sichtbar, auf sie zu. Gehetzt sah sie sich nach allen Seiten um.

Und erstarrte.

Ryon lag neben ihr auf dem kalten Boden. Im Gegensatz zu ihr war er allerdings gefesselt und geknebelt. Und immer noch ohne Bewusstsein.

Paige versuchte den Duft, der sich aus ihrem Rücken über ihre Gesicht in ihre Nase schleichen wollte, mit einem Kopfschütteln verschwinden zu lassen. Sie wusste instinktiv, dass er nichts Gutes bedeuten konnte.

„Ryon!“, sie zischte seinen Namen. Darauf bedacht ihn aufzuwecken, ohne irgendjemanden auf sie aufmerksam zu machen.

Als es nicht funktionierte, rüttelte sie an seiner Schulter. Was nur zum Ergebnis hatte, dass er ein Murren von sich gab und mit den Augenbrauen zuckte.

„Ryon!“

Wieder schüttelte sie den Kopf, schreckte aber auf, als sie das Rascheln von Stoffen hören konnte. Jemand musste direkt hinter ihr sein. Als sie sich umwandte, sah sie allerdings nur einen Schatten, der hinter einer Säule vorbei huschte und sich dort verbarg.

Paige stand in Flammen. Das unangenehme Knistern in ihrem Nacken verhinderte, dass sie an sich hielt und nur ihre Hände als Schutz benutzte. Nein, ihr gesamter Körper juckte unter den Schuppen, die sich aus der Haut schoben und wurde keinen Moment später von Flammen überzogen.

Wieder ein Rascheln, das aus der anderen Richtung kam und sie auf die Beine riss. Irgendjemand war hier. Und nicht nur einer.

Wäre ihr nicht so schwindelig von diesem seltsamen Geruch, sie hätte vielleicht besser ausmachen können, wie viele es waren.

Was war es denn? Lotus...

Er tauchte so schnell vor ihr auf, dass Paige die Hände nach vorn nahm und sich vor Ryon stellte, um ihn vor dem Mann abzuschirmen.

„Du...“

Reflexartig atmete sie durch den Mund, als sie den Magier erkannte. Die langen glänzend schwarzen Haare und die wallenden Gewänder. Sie schienen die Duftwolken, die von ihm ausgingen nur so vor ihm her zu schieben, als er zwei Schritte auf sie zumachte.

Er war noch so ... schön, wie sie ihn in Erinnerung hatte. Die geschwungenen Lippen, die ihr entgegen lächelten, ihren Blick einfingen und ihre Aufmerksamkeit brachen. Nur ein tiefer Atemzug und sie ließ die Hände sinken.

Es war schön, ihn wieder zu sehen. Sie hatte ihn doch vermisst, nicht wahr? Diesen sanften Duft von Lotus und Vanille, den sie gern auf ihrem gesamten Körper verteilt hätte...?

Ein Geräusch hinter ihr, auf das sie aber nicht reagierte. Ihre Kleider fielen in brennenden, rauchenden Fetzen von ihrer rot geschuppten Haut ab, als sie auf den lächelnden Mann zuging.

Die Worte, die sie so gern hörte, auf die sie gehofft hatte und die ihr Herz höher schlagen ließen, kamen über seine vollen, roten Lippen.

„Ich hab auf dich gewartet, Schönheit.“

Paige senkte den Kopf und sah unter ihren Wimpern hervor auf den Mann.

Schön? Ja, wenn er sie für schön hielt, dann war sie das bestimmt auch.

Sie lächelte und bemerkte im Augenwinkel eine Frau, die auf sie zukam. Auch sie trug ein verträumtes Lächeln vor sich her. Aber ansonsten hatte sie nicht viel am Leibe. Einen Umhang aus durchsichtigem, leichten Stoff. Bedruckt mit silbernen Sternen und Monden, die aber nicht einmal verbergen wollten, dass sie darunter vollkommen nackt war.

Auch von ihr ging ein Duft aus, als sie sich zu dem Mann gesellte und er seine Hand um ihre Hüfte schlang. Genauso wie er es bei einer zweiten Frau tat, die auf seiner anderen Seite aufgetaucht war.

Er hielt die beiden wenig bekleideten Damen in seinen Armen, raunte ihnen etwas ins Ohr, woraufhin sie an Paige vorbei gingen. Irgendwo hinter ihr verschwanden sie. Doch Paige interessierte sich keinen Deut dafür, wohin sie gingen. Denn weicher Duft hüllte sie ein, streichelte ihre Haut und ließ sie sogar an sich herab sehen, ob sie es mit den Augen wahrnehmen konnte.

Die Berührung seines magischen Geruchs machte sie süchtig nach mehr. Er hatte sie letztes Mal berühren wollen, nicht wahr? Würde er es diese Mal wieder tun?

Mit leisen, fast lautlosen Schritten kam er auf sie zu. Nur einen halben Meter ließ er zwischen ihren Körpern und Paige konnte seinen Schmuck an Ohren, Nase und Fingern funkeln sehen. In einem warmen Licht.

Er streckte die Hand nach ihr aus, was Paige gespannt die Luft einsaugen ließ. Sie biss sich in Erwartung auf die Unterlippe und sah ihm in die verschlingenden Augen. Seine Hand und sein Wesen waren mächtig genug ihre Flammen dort zu löschen, wo er sie berühren wollte. Sie hatte doch nur darauf gewartet, auf ihn gewartet.
 

So musste es sich anfühlen, wenn einem im Gehirn eine Ader platzte oder ein Schlaganfall mitten im Zentrum zuschlug.

Dieser schmerzhafte Stich verschwand jedoch so plötzlich, wie er heftig gewesen war. Dafür nahm Ryon in seinem vernebelten Bewusstsein einen eklig süßen Geruch wahr und dass etwas ihn an der Schulter rüttelte. Alle Alarmglocken wollten los schrillen, aber irgendwie kam er nicht recht in die Gänge.

Bildete er sich das nur ein, oder sagte da jemand seinen Namen?

Ryon versuchte die Augen aufzuschlagen, aber irgendwie schien er vergessen zu haben, wie es ging. Der eklige Duft wurde stärker und plötzlich spürte er Hitze auf seiner Haut. Zwar keine verbrennende Hitze, dafür aber sehr vertraut. Offenes Feuer…

Feuer!

Alarmiert wollte sein Körper hoch fahren, doch ein schmerzhaftes Stechen in seinen Hand- und Schultergelenken hielt ihn davon ab. Der Schmerz reichte dazu aus, den Nebel vor seinem Bewusstsein verschwinden und sich wieder selbst spüren zu lassen.

Er schlug die Augen auf und erstarrte.

Einen Moment begriff Ryon überhaupt nichts mehr, er konnte nur auf Paiges brennenden und zugleich vollkommen nackten Körper starren.

An ihr vorbei erkannte er eine schattenhafte Gestalt, konnte aber nicht erkennen, wer oder was es genau war, da Paiges Flammen im Gegensatz zu der Dämmerung um sie herum zu hell waren.

Als er sie bei ihrem Namen rufen wollte, bemerkte er nun auch den Knebel in seinem Mund, der seine Zunge sich pelzig anfühlen ließ, was ihm schließlich auch eine Erklärung dafür bot, weshalb er seine Hände nicht bewegen konnte. Seine Füße ebenfalls nicht, wenn er schon einmal dabei war. Man hatte ihn gefesselt und da wurde ihm plötzlich alles klar.

Der Teddybär. Magie. Eine Falle.

Sie saßen in einer Falle, aber wenigstens hatte man Paige nicht gefesselt, oder sie hatte sich durch ihre Fähigkeit befreien können. Aber warum stand sie dann einfach nur so da?

Ryons Augen weiteten sich, als er sah, dass sie es zuließ, wie die Gestalt näher an sie heran trat. Dadurch konnte er nun auch das Gesicht des Mannes erkennen.

Funkelnden Schmuck, ein charmantes Lächeln, beängstigende Augen und einen derart penetranten Gestank am Leib, das ihm davon fast übel wurde. Absolut widerlich süß.

Wie gebannt folgte er der Bewegung des Mannes, als dieser seine Hand nach Paige ausstreckte und sie schließlich berührte, ohne sich zu verbrennen. Paige ließ es einfach zu!

Spätestens das war der Zeitpunkt an dem er begriff, dass hier etwas ganz schön faul war, einmal von der beschissenen Lage abgesehen, in die er sich gerade befand.

Ryon begann zu kämpfen.

Gegen den Knebel im Mund konnte er nichts tun, da in dieser Form seine Zähne nicht scharf genug waren, um ihn durchzubeißen, aber dafür begann er sich am Boden zu winden, zerrte an den Fesseln, bis er glaubte, er würde sich jeden Moment die Schultern auskugeln, während er immer wieder Paiges Namen schrie, der natürlich nur gedämpft und unerkannt durch den Raum hallte.

Erst da er sich wie wild am Boden herum warf, erkannte er die beiden Gestalten, die dicht neben ihm standen und auf ihn herab sahen.

Frauen… Dürftig bekleidete Frauen. Aber die Symbole alleine auf ihren transparenten Roben genügten, um ihm die Ernsthaftigkeit der Lage klar zu machen. Das hier mussten Boudiccas Leute sein.

Doch gerade deshalb hätte er angenommen, dass Paige sich wehren würde. Doch sie tat nichts dergleichen, von ihren Flammen einmal abgesehen, die für den Kerl ohnehin kein Problem darzustellen schienen.

Verdammt, was war nur mit ihr los!?
 

Die Berührung war zart und sanft. Die Fingerspitzen des Mannes streichelten ihre Schulter hinauf, ihren Hals entlang und hoben schließlich ihr Kinn an, damit sie ihm weiter in die Augen sehen konnte, während er näher an sie heran trat. Noch berührte er sie nur am Kinn, aber ihr Körper sehnte sich dadurch nur noch mehr nach seinen Händen. Dass sie ihre Haut so umschmeicheln würden, wie es der Duft des Mannes immer noch tat. Sich um sie winden.

Mit amüsiertem Gesichtsausdruck blickte der Magier kurz über ihre Schulter auf etwas, das Paige hätte interessieren sollen. Dorthin waren auch die Frauen verschwunden. Und dort war auch irgendetwas. Das wusste sie zwar, aber sie hatte inzwischen vergessen, was es war. Konnte es denn etwas Wichtigeres geben, als denjenigen, der vor ihr stand?

Sie versuchte seinen Blick wieder zu erhaschen. Bettelte darum, wie ein anschmiegsames Hündchen, bis er ihr ihren Wunsch erfüllte. Erleichtert atmete sie aus und sog seinen Duft so tief ein, wie sie nur konnte.

Die rosa Wolken seines Lotushauchs drangen ihr direkt ins Gehirn und ließen sie wie auf Wolken schweben.

Seine Hand wanderte nur Millimeter von ihr entfernt über ihren Körper. Er zeichnete ihre Kurven nach, schob die Flammen zur Seite, die ihm im Weg waren. Und legte schließlich seine warme Handfläche auf ihren Hintern.

Paige stockte kurz der Atem, bevor er mit doppelter Geschwindigkeit wieder einsetzte. Ihr wurde heiß und doch kämpfte sie die Flammen hinunter. Nur für ihn. Damit er es leichter hatte. Endlich konnte er sie an sich ziehen, seine andere Hand in ihrem Nacken in ihr Haar graben und ihr den Kopf ein wenig nach hinten biegen.

Sie hatte nichts dagegen, dass seine Lippen ihren Hals streiften, noch dazu, da sie wusste, dass er dort nicht Halt machen würde. Konnte sie doch sein zufriedenes Lachen hören. So hoch und kalt, dass es nicht zu seinem Wesen passte.
 

Zuerst wurden seine Befreiungsversuche langsamer, schwächten dann ab, bis sie ganz erstarben.

Sein Atem kam bei jeder Berührung, die Paige von diesem Duftspender zu ließ, ins Stocken. Manchmal vergaß er sogar ganz, dass er Sauerstoff benötigte.

Als sie auch noch die Flammen zurück zog und der Kerl sie an sich zog, um an ihrem Hals zu knabbern, war er förmlich erstarrt. Allerdings konnte er auch nicht den Blick abwenden, nicht, nachdem dieser Typ ihn auf eine Weise in die Augen gesehen hatte, die er persönlich als nichts anderes als Triumph und Macht beschreiben würde.

War es das? War es Macht, die Paige so irrational handeln ließ? Aber wie?

Wenn er keinen Knebel im Mund hätte, er hätte diesem Wichser die Hand abgebissen, die da auf Paiges nacktem Hintern lag. Prüfend, streichelnd … es genießend. Zumindest sah es danach aus.

Ein eisiges Knistern jagte ihm die Wirbelsäule hinab, als er dieses überhebliche Lachen hörte, als wäre das alles hier äußerst amüsant. Ein Witz, den nur dieser Typ verstand.

Ryon wollte knurren. Er hatte keine Ahnung, warum gerade das, aber er wollte es tun. Dabei hätte dieser Kerl keine Vorwarnung verdient.

Ein dichtes Gewühl in seinem Magen wurde immer stärker und klauenbesetzter, je weiter dieser Hurensohn, sein Spiel mit Paige trieb. Fände er es nicht absolut absurd, dass sie bei diesem Akt auch noch vollkommen entzückt darüber zu sein schien, er hätte es fast geglaubt.

Ihr Duft war ahingehend inzwischen mehr als nur eindeutig. Was Ryon die Kiefer aufeinander pressen ließ, bis es weh tat.

Instinktiv wollte er seine Krallen ausfahren und den Bastard kastrieren, aber es geschah nichts. Seine Finger blieben normal, was ihn wirklich verblüffte.

Vor allem auch die Tatsache, dass er, zumindest wie er die Sache einschätzte, wesentlich wütender sein müsste. Allein schon wegen der Tatsache, dass er hier das Livepublikum spielen musste, ohne mitreden zu können. Tatsächlich war er noch immer ungewöhnlich ruhig, obwohl sein Körper ihm etwas anderes zu signalisieren versuchte.

Da Ryon eine Vermutung hatte, dass es mit seinem Tier zusammen hing, da er so wenig fühlte, da er das von selbst so gewollt hatte, kam er zu dem Schluss, dass er diese Farce nur beenden konnte, wenn er es heraus ließ. Allerdings rührte sich nichts. Selbst, als er es versuchte.

Die Raubkatze blieb stumm. Was ihn eigentlich in Panik versetzen müsste, allerdings schoss ihm nur das Adrenalin durch die Adern und brachte sein Herz zum Rasen. Ansonsten konnte er nur ausdruckslos der Szenerie vor sich zusehen, während sich sein Magen langsam in Blei verwandelte. Er wollte das nicht länger mitansehen!
 

Ihre Schuppen bäumten sich in einer Weise auf, die dem entsprach, was sie normalerweise in einer Situation wie dieser getan hätte. Ihre Panzerung gab sogar eine Art winziges Schaben von sich, als sie sich aufstellte, die einzelnen Schichten gegeneinander rieb, um die Hände auf ihr mit den scharfen Kanten zu vertreiben, die ansonsten nicht zu sehen waren.

Dadurch gab sie ihm allerdings auch Freiraum, ihre Schwächen auszunutzen. Seine langen Fingernägel schabten über ihr Schlüsselbein, während er Paige immer weiter nach hinten lehnte. Mit dem Nagel seines Zeigefingers hob er eine einzelne Schuppe an, riss sie aus und leckte über die Stelle, an der ein einzelner Tropfen Blut austrat.

Paige spürte das winzige Stechen durch ihren vernebelten Geist, hielt es aber für nebensächlich. Er wollte bestimmt nur an ihr Inneres heran. An ihre weiche Seite, die noch mehr von ihm berührt werden wollte, als der Rest von ihr.

Ihre Arme fielen kraftlos nach hinten, als der Mann eine Hand um ihre Hüfte schlang und sie mit der anderen zur Seite drehte. Er hob sie hoch wie eine Puppe und trug sie über ein paar Stufen zu einem Podest hinauf, wo er sie ablegte.

Die Kälte an ihrem Rücken ließ sie ein wenig von dem Dunst um ihren Kopf verlieren. Kurz bäumte sie sich gegen seine Hände auf, sah mit wachen Augen um sich, ließ sogar ihre Fingerspitzen aufflammen und steckte seinen Ärmel in Brand.

Auf einmal wirkte der Mann verärgert. Seine glatten Gesichtszüge wurden zu einer grausamen Maske und eine Waffe blitzte in seiner Hand auf.

Aber dann war da wieder der süße, verlockende Duft, der sie einhüllte. Der dafür sorgte, dass sie sich nicht dagegen wehrte, als die beiden Frauen sie an dem Steintisch festbanden.

Wo sie so schnell hergekommen waren, interessierte Paige nicht einmal. Denn sie waren so schnell wieder verschwunden, wie sie gekommen waren. Allein der Mann blieb in ihrem Blickfeld, lehnte sich zu ihr hinab und fuhr mit der stumpfen Seite seines Dolches an ihrer Hüfte entlang. Über jede Schuppenreihe ließ er die Spitze der Waffe klicken, bis er ihren Oberschenkel erreicht hatte.

Dabei hatte er sich so weit über sie gelehnt, dass er ihren Bauch küssen konnte. Nur einmal, kurz über ihrem Bauchnabel. Paige spürte es kaum. Sie spürte so gut wie gar nichts mehr. Der berauschende Duft ließ sie sich wie Watte fühlen, sich in einer rosa Welt verlieren. Ihre Augen wurden starr, obwohl sie noch alles mitbekam. Allerdings war es so, als könne sie von einer Position außerhalb auf sich selbst und den Mann blicken.

Und auf jemand anderen. Ihr Kopf war zur Seite gefallen, was ihren Blick den Gang hinunter schickte. Paige blinzelte und öffnete die Lippen. Aber kein einziger Laut entkam ihr, während der Dolch eine ihrer Schuppen aus ihrem Panzer brach und sich in die Haut darunter bohrte. Ein weiterer Kuss auf ihren Hüftknochen und die Paige, die neben sich stand, auf sich selbst herabblickte ... schloss die Augen.
 

Je länger er diesen Anblick ertragen musste, umso klarer wurde ihm bewusst, dass das nicht die Paige war, die er kennen gelernt hatte. Sie rührte sich nicht, sie sagte nichts. Sie war einfach total wie ausgewechselt. Lediglich ihre Schuppen schienen noch irgendwie bei klarem Verstand zu sein, denn sie versuchten sich gegen die Hände zu verteidigen. Zumindest sah es so aus.

Ryon zuckte zusammen, als der Kerl ihr einfach so eine davon heraus riss, nur um anschließend etwas Blut von ihr ablecken zu können. Paige hatte noch nicht einmal darauf reagiert, was er absolut nicht nachvollziehen konnte. Wenn man ihm so etwas festgewachsenes, wie eine Schuppe heraus reißen würde, mochte sie noch so klein sein, dann sah er das als Bedrohung an. Vor allem, wenn er sich in so einer Situation wie dieser hier befände.

Er stieß ein Schnauben aus, während sein ganzer Körper zu beben anfing. Die elektrisierende Anspannung züngelte schnell in ihm hoch, da er sich nicht bewegen konnte, aber deutlich spürte, wie gerne er diesem Mann den Hals umgedreht hätte. Erst recht, als er Paige hoch hob und sie nun deutlich Ähnlichkeit mit einer völlig willenlosen Puppe aufwies.

Macht. Der Kerl hatte Macht über sie. Nutzte diese, um ihren Verstand zu versklaven und ihrem Körper zu schaden. Warum er das tat, war Ryon ein Rätsel. Wollten sie nicht eigentlich das Amulett? Auch Forderungen waren bisher keine gestellt worden, doch im Grunde war es auch nicht nötig.

Warum auch immer sie hier waren, das, was dieser Mistkerl Paige antat, befriedigte wohl nur dessen Sadismus und schürte zugleich Ryons Wut in immer stärkerem Maße.

Als man sie auf einem steinernen Altar festband, sie schutzlos auslieferte und dieser Abschaum dann auch noch ein Messer zückte, begann er so wild zu kämpfen, dass er sich nun tatsächlich die Schulter zerrte, doch das war ihm egal. Er wollte den Kerl umbringen.

Paiges Verstand zu versklaven, mit ihrem Körper nach Belieben zu verfahren und dabei auch noch keinerlei Skrupel zu kennen, das war einfach zu viel.

Doch es waren ihre Augen und stummen Worte, die seine Bestie von den Ketten befreiten, die Ryon ihr selbst auferlegt hatte.

Brüllend und um sich schlagend, kämpfte sie sich an die Oberfläche seines Bewusstseins.

Ryon hielt sie nicht zurück.

Seine Krallen fuhren endlich aus, doch waren seine Hände so ungeschickt gefesselt, dass sie keinerlei Wirkung erzielten, außer, dass er sich selbst damit verletzte und blutig kratzte. Dennoch kämpfte er weiter. Wand sich in dem schmutzigen Gang auf den Altar zu, ohne groß Wirkung dabei zu erzielen, doch wenigstens schaffte er es, sich den Knebel abzustreifen, so dass er den Bastard endlich anbrüllen konnte, was er dann auch ohne mit dem Ziehen und Zerren aufzuhören, auch ohne Umschweife tat.

„Fass sie nicht an, du Drecksack‼“, schrie er. Doch es war schon zu spät. Der Fremde hatte bereits weitere Schuppen von Paiges Körper gebrochen und begann ohne zu zögern die empfindliche Haut darunter zu verletzen.

Es war keine Frage des Gewissens mehr, ob er sein Tier nun vollkommen frei lassen sollte, oder irgendwie etwas anderes zu seiner Befreiung suchen musste.

Zwar hatte Ryon sich geschworen, nie wieder seine andere Seite heraus zu lassen, aber andererseits konnte er nicht länger mit ansehen, wie man diese wehrlose Frau vor seinen Augen verstümmelte. Sein Tier konnte das noch weniger.

Der Schmerz, der mit einem Mal seinen Körper durchfuhr, war so vertraut und willkommen, wie ein alter Freund, den man nach jahrelanger Trennung endlich wieder traf. Ryon begrüßte ihn, förderte ihn zusätzlich mit seinem Willen, bis er spürte, wie seine Knochen, seine Haut, die Muskeln und Sehnen sich veränderten.

Seine Schultern schmerzten nicht nur wegen der Verwandlung, sondern auch da sich sein ganzer Körper auf einmal veränderte und somit seine menschliche Anatomie zu dem einer Raubkatze wurde, was ihm beinahe wirklich die Schultern ausgekugelt hätte, da seine Hände noch immer auf dem Rücken gefesselt waren. Doch noch ehe er zu Schaden kam, schlüpften seine Pfoten durch die Seile hindurch, die ihn eben noch gefangen hielten. Mit seinen Beinen, war es das Gleiche.

Stoff zerriss, Fell in der Farbe seiner Haare sprießte, Knochen barsten und setzten sich wieder neu zusammen.

Sein Rückgrat verlängerte sich, wurde zu einem langen, hin und her zuckenden Schwanz, der rasch einen warmen, gestreiften Pelz bekam, so wie der Rest seines vollkommen veränderten Körpers.

Als die Verwandlung, abgeschlossen war, stand Ryon auf, schüttelte sich noch den Rest, seiner zerfetzten Kleidung ab, ohne sein Ziel aus den Augen zu lassen und kam langsam auf vier Pfoten auf den Altar zu.

Seine Krallen schabten über den Steinfußboden. Hinterließen Furchen darin. Sein Schwanz peitschte aggressiv durch die Luft, während seine Ohren fast flach an seinem leicht gebeugten Kopf anlagen. Aus seiner Kehle und dem muskulösen Brustkorb drang ein tiefes Grollen. Das goldene Amulett, das er immer noch um den Hals trug, erzitterte unter der intensiven Vibration.

Seine Lefzen zogen sich zurück und offenbarten eine Reihe tödlicher Zähne, die einem Skalpell in seiner Präzession und Schärfe in Nichts nach standen.

Der Tiger war bereit zu töten, wenn dieser Frau auch nur noch eine einzige Schuppe gekrümmt wurde. Darauf konnte sich dieser ekelhafte Duftspender verlassen!
 

Es war reiner Überlebensinstikt ihres Körpers, dass sich ihre Muskeln anspannten und versuchten sich dem Stechen an ihrem Oberschenkel zu entziehen. Paiges Geist bekam durchaus mit, dass man ihr Schmerzen zufügte. Dass es nicht nur Druck war, den man auf die bereits wunde, kaputte Haut unter ihren Schuppen ausübte.

Je mehr ihrer Panzerung er herausbrach, desto einfacher wurde es für ihn. Wenn er wollte, konnte er sie entschuppen wie einen toten Fisch. Auch wenn sie vom Tod noch um Einiges entfernt war. Wäre es anders gewesen, hätte sie ihre Zähne nicht zusammen gebissen, wäre auf der kalten Steinplatte nicht hinauf und so weit von dem Dolch weggerutscht, wie sie konnte.

Aber andererseits... Er musste seine Gründe dafür haben. Der Mann mit den dunklen Haaren, die über sie strichen, als er sich ein wenig aufrichtete, lächelte immer noch. Paige hatte den Kopf wieder gedreht, um ihm in die Augen sehen zu können. So schöne Augen. Nein, bestimmt wollte er ihr nicht wehtun. Oder er musste. Ja, das war es. Er war dazu gezwungen ihr die Schuppen abzubrechen. Weil es besser für sie war...

Im nächsten Moment, als der Mann sich gerade wieder über sie lehnen wollte, die Dolchspitze bereits auf ihrem Bauch abgestützt, hörte sie zwei Dinge gleichzeitig. Eines hörte sich an wie Donnergrollen, das durch den gesamten Raum geworfen wurde. Es hallte von jeder Wand und aus jedem Winkel wider, bevor es sich mit einem hohen, kreischenden Aufschrei vermischte.

Die Spitze des Dolches rutschte an ihr ab, blieb hängen und hinterließ einen langen Schnitt ihre Seite hinunter, der Paige zusammen fahren ließ.

Sie konnte spüren, wie ihr Körper zitterte, als sie versuchte den Kopf zu heben.

Der Magier stand da, die Augen geweitet, den Mund geöffnet, sodass er den Blick auf spitze, angefeilte Zähne frei gab. In seinem Gesicht spiegelte sich Entsetzen. Und noch etwas Anderes passierte. Der Duft veränderte sich, wurde säuerlich und schmeckte auf Paiges Zunge gar nicht mehr angenehm.

"Du!"

Der Mann zog die Spitze der Klinge aus Paiges Haut, wobei er ein paar Schuppen mit sich riss und deutete den Gang hinunter. Die Klinge zitterte leicht.

"Aber... Aber sie hat mir versichert... Sie sagte du könntest nicht..."

Die Stimme des Magiers wurde schrill. Er sah so aus, als hätte er soeben einen Geist gesehen.

"Die Meisterin sagte, ich könne sie haben! Du darfst sie mir nicht wegnehmen!"

Mit zitternden Fingern und fahrigen Bewegungen stach der Mann den scharfen Dolch in Paiges Fesseln, zerrte sie hoch an seine Brust, so dass sie vor ihm saß wie ein Schutzschild. Ihr Atem ging schnell, als er ihr die Klinge an die Kehle hielt. Endlich begann ihr Körper in dem Maße zu schmerzen, wie es normal war.

Und der Gestank war unerträglich. Sauer und chemisch legte er sich auf Paiges Zunge, nahm ihr die Luft zum Atmen und lähmte sie immer noch, während sie im Inneren ihres eigenen Körpers versuchte aus dem Nebel seiner Hypnose zu finden. Es war nicht leicht. Immer wieder schob sich rosa Dunst vor ihre Augen und versperrte ihr die Sicht.

Nur hohes, nervöses Lachen konnte sie hören und gesprochene Worte in einer panisch, zischelnden Stimmlage, die ihre verbliebenen Schuppen wieder dazu brachte, sich widerstrebend aufzustellen.

"Sie hat es mir versprochen. Wenn ich dich fange und hier lasse. Für sie. Dann... Dann darf ich die Frau behalten."

Paige sackte ein wenig zusammen, als der Magier seinen Griff um sie löste und ihr stattdessen über den Hals und die Wange streichelte.

Seine Hand rutschte tiefer und Paige hätte sich am liebsten übergeben. Sie wollte hier raus, wollte diesem Gestank nicht ausgesetzt sein und seine Finger endlich von ihrer Haut bekommen. Aber sie konnte nicht, allein schaffte sie es einfach nicht.

"Ja, sie hat es versprochen. Und sie lügt nie! Also... Lass' mich in Ruhe. Geh. Geh weg."

Ein weiterer quietschender Schrei so nah an ihrem Ohr, dass es ihr beinahe das Trommelfell sprengte.

Er ließ sie fallen. Auf die Seite gedreht und mit offenen Augen landete sie auf dem Steintisch. Und blieb einfach liegen. Unfähig, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen.
 

Ryons Miene verzog sich zu einer unheilverkündendem Maske purer Mordlust, als er dem Mann zu hörte, wie er über Paige sprach, als wäre sie nur ein Ding und hätte kein Mitspracherecht. Es sah aber leider auch ganz so danach aus, dass sie im Augenblick wirklich nicht sehr viel mitreden konnte, obwohl schon etwas mehr in ihren Augen zu sehen war. Vielleicht Widerwillen?

Das war zumindest ein Anfang, allerdings wäre es trotzdem sehr hilfreich, wenn er sie aus der Schusslinie wüsste. Sie hatte zwar Schuppen, aber da dieser Bastard sie ihr auch so einfach heraus reißen konnte, schützten sie wohl nicht so gut, wie er gehofft hatte. Feuer wäre vielleicht etwas anderes, aber sie brannte nicht.

Außerdem war sie verletzt. Nicht schwer, soweit er das erkennen konnte, aber dennoch blutete sie.

Zusammen mit diesem ekelhaften Gestank, der ihm nun förmlich in der Nase brannte, roch er auch den metallischen Geschmack ihres Blutes. Es war ein so viel angenehmerer Geruch, als der des Mannes. Dennoch wollte er nicht, dass sie blutete. Der Kerl hatte ihr weh getan!

Langsam, lauernd und mit gewetzten Krallen, kam er näher an die beiden heran. Sein Knurren wurde tiefer, wütender, während er die Zähne fletschte, dabei aber nicht den Dolch an Paiges Kehle aus den Augen ließ. Bis der Hurensohn den Fehler machte und sie lieber betatschte, als sie zu bedrohen. Allerdings mit der deutlichen Voraussicht, was passieren würde, wenn niemand sie von diesem Bastard befreite.

Ein wahres Inferno brach in Ryons Brustkorb bei diesem Anblick aus. Er war in diesem Augenblick weit über Zorn hinaus. Denn seine eigene Passion schien ihn wieder einzuholen.

Nicht noch eine Frau. Nicht noch ein Leben. Nicht noch einmal nur wegen ihm!

Doch dieses Mal würde er es verhindern. Das war ein Feind gegen den er ankämpfen konnte. Er hatte ein Ziel vor Augen, dass er schmecken, berühren und töten konnte und bei allem was er bereits in seinem Leben verloren hatte. Er würde den Kerl umbringen!

Mit einem gewaltigen Satz, stieß sich Ryon vom Boden ab, sprang über den Steinaltar und der darauf vor Schreck fallen gelassenen Paige hinweg und rammte förmlich den Körper des anderen Mannes. So dass sie beide zu Boden gingen. Er über seiner Beute.

Noch während des Falls hatte Ryon nach der Hand des anderen geschnappt, die den Dolch fest hielt, ihn nun aber fallen ließ, da Muskeln und Sehnen ihren Dienst versagten, als er sie durchtrennte. Allerdings kam er nicht dazu, ihm die Hand abzubeißen, weil er trotz allem durchaus Vorsicht zeigte und nicht den Fehler machen würde, seinen Feind aus den Augen zu lassen.

Stattdessen grub er dem Magier die Krallen in den Brustkorb. Heißes Blut lief über seine Pranken, war aber kein Anzeichen dafür, dass er irgendeinen tödlichen Treffer gelandet hätte.

Die Rippenbögen des Mannes schützten seine wichtigsten Organe davor, einfach zerfetzt zu werden, aber es musste auch so schmerzhaft genug sein. Und leiden sollte er. So viel und lange wie möglich.

Allerdings war der Typ nicht dumm. Instinktiv versuchte er Ryon abzuschütteln, in dem er nach ihm trat und sich unter ihm wand, um ihn herunter zu bekommen. Die angespannten Muskeln unter seinem Fell schützten ihn relativ gut vor den Angriffen, bis Ryon einen äußerst schmerzhaften Kniestoß von unten in die relativ ungeschützte Magengegend bekam.

Nach Luft schnappend, sprang er zur Seite, kämpfte einen Augenblick lang mit seiner schwarz gewordenen Sicht und der Übelkeit, die sich bereits brennend seine Kehle hoch kämpfen wollte. Doch er fing sich relativ schnell wieder.

Als er sich allerdings wieder auf seinen Feind stürzen wollte, war da nur noch ein dunkelroter Blutfleck auf dem Boden. Der Kerl war einfach verschwunden.

Von den beiden Frauen hatte er auch schon lange nichts mehr gesehen, trotzdem prüfte Ryon witternd die Luft, sah sich genau um, ließ keine dunkle Ecke oder finsteren Winkel aus, bis er sich sicher sein konnte, dass er mit Paige alleine war.

Auch der sich auflösende Gestank des Mannes zeugte von dessen Abwesenheit.

Wütend schnaubte und knurrte er leise vor sich hin, da ihm dieser Bastard entwischt war, allerdings beruhigte er sich schnell wieder, als er zu Paige hinüber ging, um nach ihr zu sehen.
 

Immer noch wie in Watte gepackt, die sie mit jedem Blinzeln von ihrem gewirrten Geist zupfen musste, lag Paige da. Allmählich nahm sie klarer wahr, was hinter ihrem Rücken passierte und sich in lautem Knurren und Schmerzenslauten äußerte. Jemand kämpfte.

Als sie den Laut eines verletzten Tieres hörte, schrak sie zusammen und war endgültig wach. In verschiedenen Winkeln des großen Raumes konnte sie wieder das Rascheln von Stoffen hören. Gerade so, als wäre der Träger gleichzeitig überall und nirgends. So müde und dumpf, wie ihr Körper sich anfühlte, war es ihr aber auch herzlich egal, wohin der Magier und seine beiden Handpuppen verschwunden waren.

Als sie sich mit beiden Händen ein wenig hochdrückte, fuhr ihr der Schmerz gleichzeitig in die Seite und die anderen Stellen, die von der Klinge verletzt worden waren. Zwar waren ihre Schuppen unempfindlicher als ihre menschliche Haut, aber dennoch konnte sie das Blut spüren, das ihr aus den Wunden lief.

Langsam und mit größter Vorsicht setzte sie sich auf. Zuerst seitlich, um sich den Oberschenkel ansehen zu können. Der Kerl hatte mit ihren Schuppen kurzen Prozess gemacht. Einige steckten noch halb in der Haut und schmerzten mehr als diejenigen, die völlig heraus gebrochen worden waren.

Mit dem Daumen fuhr sie eine bloße Reihe weicher Haut entlang, die rot war von den Strapazen, aber nicht blutete.

Paige merkte kaum, wie sehr ihr Körper unter der Tatsache zitterte, dass man ihr weh getan hatte. Dass man ihre Panzerung und vor allem ihren Geist hatte so leicht brechen können.

Auf der Seite, von der sie ein Schnauben hörte, rutschte sie rücklings von dem Altar herunter und blieb mit angewinkelten Beinen sitzen.

Noch nie war sie sich in ihrer dämonischen Form so nackt vorgekommen. Noch nie so wehrlos und verletzlich.

Ihre Ohren zuckten leicht bei jedem Klackern von Krallen auf dem Steinboden, das allmählich näher kam.

Paiges Sicht verschwamm, als er bloß noch einen halben Meter von ihr entfernt war. Zwei Kräfte zerrten an ihr, aber sie wusste schon bevor sie ihm kurz in die Augen sah, welche der beiden gewinnen würde.

Ihre Arme schlangen sich um seinen Hals, ihre Finger gruben sich fest in sein dichtes, weiches Fell, in das sie auch ihr Gesicht vergrub. Paige wollte nicht, dass er sie so sah.

Immer noch so nackt und bloß gestellt, aber genauso wenig, wollte sie, dass er weg ging. Lieber weinte sie in seinen Pelz, drückte ihren zitternden Körper an seine Seite und versuchte ihre Verletzungen nicht zu spüren.
 

Ryon näherte sich Paige langsam und vorsichtig. Sie wusste zwar, dass er ein Gestaltwandler war und vermutlich auch, dass es sich hierbei um eine Raubkatzenart handeln könnte, aber der Unterschied zwischen einem sibirischen Tiger und einem Ozelot war genauso groß, wie der zwischen Tag und Nacht. Außerdem war es etwas anderes, Dinge zu wissen und Dinge mit eigenen Augen zu sehen.

Doch ein Blick in ihre Augen, auf ihren nackten, zerschundenen Leib, der so schutzlos an einem kalten Stein lehnte und er überbrückte auch die letzte Distanz zwischen ihnen.

Er wollte nur sehen, ob es ihr gut ging. Doch Paige überraschte ihn damit, dass sich plötzlich ihre Finger in seinem Fell vergruben, ihr zitternder Körper sich an den seinen presste und sie ihr Gesicht an seinem Hals verbarg. Und er hörte sie schluchzen.

Sein Herz, das immer noch vom Kampf stark in seiner Brust hämmerte, beruhigte sich daraufhin kein bisschen. Er fühlte eine Welle von Bedürfnissen, die er sich in menschlicher Form niemals gestattet hätte, denen er aber als Tier ohne zu zögern nachgeben konnte.

Er setzte sich zu ihr, legte in einer nur allzu menschlichen Geste seine Pfote um ihre Taille und zog sie mit sanftem Schub näher an sich heran. Immerhin musste sie frieren, da sie nicht einmal Kleider am Leib trug, die ihre Wärme hätten halten können.

Während er seinen massigen Kopf an sie schmiegte, verschwendete er keine sinnlosen Gedanken daran, was er eigentlich hier tat. Es brachte nichts. Stattdessen fing er zu schnurren an und begann sie mit Worten zu trösten. Worten die sich in seiner Lage als leise gurrende Laute äußerten, die wie ein sanft vor sich hin gurgelnder Fluss, ebenso einlullend waren.

Paige war, zumindest im Augenblick, in Sicherheit. Es ging ihr den Umständen entsprechend gut und bevor sie sich nicht wieder so weit im Griff hatte, dass er sich von ihr lösen und ihre Verletzungen versorgen konnte, würde er auch nicht von ihrer Seite weichen. Sein Beschützerinstinkt verbot es ihm.
 

Bevor sie ihn auch nur annähernd loslassen konnte, schlang sie ihre Arme noch einmal fester um einen Hals und schmiegte ihren Kopf an seinen. Paige hatte schon mit Gestaltwandlern zu tun gehabt. Sogar schon mit anderen Felidae, weshalb sie wusste, dass er es nicht zu persönlich auffassen würde.

In seiner jetzigen Gestalt würde er ihre Nähe nicht als Aufdringlichkeit oder irgendwelches Signal verstehen, sondern einfach nur als Körperkontakt, weil sie sich bei ihm bedanken wollte.

Deshalb sah sie ihm auch in die goldenen Augen, als sie sich schließlich zurück zog und lächelte ihn an, obwohl ihr immer noch einige Tränen still die Wangen hinunter liefen.

Über seinen Nasenrücken, der fast genauso breit war wie ihre Hand, streichelte sie seinen Kopf hinauf, kraulte eines seiner Ohren und versuchte sich so schnell es ging wieder zu fangen. Denn auch wenn sie in der Hypnose dieses Kerls nichts für wichtig erachtet hatte, waren ihr doch seine Worte nicht entgangen.

"Wir sollten so schnell wie möglich hier verschwinden."

Während ihre Hand noch auf seinem Kopf lag und ihn weiter streichelte, sah sie sich nach dem nahegelegensten Fluchtweg um. Der Magier hatte davon gesprochen, dass seine Meisterin hier auftauchen wollte, um sich Ryon persönlich vorzunehmen. Dann sollten sie auf keinen Fall mehr hier sein.

Mit einer nebensächlichen Geste wischte Paige sich die Wangen mit dem Handrücken trocken und sah dann dem Tiger wieder ins Gesicht. Es fiel ihr so viel leichter in dieser Form mit ihm zu sprechen. Gerade weil sie Empfindungen hinter der goldenen Iris sehen konnte.

"Keine Ahnung, wie weit wir vom Auto entfernt sind. Egal ob wir so oder als normale, nackte Menschen auf die Straße gehen..." Sie sah an sich herab und wischte ein wenig Blut von ihrer schmerzenden Seite.

"Wir werden ganz schön auffallen."
 

Am liebsten hätte er sich auf den Rücken geworfen und sich von Paige den Bauch kraulen lasen. Denn das Streicheln über seinen Nasenrücken machte so derart süchtig, dass es schwer fiel, an weitere Gefahren zu denken. Aber genau das mussten sie. Sie mussten so schnell wie möglich von hier verschwinden.

Also schnaubte er bestätigend auf ihre Worte hin, bevor er sich ihrer Berührung entzog.

Er würde das Gefühl vermissen, die Erinnerung daran behalten, denn sie war so viel deutlicher und näher, als die verblassenden Erinnerungen in seinem Kopf. Manchmal hatte er sogar Schwierigkeiten, sich überhaupt an etwas deutlich zu erinnern, das ihm früher behagt hatte. Meistens tat es heute nur noch weh, daran zu denken. Aber das eben, das war unbelastet. Ryon wusste es zu schätzen.

Nachdem er sicher war, dass Paige sich wieder beruhigt hatte, stand er wieder auf und schlich lautlos zu seinen Sachen hinüber. Selbst als Putzfetzen würde er seine Kleider nicht mehr verwenden, aber so wie es aussah, würde seine Hose ihn noch halbwegs bedecken. Als Tier war er nicht so breit, wie als Mann. Allerdings hatten seine Krallen die Hosenbeine fast bis zu den Oberschenkeln hinauf zerfetzt. Trotzdem. Es war besser, als nackt in der Gegend herum zu laufen. Außerdem mussten hier irgendwo seine Autoschlüssel sein.

Ryon warf einen kurzen Blick zu Paige hinüber, ehe er die Überreste seiner Hose ins Maul nahm und sich hinter mehreren halb zerfallenen Kirchenbänken zurück zog, um sich zu wandeln.

Sein Handeln machte deutlich, dass er eine Eigenschaft der Wandler nicht teilte. Er lief nicht gerne nackt vor anderen Menschen herum. Weshalb er das hier mehr für sich, als auf Rücksicht vor Paiges Schamgefühl tat. Obwohl sie auch nichts am Leib außer ihren Schuppen trug und somit keiner benachteiligt wäre.

Wie erwartet, war die Hose so ziemlich hinüber, aber es reichte für das Nötigste und die Autoschlüssel befanden sich auch noch immer in seiner Hosentasche. Was ein glücklicher Umstand war. Sonst hätte er die Scheibe seines Wagens einschlagen müssen, um an sein Handy zu kommen, damit Tyler sie abholen kam. So aber, wäre ein Problem gelöst. Auch wenn er seinen Wagen für eine ganze Weile stehen lassen musste.

Nachdem er halbwegs bedeckt war, ging er noch einmal zu dem Platz zurück, wo er auch seine Fesseln los geworden war und hob sein Hemd auf. Keiner der Knöpfe war mehr aufzufinden, die Ärmel waren zerrissen und der restliche Stoff sah auch sehr angeschlagen aus. Aber besser als nichts.

„Hier, Paige.“, er reichte ihr sein Hemd, ohne sie direkt anzusehen, stattdessen musterte er seine Umgebung.

„Ich bin mir zwar nicht ganz sicher, aber wenn ich mich nicht irre, dann ist das die zerfallene Kirche drei Blocks von der Parkgarage entfernt, wo mein Wagen steht.“

Es hätte ihn auch gewundert, wenn ihre Entführer eine noch weitere Strecke mit ihnen zurück gelegt hätten. Das war auch so schon ein ziemlich öffentliches Unterfangen gewesen.

Geistes abwesend, legte er die Hand auf seinen nackten Bauch. Sein Magen schmerzte immer noch, aber das war nicht weiter schlimm.

„Wenn wir das Licht der Straßenlaternen meiden und auf mögliche Spaziergänger um diese Uhrzeit achten, könnten wir es vielleicht sogar ungesehen schaffen.“

Seinem tierischen Zeitgefühl nach, war es nämlich schon weit nach Mitternacht. Also relativ ruhig in den Straßen.
 

Paige stand auf, nachdem Ryon hinter dem Altar verschwunden war. Ihre Seite schmerzte wirklich ziemlich stark.

Da der Kerl ihre Panzerung an mehreren Stellen zerstört hatte, würde es schwierig werden, ihre dämonische Seite zurück zu ziehen.

Vorsichtig zog sie sich an dem Steintisch auf die Füße und hielt sich an der Kante fest. Zuerst einmal ließ sie die Schuppen an den unversehrten Stellen verschwinden. Im Gesicht und an den Beinen und Armen. Bereits der Oberschenkel war schwierig. Aber nichts gegen den Schnitt, der unter ihrem Rippenbogen entlang führte.

Paige schlug die flache Hand auf die Stelle und zog zischend die Luft ein. Na, dann würde sie es eben sein lassen. Die roten Schuppen blieben an der Kante der Wunde stehen und umrahmen sie wie ein seltsames Gemälde.

Erst als Ryon sein Hemd aufgehoben hatte und es ihr entgegen hielt, kam sie hinter der massiven Tischplatte vor und schnappte sich das ziemlich ramponierte Stück Stoff. Selbst wenn sie es vorn zuhielt, bedeckte es nur sehr dürftig, was bedeckt gehörte. Aber selbst nach einem suchenden Blick, fand sie nicht viel Besseres. Ihre eigenen Kleider waren nicht mehr als ein paar verkohlte Fetzen und winzige Häufchen Asche auf dem Boden.

Sie nickte Ryon, der sie auch nur notdürftig hatte bedecken können, knapp zu. "Dann schnell."

23. Kapitel

Ryon hatte keinerlei Skrupel besessen, seinen Freund und Arzt aus dem Bett zu holen, damit er sich um Paiges Verletzungen kümmern konnte. Er selbst, zog sich in sein Badezimmer zurück, nachdem er seine Begleiterin nun wieder in sicheren Händen wusste.

Er musste sich unbedingt das Blut abwaschen. Selbst jetzt noch, schmeckte er den metallischen Geschmack im Mund und so wie Tennessey ihn angesehen hatte, war ihm wohl auch noch etwas davon am Mundwinkel hängen geblieben. Von seinen Händen ganz zu schweigen. So eine Sauerei kam heraus, wenn er einmal einen Tag lang an nichts Böses dachte. Zum Glück hatte man ihn erst angegriffen, als die Kinder schon verschwunden gewesen waren. Dennoch, die Sache mit dem Teddybären war ganz und gar geplant gewesen. Immerhin war er nicht der Typ, der alles und jeden vom Boden aufhob, das seinen Weg kreuzte.

Schon wieder nackt, aber dieses Mal alleine, stieg er unter den heißen Wasserstrahl der Dusche und spülte sich erst einmal den Mund gründlich aus. Bis er nichts mehr von diesem Bastard schmecken konnte. Allerdings war er sich nicht so sicher, ob er den penetranten Geruch jemals wieder vollständig aus der Nase bekommen würde.

Eine Weile stand Ryon einfach nur so da und starrte ins Leere, während das heiße Wasser den Rest übernahm.

Er fragte sich, was heute mit Paige passiert war. Wie hatte der Mann sie so manipulieren und verletzen können, ohne dass sie sich dagegen wehrte? Anfangs hatte es sogar den Anschein gehabt, als hätte sie sich zu dem Kerl hingezogen gefühlt. Vollkommen absurd, aber der Eindruck war da gewesen.

Wenn er die Augen schloss, fielen ihm auch wieder andere Dinge von dieser Nacht ein. Wie sich ihre Hände um seinen Hals geschlungen hatte. Ihr Schluchzen, das Zittern ihres Körpers.

Bisher hatte Ryon Paige noch nie weinen gesehen und auch wenn er sie für keine harte Frau hielt, so hatte er doch erkennen können, dass auch starke Frauen durchaus Trost brauchten. Allerdings war das eine einmalige Sache gewesen. Das schien auch sein Tier zu wissen, denn es gab Ruhe. Drängte sich ihm nicht auf, sondern hatte sich von selbst wieder zurück gezogen und zugleich die Gefühle mit genommen, die das Streicheln bei ihm ausgelöst hatte. Als würde das Tier sie nur für sich alleine haben wollen und dort, in der Verbannung an diesem dunklen Ort daran zehren und sie pflegen.
 

"Es tut mir leid, Paige. Aber jemanden wie dich habe ich noch nie behandelt."

Paige zuckte nur leicht, als Tennessey mit einer Pinzette eine ihrer Schuppen leicht anhob, um zu sehen, wie fest sie noch saß.

"Schon ok, Doc... Autsch, die ist noch dran."

Nach einer Weile ging er dazu über die Verletzungen mit Tupfern und ein wenig Alkohol zu desinfizieren. Selbst der Schnitt an ihrer Seite musste nicht genäht werden. Die einzige Gefahr war, dass sich die abgebrochenen Schuppen unter der menschlichen Haut entzünden würde.

"Und? Willst nicht wissen, was passiert ist?"

Paige drehte den Kopf, um den Arzt anzusehen, der in einem weißen Hemd über ihr lehnte und gerade einen frischen Tupfer beträufelte.
 

„Hm… Lass mich raten. Ihr seid angegriffen worden. Dich hat es ganz schön erwischt und unser Katerchen hat das Unvorstellbare getan und seit langem Mal wieder seinen Pelz übergestreift. Liege ich soweit richtig?“

Tennessey hatte genau das Blut um Ryons Mund gesehen.

Als Mann würde er niemals jemanden beißen, aber als Tier sah die Sache schon ganz anders aus.

Der Arzt tupfte vorsichtig die verletzten Schuppen und die Wundränder ab. Hoffentlich reichte das aus, um keine Entzündung aufkommen zu lassen. Aber er hatte für solche Fälle immer Antibiotika im Haus. Die Frage war nur, in welcher Menge er sie Paige verabreichen sollte. Dort, wo Ryon mit seinem schnell verbrennenden Stoffwechsel fast die dreifache Dosis brauchte, könnte ein Wesen wie Paige nur die Hälfte von der üblichen Menge vertragen. Nun, falls es wirklich so weit kam, würde er einfach klein anfangen.

„Erzähl mir, waren es die Leute, vor denen wir uns hier im Haus verstecken?“
 

Paige stemmte sich trotz Protest ihrer verletzten Seite auf die Ellenbogen hoch, um den Arzt gerade heraus ansehen zu können. Seine Antwort hörte sich seltsam an. Nicht sicher, ob sie es als Angriff oder doch etwas anderes werten sollte, kräuselte Paige die Stirn und ließ sich jedes Wort noch einmal auf der Zunge zergehen. Dennoch wurde sie nicht schlau aus dem Seitenhieb, den ihr Tennessey verpasst hatte.

Noch nie hatte Paige so etwas auf sich beruhen lassen. Immerhin konnten die meisten Dinge gleich aus dem Weg geräumt werden, ohne dass sie sich zu einem Streit ausweiteten, wenn man nur früh genug darüber sprach.

"Warum hört es sich giftig an, wenn du das sagen? Haltest du es denn für... falsch? Dass er sich verwandelt und mich gerettet hat, meine ich."

Es hatte sich auch so angehört, als wäre für Tennessey überhaupt kein anderer Ausgang des Ganzen möglich gewesen. Als wäre ihm schon seit Langem klar, dass Ryon sich irgendwann gezwungen fühlen würde sein Tier heraus zu lassen. Und Paige war daran Schuld. Dass er das allerdings als etwas Schlechtes ansah, verstand sie nicht einmal im Ansatz.

Ryon konnte doch über längere Zeit ohne seinen Tiger gar nicht leben. So hatte Paige das Verhältnis der Wandler zu ihrem Tier jedenfalls immer verstanden. Der eine kam nicht ohne den Andern aus. Und trotzdem...

Auf einmal fühlte sich Paige noch schlechter als schon die ganze Zeit zuvor. Bei dem kurzen Spurt zum Auto und auch danach, hatte ihr ihre eigene Nacktheit belegt mit Scham auf der Seele gebrannt. Das war ihr schon lange nicht mehr passiert. Aber nachdem, was der Magier hatte mit ihr anstellen können... Noch dazu vor Ryons Augen... Auch jetzt noch konnte Paige nicht verhindern, dass sie sich innerlich vor Ekel schüttelte und leicht rot wurde.

Auf der Heimfahrt hatte Tyler wieder für die Unterhaltung sorgen müssen, da Paige ihm dabei nicht unter die Arme greifen konnte und Ryon wieder zum gewohnten Schneemann mutiert war. Sie fragte sich nach der Reaktion des Doktors auf diese Geschichte, ob Ryons Freunde das Gefühl hatten, Paige mache alles nur noch schlimmer.

"Hör zu, Tennessey. Uns allen bleibt immer noch die Option offen, dass ich verschwinde."

Sie zog das Hemd wieder zu, das sie seit ihrer Ankunft anbehalten hatte. Tyler hatte ihr außerdem eine ihrer eigenen Hosen mitgebracht, über die sie mehr als dankbar gewesen war. Vor Ryon nackt herum laufen zu müssen, war schlimm genug, da mussten die anderen beiden das nicht auch noch erleben.

"Aber du hast Recht. Diejenigen, die uns überfallen haben, gehörte zu denen, die mir ans Leder und Ryon an sein Amulett wollen. Es war verdammt knapp und wir sind der Obermagierin viel zu nahe gekommen."

Ein Seufzen entrang sich den Tiefen ihrer Brust. Sie schaffte es immer noch nicht, zu dem Mann aufzusehen, der gerade noch ihren Körper verarztet hatte.

"Ryon und ich haben einen Deal. Ich werde ihm helfen diesen Zirkel zu zerstören. Damit sollten wir beide dann in Frieden leben können."

Beim letzten Satz schaffte sie es nun doch ihren Blick zu heben und den Augen ihres Gegenübers zu begegnen. Seltsam, dass sie ihm das sagte, wo er doch vor ein paar Stunden noch darum gebeten hatte, dass sie im Haus blieb. Naja, mehr Ai, als Paige selbst.

"Sobald das passiert ist, kann jeder seiner Wege gehen."
 

Tennessey blickte überrascht hoch.

„Hat es sich für dich giftig angehört? Dann tut es mir leid. Meistens rede ich ziemlich nüchtern über Dinge, die Ryon betreffen. Warum sich großartig aufregen, wenn es letztendlich sowieso nichts bringt.“

Er zuckte nur mit den Schultern und begann die schmutzigen Mullbinden zu verräumen.

„Um ehrlich zu sein, es hat mich einfach erstaunt, dass er nach all der Zeit sich endlich wieder einmal gewandelt hat. Zugegeben, die heutige Situation muss für euch beide ganz schön gefährlich gewesen sein. Da kann man schon einmal eine Ausnahme machen, aber früher hat er sich lieber zusammen schlagen lassen, als auch nur daran zu denken, sich den Pelz über zu streifen. Ich war einfach überrascht, das ist alles und bin natürlich froh, dass auch du mehr oder weniger wohlbehalten wieder Zuhause bist.“

Der Arzt lächelte sie freundlich an, ehe er dazu überging seine Instrumente zu reinigen. Allerdings hielt er schon einen Augenblick später wieder inne und starrte auf seine Finger.

„Unter uns gesagt, ich denke, das war ein erster Schritt in die richtige Richtung. Ryon ist schon so lange entzwei gerissen, dass es mich langsam aber sicher nicht mehr gewundert hätte, wenn er nie wieder Nachhause gekommen wäre. Wenn ich da so an seine letzten Aufträge denke und das ganz ohne Unterstützung seines Tiers…“

Er schüttelte den Kopf und machte mit dem Reinigen weiter. Wie gesagt, wenn er Ryons Handeln inzwischen nicht so nüchtern betrachten würde, es würde ihm alles viel zu nahe gehen und den Stress wollte er sich in seinem Alter nicht mehr antun.

Ein leises Seufzen entkam ihm. Was er wohl noch so alles mit diesem Kerl mitmachen musste?

„Paige, natürlich bleibt es dir immer überlassen, das Haus jederzeit zu verlassen und dein eigenes Leben zu führen. Genauso wie Ai, wenn das alles vorbei ist. Aber bis dahin lass dich bloß nicht von unserem mürrischen Kater verscheuchen und der Rest dieses bunt zusammen gewürfelten Haufens, ist ganz froh, Damen im Haus zu haben. Du kannst dir die Langeweile vor eurem Erscheinen kaum vorstellen.“

Mit leisem Geklirre verstaute er seine Instrumente in der großen ledernen Arzttasche und schloss sie sorgfältig, ehe er sie an ihren Platz in einem Regal zurück stellte.

Tennessey zog sich einen Hocker heran, den er ab und zu brauchte, wenn das Verarzten einmal länger dauerte und sein alter Rücken die Tortur nicht mehr so ganz mitmachen wollte.

Mit einem leisen Laut der Erleichterung ließ er sich darauf sinken, stützte die Arme auf seinen Oberschenkeln ab und legte sein Kinn auf seine Hände, während er eine nachdenkliche Miene aufsetzte.

„Was ich dich schon länger fragen wollte … glaubst du denn, dass das Amulett verflucht ist? Ich meine so richtig, wie es dieser Crilin behauptet hat? Denn um ehrlich zu sein, obwohl ich Ryon in den letzten Jahren eher seltener gesehen habe, so war er doch nie kränklich oder sonst irgendwie vom Pech verfolgt. Entweder wirkt der Fluch nicht bei ihm, oder es gibt gar keinen. Denn eines steht für mich fest, Marlene – seine Gefährtin – ist eines natürlichen Todes gestorben. Sehr jung zwar, aber bei Verbindungen zwischen Mensch und Übernatürlichem kann es schon einmal vorkommen, dass der Wunsch nach Kindern tödlich endet. Vor allem, wenn die Mutter der vollkommen menschliche Teil dieser Verbindung ist. Es war Schicksal, kein Fluch. Da bin ich mir sicher.“

Auch die letzten Sätze waren sachlich und nüchtern geblieben, aber in seinen wachen Augen lag Traurigkeit, während er an jene Tage zurück dachte, die zwei Leben gekostet, aber dafür einen Freund gebracht hatten.

Warum es gerade dieser Mann, mit genau diesem Schicksalsschlag geworden war, konnte sich Tennessey nicht genau erklären. In seinem Beruf hatte er schon viel schlimmere Schicksale gesehen und doch hatte ihn gerade dieses eine nicht mehr los gelassen. Vielleicht hatte es einfach so sein sollen.
 

"Das ist es also..."

Ihre Stimme war kaum mehr als ein Hauchen. Paige hatte die Knie an ihren Körper gezogen und ihre Arme darum geschlungen, während Tennessey ihr diese Frage gestellt hatte. Aber nicht nur das, wie nebenbei hatte er ihr auch endlich offenbart, welches andere Leben Ryon unbedingt aufwiegen wollte. Wenn möglich, sogar mit seinem eigenen.

"Es gab ein Baby."

Allein der Schmerz in den Augen des Arztes verriet ihr, dass sie Recht gehabt hatte mit ihren Vermutungen. Also war Marlene bei der Geburt gestorben? Und auch das Kind?

"So, wie du es erklärst, kann ich mir endlich vorstellen, warum Ryon so ist, wie er ist. Er denkt, dass es nicht passiert wäre, wenn er nur ein Mensch wäre."

Ohne wirklich auf eine Reaktion zu warten, legte sie ihr Kinn auf ihren Knien ab und starrte ins Leere.

Zuerst konnte sie gar nicht wirklich nachdenken. Zwei Augenpaare standen ihr dafür viel zu deutlich vor ihrem Bewusstsein. Ryons schwarze, matte Pupillen, die niemals auch nur unter einer Emotion zittern wollten... Und die des Tigers, die sie groß und mit einem Anflug von Erstaunen angesehen hatten, als sie ihn gestreichelt hatte.

Das Tier musste nach Zuwendung völlig ausgehungert sein. Und es war - auch wenn Ryon das nun schon seit Jahren versuchte - nicht von dem Mann zu trennen. Also musste es auch ihm so gehen?

"Dann hatte es absolut nichts mit mir zu tun... Er hat nur geschnurrt, weil... jemand da war.", sagte sie ganz allein zu sich selbst. In diesem Moment bekam sie überhaupt nicht mit, dass noch eine andere Person im Zimmer war.

Es war also doch noch nicht ganz vergessen gewesen. Eigentlich hatte sie es sich nicht eingestehen wollen. Dass ihr diese Umarmung, das Schnurren und auch das Geschenk auf ihrem Hotelbett noch nachhingen. Wäre es nicht so gewesen, sie hätte trotz der Rettungsaktion nie zugelassen, dass er sie in Tränen aufgelöst sah. Selbst in Form des Tigers nicht...

Verwirrung machte sich in ihr breit, darüber ob ihr die neue Erkenntnis, in den Tunneln hätte es einfach irgendwer sein können, der Ryons Panzer etwas anknackste, etwas ausmachte. Doch da war nur ein kleiner Stich, den sie bereits kannte.

Mit einem tiefen Atemzug schob sie die Erinnerungen zur Seite und widmete sich der Frage, die man ihr gestellt hatte.

Etwas neben der Spur, sah sie den Doktor von der Seite an und begann sofort zu sprechen, bevor er auch nur im Geringsten auf ihr Schweigen oder ihr Gemurmel eingehen konnte.

"Um ehrlich zu sein, habe ich mir darüber auch schon Gedanken gemacht. Ryon trägt das Amulett schon über Jahre hinweg und ihm ist nichts zugestoßen."

Mit den Bildern des Käfigkampfes im Gedächtnis fügte sie hinzu: "Obwohl er es durchaus herausgefordert hat. Also nein, ich glaube nicht, dass es verflucht ist. Zumindest nicht so, wie Crilin und er es annehmen. Hmmm..."

Nun schwang sie ihre Beine von der Untersuchungsliege und ließ die Füße baumeln, während sie weitersprach.

"Schon in mehr als einem Schriftstück, das ich zu diesem Amulett gelesen habe, wird eine zweite Seite erwähnt. Ähnlich gestaltet wie Ryons Amulett, aber irgendwie... gegensätzlich. Wenn ich es bei der kryptischen Ausdrucksweise der alten Dokumente richtig verstanden habe. Inzwischen bin ich der Meinung, dass es ein Zweites gibt."

Sie sah in Tennesseys Augen, der ihr aufmerksam zuhörte.

"Es könnte sein, dass es wirklich so simpel ist. Zwei Amulette. Gut und böse. Und ich denke, dass Marlene so gut bescheid wusste, dass sie Ryon niemals das Falsche geschenkt hätte. Nenn es weibliche Intuition, Doc, aber selbst wenn ich Ryon nicht kenne und seine Gefährtin noch weniger... Nur der gute Teil der beiden Amulette kann bei ihm gelandet sein."
 

Tennessey hörte sehr genau Paiges Worte, die sie eher zu sich selbst gesagt hatte, als zu ihm, weshalb er auch darauf nicht reagierte. Außerdem, manche Dinge sollte Ryon selbst klar stellen, wenn es sein musste. Immerhin war der Mann erwachsen und brauchte keinen Vormund, der ihm ständig alles vorkaute, auch wenn man manchmal den Eindruck gewinnen könnte, so wenig redselig, wie er sich des Öfteren gibt. Aber schließlich war ja auch das nicht Tennesseys Problem, sondern Ryons.

Paiges These, dass es zwei Amulette gab, war interessant. Noch dazu ein gutes und ein böses. Allerdings passte da etwas nicht ganz ins Bild und das teilte er ihr auch unumwunden mit.

„Ich frage mich jedoch, wenn Ryon das gute Amulett hat, was ich durchaus auch glaube, denn Marlene war eine sehr gründliche Frau, die so gut wie nie Fehler machte…“ Wie auch, wenn man Hellsehen konnte? Aber den eigenen Tod hatte sie nicht gesehen… Oder etwa doch?

Der Arzt räusperte sich kurz.

„Wie auch immer, auf jeden Fall, wenn Ryons Schmuckstück gut ist, wie kommt es dann, dass die letzten drei Vorgänger, von denen wir wissen, offenkundig vom Pech verfolgt waren? Zwei davon sind sogar tot, soweit ich mich noch erinnern kann. Das gibt mir ein Rätsel auf.“

Eines, über das er sicher noch eine Weile nachdenken würde, aber nicht mehr heute. Es war schon spät und sie alle gehörten ins Bett, wo Ryon wohl definitiv schon war, um sich vor Erklärungen zu drücken. Wirklich, manchmal war der Kerl schlimmer als ein Kleinkind!

„Also, Paige. Ich kenne mich zwar nicht sehr gut mit deiner Anatomie aus, aber wenn du dich irgendwie unwohl fühlen oder sogar Fieber bekommen solltest, dann gib mir bitte sofort Bescheid. Vielleicht müssen wir dann mit Antibiotika nachbehandeln. Am besten wäre es ohnehin, wenn du dich ein paar Tage lang schonen würdest, bis alles halbwegs gut verheilt ist. Ein paar Hexenhintern kannst du später sicher auch noch genügend vermöbeln.“

Er zwinkerte ihr lächelnd zu und stand dann auf, um sie zur Tür zu begleiten.

„Schlaf dich heute ruhig so lange wie möglich aus. In diesem Haus gibt es zu jeder Tages- und Nachtzeit etwas zu essen. Du musst dir deshalb also keine Gedanken machen.“

Er öffnete die Tür, um sie aufzuhalten und wünschte ihr eine gute Nacht, doch da hielt er sie noch einmal zurück.

„Und bitte vergiss nicht, dass Ai und du hier seid, ist für diesen Haushalt eine Bereicherung. Alleine, wenn ich da so an Tyler denke…“ Sein Mund verzog sich zu einem wissenden Lächeln.

„Lass dirauf jeden Fall keinen anderen Eindruck aufzwingen. Ihr seid willkommen. Jederzeit. Solange ihr wollt.“
 

Paige hob eine Augenbraue und stieß sich vom Tisch ab, um mit nackten Füßen auf dem Boden zu landen.

"Darüber habe ich mir ehrlich gesagt noch keine Gedanken gemacht. Du hast Recht, wenn es das gute Amulett ist, müssten das schon sehr viele Zufälle sein. Oder etwas, das ich noch nicht nachvollziehen kann."

Es war wirklich ein Rätsel, wie es der Arzt so schön formuliert hatte, das sie noch zu lösen hatten. Und nicht das Einzige - zumindest was Paige anging.

Sie war einigermaßen froh, dass Tennessey sie mit diesen doch sehr aufmunternden Worten aus seinem Behandlungszimmer begleitete. Von seinen letzten Sätzen ganz zu schweigen.

"Doc, wenn du so weiter machst, wirst auch du eine Umarmung von mir kassieren. Egal, ob du schnurrst, oder nicht.", meinte sei keck und schenkte ihm dann aber nur ein Lächeln, bevor sie sich umdrehte und in ihr Zimmer ging.

Vorsichtig, einerseits um Ai nicht zu wecken und andererseits, um ihre Seite nicht zu schwer zu belasten, setzte sie sich zunächst auf's Bett, um dann die Beine unter die weiche Decke zu ziehen.

Eine Weile lag sie noch wach, den Blick aus dem Fenster in den Sternenhimmel gerichtet und dachte nach. Über Ryon, seine Gefährtin und das Baby.

Er konnte noch nicht sehr alt gewesen sein. Vielleicht Anfang zwanzig? Verdammt früh für eine Familie. Und es würde immer viel zu früh sein, eine zu verlieren. Über diese schweren Gedanken, die zumindest ihre eigene Rolle in diesem Haus und Ryons Umgebung verdrängten, schlief sie schließlich ein.

Im Traum verfolgten sie die Ereignisse des Tages. Unruhig warf sie sich immer wieder hin und her, hatte das Gefühl, an diesem penetrant süßlichen Geruch ersticken zu müssen, bis sie mit offenem Mund und schweißbedeckt aufwachte. Es war noch dunkel draußen. Noch nicht wirklich Zeit aufzustehen. Und was hatte ihr Arzt gesagt? Sie solle sich ausruhen...

24. Kapitel

Ryon schlief nur ein paar Stunden. Sein Schlaf war unruhig, das Erlebte wollte ihn einfach nicht los lassen.

In seinen Träumen war da aber nicht dieser Mann, sondern vielmehr der Eindruck eines Schattens, der Paige verletzte. Ihr Gesicht, wie sie weinte, sich an ihn schmiegte, sein Ohr kraulte… Dann war da wieder das Bild, als er dabei zusah, wie fremde Lippen ihr Blut ableckten, ihren Hals entlang strichen, Paiges unbeteiligte Haltung … wie eine Marionette…

Spätestens, als er geträumt hatte, wie der Magier oder was auch immer er gewesen war, sein Werk vollendete, ohne dass Ryon etwas dagegen hätte tun können, war der Zeitpunkt, an dem er schweiß bedeckt erwachte und beschloss, diese alptraumhaften Bilder zu vergessen.

Stattdessen duschte er kalt, zog sich bequeme Kleider an, um in die Küche zu gehen. Dort war noch niemand, aber irgendwo konnte er Stimmen im Haus hören, also war er nicht der Einzige, der schon wach war.

Mit unruhigen Fingern machte er sich einen großen Becher voll Milchkaffee, zupfte sich einen Zweig Weintrauben aus der Obstschale. Isabellatrauben, soweit er wusste. Doch erst, als er sich eine in den Mund steckte und den unvergleichlichen Geschmack von Süße und etwas vollkommen unbeschreiblichen schmeckte, war er sich auch sicher.

Das waren seine Lieblingstrauben, ob sie nun so hießen oder nicht.

Zusammen mit dem kleinen Buch, das Paige ihm gebracht hatte, setzte er sich an seinen Denkerplatz am See.

Es lag noch Tau auf den Planken des Stegs und die Luft war kühl, aber frisch und rein, so wie er sie liebte.

Er setzte sich, legte seine Mitbringsel neben sich und steckte erst einmal seine entblößten Füße ins Wasser und sah dabei zu, wie die kalten Wellen seine Haut umspielten.

Über dem See hing noch ein leichter Dunst von der Nacht. Wasservögel waren zu dieser Jahreszeit schon ein seltener Anblick geworden. Bestimmt würden sich bald die letzten auf den Weg in wärmere Regionen machen.

Nach einer Weile, als der Milchkaffee schon längst kalt geworden war, steckte sich Ryon noch eine Traube in den Mund, ehe er das Buch zur Hand nahm und es aufschlug.

Es handelte sich tatsächlich um so etwas wie ein Tagebuch. Handgeschrieben berichtete es über eine Ausgrabung in Ägypten. Schweifte sogar ab und zu ab, mit Berichten über das Land und die Leute. Schilderte Eindrücke in den Augen eines Fremden. Schwärmte von einem Land so voller Wunder und Mysterien, wie die Kultur selbst sie ausstrahlte, die dort einst herrschte.

Ryon war sich nach einer Weile des versunkenen Lesens wirklich sicher, dass, wenn sie tatsächlich etwas über das Amulett heraus finden wollten, sie auch dort weitersuchen mussten und zugegebenermaßen, wäre das schon ein interessantes Abenteuer. Trotz der Hitze, die er bestimmt nicht gewöhnt sein würde, aber für Paige musste das sicher eine schöne Abwechslung zu der kalten Jahreszeit sein. Höchstens Nachts könnte sie draußen frieren.

Paige…

Der Bastard hatte ihr weh getan, um ihn und das Amulett zu bekommen. Besser gesagt, sie war ein Geschenk, was alles nur noch schlimmer machte.

Vielleicht wäre es doch besser, wenn sie so weit wie möglich weg von ihm wäre. Dann könnte man ihr wenigstens seinetwegen nicht noch mehr schaden. Noch eine weitere Schuld dieser Art könnte er nicht mehr tragen. Seine Schultern waren auch so schon zu schwer und außerdem verdiente sie ein besseres Leben.
 

Paige war mit einem richtigen Brummschädel und einigermaßen schlechter Laune aufgewacht. Sie hatte sich auf ein wenig Ruhe und Erholung gefreut und bekommen hatte sie nur Albträume und den Nachhall der schmerzenden Verletzungen.

Unter der heißen Dusche sah sie an ihren Körper hinab, prüfte zuerst die Seite, die ein wenig rot und geschwollen aussah und dann ihren Oberschenkel. Kurz biss sie sich auf die Unterlippe, drehte sich einmal langsam im Kreis und schätzte ab, ob sie es wagen konnte. Wenn sie heraus finden wollte, ob sich ihre dämonische Seite erholte, gab es dafür nur eine Möglichkeit...

Mit zusammen gebissenen Zähnen drehte sie die Dusche so kalt und stark auf, wie es ging und ließ ihre Schuppen sprießen. Ihr Feuer loderte kontrolliert und sacht über ihren Körper, während Paige sich ein wenig verdrehen musste, um mit ihren langen spitzen Nägeln über alle Schuppen an der Verletzung fahren zu können. Sie drückte untersuchend daran herum, versuchte Flammen über die Stelle laufen zu lassen und gab es dann wenig begeistert auf. Er schien Einiges an Gewebe angekratzt zu haben, denn ihr Feuer wollte sich nicht recht über die Verletzung ausbreiten.

Mit einem Seufzen stellte sie die Dusche ab und kehrte in ihre menschliche Form zurück, bevor sie aus der Duschkabine trat.

"Oh..."

Da hatte sie wohl mehr Dampf verursacht, als sie vorgehabt hatte. Der kleine Raum stand vor Dunstschwaden und der große Spiegel war selbst nach mehrmaligem Wischen mit dem Handtuch nicht blank zu bekommen.

Da ihr nichts Besseres einfiel, öffnete Paige die Tür zum Gästezimmer und dort auch beide Flügel des Fensters, um den Dampf nach draußen zu lassen. Sie schätzte sich glücklich, da es im Haus zumindest an dieser Stelle keinen Feueralarm zu geben schien.

"Na, das wäre ja mal peinlich geworden...", murmelte sie vor sich hin, bevor sie ins Bad zurück ging, sich die Zähne putzte, um sich schließlich anzuziehen und in der Küche etwas zu Essen zu suchen.

Sobald sie den großen, gemütlichen Raum betrat, fiel ihr auf, dass es bereits recht spät sein musste. Tyler stand am Herd und brutzelte etwas, das interessant und ein wenig exotisch roch. Paige schlich sich hinter ihn, nachdem sie alle begrüßt hatte und lugte über die Schulter des Butlers in die große Pfanne, in der er tonnenweise klein geschnippseltes Gemüse hin und her schob.

"Das riecht einfach köstlich."

Ihr lief das Wasser im Munde zusammen. Obwohl sie im selben Moment mehr oder weniger der Schlag traf.

Geruch. Das musste es gewesen sein!

Paige hatte sich schon seit dem Aufstehen das Hirn darüber zerbrochen, wie der Magier sie hatte derart manipulieren können. Es musste dieser süßliche Geruch gewesen sein, der sie so stark eingehüllt hatte. Aber warum war dann Ryon bei Sinnen geblieben? Wo doch seine Nase so viel besser sein musste, als ihre...

Grübelnd ging sie zum Schrank hinüber, holte Teller heraus und deckte den Tisch. Ai versuchte den Anwesenden gerade zu erzählen, dass eine ihrer früheren Kolleginnen bei einer Show umgeknickt war und nun nie wieder würde modelln wollen. Na, als hätte niemand größere Probleme als einen verstauchten Knöchel.

Als sie sich umdrehen wollte, um auch Besteck aus der Schublade zu holen, erschrak sie ein wenig, als sie beinahe mit Ryon zusammen prallte.

Er war völlig lautlos ins Zimmer gekommen und sah nun mit den üblichen leeren Augen auf Paige hinunter.

"Hi.", meinte sie nicht besonders einfallsreich und zog ihre Hand weg, auf der sie sich vor einem Fall an seinem Arm abgestützt hatte.

"T'schuldige...", murmelte sie leise und schob sich dann an ihm vorbei zur Küchenzeile.
 

Gut durchgelüftet vom Freien, kam er schließlich, wie magisch von den herrlichen Düften angezogen, zurück zum Haus, legte das Buch bei Seite, stellte seinen leeren Becher in den Geschirrspüler und wäre dabei fast mit Paige zusammen gestoßen, die er zwar am Rande wahrgenommen, aber letztendlich doch nicht rechtzeitig gesehen hatte.

„Hi.“, grüßte er ebenso einfallslos zurück und machte ihr Platz, damit sie zu der Bestecklade konnte, an die sie gerade noch hatte herankommen wollen. Dabei ließ er sie keinen Moment aus den Augen.

Während sie den Tisch zu Ende deckte, Ai ausführlich über etwas berichtete, das er gar nicht mitbekam und Tyler fröhlich in der aromatisch duftenden Pfanne herum werkelte, stand er einfach nur da und beobachtete die Feuerdämonin mit den Augen eines aufmerksamen Jägers. Tennessey, der am Tisch saß und schon wieder in Notizen herum kritzelte, blendete er sogar ganz aus.

Er konnte keine ihrer Verletzungen sehen, da ihre Kleidung sie verdeckte. Ihr schien es gut zu gehen, auch wenn sie sich noch etwas vorsichtig bewegte. Aber letztendlich war das, das Einzige was zählte.

Trotzdem ließ ihm die Sache keine Ruhe. Alleine die Vorgehensweise dieses Zirkels hatte deutlich gemacht, dass sie mehr über ihn und vielleicht auch über Paige wussten, als gut für sie beide sein konnte.

Noch einmal würden sie sich wohl nicht mehr so sorglos durch die Stadt bewegen können. Das hieß, auch die zukünftigen Samstage würde er streichen müssen.

Ein tiefer Seufzer des Bedauerns entkam ihm, ging aber in dem brutzelnden Geräusch der Pfanne unter.

Ryon riss sich von Paiges Anblick los und machte stattdessen Saft für alle, den er in einem großen Krug auf den Tisch stellte und dazu noch die Gläser auf jedes Platzdeckchen platzierte. Danach setzte er sich und richtete seine Aufmerksamkeit auf Tennessey.

„Schon wieder Ideen für eine Fallstudie?“, wollte er wissen, um über etwas Unverfängliches sprechen zu können. Den Vorfall würde er auch später noch mit Paige durchgehen müssen. Vor allem, wie sie Treffen dieser Art in Zukunft vermeiden konnten.

Der Arzt blickte hoch und lächelte unschuldig.

„So könnte man es nennen, ja.“

„Und um was geht es?“

Musste man diesem Mann wirklich alles aus der Nase ziehen? Wenn es um dessen Arbeit ging war er doch sonst überaus gesprächig.

„Das bleibt vorerst ein Geheimnis, aber ich kann schon mal so viel sagen. Einer der Probanden stellt sich als ganz schöne Herausforderung heraus und du weißt doch, wie sehr ich die liebe. Also, mach dir keinen Kopf deswegen. Es war sowieso Zeit, dass ich einmal wieder etwas habe, mit dem ich mich richtig beschäftigen kann.“

Mit diesen Worten wandte er sich wieder seinen Notizen zu und drehte sie so, dass sein Arm den Blick darauf verwehrte. Als würde Ryon jemals heimlich die Gedanken eines anderen lesen. Zumindest nicht absichtlich.

Tyler trug endlich das Essen auf, als alle bei Tisch waren. Ryons Magen knurrte schon so dermaßen, dass man fast meinen könnte, sein Tier würde hinter ihm stehen. Aber was das anging, so herrschte Funkstille. Als wäre es beleidigt oder würde auf etwas lauern. Ihm konnte es auf alle Fälle nur recht sein. Seine inneren Kämpfe waren ermüdend und das konnte er sich bei der Gefahr, die um sie herum herrschte, nicht wirklich leisten.

Bevor noch ein richtiges Tischgespräch in Gange kommen konnte, rutschte Ryon die Frage einfach so heraus. Andererseits, so sehr wie sie in ihm gebohrt hatte, war das auch kein Wunder.

„Wie fühlst du dich, Paige?“

Er sah sie über den Tisch hinweg an, sein Teller noch immer leer, als würde er erst zugreifen, wenn er eine Antwort erhalten hatte. Seltsamerweise war auch das Geklapper des Geschirrs leiser geworden, als würden alle anderen Beteiligten zwar so tun, als interessiere sie dieses Thema nicht, obwohl sie insgeheim lauschten.

Hatte er sich vielleicht im Tonfall vergriffen? Nein, das sicherlich nicht.
 

Paige hatte das Gefühl ihr Kopf müsse bald bersten von den ganzen Gedanken, die darin herumspukten.

Der Magier, der sie mit Duft hatte manipulieren können. Sie war ihm schon einmal begegnet und ihm damals nur um Haaresbreite entkommen. Noch immer war er da draußen unterwegs. Was wäre nun ein geeignetes Mittel, sich beim nächsten Zusammentreffen vor ihm zu schützen?

Sie konnte sich ja schlecht die Nase zustopfen. Zumal sie in ihrer dämonischen Form auch mit der Zunge Gerüche auffangen konnte. Und atmen musste sie auch noch. Einfach in ihrer menschlichen Form zu bleiben wäre eine Möglichkeit. Aber wie sollte sie sich dann gegen einen Angriff mit einem Dolch wehren?

Grübelnd setzte sie sich zu den anderen an den Tisch, neben Ai und dem Arzt gegenüber. Da er ihr etwas Essen aufgeben wollte, hielt sie ihm ihren Teller hin, sah aber immer noch nicht wirklich hin, was er da machte.

Erst als sie den Teller abstellte und sich dem Essen wirklich widmen wollte, stieg ihr wieder der Duft in die Nase, der sie sofort zur Gabel greifen ließ. Neben vielem Gemüse und Fleischstücken in einem Mantel aus Nüssen, gab es Safranreis und eine Sauce, die Paige noch nie gesehen hatte. Geschweige denn gekostet. Aber darauf freute sich ihr Magen genauso wie der Rest.

Mit der Gabel hatte sie den ersten Bisse bereits fast bis zum Mund geführt, als Ryons Frage sie innehalten ließ. Mit leicht geöffnetem Mund, dem Bissen in greifbarer Nähe und weiten, fragenden Augen sah sie ihn an.

Erst nach einer halben Ewigkeit, wie es ihr selbst schien, begriff sie, was er gemeint hatte und legte die Gabel wieder auf dem Tellerrand ab, um sich am Tisch umzusehen. Niemand schien so verblüfft zu sein, wie sie selbst.

"Ähm, gut. Gut, danke."

Als sie an die Dampfschwaden dachte, die sie im Badezimmer verursacht hatte, musste sie lächeln.

"Noch nicht ganz wieder hergestellt, aber dein Leibarzt hat sich gut um mich gekümmert."

Das ließ Tennessey mit einem halben Lächeln hochsehen, bevor er sich sofort wieder seinem Teller widmete. Was war denn nur los mit allen?

Damit so etwas wie Normalität aufkam, hielt sie Ryon die Hand hin und nahm mit der anderen den Servierlöffel, der neben der immer noch mehr als halb vollen Pfanne mit dem Gemüse lag.

"Soll ich dir was auftun?"
 

Das wollte Ryon dem Doc auch geraten haben. Aber natürlich hatte sein Freund sich gut um Paige gekümmert. Sonst hätte er sie wohl kaum in seine Hände gegeben. Dennoch war es fast so etwas wie eine Erleichterung, aus ihrem eigenen Mund zu hören, dass es ihr gut ging. Es war, sozusagen, noch eine Bestätigung zur Sicherheit.

Allerdings fragte er sich, ob sie der Vorfall trotz des glimpflichen Ausgangs immer noch so sehr wurmte wie ihn. Alleine wenn er an diese Szene dachte, wie der Magier sie … Ryon erschauderte innerlich, während zugleich das beleidigte Tier ein zustimmendes Knurren abgab, ehe es wieder verstummte.

Paiges darauf folgende Frage und die ausgestreckte Hand überrumpelte ihn förmlich, auch Tyler und Tennessey hielten mitten in ihren Bewegungen inne, als würden sie voller Spannung darauf warten, wie er auf diese Frage reagierte.

Kein Wunder.

Essen hatte bei Raubkatzengestaltwandlern eine große Rolle. Immerhin, wenn man an seine tierischen Artgenossen im Amurgebiet dachte, dann war das auch klar nachvollziehbar. Immerhin brauchte ein ausgewachsener sibirischer Tiger bei den kalten Temperaturen jeden Tag um die neun Kg Fleisch. Wie gut Ryon das doch nachvollziehen konnte!

Da es ohnehin schon merkwürdig genug war, wie er Paiges Hand ansah, als hätte er so etwas noch nie gesehen, hob er schließlich mit vorsichtigen Bewegungen seinen leeren Teller hoch und reichte ihn Paige.

„Ja, bitte…“, brachte er schließlich hervor und spürte ein seltsames Kribbeln seine Wirbelsäule hinunter jagen.

Für einen Moment durchbrach strahlendes Gold das dumpfe Schwarz seiner Augen, wie ein Sonnenstrahl, der sich einen Weg durch düstere Gewitterwolken gekämpft hatte. Und mit einem Mal war sich Ryon der Präsenz seines Tiers so deutlich bewusst, als würde es ihm über die Schultern blicken. Aber es gab keinen Mucks von sich. Ließ ihn vollkommen in Ruhe, was Gefühle anging und doch, es war da, beobachtete, sog jeden Eindruck in sich auf, bis Ryon sich merklich unbehaglich fühlte, denn er wusste, das war ein seltener Augenblick und empfand doch nichts. Wie blank gewischt. Es war einfach absurd, weil es nicht zusammen passte und auch nicht konnte.

Der Sonnenstrahl wurde wieder erstickt, als er seinen Teller zurück bekam und ein leises Danke murmelte, völlig mit seinen Gedanken beschäftigt.

Er nahm noch nicht einmal die Augenpaare war, die auf ihm ruhten. Das wissende Grinsen auf Tylers Gesicht, das er zu verbergen suchte. Tennesseys blendende Laune, die vorhin noch nicht so blendend gewesen war… Außerdem hatte Ryon gemurmelt. Was er normalerweise nicht tat.

Das Essen schmeckte wirklich fantastisch und obwohl er dieses Gericht schon des Öfteren genossen hatte, schien es heute noch viel besser zu schmecken. Als hätte Tyler etwas an dem Rezept verändert. Was er aber nicht getan hatte. Es lag nicht an einem neuen Gewürz oder andere Zutaten, es lag ganz alleine daran, dass Paige es gewesen war, die es ihm gegeben hatte. Denn manchmal war es wirklich nur der Gedanke, der zählte.
 

Sie war kurz davor gewesen die Hand zurück zu ziehen und sich zu entschuldigen, als Ryon doch mit vorsichtigen Fingern seinen Teller fasste und ihn ihr übergab wie eine Art Geschenk.

Mit der Frage im Kopf, ob er wohl glaubte, dass sie ihn auf diesem Wege vergiften wollte, häufte sie ihm eine riesige Portion auf das weiße Prozellan, bevor sie es ihm mit einem Lächeln zurück gab.

Auf das gemurmelte Danke hin nickte sie nur und stürzte sich anschließend mehr oder weniger auf ihr eigenes, leckeres Mittagessen.

Die Stimmung der Tischrunde blieb die gesamte Zeit über etwas merkwürdig. Paige hatte das Gefühl, Tyler wäre aufgedrehter als sonst und Ai würde ihr sehr oft einen strahlenden Seitenblick zuwerfen. Zumindest Tennessey schien sich aus dieser unausgesprochenen Hochstimmung ein wenig heraus zu halten. Er unterhielt sich mit Paige über ihre dämonische Natur. Darüber, dass er nachgelesen habe, ihre Verwandten in den heißen Gebieten würden tatsächlich in einer Kältestarre überwintern.

"Nein, das habe ich noch nie getan.", meinte sie lachend auf eine seiner Fragen, bezüglich ihrer eigenen Gewohnheiten.

"Ich denke, dafür ist meine menschliche Seite zu stark ausgeprägt. Wenn ich ehrlich bin, muss ich sagen, ich hätte zu viel Angst, etwas zu verpassen. Ein Winter ist lang, da kann Einiges vor sich gehen. Ich würde ungern im Frühling aufwachen und mich erstmal über alles informieren müssen."

Wobei es auch Vorteile hätte. Immerhin müsste sie sich über Monate hinweg keine Sorgen um Nahrung und andere Verpflegung machen. Das warf auch der Arzt ein, der sich wohl für eine Weile an diesem Thema festgebissen hatte, um seinem Forscherinteresse Genüge zu tun.

Als Tyler schließlich die Nachspeise auftrug - selbstgebackene Schokowaffeln mit Erdbeereis - sprach Paige mit ernster Miene noch einmal Ryon an.

"Hast du dir das Buch angesehen, das ich dir mitgebracht habe? Was hältst du davon? Hört sich sehr nach einer Spur an, wenn du mich fragst."
 

Manchmal wusste Ryon wirklich nicht, ob er Tennessey den Buckel zerkratzen oder ihm um den Hals fallen sollte.

Heute auf jeden Fall, wäre Letzteres angebracht gewesen, denn seine Fragen an Paige lenkten ihn von seinen eigenen Gedanke ab und so konnte er das Essen genießen und zugleich noch mehr über Paiges Natur erfahren.

Für ihn war es durchaus nachvollziehbar, dass sie auf eine Winterstarre verzichtete, da alles Mögliche in dieser Zeit geschehen könnte, ohne dass sie es mitbekam. Vor allem musste sie in dieser Zeit auch unglaublich schutzlos sein, wenn sie sich nicht ein sicheres Erdloch oder sonst irgend ein derartiges Versteck ausgesucht hatte.

Trotzdem, alleine die Möglichkeit einer Kältestarre überstieg sein Einfühlungsvermögen. Da ihm so unglaublich selten kalt war, konnte er sich diesen Umstand auch nur schwer an eigenem Leib vorstellen. Aber einen ersten Eindruck hatte er mit Paige zusammen in den Tunneln schon einmal bekommen.

Um ehrlich zu sein, er wollte so etwas nicht noch einmal mit ihr erleben. Nicht nur die Nähe, war nicht leicht gewesen, sondern auch die Tatsache, dass er nicht hatte wissen können, ob sie wieder aufwachte, ob sie dabei nicht sogar sterben könnte oder sonst irgendetwas, das hätte schiefgehen können. Diese Unwissenheit war es, die ihn dazu animierte, jetzt noch genauer zuzuhören.

Als er sich einen Löffel voll Erdbeereis gerade auf der Zunge zergehen ließ, richtete sich Paiges Aufmerksamkeit auf ihn und auch er wurde sofort wieder ernst, obwohl das an seinem Erscheinen keinerlei Unterschied aufwies.

„Ich habe es heute Morgen durchgelesen. Es war … interessant. Wie du schon sagtest. Ich denke, wir können schon einmal mit den Vorbereitungen der Reise beginnen. Wenn wir irgendwo weitere Hinweise finden, dann bestimmt dort.“

Es waren nicht nur die Aussichten auf weitere Informationen über das Amulett, die ihm so etwas wie Vorfreude verursachten, sondern das Land selbst, mit seinen Geheimnissen, Schätzen und der ausgeprägten Kultur. Allerdings gab es eine Sache, auf die er sich ganz und gar nicht freute.- Die dort herrschenden Temperaturen. Außerdem würden sie sicherlich nicht nur in einer Luxusabsteige ihre Zeit verbringen, sondern sich auch auf Feldforschung begeben müssen. Was hieß, dass keine Klimaanlage die Hitze etwas mildern könnte.

Aber ansonsten hatte er nichts dagegen, spärlich besiedelte Regionen zu erforschen, anstatt inmitten von dichtem Beton und Glas, zwischen armen und reichen Leuten, etwas zu suchen.

„Es gibt da ohnehin noch ein paar Dinge, über die ich mit dir sprechen muss. Es wäre angenehm, wenn wir das draußen an der frischen Luft erledigen könnten.“ Immerhin würde er wohl schon bald keine Bäume, Gras, viel Wasser und frische Luft mehr haben. Die Reise nach Ägypten war immerhin nicht nur etwas weiter als nach Paris, sondern bestimmt auch von längerer Dauer. Denn die Hinweise wurden langsam immer älter und somit auch immer schwieriger, ihnen nachzugehen. Obwohl das Bauch sehr gut geschrieben war.
 

Ryon wartete am See auf Paige, die sich noch etwas überziehen hatte wollen, da es heute bewölkt und somit relativ frisch war. Allerdings hinderte ihn das nicht daran, barfuß und nur mit einem dünnen, kurzärmeligen Hemd und leichter Hose bekleidet hier draußen zu stehen.

Als Paige kam, deutete er auf einen kleinen Pfad, der sich entlang des Sees wand, aber auch immer wieder etwas in den Wald hinein führte, wie eine Schlange, die sich um das Gewässer schlängelte.

„Lass uns ein Stück gehen.“, kündigte er an, was sie dann auch taten.

Die humusreiche Erde unter seinen Füßen, das feuchte Laub, die kleinen Steinchen, das alles schien er regelrecht in sich aufzusaugen. Während sein Blick erkundend durch die Gegend schweifte, er Gerüchen nach spürte und sich nach neuen Dingen umsah, die ihm in der Zeit seiner Abwesenheit entgangen waren. Hier und da fehlte ein Baum, andere wiederum waren in die Höhe geschossen und würden die alten ersetzen.

Man glaubte es vielleicht nicht, aber Ryon kannte dieses Grundstück so genau, als hätte er es persönlich angepflanzt. Jeder Stein, jeder uralte Stamm war ihm vertraut und selbst die Neuigkeiten waren schon bald wie etwas Altbekanntes. Das war sein Revier, ob er es nun zugab oder nicht.

„Wie haben sie dich erwischt?“, fragte er schließlich, nach dem sie ein Stückchen schweigend nebeneinander her gegangen waren.

„Hast du auch etwas angefasst, das dir das Bewusstsein geraubt hat? Bei mir zumindest war es ein Teddybär.“

Besiegt von einem Plüschtier. Gut, dass das sonst keiner gesehen hatte. Das würde ihm sonst vermutlich ewig nachhängen.
 

Es war ein schöner Tag und Paige genoss kurz den Blick auf den Blumengarten, während sie ihn im Laufschritt durchquerte, um zum See zu kommen. Das Gras war immer noch so feucht, dass es nasse Flecken auf ihren Stiefeln hinterließ. Alles sah frisch und grün aus und ließ auch Paiges Laune stark ansteigen. Selbst die Albträume waren inzwischen aus ihrem Kopf verschwunden. Im Gegensatz zu der leichten Scham, als sie Ryon nun so allein gegenüber trat.

In Gegenwart der anderen Hausbewohner hatte sie davon ausgehen können, dass die Vorfälle in der letzten Nacht nicht zur Sprache kommen würden. Oder auf jeden Fall nicht in einer Weise, die ihr wegen ihres persönlichen Verhaltens unangenehm werden würden.

Aber Ryon steuerte genau auf diesen Punkt zu, während er auf der Wald zugewandten Seite des Weges neben ihr herging. Wenn sie sehr viel Glück hatte - woran Paige mehr als nur zweifelte - dann würde er Taktgefühl beweisen und es nicht ansprechen. Aber ob sie damit rechnen konnte?

Mit großen Schritten versuchte sie sein Tempo zu halten, das Ryon bestimmt noch einigermaßen gemächlich vorkam. Seine Beine waren nunmal länger als ihre und wenn er es einmal wieder darauf anlegen sollte, ein Wettrennen mit ihr zu veranstalten, würde sie auch ein zweites Mal verlieren.

Interessiert sah sie eine Weile auf seine nackten Füße, während sie seine Frage beantwortete. Die Kälte machte ihm wirklich überhaupt nichts aus. In diesen Breiten konnte Paige das nur bewundern und ein wenig neidisch sein.

"Ja, ich hab was angefasst. An deinem Auto hing ein kleiner Zettel. Eingeklemmt unter dem Scheibenwischer. Ich dachte, dass es vielleicht eine Nachricht von dir ist. Danach war Sendepause."

Und bei ihm war es ein Teddybär gewesen? Paige lächelte, als sie nun doch zu seinem Gesicht hochsah. Ihr war klar, was er gemacht hatte, bevor sie ihn erwischt hatten.

"Die waren anscheinend vorbereitet. Der Bär war dort platziert, weil du mit den Kindern dort warst."

Sie hätte ihn gern gefragt, warum er das tat. Diese freiwillige Arbeit mit den Kleinen.

Was es jedem Anderen gebracht hätte, konnte Paige sich vorstellen. Aber Ryon? Wo er doch keinerlei Gefühle zuließ - sie nicht zulassen wollte. Sollte es nicht wie Säure auf seiner Haut sein, die Kinder zu sehen?

Es musste ihn doch an sein eigenes erinnern...

Wieder einmal verstand sie ihn nicht. Würde es wahrscheinlich niemals tun. Und obwohl es das Leichteste wäre, wollte sie das nicht hinnehmen.
 

„Anscheinend genauso gut vorbereitet, wie du. Ich will gar nicht wissen, wer mir noch alles hinterher spioniert.“

Dass sie das mit den Kindern wusste, hätte ihn ebenfalls genauso wurmen sollen, wie die Tatsache, dass er hier wohl so wenig Privatleben hatte, wie bei Big Brother. Allerdings empfand er nichts. Nicht einmal bei der Vorstellung, dass er zum Schutz der Weisenkinder die zukünftigen Samstage solange ausfallen lassen würde, bis sie diesen Zirkel erledigt hatten oder sie selbst erledigt waren. Dass ihn das eigentlich hätte schmerzen müssen, war ihm klar. Doch das tat es nicht. Da war einfach nichts.

Eine Weile schwieg Ryon, während sie nun etwas tiefer in den Wald gelangten. Es war wunderschön hier, weil es ein Mischwald war. Die Bäume standen nicht so eng aneinander und ließen durch ihr Blätterdach genügend Licht, um auf dem Boden Farn, Moos und sogar ein paar Kräuter wachsen zu lassen.

Zum Anpirschen war es vielleicht teilweise etwas ungeeignet, da kein sehr dichtes Unterholz herrschte, doch in seinem Revier befanden sich ohne hin keine großen Wildtiere, die er hätte erlegen können. Dazu war er früher immer außerhalb seiner Grenzen auf die Pirsch gegangen.

Er konnte sich kaum noch erinnern, wie es sich anfühlte, zu jagen.

„Paiges, ich muss etwas wissen.“, begann er schließlich, als der See langsam wieder zum Vorschein kam.

„Dieser Mann … dieser Magier oder was auch immer. Er hat deinen Willen kontrolliert. Das konnte ich nicht übersehen.“

Allerdings war er sich dessen nicht von Anfang an bewusst gewesen. Beim nächsten Mal würde er jedoch Bescheid wissen, nur sollten sie dafür sorgen, dass es kein nächstes Mal gab. Weswegen er auch genau dieses Thema ansprach. Vorsorge.

„Allerdings weiß ich nicht, wie er das geschafft hat. Nur dass er ein unglaubliches Talent dafür hat, so zum Himmel zu stinken, dass mir ganz schlecht wurde.“
 

Da ging der Wunsch nach Taktgefühl wohl für's Erste dahin. Obwohl er es nicht tat, was Paige mit einem kurzen Blick kontrollierte, fühlte sie sich von Ryon angestarrt.

So wie es sich anfühlte, mussten ihre Ohren mit ihren Wangen rot um die Wette leuchten und sie hoffte inständig, dass sie die Antwort ohne Stottern hinter sich bringen würde.

Ryon hatte sofort erkennbar gemacht, dass er von der Manipulation wusste. Es war nicht wirklich Paige gewesen, die sich von diesem Magier auch noch körperlich angezogen gefühlt hatte. Er hatte ihren Verstand vernebelt und sie auf diese Weise willenlos gemacht. Sie in seine Hände gespielt.

Und trotzdem schämte sie sich. Wäre da nicht die Tatsache, dass sie ihm sogar entgegen gekommen war, es wäre nur halbso schlimm und peinlich gewesen.

Sie schlang sich das große sandfarbene Tuch, das sie über dem Pullover trug fester um die Schultern und verschränkte die Arme, während sie weiter neben Ryon herging. Der Anblick des Sees wäre bestimmt schöner gewesen als der Weg und ihre Fußspitzen, aber sie konnte sich im Moment nicht von dieser Aussicht lösen.

"Ich denke, dass genau das der springende Punkt ist."

Ihre Stimme war leise und ruhig. Eher so, als wäre sie am Überlegen, als peinlich berührt. Auch wenn man das an ihrer Körperhaltung nur zu deutlich ablesen konnte.

"Das, was dir Übelkeit verursacht hat ... konnte mich in eine Art Hypnose versetzen. Ich habe mich schon darüber gewundert, dass der Geruch bei dir nichts Ähnliches ausgelöst hat."
 

Als sie ihm antwortete, warf er einen flüchtigen Seitenblick auf Paige, die ihren Blick auf den Boden geheftet hatte. Man erkannte sofort, dass ihr das Thema unangenehm war. Aber es würde wohl jedem so gehen, der zum Stillhalten gezwungen wurde, während man ihn verletzte.

Nicht mehr die Kontrolle über seinen eigenen Körper und Verstand zu besitzen, war etwas sehr Schlimmes. Ryon wünschte, der Magier wäre nicht so schnell abgehauen. Er hätte gerne noch länger an ihm herum genagt, trotz des erbärmlichen Gestanks.

„Nein, bis auf den Brechreiz, hat es bei mir nichts ausgelöst. Vielleicht ein Vorteil, den wir noch nutzen müssen. Obwohl ich wirklich hoffe, dass sich diese Szene nicht noch einmal wiederholt. Aber trotzdem sollten wir uns etwas einfallen lassen, wie wir dich davor schützen können.“

Auch wenn er im Augenblick absolut keine Ahnung hatte, wie das gehen sollte. Man konnte ihr ja schlecht verbieten, zu atmen. Doch vorübergehend wechselte Ryon das Thema.

„Wie glaubst du, wirst du in Ägypten zurecht kommen? Also, ich meine wegen der heißen Temperaturen. Das ist doch ein Vorteil für dich, oder?“

Bis auf Nachts, da wurde es ziemlich kalt. Wenn auch nicht so kalt, wie vermutlich in einer Wüste.
 

"Ryon?..."

Sie sah nun doch zu ihm auf, schob sich eine dunkle Haarsträhne hinters Ohr und blieb schließlich sogar stehen. Es fiel ihr nicht so schwer, wie man vielleicht glauben mochte, aber was sie zu sagen hatte, wollte sie mit Blick in seine Augen tun. Auch wenn es für Ryon selbst wahrscheinlich keinen Unterschied machte.

"Du hast mir nicht nur die Haut, sondern das Leben gerettet."

Wie sie erwartet hatte, verzog er keine Miene und nichts änderte sich an seinen Augen, obwohl sie so tief sie konnte, hinein sah. Immerhin hatte sie nicht nur dem Mann zu danken. Sie hoffte, dass die Worte bei beiden ankamen.

"Danke."

Mit einem Lächeln und keinem weiteren Wort zu dem Thema wandte sie sich wieder um und folgte dem kleinen Pfad entlang des Ufers. Jetzt hatte sie auch so viel Last von ihrem Herzen, dass sie die Natur um sich herum richtig würdigen konnte. Ob der See wohl natürlichen Ursprungs war? Oder hatte man ihn eigens hinter dem Haus angelegt?

"Ich hätte nicht gedacht, dass ich dich mal neugierig erlebe.", meinte sie völlig wertfrei.

"Aber vermutlich hast du Recht. Die Hitze sollte zumindest meiner dämonischen Seite schmeicheln. Anders als bei euch Wandlern und Vollblutdämonen kann ich mit meiner menschlichen Seite noch Einiges kompensieren."

Sie grinste ihn an und meinte dann fast mitfühlend:

"Du wirst nicht der Einzige sein, der ins Schwitzen gerät, glaub mir."

Sie gingen noch eine Weile, die vielleicht bei einem anderen Gesprächspartner mit einem Scherz und einem Lachen überbrückt worden wäre.

"Denkst du denn, dass du echte Schwierigkeiten haben wirst? Ohne Fell sollte es doch hoffentlich auszuhalten sein?"
 

Als Paiges Schritte sich verlangsamten und sie schließlich stehen blieb, tat er es ihr gleich, drehte sich zu ihr herum und sah sie an.

Abwartend, was jetzt kam, blickte er ihr unverwandt in die Augen, die sich so sehr von seinen unterschieden, wie Leben und Tod. Paige war für ihn pures, flammendes Leben, das nicht auf den Mund gefallen war, auch ganz schön kratzbürstig sein konnte, wenn es die Situation verlangte und doch war sie ebenso fürsorglich, höflich, zuvorkommend, wie sie energisch, zielstrebig und gefährlich sein konnte. Wenn es etwas gab, das all diese Wesenszüge in einem Körper vereinen konnte, dann war es eine Frau. Dem konnte man nichts anderes mehr hinzufügen.

Ihren Dank nahm er nickend zur Kenntnis. Es wäre nicht nötig gewesen, aber darauf wollte er sie nicht hinweisen. Sie waren vielleicht nur Partner, aber aufeinander aufzupassen lag für ihn in der Selbstverständlichkeit dieser Beziehung. Nur so konnten sie ihr Ziel überhaupt ansteuern. Wäre es anders, sie hätten nicht einmal die gestrige Hürde geschafft.

„Nun, ich bin gerne vorbereitet und je mehr ich über dich weiß, umso sicherer wird unsere gemeinsame Reise sein. Du bist eine Frau mit Eigenschaften, die ich noch nie gesehen habe.“, gestand er ihr schließlich unumwunden, während er nach einem kleinen Zweig auf dem Boden griff und ihn sich ansah.

Die Nadeln und Zapfen deuteten auf eine Kiefer hin. Einer seiner Lieblingsbäume, da er sie nicht nur wunderschön fand, sondern sie auch so unglaublich gut rochen. Weshalb er auch den Zweig an seine Nase hielt und mit geschlossenen Augen den aromatischen Duft einsog.

„Um ehrlich zu sein, damals in den Tunneln habe ich kaum gewusst, was ich tun soll. Du hättest auch an Unterkühlung sterben können. Oder auch nicht, wenn man dein Wesen bedenkt, aber das konnte ich nicht wissen.“

Er öffnete wieder die Augen und richtete seinen Blick in den Himmel. Er war noch immer leicht bewölkt, aber die Sonne glitzerte schon ab und zu zwischen den Baumkronen hindurch. Vielleicht würde es heute doch noch schön werden.

„Was die Hitze bei mir selbst angeht, kenne ich die Antwort leider nicht wirklich darauf. Außer, dass ich vermutlich weniger Bedürfnis nach etwas zu Essen haben werde, da mein Körper die Nahrung nicht verbrennen muss, um meine Temperatur aufrecht zu erhalten, damit ich nicht friere.“

Aber das mit dem Schwitzen war schon richtig. Leider könnte das nicht das Einzige unangenehme werden. Ryon wusste aus Erfahrung mit heißen Sommern hier, dass er ganz schön mit Ermattung zu kämpfen haben würde. Hitze zwang ihn förmlich zur Ruhe, ob er es nun wollte oder nicht. Dann könnte er den ganzen Tag schlafen, ohne sich auch nur einmal umzudrehen.

Als Ryon den Zweig wieder zu Boden gleiten ließ und seinen Blick wieder gerade aus richtete, konnte er schon das Haus zwischen den Bäumen hindurch scheinen sehen. Sie waren fast da und hatten somit den ganzen See umrundet.

Nun, er war nicht wirklich riesig, aber auch so hatte der Spaziergang ganz gut getan. Manchmal brauchte er diese Form der Erdung einfach. Besonders, vor und nach langen Reisen, die ihn in eine Umgebung zwangen, die eigentlich nicht die seine war.

„Was meinst du, sollen wir uns an die Reisevorbereitungen machen?“

25. Kapitel

Paige hatte sich in Ryons Bibliothek in einem alten Atlas das Land angesehen, das sie bereisen würden. Außer dem Nildelta, das grün in der gemalten Landschaft schimmerte, konnte von purem Leben sicher nicht die Rede sein.

Als sie nun zum Landeanflug auf den Flughafen von Kairo ansetzten, hatte sich dieser Eindruck noch nicht geändert.

Vom Flugzeug aus war Paige die Landschaft öde und eintönig erschienen. Nicht gerade eine Wüste, aber die Verwandtschaft zu diesem Landstrich war trotz verschiedener großer Ansiedlungen nicht zu verkennen. Der Pilot hatte ihnen vor dem Sinkflug mitgeteilt, dass in der Hauptstadt gerade trotz des beginnenden Herbstes 32°C herrschten. Etwas, dem Paige mit gemischten Gefühlen entgegen sah.

Sie hatte sich dem veränderten Klima entsprechend in leichte, karmellfarbene Stoffhosen und eine helle Bluse gehüllt. Dazu ihre Haare zu einem Zopf geflochten und wenn nötig, würde sie auch diese Scheußlichkeit von Hut aufsetzen, den sie besorgt hatte. Alles war besser als ein Sonnenstich.

Die kleine Maschine setzte mit einem Hüpfer auf und rollte anschließend zum Hangar für Privatflugzeuge, wo sie über eine kleine Leiter aussteigen konnten.

Es fühlte sich so an, als würden sie direkt gegen eine flirrende Hitzemauer laufen. Paige musste keine zwei Schritte tun, bevor sich Schweißperlen auf ihrer Stirn bildeten. Und doch war sie erstaunlich aufgeweckt nach diesem langen Flug und sah sich fasziniert in den Gebäuden um, durch die sie von einem Flughafenmitarbeiter geführt wurden.

Während die Visaangelegenheiten erledigt wurden, saßen sie in einem klimatisierten kleinen, sauberen Raum. Der Lounge für Privat- und erste Klasseflieger. Dort servierte man ihnen sogar eisgekühlte Getränke, Tee oder wahlweise frische Melonen.

Paige entschied sich für einen Becher Ananassaft und wartete geduldig, bis man ihr ihren Pass wiederbrachte. Flora Burke bedankte sich und lief dann hinter ihrem Begleiter her in die verglaste, mit illuminierten Palmen geschmückte Eingangshalle.

Sie hatten von London aus bereits ein Hotel gebucht. Ohne zu Murren hatte Paige Ryons Entscheidung akzeptiert und wartete nun geduldig auf den Wagen, der sie ins Four Seasons bringen sollte.

Wenn es nur annähernd so aussah, wie auf den Bildern, die sie gesehen hatte, erinnerte es sie an die alten Agatha Christie - Filme, die sie gesehen hatte. Luxus pur. Und wenn es das Budget erlaubte, würde sie zu gern das Spa ausnutzen. Eine Schaummassage hörte sich einfach zu verlockend an, um es nicht auszuprobieren.
 

Im Flugzeug hatte er Paige den Fensterplatz überlassen, damit sie die Landschaft beobachten konnte, während er nur wenig Interesse dafür hegte. Stattdessen las er noch ein wenig in dem Buch, das der Grund für diese Reise darstellte.

Ryon versuchte sich durch die Beschreibung der Eindrücke schon einmal darauf vorzubereiten, was da auf sie zukommen könnte, aber er war noch nie in Ägypten gewesen und konnte sich somit dürre Landschaften, vermummte Einheimische und den orientalischen Flair nicht wirklich vorstellen. Aber es würde auf jeden Fall nicht langweilig werden, das war sicher.

Schon beim Aussteigen, verschlug es ihm fast den Atem. Im Flugzeug hatten angenehme Temperaturen geherrscht und bei ihnen zu Hause waren zwanzig Grad schon warm gewesen, aber hier herrschten nach Angaben des Piloten sogar 32°. Genau so kam es ihm auch vor.

Ryon hätte am liebsten auch noch das dünne Baumwollhemd und die Ockerfarbene Leinenhose ausgezogen, so heiß war ihm schon nach den ersten Atemzüge. Aber zum Glück war sein Körper überdurchschnittliche Wärme gewöhnt, weshalb er nicht gleich zerfloss wie ein Wasserfall.

Trotzdem war es unangenehm und die leichte Brise vermochte es auch nicht, ihm Kühle zu spenden, wenn sie über seine Haut strich.

Zum Glück war es im Warteraum angenehm klimatisiert, während alles für ihre Ankunft geregelt wurde. Ryon begnügte sich währenddessen mit einem Glas Eiswasser und dem Beobachten der anderen Reisenden, bis man ihnen die Pässe brachte und es weiter gehen konnte. Wieder hinaus in die Hitze.

Vor dem Eingang des Flughafens standen nicht nur unzählige Taxis sondern auch die ein oder anderen schwarzen Wagen, die auf ihre Kundschaft warteten. Ryon umschlang den Griff seines Koffers etwas fester, als er einen geschniegelt und geputzt aussehenden Chauffeur ein Schild mit dem Namen ‚Mr. Ryan Anderson‘ hoch halten sah. Nur ein weiterer gefälschter Name in der langen Liste seiner gefälschten Namen.

„Hier entlang.“, meinte er zu Paige und deutete auf den Wagen, der sie zum Hotel bringen würde.

Kurz stellten sie sich dem Fahrer vor, der vorzüglich Englisch sprach, wie man es von Angestellten eines Hotels wie das Four Seasons auch absolut erwarten konnte, ehe dieser ihr Gepäck verstaute und sie sich währenddessen auf die Rückbank des Autos schoben.

Abermals blies ihnen angenehm kühle klimatisierte Luft entgegen, die langsam aber sicher Kopfschmerzen bei Ryon auslöste. Er konnte sich trotzdem nicht entscheiden. Kopfschmerzen oder Hitze. Letztendlich entschied er sich für Kopfschmerzen. Die waren leichter zu ignorieren.
 

Es gab unglaublich viel zu sehen, nicht nur während der Fahrt, sondern auch im Hotel.

Sehr viel hatten Ryon und Paige nicht mit einander gesprochen, aber das war auch absolut nicht nötig gewesen. Immerhin wollte sicherlich auch sie ihre Einrücke erst einmal ganz für sich aufnehmen. Obwohl Ryon sich fast sicher war, dass er nicht ganz so viel Begeisterung aufbrachte, wie sie. Immerhin, vom Stil her, erinnerte es ihn wage an sein Elternhaus. Vielleicht war es hier noch pompöser, noch luxuriöser und verschnörkelter, aber durchaus mit angemessener Eleganz und gutem Stil.

Dieses Mal gab es keine Probleme mit den Zimmern, die er reserviert hatte. Zwei Einzelzimmer, die nebeneinander lagen, aber beide für sich fast so groß waren wie eine kleine Wohnung. Wenn sie hier mehr als nur ein paar Tage verbringen mussten, dann war eine gewissen räumliche Freiheit garantiert nicht verkehrt.

Während sie ohne ihr Gepäck im Fahrstuhl hoch fuhren, denn das hatte man bereits auf ihre Zimmer gebracht, holte Ryon etwas aus seiner Hosentasche und streckte es Paige hin.

„Hier. Ich weiß zwar nicht, ob wir es brauchen werden, aber ich gehe lieber auf Nummer sicher.“

In seiner Hand hielt er ein kleines, rotes Handy, dass exakt auf die Farbe von Paiges Schuppen abgestimmt war. Was auch immer er sich dabei gedacht hatte, er würde es sicherlich nicht weitererzählen.

„Meine Nummer ist auf der Eins eingespeichert. Du kannst es aber auch so jederzeit benutzen, solange du damit Empfang hast. Das Ladegerät bringe ich dir später vorbei.“
 

Hier in Ägypten kam sich Paige in dem großen, luxuriösen Hotel noch genauso fehl am Platze vor, wie damals in Paris. Aber der Umgang mit Ryon fiel ihr inzwischen zumindest ein wenig leichter.

Sie konnte mit weniger Gedanken neben ihm her in die Eingangshalle gehen, die für ihren Geschmack fast etwas zu vollgestellt und glänzend wirkte. Der Luxus schien aus jeder Pore polierten Holzes zu quellen, während die verschiedenen Sessel und Canapes unter der Last von bestickten Kissen beinahe ächzen mussten.

Paige war in diesem Ambiente zwischen Erstaunen und erschlagen werden hin und her gerissen. Daher bekam sie noch nicht einmal die Anmeldung richtig mit und wie ihr die Schlüsselkarte für ihr Zimmer in die Hand gedrückt wurde.

Erst als sie mit Ryon im Aufzug stand und die kleinen leuchtenden Ziffern über der Tür beobachtete, die kontinuierlich anstiegen, spürte sie die Müdigkeit der Reise. Ihr Körper konnte sich nicht recht entscheiden, ob er vom Flug völlig fertig oder wegen der wenigen Bewegung aufgedreht sein sollte.

Paige würde es einfach auf eine Dusche und etwas Ausruhen ankommen lassen. Sehr viel Zeit würden sie sich für so etwas wahrscheinlich sowieso nicht lassen. Die Spuren waren kalt genug, es sollte sich nicht mehr Sand darüber anhäufen, als es sowieso bereits der Fall war.

Ryon richtete das erste wirkliche Wort an sie, als sie nur noch ein Stockwerk von ihrem entfernt waren. Ein kleines 'Pling' fiel mit dem Moment zusammen, in dem er ihr das kleine Mobiltelefon in die Hand legte. Als sie die Farbe erkannte, musste sie schmunzeln.

"Danke."

Sie würde es sicherlich nicht dazu benutzen ein ewiges Ferngespräch mit Ai zu führen. Aber wenn sie doch eine Weile hier in diesem fremden Land verbringen sollten, dann war die Option mehr als willkommen.

Zwischen ihren Türen verabschiedeten sie sich und Paige ging langsam in ihr Zimmer. Saugte jedes kleine, erstaunliche Detail des Raumes in sich auf und war von der Aussicht völlig geplättet. Deshalb stand sie auch eine Weile nur vor dem Fenster, sah hinaus und überlegte, ob es hier wohl ähnlich schwierig oder leicht sein würde, die übernatürlichen Bewohner zu finden, wie bei ihrer letzten Reise. Zumindest würde es mit der Temperatur für sie keinen der lästigen Zwischenfälle mehr geben, die Ryon ausgesprochen ungern wiederholen würde. Ihr ging es genauso.
 

"Obwohl sie nun ein paar Tage hier war, habe ich immer noch nicht mit ihr darüber gesprochen."

Sie saßen auf einer Bank, mit Blick auf den Garten. Ai hatte ihre Hände über dem Mantel auf ihren Bauch gelegt und streichelte sanft darüber.

"Ich denke, dass sie es verstehen wird, aber..."

Etwas traurig sah sie zu Tyler auf und nahm seine Hand.

"Die Chancen stehen schlecht, dass sie hier bleiben will. Ob ihr sie nun einladet oder nicht. Selbst wenn es Ryon nichts ausmacht... Ich denke, dass sie zu stolz ist, sich hier niederzulassen. Außerdem ist die World Underneath ihr Zuhause."

Sie hätte wirklich mit Paige sprechen sollen. Darüber, dass sie hier bleiben wollte. Wo ihr Baby die besseren Chancen auf ein gutes Leben hatte. Und es ging ihr schon eine Weile nicht mehr nur allein um ihren Nachwuchs.
 

Ai lachte leise, als Tyler 'ihre beiden' mit dem Film-Archäologen verglich. Irgendwie passte die Vorstellung von Kakihosen und einem Schlapphut genauso gut auf Paige, wie sie auf Ryon passte. Nämlich überhaupt nicht.

"Du hast Recht."

Sie drückte seine Hand ein wenig fester und lächelte ihn an.

"Bevor das Baby nicht auf der Welt ist, wird sie mich sicher nicht allein lassen. Da müsste schon Einiges passieren."

Ihr Lächeln wurde kleiner, als ihr Tyler mit seiner nächsten Frage so zu sagen das Stichwort gab.

"Ehrlich gesagt, weiß ich nicht, ob sie zusammen passen würden. Über Ryon kann man sich so gar keine Meinung bilden."

Es folgte eine lange Pause, in der Ai darüber nachdachte, wie sie die folgenden Worte formulieren sollte, ohne Paige zu verunglimpfen.

"Aber das kann unter Umständen genau der richtige Weg sein. Paige ist diesbezüglich etwas ... übervorsichtig."

Das war die beste Formulierung, die sie fand. Dafür, dass sie den netten Barkeeper, der schon ewig hinter ihr her war, ihr den Hof machte, noch nicht einmal geküsst hatte. Und das, obwohl sie ihn mochte.

"Über das Verhältnis zu ihrem Vater schweigt sie sich meistens aus, aber er ist der Grund dafür, dass sie denkt, kein Mann könnte sie auf Dauer gern haben. Geschweige denn lieben."

Ihre dicken schwarzen Haare flossen über ihrer beiden Schultern, als sie sich an Tyler lehnte und auf ihre verschlungenen Finger sah.

"So, wie ich sie kenne, würde ich sagen, sie denkt noch nicht einmal daran, dass sie mehr sein könnten, als Freunde. Aber den Anspruch hat sie auf jeden Fall."

Das hatte man daran gesehen, wie sie mit ihm umging. Nicht nur den Männern war das Verhalten der beiden bei diesem speziellen Mittagessen aufgefallen.

"Denkst du denn, dass er sie an sich heran lassen wird?"
 

Tyler schloss einen Moment lang die Augen und genoss das Gefühl von Ais warmen Körper an seinem und wie der Duft ihrer Haare ihm in die Nase stieg. Ein warmes Lächeln umspielte dabei seinen Mund und wurde sogar noch breiter, als er an Ryon und Paige dachte.

„Ich denke, dass sie genau die Art von Frau und Persönlichkeit ist, die es schaffen könnte, seinen Panzer zu durchbrechen. Vielleicht wird es länger dauern, als bei normalen Beziehungen, bis die beiden auf die Idee kommen könnten, dass Freundschaft alleine für sie beide vielleicht gar nicht das zutreffende Wort ist. Aber wenn du sagst, dass Paige ebenfalls ihre Probleme in diesen Dingen hat, dann finde ich, passen die beiden gut zusammen. Es wäre gar nicht so abwegig, dass sie sich unbewusst gegenseitig helfen könnten, diese Hürden zu nehmen.“

Langsam drehte er sich etwas zu Ai herum, um ihr in die Augen sehen zu können. Das Lächeln war immer noch da, als er mit seiner anderen Hand sanft über ihre Wange strich.

„Im Augenblick mag unser Eisklotz noch im Winterschlaf sein, aber wenn Paige ihn erst einmal aufgetaut hat, dann wird er sicher auf sie aufpassen. Früher einmal war er umsichtig, liebevoll, zärtlich und immer auf das Wohl seiner Liebsten bedacht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich so viel daran geändert haben soll. Außerdem, wenn er sich noch ein einziges Mal in seinem Leben dazu bereit erklären sollte, zu lieben, denkst du nicht auch, dass er diese Liebe dann je stehen lassen könnte?“

Wenn das Unmögliche möglich werden würde und Paige für Ryon einmal wirklich die Eine im Leben sein sollte, dann würde er lieber sterben, als sie gehen zu lassen. Einen weiteren Verlust könnte er womöglich nicht mehr verkraften.
 

Tyler strich zärtlich mit seinem Daumen über ihren Handrücken. Er erwiderte ihren Blick und stellte wie schon oft in letzter Zeit fest, dass dieser Frau nicht nur die Schwangerschaft sehr gut bekam, sondern auch ihr Gesicht gesünder und vitaler aussah. Wenn er daran dachte, wie abgemagert sie gewesen war, als sie hier ankam, konnte er sich kaum vorstellen, dass es sich hier um ein und dieselbe Person handelte.

„Ich kann dir leider nicht sagen, was die Zukunft bringt. Aber im Augenblick ist sicher, dass die beiden noch eine ganze Weile damit beschäftigt sein werden, Indiana Jones zu spielen. Außerdem wird sie sicherlich nicht die Geburt verpassen wollen. Also viel Zeit, in der sich sehr viel verändern kann.“

Seine Worte waren etwas kryptisch. Er wollte nichts andeuten, von dem er nicht absolut sicher war, dass es passieren würde, aber Tyler war sich dafür ziemlich sicher, dass da etwas im Gange war.

„Was hältst du eigentlich von unseren beiden? Glaubst du, sie würden zusammen passen?“

Einer Eingebung folgend, hatte er diese Frage gestellt. Ai kannte Paige besser, als jeder andere, soweit er wusste. Gerne würde er ihre Meinung dazu hören, auch wenn das Verhältnis der beiden nicht weiter von Belang war, wenn es um das ging, was er für Ai empfand. Denn das wuchs von ganz alleine, jeden Tag immer weiter an.
 

Ryon ließ nur einen kurzen Blick über das Mobiliar schweifen, ehe er auch schon sein Hemd geöffnet hatte und es abstreifte, während er ins Bad marschierte.

Auch hier war es angenehm temperiert, aber er wollte jetzt trotzdem die Reise von sich waschen. Das luxuriöse Bad mit der rießigen Duschkabine war ihm da nur ganz recht.

Er stand länger unter dem Wasserstrahl als höflich war, aber einen Fuß auf die Fließen vor der Dusche zu setzen, würde bedeuten, das Abenteuer begann. Er würde sich anziehen, Paige anrufen und sich danach erkundigen, wie weit sie selbst war und ob sie bereit war, mit ihm auf Tour zu gehen, um mit den Nachforschungen zu beginnen. Dass sie hier nicht ihre Zeit verbrachten, um Urlaub zu machen, war natürlich im Vorhinein klar gewesen, trotzdem hoffte er auch darauf, sich etwas die Gegend ansehen zu können.

Schließlich zwang er sich doch dazu den lauwarmen Wasserstrahl abzustellen, der ihn angenehm gekühlt hatte, sich abzutrocknen und anzuziehen. Er föhnte sich noch rasch die Haare, obwohl er sie bei der Temperatur durchaus lufttrocknen hätte lassen können. Aber als Gast dieses Hotels musste man selbst auch eine gewisse Etikette einhalten.

Mit einer Hand voll Datteln und seinem eigenen Handy, setzte er sich auf die ausladende Couch und drückte die Kurzwahltaste für Paiges Nummer.

Natürlich hätte er auch einfach eine Tür weiter anklopfen können, aber so konnte er gleich einmal ausprobieren, ob mit den Handy immer noch alles in Ordnung war, wie vor ihrer Abreise.
 

Mit einem Hechtsprung übers Bett, bei dem ihr das Handtuch ein wenig vom Körper glitt, ergriff sie ihre Hose und suchte in der Tasche nach dem Handy. Zuerst hatte sie das Läuten nicht gehört oder es zumindest nicht als das gedeutet, was es tatsächlich war. Sie hatte noch nie so etwas wie ein Handy besessen.

"Hallo?", hauchte sie etwas atemlos und versuchte gleichzeitig das kleine Telefon unter die nassen Strähnen ihres Haars zu stecken, anstatt damit noch den Anrufer vor ihrem Ohr zu dämpfen.

Nicht ganz überraschend hörte sie Ryons Stimme.

"Du weißt, dass ich nebenan wohne, oder?"

Mit einem Grinsen auf dem Gesicht ging sie zur gemeinsamen Wand hinüber und klopfte mit einer Tasse dagegen, in der sie sich Tee gemacht hatte und die immer noch herum stand. Bei seinem feinen Gehör, würde das Geräusch vielleicht sogar bei ihm ankommen.

"Hm? Ja, gib mir noch zehn Minuten, dann bin ich angezogen und fertig für's Abenteuer."

Sie legte auf und zog sich schnell ein paar geeignete Sachen an, bevor sie exakt zehn Minuten später aus der Tür trat und Ryon gegenüber stand.

"Diesmal fragen wir aber einfach nach dem Weg, ok?"
 

Als er ein leises Klopfen an der Wand hörte, war das wie eine Untermalung für Paiges Worte. Natürlich war er sich bewusst, dass sie nebenan wohnte. Bewusster hätte ihm das gar nicht mehr sein können. Aber genau darum ging es ja. Unnötige Dinge zu tun, die unnötig Geld kosteten, um sich unnötig die Zeit etwas zu vertreiben oder sich mit unnötigem Geplänkel aufzuhalten. Denn eigentlich, hätte man das amüsant finden können, wenn er denn etwas empfinden würde.

So aber verabredete er sich mit ihr im Flur und legte auf.
 

„Natürlich können wir das versuchen, aber … ich weiß nicht, wie dein Arabisch aussieht, aber meines ist ziemlich eingerostet.“

Oder besser gesagt, er hätte nicht einmal Hallo oder Ja und Nein auf dieser Sprache sagen können, obwohl er sich sogar einen Sprachführer mitgenommen hatte. Für alle Fälle, nur war er noch nicht dazu gekommen, ihn zu lesen.

„Was hältst du davon, wenn wir uns einfach einmal auf dem Basar umsehen? Ich meine, wir sind weiter weg von London, als bisher. Wir haben sicher etwas Zeit und Tyler hat mich gedrängt ihm ein paar der orientalischen Gewürze mitzubringen, die es bei uns Zuhause nur in dürftiger Qualität gibt.“
 

"Ich gebe die Hoffnung immer noch nicht auf, dass es irgendwo auf dieser Welt eine Stadt gibt, in der die Unterwelt mit einem Schild als Stadtteil ausgewiesen wird."

Mit ernsterem Gesichtsausdruck, als es die Aussage erforderte, hatte sie mit dem Zeigefinger in der Luft herum gewedelt und dann mit einem Grinsen zu Ryon aufgesehen.

Nichts.

Mit Mühe und Not verkniff sie sich ein Seufzen und sprach dann in ruhigem Ton weiter.

"Ok, lass uns für Tyler einkaufen gehen. Hier gibt es doch so viele Touristen, dass ich mir vorstellen könnte, dass die Sprachbarriere nur eins der kleineren Probleme wird."

Sie dachte darüber nach, welche Kreaturen wohl hier am häufigsten beheimatet waren. Bestimmt war der Anteil an Feuerdämonen relativ hoch. Dazu lud das Klima einfach ein. Und die Sphinx stand auch nicht ganz ohne Grund hier in der Nähe herum.

An die Wand des Aufzugs gelehnt sah sie Ryon an.

"Glaubst du, dass es hier irgendwo Greife gibt?"

Ihre Augen strahlten bei der hoffnungsvollen Frage ein wenig. Diese Fabeltiere waren mehr oder weniger Paiges Einhörner. Schon immer hatte sie einen sehen und als Kind sogar einen als Haustier haben wollen. Natürlich war es eine völlig abwegige Vorstellung diese riesigen, geflügelten Tiere einzusperren, aber Kinderphantasien konnte man mit Fakten nur selten zerstören.

"Ich würde zu gern mal einen berühren. Sie müssen wunderschön sein."
 

„Greife?“

Ryon drehte seinen Kopf zu Paige herum und sah sie an. Eigentlich hätte man jetzt irgendeine Reaktion erwarten können. Ein Lächeln, ein Stirnrunzeln oder wenigstens das fragende Heben einer Augenbraue, aber da war nichts. Stattdessen richtete er seinen Blick wieder auf die geschlossenen Fahrstuhltüren.

„Alles was ich über Greife weiß, ist die Art, wie sie aussehen. Wie sie allerdings leben und vor allem wo, übersteigt meinen Horizont.“

Und um ehrlich zu sein, er wusste zwar, dass es viele seltsame Wesen auf der Welt gab, hätte aber nicht gedacht, dass hier noch mehr herum streunten, als angenommen. Greife hätte er nun wirklich den Mythen und Legenden zugeschrieben und nicht den atmenden Tatsachen. Es gab wohl immer noch etwas über die Anderswelt dazuzulernen.

„Wer weiß, vielleicht sehen wir ja wirklich welche. Interessant wäre es auf alle Fälle.“

Der Fahrstuhl blieb mit einem leisen Glockenton stehen und die Türen öffneten sich. Nun denn, auf ins Abenteuer!

26. Kapitel

Wenn sie Ryon ein Talent zusprach, dann war es das, ihr jeglichen Wind aus den Segeln zu nehmen.

Sein Kommentar zu ihren geliebten Fabeltieren ließ sie für einen winzigen Moment, als er wieder auf die Fahrstuhltür sah, eine beleidigte Schnute ziehen. Es überstieg also seinen Horizont?

Na, da wüsste sie noch einige andere Sachen... Und ihre eigene Grenze würde er wahrscheinlich irgendwann höchst persönlich ebenfalls überschreiten.

Da hatte Paige doch wirklich darauf gehofft, dass sie sich verstehen könnten. Vor allem in der Nacht, in der sie ihn aufgeschreckt hatte, war es ihr so vorgekommen, als wäre seine eiskalte Fassade ein wenig ins Bröckeln geraten. Aber nein, wenn man ehrlich war, schimmerte die Eisschicht nun glatter und abweisender als jemals zuvor.

Zum Markt war es nur ein Stück zu laufen, dessen gesamte Dauer Paige schwieg und vor sich hin überlegte. Sie musste den Ryon aus dem Bericht von Tyler und Tennessey mit dem, was er jetzt war, verwechselt haben.

"Reines Wunschdenken.", scholt sie sich leise selbst, obwohl sie gar nicht genau sagen konnte, warum sie das so aggressiv machte.

Wenn man ihre Abmachung bedachte, konnte das doch nur von Vorteil sein. Keine Verpflichtungen, die über das Geschäftliche hinaus gingen. Mal davon abgesehen, dass er ihr nun schon zweimal das Leben gerettet hatte. Vielleicht war es auch nur das, was sie so unglaublich wurmte.
 

Auf dem Basar kam man sich teilweise vor wie in 1001 Nacht. Allerdings mit modernem Touch. Aber was die feilschenden Händler, die laut ihre Waren hinaus posaunten und die Vielfalt an orientalischen Waren anging, traf das doch ziemlich genau zu.

Ryon war noch nie in seinem Leben auf einem Basar gewesen und dementsprechend erschlugen ihn fast die vielen Eindrücke. Es gab so viele Gerüche, die er kaum zuordnen konnte. Die Straßen waren dicht Gedrängt von Touristen und Einheimischen, die Waren hatte man dicht an dicht aneinandergereiht und ließen nur ab und zu Lücken, um seinen Augen eine Verschnaufspause zu gönnen. Auch der Lärmpegel war absolut nicht von schlechten Eltern, was sein empfindliches Gehör etwas strapazierte, aber das vergaß er leicht, während er gar nicht wusste, wo er zuerst hinsehen sollte.

Unbewusst war er schon nach Betreten des Basars dicht an Paige herangetreten, so dass sich ihre Arme fast berührten. Er wollte sie in dem Gedränge nicht verlieren und irgendwie war sie hier ja auch seine einzige Verbündete, die er in diesem fremden Land hatte.

„Ich denke, wäre Tyler hier, der würde vor der riesigen Auswahl an Gewürzen verzweifeln. Gut, dass er mir eine simple Liste mitgegeben hat.“

Obwohl Ryon sich fast schon sicher war, dass sein Freund mit seinem hohen Alter bestimmt schon das ein oder andere Mal im Leben auf so einem Markt gewesen war. Zeit genug hatte er immerhin dafür.

Da Ryon sich selbst nicht ganz entscheiden konnte, welchen Gewürzhändler er nun beglücken sollte, suchte er sich einfach den aus, der am besten Englisch sprach. Denn die Qualität schien bei allen gut zu sein und er musste mit dem Mann feilschen können. Natürlich hätte er auch einfach so den angegebenen Preis bezahlen können, aber soweit er gehört hatte, wäre das für den Händler beleidigend gewesen, weshalb er sich mit dem Feilschen auch größte Mühe gab, bis der kleine braungebräunte Ägypter lachend einwilligte und ihm die heißumkämpften Gewürze überreichte.

Dankend nahm Ryon sich an und stellte fest, dass ihm der Schweiß auf der Stirn stand.

Feilschen war wirklich anstrengend und bei der Hitze, die sich hier zu sammeln schien, erst recht. Er spürte schon jetzt, wie er langsam matt wurde. Aber davon würde er sich nicht aufhalten lassen. Noch nicht jedenfalls.
 

Da sie so in sich selbst versunken gewesen war, konnte sie die Verlockungen des Marktes erst zu dem Zeitpunkt wahrnehmen, als Ryon mit dem Handeln beschäftigt war.

Er stellte sich für einen Anfänger ganz ordentlich an. Auch wenn Paige ihm für das bisschen Gewürz noch den halben Preis rausgeschlagen hätte. Immerhin kannte sie sich mit dem Feilschen aus. Es war ein wichtiger Teil davon, wie sie schon für lange Zeit ihren Lebensunterhalt bestritt.

Während er also vor sich hin plauderte, versuchte für das Angebot nicht zu viel zu bezahlen, sah Paige sich aufmerksam in der näheren Umgebung um. Ähnlich wie in Paris fiel ihr sofort ein Stand ins Auge, bei dem sie sich das Angebot gern etwas genauer besehen hätte. Diesmal war es allerdings kein Schmuck, sondern wunderschöne, bunte Tücher.

Wenn Paige allerdings genauer darüber nachdachte, brauchte sie so etwas nicht. Es wäre nur ein Erinnerungsstück, das sie wohl in ihrer gewohnten Umgebung zu Hause sowieso nicht tragen würde.

Sobald Ryon die wenig spektakuläre und für die Umgebung vollkommen unpassende Plastiktüte mit den Gewürzen entgegen genommen und sich umgedreht hatte, sah Paige zu ihm auf.

Eine schwarze Haarsträhne klebte ihm schweißnass auf der Stirn. Was sie ihm nicht verdenken konnte, obwohl sie selbst die einigermaßen trockene Hitze noch ganz gut wegsteckte. Besser, als sie selbst vermutet hätte.

"Noch andere Pläne?", fragte sie wenig enthusiastisch.

Eigentlich war sie wegen des Greifen-Kommentars immer noch beleidigt. Aber warum sich aufregen? Das brachte bei Ryon überhaupt nichts. Selbst ein Wutanfall oder eine ausgemachte Szene wäre an seinem Panzer wahrscheinlich ohne die kleinste Wirkung abgeprallt.

Eisschranks Comeback war trotz der heißen Umgebung vollkommen geglückt. Am liebsten hätte sie ihn gefragt, ob er glücklich darüber war.
 

Ryon blickte vom Inhalt der Plastiktüte hoch, als er Paiges Worte hörte und sah ihr direkt ins Gesicht.

Etwas stimmte nicht.

Das erkannte er deutlich an dem Klang ihrer Worte, allerdings war ihre Miene verschlossen, so dass er nichts Näheres darüber erfahren konnte, weshalb sie so seltsam geklungen hatte.

Einen Moment lang war er versucht, sie zu fragen, was denn los sei, doch er ließ es am Ende doch bleiben.

„Wenn du nichts dagegen hast, würde ich mich gerne noch etwas weiter umsehen. Tennessey will sicher auch irgendein Mitbringsel haben und … noch ein paar andere, würden sich auch freuen.“

Die gar nicht wussten, dass er in Ägypten war. Aber wenn Ryon sich vornehmen musste, die Waisenkinder in Zukunft nicht mehr zu sehen, bis die ganze Sache hier durchgestanden war, dann wollte er ihnen doch wenigstens noch eine Freude machen, die sie über seine Abwesenheit hinweg ein bisschen aufmuntern konnte.

Ägyptische Souvenirs boten sich dazu regelrecht an. Immerhin, die kleine Mia war ohnehin von ihm als Katze besessen. Wenn er ihr ein kleines Figürchen von der Göttin Bastet oder etwas in der Art mitbrachte, die sie herumtragen und an der sie bedenkenlos nuckeln konnte, wäre das schon einmal ein Anfang. Für die anderen fiel ihm garantiert auch noch etwas ein.

Je mehr Ryon über diese Idee nach dachte, umso entschlossener war er. Das würde sie zwar vermutlich für einige Zeit von dem wesentlichen Grund ihres Hierseins abhalten, aber ihnen lief im Augenblick ohnehin nichts davon und morgen war schließlich auch noch ein Tag. Außerdem wäre es ihm ohnehin lieber, wenn sie in den kühlen Abendstunden erst so richtig tätig wurden. Noch war die Hitze erträglich, aber er fühlte sich körperlich ganz und gar unwohl.

Da sie ohnehin noch nicht den ganzen Basar gesehen hatten, bot sich diese Möglichkeit nun, während sie weiter gingen und Ryon sich speziell nach Dingen umsah, die für ihn in Frage kämen.

Je weiter sie kamen, umso geschickter wurde er mit dem Feilschen und umso mehr kleiner Schätze häufte er in seinen Händen an, bis er auch das letzte Geschenk, ein ägyptisches Heilkundebuch für Tennessey auf Englisch hatte ergattern können.
 

Es war schon seltsam Ryon beim Shoppen zuzusehen. Wie er jedes Mitbringsel sorgsam aussuchte, um den Preis handelte und es dann in einer weiteren Plastiktüte mit sich herum trug.

Mit der Zeit wurde auch sein Feilschen besser. Und Paige wurde ungeduldig.

Sie selbst konnte sich nichts kaufen. Ihre Rücklagen, die sowieso schon klein gewesen waren, schmolzen trotz der großzügigen Unterbringung in Ryons Haus und dessen Versorgung mit allem Lebenswichtigen langsam aber sicher dahin. Das lag vor allem daran, dass sie ihm nicht immer auf der Tasche liegen wollte und manche Kleinigkeiten wie eine Tasse Tee oder Früchte, etwas zu Essen für nebenbei, selbst bezahlte.

Sie brauchte sich also gar nicht groß davon zu überzeugen, dass sie nichts brauchte. Eins dieser überteuerten Mitbringsel war sowieso nicht drin.

Also ging sie stillschweigend hinter Ryon her, bis sie an einer Teestube ankamen, auf deren Terrasse kleine bunte Tische standen. Alles war mit bunten Mosaiken geradezu übersäht und Paige war von den Goldverziehrungen und glitzernden Steinen, die in den Putz eingefügt waren, geradezu fasziniert. Außerdem gab es im Inneren einen grazilen Springbrunnen, der mit der pinken Markise zumindest äußerlich ein wenig Kühlung versprach.

"Wollen wir uns eine Pause gönnen?"

Ob er fertig war mit seinen Besorgungen, konnte sie nicht sagen. Er sprach ja nicht mit ihr. Weder darüber, für wen die Geschenke gedacht waren, noch über etwas Anderes.

Die Gesellschaft in seinem Haus fehlte ihr schon jetzt.

Erst seit sie mit Ryon unterwegs war, fiel ihr auf, wie sehr sie doch auf freundlichen Umgang reagierte. Es brachte sie dazu, sich besser zu fühlen. Wenn man Paige zu lange die Unterhaltung abschnitt, ging sie ein wie eine Primel, die trocken gelegt wurde.

Das konnte sie vielleicht dadurch verhindern, dass sie selbst das Ruder übernahm. Ein gemeinsames Selbstgespräch, wenn man so wollte.

'Na, nun hör aber auf. Er hat dir doch nichts getan.'

Sie setzten sich an einen der Tische, der gerade auf der Grenze zwischen Außen und Innenraum lag und über dem die Markiese Schatten spendete.

Paige bestellte ein Kännchen Tee und versuchte dann ihre Laune selbst wieder etwas zu heben.

"Wirklich wahnsinnig interessant, was hier alles verkauft wird. Es ist sogar mehr, als ich mir vorgestellt hatte."
 

Eine Pause hätte sich nicht verlockender anhören können, wenn sie nicht aus Paiges Mund in Form eines Vorschlags gekommen wäre. Nur zu gerne wollte er dieser Frage nachgeben, immerhin, sein Kopf tat ihm inzwischen wieder weh und er hatte das Gefühl, als könne er sich auf der Stelle in einem Schattenplätzchen zusammen rollen und einschlafen.

Der Rundgang durch den Basar und das viele Feilschen hatten ihn mehr ermüdet, als er sich gedacht hätte.

Also gesellte er sich zu seiner Begleiterin in den Schatten, stellte die Einkäufe zwischen seinen Beinen auf den Boden und bestellte sich ein großes Glas Limonade. Hoffentlich tiefgekühlt, denn ihm war heiß. Dabei hatte er so dünne Klamotten am Leib, dass er sich ohnehin schon fast halb nackt vorgekommen wäre, wenn es ihn nicht trotzdem genügend kleiden würde.

Wie Paige da auch noch einen Tee bestellen konnte, verstand er zwar überhaupt nicht, aber es gab vermutlich nicht umsonst die Geschichten darüber, man solle in der Hitze nichts zu Kaltes trinken, sondern eher das Gegenteil. Aber das würde er wohl nie verstehen können. Er war kein Arzt.

Da Paige ohne Umschweife auf ein Gespräch zusteuerte und dabei dieses Mal kein Missklang in ihrer Stimme mitschwang, hakte Ryon sofort ein. Er sprach vielleicht nicht mit großer Begeisterung und mit vielen Gesten, die seine Worte noch unterstrichen hätten, aber das erwartete sie sicherlich auch nicht von ihm.

„Stimmt. Ich war noch nie auf einem Basar und hatte wirklich keine Ahnung, wie es werden würde. Man weiß anfangs gar nicht genau, wo man hinschauen soll und dann diese Gerüche! Als wären meine Augen nicht schon genug von der bunten Vielfalt abgelenkt.“

Ryon griff in die Tasche, wo er als letztes Tennesseys Mitbringsel verstaut hatte und holte das Buch hervor. Allerdings nicht, um es Paige zu zeigen, sondern sich damit etwas Luft zu zufächeln. Es half nicht sehr viel, aber immerhin etwas. Außerdem konnte er verdammt froh sein, dass es sich hierbei um eine trockene Hitze handelte und es bei dieser für normale Menschen noch halbwegs erträglichen Temperatur nicht auch noch schwül war. Das hätte ihm bestimmt, den letzten Rest gegeben.

Endlich kam ihre Bestellung. Doch als Ryon einen Schluck von seinem Getränk nahm, hätte er beinahe das Gesicht verzogen. Es war kühl, aber nicht kalt. Vielleicht hätte er seiner Bestellung noch das Wort ‚Arktisch‘ hinzufügen sollen. Doch es war auf jeden Fall besser als nichts. Außerdem war er durstig.

Trotzdem zwangen ihn seine anerzogenen Manieren dazu, langsam und gemächlich zu trinken, anstatt das Glas in einem Zug zu leeren. Was er nur liebend gerne getan hätte.

„Und du hast nichts gefunden, das dir zugesagt hätte?“, wollte er schließlich wissen, als er sich gezwungenermaßen das Glas selbst aus der Hand nahm und wieder auf dem Tisch abstellte, um sich erneut Frischluft zu zufächeln.
 

Der geschwungene Stuhl aus dunklem Holz wirkte unter Ryon so, als müsse er jeden Moment auseinander brechen. Nicht etwa, weil ihr Begleiter sich darauf hätte fallen lassen oder seine Leibesfülle zu Bedenken angeregt hätte. Aber er versuchte wohl seine langen Beine so weit wie möglich von sich zu strecken und hängte auch einen Arm über die schmale Stuhllehne.

Paige drängte sich der Spruch 'alle Viere von sich strecken' auf, so wie Ryon auf dem Stuhl hing, wie der sprichwörtliche Schluck Wasser in der Kurve.

Sein dünnes Hemd klebte selbst nach ihrer kurzen Tour schon so stark an seinem Oberkörper, dass Paige fast jede Kontur darunter erkennen konnte.

War ihm denn wirklich so heiß?

Seinen Blicken war wie immer nichts zu entnehmen, aber als er versuchte sich Luft mit dem alten Buch zuzufächeln, das er vor wenigen Minuten erstanden hatte, hob Paige zweifelnd die Augenbraue. Das würde nicht viel helfen und die Schweißperlen auf seiner Stirn hinderte es auch nicht daran, sich zu vermehren. Ryon sah wirklich so aus, als wäre er in dieser Hitze einen Marathon gelaufen oder hätte etwas ähnlich anstrengendes vollbracht.

"Ja, es sind wirklich viele Eindrücke auf einmal. Die Gerüche kamen schon mir an manchen Ständen recht aufdringlich vor. An deiner Stelle hätte ich davon bestimmt Kopfschmerzen bekommen."

Ihre Bestellung war gekommen und Ryon hatte nicht einmal gewartet, bis das Glas mit seinem Getränk richtig auf dem Tisch stand. Während Paige an ihrem Tee nur nippte, sah sie skeptisch zu ihm hinüber.

Wenn ihn so ein bisschen Hitze so fertig machte, würden das ganz schön anstrengende Tage werden. Außerdem sah er ziemlich geschafft aus, schon fast ein bisschen blass um die Nase. Da war wohl heute - zumindest am Nachmittag - nicht mehr viel Aktivität zu erwarten.

Bevor sie noch etwas bezüglich dieses Themas fragen oder kommentieren konnte, stellte Ryon seinerseits eine Frage.

Paige stellte ihre als winzig zu bezeichnende Teetasse neben der wunderschön gearbeiteten, bemalten Kanne ab und ließ ihren Blick über die paar Buden schweifen, die man von der Terrasse des Teehauses aus sehen konnte. Normalerweise war sie für die Wahrheit. Aber bloßstellen wollte sie sich auch nicht. Allerdings wollte sie ihn auch genauso wenig anlügen.

"Ein paar Sachen hätten mir schon gefallen. Aber ich bin nicht sonderlich in Shoppinglaune. Außerdem habe ich festgestellt, dass ich mich bei sowas zu sehr hinreißen lasse. Zu Hause würden mir die Sachen wahrscheinlich gar nicht mehr gefallen. Oder mir würde klar werden, dass ich einen dieser bunten Schals zu keinem meiner anderen Klamotten tragen könnte."

Das war geschickt um die Wahrheit herum manövriert. Ryon würde es ihr schon abkaufen. Denn gelogen war es nunmal auch nicht. Wobei ihr der Schal in Türkis, der aussah wie fließendes Wasser, schon sehr gut gefallen hätte. Vielleicht hatte sie irgendwann noch die Chance... wenn Ryon nicht dabei war.

Immer noch fächelte er sich mit dem kleinen Buch Luft zu und sah so aus, als müsse er in der nächsten Sekunde schmelzen.

Sollte sie etwas sagen? Aber ihn auf sein auffälliges Schwitzen hinzuweisen, kam Paige nicht besonders höflich vor. Dennoch konnte sie sich in gewissem Sinne nicht zusammen reißen. Er sah wirklich so aus, als wäre ihm ziemlich unwohl.

"Hältst du's aus? Ich kann dir ein bisschen was von meinem Tee abgeben. Zuerst fühlt es sich völlig falsch an, aber es hilft dem Körper, herunter zu kühlen."

Sie schob ihm vorsichtig die Teekanne hin und sah sich nach dem Kellner um, damit sie um eine zweite Tasse bitten konnte.
 

In Gedanken lobte er Paige für ihre umsichtige Vorgehensweise, was Geld anging. Sie hatte immerhin Recht. Nicht alles, was man unbedingt haben wollte, konnte man später auch wirklich brauchen und stand im Endeffekt nur in der Gegend herum, um Staub zu fangen. Vielen Frauen auf der Welt scheint dieser Umstand nicht klar zu sein und auch so einigen Männern, erging es nicht anders.

Ryon hatte heute zwar den Eindruck eines Kaufwütigen gemacht, zumindest was seine Verhältnisse anging, aber letztendlich würde er nichts davon behalten. Andere würden sich darüber freuen. Für sich selbst kaufte er grundsätzlich nur das Notwendigste, aber dafür dann vom Feinsten. Das war seine persönliche Art von Luxus, denn es kam eigentlich so gut wie nie vor, dass er sich etwas für sich selbst kaufte, nur allein, um seine Seele zu erfreuen. Es musste immer einen bestimmten Zweck erfüllen.

Er hätte vielleicht irgendetwas von seinen Gedanken laut aussprechen sollen, um das Gespräch am Laufen zu halten, aber irgendwie wurde ihm sogar Sprechen langsam zu anstrengend. In seinem Kopf hörte er so eine Art Dröhnen, als würde ihm das Blut mit Spitzengeschwindigkeiten an den Ohren vorbei rauschen und was die Kopfschmerzen anging, so hatte er die schon längst, aber sicherlich nicht wegen all der Gerüche.

Wie man sich fühlen musste, wenn man buchstäblich nur so dahin schmolz, konnte Ryon in diesem Augenblick deutlich nachvollziehen. Selbst wenn er sich auch noch die Haut ausgezogen hätte, er wäre nicht sicher gewesen, ob ihm das etwas Linderung verschaffen würde. Vielleicht ein Sprung in einen der Pools des Hotels?

Allerdings müsste er sich dazu auch schon wieder bewegen und im Augenblick erschien ihm das alles andere als verlockend. Denn sein Kopf wurde schwerer, seine Augen brannten und waren Lichtempfindlicher. Dem Rest seines Körpers ging es nicht anders. Er wollte sich einfach nur noch hinlegen.

Da das aber absolut nicht die passende Zeit dafür war, nahm er Paiges Angebot an und ließ sich vom Kellner noch eine Teetasse bringen, ehe er sich etwas davon einschenkte und vorsichtig einen Schluck davon nahm.

Im ersten Augenblick nahm er fast überhaupt keinen Temperaturunterschied zu dem Getränk und sich selbst wahr. Doch als ihm der winzige Schluck schließlich die Kehle hinunter lief und seinen Magen traf, kroch ihm eine regelrechte Hitzewelle den Rücken hoch. Ausgehend von seinem Bauch, breitete sich noch mehr Wärme in ihm aus, bis ihm fast das Buch aus der Hand gefallen wäre. Für einen Moment lang, hatte es vor seinen Augen geflimmert, so wie die Luft über heißen Asphalt flimmerte.

Schließlich stellte er die Tasse wieder ab und schüttelte vorsichtig den Kopf, was sich wie eine 360° Bewegung anfühlte.

„Nein, ich glaube nicht das es hilft.“

Eher das Gegenteil. Ihm wurde langsam schlecht, was ihm auch die Lust auf sein eigenes Getränk verdarb. Immerhin wollte er nichts heraufbeschwören, was ihn in eine noch schlimmere Lage bringen könnte. Also tat er schließlich das Einzige, was ihm noch übrig blieb, um wenigstens noch etwas von seiner misslichen Situation zu retten. Er trat den Rückzug an.

„Paige, es tut mir wirklich leid, aber hättest du etwas dagegen, wenn wir ins Hotel zurück gehen und Abends weiter machen?“

Selbst das Sprechen forderte seine vollste Konzentration.

Offenbar war er wirklich hinüber.

Wie andere Gestaltwandler so eine Hitze aushalten konnten, verstand Ryon nicht, aber vielleicht kam es einfach darauf an, was man gewohnt war und was nicht. Es war auf jeden Fall Kälte, die ihm zusagte. Keine Hitze.

Da Paige ohnehin nichts anderes übrig blieb, als auf seinen Vorschlag einzugehen, da er wohl schon längst wie eine schlappe Pfütze aussah, bezahlte er, nahm seine Sachen und mischte sich mit seiner Begleiterin zusammen wieder unter die Menschenmasse, die inzwischen deutlich an Dichte zugenommen hatte.

Es war unerträglich.

Die Gerüche brannten in seiner trockenen Nase, ebenso sehr wie es der Staub in seinen Augen tat. Fremde Leiber schoben sich an ihm vorbei, schienen mit ihrer Bewegung noch mehr Hitze in ihm zu entfachen, als würde man zwei Stöcke aneinander reiben, um Feuer zu machen.

Die Sonne knallte ihm förmlich auf den Schädel und obwohl Ryon sich in Menschenmengen trotz seiner Größe für gewöhnlich relativ gut bewegen konnte, stieß er nun immer wieder mit Leuten zusammen, die er einfach nicht gesehen hatte.

Seine Wahrnehmung schrumpfte im selben Maße, wie seine Fähigkeit zu klarem Denken abnahm. Weshalb er sich auch nichts dabei dachte, als er wieder einmal als Wellenbrecher herhalten musste, da sich hier offensichtlich jeder darauf verließ, dass er auf den Weg achtete, anstatt es selbst zu tun.

Der abgemagerte Mann in den vielen Stoffhüllen murmelte irgendetwas auf Arabisch. Vermutlich eine Entschuldigung, ehe er sich wie die anderen zuvor an ihm vorbei schob und gerade wieder unwichtig für Ryon geworden war, bis plötzlich sein Kehlkopf regelrecht zusammen gedrückt und sein ganzer Oberkörper nach hinten gerissen wurde.

Einen Moment lang konnte er nicht atmen, bis sein träger Verstand endlich begriff, was genau diesen Zug an seinem Hals hervor gerufen hatte.

Ryon wirbelte herum und konnte gerade noch sehen, wie der Mann, mit dem er eben noch zusammen gestoßen war, erst das Amulett in seiner Hand und schließlich die Kette, an der es immer noch an Ryons Hals hing anstarrte.

Irgendetwas hatte er in seiner anderen Hand. Vielleicht so eine Art kleines Messer mit seltsam gebogener Klinge. Auf jeden Fall nichts, mit dem man ernsthaft jemanden hätte verletzen können, wenn man nicht wusste, welche Körperstellen man damit direkt angreifen musste. Also war es wohl so eine Art Werkzeug.

Der kleine Schnitt an seinem Schlüsselbein, der langsam auf seiner schweißbedeckten Haut zu Brennen begann, machte deutlich um welche Art von Werkzeug es sich hierbei handelte.

Offenbar hatte der Kerl versucht, ihm das Amulett abzunehmen. Das jedoch konnte er nur bewerkstelligen, in dem er unauffällig die Kette durchtrennte, an der es hing. Dass es sich hierbei um eine magische Kette handelte, die man selbst mit roher Gewalt nicht zerstören konnte, konnte der Typ natürlich nicht wissen.

Endlich überwand Ryon seine Überraschung, doch die des Diebs schwand noch schneller. Der Mann ließ das Amulett los, als hätte er sich daran die Finger verbrannt und lief auch schon davon. Einen Moment lang überlegte Ryon es sich ernsthaft, ob er dem Kerl hinterher sollte, da der bloße Gedanke daran, ihm dieses Amulett zu stehlen, normalerweise schon Mordgelüste in ihm auslöste. Aber im Augenblick schien ihm selbst das zu anstrengend und außerdem konnte sich das Schmuckstück offenbar auch ganz gut alleine helfen. Es war also völlig unnötig, sich deswegen aufzuregen.

Als Ryon allerdings nach raschem abchecken seines Besitztums auch seine Brieftasche nicht mehr an ihren richtigen Platz vorfinden konnte, war sein Handeln schneller, als seine Gedanken.

Der Impuls, der sein ohnehin schon äußerst gereiztes Gemüt deutlich überstrapazierte, wurde sofort an seine Muskeln weiter gegeben, woraufhin er, ohne auf Paige und seine fallen gelassenen Einkäufe zu achten, dem Mann hinterher lief.

Seine Sicht war nicht mehr die aller Beste, dennoch hefteten sich seine Augen auf die Kehrseite des Diebs, um ihn in der Menschenmenge nicht zu verlieren.

Dieses Mal war Ryon es, der sich unhöflich einfach so an den Leuten vorbei drängte, jede Lücke zwischen den Menschen ausnutzte, mochte sie noch so klein sein und lief, als würde es um Leben und Tod gehen.

Eigentlich war der Inhalt seiner Brieftasche nicht wichtig. Alles nur gefälschte Ausweise, ebensolche Kreditkarten und etwas Bargeld, aber es war nicht der Inhalt, der Ryon so sehr aufbrachte, sondern einfach die ganze Situation.

Er fühlte sich beschissen, kam fast um vor Hitze, dann rempelte ihn dieser Idiot auch noch so heftig an, dass sein Magen noch mehr protestierte, als ohnehin schon und anschließend wollte er ihm auch noch das Amulett stehlen.

Dinge, die ihn ohnehin schon zu einer Reaktion gezwungen hätten. Da war der Verlust seiner Brieftasche einfach nur noch das Sahnehäubchen auf diesem ganzen Mist, der seine Nerven blank legte. Dazu kam nun auch, dass es ihn stink sauer machte, sich bei den Temperaturen auch noch so verausgaben zu müssen, so dass er schon nach kürzester Zeit keuchte wie ein altes Rennpferd nach seiner letzten Runde.

Einen Moment sah es sogar so aus, als würde er den Kerl tatsächlich verlieren, da die Menschenmenge einfach so dicht war. Doch da begann der Mann den Fehler, sich in eine der verwinkelten Seitengassen zu flüchten. Vermutlich hoffte er dort, ihn endgültig abhängen zu können. Aber genau das war Ryons einzige Chance, ihn doch noch zu erwischen.

Als er endlich dem Strom aus Leibern entkommen war, beschleunigten sich seine Schritte, so dass er merklich aufholte, bis er schließlich sogar deutlich das panische Gesicht des Diebs sehen konnte, als dieser einen kurzen Blick auf ihn zurück geworfen hatte.

Fast wäre der andere dabei gestolpert. Vermutlich hatte er nicht damit gerechnet, dass sein Opfer ihm bereits so dicht auf den Fersen war und somit den Spieß umdrehte.

Ein letzter Satz und Ryon packte den Kerl an den unzähligen Kleiderschichten in dessen Nacken, riss ihn einfach von den Füßen und drehte ihn herum, als wäre er nur eine Puppe und kein ausgewachsener Mann. Allerdings ein ziemlich dürrer Mann, wenn man bedachte, wie dünn der Hals war, um den sich seine Hand schlang, damit er dem Dieb eindringlich in die blutunterlaufenen Augen sehen konnte, während sich Ryons Atem immer noch förmlich überschlug.

Er bekam kaum noch Luft, versuchte sich trotzdem mit stoischer Ruhe dazu zu zwingen, gleichmäßig und tief zu atmen, auch wenn das vollkommen gegen jeden Instinkt zu gehen schien.

Ohne auf das flehende Gestammel des Mannes zu hören, durchsuchte Ryon dessen Kleider, bis er schließlich etwas fand, das ihm gehörte. Danach ließ er den Kerl los, der daraufhin ein paar Schritte zurück taumelte. Er fiel auf die Knie, als wolle er ihn anflehen, ihn zu verschonen und einen Moment später tat er es auch. Das merkte man am Tonfall, obwohl Ryon noch immer kein Arabisch sprach, war das offensichtlich.

Entweder fürchtete der Mann sich vor ihm selbst, oder vor der Strafe, die in diesem Land für Diebstahl verhängt wurde.

So oder so. Weder war Ryon in der Stimmung dafür, noch war es seine Absicht, dem Mann zu schaden.

Seit er Paige kannte, war ihm bewusst, dass sich hinter einer tückischen Fassade, ebenso ein kümmervolles Leben verbergen konnte, das lediglich versuchte, am Leben zu bleiben.

Ein Grund, weshalb Ryon seine Brieftasche öffnete, sein gesamtes Bargeld heraus nahm und es dem Mann vor die Füße warf, ehe er sich umdrehte und sich wieder auf den Weg zurück zu seiner eigenen Diebin zu machen.

Er drehte sich nicht um, sondern wischte sich über die vollkommen trockene Stirn, die förmlich brannte und war sich dabei bewusst, dass sich sein Atem immer noch nicht beruhig hatte. Aber jetzt konnten sie hoffentlich ohne weitere Störungen zurück ins Hotel gehen. Immerhin hatte er seit diesem Sprint nicht nur Probleme mit der Atmung, sondern auch immer mehr, mit seinem Sehvermögen.

Stechende Kopfschmerzen machten es schwer, sich noch auf irgendetwas zu konzentrieren und sein Bewusstsein war mehr als nur träge. Als würde er bereits halb schlafen.

Dass er inzwischen auch nicht mehr schwitzte, war ebenfalls kein sehr gutes Zeichen. Er brauchte dringend Kühlung.

Auf dem Weg zurück zu Paige, konzentrierte er sich lediglich nur noch auf ein einziges Ziel – sein Hotelzimmer.

Dieser Gedanke alleine, hielt ihn noch aufrecht, schaffte es sogar, seine Atmung kontrolliert langsam und tief werden zu lassen, obwohl er lieber wie ein Hund gehechelt hätte. Aber er wollte Paige nicht noch mehr Schwächen aufweisen.

Sie hatte auf seine Einkäufe aufgepasst, die er einfach so achtlos fallen gelassen hatte. Man konnte deutlich sehen, dass ihr förmlich ein paar Fragen auf der Zunge brannten, aber Ryon wollte jetzt weder irgendetwas erklären, noch sprechen. Das hätte seine Konzentration eindeutig überfordert, weshalb er einfach nur mit einem Kopfschütteln die Einkäufe nahm und sich zielstrebig in Bewegung setzte. Das Hotel war nicht mehr weit entfernt.
 

Bereits als sie den Fahrstuhl betraten, begann das Zittern. Erst leicht, doch so wie sie immer weiter in die Höhe fuhren, so nahm auch die Kontraktionen seiner Muskeln zu, bis er förmlich am ganzen Körper bebte, als wäre ihm kalt. Seine Zähne klapperten nur deshalb nicht aufeinander, da er sie vor Schmerz fest zusammen biss.

Sein Kopf schmerzte, das Licht der Fahrstuhlbeleuchtung brannte in seinen Augen, seine Haut schien Feuer gefangen zu haben und jeder erzwungen tiefe Atemzug war eine einzige Qual.

Inzwischen war durch die Hitze seines Körpers selbst seine Kleidung wieder getrocknet. So trocken wie die Haut, die ihn überzog.

‚Nur noch ein paar Sekunden‘, ermahnte er sich selbst, während er hoch konzentriert auf die Nummer ihres eigenen Stockwerks starrte. Das Einzige, das ihn noch aufrecht hielt.

Dann würde er seine eiserne Kontrolle endlich fallen lassen können. Was danach passierte, wusste er nicht.

Endlich ertönte das erlösende Klingeln des Fahrstuhls, ehe sich die Türen öffneten und Ryon nach Paige hinaus trat.

Wie auswendig, leierte er die Worte hinunter, die er sich seit Betreten der Lobby immer wieder Gedanklich aufsagte, um sie nicht zu vergessen, da ihm das Denken schon so unglaublich schwer fiel.

„Wir können uns später zusammen rufen. Ich leg mich erst einmal hin. Bis dann.“

Dabei hatte er Paige noch nicht einmal angesehen. Eigentlich sah er nichts mehr wirklich richtig. Denn die Welt um ihn herum verschwamm immer wieder, wurde kurz scharf, ehe sie wieder verschwamm. Trotzdem schaffte er es irgendwie noch halbwegs anständig zu seiner Tür.

Um sie zu öffnen brauchte er nicht länger als einen der tief erzwungenen Atemzüge, ehe er in sein Zimmer trat, ohne sie wieder zu schließen. Die Einkäufe ließ er schon wieder achtlos auf den Boden fallen, wo sie zum Glück von einem dicken Teppich abgefangen wurden.

Er schwankte ins Bad, drehte das Wasser im Waschbecken auf Kalt und wollte sich grade eine Hand voll davon ins Gesicht schütten, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen, als er die Kontrolle nicht mehr länger aufrecht erhalten konnte.

Seine Knie wurden zu Butter, konnten sein Gewicht nicht länger tragen und der Versuch sich noch rechtzeitig am Waschbecken abzufangen, ging auch daneben. Seine Finger hatten keine Kraft mehr und es verschwamm nun vollends alles vor seinen Augen.

Irgendetwas knallte so hart gegen seine Stirn, dass Sterne in seinem Kopf explodierten, bis er schließlich halb auf dem weichen Badezimmerteppich und halb auf den kalten Fließen zum Erliegen kam.

Wie ein Kältesüchtiger schob er sich von dem Teppich herunter, um noch mehr von den Fließen unter sich spüren zu können.

Der Kontrast tat ihm weh, aber andererseits hatte er noch nie etwas so wundervolles in seinem Leben gespürt, wie diesen glatten, kalten Bodenbelag.

Ryon legte mit einem leisen Stöhnen eine Seite seines brennenden Gesichts darauf ab und verlor nun vollends das Bewusstsein, als die Krämpfe seinen Körper übermannten und ihn dazu zwangen, sich zu einem windenden Ball auf dem Boden zusammen zu rollen, der heftig durchgeschüttelt wurde.

27. Kapitel

Sie konnte es schmecken.

Der kleine Raum des Aufzugs schien von Ryons Unwohlsein erfüllt. Paige selbst spürte das Zittern seines Körpers auf ihrer eigenen Haut.

Und gleichzeitig war da natürlich wieder die Eiseskälte, die er ausstrahlte. Ryon hatte sie vorhin allein mit einem aggressiven Kopfschütteln davon abgehalten, ihre Hilfe anzubieten. Denn dass er sie brauchte, das konnte jeder Idiot nur zu leicht erkennen. Der körnige Geschmack von Salz, vermischt mit etwas Bitterem. Was es genau war, konnte sie nicht sagen, aber seine leicht schwankenden Schritte, als er zu seiner Zimmertür ging, verhießen nichts Gutes.

Paiges Herz versuchte sie mit einem einzigen, alamierenden Schlag zu ihm hin zu drängen. Alles in ihr sträubte sich dagegen, dass er allein in diese Zimmer ging. In seinem Zustand wollte sie nicht nebenan sitzen.

Deshalb machte sie auch einen beherzten Schritt auf ihn zu, wollte den Mund öffnen, als er ihr die zu erwartende verbale Ohrfeige verpasste. Genauso gut hätte er ihr 'Verschwinde!' entgegen brüllen können. Aber das brauchte er gar nicht.

In ihrem Inneren fühlte es sich so an, als würde jemand versuchen ihr mit einer Pinzette ein einzelnes Haar auszureißen. Es saß fest und ziepte immer mehr, während Ryon mit zitternden Fingern seine Tür öffnete und sie ihr vor der Nase zuschob, allerdings nicht vollkommen.

Paige blieb stehen. Auf dem Gang im Hotel, zwischen ihren beiden Zimmertüren, wie ein Wartender an einer Bushaltestelle.

Mit dem Daumen fuhr sie die Kante ihrer eigenen Schlüsselkarte entlang. Fühlte immer noch das winzige Reißen, das den Gedanken einfach an seine Tür zu klopfen, vertreiben wollte.

Sie hörte ihn zu Boden gehen. Paige brauchte nicht einmal darüber nachzudenken, was außer einem zwei Meter großen Mann diesen schweren Schlag verursacht haben könnte, da stand sie schon in seinem Zimmer.

Vorbei an den Plastiktüten auf dem Boden, durch seine Suite zerrte sie ihr Herz mit jedem Schlag weiter dorthin, wohin sie auch selbst bei dieser Hitze flüchten würde.

Ein schmerzhaftes Keuchen schien sie für eine Sekunde in der Badtür festzuhalten, bevor sie bei ihm war.

Ihr eigenes Blut rauschte ihr in den Ohren, während sie nach seinem Puls tastete. Er war noch da. Allerdings hätte selbst Paige sich an seiner Haut beinahe die Fingerkuppen verbrannt.

„Ryon!“

Er lag zur Wand gedreht da und reagierte nicht. Egal wo sie es prüfte, ob in seinem Nacken, seiner Wange, seinen Händen. Er schien vor innerer Hitze wortwörtlich zu pulsieren. Paige war zu sehr selbst ein Geschöpf des Feuers, um nicht zu erkennen, was mit ihm los war.

Ihr Herz schlug ihr so eindringlich in der Brust, dass sie kaum atmen konnte. Immer wieder versuchte Paige es hinunter zu schlucken, es dorthin zu verweisen, wo es hin gehörte.

„Ryon!“, versuchte sie es noch einmal, obwohl sie schon wusste, dass es wenig Sinn hatte.

Mit dem Fuß schob sie die dicke Duschmatte zur Seite.

„Hör zu, wir müssen dich abkühlen. Ich kümmere mich um dich, ok?“

Es bedurfte einiger Kraft seinen muskulösen Körper aus seiner Fötushaltung auf den Rücken zu drehen. Paige war nicht so zierlich wie sie wirkte, aber die Anstrengung ließ ihre rasende Atmung flacher werden.

Wieder fluchte sie laut und zerrte einen Waschlappen aus dem Regal neben dem Wandspiegel, als sie die blutende Wunde auf seiner Stirn sah.

Etwas brannte in ihrem Hals und versuchte sich nach oben zu arbeiten. Ihre Lippen pressten sich fest aufeinander in dem Versuch nicht auseinander zu brechen.

Mit einer Hand presste sie den Waschlappen auf seine Platzwunde, wischte ihm etwas Blut vom Auge und sah sich nach allem um, was ihr helfen konnte.

Ryons Haut war so rot, als hätte er einen Sonnenbrand. Oder eine riesige Entzündung würde sich durch seinen gesamten Körper ziehen. Paige wusste, dass das gar nicht so falsch war.

Schranktüren knallten gegen die Wand, Fläschchen fielen klimpernd zu Boden und rollten lautstark auf den Fliesen herum, als Paige hochschoss und alles griff, was sie in die Hände bekommen konnte.

Sie warf die Handtücher, die Duschmatte und jeden Waschlappen, den sie finden konnte in die Badewanne. Mit einem ungehaltenen Aufschrei quittierte sie das Wasser, das nicht annähernd so kalt aus der Leitung kam, wie sie es wollte. Immer wieder schoss ihr Blick zu Ryon am Boden, der zumindest noch leise atmete.

„Halt durch. Ich hab's gleich. Dann geht’s dir sofort besser. Ich versprech's.“

Wasser platschte auf den Fußboden, ihre Schuhe und Ryons Schulter, als sie als Erstes die Badematte aus der Wanne zerrte, sie kaum auswrang und dann vorsichtig unter seinen Kopf schob.

„Ist gleich besser, ich versprech's dir!“

Inzwischen war das Wasser so kalt, dass ihr der Atem stockte. Bei den Handtüchern hielt sie sich nicht damit auf sie ein wenig von dem kalten Nass zu befreien.

Mit ihrer kalten Fracht ließ sie sich neben Ryon in die Knie sinken. Ihre Stimme war bereits kratzig, als sie weiter mit ihm sprach, als könne er sie hören.

„Das ist jetzt ziemlich kalt. Aber wenn wir die Hitze nicht schnell aus deinem Körper kriegen, dann...“

Zitternd brach sie ab, biss sich auf die Lippen, wischte sich übers Gesicht und breitete die nassen Handtücher auf ihm aus.

Die Kleidung würde der Wirkung nicht im Wege stehen. Eher im Gegenteil würde sie sich ebenfalls vollsaugen und ihm auf den kalten Fliesen helfen, wenn sie die Umschläge wechseln musste.

Auf Knien rutschte sie neben seinem Körper entlang. Bedeckte jedes Fleckchen mit einem kalten Tuch, zerrte an dem Stoff, um auch kein kostbares Stück ungenutzt zu lassen. Als sie bei seinen Beinen ankam, gingen ihr die Handtücher aus.

Panisch sah sie in sein Gesicht, befühlte mit zitternden Fingern seine Brust, wo die erste Schicht bereits wieder warm wurde und rannte aus dem Badezimmer.

Die Kissen auf dem Bett flogen zur Seite, eins riss den Wecker mit sich zu Boden und der Bettrahmen schabte am Nachtkästchen entlang, als Paige mit verzweifelter Gewalt versuchte das Bettlaken so schnell wie möglich herunter zu reißen.

Im Bad rutschte sie aus, fiel mit einem Knie auf den harten Boden. Sie biss die Zähne zusammen und wischte die Träne weg, die nicht allein vom Schmerz kam.

„Du brauchst keine Angst zu haben, wir kriegen das hin.“

Das kalte Wasser ließ ihre Hände so rot werden wie seine, als sie den Stöpsel in den Abfluss drückte und das Laken in die Wanne warf. Um keine Zeit zu verlieren, stand Paige gar nicht mehr auf. Sie schob sich nur noch von der Wanne zu seinem Körper und wieder zurück. Der Boden glänzte in riesigen kalten Pfützen, in die sich bald auch ein wenig Blut mischte, als sie beim dritten Wechsel auch seine Wunde ein wenig säuberte.

„Wenn du mir wenigstens sagen könntest, ob es besser wird...“

Als sie den Tonfall ihrer eigenen Stimme hörte, schlug sie sich die Hand vor den Mund und schluchzte leise, bevor sie sich wütend selbst zur Ordnung rief.

Mit zusammen gebissenen Zähnen wechselte sie die Handtücher, ließ neues kaltes Wasser in die Wanne und fühlte in regelmäßigen Abständen die Temperatur seiner Haut und seinen Puls.
 

Es dauerte Stunden, das Badezimmer schwamm in kaltem Wasser, Paiges Kleider trieften nicht weniger als die von Ryon, der immer noch kein deutliches Lebenszeichen von sich gab. Auch wenn Paige zu hoffen wagte, seine Hautfarbe würde allmählich einen helleren Ton annehmen.

Ihre Finger, mit denen sie sein Gesicht vorsichtig berührte, waren weiß wie Schnee und ebenso kalt. Doch das Zittern kam nicht von der Kälte, die sie hoffentlich weniger spürte, als er.

Sanft drehte sie seinen Kopf ein wenig zur Seite, beugte sich zu Ryon hinunter. Ihre Hände hielten ihn immer noch fest, als ihre Wangen sich hauchzart berührten. Paige schloss die Augen. Zwei Atemzüge, bis sie die Lippen leicht öffnete. Nur eine Winzigkeit, um ihre dunkle Zunge ein wenig hervor tasten zu lassen. Seine Wärme zu schmecken; so leicht wie Kügelchen aus Zuckerwatte.

Als sie sich wieder aufrichtete und ihm ins Gesicht sah, streichelte sie mit ihren Daumen über seine Wangen.

Erst nach einer Weile ließ sie ihn los und wechselte die Handtücher. Langsamer diesmal, weniger hektisch und mit einem Herzen, das aus Gründen lauter schlug, die Paige allmählich zur Ruhe kommen ließen.

„Ich hab dir doch gesagt, dass du das schaffst.“, flüsterte sie leise.

Sie zog das Bettlaken aus dem kalten Wasser, wickelte seinen Oberkörper sorgfältig darin ein, bevor sie seine Beine mit den Handtüchern bedeckte.

Ein neuer kalter Waschlappen auf die Stirn und das erste Mal, seit sie das Zimmer betreten hatte, ließ sich Paige auf die Fersen sinken, um durchzuatmen. Einen Atemzug nur allein für sich zu tun, bevor sie sich weiter um ihn kümmerte.

Ihr Körper zitterte wie Espenlaub. Mit steifen Fingern rubbelte sie ihre Oberwarme ein wenig warm und erlaubte sich sogar ins Zimmer hinüber zu gehen, um das zweite Bettlaken zu holen. Damit versuchte sie die Wasserlachen auf dem Boden zumindest einzudämmen. Das Bad trocken zu legen war reines Wunschdenken und das wusste sie auch. Außerdem war es noch nicht vorbei.

In seinem Zustand hatte sie ihm kein Wasser zu Trinken geben können. Ryons Körper war von der Hitze völlig ausgetrocknet und brauchte dringend Flüssigkeit und Salz.

Um das zu bewerkstelligen kramte Paige zwei isotonische Getränke aus der Minibar und setzte sich mit einer Decke um die Schultern an die Wand.

Die Pausen, in denen sie einfach nur abwarten musste, bis sie die Tücher erneut wechseln musste, waren mit der Zeit länger geworden. Schmerzhaft langsam zwar, aber inzwischen merklich.

„Wenn wir Glück haben, dann schläfst du mir bald ein.“

Sobald er von der Bewusstlosigkeit zum Schlaf hinüber wechselte, hatten sie eine weitere Hürde geschafft. Denn dann war es auch nicht mehr weit zu kurzen wachen Augenblicken, in denen sie ihm etwas zu Trinken einflößen konnte.

„Du machst das schon.“, sagte sie lächelnd und drückte leicht seine Schulter.

„Außerdem werd ich nicht weg gehen...“
 

Er brannte.

Seine Haut stand in Flammen. Das Feuer züngelte an ihm hoch, griff so leicht auf ihn über, als wäre er trockenes, welkes Gras. Alles war so trocken.

Sein Atem schien wie der Odem eines Drachens. Heiß, voller dornigem Feuer und verbrannte ihm schier bei jedem Atemzug die Lunge.

Doch atmen musste er. Immer weiter. Etwas trieb ihn dazu, obwohl im nächsten Moment klirrende Kälte ihn überrannte. Das Brennen wurde schlimmer. Der Unterschied zwischen Kalt und Heiß verschwamm, während er sich wünschte, es möge aufhören.

Alles verkrampfte sich, ihm war schlecht, er konnte sich jedoch nicht übergeben. Sein Magen war leer, kein Muskel zuckte auf seinen Befehl hin, sie taten was sie wollten. Bebten unkontrolliert. Vor Kälte, vor Hitze. Es brannte wie Säure auf seiner Haut. Die Kälte kämpfte gegen die Hitze an. Die Hitze versuchte der Kälte Widerstand zu leisten. Er stand direkt zwischen den Fronten. War das Schlachtfeld, das still und bewegungslos den Kampf ertragen musste.

Er wollte sich vor Schmerz winden, stöhnen, schreien, irgendetwas. Nichts rührte sich.

Langsam ließ das Feuer nach, doch das Brennen hörte nicht auf. Seine Haut, sein größtes Sinnesorgan wurde gefoltert von aber Millionen von feinen Nadelstichen. Immer und immer wieder, bis der Schmerz langsam die Dunkelheit vertrieb. Ihn an die Oberfläche lockte, wo alles nur noch intensiver wurde.

Da war eine Stimme.

Weiblich, feminin, entschlossen, voller Sorge. Sie sprach zu ihm.

Er wollte antworten, doch nichts tat sich. Er versuchte es erneut. Ein seltsamer Laut entkam seinen bebenden Lippen. Leise, schwerfällig, da seine Zunge so unglaublich trocken war.

Sein Mund schien einer Wüste zu gleichen. Er konnte nicht schlucken. Aber das kaum hörbare Stöhnen war wie ein Dröhnen in seinem Kopf. Etwas schien hinter seiner Stirn durch den Klang zu explodieren.

Flammende Blitze jagten ihm direkt in den Schädel. Er verzog vor Schmerz das Gesicht, machte dadurch alles nur noch schlimmer.

Voller Qualen warf er sich schwach auf die Seite, wollte sich zusammen rollen, dem Schmerz entfliehen.

Etwas schien schwer auf ihm zu hängen. Wie Kleider aus Blei, sie zogen ihn regelrecht auf die harte, von Furchen durchbrochene Fläche, auf der er lag.

Seine Hände, so langsam und kraftlos sie auch waren, stürzten sich auf seinen heftig pochenden Kopf. Er vergrub das Gesicht darin. Stöhnte lauter, während seine Fingernägel sich förmlich in seine Kopfhaut gruben. Der Schmerz sollte endlich aufhören!
 

Es war offensichtlich ein Fehler gewesen, kurz die Augen zu schließen, um ihre brennenden Lider ein wenig auszuruhen. Ryons Stöhnen riss sie so schnell hoch, dass ihr Herzschlag mit dem Adrenalinstoß gar nicht umgehen konnte. Es wollte ihr aus der Brust springen, zerreißen unter der Panik, die nun wieder in ihr hochkam.

"Ryon?"

Es war nur ein Flüstern.

Alarmiert sah sie, wie er das Gesicht verzog und sich auf die Seite rollte. Die Tücher fielen ihm von den Beinen, aber das Laken blieb zum Glück an seinem Oberkörper hängen.

Paige war sofort bei ihm, beugte sich hinunter und berührte eine seiner Hände.

"Ryon? Kannst du mich hören?"

Mit sanfter Gewalt versuchte sie ihn wieder auf den Rücken zu drehen, kam aber damit nicht weit. Die gesamte Aktion hatte an ihren Kräften gezehrt und obwohl sie sich immer noch Sorgen machte, konnte sie nicht mehr so viel bewerkstelligen, wie am Anfang. Dennoch würde sie jetzt nicht aufgeben.

Ihre Finger zitterten und der Deckel der Wasserflasche fiel auf die Fliesen, als sie das Getränk aufschraubte.

"Du musst was trinken. Ich hab Wasser für dich, hörst du?"

Sie schob ihre flache Hand unter seine, mit denen er sein Gesicht verdeckte und legte sie sanft auf dem Boden ab.

Als Nächstes klapperten Ryons Zahnputzsachen ins Waschbecken, da Paige den Becher dazu nutzen wollte, ihm etwas von dem Wasser zu geben. In seiner jetzigen Lage würde das allerdings nicht funktionieren.

Paige versuchte seinen Kopf ein wenig zu drehen, so dass sie ihm das Wasser einfach Schluck für Schluck in den Mund schütten konnte. Zuerst nur ein wenig, um zu sehen, ob er auch wirklich trank.
 

Einen Augenblick lang war er so mit sich und seinem völlig unbrauchbaren Körper beschäftigt, dass er nicht bemerkte, was von außen auf ihn eindrang. Da war wieder diese weibliche Stimme. Allerdings verstand er ihre Worte nicht. Dazu drangen sie viel zu verschwommen an seine Ohren, an denen ihm förmlich das Blut vorbei schoss. Etwas berührte seine Hände. Es war kalt, war stärker als seine versiegenden Kräfte, so dass er es aufgab, sich dagegen zu wehren.

Kraftlos ließ er sich wieder vollkommen fallen.

Hätte nicht irgendetwas seinen Kopf gehalten, auch dieser wäre wie lose von seinem Hals gebaumelt. Alles war so entsetzlich anstrengend.

Etwas berührte seine Lippen. Feuchtigkeit benetzte sie, als er seinen Mund nicht gleich öffnete. Es fühlte sich herrlich an. Sein Mund war so trocken, er wollte auch dort etwas von der Flüssigkeit haben. Damit seine pelzige Zunge ihm nicht länger am Gaumen klebte und sein Hals nicht bei jedem unbeholfenem Schluckreflex aufgescheuert wurde.

Mühsam zwang er seine Kiefer auseinander, um den drängenden Durst zu mildern. Löschen würde man ihn wohl niemals können. Dazu war er zu schlimm.

Kühle Flüssigkeit schwappte in seinen Mund, löste seine Zunge von seinem Gaumen, benetzte seine ausgetrockneten Mundschleimhäute und wollte sich unbeirrbar zu seiner Kehle vorkämpfen.

Mühsam und doch voller Konzentration, zwang er seinen Hals dazu, den kostbaren Schluck nicht zu vergeuden, in dem er ihn in den falschen Hals bekam. Weshalb es auch einige unendlich lange Sekunden dauerte, bis er sich halbwegs sicher war, wie genau er schlucken musste. Sekunden, in denen er nicht atmen konnte, aber was war schon die heiße Luft in seinen Lungen, gegen dieses köstliche Nass!

Endlich gelang es ihm. Die Flüssigkeit lief ihm wie lindernder Balsam die Kehle hinab und entfachte zugleich einen Durst, der wie eine Bestie in ihm zu wüten begann.

Er versuchte sich aufzubäumen, nach dem Gefäß zu fassen, um noch mehr daraus zu trinken, aber alles was er zu tun im Stande war, war ein leises Seufzen, begleitet von einem leichten Zucken seiner Finger.

Seine Augenlider kämpften darum, sich zu erheben. Wenn er schon nicht das lindernde Nass berühren konnte, so wollte er es doch wenigstens sehen können. Vielleicht gab das ihm den Antrieb und die Kraft, sich zu bewegen. Allerdings flatterten sie nur kurz hoch, bis ihm das grelle Licht förmlich die goldschimmernde Netzhaut verätzte.

Völlig ermattet wollte er sich schon seinem Schicksal ergeben, wieder in die Dunkelheit versinken, aber schon wurde ihm ein weiterer Schluck gewährt. Wieder die gleiche mühsame Prozedur, doch langsam wurde es immer leichter.

Dennoch, nach fünf oder sechs weiteren Schlückchen fehlte ihm sogar die Kraft dafür, diese hinunter zu bekommen. Er war so durstig, wollte immer nur mehr davon haben, aber für den Moment gab er sich geschlagen. Stattdessen drehte er in Zeitraffer den Kopf wieder zur Seite. Erst jetzt nahmen seine äußerst geschwächten Sinne einen vertrauten Duft wahr, den er sehr mochte.

„Lenn?“, fragte er leise seufzend, ehe er auch schon von der Müdigkeit niedergestreckt wurde.

Wenn auch nicht ganz der Schmerz verschwand, so wurde er dadurch wenigstens etwas erträglicher und dank der beruhigenden Anwesenheit der Frau.
 

Paige hatte Angst mit ihren zitternden Fingern das Wasser entweder über Ryons Gesicht oder gleich auf den Boden zu verschütten. Sein Kopf lag schwer auf ihrem Arm, während sie versuchte ihm geduldig die Flüssigkeit einzuflößen.

Beim ersten Versuch konnte sein schwer mitgenommener Kopf wohl nicht verstehen, was sie vorhatte. Er öffnete die Lippen nicht, weswegen sie seinen Kopf nur noch ein wenig mehr anhob und leise auf ihn einsprach.

"Es ist Wasser. Trink was. Dann gehen die Kopfschmerzen weg. Nur ein bisschen."

Sie selbst biss sich auf der Unterlippe herum, als sie ihm dabei zusah, wie er sich mühte. Seine aufgesprungenen Lippen schienen regelrecht aufeinander zu kleben, aber irgendwann, nach einer halben Ewigkeit schaffte Ryon es doch.

Paige hätte am liebsten laut gejubelt. Aber weil sie wusste, dass Ryon wahrscheinlich der Schädel dröhnte, blieb sie stumm sitzen und sah mit einem breiten Lächeln auf sein Gesicht.

Sie musste trotz des Triumph- und Glücksgefühls vorsichtig sein. Zu viel Flüssigkeit konnte sein Organismus nach diesem Zusammenbruch nicht vertragen. Er würde das Wasser aus seinem leeren Magen sofort wieder von sich geben und dann hätten sie gar nichts gewonnen.

"Ganz langsam. Wir kriegen das schon hin.", meinte sie weiter lächelnd und ihr Herz machte einen überraschenden Sprung, als er sogar kurz seine Augen öffnete.

Konzentriert und darauf bedacht ihm nicht zu viel und nicht zu wenig Wasser zu geben, hielt sie ihm das Glas noch ein paar Mal an die Lippen. Gab ihm immer nur einen kleinen Schluck. Aber jedes Mal, wenn sie sah, dass er schluckte, sagte sie ihm, dass er das gut gemacht hatte.

Erst als er sich selbst dazu entschied, dass es genug war für den Moment, stellte sie das Glas ab. Zentimeterweise zog sie ihren Arm unter seinem Kopf hervor.

"Das haben wir doch ganz gut --"

Es ziepte.

Paige saß da, wie vom Donner gerührt und starrte auf Ryons Lippen, die gerade noch ein Wort geformt hatten. Irgendetwas zog nun kräftig an dem Punkt, den Ryon schon auf dem Flur dazu gebracht hatte, zu schmerzen.

Paiges Lächeln wurde traurig. Sie sah sich sein Gesicht an. Ryons Züge waren sehr viel gelöster, als noch vorhin. Das Wasser hatte gut getan. Mit absoluter Sicherheit wusste sie es nicht, aber wen sonst, sollte er in diesem Moment bei sich haben wollen.

"Nei--"

Das Wort blieb stecken, doch Paige schluckte den Kloß tapfer hinunter, um weiter zu sprechen.

"Es tut mir leid, aber es bin nur ich."

Während sie noch seinen Rücken und seinen Hals abtastete, die kühlenden Handtücher wieder über seine Beine legte und sich dann an die Wand zurück zog, um weiter über ihn zu wachen, wünschte sie, dass es anders wäre.
 

Die Hitze war zwar inzwischen weniger geworden, doch sie ließ ihm immer noch keine Ruhe. Vermengt mit der Kälte auf seiner glühenden Haut, war es ein äußerst unangenehmes Gefühl. Außerdem pochte etwas in seinem Kopf schmerzhaft gegen seine Stirn und trotz allem, er blieb durstig.

Sein Schlaf war unruhig, er träumte von Feuerameisen, die unter seiner Haut herum krochen, ihn zwickten und bissen, bis er ganz blutig war. Sein Mund schien sich immer wieder mit Sand zu füllen, den er hinunter schluckte, während ein arktisch kalter Schwall Wasser beständig auf ihn niederprasselte. Der Vergleich einer rot glühenden Herdplatte, auf die man Wasser goss, kam ihm immer wieder in den Sinn. Es war, als würde er Dampf einatmen, während er zugleich auf einer Folterbank lag.

Sein Rücken tat weh, seine Gliedmaßen taten weh, selbst seine zitternden Muskeln verschonten ihn nicht. Starb er denn gerade?

Es fühlte sich an, als würde er sich im Todeskampf befinden. Dem gleichen, den seine Gefährtin hinter sich bringen musste, ehe das Licht ihrer Augen endgültig verlosch.

Würde er sie wieder sehen? Schon bald? Und auch seine kleine Tochter, die ihr nur wenige Tage danach gefolgt war?

Er versuchte sich ihre Gesichter ins Gedächtnis zu rufen, aber bei dem pochenden Schmerz in seiner Schläfe, gelang es ihm nicht. Da war nur Dunkelheit. Eiskalte, brennende, einsame, verzehrende Finsternis.

Sein schmerzender Rücken zwang ihn dazu aufzuwachen, um sich wieder auf die Seite zu drehen, auch wenn es Jahrhunderte zu dauern schien. Doch schließlich gelang es ihm.

Es war eine kleine Linderung, trotzdem nicht genug, um die Schwärze aus seinem wirren Gedanken zu vertreiben. Er konnte sich noch nicht einmal mehr an die Farbe ihrer Augen erinnern. Vielleicht, weil er nicht genau hinsah?

Längst vergessene Muskeln rührten sich. Klein und leicht wie sie waren, fiel es ihm dennoch schwer, sie zu einer Bewegung zu zwingen. Doch schließlich schlug er die Augen auf und behielt sie auch offen, auch wenn es unsäglich anstrengend war und das Licht immer noch darin brannte, als würden Blitze seine Netzhaut bombardieren.

Er konnte nichts erkennen. Nur grelles Licht, ein paar verschwommene Schatten, nichts woran er sich hätte festhalten können. Lenn war nicht hier. Niemand war hier. Er war alleine…

Aber war da nicht eine Stimme gewesen? Weiblich, sanft, bezaubernd, vertraut?

Wo war sie? Oder war sie auch nur Einbildung gewesen. Ein weiterer Teil seines nicht enden wollenden Alptraums, weil sie ihm Hoffnung und Ruhe gebracht hatte, doch ihm nun entrissen worden war?

Er öffnete die aufgesprungenen Lippen, starrte weiterhin ins Leere, ohne auch nur ein Wort von sich geben zu können. Blind suchten seine Finger etwas. Etwas anderes als dieses Glühen, diese Kälte, den harten Untergrund. Wo war die Stimme!?

Sein Atem begann zu rasen. Panik überflutete ihn. Der Schmerz in seinem Kopf nahm zu, ließ ihn gequält zusammen zucken und trotzdem blinzelte er immer wieder. Auch wenn er nichts erkennen konnte, er wollte trotzdem nicht die Augen schließen. Hatte Angst, statt dem blendenden Licht wieder von der Dunkelheit verschluckt zu werden.

Sein Blutdruck – ohnehin schon absolut im Keller – wurde durch den schnellen Herzschlag noch mehr strapaziert. Ihm wurde schwindlig, obwohl er seine Umgebung nicht sehen konnte. Alles drehte sich. Seine Finger tasteten panischer. Wollten sich irgendwo fest halten, da er das Gefühl hatte, er würde fallen.

Wo war sie? Wo war sie nur, diese wunderschöne Stimme!?

Sein verzweifeltes Begehren, gab ihm Kraft. Nicht sehr viel, aber er schaffte es, dass sein Kopf von der weichen Unterlage rutschte und langsam auf dem kühlen Boden aufkam. Nicht fest, aber es glich für ihn einer wahren Explosion. Fast verlor er dadurch wieder vollkommen das Bewusstsein, aber er kämpfte weiter. Zwang sich dazu, seine Augen wieder zu öffnen. Das Gold darin schien Funken zu sprühen, so sehr wollte er wach bleiben, wenn auch nur in diesem halb Dämmerschlaf ähnlichem Zustand.

Er konnte es nicht wissen, aber in diesem Zustand ähnelte er seinem Tier mehr, als dem Menschen. Als wäre er wieder der Tiger, nur narkotisiert und unfähig, sich richtig zu bewegen, aber dennoch, obwohl er nicht sah, waren seine Augen suchend.

Etwas streifte seinen Geruchssinn. Nur flüchtig, da er vorwiegend durch den Mund atmete. Instinktiv wollte er sich über die Schnauze lecken, benetzte dadurch aber nur seine Lippen. Also sog er tief die Luft durch die Nase ein, malträtierte sein Gehirn, um den Geruch zu analysieren, ehe er wieder in ein heiseres Keuchen überging.

Es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, doch schließlich erkannte er den Reiz. Den Geruch, den er schon vorhin wahrgenommen hatte. Sein Blick zuckte in jene Richtung, aus der er kam. Blieb dort hängen, während er völlig erschöpft in sich zusammen sank. Aber seine Hand streckte sich, wenn auch nur ein paar Zentimeter in diese Richtung. Dort war sie. Sie musste einfach dort sein.
 

Eine Weile hatte sie dagesessen, die Knie unters Kinn gezogen, die Decke mit den Armen um ihren kalten Körper geschlungen und hatte ein Loch in die Luft gestarrt. Es war genau die falsche Methode, um wach zu bleiben. Immerhin benutzte sie diesen Trick normalerweise, um genau das Gegenteil zu erreichen.

Ihre Augen wollten kaum noch gehorchen und offen bleiben. Also versuchte sie sich im Raum umzusehen, jedes Details aufzunehmen und nicht einzuschlafen.

Mit den Zehen in den nassen Schuhen zu wackeln brachte kaum Wärme, aber lenkte sie zusätzlich von der Müdigkeit ab.

Nur noch ab und zu fühlte sie an dem Bettlaken und den Handtüchern, ob sie wieder ins kalte Wasser getaucht werden mussten. Inzwischen sah Ryon wirklich fast wieder gesund aus. Nicht mehr krebsrot, aber durch die Hitze, die sich immer noch in seinem Körper befand, auch nicht so blass, als wäre er krank.

Etwas, das Paige beruhigte. Wenn auch nicht in dem Maße, dass sie sich erlauben wollte, einzuschlafen. Dann hätte sie vielleicht nicht gehört, wenn er wieder aufwachte.

Unumgänglich wanderten ihre Gedanken zu Ryons Vergangenheit. Paige ignorierte den winzigen Schmerz, der immer heftiger werden wollte, je mehr sie sich anstrengte zu verstehen, was Ryon empfinden musste. Oder eben nicht empfand. Nicht empfinden wollte.

Jemanden zu verlieren, der einem wichtiger ist, als das eigene Leben...

Langsam legte Paige ihr Kinn auf ihre Knie. Nein, er hatte sich wirklich niemand Anderen herbei sehnen können. Sie würde immer die Einzige sein. Jede Frau war für Ryon im Vergleich zu Marlene ... Lenn... "Zweite Wahl...", hauchte Paige leise und ihre Sicht verschwamm.
 

"Vorsichtig."

Sie verfluchte sich dafür, dass sie erst bei seinem Keuchen gemerkt hatte, dass er wach war. Für eine Weile war sie tatsächlich eingenickt. Ob nun Minuten oder eine halbe Stunde, konnte sie nicht sagen. Es war jetzt auch egal.

Sofort zog sie wieder das Glas heran, füllte noch ein bisschen Wasser hinein und legte dann eine Hand auf Ryons Schulter.

Ein schmerzhafter Blitz durchzuckte sie, als sie seine offenen Augen sah. Sie waren so voll von dem, was ihm sonst fehlte. Aber kein positives Gefühl spiegelte sich darin.

"Es ist alles ok. Keine Sorge."

Da sie ihm sonst nichts zu trinken geben konnte, drückte sie ihn wieder auf den Rücken und hob seinen Kopf erneut an.

"Hier, trink noch was."

Er schaffte einen Schluck, dann noch einen. Nach dem Vierten wurde Paige von einem unterdrückten Gähnen so durchgeschüttelt, dass sie beinahe das wertvolle Nass verschüttet hätte.

"Entschuldige.", bat sie leise und gab ihm mehr zu trinken. Diesmal ging es schon besser, als beim ersten Versuch.
 

Ihre undeutliche Stimme, war wie Gesang. Beruhigend und sanft, hüllte sie ihn ein, bei jedem Wort, das sie sagte. Er musste nicht wissen, um was es ging.

Als ihr Geruch intensiver wurde und er ihre Hände auf sich spürte, da wusste er auch so, was sie von ihm wollte.

Die Hand an seinem Hinterkopf, die ihn etwas aufrichtete, damit er besser trinken konnte, war eiskalt. Auch die Hand, die das Glas führte, aus dem er vorsichtig trank, war genauso kalt, wie die bleierne Schwere auf seinem Körper.

Obwohl er im Augenblick nur noch Durst und Schmerzen im Kopf hatte, war da etwas in ihm, das ihn aufwühlte. Ein Gefühl, das ihm sagte, Kälte war an diesen Händen nicht gut und dass er etwas dagegen unternehmen sollte. Aber er war zu schwach, um sich näher auf dieses Empfinden einzulassen. Er hatte auch so schon Mühe zu trinken, ohne sich zu verschlucken. Weshalb er auch die Augen schloss, um sich besser konzentrieren zu können. Außerdem glühten Lichter wie brennende Sonnen von der Decke auf ihn herab und ließen diese tränen, wenn er zu lange hinein starrte.

Sein Durst war gemildert, als er dieses Mal nicht mehr weiter trinken konnte.

Als er also den Kopf leicht zur Seite drehte, um deutlich zu machen, dass er genug hatte, hörte er das leise Geräusch, als das Glas abgestellt wurde. Die Hand legte seinen Kopf wieder auf die weiche Unterlage ab und da überkam ihn plötzlich wieder Panik.

Zwar konnte er sich nur wage daran erinnern, was das letzte Mal passiert war, als dieses weibliche Wesen an seiner Seite seine Kehle befeuchtet hatte, wusste aber zumindest, dass er danach alleine aufgewacht war. Weshalb er die Augen wieder aufriss, seine pochenden Pupillen ignorierte, die sich zu Stecknadelgroßen Punkten zusammen zogen und den Schatten neben sich ansah.

So sehr er es auch wollte, er konnte noch immer nichts deutliches erkennen. Aber seine Nase waren in diesem Augenblick seine Augen. Sie war ihm nicht fremd. So viel wusste er und mehr brauchte er auch nicht zu wissen.

Seine rechte Hand schüttelte die durchtränkte Kälte von sich ab, woraufhin er ein sanft warmes Gefühl auf seiner Haut verspürte, ehe er nach dem Schemen tastete, der sich noch immer neben ihm befand und den er nicht aus den Augen lassen konnte.

Nach mehreren Fehlschlägen traf er schließlich auf kalte, feuchte Finger, die so zart wie zerbrechlich erschienen, im Gegensatz zu seiner großen Hand.

Obwohl ihn immer noch Schmerzen plagten und er nicht wusste, ob er nun fror oder vor Hitze umkam, schlossen sich seine Finger sanft um das feine Handgelenk, während er sich wieder auf die Seite drehte, um den Weg zu seinem Gesicht und somit die Kraftanstrengung zu verkürzen.

Er legte die feine Hand an seine heiße Wange. Wohltuende Kühlung war alles, worauf er sich in diesem Augenblick konzentrierte. Der Rest seines Körpers war wie abgetrennt. Durfte nicht an diesem lindernden Gefühl teilhaben, der von einem köstlich weiblichen Duft begleitet wurde.

Seine Augen schlossen sich entspannt, während die schlanken Finger auf seiner Wange zur Ruhe kamen und er seine Nase gegen die Innenseite des feinen Handgelenks legte.

Seine Lippen berührten ebenfalls die zarte Haut an dieser Stelle. Sie öffneten sich leicht, um Luft einzusaugen. Damit er sie auch auf diese Weise schmecken konnte.

Der pochende Schmerz in seiner Schläfe war vergessen, als er leise zu schnurren begann, während sein Daumen über den feinen Handrücken streichelten und er dabei die Finger spürte, die sich langsam aber sicher an seiner glühenden Haut erwärmten und ihm zugleich doch, angenehme Kühlung schenkte.

„Mehr…“, dachte er sich. Denn es war angenehm. Allerdings hatte er es ausgesprochen, ohne sich dessen bewusst zu sein.
 

Er hatte eine ganze Menge getrunken, bevor er signalisierte, dass er nicht mehr konnte. Paige war zufrieden mit ihrem Patienten und legte seinen Kopf vorsichtig wieder auf der Duschmatte ab. Inzwischen war seine Haut wieder auf eine Temperatur gesunken, die sie überlegen ließ, zumindest die Tücher wegzulassen. Seine Kleider waren durchnässt und ebenso kalt. Außerdem lag er auf den kühlen Fliesen, was zusätzlich für Linderung sorgen sollte.

Ein Blick in seine immer noch aufgerissenen Augen, die goldene Iris und die fiebrige Leere, sagte ihr, dass es noch ein bisschen zu früh dafür war. Für den Anfang würde sie nur die Badetücher weglassen. Das dünne, große Laken konnte sie ganz über ihm ausbreiten und umso leichter feststellen, ob sich sein Körper immer noch unnatürlich schnell und weit aufheizte.

Mit einem einzigen heftigen Schlag ihres Herzens registrierte Paige, dass Ryon die Hand nach ihr ausgestreckt hatte.

Sofort sprang ihr Puls in die Höhe. Sie hatte das Gefühl, jeden Augenblick zerspringen zu müssen. Ging es ihm schlechter? Hatte sie ihm zu viel Wasser gegeben? Oder zu wenig?

Bei all diesen Fragen, die sich in ihrem Kopf drehten, sah sie Ryon nur perplex dabei zu, wie er sich mühte, sich auf die Seite zu drehen und dann ihre Hand auf seine Wange zu legen. Ja, selbst für einen Gestaltwandler war er noch zu warm. Die gesunde Gesichtsfarbe täuschte offensichtlich über das Stadium hinweg, in dem er sich noch befand. Die Geste war wohl ein Zeichen dafür gewesen, dass ihm immer noch zu heiß in seiner Haut war.

Gerade wollte sie ihm sagen, dass sie verstanden hatte und die Hand wegziehen, als er sie mit seinem Verhalten völlig aus der Bahn warf.

Seine Lippen waren genauso warm, wie der Atem, der nun regelmäßig und leicht vibrierend gegen ihr Handgelenk schlug. Das Schnurren brachte fertig, was selbst die Erwähnung von Marlenes Namen nicht geschafft hatte.

Einen Moment lang tat es höllisch weh.

Paige spürte, wie der Widerstand nachließ, das heraus gerissen wurde, an dem er die ganze Zeit schon gezerrt hatte. Und was blieb, war das dumpfe Gefühl von Leere.

Sie zögerte, als er mit einem Flüstern um 'mehr' bat. Selbst wenn sie es wollte, Paige wusste doch, dass sie ihm nicht das geben konnte, was er wollte.

Atemlos sah sie auf ihre Hand und sein entspanntes Gesicht. Und weil sie ihrer Stimme inzwischen nicht mehr traute, blieb sie stumm, als sie entschied, dass eine Illusion für ihn auf jeden Fall besser war. Es half ihm mehr, zu glauben, dass es seine Gefährtin war, die bei ihm war, als zu wissen, dass nur Paige bei ihm Wache hielt.

Während sie still ihre Hand sanft auf seiner Wange liegen ließ, besah sie sich ein wenig das Chaos auf dem Badezimmerfußboden. So wie die Lage aussah, würden sie noch eine Weile hier bleiben müssen.

"Ryon?"

Sie hatte sich ein wenig vorgelehnt und hoffte, dass er sie hören würde. Wobei das noch lange nicht hieß, dass er auch verstehen würde, was sie sagte. Aber einen Versuch war es auf alle Fälle wert.

"Ryon, hör zu. Ich werde dir die Decke auf den Fußboden legen. Damit es nicht so hart ist."

Er schnurrte ungerührt weiter an ihre Hand und zeigte keinerlei Reaktion, aus der sie hätte schließen können, dass er verstanden hatte.

Da sie also wohl allein auf weiter Flur stand, griff sie nach dem zweiten Bettlaken, wischte hinter seinem Rücken so gut über den Boden, wie sie es in ihrer Position konnte und versuchte dann noch einmal ihm zu erklären, was sie tun würde.

"Ryon, ich werde kurz meine Hand wegnehmen. Keine Sorge, ich bin immer noch hier. Ich verspreche auch, dass du nicht nur diese eine, sondern auch meine andere Hand bekommst."

Nach diesem Satz wartete sie auf eine Erwiderung jeglicher Art. Es kam nichts, das sie hätte deuten können. Also zog sie die Hand weg, griff sich schnell die Decke um ihre Schultern und legte sie so gut es eben ging hinter ihm aus.

Während sie beruhigend eine Hand auf seine Schulter und die andere in seinen Nacken legte, versuchte sie ihn zum Mitmachen zu bewegen.

"Ich kann dich allein nur auf den Rücken drehen. Wenn du auf der Seite liegen willst, musst du mithelfen. Auf die andere Seite, verstehst du?"

Ach, so brachte das nichts. Paige atmete noch einmal tief durch, bevor sie gegen geringen Widerstand versuchte ihn wieder auf den Rücken und gleichzeitig auf die ausgelegte Decke zu drehen. Es klappte nur halbwegs, weil Ryons Bein zur Seite glitt und die Decke ein ganzes Stück von seinem Körper wegschob.

Paige rutschte an ihm hinunter, hob sein Bein an, dann das Andere und versuchte die Decke unter seinen Körper zu zerren. Auf die andere Seite würde sie ihn garantiert nie allein bekommen.

"Naja, vielleicht bleibst du einfach so liegen..."

Mit einem sehnsuchtsvollen Blick ins Nebenzimmer, wo noch eine dünnere Decke gewesen wäre, die Paige selbst ein bisschen hätte wärmen können, ging sie daran, erst einmal ihr Versprechen einzulösen. Einigermaßen bequem setzte sie sich neben Ryons Kopf auf den Boden, nahm seine Hand und legte sie mit ihrer zusammen auf seiner Brust ab. Mit der Rechten sah sie unter dem etwas angeklebten Waschlappen zuerst nach seiner Platzwunde, bevor sie ihm vorsichtig eine Weile durchs Haar strich. Zwischendurch legte sie ihm ihre kühle Hand immer wieder auf die immer noch glühende Stirn.

"Versuch zu schlafen. Ich werd' nicht weggehen."
 

Eingelullt von der angenehmen Stimme, dem klingenden Singsang, der sich seinem Verständnis entzog und dem sanften weiblichen Duft des zarten Handgelenks an seiner Nase, döste er schließlich halb weg. Sein Schnurren wurde davon noch nicht unterbrochen, da er noch zu sehr auf der Seite des Wachsseins war, aber alles andere an ihm wurde bleischwer. Er spürte nur schemenhaft, dass sich schließlich die Hand seinem vorsichtigen Griff entzog, aber auch dagegen protestierte er nicht. Dafür war er zu müde.

Sein vernebelter Verstand wurde wieder etwas wacher, als abermals kühle Finger sich unter die seinen schoben und sich auf seine ruhig hebende und senkende Brust legte. Sein Herz galoppierte darunter immer noch wie ein wildes Pferd, doch seine Atmung blieb konstant und tief.

Wohltuende Streicheleinheiten empfing er in der Nähe der Stelle, an der sein Kopf entsetzlich schmerzte. Sie linderten das Gefühl etwas, gaben ihm stattdessen sogar neue, bessere Anregungen zum Fühlen.

Sein Schnurren war etwas schwächer geworden, manchmal kam es sogar ganz ins Stocken, doch da war noch immer das bohrende Gefühl in seinem Innersten. Es registrierte die kalte Haut, des weiblichen Wesens, das neben ihm saß und obwohl er im Augenblick nichts lieber täte, als zu schlafen, konnte er es nicht. Stattdessen öffneten sich seine müden Augen. Die Konturen seiner Umgebung wurden etwas schärfer, aber nicht sehr. Dennoch blickte er instinktiv in das Gesicht der Frau, die da neben ihm war und ihn nicht verlassen hatte. Trotz seiner schlimmsten Befürchtungen.

Nein, ganz im Gegenteil, sie berührte ihn. Sie berührte ihn auf eine Weise, die ihm so unendlich viel Trost und Behagen schenkte, dass der Schmerz in seinem Kopf und die Kraftlosigkeit in seinem Körper nichts dagegen zu sein schienen.

Blinzelnd schloss er einen Moment lang wieder seine Augen, um sie auszuruhen, doch dafür umfassten seine Finger mit etwas mehr Nachdruck die Hand auf seiner Brust. Er hob sie an, allerdings nicht, um sie wieder auf seine Wange zu legen, sondern stattdessen begleitete er sie zu seiner Halsbeuge, wo er sie gegen die glühend heiße Haut an jener Stelle drückte. Seine Hand umfing vollkommen die ihre, als wolle er sie bedecken und ihr somit die Kälte aus den einzelnen Gliedern vertreiben.

Auch wenn er nicht wusste, wie er schon wieder auf dem Rücken gekommen war, ohne es zu bemerken, nahm er erneut die Kraft auf, um sich dieses Mal auf die andere Seite zu drehen. Immer dem weiblichen Duft nach, der seine Nase umschmeichelte und zu der wunderbaren Stimme gehörte, die ihn immer schläfriger machte.

Es fiel ihm zwar nicht so leicht, aber er rollte sich etwas zusammen, rückte näher an den Quell seiner Linderung, bis seine Stirn auf einen weichen Oberschenkel traf, der vollkommen durchnässt war und angenehm kühl. Was noch mehr Alarmglocken in ihm zum Schrillen brachte, obwohl er sie nicht zuordnen konnte. Er wurde unruhig.

„Du frierst…“, stellte er leise wispernd fest, obwohl ihm die Erkenntnis erst nach dem mühsamen Aussprechen seiner Worte kam. Allerdings lag er damit seinem Gefühl nach absolut richtig.

Langsam glitten seine Finger das feine Handgelenk hinauf, zum Einen, um sich zu orientieren, zum Anderen, um die Temperatur zu messen. Dort wo ihre Hand auf seiner Haut lag, war sie bereits etwas wärmer, aber kaum dass seine Fingerkuppen bei ihrer Armbeuge angekommen waren, wurde der Kontrast zwischen ihnen immer stärker. Er kochte und sie fröstelte.

Seine Augenbrauen verzogen sich angestrengt, als er seine Lider wieder hob, um zu der unscharfen Kontur auf zu sehen, von der er wusste, dass es sich um ein lebendes und atmendes Wesen handelte. Eines, das ihm vertraut war. Wenn auch nicht vollkommen, doch zumindest soweit, dass er sich bedenkenlos diesem Augenblick hingab.

Er vertraute ihr sein Leben an, das inzwischen keinem quälenden Todeskampf mehr glich. Ein Kampf war es noch, daran bestand kein Zweifel, aber er kämpfte nicht alleine. Sie war ja bei ihm.

Während er angestrengt zu ihr aufblickte und er versuchte etwas deutlicher zu erkennen, als namenlose Schatten, ließ er seine Hand von ihrer Armbeuge gleiten, stattdessen versuchte er sich mit gepresster Atmung und zusammengebissenen Zähne noch weiter herum zu drehen. Etwas, das auf ihm lag, behinderte ihn bei dieser Bewegung, also schob er es mit seinen Händen weiter hinab. Ehe er versuchte, seinen Oberkörper vom Boden hoch zu stemmen.

Sein ganzer Körper zitterte vor Anstrengung noch mehr, bis er schließlich unbeholfen wie ein kleines Kätzchen wieder auf den Boden sackte und sein Kopf auf etwas Weichen zum Liegen kam, das definitiv nicht einfach nur ein nasser Lappen war.

Er konnte fremdes Blut an seinem Ohr vorbei rauschen hören. Ein Puls, die Anspannung von Muskeln, die sich an seiner Wange bewegten.

Der zarte Duft von Weiblichkeit war nun intensiver und hätte er die Augen geöffnet, ihm wäre selbst in seinem halb blinden Zustand klar geworden, dass sein Kopf da auf einem weichen Schoß gebettet war, von dem er sich nicht wieder freiwillig erheben würde. Stattdessen legte er seine Hand dicht neben seinem Kopf auf dem Oberschenkel ab. Seine Fingerkuppen drückten sich fast schon zärtlich unbeholfen in das weiche Muskelgewebe, das er deutlich durch den völlig durchnässten Stoff fühlen konnte. Auch hier war es angenehm kühl und doch so falsch.

„Du darfst nicht frieren…“, nuschelte er nun tatsächlich dem Schlaf näher, als allem anderen. Er war so müde und das war das schönste Kopfkissen, dass er sich im Augenblick für seinen dröhnenden Schädel wünschen konnte.

„Vergiss … die Tunnel nicht … Paige…“, warnte er sie noch, ehe der Schlaf ihn überkam.
 

Ihre Hände schwebten in der Luft. Nur wenige Zentimeter von Ryon entfernt, während sie auf ihn hinab starrte und der Überzeugung war, sich nie wieder aus dieser Stellung lösen zu können.

Als er sich auf die Unterarme gestemmt hatte, war Paige fast das Herz stehen geblieben.

In seinem Zustand war körperliche Anstrengung das Letzte, dem er sich aussetzen sollte. Und dass es mehr als nur anstrengend für ihn war, sich herum zu drehen und seinen Körper mitsamt Decke ein wenig nach oben zu ziehen, sah sie seinem Gesicht an. Merkte es an seinem Atem, der einen Hauch schneller ging als zuvor.

Sie war schon dabei gewesen ihn zu stützen. Oder ihn auf der Decke fest zu halten. Je nachdem, was einfacher war... Als er seinen Kopf auf ihren Oberschenkel ablegte.

Als könne sie ihm damit wehtun, hatte Paige nicht gewagt sich zu bewegen, geschweige denn ihn zu berühren, während er auch noch einen Arm um ihr Bein schlang und sich sanft an ihr festhielt. So, wie er sich zusammen gerollt hatte, schloss er sie fast völlig in der Ecke zwischen Türrahmen und Wand ein, an der sie sich anlehnte.

Paige war so angespannt, dass sie ihre eigene Verwirrung leugnete. Dabei tobte für kurze Zeit ihr Kopf mit ihrem Herz um die Wette. Sie stritten sich, bis derjenige aufgab, der es sowieso gewohnt war, bei Paige den kürzeren zu ziehen.

Dennoch konnte sie es nicht verhindern, dass sich ein warmes Lächeln auf ihre Lippen schlich, als er sie vor ihrer eigenen Unterkühlung warnte.

"Keine Sorge."

Ihre Finger fanden ganz von selbst seinen Nacken, griffen vorsichtig in sein Haar und streichelten seine Haut. Genauso, wie sich ihre Andere auf seine Hand legte.

"Schlaf erstmal ein bisschen..."

Ihre leise Rede wurde durch ein heftiges Gähnen unterbrochen, das ihr die Tränen in die Augen trieb. Man hätte meinen können, der Rat hätte ihnen beiden gegolten.

Und sie mussten sich wirklich keine Sorgen machen.

Solange Paige sich nicht in ihre dämonische Form bemühte und Ryon eine derartige Hitze in den Raum strahlte, würde sie nicht in eine Starre verfallen. Außerdem würde wohl bald die Sonne aufgehen. Dann wurde es unter Umständen schnell viel wärmer, als es ihnen um Ryons Willen lieb sein konnte.

Mit bereits halb geschlossenen Augen zog sie ihm das Laken wieder bis über die Schultern, bevor sie mit ihrer Hand wieder seine umfasste.

In ihrer Ecke war es nicht gemütlich, aber sie konnte zumindest nicht umfallen. Und wenn sie den Kopf so gegen die Wand lehnte...

Sie war eingeschlafen, bevor sich ihre Lider wirklich geschlossen hatten. Wenn er so nah war, würde sie schon mitbekommen, wenn er aufwachte oder sich sein Zustand wieder verschlechtern sollte.
 

Eine lange Zeit war der Schmerz, die Hitze, das kalte Prickeln, die Schwäche, alles war wie ausgeblendet. Er schlief den Schlaf der Erschöpfung eines Kranken, der spürte, dass er umsorgt wurde. Obwohl er sich nicht vergewissern konnte, wusste er, dass er nicht alleine war. Trotzdem schlang er im Schlaf seine Arme schwach etwas enger um sein ‚Kissen‘, ließ sich von dem angenehmen Duft weiter einlullen, so dass selbst der harte Boden nur eine Nebensächlichkeit blieb, bis nach einer ganzen Weile erneut ein Feuer in ihm hoch zu lodern begann.

Sein eigenes Keuchen weckte ihn, zwang seine Augenlider dazu, sich zu öffnen und sich fiebrig umzusehen.

Was auch immer da kühl und nass auf ihm gelegen hatte, war inzwischen genauso heiß und trocken geworden, wie seine Haut und der Durst … der Durst war unerträglich.

Getrieben von seinen Überlebensinstinkten, kämpfte er sich auf zittrigen Fingern hoch, obwohl er den Schutz des Schoßes nicht verlassen wollte, in dem er so lange sein Gesicht geborgen hatte. Doch er brauchte dringend etwas zu trinken.

Wie er es schaffte, sich halb aufzusetzen und sich an die Wand neben dem Schatten zu lehnen, den er so undeutlich wie nie zuvor erkennen konnte, wusste er nicht. Aber im nächsten Moment schien alle Mühe fast vergebens gewesen zu sein, denn er begann an der Wand entlang wieder nach unten zu sacken. Ihm war verdammt schwindlig.

Im letzten Moment konnte er sich noch mit einer Hand an der anderen Mauer abstützen, so dass er nicht auf … Paige … fiel. Die da in der Ecke saß.

Es war Paige. Irgendwie drang das in seinen vernebelten Verstand durch. Auch wenn er es rationell betrachtet, nicht unbedingt glauben würde. Aber wo war im Augenblick schon seine Rationalität? Auf keinen Fall vorhanden. So viel stand schon einmal fest.

„Paige…“, flüsterte er leise und kraftlos. Seine Hand drohte abzurutschen, was ihn noch näher an ihren Körper heran brachte.

Der Duft ihres Haares stieg ihm deutlich in die Nase, als er sich gerade noch rechtzeitig über ihr abfangen konnte. Ohne ihre Hilfe jedoch, würde er nicht mehr lange verhindern können, doch noch auf ihr zu landen.

Sein Arm zitterte bereits heftig vor Anstrengung und im Augenblick hatte er nicht genug Gleichgewichtsgefühl, um sich selbst aufrecht zu halten. Er hätte liegen bleiben sollen. Aber er war so unglaublich durstig und offenbar hatte sie ebenfalls geschlafen.
 

Der Adrenalinstoß prügelte ihr Hirn in den Wachzustand und ließ ihr Herz so schnell schlagen, dass ihr für den Moment schlecht davon wurde.

Für wenige Augenblicke orientierungslos und erschrocken, sah sie blinzelnd ihr Gegenüber an, bevor sie ein leises Stechen in den Lungen daran erinnerte, dass sie Sauerstoff zum Leben brauchte.

Ohne auch nur mit einer einzigen Faser ihres Gehirns darüber nachzudenken, packte sie Ryon unter den Armen und schob ihn so gut es ging ein Stück die Wand hoch.

"Wa..."

Ihre Stimme war von dem tiefen Schlaf, aus dem sie so unsanft gerissen worden war, völlig belegt. Ein kleines Räuspern machte es nur unwesentlich besser.

"Was ist los? Geht's dir schlechter?"

Die Anstrengung sich aufzusetzen, hatte das Blut aus seinem Gesicht weichen lassen. Er war so weiß, wie die Wand, an der er halbwegs stabil lehnte. Paige hielt ihn so gut es ging dort fest und sah ihn aus besorgten Augen an. Giftige Stacheln aus schlechtem Gewissen bohrten sich in ihren Magen. Sie hätte nicht einschlafen dürfen!

"Tut mir so leid.", meinte sie halblaut und mit einem nahezu flehenden Unterton.

Das Erste, was ihr einfiel war, dass er Wasser brauchte.

Mit einer Hand an die Wand gestützte, damit Ryon sich auf sie lehnen konnte, fischte sie nach dem Glas und der Flasche. Inzwischen war sie fast leer, aber für ein paar Schlucke würde es reichen.

Dass er saß, machte zumindest die Sache mit dem Trinken leichter. Sie sah ihm aber mehr als besorgt dabei zu, wie er in wesentlich größeren Schlucken trank, als beim letzten Mal.

"Ist es schlimmer geworden?"

Da er sie noch nicht einmal mit den Augen fixieren konnte, die leuchtend gold die Gegend absuchten, wo er wohl ihr Gesicht vermutete, erwartete sie keine Antwort. Sie würde es selbst herausfinden müssen.

"Ich werde dir nichts tun, ok?"

Sie stellte das Glas kurz auf dem Boden neben seinem Bein ab und legte ihre Hände auf seine Wangen, um ihn still zu halten.

"Keine Angst."

Wie bereits am Anfang, kam sie ihm so nahe, dass sich ihre Wangen diesmal aber nur fast berührten. Wieder nahm sie seine Hitze mit ihrer Zunge auf. Wieder schmeckte sie anders und beim ersten Test konnte sie nicht sagen, wie es sich verändert hatte. Also versuchte sie es noch einmal. Paige schloss die Augen und legte ihre Wange nun tatsächlich an Ryons Hals.
 

Gerade noch rechtzeitig, hielten ihn sanfte Hände fest. Verhinderten, dass er umfiel, in dem sie ihn in eine absturzsichere Position brachten.

Sein Kopf war so verdammt schwer, und fühlte sich auch genauso an, dass er ihn kaum halten konnte. Also lehnte er sich gegen die Wand, versuchte dieses Mal aber sich auf das zu konzentrieren, was zu ihm gesagt wurde. Allerdings verstand er in seinem Zustand erst die letzten Worte von Paige richtig. Auch der vertraute Klang, machte ihm nun deutlicher, dass sie es war.

Nein, er hatte keine Angst. Erst recht nicht, nachdem sie ihm dabei geholfen hatte, seinen Mund wieder zu befeuchten.

Gerne hätte er noch mehr Wasser getrunken, doch vielleicht war es auch gar nicht so gut, so gierig zu trinken. Er wusste es nicht genau. Konnte nicht klar genug denken, um irgendeinen zusammen hängenden Satz logisch zu formulieren. Bei ihm drehte sich einfach alles und er war trotz des erholenden Schlafes immer noch so unglaublich schwach, dass er sich am liebsten selbst verfluchen würde. Aber selbst das brachte er nicht fertig.

Seine Sinne, sein Verstand, seine Wahrnehmung, das alles flackerte wie eine kaputt gehende Neonröhre, die trotz allem noch um ihr Überleben kämpfte.

Mal spürte er deutlich etwas, mal war alles wie in Watte gepackt. Auch seine Gedanken.

Doch als sich schließlich kühle Hände auf seine glühenden Wangen legten, da hielt er mit einem Mal ganz still, er wagte noch nicht einmal richtig zu atmen.

Wie das sanfte Kribbeln eines Sommerregens spürte er die Nähe dieser Frau, als sie sich zu ihm beugte, so dicht, dass er ihren Duft beinahe schmecken konnte.

Er schloss die Augen, wartend, während sein Herz zu pochen begann und das Blut noch lauter in seinen Ohren rauschte. Etwas sagte ihm, dass er sich dieser Berührung entziehen müsste. Andererseits wollte ein anderer Teil diese Hände so sehr auf seiner Haut spüren, dass er alles dafür gegeben hätte. Es war so angenehm kühl, so wohltuend und lindernd. Alles schien halb so wild zu sein, wenn er nur von diesen Händen berührt wurde. Alles war leichter zu ertragen, weil er so deutlich spüren konnte, dass er nicht alleine war.

Mit einem Mal, war da ihre Wange an seinem Hals. Besonders deutlich spürte er es an den Stellen, wo ihre Haut seine dünne Narbe berührte.

Es war die Berührung ihres seidigen Haars an seinen Lippen und wie sie über seine Nasenspitze kitzelten, die ihm klar machte, was sie tat. Eine flüchtige Bewegung, wie der Flügelschlag eines Schmetterlings, strich ihm über die Haut, doch war es so schwach, so überdeckt von der intensiven Empfindung des Temperaturunterschieds zwischen ihnen beiden, dass er es sich auch nur eingebildet haben könnte.

Ein Seufzer der Erleichterung entkam seinen halb geöffneten Lippen, als sich seine Wange automatisch an ihren Kopf schmiegte, um dort nach Kühlung und Nähe zu suchen. Instinktiv wusste er, dass das genau die Reaktion war, die alles beenden würde. Trotzdem hatte er sie nicht aufhalten können.

In seinem getrübten Verstand wollte sich nicht recht ein Argument finden, was falsch daran gewesen wäre. Er suchte noch nicht einmal danach, sondern überließ sich stattdessen ganz dem Drang, der ihm die Kraft zum Handeln gab.

Seine Arme hoben sich langsam, zögernd und doch noch schnell genug, bevor seine Reaktion auf sie, diese Frau zum Zurückweichen zwingen konnte.

Er war zu schwach, um sie zum Bleiben zu bewegen, das wusste er und dennoch schlang er seine Arme um sie. Zog den kühlen, duftenden, weichen Körper an sich. Vergaß einen Moment lang das Hämmern in seinem dröhnenden Schädel, die Hitze, die ihm entstieg und ihn zugleich verbrannte, den Schwindel, der ihm das Gefühl gab nur noch durch sie Halt zu finden.

Mit einem Mal überkam ihn panische Angst, dass sie ihn verließ. Warum, das konnte er nicht sagen. Aber diese Furcht trieb sein rasendes Herz an, bis er glaubte, es müsse ihm aus der Brust springen. Er atmete schnell, erschaudernd, flach und begann noch stärker zu zittern. Instinktiv schlang er die Arme fester um sie, als hätte es etwas gebracht, war sie ihm im Augenblick doch weit überlegen, was Stärke anging.

„Lass mich nicht … allein …“, flehte er leise, kaum hörbar, ohne die Furcht in seinen Worten verstecken zu können. Dann sackte er mit einem Mal völlig in sich zusammen. Der heftige Adrenalinstoß war zu viel für ihn gewesen. Sein Körper gab sich selbst Ruhe, in dem er ihn zum Schlafen zwang und das tat er schließlich auch.
 

Es schmeckte immer noch nach der Hitze, die sich in seinem Körper geballt hatte und dort gefangen war. Die kalten Umschläge hatten sie nicht ganz herausziehen können. Und auch wenn Paige es ihm gern noch gemütlicher gemacht hätte, anstatt ihn wieder zu durchnässen, war es die einzige Möglichkeit, ihn letztendlich von seinen Qualen zu befreien.

Erneut erschrak sie, als sie sein Seufzen hörte. Ihr Puls schnellte in die Höhe und ihre Muskeln spannten sich an. Paige nahm eine Hand von seiner Wange und wollte ihren Arm gerade um seine Seite schlingen, als er ihr zuvor kam.

Mehr die Überraschung als die Kraft seiner Bewegung riss sie von den Füßen und aus ihrer kauernden Position. Hätte sie sich nicht irgendwie halb an Ryons Schulter, halb an die Wand hinter ihm gekrallt, sie wäre ihm einfach in den Schoß gefallen.

So erstaunlich fest wie er sie für seinen Zustand hielt, konnte sie kaum ihre Wange von seinem Hals nehmen.

Paige versuchte sich zumindest so weit zu lösen, um in Ryons Gesicht sehen zu können. Was, wenn er kurz davor war, nun vollkommen zusammen zu brechen?

Der Geschmackstest hatte nicht die gewünschten Ergebnisse gebracht. Ging es ihm so viel schlechter, als sie vermutet oder vielleicht auch nur gehofft hatte? Das Zittern seines Körpers und der flache Atem ließen sämtliche Farbe aus Paiges Gesicht weichen. Sie hatte etwas falsch gemacht! Wie hatte sie nur einschlafen können! Was, wenn er ihretwegen..?

Sein Griff wurde fester, drückte sie an seine Brust und riss sie nun endgültig auf die Knie, um einen Fall halbwegs zu verhindern.

Paige kannte das reißende Gefühl, das ihr sämtliche Organe bis in die Kniekehlen ziehen wollte, nur zu gut. Sie hatte Angst um ihn. Die gleiche zerreißende Panik, wie schon vor Stunden, als er glühend und hilflos vor ihr auf dem nackten Fußboden gelegen hatte.

Erst als sie ihn nicht mehr halten konnte und Ryon wieder bewusstlos auf den Boden sank, rollten ihr die Tränen heiß über die Wangen. Sie kitzelten ihr Kinn, bevor sie auf die noch immer feuchten Fliesen hinab tropften, die Paige mit zitternden Händen unter der Decke frei legte.

Mit verschwommener Sicht zog sie die Decke unter ihm heraus, griff das Laken und die Handtücher wie einen Rettungsanker und stellte das Wasser wieder an.

Paige sah nicht, was sie tat. Ab und zu wischte sie sich die Augen, das nasse Gesicht, aber es nützte nichts. Aus ihrer Panik wurde wütende Verzweiflung, als sich die Tücher immer wieder an Ryons Körper aufwärmten. Und das Schlimmste war... sie konnte nicht mehr.

Paiges Körper gab langsam aber sicher die Signale dafür, dass die Kräfte, die der Schock in ihr ausgelöst hatte, schwanden. Es fiel ihr immer schwerer nur Ryons Schultern anzuheben, um das Bettlaken auch ein wenig unter seinen Körper zu stecken.

"Ich weiß nicht, was ich noch tun soll..."

Die Worte waren laut und schienen ihr von allen Wänden wieder entgegen zu schlagen wie Lawinen, ausgelöst von ihrer eigenen, verzweifelten Stimme.

Doch das war es nicht, was sie schließlich dazu brachte, ihren völlig überforderten Körper neben Ryon zusammen sinken zu lassen.

Ihre Hände krallten sich aus dem Grund um seinen Oberkörper, aus welchem sie auch ihr Gesicht an seiner Halsbeuge vergrub und die Tränen gar nicht mehr aufhalten konnte.

Ryon hatte ausgesprochen, was Paige mit jeder Faser ihres Körpers hinaus schreien wollte.

'Lass mich nicht allein!'

28. Kapitel

Als er erwachte, geschah es nicht willkürlich, oder zögernd und vor allem war es nicht schwierig. Ryon schlug einfach die Augen auf.

Der Schleier vor seinen Augen hatte sich stark gelichtet, wenn auch nicht vollkommen verzogen. Er erkannte Farben und Formen und somit auch das Chaos, das sich vor ihm wie ein eigentümliches Schlachtfeld ausgebreitet hatte.

Zwar tat sich sein Gehirn noch etwas schwer, richtig in die Gänge zu kommen, doch seit der Druck auf seine Schädeldecke nachgelassen hatte, fiel es ihm leichter einen klaren Gedanken zu fassen. Dass dort überhaupt Druck geherrscht hatte, bemerkte er nur durch das Gefühl der Erleichterung, die er jetzt empfand. Aber das war vermutlich nicht der einzige Grund, wieso seine Stirn so heftig pulsierte, als hätte sie ein eigenes Herz.

Ryon musste nicht die Hand heben, um die Platzwunde an seiner Stirn zu fühlen, die inzwischen mehr oder weniger geschlossen sein müsste, wenn auch noch nicht ganz verheilt. Immerhin hatte sein Körper andere Schlachten zu schlagen gehabt. Schwerere und langwierigere.

Das Blut an der Kante des Waschbeckens und an einigen Stellen auf dem Boden war Beweis genug dafür, dass er sich ordentlich den Schädel angeschlagen hatte. Aber das war bestimmt nicht alleine der Grund, weshalb er sich nur verschwommen daran erinnerte, wie er auf den Boden gekommen war.

Sein Körper lag auf der Seite, was das verspannte Gefühl seiner Schulter erklären dürfte, sollte er schon länger in dieser Position verharrt haben. Immerhin war der Untergrund hart, aber wenigstens nicht sehr kalt, da seine eigene Körperwärme die Fließen angewärmt hatte.

Als er versuchte, sich in eine bequemere Position zu bringen, um seine Schulter etwas zu entlasten, hielt er plötzlich mitten in der Bewegung wie erstarrt inne. Erst jetzt fiel ihm die schlanke Hand auf, die sich im Stoff seines Hemdes direkt über seinem pochenden Herzen verkrallt hatte. Kühler, wohltuender Atem schlug ihm regelmäßig an der Stelle entgegen, wo er die Knöpfe am Kragen wegen der Hitze nicht ganz geschlossen hatte.

Langsam, als wäre das nur ein Trugbild, das sich sofort verflüchtigen könnte, wenn er es ansah, neigte er den Kopf, um an sich hinab zu blicken.

Schwarzes, zerzaustes Haar hatte sich über seinen angewinkelten Oberarm ergossen, auf dem auch der dazu gehörige Kopf gebettet da lag.

Ohne es bis jetzt richtig mitbekommen zu haben, registrierte er, dass sein Unterarm an Paiges Rücken entlang verlief und seine Hand auf ihrer Taille lag, damit sie im Schlaf nicht einfach von ihm wegrutschen konnte, obwohl die Hände, die sich selbst jetzt noch in sein Hemd krallten, das gewiss nicht zugelassen hätten.

Seine andere Hand hatte ihren Nacken in einer beschützenden Geste umschlungen und auch jetzt zog er sie nicht von dort weg.

Er konnte einfach nicht. Genauso wenig wie er dazu im Stande war, den Blick von ihrem Haar abzuwenden, das jede Sicht auf ihr Gesicht verbarg.

Ihr Körper zitterte leicht in seinen Armen, wie das wild klopfende Herz eines verängstigten Kaninchens. Für seine Verhältnisse fühlte sie sich regelrecht kalt an, aber das kam ihm nur so vor, weil er noch immer einem langsam abkühlenden Hochofen glich. Selbst wenn die Hitze ihn nicht niedergerungen hätte, er würde immer wärmer als sie sein.

Der Gedanke führte zu weiteren Gedanken, die ihn an das Chaos im Badezimmer erinnerten, das er vorhin beim Aufwachen gesehen hatte. Überall hatten Handtücher, Pflegeartikel und allerlei andere Sachen herum gelegen, als wären sie willkürlich auf den Boden geworfen worden oder einfach runter gefallen. Er selbst war in Handtücher und Laken gewickelt, wie er nun fest stellte.

Der Stoff war kaum noch feucht und hatte somit die Wirkung verloren, die er eigentlich hätte erzielen sollen. Dafür waren Paiges Sachen noch immer nass, außer an den Stellen, an denen er sie mit seiner Haut berührte. Kein Wunder, dass sie zitterte. Sie musste frieren, wenn auch weit nicht so schlimm wie damals in den Tunneln. Außerdem war es eine ganz und gar unbequeme Stelle, um zu schlafen. Sein Rücken tat inzwischen an jeder erdenklichen Region weh, die man sich nur vorstellen konnte. Auch an Teilen, wo er gar nicht gewusst hatte, dass es sie bei ihm gab.

Dennoch ignorierte er das Gefühl. Genauso wie den bohrenden Hunger und den fast schon qualvollen Durst.

Eine Flasche voll Wasser stand ganz in der Nähe. Er hätte nur seine Hand danach ausstrecken müssen, um sie zu erreichen, doch stattdessen schlang er seine Arme enger um Paige und zog sie näher an sich heran.

Ryon vergrub sein Gesicht in ihren Haaren und schloss noch einmal die Augen. Während ihr Duft sich wie süßer Honig auf seine Atemwege legte und selbst die Kopfschmerzen zu einer lästigen Nebensächlichkeit verwandelte, hörte er tief in sich eine Stimme widerhallen.

‚Noch nicht…‘, bat diese fast schon verzweifelt flehend. Es war sein eigener Klang. Sein eigenes Empfinden, das regelrecht darum bettelte, noch einen Moment länger so verharren zu dürfen.

So oft war er schon erwacht, alleine und verlassen. So oft schon hatte er niemanden mehr gehabt, über dessen Schlaf er hätte wachen können. Und so viele weitere Male würde dies geschehen, dass ihm das Wissen alleine in diesem Augenblick fast das Herz zerriss.

Es war etwas, das er schon vor langem akzeptiert hatte. Aber in diesem Moment, in dem alles an ihm hilflos und ungeschützt hier an der Seite dieser Frau lag, fühlte er sich so sicher und geborgen, wie schon sehr lange nicht mehr.

Die vergangenen Stunden mochten für ihn vielleicht immer verschwommen bleiben, aber dass sie jetzt hier war, bedeutete, dass sie ihn nicht alleine gelassen hatte. Dass sie es war, die ihm die Hitze aus dem Körper gezogen hatte, in dem sie ihn in diese Tücher gewickelt hatte.

Selbst jetzt noch, da der Schlaf sie fest umklammert hielt, war sie da, um für ihn zu sorgen. Wenn auch auf eine Weise, die man nicht mit den Augen sehen konnte.

Paige war vielleicht nicht in der Lage, das klaffende Loch in ihm vollständig auszufüllen, aber dass sie es wenigstens versuchte, schnürte ihm förmlich die Kehle zu und selbst als widerstrebende Gefühle in ihm hoch sprudeln wollten, kämpfte er sie erbarmungslos nieder. Nein. Die Stimme in ihm hatte Recht. Noch nicht!

Er wollte noch nicht zurück in die Sklaverei seines eigenen Verstandes. Er wollte noch nicht aus dieser Wärme gerissen und zurück in die Kälte seines eigenen Wesens geworfen werden. Er wollte sich noch nicht damit befassen, was genau hier alles geschehen war und was es vielleicht noch bedeuten würde. Er wollte sich noch nicht mit den Konsequenzen auseinandersetzen und vor allem, wollte er das hier noch nicht beenden.

Trotzdem, selbst wenn er sich lieber die Hände abgehakt hätte, anstatt zu riskieren, Paige aus ihrem erschöpften Schlaf zu reißen, schlug er entschlossen die Augen auf.

Ryon hatte nur ein Ziel.

Paige sollte nicht länger auf diesem verdammt unbequemen Boden liegen müssen und er selbst wollte es auch nicht länger tun.

Sie selbst hatte vielleicht nicht die Kraft besessen, seinen Körper zu bewegen, aber im Gegensatz zu ihm, war sie so leicht und zierlich, dass ihm dieser Unterschied erst jetzt so offensichtlich auffiel, als sie ihm so nahe war.

Allerdings verstand er nach einigen Momenten nur zu gut, was für einen Brocken er für sich selbst darstellte.

Seine Beine waren viel zu schwach, um sie gebrauchen zu können. Seinen Armen erging es nicht besser, aber seine Entschlossenheit war stärker, als die Schwäche. Weshalb es ihm auch Stück für Stück gelang, Paige vorsichtig, um sie nicht zu wecken, mit sich zu ziehen, so dass er auf dem Rücken und sie halb auf seiner Brust lag. Die Tücher und Laken hatte er abgestreift, taten sie ohnehin keine allzu große Wirkung mehr.

In Millimeterarbeit arrangierte er Paiges Körper so auf sich, dass keines ihrer Körperteile mehr den Boden berührte. Danach begann er mit ihr zusammen rückwärts zu kriechen. Was nicht nur verdammt mühsam war, sondern auch sehr viel Zeit in Anspruch nahm.

Doch die unzähligen Pausen, die er gezwungenermaßen machen musste, nutzte er dazu, sicher zu gehen, wie tief Paige noch schlief.

Anhand ihres blassen Gesichts, den dunklen Augenringen und der Art ihrer Regungslosigkeit musste sie so tief schlafen, dass schon eine Bombe neben ihnen hätte hochgehen müssen, um sie aufzuwecken. Aber selbst einer Stecknadel hätte er es nicht erlaubt, neben ihr auf zu kommen. Ganz zu schweigen von seiner Atmung, die immer lauter wurde, je mehr er sich überanstrengte.

Doch sein Ziel, das Bett im Nebenraum war nicht mehr so weit entfernt, wie vor seinem Aufbruch. Dennoch dauerte es weitere quälende Minuten, bis er vollkommen ausgelaugt auf dem dicken Teppich daneben sank und sich mit geschlossenen Augen für einen Moment ausruhte.

Auf das große Kingsizebett kommen zu wollen, käme dem Wunsch gleich, den Mount Everest erklimmen zu wollen. Es war schier unmöglich.

Da der dicke und weiche Teppich zusammen mit dem großen Kopfkissen, das in Griffnähe auf dem Boden lag, tausendmal bessere Umstände bot, als der geflieste, nasse Badezimmerboden, beschloss Ryon hier ihr Lager aufzuschlagen.

Er konnte ohnehin nicht mehr weiter. Seine Muskeln zitterten stark von den Anstrengungen und fühlten sich schwach und kraftlos an. Selbst der kleine Griff nach oben, um die Tagesdecke vom Bett zu zerren, verlangte ihm schon fast mehr ab, als er noch aufbringen konnte. Aber er schaffte es.

Noch immer äußerst vorsichtig und langsam, obwohl die Wanderung Paiges tiefen Schlaf nicht im Geringsten gestört hatte, arrangierte er eine Hälfte der Decke neben sich auf dem Boden, ehe er sie langsam darauf legte. Sein Arm umschlang das große Kissen, ehe er Paiges Kopf sanft darauf legte, um es ihr bequemer zu machen. Danach schlug er die Decke über ihrem Körper zusammen und verwandelte den Stoff zu eine Art Kokon, aus dem nur noch ihr Kopf hervor sah.

Diesen Kokon zog er dicht an seine Seite, ehe er ebenfalls seinen bleischweren Kopf neben ihr auf das Kissen ablegte.

Zwar war Ryon vollkommen fertig von dieser Pilgerreise, dennoch blieben seine Augen offen, während sein Blick über Paiges Gesichtszüge glitten.

Ohne es recht mitbekommen zu haben, hatte seine freie Hand damit begonnen, ihr Haar Strähne für Strähne wieder mit streichelnden Bewegungen zu glätten. Selbst als ihm auffiel, was er da tat, machte er weiter. Das Gefühl war einfach sehr schön. So weich und bei jeder Bewegung stieg ihm ein Schwall dieses angenehmen Dufts in seine Nase.

Irgendwie erinnerte er ihn an Sandelholz, einem Bouquet aus getrockneten Sommerblumen und ihrem vollkommen eigenen Aroma. Süß und schmackhaft, wie reife Beeren.

In ihren Augenwinkeln hatten sich kleine Sandkörnchen gebildet, die er ihr vorsichtig weg strich. Der Geruch von Salz und Meer drängte sich ihm auf. Zusammen mit einer sehr verschwommenen Erinnerung daran, Schluchzen gehört zu haben. Wenn auch völlig verzerrt und verbogen, als hätte es unendlich viele Umwege gehen müssen, um an sein Gehör zu gelangen.

Paige hatte geweint. Nicht nur die Sandkörnchen verrieten es ihm, sondern auch ihre rot geschwollenen Augen.

Diese Frau hatte nicht nur wegen ihm, sondern auch um ihn geweint. Wie konnte so jemand wie er nur so etwas verdienen? Genauso wie die Fürsorge, mit der sie ihn bedacht hatte.

Ja, einige Erinnerungen waren vollkommen für ihn verloren, aber das hieß nicht, dass er ein vollkommenes Blackout bei den vergangenen Stunden aufweisen konnte. Er erinnerte sich sehr wohl an den Klang ihrer Stimme, wenn auch nicht an deren Bedeutung. Ihr Duft war immer präsent gewesen, als hätte sie ihn keinen Moment alleine gelassen und genau das war der Grund, weshalb er nicht die Kraft auf brachte, sie nicht zu berühren. Denn auch sie hatte ihn berührt. Seine Wangen, seine Stirn, sein Haar und etwas, das man nicht mit Händen fassen konnte. Sie hatte einen Teil seiner Seele berührt.

Minuten verstrichen wie Sekunden bar jeglicher Bedeutung. Er wurde es nicht müde, ihr über die glänzenden Haare zu streicheln, die nun nicht mehr zerzaust ihr Gesicht umrahmten. Genauso wenig, wie er ihrem Anblick überdrüssig wurde.

Egal wie lange er ihr nun schon beim Schlafen zugesehen hatte, er könnte es noch stundenlang weiter tun.

Aber seine Augen waren müde und brannten, weshalb er sie schließlich gezwungenermaßen doch schloss, als er sie nicht mehr länger offen halten konnte. Doch er schlief nicht ein. Wollte es nicht, stattdessen zog er Paige näher an sich heran, so dass ihr Atem wieder gegen sein Brustbeins chlug und ihre Stirn den Ansatz seines Halses kühlte, während er sein Kinn an ihren Kopf schmiegte und seine freie Hand sich wieder um ihren Nacken schlang.

Zärtlich massierten seine Fingerkuppen jede hartnäckige Verspannung, die er dort erwischen konnte, während er leise und gedämpft vor sich hin schnurrte, um ihr noch länger einen erholsamen Schlaf zu gewähren. Denn nun war er es, der über sie wachte. Selbst wenn die Welt in diesem Augenblick untergehen würde, er würde nicht von ihrer Seite weichen.

Noch nicht…
 

Ihre Schlaf wurde mit der Zeit leichter. Weniger bleiern lastete die Erschöpfung auf ihr und gab sie in erholsames Dösen frei, bei dem sich sogar ihre Gesichtszüge zufrieden entspannten.

Paige spürte die kuschelige Decke um ihren Körper und wie sie ihr Wärme spendete. Ihre Kleider klebten nicht mehr so stark und kalt an ihrem Körper, wie noch vor wenigen Minuten. Oder waren es Stunden gewesen? Es interessierte Paige ungefähr so sehr, wie sie sich darüber wundern wollte, wie sie überhaupt zu der Decke gekommen war.

Auch das Gefühl in ihrem Nacken hätte ihr eigentlich Fragen aufwerfen sollen. Aber Paige hatte keine Lust und auch zu wenig Energie, um sich damit zu beschäftigen. Lieber kuschelte sie sich an Ryons ebenfalls warmen Körper, spürte und schmeckte sie doch, dass die Hitze nicht mehr verheerend war. Ihm drohte keine direkte Gefahr mehr von dem Hitzschlag, den er erlitten hatte. Kein Grund jetzt schon aufzuwachen...
 

Ob es wieder nur Minuten oder doch länger gewesen war, wusste Paige nicht. Aber langsam konnte sie ihren Körper nicht mehr dazu zwingen abzuschalten. Ihr Hirn flackerte immer wieder auf wie ein Wecker, den sie vergessen hatte für's Wochenende abzustellen. Und es sagte ihr, dass sie nach Ryon sehen sollte. Ob es ihm inzwischen besser ging oder er immer noch Kühlung brauchte.

Mit einem kleinen Laut schob Paige ihre Finger unter der Decke hervor und wischte sich über die verklebten Augenlider, bevor sie sie blinzelnd öffnete.

Eigentlich hätte sie sich darüber wundern sollen, dass sie immer noch direkt neben Ryon lag, an ihn gedrückt, wie sie auch eingeschlafen war. Es war voller Panik und widerstrebend gewesen. Aber ihr Körper hatte sie letztendlich zu ihrem eigenen Besten in die Knie gezwungen.

Sie wunderte sich keineswegs über ihre Position, in der sie eine Hand immer noch in den Stoff seines Hemdes gekrallt hatte. Auch seine Hände auf der Decke um ihren Körper und seine streichelnden Finger in ihrem Nacken ließen sie nicht aufschrecken.

Doch etwas Anderes brachte ihr Herz dazu lauter und schneller zu schlagen. Etwas, das eigentlich dazu gedacht war, genau das Gegenteil zu bewirken.

"Bist du wach?", wollte sie mit einem Flüstern wissen, das sie kaum selbst hören konnte.

Eigentlich war die Frage falsch gestellt.

Sie wollte wissen, ob er bei Sinnen war. Ob Ryon wusste und begriff, was hier gerade vor sich ging.

Sie brauchte zwei Sekunden, um sich innerlich darauf vorzubereiten, dass er sich zurück ziehen würde. Gleich würde sie den Kopf heben, in seine matten, schwarzen Pupillen sehen und alles wäre vorbei. Die vergangenen Stunden, die Berührungen... Alles würde er mit einem Blick auslöschen und ungeschehen machen.

Am liebsten hätte Paige niemals ihren Kopf von seiner Brust genommen und zu ihm aufgesehen. Sie erwartete es, aber genauso gut wusste sie, dass die Zurückweisung weh tun würde.

Wie in Zeitlupe und als würde sie gegen eine große Kraft ankämpfen, bewegte sie sich. Legte ihren Kopf in den Nacken, um aufsehen zu können.

Ihre Augen trafen seine. Vorsichtig und abwartend, ein wenig eingeschüchtert sah sie zu ihm hoch.

"Geht es dir ein bisschen besser?"
 

Selbst als sie sich zu regen begann, behielt er die Augen geschlossen, das Vibrieren in seiner Brust, blieb regelmäßig und auch seine Fingerspitzen in ihrem Nacken ließen sich nicht aus dem Takt bringen. Doch alles war irgendwie mit einem Mal erzwungener. Man merkte vielleicht keinen Unterschied, aber Ryon war sich darüber im Klaren, dass er sich dazu brachte, einfach weiter zu machen, denn alles andere hätte in diesem Augenblick sofort dazu geführt, dass seine Frist abgelaufen wäre.

Dabei war er, wenn auch nur für diesen Moment, in seinem Inneren so ruhig und friedlich, wie schon lange nicht mehr.

Vieles mochte mit seiner körperlichen Erschöpfung zu tun haben, die sich erst sehr langsam verflüchtigte, da sein Körper einiges an Anstrengungen hatte auf sich nehmen müssen und das alles seine Zeit brauchte.

Zeit, die er in diesem Zustand der Ruhe verbringen wollte, wo es keine Gewissensfragen, keine Distanz und Schluchten gab, die ihn dazu hätten bringen können, die Nähe dieser Frau zu meiden.

Niemals könnte er sie verschmähen, aber wenn er einmal mit dem Denken anfangen würde, dann würde er auch wieder den Mantel der Einsamkeit über sich werfen und die Maske der Emotionslosigkeit überstreifen.

Dann würde er sich von ihr fern halten.

Als hätte Paige seine Gedanken gespürt, wurde sie mit einem Mal noch etwas aktiver und ihre Worte drangen zu ihm hindurch.

Das Vibrieren in seiner Brust erstarb, seine Finger kamen zum Erliegen und seine Augen öffneten sich langsam, nur um den ihren zu begegnen, die zu ihm hinauf blickten.

Ryon wollte sich etwas aufrichten, um leichter antworten zu können, doch er hob lediglich einen Moment lang etwas den Kopf an, ehe er ihn wieder zurück auf das Kissen sinken ließ. Er war so schwer.

„Davon abgesehen, dass mich in diesem Augenblick selbst meine verstorbene Urgroßmutter im Armdrücken schlagen könnte… Ja, es geht mir besser.“

Seine Stimme war rau, tief. Leicht heiser, als hätte er schon lange nicht mehr gesprochen. Aber es lag auch jene Ruhe in ihr, die er noch immer in sich selbst spürte.

Einen Moment schwieg er, während seine Augen über Paiges Gesichtszüge glitten. Sie sah noch immer leicht blass und erschöpft aus, aber auch so voller Leben, wie er sie kannte. Dass er ihr sein eigenes Leben verdankte, war keine Frage, sondern eine Tatsache. Ohne sie, hätte er diesen Hitzestau sicherlich nicht überlebt, mochte sein Körper noch so hohe Temperaturen ertragen können. Manches war auch für ihn einfach zu viel.

„Diesen Umstand habe ich dir zu verdanken, nicht wahr?“

Der Ausdruck seiner Augen wurde sanfter, je beklommener er in seinem Inneren wurde.

Er wollte sich noch mehr Zeit erhaschen. Noch mehr der kostbaren Sekunden, die ihm noch blieben, ehe das alles hier unwiederbringlich vorbei sein würde. Denn das es so sein würde, war ebenfalls eine Tatsache. Das ließ sich nicht leugnen.

Seine Finger begannen zu zittern, als er sich körperlich dagegen zu wehren begann, in sein altes Glaubensmuster zurück zu fallen. Sein logisches, eiskaltes Bewusstsein wollte sich ihm aufdrängen, ihm Vorwürfe für diese Situation machen, in der er sich so leichtfertig gebracht hatte.

Gewissensbisse hämmerten gegen seinen Verstand, die sein Herz schneller schlagen ließen, je eindringlicher sie wurden.

Wieso nur, war ihm nicht ein Moment des Seelenfriedens vergönnt?

„Und wie geht es dir?“, wollte er leise wissen, um die lautlosen Attacken seiner negativen Gefühle noch etwas länger von sich fern zu halten.

Schuldgefühle, weil er hier mit einer Frau so eng umschlungen auf dem Boden lag, ließen seine Brust immer weiter zusammen schnüren, egal wie sehr er versuchte, sich einzureden, dass das alles hier völlig harmlos war. Er betrog niemanden und doch war es genau dieses Gefühl, das ihm die Ruhe völlig zerstören wollte.
 

Sie waren so interessant.

Goldgelb und direkt um die Pupille herum mit anderen Farben gesprenkelt. Blau konnte Paige sehen, ein wenig grün sogar und Brauntöne, die sich in geschwungenen Schlieren zum Rand hin im Gold verloren.

Wie schade, dass Ryon seinem Umfeld den Anblick nur so selten gönnte. Selbst jetzt konnte Paige sehen, dass er darum kämpfte, seine Eiseskälte zurück zu gewinnen. Mit jedem Moment, dem sie ihm weiterhin tief in die Augen sah, wurde die Pupille ein wenig größer. Man hätte den Blick als flackernd beschreiben können, auch wenn das für Paige aus unerfindlichen Gründen nicht der korrekte Begriff zu sein schien. Immerhin konnte sie noch immer nicht hinter diese Augen und in Ryons Verstand hinein sehen, um zu erkennen, was dort vor sich ging.

Vielleicht wollte sie es auch lieber gar nicht wissen.

"Keine Sorge, du musst auch mit niemandem Armdrücken oder Ähnliches."

Den Kommentar, dass sie dafür gesorgt hatte, dass er noch am Leben war, überging sie einfach. Auf Lorbeeren war sie bestimmt nicht aus.

Allerdings musste sie sich etwas Anderes eingestehen, was ihr durchaus seltsam vorkam.

Wenn es irgendwie möglich war, wollte sie noch ein wenig bei ihm bleiben. Nicht nur im selben Zimmer, um nach ihm zu sehen und darauf zu achten, dass er keinen Rückfall bekam. Nein, sie wollte hier bleiben. Genau an diesem Fleck. Eingerollt in die weiche Decke und am liebsten hätte sie die Augen noch einmal geschlossen und viele Stunden hier neben Ryon geschlafen.

Es war so viel bequemer als...

Paiges Augen wurden groß und ihre Hand krallte sich etwas mehr an Ryons Hemd und den darunter liegenden Muskeln fest, als sie sich auf einen Unterarm stemmte, um über ihn hinweg sehen zu können. Dass sie eindeutig nicht mehr auf die kalten, harten Fliesen im Bad lagen, war aber auch so klar gewesen.

Erstaunt, aber auch gehörig strafend sah sie ihn nun von oben herab an. Sie konnte sich mit keinem einzigen Gedanken erklären, wie er es geschafft hatte, sich selbst, geschweige denn auch noch sie hierher zu bringen. Noch dazu, ohne dass sie bei der ganzen Aktion aufgewacht war.

"Deine Urgroßmutter könntest du aber locker schlagen, wenn du es geschafft hast, uns beide hierher zu zerren. Geht's dir auch wirklich gut?"

Ganz automatisch hatte ihre Hand nach seinem Gesicht gegriffen, hatte sich vorsichtig um seine Wange geschmeichelt. Weniger um seine Temperatur zu fühlen, als vielmehr, um ihre Sorge mit einer Berührung schrumpfen zu lassen.

Das Schwarz in seinen Augen nahm von Augenblick zu Augenblick immer mehr zu. Paige wusste sehr genau, dass sie damit aufhören musste, so zu sein, wie sie es gern ihm gegenüber wollte. Warum auch immer es so war... es spielte keine Rolle.

Deshalb nahm sie ein wenig wehmütig, langsam die Hand von seiner Wange. Ihre Finger streiften noch einmal ganz leicht seine Haut, wie etwas Wertvolles, von dem man sich verabschiedete, da man genau wusste, dass man es nicht behalten durfte. Was sie dabei empfand, machte ihr erstaunlicher Weise zumindest im Moment keine Angst.

"Meinst du, dass du was Essen kannst?", fragte sie sanft.

"Etwas Heißes hört sich für dich wahrscheinlich gerade höllisch an, aber eine Hühnerbrühe wäre gut, damit wir deinen Salzvorrat wieder auffüllen."

Sie hätte hinüber ins Bad gehen können, um die Flasche mit dem isotonisch angereicherten Wasser zu holen. Aber noch schimmerte ihr so viel gold entgegen, dass sie hier bleiben wollte. Dass sie das Gefühl hatte, hier so nah bei ihm bleiben zu dürfen, bevor es so weit kam, dass er sie von sich stieß.

Angespannt von der im Zimmer schwebenden Stimmung legte sie sich vorsichtig wieder hin. Um Ryon nicht unnötig auf die Pelle zu rücken, zog sie die Decke erneut um sich, fast bis zur Nasenspitze hinauf und legte ihren Kopf ihm gegenüber auf das Kissen.

War es denn so falsch, dass sie es mochte, sich mit ihm zu unterhalten, solange er mehr als ein paar emotionslose Worte mit ihr wechseln wollte?

"Und keine Sorge... mir geht's gut. Ein bisschen müde vielleicht."

Die Untertreibung des Jahrhunderts. Auf der Stelle hätte sie wieder einschlafen können. Bei dem Gedanken daran, dass er sie in wenigen Minuten in ihr eigenes Zimmer und ihr großes, kaltes Bett schicken würde, wurde ihr richtiggehend schlecht.
 

Einen Moment lang zuckte er überrascht zusammen, als er Paiges Finger deutlich auf seiner Brust spürte und wie sie sich selbst durch sein Hemd hindurch an ihm fest hielt. Es war nicht so sehr ihre Berührung, die ihn einen flüchtigen Augenblick lang erschrocken hatte, sondern ihre Reaktion. Allerdings schien sie nur verblüfft darüber gewesen zu sein, wie sie hier her gekommen war.

Gut, dass sie nicht wusste, wie genau er sie hier her gebracht hatte. Vielleicht hätte ihre Besorgnis darüber ein ganz anderes Gesicht bekommen.

Als Ryon ihre kühle Hand an seiner Wange spürte und wie diese sorgenvoll darüber strich, zog sich sein Brustkorb gequält zusammen.

Sein erster Impuls wäre gewesen, die Augen zu schließen, sich dagegen zu schmiegen und das Gefühl zu genießen.

Auch jetzt, da er diesen Impuls unterdrückt hatte, wollte er es immer noch tun, würden nicht so viele Gründe dagegen sprechen.

Wo war nur sein Tier, wenn er es einmal brauchte? Wo war das instinktgesteuerte Wesen, das keiner logischen und vernünftigen Denkweise folgte?

Natürlich war sein Tier immer noch da, sonst würde er sich nicht gerade so hin und her gerissen fühlen, zwischen dem was er wollte, dem was richtig war und dem was er niemals haben konnte. Aber es hielt sich so auffallend zurück, als wäre er in diesem Augenblick wirklich nicht mehr als ein ganz gewöhnlicher Mensch, mit ganz gewöhnlichen Gewissensfragen.

Bevor Ryon sich allerdings zu irgendetwas entschließen konnte, nahm Paige ihm diese Entscheidung von sich heraus ab. Einen flüchtigen Moment noch, berührte sie ihn, ehe sie sich wohl selbst bewusst wurde, was sie tat und sich wieder zurück zog.

Fast hätte er nach ihrer Hand gegriffen, um sie fest zu halten.

Deutlich unkonzentriert versuchte Ryon ihren Worten zu folgen, die das Thema nicht nur gründlich wechselten, sondern ihn auch wieder ernüchtern ließen. Zumindest soweit, dass er sich wieder bewusst wurde, weshalb sie hier überhaupt auf dem Boden lagen.

Schwach schüttelte er den Kopf und ließ ihn noch tiefer ins Kissen sinken.

„Nein, danke. Im Augenblick nicht.“

Alleine der Gedanke daran, etwas Warmes oder gar Heißes zu essen, bescherte ihm wieder einen Hitzeschauer, der ihm über den Rücken jagte.

Paige, die vorhin noch fast so ausgesehen hatte, als würde sie lieber aufspringen und so schnell wie möglich von ihm wegkommen, legte sich daraufhin wieder neben ihn und bettete sogar ihren Kopf so, dass er sie nun direkt und gerade heraus ansehen konnte.

Warum es ihn störte, dass sie ihre Decke fast bis zur Nasenspitze hochgezogen hatte, wusste er nicht. Aber da sein schlechtes Gewissen ihm gerade gehörig den Marsch blies, konnte er es sich schon denken.

Doch sein Gewissen irrte sich. Er und Paige waren Partner bei der Suche nach einer Lösung für ihr Hexenproblem. Vielleicht sogar inzwischen so etwas wie Freunde, denn der Wunsch, sich gegenseitig zu beschützen war deutlich gegeben. Das konnte keiner von ihnen beiden leugnen. Nicht nach dem, was nun schon alles vorgefallen war.

Ja, sie waren Freunde. Nicht mehr als das und auch nicht weniger. Deshalb war es auch okay, dass sie hier so eng nebeneinander lagen. Sich dadurch gegenseitig vergewisserten, dass es dem anderen gut ging und dafür zu sorgen, dass das auch so blieb.

Freunde durften sich berühren, sich umarmen, sich festhalten. Das war nicht verboten und auch sein schlechtes Gewissen ließ sich damit etwas beruhigen, aber eben nicht vollkommen. Denn der geheime Wunsch, Paiges Lippen sehen zu können, war nicht etwa der, dass er ihr gerne beim Sprechen zu sah, sondern ein ganz anderer. Einer, den er nicht einmal vor sich selber zugeben konnte, ohne entsetzt und verwirrt zu sein.

„Paige, du untertreibst.“, stellte er nüchtern fest, um nicht noch weiter seine Gedanken zu verfolgen, die in eine gefährliche und schier unmögliche Richtung verlaufen wollten.

„Du siehst ungefähr so aus, wie ich mich fühle und das ist leider kein Kompliment.“

Nun ja, eigentlich sah sie richtig zugänglich aus, mit den leicht wirren Haaren, die ihr Gesicht einrahmten, den müden, glänzenden Augen, dem relativ entspannten Gesichtsausdruck und die Art, wie sie es sich da neben ihm auf dem großen Kissen bequem gemacht hatte, direkt auf seinem Arm, der unter dem Kissen immer noch verborgen lag. Als hätte sie nicht vor, jeden Moment aufzustehen und Abstand zwischen sie beide zu bringen.

Vielleicht wäre genau das besser für sie beide, aber in Ryon hallten, trotz der Gewissensbisse immer noch die Worte ‚noch nicht‘ wieder. Nein, er wollte noch nicht und er würde auch nicht. Er könnte es auch nicht einmal. Dafür war er sowohl geistig als auch körperlich zu schwach.

Ryon schloss für einen Moment lang die Augen, um sie auszuruhen. Immerhin war die Aktion, sie hier her zu bringen, ganz schön an die Substanz gegangen, was fast schon lächerlich war. Weil er in normal gesundem Zustand, Paige nicht nur locker vom Bad ins Schlafzimmer hätte tragen können, sondern mit Garantie auch ohne Probleme auf das Bett bekommen hätte.

„Paige … wir beide sind müde … lass uns alles andere auf später verschieben, okay…? Sehr viel später…“

Seine Worte waren gegen Ende hin immer leiser geworden und obwohl er darum kämpfte, gelang es ihm nicht mehr, seine tonnenschweren Augenlider zu heben. Sie blieben fest verschlossen, dennoch sah er immer noch Paiges Gesicht auf seiner Netzhaut. Ein Bild, das langsam verblasste, ihn jedoch sehr entspannte.

Im bereits halb schlafenden Zustand legte er seinen Arm wieder richtig um Paige und vergrub seine Finger in ihrem seidig weichem Haar.

Während er instinktiv dem Duft ihres Körpers folgte, der sich für ihn sehr sicher anfühlte, seufzte er leise und zufrieden, ehe er in tieferen Schlaf sank und sich seine Gesichtszüge nun vollends entspannten.
 

Paige gähnte so heftig in die Decke, dass sie Ryons erste Worte gar nicht mitbekam. Aber als sie seine geschlossenen Augen sah, sein Gesicht, das sich immer mehr entspannte... Da wusste sie auch so, dass sie ganz seiner Meinung war.

Ebenfalls müde schloss sie die Augen und kuschelte sich noch etwas bequemer in die Decke, bevor sie ein weiteres Mal gähnte.

Allerdings ließ Ryons Hand auf ihrem Nacken sie noch einmal die Augen aufreißen. Überrascht und auf eine unerklärliche Weise abwartend sah sie ihn noch einmal an. Aber es war alles, was er tat. Ryon nahm sie in den Arm und war wohl keine zwei Atemzüge später eingeschlafen. Ersteres hätte Paige selbst nach all den Strapazen der letzten Nacht und seinem Verhalten in den letzten Minuten beileibe nicht erwartet.

Aber wehren würde sie sich garantiert nicht. Stattdessen kuschelte sie ihren Kopf mit einem zufriedenen Lächeln in das große Kissen und gleichzeitig an Ryons Hand, während sie wieder die Augen schloss.

Ryon war ohnehin nicht in dem Zustand, dass ihre Suche weitergehen konnte. Und selbst wenn, er hatte so Recht: Es konnte warten!
 

Ein leises Klopfen und eine Stimme in gebrochenem Englisch ließen Paige hochschrecken. Den Lichtverhältnissen nach musste es früher Nachmittag sein. Vielleicht auch schon später. Auf alle Fälle hatten sie Glück gehabt, dass die Putzfrau nicht schon früher aufgetaucht war, um das Zimmer zu säubern.

Schnell aber dennoch so vorsichtig wie möglich zog sie ihren Arm von Ryons Seite und kämpfte sich aus der Decke. Noch bevor sie richtig auf den Füßen war, hörte sie den Mechanismus der Schlüsselkarte.

Mein Gott, wenn die Angestellte das Bad sah, würde sie höchstwahrscheinlich in Ohnmacht fallen!

Noch bevor die Tür ganz offen war, hatte Paige sich ins Sichtfeld der kleinen Frau mit Kopftuch geworfen, um auch Ryon auf dem Boden einigermaßen vor deren Blick abzuschirmen. Was allerdings, dem amüsierten Lächeln der Dame nach, nicht ganz gelang.

"Entschuldigung, entschuldigung.", meinte die Frau grinsend und erst jetzt wurde Paige bewusst, wie zerzaust sie selbst aussehen musste.

"Kein Problem. Aber Sie brauchen das Zimmer heute nicht sauber zu machen. Es ist alles in Ordnung, danke."

Ein zuckersüßes Kichern, das ihr mit einer derartigen Herzlichkeit entgegen sprang, dass Paige selbst nicht anders konnte, als zu Grinsen, machte die kleine Frau sehr sympathisch.

"Sie wollen frische Handtücher? Alte einfach auf Boden."

Paige merkte, wie sie von einer Sekunde auf die Andere zuerst bleich und dann rot wurde. Bis sie langsam begriff, was gemeint war.

"Ja, ja, vielen Dank. Wir werfen die benutzen Handtücher einfach auf den Boden. Dann können Sie sie Morgen mitnehmen."

Mit vielen 'Danke' verabschiedete Paige die Frau, brachte die frischen Handtücher ins Zimmer und legte sie auf dem völlig verschobenen Bett ab, neben dem Ryon immer noch lag. Von außen sah das Ganze bestimmt allein ohne den Anblick des Badezimmers ziemlich wild aus.

Bei dem Gedanken, was wohl jeder zuerst denken würde, musste Paige noch mehr grinsen.

Als ob sie jemals mit Ryon..!

Am liebsten hätte sie schallend gelacht.

Stattdessen griff sie sich das Telefon, das noch wacker auf dem Nachttisch stand und setzte sich neben Ryon auf den Fußboden. Sie hob bereits den Hörer an und wählte die Nummer des Zimmerservice, als sie fragte: "Irgendwelche Sonderwünsche? Ansonsten bestelle ich einfach einmal die Karte rauf und runter. Ich habe einen Bärenhunger!"
 

Als heftig Bewegung in die Person neben ihn kam, fuhr auch Ryon hoch. Allerdings weniger schnell, dafür aber umso träger und langsamer.

So schnell aus dem tiefsten Schlaf seines Lebens gerissen zu werden, musste er erst einmal verarbeiten. Weshalb er auch nicht einmal mit einem halben Ohr, dem Gespräch an seiner Zimmertür lauschte, sondern sich stattdessen die Augen rieb.

Nachdem er so weit war, sich langsam aufzusetzen – erstaunlicherweise gelang ihm das sogar schon beim ersten Versuch – war Paige bereits wieder bei ihm, mit dem Telefon und einer verschnörkelten Karte in der Hand. Die Speisekarte, wie sie ihm sofort zu verstehen gab.

„Alles bis auf Meeresfrüchte und Junge. Also kein Lamm, Kalb oder dergleichen.“ Ansonsten konnte er das mit dem Bärenhunger nur teilen. Bis dahin könnte er aber auch einen ganzen See leer trinken. Sein Hals war so unglaublich trocken.

Während Paige den Zimmerservice anrief und Ryon immer noch das Gefühl hatte, irgendwie hinter her zu hinken, da er so schnell aus dem Schlaf gerissen worden war, schielte er immer wieder zur Minibar hinüber. Allerdings schien ihm der Weg bis dorthin viel zu weit zu sein.

Aus gutem Grund vertraute Ryon seinen Beinen immer noch nicht, obwohl er inzwischen so weit erholt war, dass er von alleine aufrecht sitzen konnte, ohne sofort wieder einen Schwindelanfall zu bekommen.

Aber so richtig erholen, würde er sich erst wieder, wenn er genug getrunken und gegessen hatte. Bis dahin, kostete alles nur unnötig Energie, die er seinem Körper nicht zuführen konnte.

Also blieb er sitzen, rieb sich noch einmal über die Augen, um auch das letzte Sandkörnchen daraus zu entfernen und betrachtete Paige dabei, wie sie die ganze Menükarte dem unbekannten Teilnehmer am anderen Ende der Telefonleitung herunter rasselte.

Ihre Haare waren ungefähr genauso zerzaust wie seine. Ihre Klamotten schienen noch nie ein Bügeleisen gesehen zu haben, aber wenigstens sahen sie inzwischen wieder trocken aus.

Ein schmunzelnder Zug lag immer noch um ihren Mund, obwohl er nicht so recht verstand, weshalb er dort war. Allerdings entspannte das die Situation sehr. Weshalb er sie auch weiterhin fasziniert ansah, obwohl es eigentlich nichts gab, was er nicht schon einmal in ihrem Gesicht gesehen hätte. Oder vielleicht doch?

Hätte man Ryon vor ein paar Tagen gesagt, dass er einmal hier in Ägypten mit Paige neben seinem Bett auf dem Boden sitzen würde und er ihr dabei zu sah, wie sie voller Elan für sie beide Essen für eine ganze Armee bestellte, er hätte es nicht geglaubt. Genauso wenig, wie er glauben würde, dass er – ohne es zu wissen – diesen fröhlichen Zug um ihren Mund erwiderte. Wenn auch in äußerst abgeschwächter Form. Aber das flüchtige Lächeln war da, ehe er geistesabwesend den Blick senkte, um sich und seine eigenen Klamotten zu betrachten. Er sah noch schlimmer aus, als sie.

Doch wenigstens überzog ihn nun wieder ein leichter Schweißfilm, obwohl er sicher bei weitem noch nicht genug getrunken hatte. Allerdings konnte das dennoch als ein gutes Zeichen gewertet werden. Das Schlimmste war überstanden und das spürte er auch.

Wieder vollkommen ernst, suchte er nach der Fernbedienung für dieses Zimmer, die nicht nur den Fernseher einschalten konnte, sondern auch so manch andere Dinge. Halb unter dem Bett fand er das kleine silberne Gerät, so dass er sich nur zu strecken brauchte, während er sich auf einem Arm abstützte.

Als er endlich die Bedienung in der Hand hatte, musterte er noch interessiert die vielen Knöpfe, bis er schließlich einen davon drückte und abwartete, was passierte.

Über ihm machte es ein leises Klicken und schon ging der Deckenventilator an.

Eine kühle Brise wehte über seine Haut und ließ ihn einen Moment lang völlig vergessen wo er war. Stattdessen lehnte er sich mit dem Rücken an das Bett, den Kopf im Nacken und die Augen geschlossen.

Oh ja, das tat so wahnsinnig gut!

Die Fernbedienung landete in seinem Schoß, als er sie einfach fallen ließ, um die Knöpfe seines Hemds mit leicht zittrigen Bewegungen zu öffnen. Jetzt, da es staubtrocken war, war es nur noch ein Teil mehr, dass bei ihm die Hitze staute, die trotz allem immer noch spürbar da war.

Als der Stoff von seinen Schultern rutschte und der Wind ungestört über den Schweißfilm seiner Haut streichen konnte, hätte er beinahe zufrieden geseufzt, da fiel ihm mit einem Mal Paige wieder ein, die er in diesem Augenblick völlig ausgeblendet hatte.

Um nicht auch noch irgendeine verräterische Bewegung zu machen, die deutlich zeigen würde, dass ihn seine Aktion vor ihren Augen durchaus beschämte, obwohl er als Mann damit eigentlich keinerlei Probleme haben dürfte, hielt er die Augen geschlossen, um sie nicht ansehen zu müssen.

„Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gut das tut.“, versuchte er zu erklären, während seine Ohren förmlich glühten.

Wie schon einmal erwähnt, obwohl er ein Gestaltwandler war, war er es nicht gewöhnt, halb nackt vor anderen Menschen herum zu laufen. Dort wo er herkam, hatte man ihn dazu erzogen, immer korrekt gekleidet aufzutreten und bei den Wetterverhältnissen seines Heimatortes wäre man auch lebensmüde gewesen, hätte man so viel nackte Haut gezeigt. Zumindest außerhalb der sehr kurzen Sommermonate.
 

Ohne im Geringsten darauf zu achten, tat Paige das einzig Natürliche, als sie Ryons leicht gehobene Mundwinkel sah. Sie grinste strahlend zurück und war im gleichen Augenblick schon wieder damit beschäftigt weiter zu bestellen. Der freundliche, aber leicht überforderte Herr am anderen Ende der Leitung schien eifrig mitzuschreiben, während Paige versuchte in den Worten der Speisekarte so viel zu erkennen, dass sie Ryons Vorbehalten entsprechen konnte. Zwar waren die einzelnen Gerichte mit englischen Angaben der Zutaten versehen, aber manche waren so wörtlich übertragen worden, dass Paige nicht schlau daraus wurde. E

in Gericht bestellte sie vor allem gerade deshalb, weil sie keinen blassen Schimmer hatte, was sie bekommen würde. Es hörte sich exotisch an, konnte aber genauso gut ein Omelette sein. Sie würden es sehen.

Zum Schluss bestellte sie zwei Liter Wasser und Saft. Wenn man bedachte, was Ryons Körper mitgemacht hatte, würde er erstmal sämtliche Reserven auffüllen müssen. Und sie selbst hatte auch Durst.

Erst als der Deckenventilator anging, sah Paige überrascht nach oben und bedankte sich dann bei dem netten Bediensteten des Hotels, bevor sie auflegte.

"Ist der von selbst..?"

Kurz zuckte Paige zusammen und musste sich selbst daran erinnern, dass Ryon trotz seines schlechten Verhältnisses zu seinem Tiger ein Wandler war.

Er entsprach normalerweise so selten dem Bild, das sie von Gestaltwandlern hatte, dass er sie gerade kalt erwischt hatte. Damit, dass er sich so mir nichts dir nichts vor ihr das Hemd ausziehen würde, damit hätte sie nun am allerwenigsten gerechnet.

Eigentlich riss sie sich sehr am Riemen, versuchte nicht zu starren und auch keinen Kommentar auf seine Worte fallen zu lassen. Immerhin konnte er damit mehrere Dinge meinen.

"Doch, kann ich.", meinte sie schließlich schmunzelnd.

Um sich von dem Anblick der Bauchmuskeln loszureißen, die sie leider so gar nicht unbeeindruckt ließen, stand Paige schließlich auf. Das Essen war bestellt, auch Wasser würde geliefert werden und Ryon saß aufrecht. Etwas, das ihre Sorgen allmählich etwas verschwinden ließ und dafür sorgte, dass sie sich einen kurzen Moment um sich selbst kümmern konnte.

Mit wenigen Schritten war sie im Bad und vermied angestrengt den Blick in den Spiegel über dem Waschbecken. Wahrscheinlich hätte sie sonst die kleine, noch unberührte Flasche Wasser nicht packen und sie Ryon bringen können.

"Ich stell dir das Wasser und das Glas hier hin. Bitte entschuldige mich kurz."

Damit ging sie ins Bad zurück und schloss die Tür hinter sich, um sich ein wenig frisch zu machen. Beim Anblick in den Spiegel musste sie tatsächlich ein wenig kichern, bevor sie ihr Gegenüber streng ansah.

"Du siehst furchtbar aus.", meinte sie natürlich nur halb ernsthaft. Schließlich konnte sie nichts für die immernoch recht dunklen Ringe unter den Augen und die zerzausten Haare. Und sie würde es auf jeden Fall wieder tun.
 

Erst als Paige das zweite Mal im Bad verschwunden und die Tür hinter ihr zugefallen war, öffnete Ryon langsam die Augen. Er sah zu der geschlossenen Tür hinüber, um sicher zu gehen, dass sie wirklich zu war, ehe er erleichtert aufatmete und sich rasch wieder gerade aufsetzte. Hastig versuchte er sich wieder in die Ärmel seines zerknitterten Hemdes zu zwängen, ehe er an der Knopfleiste herum nestelte, um es wieder ganz zu schließen.

Es war nicht so, dass er sich hier für irgendetwas zu schämen bräuchte, immerhin war er keine Frau und trug somit kein besonderes Statussymbol vor sich her, dennoch war da dieses deutliche Unbehagen gewesen. Dabei hatte er nur einen flüchtigen Moment lang vergessen, dass Paige ganz in der Nähe war und ihn somit sehen könnte.

Frustriert vergrub Ryon sein Gesicht in seinen Händen und seufzte leise. Vermutlich machte er gerade aus etwas total Banalem ein Drama.

Paige war sicherlich die letzte Frau, die an ihm Interesse zeigen würde, das hatte sie früher oft genug klar gemacht. Immerhin hatte er nicht umsonst die kleine Narbe in seiner rechten Handinnenfläche und wenn man auch noch die Rückreise von Paris dazu rechnete, konnte er froh sein, dass sie ihm überhaupt geholfen hatte. Sie hätte ihn auch ohne weiteres einfach verrecken lassen können, doch das hatte sie nicht getan…

Wieder hob Ryon den Blick, sah das dunkle, auf Hochglanz polierte Holz der Tür an, das sie beide voneinander trennte und war sich genau in diesem Augenblick bewusst, dass seine Gnadenfrist nun endgültig abgelaufen war.

So sehr er es nach all diesen einsamen Jahren auch genossen hatte, umsorgt, gehalten und verwöhnt zu werden, genau deshalb musste das alles nun ein Ende haben. Denn es hatte ihm einfach zu gut gefallen und genau das durfte es nicht.

Sein schlechtes Gewissen, das Gefühl Marlene betrogen zu haben, diese wohltuende Nähe durch Paige, das alles war so neu und zugleich auch sehr verwirrend. Niemals hatte er je das Gefühl gehabt, seine Gefährtin zu betrügen. Niemals hätte er auch nur den geringsten Anlass dazu gehabt, etwas zu tun, das ihr weh tun könnte und doch war gerade jetzt, da sie schon seit Jahren nicht mehr sein Leben mit ihm teilte, dieses Gefühl so stark, dass es ihm beinahe Angst machte.

Vielleicht waren die Umarmungen, die Streicheleinheiten und der Trost noch vertretbar gewesen, als er krank und verwirrt gewesen war und er die Schmerzen nicht hatte anders ertragen können. Doch nun war er auf dem Weg der Besserung. Er konnte ihr einfach nicht mehr nahe sein. Selbst wenn er das alles nur im Lichte der Freundschaft betrachtete, es konnte und durfte nicht sein. Alleine schon wegen der Tatsache, je enger er sich an Paige band, je größer würde auch der Verlust sein, wenn sich ihre Wege wieder trennten.

Nein, noch einmal könnte er es nicht ertragen. Sein Herz musste kalt bleiben. Sein Verstand berechnend. Nur so konnte er weiter machen, wie bisher. Nur so konnte er sich selbst am Leben erhalten und einen Tag nach dem anderen überstehen. Wenn schon nicht für sich, dann doch wenigstens, um derjenige zu sein, der Marlene und ihre Tochter bis zu seinem Lebensende niemals vergessen würde. Er würde ihr Andenken weiter tragen, bis auch seine Zeit gekommen war. Alles andere war nur eine Fußnote in seinem beschissenen Leben. Auch Paige machte da keine Ausnahme, denn sie würde schließlich sein Leben verlassen, sofern sie beide überhaupt so weit kamen.

Es klopfte an seine Zimmertür und eine Männerstimme kündigte das bestellte Essen an. Paige war noch nicht wieder aus dem Bad zurück gekommen, weshalb sich Ryon zusammen riss, um selbst an die Tür gehen zu können.

Obwohl es so aussah, als hätte hier jemand wilde Dinge nicht nur im Bett sondern auch auf dem Boden getrieben, ignorierte Ryon diese Tatsache einfach. Stattdessen kämpfte er sich hoch.

Seiner reinen Willenskraft war es zu verdanken, dass er überhaupt auf die Beine kam, allerdings würde dieser Zustand nur wenige Augenblicke anhalten, weshalb er keine Zeit verlor. Stattdessen wankte er wie ein Schiff bei hohem Wellengang zur Tür, öffnete sie und ließ den Angestellten samt einer ganzen Wagenladung voller duftendem Essen eintreten.

Während der Mann den Wagen ins Zimmer schob, lehnte Ryon in lässiger Manier neben der Tür an der Wand und suchte unauffällig in seiner Jacke, die er über einen Stuhl neben der Tür gehängt hatte, nach Trinkgeld.

„Lassen Sie den Wagen bitte einfach hier. Den Rest bewerkstelligen ‚wir‘ schon alleine.“

Da das Zimmer ohnehin Bände sprach und sein eindeutiger Tonfall auch noch dazu bei trug, dieses Bild zu unterstützen, lächelte der junge Mann freundlich und bedankte sich großzügig über das gute Trinkgeld, ehe er sich auch schon wieder aus der Tür schob und Ryon alleine ließ.

Keinen Moment später sackte er auch schon an der Mauer entlang zu Boden. Seine Beine fühlten sich wie Gelee an und hatten auch ungefähr die gleiche Tragfähigkeit.

Eine Schweißperle lief seine Schläfe hinab, die er sich aber rasch mit dem Ärmel seines zerknitterten Hemds fort wischte. Sein Atem ging schnell und flach, während helle Lichter vor seinen Augen tanzten.

Nach und nach ließ das Schwächegefühl wieder etwas von ihm ab, aber wenn er nicht bald etwas zu Essen bekam und auch ausreichend trank, konnte er sich gleich die Kugel geben.

In diesem Zustand war er absolut nicht zu gebrauchen und das war kein sehr schönes Gefühl. Ganz im Gegenteil, es machte ihn allmählich wütend.

Bevor er allerdings einem so starken Gefühl nachgeben konnte, machte er dem Ganzen endgültig ein Ende. Er schob die altvertraute Maske wieder über seine Gefühle und musste feststellen, dass es sich anfühlte, als würde man in altvertraute, eingelaufene Turnschuhe schlüpfen, nachdem man sich einen ganzen Abend lang in neuen und schicken Ausgehschuhen die Füße wund gescheuert hatte. Zwar sahen sie gut aus, machten was her und sorgten auf alle Fälle für Abenteuer, aber letztendlich war es eine schmerzhafte Erfahrung, die man nur zu gerne wieder gegen die altgewohnte Langeweile eintauschte.

Ryon fühlte sich inzwischen einfach wohler damit, nicht ständig mit seinen Gefühlen konfrontiert zu werden und damit umgehen zu müssen. Manchmal, aber nur manchmal, war es ihm einfach lieber, gar nichts zu empfinden. Dass der Tiger ihn inzwischen auch von sich aus in Ruhe zu lassen schien, machte die Sache nur noch einfacher. Wenn es auch mehr als seltsam war.

Da nun allerdings sein Gefühlsleben nur noch gedämpft zu ihm durchdrang, begann sein Verstand wieder in zielgerichteten Bahnen zu arbeiten.

Das Erste, was nun wichtig war, war wieder zu Kräften zu kommen. Sonst konnten Paige und er ohnehin nicht dem nachgehen, weshalb sie in Wirklichkeit in Ägypten waren. Vielleicht ließ sich seine Genesung und die Suche ja verbinden. Immerhin hatte er Namen von Orten und Personen in dem Buch, das Paige ihm gegeben hatte. Zusammen mit dem Internetanschluss und seinen Fähigkeiten auf dem Computer, würde sich bestimmt ein weiterer Hinweis auf dieser Schnitzeljagt ergeben. Außerdem war da auch noch seine Begleiterin. Es ließ sich nicht leugnen, dass sie ihm bisher eine große Hilfe gewesen war. Vor allem, was ihn selbst anging.
 

Im Gegensatz zur vergangenen Nacht ging Paige schon fast andächtig mit den kleinen Pröbchen, Utensilien und Ryons Sachen um, als sie versuchte im Badezimmer einigermaßen Ordnung zu machen.

Die Handtücher würden Morgen, wenn die nette Dame von der Putzkolonne wieder kam, schon trocken sein und daher nicht weiter auffallen. Davon, dass sie gleich alle auf einmal gebraucht hatte, würde sie sich bestimmt nicht irritieren lassen.

Alles fand irgendwo einen einigermaßen ordentlichen Platz, bevor Paige mit dem trockensten Handtuch, das sie finden konnte die paar übrigen Wasserpfützen zusammen wischte und anschließend alle Tücher über den Rand der Badewanne zum Trocknen aufhängte. Immerhin sollte Ryon sich hier in ein paar Stunden, wenn er wieder auf kräftigen Beinen stand, auch bewegen können, ohne auf Mini-Seifenpäckchen oder Ähnliches zu treten.

Nur gedämpft nahm sie Stimmen aus dem Nebenraum wahr und dachte sich erst etwas dabei, als die Tür zum Flur sich schon wieder geschlossen hatte. Mit einem lauten Geräusch ließ sie Ryons Zahncreme ins Waschbecken fallen und war so schnell wieder im Zimmer, wie sie konnte.

Dass ihr Blick nicht sofort auf ihm landete, als sie ihn auf die Stelle richtete, an der Ryon gerade noch gesessen hatte, schlug ihr Herz schneller. Und als sie um die Ecke lugte und ihn auf dem Boden neben der Tür an die Wand gelehnt sitzen sah, wurde es auch nicht besser. Er sah schon wieder blasser aus. Und seine Atmung zeugte ebenfalls von Überanstrengung.

„Ich hätte doch aufgemacht.“, meinte sie etwas auf den Schlips getreten und schnappte sich noch die Wasserflasche vom Fußboden, bevor sie zu ihm hinüber ging.

„Hier, trink das, du siehst -“

Etwas in ihr drin schrie auf.

Vor Überraschung oder mehr so einer Empfindung wie Entsetzen, konnte Paige nicht sagen. Die Gefühle schienen in diesem Moment viel zu nah nebeneinander zu liegen. Vielleicht war es auch beides, was sie spürte, als ihr Ryons Aura mit der für sie bereits verdrängten Eiseskälte entgegen schlug.

Eine Gänsehaut krabbelte ihre Unterarme hinauf und legte sich für wenige Sekunden über ihren gesamten Körper, bevor sich Paige wieder im Griff hatte.

„Du siehst durstig aus.“, beendete sie den angefangenen Satz und stand dann aus ihrer kauernden Position auf, um sich um das Essen zu kümmern, das inzwischen bereits eingetroffen war.

Paige konnte ihr Spiegelbild, das sich gebogen und verzerrt in den Abdeckhauben auf dem Speisewagen zeigte, nicht belügen. Sie hatte sich hauptsächlich deshalb umgedreht, weil sie es nicht sehen wollte.

Nach dieser Nacht voller Strapazen, aber auch gegenseitigem Näherkommens war es einfach zu überraschend gekommen. Noch wollte sie diese furchtbar leeren Augen nicht sehen. Sie wollte nicht glauben, dass das vorhin nur...

Und dabei hatte sie sich selbst noch davor gewarnt.

„Zweite Wahl“, murmelte sie unhörbar vor sich hin, bis sie sich innerlich straffte und eine der riesigen Platten an beiden Griffen anhob und sie mitsamt der Haube vor Ryon auf dem Boden abstellte.

Dafür, sich an den Tisch im leicht abgegrenzten Bereich des großen Raumes zu setzten, war Ryon noch zu schwach. Dass er es an die Tür geschafft hatte, war das reinste Wunder.

Paiges Mund fühlte sich gleichzeitig fusselig und pelzig an.

Jedenfalls so, als wolle er ihrem Bedürfnis nach Kommunikation nicht Folge leisten. Er wollte sich so sehr gegen die neue und zugleich gewohnte Situation sperren, wie der Rest von ihr. Aber es half ja nichts. Und es war nicht das erste Mal, dass sie sich zurück nahm.

„Wollen wir einfach mit dieser Platte anfangen? Oder soll ich alle runter stellen, damit wir mehr Auswahl haben?“
 

Es ließ sich nicht leugnen.

Als Paige ins Zimmer gerannt kam, vermutlich weil sie mitbekommen hatte, wie Ryon dem Boden wieder gefährlich unelegant näher gekommen war, da verspürte er reflexartig den Drang, sie zu beschwichtigen. Ihr mitzuteilen, dass alles in Ordnung sei und sie sich keine Sorgen zu machen brauchte, doch ein Blick in ihr Gesicht und er senkte sofort schweigend den Kopf.

Obwohl auch sie ihn nicht lange genug angesehen hatte, damit sich ihre Augen begegnen konnten, so wusste er doch, was er gesehen hätte. Nämlich sich selbst. Kalte, schwarze, seelenlose Augen, in denen nicht ein einziger Funken von Gefühl glimmte und genau das hatte sie gespürt.

Deswegen hatte sich ihr Körper einen Moment lang versteift und waren ihre Worte mitten im Satz abgebrochen. Er hatte sie überrascht. Kein Wunder, nach alle dem, was sie in den letzten Stunden so alles von ihm mitbekommen hatte. Aber eigentlich war es trotz allem nicht anders zu erwarten gewesen.

Auch Paige schien das zu wissen, denn sie reichte ihm das Wasser und beendete ungerührt den begonnenen Satz, ehe sie sich abwandte, um ihm eine Platte voller Essen vor die Füße zu stellen.

Ein schwaches Gefühl von Schuld flammte in ihm auf, wurde aber sofort von seinem Verstand niedergekämpft. Er schuldete niemanden etwas. Zumindest nicht, was sein Gefühlsleben anging.

Bevor Ryon antwortete, öffnete er die Wasserflasche, wobei er all seine Kraft aufwandte und trotzdem kurz davor war, einfach aufzugeben, da er den Deckel so schwer aufbrachte. Danach nahm er einen kräftigen Schluck, um seinen Mund wieder richtig zu befeuchten, damit ihm das Sprechen etwas leichter fiel.

„Nein, das Essen wird sowieso nicht überleben. Warum wählerisch sein? Setz dich doch … bitte.“

Ryon stellte die Flasche neben sich auf den Boden, lehnte sich nach vor und griff mit beiden Händen nach der Abdeckung der Platte, um von vornherein genug Kraft anwenden zu können. Die Aktion mit der Wasserflasche war schon schlimm genug gewesen. Er wollte sich nicht auch nicht mit einem deutlichen Beweis seiner fehlenden Kräfte den Rest geben. Paige wusste zwar, dass er geschwächt war, aber wie schwach, das wollte er ihr nicht auch noch unter die Nase reiben. Obwohl sie das sicher verstanden hätte.

Nachdem das Geheimnis der Speise vor ihnen erst einmal gelüftet und der Duft in seine Nase gedrungen war, vergaß er einen Moment lang all die Dinge, die in seinem Kopf herum schwirrten. Er starrte einen Augenblick lang das köstlich aussehende Essen an, ehe er seine Gabel nahm und mit zitternder Hand ein Stück Truthahnfleisch mit Soße aufspießte, nur um es sich dann nach einem ‚guten Appetit‘ in den Mund zu schieben und genüsslich zu kauen.

In diesem Moment war er vollkommen selig und milde gestimmt, während er seine Augen halb schloss und sich den Geschmack auf der Zunge zergehen ließ.

Natürlich war Tylers Küche nicht zu verachten, ganz im Gegenteil, aber Ryons letzte Mahlzeit schien schon Ewigkeiten her zu sein, weshalb ihm das hier wie das reinste Festmahl vorkam, wobei es das vermutlich auch war.

Doch trotz allem, er war auch verdammt hungrig, weshalb die Platte schnell leer war, während sie in der Zwischenzeit kein einziges Wort gewechselt hatten.

Erst als Ryon seinen schlimmsten Hunger bezwungen hatte, schnappte er sich wieder die Wasserflasche und lehnte sich zurück an die Wand.

Er trank in ausgiebigen Schlückchen und hatte dabei das Gefühl, er wäre ein Fass ohne Boden. Schließlich war die Flasche leer, aber er würde noch lange nicht genug getrunken haben. Doch für den Augenblick brauchte er eine Pause.

So energiebringend das Essen auch war, es zu sich zu nehmen war ebenfalls anstrengend, weshalb er nicht wieder die Gabel zur Hand nahm, sondern stattdessen seine Hand flach auf den Bauch legte und endlich wieder den Blick anhob, um Paige anzusehen.

„Ich danke dir.“, durchbrach er überraschend sanft für seinen derzeitigen Zustand die Stille.

Auch wenn es bei weitem emotionsloser klang, als seine Worte gestern kurz vorm Einschlafen, so gelang es ihm nicht vollkommen das Gefühl seiner aufrichtigen Dankbarkeit in sich nieder zu ringen. Das spiegelte sich auch in seinem Tonfall wider.

„Ich danke dir für alles. Nicht nur für das Essen und den Service, sondern auch für deine Pflege und…“

Ryon suchte nach den richtigen Worten, die beschreiben könnten, was er nicht zu fühlen versuchte. Eine schwierige Situation.

„…und für deine Umsicht. Ich kann mich nicht an alles erinnern, aber … bestimmt war ich ab und zu etwas … schwierig…“

So ganz ohne seine Beherrschung, würde ihn das zumindest nicht wundern.

Ryon fasste sich unwillkürlich an seine Stirn, dort wo er noch immer eine Beule spürte und sich Schorf auf seiner aufgeplatzten Haut gebildet hatte.

Bei manchen Momenten tappte er wirklich vollkommen im Dunklen. Nur Paige wusste, ob und wie er sich aufgeführt hatte. Hoffentlich war nichts dabei, wofür er eines Tages Rechenschaft ablegen musste.

„Ich hoffe, ich habe dir nicht zu sehr zugesetzt.“, fügte er noch leise hinzu, während er die Hand wieder herunter nahm und seine Finger betrachtete.
 

Paiges Appetit schien mit ihrem Hunger in entgegen gesetzte Richtungen zu laufen. Ihr Magen knurrte inzwischen beim Anblick der großen Platte mit allerlei Köstlichkeiten laut vor sich hin. Aber sie musste sich völlig dazu zwingen die zweite Gabel zu nehmen und sich irgendetwas zu essen auszusuchen.

Etwas, das so aussah, als könne man es sich in winzigen Stückchen nicht allzu auffällig hinunter zwingen. Denn irgendwie schien sich ihr Magen zugeschnürt zu haben.

Ryon war wieder der Alte.

Die Gabel drehte sich blinkend in ihren Fingern über einem Teller mit eingelegtem Gemüse, während sie nachdachte. Und dabei war es ganz einfach.

Er war schwer krank gewesen. Wegen des Hitzschlags nicht ganz bei Sinnen oder zumindest sehr viel angreifbarer als sonst. An seinen Augen hatte sie es ablesen können; sie hatten denen des Tigers ähnlicher gesehen, als denen des Mannes. Soviel Paige über Wandler wusste, waren ihre Gefühle sehr stark, wenn nicht vollkommen mit ihrem Tier verbunden. Also war es vielleicht auch nur er gewesen, der sich an Paiges Gegenwart gelabt hatte. Nach so einer langen Zeit ohne Beachtung, durchaus möglich.

Inzwischen kaute sie lustlos auf ein paar Tintenfischringen herum, die sie normalerweise sehr gerne aß, die heute aber hauptsächlich nach Gummi zu schmecken schienen. Aber dem Koch war deswegen kein Vorwurf zu machen. Das wusste Paige nur zu gut.

Dass ihr Magen sich so anfühlte, als hätte Ryon wortwörtlich eine Packung Eis hinein geschüttet, kam von der Erkenntnis, das es nur eine kurze Episode gewesen war. Genauso wie damals dieser kurze Moment in den Tunneln unter Paris.

Danach hatte Paige von Tennessey und Tyler erfahren, warum Ryon so war, wie er nunmal war. Und sie hatte eingesehen, dass er sich nicht ändern würde. Dass er sich gar nicht ändern konnte. Das lag so zu sagen in seiner Natur.

Ja, er hätte sie als zweite Wahl betrachten können. Aber nicht einmal das würde er tun. Marlene würde immer die Einzige sein.

Mit einem tiefen Atemzug sah Paige hoch. Eigentlich konnte man es als romantisch bezeichnen. Wenn die Tragik nicht in einem Maße überwiegen würde, der ihr bei dem Anblick dieser matten Augen fast das Herz zerriss. Den Ryon, den sie vor wenigen Stunden noch neben sich gehabt und im Arm gehalten hatte, den hätte Paige sehr gern haben können. Leider ließ er sie nicht.

Das zeigten seine nächsten Worte nur zu deutlich, in denen er davon sprach, dass er sich mit seinem Verhalten daneben benommen hatte. Wäre er ein Anderer, hätte er das vielleicht nicht so gesehen.

„Ich denke nicht, dass ich für meine 'Umsicht', wie du es nennst, Dank verdient habe. Du standest ziemlich neben dir...“

Bei den nächsten Worten sah sie ihm fest und tief in die Augen.

„Und selbst wenn es nicht so gewesen wäre, hättest du dich für dein Verhalten vor mir nicht schämen müssen.“

Mit ein wenig mehr Appetit aß sie die letzten Calamares auf ihrem Teller und fügte wie nebenbei etwas hinzu, das ihr allerdings viel wichtiger war, als es den Anschein machte.

„Außerdem würde ich etwas, von dem ich weiß, dass du es als Schwäche betrachtest, nie jemandem erzählen. Ich falle Freunden nicht in den Rücken.“

Als diese Tatsache ausgesprochen war, sah sie das als Startschuss für den zweiten Gang und holte diesmal gleich beide Platten zu ihrem Picknickplatz auf dem Teppich herunter. Denn unter einem der beiden Deckel musste sich der Nachtisch verstecken.
 

Ryon blickte sein Gegenüber eine ganze Weile schweigend an. Weder aß er etwas, noch rührte er sich, stattdessen ließ er sich Paiges Worte stumm durch den Kopf gehen, während er sie beobachtete.

Bevor sie sich unter seinen intensiven Blicken jedoch unwohl fühlen konnte, richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf das Essen, allerdings ohne etwas erkennen zu können. Seine Gedanken waren weit fort, was sich in der Reglosigkeit seines Körpers widerspiegelte.

Als sie ihm mitgeteilt hatte, dass sie Freunden niemals in den Rücken fallen würde, da hatte sich sein Puls leicht beschleunigt, sein Herz schlug etwas schneller und ein Gefühl rauschte ihm durch die Adern, das er letztendlich als Freude bezeichnen konnte. Ja, obwohl er es nicht empfinden wollte, verspürte er dennoch den Widerhall seiner Freude darüber, dass sie ihn ebenfalls als Freund ansah. Das war so viel besser, als lediglich Partner zu sein und doch wusste er, dass genau das der erste Schritt ins Verderben sein könnte. Begann nicht jeder Verlust mit einem Gewinn?

„Ich danke dir trotzdem.“, fügte er schließlich nach einer Ewigkeit hinzu, bevor er wieder lustlos seine Gabel zur Hand nahm und sich sorgsam das nächste Stückchen aussuchte. Banane in Schokoladencreme.

„Gerade weil du mich in einer Ausnahmesituation erlebt hast, in der ich nicht mehr für mich alleine sorgen konnte, hast du dir mit deiner Fürsorge mein Vertrauen verdient. Ich bin froh, dass du da warst und eines sollst du wissen…“

Ryon hob den Blick, um nun Paige tief in die Augen zu sehen, so wie sie es getan hatte.

„…auch ich falle meinen Freunden nicht in den Rücken. Egal was passiert.“

Auch wenn die vergangenen Stunden sich niemals mehr widerholen durften, so wäre er doch immer für Paige da, so wie sie für ihn dagewesen war. Nicht etwa aus Pflichtbewusstsein, sondern weil er es von sich aus so wollte.

Selbst wenn er dabei Gefahr lief, sich eines Tages noch enger an diese Frau zu binden. Wenn es sein musste, würde er selbst das riskieren. Doch im Augenblick konnte er nur versuchen, die Grenzen zwischen ihnen wieder klar zu definieren, da sie sich stark verwischt hatten, als er ‚neben sich gestanden‘ hatte. Wie Paiges es so dezent ausgedrückt hatte.

Hoffentlich fand sie nie heraus, dass er sich an das meiste zwar undeutlich, aber dennoch erinnern konnte. Dass er jedoch lediglich nicht im Stande gewesen war, seinen Bedürfnissen Einhalt zu gebieten, da er sich so elendiglich gefühlt hatte, wie schon sehr lange nicht mehr und den Trost, wenn auch nur in diesen wenigen Stunden, hatte annehmen können.

Ein Teil in ihm sehnte sich immer noch danach. Wollte zurück zu dem Augenblick, als die Zeit und die Welt stehen geblieben war und er mit Paige im Arm hatte ruhig schlafen können. Aber dafür war es zu spät. Nie wieder durfte es so weit kommen, auch wenn es ihm schon jetzt bei dem Gedanken daran, den Brustkorb zuschnürte. Seine Gefühle konnte er einfach nicht mehr tief genug verdrängen, um sie ganz auszuschalten. Aber sie waren erträglich. Im Augenblick noch.

Da Ryon nicht wusste, was er dem Gespräch sonst noch hätte hinzufügen sollen, aß er still weiter, während er seine langsam zurückkehrenden Kräfte spürte.

Die Gabel in seiner Hand zitterte nicht mehr, so wie sie es zu Anfangs noch getan hatte. Vielleicht würde er jetzt sogar schon eine Flasche Wasser wieder problemlos öffnen können, aber diesen Versuch wollte er auf später verschieben. Erst einmal aß er sich so satt, dass nichts mehr hinein passen würde. Danach noch ein paar Stunden Schlaf, um die ganzen Kalorien umzuwandeln und die Welt würde schon wieder anders aussehen. Sie könnten sich also schon bald wieder ihrer eigentlichen Aufgabe widmen. Allerdings musste er dieses Mal wesentlich vorsichtiger sein, was die Hitze des Tages anging.
 

Paige sah erneut von ihrem Essen hoch und hoffte nicht so verwundert zu wirken, wie sie es war. Im übertragenen Sinne hatte sie ihm mit ihrer Aussage die Hand gereicht. Ohne allerdings zu wissen oder auch nur lange darüber nachzudenken, was sie als Reaktion erwartete. Ob er sie nun annahm oder wegschlug.

Mit seinen Worten hatte er, nach der Reaktion ihres Körpers zu urteilen, nicht nur ihre imaginäre Hand ergriffen, sondern sie sogar umarmt.

Es fühlte sich gut an, wieder zu lächeln. Nach dem Bangen, dessen Größe sie sich gar nicht eingestanden hatte, zu wissen, dass es nicht alles nur auf den Hitzschlag zurück zu führen war. Im Delirium hatte er Dinge getan, die er jetzt nicht noch einmal tun würde. Aber das hieß nicht, dass er es bereute. Zumindest hoffte Paige das inständig.

Wieder gut gelaunt, beugte sie sich über eine Schüssel mit Früchten.

„Ich mag kein Puddingzeugs. Schade, dass sie die Früchte darin ertränkt haben.“

Mit dem Servierlöffel, der grazil aus der kleinen Schale schaute, schob sie ein paar Äpfelstückchen hin und her und fand am Grund noch ein paar Feigen, die wenig von der Vanillesauce abbekommen hatten. Vorsichtig, um das nicht doch noch zu ändern, fischte Paige sie heraus und legte sie vorsichtig auf ihrem Teller ab, um dann noch kleine, heiße Teigbällchen und Schokoladenecken dazu zu legen.

„Backt ihr an Weihnachten eigentlich zusammen Plätzchen? Ich meine Tennessey, Tyler und du?“

Wie sie jetzt genau darauf kam, wusste sie selbst nicht. Vielleicht, weil sie die Schokoecken an eine ihrer Lieblingsplätzchensorten erinnerten.

„Ich backe normalerweise nicht besonders gern. Aber die vorweihnachtliche Zeit stürzt mich meistens in eine Backphase. Bei euch im Wald mit viel Schnee stelle ich es mir sehr gemütlich vor.“

Die Ecken schmeckten nicht annähernd so, wie sie der Form nach vermutet hatte. Was Paige wieder grinsen ließ. Aber sie waren nicht schlecht.
 

„Kein Problem. Ich mag Pudding.“

Weshalb er sich auch die Pudding verseuchten Früchte schnappte, die Paige nicht haben wollte. Immerhin konnten sie das Essen ja nicht verkommen lassen. Da war es nur praktisch, dass sie offenbar unterschiedliche Geschmäcker hatten. Zumindest die Tintenfischringe hätte er schon einmal absolut nicht angerührt.

Gerade als Ryon sich wieder halbwegs zu entspannen begann, da Paige gelächelt hatte und irgendwie alles etwas leichter zwischen ihnen geworden war, machte sie mit ihren nächsten Worten alles zunichte.

Sie konnte es nicht wissen, weshalb sie keine Schuld daran trug, aber wenn sie eine ehrliche Antwort von ihm wollte, dann würde sie leider damit leben müssen und gerade das wollte er vermeiden. Wo doch gerade für sie Weihnachten anscheinend auch eine besondere Jahreszeit war, wie für so viele andere Menschen auf dieser Welt.

Statt zu sagen, dass er Weihnachten hasste, gab er ihr daher eine weitaus weniger bittere Antwort.

„Ich habe seit sieben Jahren kein Weihnachten mehr gefeiert. Aber als ich früher noch mit Tyler zusammen gelebt habe, hat er jedes Jahr wie wild gebacken. Ich denke, diese Tradition wird er nicht fallen gelassen haben, jetzt wo das Haus wieder so … voll ist.“

Eigentlich hasste er nicht nur Weihnachten, sondern den ganzen Herbst und den Winter. Nicht nur, dass diese Jahreszeiten fürs Auge absolut trostlos und kalt waren, für ihn waren sie auch in seinem Herzen dazu geworden. Der Frühling war ihm dahingehend am liebsten.

Genau dann, wenn nach einem langen Schlaf wieder alles erwachte, konnte man hoffen, dass es im Leben auch einmal wieder gute Tage geben konnte. Der Tod war nicht endgültig. Der Frühling bewies das jedes Jahr aufs Neue, nur konnte Ryon nicht wirklich daran glauben.

„Außerdem backe ich nicht. Meine Aufgabe ist es, dafür zu sorgen, dass das Feuer im Kamin nie ausgeht und immer genügend Holz da ist. Das war schon immer so. Seit ich eine Axt halten konnte, hat mich Tyler dafür eingeteilt.“

Vermutlich da Ryon weder so schnell kalt wurde, noch so schnell die Kräfte verließen.

Während er die Vanillesoße von einer Frucht sog, ehe er diese ebenfalls in den Mund steckte und kaute, fragte er sich, ob dieses Jahr Weihnachten vollkommen anders sein würde, als in den letzten Jahren.

Wenn Paige und Ai noch da wären, wäre vielleicht mehr los im Haus und wenn man bedachte, in welchem Monat die werdende Mutter war, könnten sie zu Weihnachten sogar ein weitaus größeres Geschenk bekommen, als man je kaufen könnte.

Allerdings wurde ihm alleine bei dem Gedanken daran, Ai könnte ihr Kind in seiner Nähe bekommen, ganz anders.

Natürlich hoffte er, sie wäre in Sicherheit, wenn es so weit war. Bestimmt würde Tyler nicht von ihrer Seite weichen, während Tennessey auf Mutter und Kind achtete und Paige sich ebenfalls um ihre Freundin kümmerte. Aber Ryons Rolle in diesem Fall war klar. Er würde mit Abwesenheit glänzen. So viel stand fest.
 

„Oh...“

Paige biss sich so stark auf die Zunge, dass ihr beinahe die Tränen in die Augen stiegen. Aber das 'verstehe', das sich nach diesem kleinen Wörtchen hatte aus ihrem Mund stehlen wollen, konnte sie so zumindest aufhalten.

Ryon wusste nicht, dass ihr sofort der Grund für seine Antwort wie ein elektrischer Schlag durch den ganzen Körper schoss.

Wahrscheinlich hatte sie Weihnachten gemocht. Wer tat das nicht? Gemütlich zu Hause auf dem Sofa zu sitzen...

Wie sie bereits gesagt hatte, so eingeschneit in dem großen Haus im Wald musste es sehr schön gewesen sein. Bestimmt vermisste er sie zu Weihnachten besonders...

Paige hätte sich für ihr unüberlegtes Geplapper am liebsten selbst geohrfeigt. Hätte sie sich doch wirklich denken können!

Wütend auf sich selbst legte sie die Gabel weg und räumte zwischen dem Geschirr herum, das sie beide auf der Platte und dem Teppichboden verteilt hatten.

Es sah wirklich nach einem ausgiebigen Picknick aus, für das sie der Besitzer des Hotels bestimmt gern vor die Tür gesetzt hätte. Kein Wunder, wenn man beispielsweise den Schokofleck neben ihrem eigenen Fuß mitten auf dem weißen Teppich bedachte.

„Ist auch eine blöde Idee. Weißer Teppich in einem Hotelzimmer...“, grummelte sie leise vor sich hin.

So in Gedanken versunken und bis zum Zerreißen konzentriert darauf nicht noch mehr Falsches zu tun oder zu sagen, bekam sie ihr Gegenüber gar nicht mehr richtig mit.

Erst als sie die kleinen Teller und Schälchen fein säuberlich auf die glänzende Platte zurück stellte, fiel ihr auf, dass sie die Unterhaltung schon fast rüde unterbrochen hatte.

Diesmal wagte Paige nicht wegen Ryons Emotionslosigkeit, sondern wegen ihres eigenen Unvermögens ihre ganz zu verstecken, ihm nicht in die Augen zu sehen.

„Naja, es gibt wohl auch wenig bessere Möglichkeiten das Haus im Winter zu heizen.“

Keine Äußerungen über gemütliches Ambiente. Kein Hinweis darauf, dass es bestimmt schön war, am Kamin zusammen zu sitzen. Sie musste sich zusammen reißen!

Und das nicht nur, weil sie Ryon vielleicht damit wehtun könnte. Irgendwo hatte die Pinzette in ihrem Inneren einen weiteren Ansatzpunkt gefunden. Es ziepte so sehr, dass Paige sich am liebsten an die Stelle gefasst und gerubbelt hätte, damit es aufhörte.
 

Auch wenn er nichts sagte oder andeutete, so spürte er doch Paiges plötzliche Unruhe, was auch noch durch ihr Handeln untermalt wurde. Sie begann damit etwas für Ordnung auf dem Boden zu sorgen, flüsterte sogar irgendetwas von einem Teppich, während er ihr dabei zusah und in Ruhe weiter die letzten Früchte aus seiner Schüssel aß.

Was auch immer sie dazu bewog, sich plötzlich so unwohl zu fühlen, dass sogar für ihn das sehr deutlich wurde, es machte ihn misstrauisch. Es gab bestimmt genug Menschen auf der Welt, die Weihnachten ebenfalls nicht feierten, aus ganz verschiedenen Gründen. Das konnte sie also nicht so sehr aus dem Konzept gebracht haben, dass Paige sich mit einem Mal so dringend mit irgendetwas beschäftigen musste. Aber was war es dann?

Ryon hatte ihr nie gesagt, weshalb er so war wie er war und würde ihr auch jetzt nicht den genauen Grund dafür nennen, weshalb er Weihnachten so sehr verabscheute, aber warum hatte er dann das Gefühl, dass sie über irgendetwas Bescheid zu wissen schien?

Mit einem seltsamen Prickeln, dass seine Wirbelsäule hinab lief, sah Ryon Paige einen Moment lang aus völlig neuen Augen an.

Einmal angenommen, sie wüsste einiges mehr, als er annahm, dann stellte sich doch die Frage, woher und weshalb sie es wusste.

Aber eigentlich war das wie und warum nicht so sehr wichtig in diesem Augenblick. Stattdessen fragte sich Ryon, ob es irgendetwas an ihrer Meinung über ihn ändern würde. Wenn er sich selbst als Außenstehenden betrachtete, dann müsste er sich als kalt und herzlos titulieren, da man an ihm nichts anderes erkennen konnte. So war es Paige sicher auch gegangen, bis er versucht hatte, sie auf seine Weise auf eine andere Bahn zu lenken. Damit sie erkennen konnte, dass er nicht das Monster war, das er vorzugeben versuchte, obwohl er im Grunde dennoch genau das blieb. Sein Tier war eine Bestie und er somit auch. Das ließ sich nicht leugnen.

Wenn Paige jetzt aber einmal rein hypothetisch betrachtet, wusste, was in ihm vorging, wie würde sie darüber denken?

Ryon konnte es nicht sagen, aber er wusste ganz genau, was er sicherlich niemals von ihr wollte … Mitleid.

Er hatte sich in seinem Leben schon oft genug selbst leid getan, so dass es andere nicht auch noch ebenso ergehen musste. Nein, Mitleid wäre das letzte, das er annehmen könnte und im Endeffekt hätte es auch nichts gebracht. Jemand wie er verdiente kein Mitleid, schon gar nicht von Außenstehenden.

Da das aber ohnehin alles nur reine Spekulationen waren, die im Grunde zu nichts führten, beließ er es dabei. Paige hatte nicht angedeutet, dass sie mehr wüsste, als er gewollt hätte, weshalb er auch keinen Sinn darin sah, dem weiter nachzugehen. Stattdessen versuchte er einfach die plötzlich angespannte Atmosphäre mit Gelassenheit zu überbrücken.

Gewissenhaft putzte er den Inhalt der Schüssel aus, ehe er sie auf eine andere stapelte und danach wieder nach seiner neuen Flasche mit Wasser griff.

„Selbst wenn uns das Holz ausgehen sollte, wir hätten es auf alle Fälle schön warm im Winter. Dafür sorgt die Erdwärme und die Fußbodenheizung im ganzen Haus. Das würde sich auch nicht ändern, wenn plötzlich der Strom ausfällt, da wir für solche Fälle einen Generator haben. Aber das ist bekanntlich auch nicht wirklich der Grund, weshalb wir den Kamin benutzen. Wie du schon sagtest, es ist … gemütlich.“ Was auch immer das noch für ihn bedeuten mochte. Vielleicht würde wenigstens dieses Jahr der Platz vor dem Kamin nicht leer bleiben. Das wäre doch zumindest ein Gedanke, an den man sich gewöhnen könnte.

Einen Moment lang herrschte Stille, während Ryon seinen Gedanken nach hing und immer wieder an dem Wasser nippte, da kam ihm plötzlich etwas in den Sinn.

So schnell, dass er gar nicht lange über seine Frage nachdenken konnte, bevor er sie auch schon stellte.

„Läufst du gerne Schlittschuh? Im Winter ist der See hinterm Haus immer so dick zugefroren, dass man darauf bedenkenlos gehen kann. Ich kann es also nur weiterempfehlen. So viel Platz für sich alleine hat man selbst in einer Eishockeyhalle nicht.“
 

Paige beantwortete die neue Frage nur allzu gern. So froh, wie sie darüber war, dass das Gespräch nicht ins Stocken geraten war oder er ihr an der Nasenspitze angesehen hatte, was sie dachte, musste sie wieder lächeln.

Und das, obwohl ihr das nächste Thema nicht wirklich so leicht über die Seele und die Lippen kam, wie sie es inzwischen gelernt hatte an Andere weiter zu geben.

„Als kleines Kind war ich öfter mal mit meiner Mutter Eislaufen. Sie war ziemlich gut und hat mir wirklich tolle Schlittschuhe gekauft. Solche, die man ganz fest binden kann, damit man nicht umknickt.“

Paige erinnerte sich inzwischen mit einem Lächeln daran. Erinnerungen musste man schätzen. Es war schön, dass man welche hatte.

„Ich befürchte aber, dass ich nicht sonderlich talentiert war. Später, allein, hab ich mir nicht die Mühe gemacht, besser zu werden. Und dann hab ich's irgendwann aufgegeben.“

Mit einem gedankenverlorenen Lächeln zupfte sie eine Weintraube aus einer Schüssel und dachte an den See hinter Ryons Haus. Dort hatten sie ihre Partnerschaft mit einem Handschlag besiegelt. Wenn sie jetzt daran dachte, dann erschien es Paige so, als wäre das schon Monate und nicht nur wenige Wochen her.

„Auf dem See ist es bestimmt schön. Aber schwieriger als auf einer gepflegten Eisfläche. Kannst du es denn gut?“
 

Das war wieder einmal einer der seltenen Momente, in denen Paige etwas von sich und ihrem Leben einbrachte. Allerdings wurde Ryon das erst jetzt so richtig bewusst, weshalb er sie auch aufmerksam ansah, während sie ihm von ihrer Mutter erzählte.

Was bedeutete es wohl, dass sie meinte, später hätte sie es alleine nicht mehr richtig weiter versucht?

Einmal hatte sie etwas von ihrem Vater erwähnt, allerdings war da eine deutlich andere Stimmung hinüber gekommen. So als hätte sie zu ihrer Mutter eine wesentlich bessere Beziehung gehabt.

Da Ryon nicht wusste, ob er näher auf sie und ihre Mutter eingehen sollte, beschloss er es vorerst bleiben zu lassen und sich stattdessen auf das eigentliche Thema zu konzentrieren.

„Eigentlich finde ich es nicht wesentlich schwieriger. Wenn man nichts anderes gewöhnt ist, fällt es wohl nicht besonders schwer, auf einer natürlichen Eisfläche zurecht zu kommen.“

Während er das sagte, versuchte er einzuschätzen, wie gut er Eislaufen konnte. Natürlich fielen ihm diverse Momente ein, an denen sein Hintern ganz schön etwas hatte mitmachen müssen, aber eigentlich hielten sich diese Stürze in Grenzen.

„Da wo ich herkomme, herrschen relativ raue Winter. Weshalb ich schon auf Eis zurecht kommen musste, bevor ich richtig gehen konnte. Bei mir waren es auch meine Eltern, die es mir beigebracht haben. Ich denke, ich bin gar nicht mal so schlecht. Zumindest schaffe ich es, nicht wie Bambi auf der Eisbahn auszusehen.“ Obwohl das bei seiner Größe schon ab und zu für einige Lacher gesorgt hatte. Immerhin konnte auch er nicht verhindern, manchmal hin zu fallen.
 

Paige überlegte, wie sie ihre nächsten Sätze formulieren sollte. Immerhin wusste sie ja, wie schlecht Ryon auf sein Tier zu sprechen war. Allerdings war Ryon nicht bewusst, wie genau sie es wusste. Aber er hatte aus ihren bisherigen Reaktionen und der Tatsache, dass er ihr nur ein einziges Mal im Pelz gegenüber gestanden hatte, schließen können, was sie dachte.

„Dann ist es tatsächlich so, dass deine Wandlergestalt deine Herkunft entspricht?“

Das machte bloß Sinn, aber dann drängte sich ihr die nächste Frage natürlich geradezu auf.

„Wie hat es dich dann auf unsere Insel verschlagen? Da du keinerlei Akzent hast, würde ich sagen, du bist recht früh von zu Hause weg... Sind deine Eltern dann auch in England?“

Paige war mit ihrer Vorgeschichte schon immer ein wenig neidisch auf diejenigen gewesen, die sich eine gesamte Familie erhalten konnten. Für sie wäre es niemals verständlich auf diesen Rückhalt zu verzichten, wenn man ihn denn wirklich ohne Weiteres in Anspruch nehmen konnte.
 

„Was mich und meine Natur angeht, hast du Recht. Ich komme nicht von der Insel, spreche aber deshalb nicht mit Akzent, da ich zweisprachig aufwuchs, da meine Eltern es für besser hielten, in einer Region zu leben, wo ich den Umgang mit vielen Menschen lernen konnte. Sie haben den Umzug schon geplant, da war ich gerade einmal ein paar Monate alt. Weshalb sie mir von Anfang an auch Englisch beibrachten. Als ich dann fünf war, sind wir schließlich umgezogen, damit ich etwas von der Welt sehen und daneben auch erstklassige Schulen besuchen konnte. Sie wollten mir trotz des Familienvermögens einen guten Start ins Leben mitgeben und mir die Möglichkeit bieten, Karriere zu machen, damit ich auch ohne das Geld auskommen könnte. Das war ihnen sehr wichtig, weil dort wo ich her komme, es dafür nur begrenzte Möglichkeiten gab. Inzwischen leben meine Eltern wieder in Russland. Genauer gesagt in einer abgelegenen Gegend im Amurgebiet. Weshalb die korrekte Bezeichnung auch Amurtiger lautet und nicht sibirischer Tiger. Aber daran nimmt von uns schon lange keiner mehr Anstoß.“

Warum auch? Ob so oder so, sein Tier blieb die größte Raubkatze der Welt. Das konnte man nicht schmälern.

„Als ich mit meinem Studium fertig war und … ausgezogen bin, war ihre elterliche Pflicht erfüllt. Natürlich hätte ich sie begleiten können, aber…“

Er zögerte, da es dafür sogar mehr als nur einen Grund gab.

„Ich hatte es mir schließlich anders überlegt.“

Seine Eltern hatten das natürlich akzeptiert. Immerhin liebten sie ihn bedingungslos und wollte nur, dass er glücklich war, selbst wenn das bedeutete, dass sie sich nur noch ein oder zweimal im Jahr sehen würden.

Doch inzwischen hatten sie nicht einmal mehr die Möglichkeit, sich bei ihm zu melden. Nachdem er alle Kontaktmöglichkeiten abgerissen hatte, um ihnen nicht zeigen zu müssen, was aus ihrem Sohn geworden war, hatte er nicht mehr versucht, sich bei ihnen zu melden. Sie wussten, er war am Leben, aber seine Abwesenheit war vermutlich weitaus besser, als seine Veränderung. Sie würden ihn kaum wieder erkennen.

Allerdings hielt diese Tatsache sie nicht auf, ihm jedes Jahr zu gegebenen Anlässen zu schreiben. Die Briefe landeten zuverlässig in seinem Postkasten, wo Tyler sie entgegen nahm und für ihn aufhob. Immerhin wussten sie sehr wohl, dass er ein Haus gebaut und eine Gefährtin gehabt hatte. Auch, dass Marlene tot war. Tyler hatte es ihnen nicht verheimlichen können, obwohl Ryon das lieber gewesen wäre.

Dennoch sah er keinen Grund dafür, die Briefe zu erwidern, nachdem er Jahrelang nicht einmal bei seinem Haus vorbei geschaut hatte, um überhaupt zu wissen, dass sie ihm geschrieben hatten. Es war einfach besser so.

„Nun ja, das erklärt zumindest, weshalb mir Kälte lieber ist als diese Hitze.“, fügte er noch hinzu, um das Thema zu beenden. Er wollte nicht länger über Familie sprechen. Zumindest nicht über seine eigene.

Als er sich sicher war, dass er nicht wie ein Baum im Wind schwanken würde, raffte er sich auf und war wirklich dankbar dafür, dass seine Kräfte durch das reichliche Essen schneller wieder zurückkamen, als angenommen. Es war zwar immer noch anstrengend, aber seine Beine fühlten sich schon kräftiger an.

„Wenn du nichts dagegen hast, würde ich mich gerne duschen und mir frische Sachen anziehen. Trotz deiner Pflege fühle ich mich immer noch wie im Regenwald und vermutlich sehe ich auch genauso aus.“

Kein Wunder, dass seine tierischen Verwandten in den Tropen gerne schwammen. Ihr Fell war einfach nicht für die heißen Bedingungen geeignet, weshalb sie im kühlen Nass regelmäßig nach Abkühlung suchten. Er verstand dieses Bedürfnis in diesem Augenblick einfach nur zu gut. Außerdem fühlte er sich nicht wohl in den verknitterten Sachen, die er nicht nur vollkommen durchgeschwitzt hatte, sondern die auch immer wieder nass geworden waren.
 

Paige konnte es gar nicht richtig machen. Egal, was sie sagte, egal welche Frage sie stellte oder welches noch so unschuldige Thema sie anschnitt, es würde immer auf 'sie' hinauslaufen.

Alles und jedes in Ryons Leben lief auf das zu, was den größten Eindruck hinterlassen hatte.

Mit schwerem Herzen, da es weder ihrer Natur entsprach, noch sie es irgendwie vor sich selbst rechtfertigen konnte, beschloss sie, keine Fragen mehr zu stellen.

Es schwang so viel Egoismus in ihr mit, dass sie beinahe böse mit sich wurde.

Ja, Marlene gehörte immer noch zu ihm. Ryon wurde von dieser Frau, die schon seit sieben Jahren tot war bestimmt. Sein Tun, sein Lassen, sein gesamtes Leben. Alles Andere war so unwichtig, dass die Welt neben ihm untergehen könnte, er würde trotzdem nur an seine Gefährtin denken.

Und Paige würde es wissen. Jedes Mal, wenn er eine Pause machte, um zu überlegen, wie er ihren Namen umgehen konnte. Jeder gedankenverlorene Blick... Das alles schrie so laut 'Marlene', dass Paige es durch den tosendsten Sturm gehört hätte. Wüsste Ryon davon, hätte er sie wahrscheinlich kurzerhand vollkommen aus seinem Leben verbannt.

Er hatte gesagt, dass er sie als Freundin betrachtete. Aber in diesem Teil seines Lebens hatte sie ohne sein Wissen Einblick genommen. Vielleicht hatte er sogar Recht damit, dass er sie eines Tages dafür hassen würde. Denn genau das würde passieren.

„Ist gut.“

Ihre Stimme war von ihren lauten Gedanken ganz kleinlaut geworden. Sie bot ihm das Nächste nur an, weil sie wusste, dass er es vermutlich sowieso ablehnen würde.

„Wenn du möchtest, kann ich hier warten. Solltest du einen Rückfall bekommen, wäre ich hier. Oder fühlst du dich kräftig genug?“

Bei den letzten Sätzen war sie aufgestanden und hatte die beiden leeren Platten auf den Servierwagen gestellt.

Weiter brauchten sie sich nicht darum zu kümmern. Er würde stillschweigend und unauffällig abgeholt werden. Genauso wie das Zimmer aufgeräumt wurde, bis keine einzige Spur der letzten Nacht mehr vorhanden war.

Genauso, wie es bereits Ryon für seinen Verstand getan hatte. Paige fühlte Neid in sich aufflammen.
 

„Ich denke, es wird schon gehen und du brauchst sicher auch einmal deine Ruhe. Immerhin habe ich dich in den letzten Stunden ganz schön in Anspruch genommen.“ Das klang jetzt etwas zweideutig, aber sie wusste, was er meinte.

Vorsichtig, aber relativ sicher auf den Beinen, ging er zu dem Kleiderschrank hinüber, in denen seine wenigen Sachen hingen, die er für die Reise mitgenommen hatte.

Er suchte sich eine bequeme Pyjamahose aus Seide in feurigem Rot heraus, die er zum Schlafen mit genommen hatte, denn genau das würde er nach der Dusche tun müssen. Eigentlich konnte er gar nicht genug Schlaf aufholen wie er brauchte. Zumindest fühlte es sich so an.

An der Tür zum Bad blieb er noch einmal stehen, ohne sich umzudrehen. Ein paar Mal atmete Ryon tief ein, ehe er den Mut dazu aufbrachte, die Worte über seine Lippen kommen zu lassen. Sie blieben dennoch sehr leise.

„Ich werde deine Hilfe nie vergessen, Paige. Auch nicht, wenn sich unsere Wege irgendwann wieder trennen werden.“

Mit diesen Worten schob er die Tür hinter sich zu und lehnte sich mit dem Rücken dagegen.

Seine Atmung war erzwungen tief, während seine goldenen Augen einen Punkt an der gegenüberliegenden Wand fixierten, um den Halt nicht zu verlieren.

Er hatte diese Worte los werden müssen, obwohl er deutlich gespürt hatte, dass es ihn aufwühlte, wenn er es aussprach, denn die Erinnerung an jene Stunden mit ihr, waren frisch. Frischer als alles, was er schon so lange nicht mehr hatte haben können. Darum waren sie auch umso intensiver.

Zu glauben, er könne so einfach wieder die Maske aufsetzen, war ein Fehler und das sollte er sich besser früher als später eingestehen. Was auch immer dazu beitrug, dass er seine Gefühle nicht mehr ganz ausschalten konnte, er sollte am besten Schnell eine Lösung dafür finden, denn wie lange er alles in sich ansammeln und zurück halten konnte, wusste er nicht.

Nun, da noch andere Faktoren hinzu kamen, mit denen er nicht gerechnet hatte, wurde es immer schwieriger, seine Fassade aufrecht zu erhalten.

Dass Paiges Fürsorge und Nähe ein Grund für diesen Zustand war, wusste er, weshalb er ihr nicht mehr nahe kommen durfte, wollte er nicht einen noch viel größeren Verfall riskieren!

Ein paar Minuten lang, stand er einfach nur so da, versuchte an nichts zu denken und sich wieder in den Griff zu bekommen, bis er sich endlich soweit gefangen hatte, dass er sich ausziehen und unter die Dusche steigen konnte. Das kalte Wasser würde ihm hoffentlich den Kopf frei machen. Es gab andere Dinge, um die er sich Gedanken machen sollte.
 

Paige stand einfach nur da und sah Ryon dabei zu, wie er zum Schrank ging, sich irgendein Kleidungsstück in rot herausholte und sich dann auf den Weg zum Bad machte.

So vorsichtig, wie er sich bewegte, war Paige nur froh, dass sie in dem Raum schon aufgeräumt hatte. Sonst hätte er am Ende doch noch einen Ausrutscher auf einem kleinen Fläschchen haben können. Sein Schädel musste so schon genug dröhnen, wenn man die Platzwunde bedachte, die immer noch auf seiner Stirn prangte. Wenn auch sehr viel weniger bedenklich, als sie bei einem normalen Menschen ausgesehen hätte.

Obwohl er nicht sonderlich geschäftig vorging, fühlte Paige doch nur zu deutlich, dass es Zeit war, zu gehen.

Mit nervösen Hände strich sie ihre Oberschenkel hinunter und lächelte etwas verunsichert. Von einem Fuß trat sie auf den Anderen und hätte um ein Haar ihr Gleichgewicht verloren, als sie Ryons leise Worte hörte.

Es schwang für sie selbst so viel darin mit, was Ryon vielleicht gar nicht bedacht oder gemeint hatte. In den letzten Stunden und auch noch bis jetzt hatte Paige nicht mit einer Faser ihres Hirns daran gedacht, dass sie einfach wieder aus seinem Leben verschwinden würde.

Ihr eigener Begriff von Freundschaft sah anscheinend anders aus, als der von Ryon. Denn selbst wenn ihre Partnerschaft in irgendeiner Weise zu Ende gehen sollte, hieß das für Paige nicht, dass sie auf nimmer Wiedersehen die Kurve kratzen würde. Freunde meldeten sich, kamen ab und zu vorbei, um ein bisschen zu reden; sich Gesellschaft zu leisten. Aber wahrscheinlich war das selbst bei der Tatsache, dass Ryon sie als Freunde bezeichnet hatte eine utopische Vorstellung. Für ihn waren sie Freunde, solange das Problem mit dem Amulett reichte. Danach würde jeder sein Leben weiter leben. Ohne den Anderen.

„Da hast du zwei der besten Sorte zu Hause sitzen und weißt immer noch nicht, was es heißt Freunde zu haben.“, meinte sie sehr leise. Inzwischen sprach sie schon mit der Badezimmertür, die Ryon hinter sich geschlossen hatte.

Zeit zu gehen.

Auf dem Weg in ihre eigenes Zimmer kramte sie aus ihrer völlig verknitterten Hose ihre Schlüsselkarte, las ihre Handtasche vom Boden auf und stand kaum zwei Minuten später in ihrer eigenen Suite. Ohne recht zu wissen, was sie nun mit sich anfangen sollte.

Jetzt, wo sie allein war, wurden die Gedanken so laut und überschlugen sich derartig, dass an Schlafen nicht zu denken war. Natürlich verlangte ihr Körper nachdrücklich nach etwas Ruhe. Die Nacht mochte für Paige nicht so anstrengend gewesen sein wie für Ryon, aber mitgenommen hatte sie es trotzdem. Allerdings hatte sie noch genug Energie mit sich selbst anders umzugehen, als es ihm vergönnt war.

Ryon würde sich im Schlaf erholen, seine Batterien aufladen und dann wie der Phönix aus der Asche auferstehen, als wäre nichts gewesen.

Paige wollte dann nicht dastehen, als würde sie den vergangenen Stunden irgendwie nachtrauern.

Sie mochte jemand sein, der auf Gefühle sehr viel wert legte. Der sie gerne mit Anderen teilte. Aber Paige verstand auch etwas von Selbstschutz.

Mit neuer Entschlossenheit zog sie sich aus, warf die in Mitleidenschaft gezogenen Klamotten in die Ecke und stieg kurz unter die Dusche.

Für Entspannung ließ sie sich keine Zeit, während sie sich einseifte, sich die Haare wusch und kurz nach ihrer Narbe an der Seite sah. Ein paar Schuppen waren so stark eingewachsen, dass sie sich auch in ihrer menschlichen Form zeigten.

Paige zupfte so lange daran herum, bis es weh tat. Das würde Tennessey sich ansehen und die Schuppen professionell entfernen müssen. So konnte nunmal auch keine gesunde Panzerung nachwachsen. Und eine derartige Schwachstelle konnte und wollte Paige sich nicht leisten. Schon gar nicht, wenn sie bedachte, was seit ihrer Begegnung mit Ryon schon alles passiert war.

Sauber und für's Erste erfrischt, zog sie sich an, band ihre Haare hoch und steckte Handy und Geldbörse ein, bevor sie das Hotel verließ. Untätig herumzusitzen war noch nie eine von Paiges Stärken gewesen.

29. Kapitel

Ihre Fingerkuppen trommelten inzwischen etwas ungeduldig auf der Theke herum, während sie schon wieder wartete.

Zuerst war es darum gegangen, jemanden an den Empfang zu bestellen, der ihrer Sprache so mächtig war, dass er ihr Auskunft geben konnte. Obwohl das bei der Vertretung der Stadt durchaus öfter vorkommen sollte, schien es sich fast Stunden lang zu ziehen, bis ein korrekt gekleideter Herr hinter dem Tresen auftauchte, an dem Paige nun immer noch lehnte und sich ihr Anliegen anhörte. Sie wollte eine Information über eine Ausgrabungsstätte. Nein, nicht wo genau sie war oder wann man eine Führung bekommen konnte. Selbst wer sie geleitet hatte, wusste sie bereits. Aber sie würde gerne wissen, ob der Herr noch in Kairo tätig war.

„Sie möchten das heute wissen?“

Paige war auf diese Frage hin völlig perplex gewesen. Warum sonst hätte sie persönlich hier erscheinen sollen?

„Ja, wenn das möglich ist. Bitte.“

Sie hatte es nicht gesehen, war sich aber ziemlich sicher, dass der Herr mit den Augen gerollt hatte, nachdem er ihr den Rücken zukehrte.

Je weiter der Zeiger auf der Uhr voranschritt, desto nervöser wurde Paige. Es hätte sie nicht gewundert, wenn der Herr, der nun in seiner eigenen Sprache in den Telefonhörer wisperte, sie einfach hinaus geschickt hätte. Mit der Bitte – oder vielmehr der Aufforderung – Morgen während der Öffnungszeiten wieder zu kommen. Es war nunmal kurz vor sieben. Noch knapp zehn Minuten, bis hier alle ihren wohlverdienten Feierabend hatten.

Ungeduldig verlagerte sie ihr Gewicht von einem Fuß auf den Anderen, um sich nicht mit dem Ellenbogen auf der glatt polierten Theke abstützen zu müssen. Sie war verdammt müde. Dabei war sie sich nicht sicher, ob es von den Strapazen der vergangenen Nacht oder von dem leicht angestaubten Ambiente der großen Halle kam, in der sie sich immer noch befand. Weiter, als bis zum Empfang am Eingang hatte sie es in der halben Stunde, die sie hier war, nicht geschafft. Die Hoffnung auf wertvolle Informationen schwanden mit jeder Minute.

Wesenwegen Paige auch erstaunt aufsah, als der Herr sie in wesentlich langsameren Worte auf Englisch erneut ansprach.

„Wie ist ihre Verantwortung und ihr Name?“

„Ehm...“ Verantwortung?

„Oh, Sie meinen, welchen Grund ich habe nach der Ausgrabung zu fragen?“

Der Herr nickte kurz angebunden und hielt sich den Hörer des Telefons so an die Brust, dass derjenige am anderen Ende der Leitung ihr Zwiegespräch nur gedämpft mithören konnte.

„Ich bin...“ Irgendetwas Wichtiges. Aber etwas, das man ihr auch abkaufen würde.

„Doktorandin.“

'Klasse Paige! Wie war das mit dem abkaufen?'

„Ja, ich schreibe gerade an meiner Arbeit über die Ausgrabungen, an denen ein gewisser Professor Grant teilgenommen hat.“

Ob es nun etwas brachte, dass ihr der Name des älteren Herren, dem sie das Tagebuch geklaut hatte, eingefallen war, würde sie in wenigen Sekunden wissen. Wahrscheinlich legte der Typ jetzt auf und warf sie hochkant aus dem Gebäude. Diesmal mit dem Befehl sich nie wieder blicken zu lassen.

Paige biss auf der Innenseite ihrer Wange herum, während sie mit großen Augen auf eine Reaktion wartete. Ihr wurde nur mit einem sehr ähnlichen Blick begegnet, der sie daran erinnerte, dass das nicht alles gewesen war.

„Burke.“, fiel schließlich der Groschen und in Paige machte sich Erleichterung breit. Darauf hatte er noch gewartet. Ihren Namen. Naja, irgendein Name zumindest.

„Ich heiße Flora Burke.“

Diesmal erntete sie tatsächlich ein Zucken seiner Augenbrauen. Dieser Mann begegnete nicht zum ersten Mal einem Lügner. Das war nur zu leicht zu erkennen. Was sollte sie jetzt tun? Einfach davon rennen, während er wieder ins Telefon sprach?

Sie stand bereits in den Startlöchern, hatte die Hände von der Theke genommen und wollte sich dankend umdrehen, als der Herr den Telefonhörer auflegte und etwas auf eine kleine Karte kritzelte.

„Sie können anrufen. Mister Abraham war am Apparat. Er ist der Partner gewesen von Mister Grant.“

„Vielen Dank für Ihre Hilfe.“

Am liebsten hätte sie diesen korrekten Herren in diesem Moment auf die entstehende Glatze geküsst. Aber dann hätte er ihr bestimmt das kleine Stück Papier mit der Telefonnummer wieder abgenommen. Darüber stand in krakeliger Schrift der Name des Mannes, den sie suchte.
 

Am Telefon hatte sich Mr. Stanley Abraham so angehört wie der Sprecher einer Tiersendung im Radio, die Paige früher immer Sonntags hatte anhören dürfen. Beruhigend und voller Wissen, das er in einer sehr väterlichen, aber bestimmten Art vermitteln konnte. Und alt.

Nun, da sie mit leicht feuchten Händen vor seiner Tür stand und darauf wartete, herein gelassen zu werden, versuchte sich Paige den Mann vorzustellen, der zu dieser Stimme gehörte. Weiße Haare, etwas kleiner als sie selbst und vielleicht ziemlich untersetzt.

Als er ihr die Tür öffnete und sie anlächelte, musste sie grinsen.
 

„Sie sind also auf der Suche nach Informationen über die Ausgrabung vor fünfzehn Jahren?“

Er saß ihr auf einem ähnlich gemütlich wirkenden Sofa gegenüber, auf dem er ihr selbst einen Platz angeboten hatte. Zwischen ihnen stand ein Tablett mit Tee und Gebäck, das allerdings etwas staubig aussah. Und leider genauso schmeckte.

Paige tunkte es so lange in ihren Tee, bis es zumindest so vollgesaugt mit Flüssigkeit war, dass sie abbeißen konnte, ohne sich einen Zahn dabei abzubrechen.

„Richtig. Und noch einmal vielen Dank, dass Sie so schnell Zeit für mich hatten, Professor Abraham.“

Er war groß und schlank. Die langen Beine hatte er locker übereinander geschlagen, während er in einem Eck des Sofas lehnte und seine Teetasse in den langen Fingern hielt. Seine braunen Augen musterten sie sehr aufmerksam über den goldenen Rand einer halben Lesebrille hinweg.

Paiges Mundwinkel hoben sich bei dem Anblick der wenigen Keksbrösel, die sich in seinem grauen Schnurrbart verfangen hatten.

„Ich bin inzwischen nicht mehr so viel beschäftigt wie früher, Miss Burke.“

Es schwang so etwas wie Bedauern in seiner Stimme mit, was Paige bei dem Eindruck, den sie von dem Professor bis jetzt gewonnen hatte, nicht wunderte. Seine Augen waren wach und wirkten neugierig. Sogar ein wenig spitzbübisch, wenn er lächelte. Paige konnte sich nur zu gut vorstellen, wie er früher bei einer Ausgrabung begeistert in irgendwelchem Dreck herum gewühlt hatte, um Dinge wie Ryons Amulett zu finden.

„Daher habe ich auch genug Zeit für Ihre Fragen. Dann schießen Sie mal los. Denn um ehrlich zu sein, habe ich keine rechte Lust noch länger auf diesen steinharten Keksen herum zu kauen, bis sie ihre Nervosität überwunden haben.“

Sein Lächeln war ehrlich und sagte Paige, dass er sehr genau wusste, dass sie keine Doktorandin auf Exkursion war. Dennoch wollte er ihre Fragen beantworten. Solange er selbst keine stellte, die ihr eigenes Motiv betrafen, konnte Paige das nur Recht sein.

„Um ehrlich zu sein, Professor Abraham. Mir geht es vor allem um ein Fundstück der damaligen Ausgrabung...“
 

„Es hat mich gefreut, Miss Burke.“

Paige stand halb auf der Treppe zur Straße, als sie seine Hand zum Abschied schüttelte.

Es war in den letzten Stunden, die sie halb plaudernd, halb forschend verbracht hatten, recht kühl geworden. Obwohl sie ihre Jacke enger um sich zog, fröstelte Paige leicht. Dennoch ging sie mit einem breiten Lächeln die paar Stufen hinunter und drehte sich noch einmal um, bevor sie ihm eine gute Nacht wünschte.

Als sie bereits um das nächste Hauseck verschwunden war und Stanley Abraham die Tür hinter sich geschlossen hatte, schüttelte er nachdenklich den Kopf.

Langsam ging er in sein Arbeitszimmer, zog eine Schublade auf und holte eine alte, leicht angegilbte Fotografie heraus, die er schon so oft durch seine Lesebrille betrachtet hatte.

„Es gibt wohl keine Zufälle im Leben...“, meinte er mit einem Zwinkern zu der Frau auf dem Foto.

„Noch bin ich mir nicht sicher. Aber wenn sie es ist, dann sieht dir Paige wirklich sehr ähnlich.“
 

Da er früh erwachte und nicht wusste, ob Paige noch schlief, bestellte er sich beim Zimmerservice ein ausgewogenes Frühstück, das zwar nur für ihn selbst war, aber natürlich für eine ganze Meute ausgehungerter Wölfe gereicht hätte. Doch gerade weil ihm das gestrige Mahl so gut getan hatte, wollte er auch heute ausgiebig frühstücken, während er Paige die Zeit ließ, sich selbst noch etwas auszuruhen.

Nachdem ihm das Essen gebracht und die Reste von gestern wieder mitgenommen worden waren, nahm er sich lange Zeit, um in Ruhe zu Essen und seine Gedanken zu ordnen.

Danach ließ er sich auf dem weichen Teppichboden nieder und besah sich gründlich seine Einkäufe, die er inzwischen vollkommen vergessen hatte.

Sie waren zum Glück allesamt heil geblieben, obwohl sie mehrmals unsanft auf dem Boden gelandet waren. Weshalb er sie nun auch vorsichtig in seinem Koffer verstaute, damit ihnen nicht doch noch etwas passierte. Immerhin sollten die Geschenke wohlbehalten bei ihren Besitzern ankommen.

Etwas Zeit war dadurch vergangen, aber es war noch immer zu früh, um bei Paige durchzuklingeln, weshalb er sich ins Bad begab, um kalt zu duschen, sich gründlich zu rasieren.

Im Spiegel übersah er seine schwarzen Augen, sondern strich lediglich über den immer kleiner werdenden Schorf an seiner Stirn. Noch ein paar Tage und man würde nur noch frische Haut an der Stelle sehen, wo sein Schädel einiges her halten hatte müssen.

Eigentlich wunderte es Ryon, dass das Waschbecken bei seinem Dickschädel nicht in die Brüche gegangen war. Aber als er es sich gründlich ansah, fand er noch nicht einmal einen keinen Sprung oder so etwas in der Art.

Sehr solide Einrichtung. Das musste man dem Hotel lassen.

Wieder in seinem Schlafzimmer angekommen, suchte er sich frische Klamotten heraus. Viel mehr als dünne Sachen anziehen, konnte er nicht, wollte er nicht nackt in der Gegend herum laufen, weshalb er seine Vorbereitungen für den Tag auch damit begann, in dem er von Anfang an sehr viel zu trinken begann. Denn genau das dürfte auch sein Fehler gewesen sein. Vielleicht hätte die Hitze ihn nicht so derart umgehauen, wenn er genug Flüssigkeit zur Verfügung gehabt hätte. Das würde ihm aber sicherlich nicht noch einmal passieren, weshalb er sich auch noch zusätzlich drei Zwei-Liter-Flaschen voll Wasser bereit stellte, ehe er sich samt seinem Handy auf die Couch fallen ließ.

Eine Weile überlegte er, was er schreiben sollte, denn sollte Paige noch schlafen, würde ein kurzes Nachrichtensignal sie vielleicht nicht sofort aufwecken.

Nach langem hin und her begann er schließlich einfach zu tippen, was ohnehin auch seine Zeit brauchte, denn mit der Handytastatur kam er lange nicht so gut zurecht, wie mit der seines Computers.

‚Guten Morgen, Paige. Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt. Aber wenn du Zeit hast, sollten wir unsere weitere Vorgehensweise besprechen. ~Ryon‘
 

Das einzelne Klingeln ließ sie hochschrecken.

Während ihr Kopf wieder auf das weiche Kissen sank, tastete sich ihre Hand unter der Decke hervor und dann entlang der Matratze zu dem Nachtkästchen, auf dem das Handy lag. Wer ihr da schrieb, war ohnehin klar und der einzige Grund, warum sie ihre müden Augen überhaupt öffnete, um die SMS zu lesen.

Es war keine schlechte Nachricht. Wäre es ihm schlecht gegangen oder hätte er Hilfe gebraucht, wäre ihre Antwort anders ausgefallen. Aber in ihrem derzeitigen Zustand brachte sie nur eine kurze Erwiderung zustande.

Was für eine seltsame und gleichzeitig amüsante Formulierung. 'Wenn du Zeit hast.' Als hätte sie Termine einzuhalten. Naja, wenn man es recht bedachte...

'Guten Morgen, Nachbar. Gib mir noch eine halbe Stunde. Unser Termin ist erst um 16Uhr. Kein Grund zu hetzen... ;) Paige'

Noch völlig schlaftrunken schlich sie ins Bad, frischte sich auf und war tatsächlich eine halbe Stunde später zumindest äußerlich bereit das Zimmer zu verlassen. Wenn ihr auch die Anstrengungen und der aufschlussreiche Spaziergang und das Treffen des vergangenen Abends noch ins Gesicht geschrieben standen. Sobald diese ganze Sache vorbei war, würde sie eine Woche im Bett verbringen. Vielleicht schaffte sie es tagsüber auf die Couch, um Cartoons anzusehen. Aber das wäre auch schon das Höchste der Gefühle.

„Oh Mann...“

Ihr war eingefallen, dass sie sich dafür erst einmal eine neue Bleibe, das dazugehörige Bett, die Couch und auch den Fernseher suchen musste. Das hörte sich nach mehr Aufwand an, als die Woche Ruhe dann wert wäre.

Ein wenig müde kam sie auf den Flur und stieß auf Ryon, der bereits auf sie wartete. Der Sprung, den ihr Herz bei seinem Anblick machte, war überraschend und genauso verwirrend.

War sie nervös? Ihren leicht zitternden Fingern nach konnte das durchaus der Fall sein. Aber warum sollte sie?

„Guten Morgen. Hast du schon was gegessen?“
 

Sie hatten um 16 Uhr einen Termin?

Wenn er zu so etwas wie einem Stirnrunzeln im Stande gewesen wäre, hätte er es getan. So aber, klappte er lediglich sein Handy zu und legte es zur Seite, während er es anstarrte.

Was hatte er denn nun wieder verpasst, während er schlief? Hatte Paige sich etwa für etwas anderes entschieden, als sich auszuruhen?

Mit einem leichten Kopfschütteln stand er auf, um seine Sachen zusammen zu suchen. Es ging ihn im Grunde nichts an, was sie Nachts alles so trieb, aber eigentlich wüsste er gerne darüber bescheid, wenn sie irgendwo hin ging. Immerhin waren sie hier in einem völlig fremden Land und nur weil sie nun das Handy hatte, hieß das noch lange nicht, dass sie ihn auch erreichen könnte, wenn sie Ärger bekam. Man könnte sie entführen oder sogar umbringen, während er seelenruhig im Bett schlief!

Diesen Punkt würde er wohl noch ansprechen müssen, aber vorerst war er eher darauf erpicht, zu erfahren, um was für eine Art von Termin es sich handelte.

Die Wasserflaschen verstaute Ryon in einer großen Umhängetasche mit breitem Riemen, da er Rucksäcke nicht wirklich mochte. Die meisten normalen Rucksäcke waren für seine Größe einfach zu klein, selbst wenn er die Riemen so weit stellte, wie es ging.

Er hengte sie sich um, steckte sein Handy ein und verließ das Zimmer, um im Flur auf Paige zu warten, die Pünktlich aus ihrer Tür trat.

Sie sah noch immer müde aus, aber Ryon war trotzdem erleichtert sie zu sehen. Immerhin war es ein Unterschied ob er ihre Stimme hören konnte oder einfach nur ein paar daher getippte Worte las.

„Ja, ich habe bereits gefrühstückt, aber ich leiste dir gerne Gesellschaft. Wie du schon sagtest, kein Grund zu hetzen und außerdem würde ich gerne etwas über diesen Termin erfahren. Warst du gestern denn noch weg?“

Eigentlich eine blöde Frage, aber sie hätte auch etwas von ihrem Zimmer aus organisieren können. Zumindest wäre ihm diese Option wesentlich lieber. Trotzdem. Sie war kein kleines Kind und er nicht ihr Vormund. Er konnte es ihr nicht übel nehmen, wenn sie auf eigene Faust etwas unternahm.

Da sie den hoteleigenen Speisesaal noch nicht gesehen hatten, der aber auch sicher so einiges fürs Auge bot, schlug Ryon vor, sich dorthin zu begeben. Dann konnte er sich auch noch einen Chai-Latte bestellen.

Wie sagte Paige doch so schön: etwas Heißes sorgt trotzdem überraschenderweise für Kühlung. Zumindest konnte er das nur hoffen. Ihm war schon jetzt wieder warm genug.
 

„Sein Name ist Professor Stanley Abraham. Professor für Archäologie nehme ich an, aber er hat auch einen großen Faible für Mythologie, soweit ich das im Gespräch mit ihm mitbekommen habe.“

Sie saßen in dem großen, aber gemütlichen Speisesaal des Hotels. Paige erzählte zwischen kleinen Bissen Müsli mit Früchten von ihrer Begegnung mit Professor Abraham und dass sie nach kurzer Verabredung bei ihm gewesen war und dieser sich erstaunlich kooperativ gezeigt hatte.

„Ich glaube, dass er seinen alten Job vermisst. Zumindest die Ausgrabungen. Mit Mr. Grant hat er wohl öfter zusammen gearbeitet.“

Ihr Blick fiel auf die Stelle, an der Ryons Amulett unter seinem Hemd verborgen war.

„Die Ausgrabung, bei der auch dein Schmuckstück gefunden wurde, hat er mir als 'speziell' beschrieben. Es hat wohl mehrere Widrigkeiten gegeben. Angefangen bei Diebstählen durch Mitarbeiter, über Arbeitsunfälle und so etwas wie einen Fluch.“

Sie winkte ab und steckte sich ein Stück Wassermelone in den Mund, auf dem sie herum kaute.

Mit der Gabel deutete sie auf Ryon, der zu ihrer Unterhaltung bis jetzt noch nicht wirklich viel beigetragen hatte. Aber zuerst ging es ja auch darum, ihm mitzuteilen, was sie bei ihrem Ausflug heraus gefunden hatte.

„Er ist bereit uns die Ausgrabungsstelle zu zeigen. Viel ist nach den vielen Jahren nicht mehr zu sehen, aber mit ihm brauchen wir zumindest keine offizielle Genehmigung, um uns alles genauer anzusehen. Die bei der Stadt sind nicht gerade die Schnellsten...“
 

Während er Paige aufmerksam zu hörte, nippte er immer wieder an seinem Latte, der ihm selbst in lediglich warmen Zustand noch viel zu heiß erschien, aber da er ihn ohnehin nur so langsam in geringen Mengen zu sich nahm, merkte er nicht wirklich einen Unterschied bei seiner Körpertemperatur. Außerdem hörte er viel zu interessiert zu, als dass er sich auf etwas anderes konzentrieren könnte.

„Also scheint es wirklich verflucht zu sein…“, wagte er schließlich in den Raum zu stellen, obwohl er dieses Thema eigentlich am liebsten meilenweit übergangen hätte. Doch etwas tot zu schweigen, würde auch nichts bringen. Weshalb er sich dem wohl besser früher als später stellte. Nur so kamen sie auch schnell genug voran.

Ryon wollte dem ganzen nicht auch noch Steine in den Weg legen. Das wäre keine große Hilfe, wo doch Paige hier so fleißig zu Werke ging.

„Wenn du sagst, dass das Treffen um 16 Uhr ist, würde ich gerne mitkommen. Dann ist es nicht mehr so heiß, außerdem habe ich genug Wasser eingepackt. Von mir aus, kann’s also los gehen. Außerdem würde ich diesen Professor gerne kennen lernen. Meinst du, er ist vertrauenswürdig?“

Es war nicht so, dass er gleich um jede Ecke eine Gefahr sehen wollte, aber Ryon war nun einmal skeptisch und vorsichtig, wenn es um das Amulett ging. Weshalb er es auch niemals irgendwo in einem Safe einsperren würde. Am sichersten erschien es ihm immer noch um seinen Hals. Egal wie viele Diebe noch an ihm abperlen mussten, bis sie begriffen, dass man es ihm nicht so einfach abluchsen konnte.

Während er daran dachte, rieb er sich gedankenverloren über einen Teil der dünnen Linie um seinen Hals.

Vorgestern auf der Straße hatte er einfach nur noch reagiert, ohne großartig darüber nachzudenken, wie grauenvoll vertraut der Zug sich auf seinem Hals angefühlt hatte. Hoffentlich erlebte er so etwas nicht noch einmal.
 

Als sie den letzten Bissen aus der Schüssel geholt und ihn verspeist hatte, lehnte sie sich in dem weichen Stuhl zurück und sah Ryon an.

Wenn man bedachte, wie viel sie über ihn wusste, ohne dass es ihm selbst klar war, hätte sie den Mund halten sollen. Unter Umständen war es besser, nicht über das Amulett und diesen Fluch zu sprechen, von dem Ryon dachte, dass er auf dem Schmuckstück lag. Womöglich nahm es einige Last von seinen Schultern, wenn er glaubte, dass das Amulett Schuld am Tod seiner Gefährtin und seines Babys gehabt hatte. Und dennoch glaubte Paige mit keiner Faser ihres Gehirns daran.

„Ryon, ich...“

Ihre Stimme war sanft und vorsichtig. Dem entsprechend, was sie gleich sagen und welche Wunden sie damit wahrscheinlich aufreißen würde. Aber sie waren nunmal hier, um hinter die Spur des Amuletts zu kommen. Und damit auch den Hexenzirkel unschädlich zu machen, der hinter ihrer beider Leben her war. Ihre einzige Chance war es, ehrlich miteinander zu sein.

„Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass ein Fluch auf dem Amulett liegt.“

Sie musste es vorsichtig formulieren. Ohne 'ihren' Namen zu erwähnen. Oder die Tatsache, dass sie wusste, was passiert war. Dass sie alles wusste, was er vor der Welt und sich selbst leugnen wollte.

„Du trägst es schon seit vielen Jahren. Und obwohl du dich oft in gefährlichen Situationen befunden hast, bist du immer noch am Leben.“

Hoffentlich reichte das. Wenn er ihr mit Ausflüchten kam, würde ihr nichts übrig bleiben, als von 'ihr' zu sprechen. Davon, dass Paige selbst sehr wohl wusste, wer ihm das Amulett gegeben hatte. Und dieser Mensch hätte ihm niemals etwas geschenkt, das ihn gefährden könnte.
 

Ryon begann leise in seinem Getränk um zu rühren, um es noch ein bisschen kühler zu bekommen, obwohl er es eigentlich auch nur tat, um nicht mit seinen Fingern auf dem Tisch herum zu tribbeln.

Das Thema war ihm ziemlich unangenehm, aber er lief nicht davor weg. Allerdings konnte er Paige dabei nicht in die Augen sehen. Denn wenn er in sich selbst spürte, wie ein auf und ab seiner Gefühle deutlich wurde, als wäre er ein Blatt in einem reißenden Fluss, so musste man es bestimmt auch an seinen Augen erkennen können. Das wollte er nicht.

„Es mag vielleicht sein, dass es mir bisher nicht geschadet hat. Dem kann ich nur zustimmen, aber was ist mit all den … Vorbesitzern? Soweit wir wissen sind doch bisher alle, die es lange genug besessen hatten tot. Selbst dieser … Crilin hat sich darüber beklagt, dass er seltsame Unfälle hatte, krank wurde, ehe er es los werden konnte…“

Ryon konnte nicht weiter sprechen, da seine Kiefer mahlend aufeinander krachten und er sie auch nicht mehr so schnell auseinander brachte. Seine Finger hielten den silbernen Löffel so fest umklammert, als wolle er ihn abbrechen.

Nachdem der Wellengang seiner Gefühle gerade am Tiefpunkt angelangt war und er sich gerade wieder beruhigen wollte, stieg er hoch, so dass er den Löffel ruckartig los ließ und sich stattdessen mit verschränkten Armen zurück lehnte. Noch immer den Blick gesenkt, aber tief Luft holend, bis seine Wut wieder etwas abgeflaut war.

„Es ist eigentlich egal, ob es nun tatsächlich verflucht ist oder nicht. Fakt ist, dass damit etwas nicht stimmt. Da bin ich mir ziemlich sicher. Zum Beispiel finde ich es seltsam, dass es beständig die selbe Temperatur hat. Egal wie lange es auf meiner Haut liegt, es fühlt sich immer kühl an. Dabei ist Metall normalerweise ein Material, das schnell die Temperatur seiner Umgebung annimmt. Außerdem, wäre es einfach nur irgendein kostbar gearbeitetes Schmuckstück, was wäre so besonders daran, dass magische Wesen wie diese Hexen es haben wollen? Ob Fluch oder nicht, wir müssen heraus finden, was mit dem Teil nicht stimmt. Aber das weißt du ja.“

Ryon hielt den Mund. Dass er Paige auf seine kühle Art so anfuhr, verdiente sie nicht. Immerhin konnte sie nichts dafür. Aber das Thema brachte ihn einfach auf.

„Außerdem…“, begann er schließlich mit vollkommen tonloser Stimme, während er den Augenkontakt nur noch mehr vermied. „…wurde es mir geschenkt, um mich zu beschützen… Ich weiß allerdings nicht, ob uns diese Tatsache weiter helfen wird.“
 

Paige war tief in ihren Stuhl gerutscht, die Lehne im Rücken und ließ Ryon nicht aus den Augen. Seine Haltung zeigte Abwehr und vielleicht sogar Aggressivität. Was nicht allein mit der Erwähnung von Crilins Namen zusammen hängen konnte. Aber durchaus damit, was dieser Kerl Ryon unwissentlich an den Kopf geworfen und ihm zu knabbern gegeben hatte.

„Professor Abraham hat mir noch etwas Interessantes über die Ausgrabung erzählt. Es bestätigt meine Theorie mit den zwei Seiten. Ryon, es gibt nicht nur ein Amulett.“

Und wenn sie ihre Theorie weiterspann, dann hatten die zwei Seiten von Anfang an etwas Anderes bedeutet, als unterscheidbare Seiten auf einem Schmuckstück.

„Ist das Amulett denn lange im Besitz der Person gewesen, die es dir geschenkt hat? Ich meine, du sagtest doch selbst, dass die Unfälle erst nach einiger Zeit aufgetreten sind. Vielleicht waren es auch wirklich nur Unfälle.“

Sie war so weit gekommen. Ohne dass er sie angefallen hätte oder er verschwunden wäre. Vielleicht konnte sie doch offener darüber reden, als sie vermutet hatte.

„Ich halte es für sehr unwahrscheinlich, dass dir die... Person, von der du das Amulett hast, etwas geschenkt hätte, was dich gefährden könnte. Vor allem nicht, wenn sie das genaue Gegenteil vorhatte.“

Wie hatte es Tennessey formuliert? So einen Fehler hätte sie nicht begangen.

„Meiner Meinung nach hat dich das Amulett die ganzen Jahre über beschützt. Aus welchem Grund auch immer die Unfälle bei den anderen Besitzern passiert sind... Ich glaube nicht, dass dein Amulett verflucht ist. Es ist nicht die böse Seite der beiden. Im Gegenteil. Ich denke, es ist zu sehr viel Nütze und könnte uns helfen, wenn wir nur wüssten, was es bewirken kann.“
 

Eigentlich wollte er nichts davon hören. Kein weiteres Wort mehr. Dass er das Amulett von Mal zu Mal immer mehr zu hassen begann, ließ sich nicht leugnen. Genauso wenig wie die Tatsache, dass er gleich Feuer fing und daran garantiert nicht die Hitze schuld war. Genauso wenig wie Paige, aber die Erkenntnis alleine half leider auch nichts dagegen.

Mühsam versuchte er sich also auf die Einzelheiten zu konzentrieren, die Paige ihm gerade neu serviert hatte. Zwei Amulette also?

„Nein, sie hatte es nicht lange. Aber das mich dieses Ding beschützt haben soll, bezweifle ich!“

Das mit der Konzentration auf die wesentlichen Details war wohl deutlich schief gegangen. Er konnte nicht mehr richtig denken.

Sein Blick schoss hoch, als er weiter sprach, ohne dass er seinen Redeschall verhindern konnte. Selbst dass er langsam lauter wurde, ließ sich nicht mehr vermeiden.

Er war stinksauer. Nicht auf Paige, sondern auf das Leben selbst. Die Ungerechtigkeit, wo es doch so viele mysteriösen Dinge auf der Welt gab. Hätte sich da nicht auch zu ihm ein Wunder verirren können?

„Vor was hat es mich denn bewahrt? Davor dass ich Frau und Kind verloren habe? Davor dass ich mich selbst umbringen wollte? Dass ich mit allem gebrochen habe, was mir früher lieb und teuer gewesen ist? Wenn du mich fragst, ist dieses verdammte Ding vollkommen nutzlos!“

Er war aufgesprungen, dabei die Blicke ignorierend, die ihnen beiden galten. Er konnte ohnehin nicht mehr klar denken. Weshalb er Paige schließlich auch einfach stehen ließ und davon rauschte, ohne an die Konsequenzen zu denken. Im Augenblick war ihm alles egal. Ihr Leben. Die Suche nach einer Antwort. Das Amulett. Einfach alles.
 

Ihr eigener Stuhl ruckte laut über den Marmorfußboden, als Paige die Armlehnen griff, um bei Ryons starker Reaktion nicht aufzuspringen. Oder schlimmer noch ihre Panzerung sichtbar werden zu lassen, die sich unter ihrer Kleidung bereits an einigen Stellen hervor geschoben hatte.

„Aber genau dafür hat sie es dir...“

Ihre Antwort wurde im Keim erstickt und von Ryons plötzlichem Wutausbruch hinweg gefegt. Einen Moment später war er auf den Beinen und schrie sie an. Paiges Herz schlug ihr bis zum Hals und jedes noch so angestrengte Schlucken konnte es nicht an seinen normalen Platz zurück verweisen.

„Ich wollte nicht sagen, dass... Warte!“

Mit seinen ausholenden Schritten war er verdammt schnell aus dem Raum verschwunden und Paige musste rennen, um ihn einigermaßen einzuholen. Hier in der Lobby des Hotels herum zu schreien hätte nichts gebracht. Vor allem, weil er sich wohl entschieden hatte, sie zu ignorieren.

Als sie auf der Straße ankamen und Ryon immer noch schneller wurde, legte Paige einen verzweifelten Sprint hin. So aufgebracht sollte er vor allem in der Mittagshitze nicht herumrennen.

„Ryon, bleib stehen!“

Sie erwischte ihn am Arm, wusste aber nicht genau, was sie eigentlich tun wollte. Außer ihn davon abzuhalten sich schon wieder zu gefährden. Noch dazu, weil es allein ihre Schuld war.

„Ryon, bitte. Ich hätte das alles nicht sagen sollen. Es tut mir leid.“
 

Ohne zu wissen, wohin er eigentlich lief, ließ er sich dennoch nicht davon abhalten, einfach weiter zu gehen. Auch nicht, als er Paiges Stimme hinter sich hörte und plötzlich etwas an seinem Arm zog. Dass er sie allerdings einfach ein gutes Stück mit sich schleifte, bevor er stehen blieb, um sich ruckartig herum zu drehen, ließ sich nicht vermeiden.

Zwar erhob er weder die Hand gegen sie, noch versuchte er sich von ihr los zu reißen, dennoch zuckte sie merklich vor ihm zurück. Das konnte sie nicht verhindern. Genauso wenig wie er die Wut in sich zurück halten konnte. Sie brach förmlich aus ihm hervor.

Würde in diesem Augenblick nicht deutlich werden, dass irgendetwas mit seinem Tier nicht stimmte, er hätte eine Wandlung nicht mehr verhindern können. Der Schmerz zerriss seine ganzen Moleküle, zerriss sein Herz, seine Muskeln, seinen Verstand und doch blieb er ganz, so falsch es sich auch anfühlte. Er blieb ein Mensch und seine tierischen Eigenschaften verschwunden.

Dabei machte Paige es mit ihren Worten nur noch schlimmer. Weil er nun auch noch deutlich das Gefühl hatte, sie vor ihm selbst beschützen zu müssen. Vor dem was er war. Vor dem was er tun könnte.

„Paige!“, fuhr er sie schon wieder an, wenn auch deutlich leiser, aber ebenso schneidend, während er nach ihren Händen griff, die ihn zurück gehalten hatten. Sein Griff war nicht fest , aber dafür waren es seine Worte umso mehr.

„Merk dir eines. Was passiert ist, ist nicht deine Schuld. Was du sagst, kann mich niemals so verletzten, wie die Dinge, die bereits geschehen sind. Du kannst nichts dafür, dass ich mich nicht unter Kontrolle habe, weil du über Dinge sprichst, von denen du nicht wissen kannst, dass sie mich rasend machen! Hör auf, dir für etwas die Schuld zu geben, wofür du nichts kannst!“

Er zog sie an ihren Händen näher an sich heran und trat einen Schritt auf sie zu, so dass sie dicht bei ihm stehen und zu ihm aufsehen musste, während er mit einem Mal schwieg.

Da war noch so viel, dass aus ihm heraus wollte. Die Wut wollte sich irgendwie einen Weg ins Freie bahnen. Aber es war nur recht, dass sie ihn von Innen auffraß, wo er doch nur wütend auf sich selbst sein konnte.

Noch immer funkelten seine Augen Paige an. Die Frau, die ihm gestern noch das Leben gerettet hatte. Die Frau, die ihn in schweren Stunden nicht alleine gelassen und ihm beigestanden hatte. Doch was tat er nun? Er machte ihr Angst, schrie sie an, hielt sie fest und das, wo jeden Moment sein Tier zurückkehren und er endgültig durchdrehen könnte.

Bevor das allerdings passieren konnte, schaltete sich in ihm ein uralter Instinkt ein, der schon immer seine Rasse in einer solchen Situation gerettet hatte.

Ryon ließ Paiges Arme los, nur um im nächsten Moment seine um sie zu legen und sie an sich zu drücken, so dass sie selbst fast den Boden unter den Füßen verlor. Sein Gesicht vergrub er an ihrem Hals, in ihrem Haar, wo er tief und schwer ein und ausatmete.

Es war so falsch, sie für so etwas zu missbrauchen, aber in diesem Moment war ‚Erdung‘ die einzige Möglichkeit seinen Gefühlen noch Herr zu werden, ehe er noch unverzeihlichere Dinge tun konnte.
 

Paige war zusammen gezuckt, hatte in einer schützenden Geste ihr Gesicht von Ryon weggedreht und ihre Augen hatten sich in der Erwartung einer heftigen Reaktion zu Schlitzen verengt.

Doch außer, dass er ihre Hände von seinem Arm zupfte, als hätte sie nicht mehr als die Kraft eines kleinen Kindes, passierte nichts.

Hatte sie denn tatsächlich damit gerechnet, dass er sie schlug?

Ihr Herz hämmerte auf den Schreck hin so stark in ihrer Brust, dass sie das Gefühl hatte, die Erde würde sich auf einmal langsam aber sicher unter ihr wegdrehen.

Als Ryon ihren Namen zischte, war sie bereit ihre Hand aus seinem Griff zu winden und wegzulaufen. Oder ihn gehen zu lassen. Je nachdem, was die sicherste Möglichkeit war, diesem brenzligen Augenblick zu entkommen. Denn dass es allmählich brenzlig wurde, konnte sie an dem Jucken spüren, das sich über ihren gesamten Körper fortpflanzte.

In den nächsten Sekunden würde jeder, der dieser offensichtlich auffallenden Szene auf der belebten Straße zusah, bemerken, dass Paiges Haut sich veränderte. Dass ein dunkelroter Farbton sie überzog und ihr Schuppenkleid wie viele kleine Perlen im Sonnenlicht blinkte.

Und trotz allem brachte sie keinen Ton über die Lippen. Nicht einmal das Natürlichste, was jetzt angebracht gewesen wäre. Ryons Worte verwirrten sie so vollkommen, dass ein 'Lass mich los.' den Weg von ihrem Verstand in ihren Mut nicht finden konnte.

Zuerst verstand sie nicht, wovon er da überhaupt redete. Sie solle sich nicht die Schuld für etwas geben? Aber sie hatte doch gar nicht... Natürlich war sie weder für Marlenes Tod noch für Ryons Zustand deswegen verantwortlich. Aber das hieß ja nicht, dass sie nicht etwas rücksichtsvoller mit dem Thema umgehen konnte. Sonst würde er immer...

Als er sie ein Stück auf sich zu zog, stolperte Paige über etwas in der Größe eines Kieselsteins. Vielleicht war es auch ihre eigene Schuhspitze, aber es brachte sie auf jeden Fall aus dem Gleichgewicht.

Nach seiner völlig unerwarteten Reaktion wusste Paige nicht, mit was sie als nächstes rechnen sollte.

Seine Augen, in die sie starrte wie ein in die Enge getriebenes Tier, zeigten ihr wie zu erwarten war überhaupt nichts. Sie waren nicht dunkel, kaum mattes Schwarz breitete sich aus, aber Paige konnte Ryon in diesem Moment trotz der flammenden Gefühle, die sich in seinen Augen zeigten, nicht einschätzen. Sie war verdammt nochmal zu weit gegangen.

Der Schlag ihres Herzens, der auf Ryons Umarmung folgte, war so heftig, dass er ihr die Luft nahm. So groß war die Überraschung, dass die Panik mit der Erleichterung für einen Moment zusammen schwang.

Paige wollte gleichzeitig wegrennen und wagte nicht, sich zu bewegen. Ryons Gesicht war so nah an ihrem Nacken, sein Mund so nah an ihrem Hals, dass sie mit jedem seiner Atemzüge, die gegen ihre Haut schlugen, die Gefahr spüren konnte.

Und dennoch würde sie ihn nicht verletzen. Es war dumm. So an ihn gedrängt stand Paige einfach da, sah über seine Schulter hinweg hinauf in den blauen Himmel, bis die Luft vor ihr zu flimmern begann.

Sie hätte ihn zwingen können sie loszulassen. Ihre Hände waren zwischen ihren Körpern, die Handflächen vor ihre eigene Brust gedrückt. So leicht hätte sie seinen Körper durch seine Kleidung in Brand stecken können. Aber sie tat es nicht. Stattdessen hielt sie es aus. Sie ließ es zu, das er all seine aufgestauten Gefühle auf ihre Schultern lud, sodass sie das Gefühl hatte, sie müsse jeden Moment unter dem Gewicht in die Knie gehen. Zumindest dafür war sie gut.
 

Alles was er konnte war einatmen … ausatmen. Stets tief den vertrauten Duft ihres Körpers in sich aufzusaugen, der ihm schon einmal geholfen hatte.

Das Gefühl ihrer kühlen Haut auf seiner, die Weichheit ihres Haars auf seinem Gesicht. Wie sich ihr Körper unter seinen Händen anfühlte. Der rasende Herzschlag, der sowohl zu ihm als auch zu ihr zu gehören schien.

Wäre Paige nicht jemand, dem er inzwischen vertraute, die Erdung durch Berührungen hätten nicht geholfen. Es wäre nur schlimmer geworden. Aber da sie es war, die es einfach zu ließ, wie er sie für seine eigenen Bedürfnisse ausnutzte, beruhigten sich seine hoch schlagenden Gefühle allmählich. Die Wut verschwand. Zuerst langsam, danach aber sehr rasch, bis sein Verstand wieder richtig einsetzte.

Dennoch ließ er sie nicht los, obwohl sie wie ein menschlicher Blitzableiter das schlimmste Unwetter verhindert hatte.

Es fiel ihm nur noch schwerer, jetzt, da er sich der Tragweite seines Handelns bewusst wurde. Wie hatte er das nur tun können?

Völlig unvermittelt ließ er schließlich doch von ihr ab, trat sogar einen Schritt zurück, um wieder Abstand zwischen sie beide zu bringen. Dadurch wurde das plötzliche Gefühl der Leere an seinem Körper sehr deutlich, aber er ignorierte es einfach. Stattdessen starrte er zu Boden, nicht wissend, was er nun sagen sollte.

Er war ein absoluter Idiot. Mit jedem Wort das er sagte, mit jeder Handlung die er tat, schien er alles nur noch schlimmer zu machen. Was vor einiger Zeit als unkomplizierte Partnerschaft zwischen ihm und Paige begonnen hatte, verstrickte sich dank seiner Unfähigkeit zur Beherrschung und Eingeständnis seiner Schwächen zu einem immer größer werdendem Wirrwarr. Dass Paige nicht schon längst die Schnauze voll von ihm und seinen Launen hatte, war da wirklich ein Wunder. Er hatte den Bogen bereits weit überspannt.

„Ich kann nicht mehr…“, gestand er schließlich sich selbst so leise ein, dass sie es wohl kaum noch hören konnte. Immerhin herrschte um sie herum reges Treiben, das er selbst jetzt noch nicht richtig mitbekam.

„Dieses auf und ab, das hin und her meiner Gefühle… Ich halte das nicht länger aus. Entweder ich stelle es ganz ab oder ich werde noch wahnsinnig… Und dass ich auch noch damit beginne, dich da hinein zu ziehen… Das kann ich noch weniger zulassen.“

Langsam hob er den Kopf, zwang sich dazu in ihre Augen zu sehen.

„Wenn du es noch willst, begleite ich dich zu der Grabstätte, aber bis dahin…“ Musste er alleine sein. Über alles nachdenken. Immerhin hatte er Paige vorhin in seinem Ausbruch mehr offenbart, als er vorgehabt hatte. Es wäre also nur recht, wenn er ihr mehr darüber erzählte, nun, da er sie so schamlos ausgenutzt hatte. Sie verdiente eine ehrliche Antwort auf Fragen, die sie nicht aussprechen würde. Das war er ihr schuldig und sich selbst vielleicht auch.

„…bin ich in meinem Zimmer.“, beendete er den Satz.
 

Mit jedem Schlag wurde ihr Herz schwerer, zog sie mit jedem Wort, das Ryon ihr auf die Schultern legte noch mehr hinab. Er hatte ihr gesagt, dass es nicht ihre Schuld war. Aber andererseits, erklärte und handelte er hier gerade nach dem Gegenteil.

Als sie ihm in die Augen sah und darin lesen konnte, dass er mehr als die Wahrheit sagte, hatte sie das Gefühl zu ertrinken. Und mit einem Mal wusste Paige, warum es weh tat. Nicht, dass er sie erneut von sich schob, auch nicht, dass er allein sein wollte...

Um ihn daran zu hindern wieder wegzulaufen, legte sie ihm eine Hand flach auf die Brust. Was sie tun wollte, wog inzwischen so schwer, dass es sie mit all dem, was sie wusste, was Ryon ihr gesagt und auch nicht gesagt hatte, hinunter zog. Paige konnte Ryon nicht ansehen, als sie leise auf das antwortete, was er ihr gesagt hatte.

„Nein, das will ich nicht.“

Etwas in ihr spannte sich, drückte in ihrer Brust so fest zu, dass sie wieder kaum Luft bekam.

„Es ist nicht ganz so, wie du gesagt hast.“

Mit jedem Wort wurde der Druck höher, wollte sie davon abhalten weiter zu sprechen und wieder einmal in ihrem Leben alles kaputt zu machen.

„Ryon, ich weiß es. Tyler und Tennessey haben es mir erzählt. Ich weiß, warum du so bist, wie du bis zu unserer ersten Begegnung warst.“

Noch nie zuvor hatte Paige sich so wichtig genommen, dass sie einen Menschen verändern konnte. Auch jetzt kam sie sich lächerlich dabei vor, aber es stimmte nunmal.

„Du hast dich verändert. Man kann es an deinen Augen sehen. Und...“

Irgendetwas musste sie hinunter schlucken. Es schmeckte seltsam, aber davon ließ sich Paige nun auch nicht mehr aufhalten.

„Und ich sehe doch, dass es sehr wohl meine Schuld ist. Jedes Mal, wenn... wenn wir uns irgendwie … näher … zu nah … sind... Zuerst wirkst du eigentlich ganz glücklich.“

Entweder hatte ihr Herz aufgehört zu schlagen oder der Schmerz war bereits so groß, dass sie es einfach nicht mehr spürte. Genauso wenig wie die einzelne Träne, die ihr die Wange hinunter lief, während ihre Lippen leicht zitterten.

„Und dann geht es wieder verloren.“

Langsam, als wäre sie tonnenschwer, ließ Paige ihre Hand sinken.

„Ich weiß nicht, was das Beste für dich ist, aber ich glaube zu wissen, dass ich es nur noch schlimmer mache.“

Völlig ernst blickte sie nun doch zu ihm auf. In diesem Moment, als sie seine Augen sah, das grün und blau um die Pupillen schrie sie sich innerlich selbst dafür an, dass sie nicht besser auf sich acht gegeben hatte.

„Glaub mir, ich wollte das nicht. Und es wäre mir sehr viel lieber, wenn ich um unser beider Willen meine Gefühle so abstellen könnte wie du. Denn jedes Mal mit ansehen zu müssen, wie du dich quälst, weil ich dich mit irgendetwas an sie erinnert habe, weil ich etwas Falsches gesagt oder getan habe... Das halte ich nicht aus.“

Nun trat sie ihm aus dem Weg. Machte den Weg frei, damit er in sein Zimmer gehen und wieder seine eisige Maske aufsetzen konnte. Trotz allem konnte sie nicht behaupten sie hätte lieber nicht gesehen, was sich darunter verbarg. Es war schon längst zu spät, um sich selbst zu belügen.

„Tu was du tun musst. Aber dann erbitte ich mir auch wenig Zeit mich darauf einzustellen. Ich kann dir Morgen erzählen, was ich von Professor Abraham erfahren habe.“
 

Sie wusste es? Tyler und Tennessey hatten es ihr einfach gesagt? Das was er selbst kaum in Worte aussprechen konnte?

Ryons Herz pochte schmerzhaft gegen Paiges flache Hand auf seiner Brust, während er versuchte ihren Worten zu lauschen. Natürlich wusste er, dass seine Freunde es nur gut gemeint hatten, das änderte trotzdem nichts daran, dass er sich verraten fühlte.

Wut keimte erneut in ihm auf, erlosch dann aber schnell, als er in Paiges Augen blickte. Es war ohnehin egal geworden. Selbst wenn sie es noch nicht gewusst hätte, so hätte er diese Tatsache durch seinen Ausbruch vorhin selbst geändert.

Erst als sie ihre Hand von ihm nahm und er das Gefühl hatte, als würde die Stelle sofort vereisen, da ihre Haut sie nicht mehr wärmte, brachte er die Kraft auf, über ihre Worte nachzudenken.

Sie war sehr aufmerksam, das ließ sich nicht leugnen. Denn Paige hatte genau oder zumindest sehr nahe an der Wahrheit das wiedergegeben, was ihn schon die ganze Zeit über so beschäftigte.

Vielleicht war es daher kein Wunder, dass sie sich die Schuld für seine eigene Zerrissenheit gab. Von einem anderen Standpunkt aus betrachtet, entspräche das vermutlich auch der Wahrheit, aber Ryon sah es nicht so. Er wollte es nicht so sehen. Paige war nicht daran schuld, dass er nicht mehr mit sich selbst klar kam. Sie hatte ihm mit ihren guten Absichten geholfen, ertrug seine Nähe trotz seines schwierigen Charakters und obwohl er stets unberechenbar blieb, war sie nie von seiner Seite gewichen. Ganz im Gegenteil. Selbst dann hatte er immer noch auf sie zählen können. Das war nicht fair.

Ihr gegenüber war das einfach nicht fair. Sie gab ihm so viel, ohne es wirklich zu wissen und er nahm einfach nur willkürlich. Stieß sie von sich, zerrte sie wieder zu sich, nur um sie erneut wieder von sich zu stoßen. Das war nicht nur grausam, sondern ganz und gar barbarisch!

Letztendlich war das der schwerste Grund, weshalb er seine Entscheidung fällte. Eine, so war er sich sicher, die alles vollkommen verändern würde. Nicht unbedingt zum Guten.

Als er zu sprechen begann, hob er die Hand, um ihr die Träne von der Wange zu wischen, doch in Anbetracht dessen, was er zu sagen hatte, ließ er seine Hand wieder sinken. Das alles musste ein Ende haben. Er wollte sie nicht noch mehr verletzen.

„In diesen Momenten, Paige … war ich so glücklich, wie es mir in meiner derzeitigen Lage möglich war. Allerdings auf deine Kosten und das will ich dir nicht mehr antun. Du verdienst mehr als ich dir als Freund oder als…“

Einen Moment lang kam er ins Stocken, weil er gar nicht so genau wusste, was genau er mit seinem angefangenen Satz noch alles hatte ausdrücken wollen. Als läge gerade etwas von seinem Unterbewusstsein auf seiner Zunge, anstatt sein Verstand. Ryon gab ihm allerdings nicht die Chance, es auszusprechen.

„Du verdienst Besseres. Dinge die ich dir niemals geben könnte. Darum werde ich dich in Zukunft von meinen Launen fern halten. Du bist ein wunderbarer Mensch, Paige. Ich will das nicht zerstören.“

Er wandte sich zum Gehen.

„Melde dich wegen der Ausgrabung bei mir, wann du bereit dazu bist. Bis dahin lass ich dich in Frieden … Pass auf dich auf, Paige.“

Ryon ging, ohne sich noch einmal umzudrehen. So bleischwer seine Beine auch mit jedem Schritt wurden, er zerrte sich selbst weiter. Zwang sich für jeden einzelnen Schritt, der ihn von ihr weg brachte. Er tat das Richtige, da war er sich sicher. Auch wenn er den bereits angerichteten Schaden niemals würde gut machen können, so konnte er doch versuchen, nicht noch mehr Zerstörung zu verursachen.
 

Seine Augen waren golden, mit Blau- und Grüntönen gesprenkelt, die man nur erkennen konnte, wenn man tief genug hinein blickte. Seine glänzend schwarze Pupille passte sich den Lichtverhältnissen an, als er einmal in das Deckenlicht des Badezimmers sah, ehe er wieder sein eigenes Spiegelbild anblickte.

Man mochte meinen, seine Augenfarbe könnte etwas über sein Innerstes erzählen, doch tatsächlich war es nicht die Farbe, die seine Seele widerspiegelte, sondern der kalte, puppenähnliche Glanz darin. Glasaugen … wie die eines ausgestopften Tieres. Gänzlich ohne Leben darin.

Nachdem Ryon mit dem festen Entschluss, alledem endgültig einen Riegel vor zu schieben, in sein Zimmer gekommen war. Bedurfte es seltsamerweise nicht mehr sehr viel, um sich innerlich selbst auszuhöhlen.

Vielleicht war schon längst der Anfang dafür gemacht worden und er hatte dadurch sein Tier deshalb nicht mehr spüren können. Wann und wodurch auch immer es begonnen hatte, Ryon hatte diese Entwicklung schließlich beendet.

„Lenn … Layla … Paige…“

Seine Stimme war ruhig, täuschend warm, aber dahinter herrschte pures Nichts. Genauso wie das, was in ihm vor ging, während er die Namen der Personen aussprach, die bisher am meisten dazu in der Lage waren, ihn aufzuwühlen.

Ryon zwickte sich in den Unterarm, so dass er einen kleinen roten Bluterguss bekam. Sein Körper spürte interessanterweise dennoch Schmerz und er reagierte auch darauf, in dem er seinen Arm automatisch wegziehen wollte, aber es kümmerte ihn nicht.

Selbst als er mit seinen Fingern die Narbe um seinen Hals nach zeichnete und sich mit geschlossenen Augen daran zurück erinnerte, wie man sie ihm zugefügt hatte, waren die damaligen Gefühle doch nur noch ein schwacher Abglanz, der ihn jetzt in keinster Weise mehr rührte.

Das war interessant. Oder zumindest sollte es das sein. Ryon zuckte mit den Schultern, ehe er das Licht im Bad ausknipste und sich mit dem Tagebuch von Mr. Grant auf seine Couch setzte, um es noch einmal von vorne zu lesen. Hinweise waren alles, was in jetzt noch interessierte und eine Antwort darauf, wie er das Amulett und die damit verbundenen Menschen beschützen konnte.

Lange genug hatte er auf der faulen Haut gelegen. Es wurde Zeit auch einmal in die Gänge zu kommen. Immerhin konnte er nicht zulassen, dass Paige die ganze Arbeit auf sich nahm. Auch wenn er sie im Augenblick wieder in Stich ließ, was die Ausgrabungsstätte anging. Doch er respektierte ihren Wunsch und würde sich an ihre Abmachung halten. Er würde sie in Ruhe lassen.

30. Kapitel

Paige lief.

Es war Vormittag gewesen, als sie sich am Hotel getrennt hatten und seitdem war sie gelaufen. Durch die völlig fremde Stadt, ohne Plan und ohne Ziel. Einmal nur spazierend, dann schneller, bis sie regelrecht eine Straße hinunter rannte, ohne die Passanten neben ihr auch nur zu beachten. Bei all dem dachte sie nach. Darüber, was Ryon gesagt und getan hatte. Was sie selbst gesagt hatte und dass er es sehr wohl verstanden und ihr einen Tritt verpasst hatte. Denn nichts Anderes war es gewesen.

Wutschnaubend rannte sie eine Uferpromenade hinunter, registrierte mit grimmiger Zufriedenheit, dass sie an irgendeiner Ziermauer hängen blieb und sich einen blauen Fleck holte. Aber leider noch kein Grund ihre Wut hinaus zu schreien.

„Auf meine Kosten... Auf meine Kosten?!“

In einer kleinen Seitenstraße angekommen schrie sie nun wirklich und trat mit voller Wucht gegen eine Regenrinne. Ihr Fuß schmerzte, konnte aber kein einziges ihrer aufgewühlten Gefühle ausradieren. Im Gegenteil, es machte sie nur noch wütender.

„Was glaubt er eigentlich, wer er ist?! Jesus?“

Wieder ein Tritt, diesmal gegen die sandfarbene Steinmauer des Gebäudes. Und diesmal tat es in befriedigender Weise so weh, dass sie nur noch unter einem Stechen auftreten konnte.

Sie lief weiter. Gedanken drehten sich in ihrem Kopf hin und her, rangen miteinander wie zwei Kämpfer.

„Wie gnädig von ihm, dass er mich nicht nur vor seinen, sondern auch gleich vor meinen Gefühlen beschützen will! 'Du bist ein wertvoller Mensch, Paige'...“, äffte sie den Satz nach, der ihr mir am Meisten aufstieß.

„Wie kann er sich erdreisten, anzunehmen, ich würde mich verändern, weil er mir ein wenig ins Haar schnurrt?!“

Und außerdem war sie kein Mensch! Das fiel ihr erst jetzt ein, da sie tatsächlich den Stadtrand und unbelebtes Ufer am Nil erreicht hatte. Sie wollte Wut loswerden. Energie, die sich in Form aufgestellter Schuppen bereits an einzelnen Stellen durch ihre Kleidung kratzte.
 

Der Raum war klein und in einem rauchigen Grün gekachelt. Lediglich eine Metallbank war mit dem Boden verschraubt und brachte Paiges Hintern nicht nur dazu langsam taub, sondern eiskalt zu werden. Mit den Ellenbogen auf den Knien, ihr Gesicht in die Hände gestützt, sah sie nur ab und zu auf, wenn jemand an der kleinen Zelle vorbei ging.

Ihr gegenüber war eine Tür mit einer Glasscheibe, durch die sie die obere Hälfte des Kopfes des Polizisten sehen konnte, der sie hierher gebracht hatte.

Was musste auch genau dann eine Streife an der Promenade vorbei flankieren, wenn sie ihre aufflammende Wut an ein paar unschuldigen Felsen ausließ?

Das Feuerzeug, das sie benutzt hatte, um die Steinbrocken derart zu schwärzen, hatte man zwar nicht bei ihr gefunden – wahrscheinlich in den nahen Nil geworfen – aber für eine derartige Gefährdung der nahe liegenden Stadt wanderte sie erstmal in Untersuchungshaft.

Und da Paige sich strikt weigerte den Namen ihres Hotels oder jemanden anzugeben, den man informieren sollte, würde sie wohl zumindest die Nacht hier verbringen. Na, vielleicht war es ganz gut, wenn sie sich den Arsch ein bisschen abfror.

Bloß um das Treffen mit Professor Abraham tat es ihr leid. Nicht etwa, weil sie vorgehabt hatte, Ryon mit glänzenden Ergebnissen zu kommen, damit er...

„Die mangelhafte Beherrschung hast du anscheinend von deiner Mutter geerbt.“

Eine Stimme ließ sie aus ihren Gedanken hochschrecken.

Entgeistert sah sie den Mann an, der dort vor ihrer Zellentür stand und dem Polizisten zunickte, der mit einem Schlüsselbund in der Hand ebenfalls auf sie zutrat.

„Professor Abraham?“
 

Er rieb sich die Schläfen, nachdem er beinahe das halbe Buch durchgelesen hatte. Ein Ziehen unter seinen Fingerkuppen zwang ihn dazu, das Lesen vorerst auf Später zu verschieben und stattdessen seinen Wasservorrat wieder aufzufüllen. Kopfschmerzen waren durchaus ein Anzeichen für Wassermangel. Zumindest laut Tennessey.

Also legte er das Buch beiseite, fischte nach eine der Wasserflaschen und trank diese halb leer, ehe er sie wieder abstellte.

Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass Paige wohl langsam auf dem Weg zu diesem Professor Abraham sein müsste. Allerdings war er entweder so sehr in das Buch vertieft gewesen oder sie hatte seit heute Morgen ihr Zimmer nicht mehr betreten.

Die Wände dieses Hotels waren zwar ausgezeichnet Schallisoliert, aber für sein feines Gehör war das natürlich nicht unbedingt ein Hindernis. Immerhin hörte er selbst jetzt, dass im Nebenzimmer jemand telefonierte, auch wenn er nicht den Inhalt verstand. Kein Wunder, dabei handelte es sich auch um Arabisch.

Da Ryon erst warten wollte, bis das Ziehen in seiner Stirn nachgelassen hatte, ehe er sich weiter in den Inhalt des Buches vertiefte, stand er auf und trat an das große Fenster. Sein Blick schweifte hinaus, ohne dass er etwas wirklich mit den Augen registrierte.

Eigentlich wollte er nicht an den Vormittag denken, der so grundlegend alles verändert hatte, aber da seine Gedanken nun nicht mehr beschäftigt waren, ließ sich das nicht vermeiden.

Immer wieder ließ er das Gespräch mit Paige Review passieren, kam aber zu dem Schluss, dass diese Eskalation sich auf Dauer nicht mehr hätte vermeiden lassen. Er war zu instabil geworden. Dabei hatten sie eine Aufgabe zu erfüllen, damit sie so bald wie möglich wieder in Frieden ihre Wege gehen konnten.

Mit einem Ruck wandte sich Ryon von dem Panoramablick ab und setzte sich stattdessen an den Schreibtisch.

Während der Computer hoch fuhr, machte er sich bewusst, dass er nun wenigstens den klaren Kopf dafür besaß, seine Gedanken auf die Nachforschungen zu richten und auf nichts anderes.

Zwar würde er für weitere Erkenntnisse Paiges Ausflug zur Grabstätte abwarten müssen, aber das hieß nicht, dass er die Zeit ungenützt lassen wollte. Also öffnete er den Internetexplorer und machte sich im Netz auf die Suche nach verschiedenen Stichwörtern.

Vermutlich würde er sehr viel Müll vorfinden, aber in jeder Geschichte steckte auch ein Fünkchen Wahrheit und in diesem Fall, wollte er dem Funken folgen, der ihm vielleicht etwas mehr über die Welt die ihn umgab berichten konnte.

Hexen, Magier, Fabelwesen, Zauber und Banne. Er hatte gewusst, dass es all diese Dinge gab, hatte sich bisher aber nie die Mühe gegeben, sich näher damit zu befassen. Seine Rasse glaubte an das Übernatürliche, waren sie doch selbst auch ein Teil davon, dennoch reichte es für Gewöhnlich aus, zu wissen, wie man unerkannt unter den Menschen leben und überleben konnte. Alles was darüber hinaus ging, lag alleine an dem Interesse daran und ob der Bedarf dafür vorhanden war.

Ryon fand, dass es nun an der Zeit war, diese magische Welt näher zu studieren, immerhin befand er sich inzwischen mittendrin.
 

Paige starrte zum vielleicht tausendsten Mal an diesem Abend das kleine Foto in ihrer Hand an. Es zeigte einen Mann und eine Frau. Professor Abraham hätte Paige nur mit Mühe und Not und wohl vor allem wegen des akkurat gestutzten Schnurrbarts erkannt.

Um allerdings zu wissen, wer die Frau neben ihm war, die breit in die Kamera lächelte, dafür hatte Paige keinen Sekundenbruchteil gebraucht. Sie sah ihre eigenen dunklen Haare, die gleichen geschwungenen Lippen und ein paar helle Augen, die immer so voller Wärme gewesen waren.

„Wir kannten uns schon vor deiner Geburt. Damals habe ich in London gearbeitet und Sarah bei einem Vortrag kennen gelernt. Wir haben uns gut verstanden, ein paar Mal waren wir zusammen mit meiner Frau aus, bis sie... Bis sie deinen Vater kennen gelernt hat.“

Paige streichelte mit dem Daumen über die Fotografie und blickte dann geduldig zu dem Mann ihr gegenüber auf der Couch auf. Sie wollte, dass er weiter erzählte. Auch wenn sie längst wusste, was kommen würde. Und dass es nichts Gutes war.

„Zuerst war sie glücklich. Sogar freudestrahlend, als sie schwanger mit dir war und du dann zur Welt kamst. Aber...“

Jetzt lächelte sie aufmunternd und nahm dem Professor die nächsten Worte ab, die ihm zuzusetzen schienen. Sie waren wohl sehr gut befreundet gewesen. Auch wenn Paige sich nicht erinnern konnte, dem Professor früher schon einmal begegnet zu sein.

„Sie hat sich verändert.“

Die Aussage klang nüchtern. Nicht zum ersten Mal vollzog die Tochter nach, was ihre eigene Mutter durchgemacht haben musste. Mit einem Mann, der sie zwar liebte...

„Mein Vater hat sie verändert.“

Stanley Abraham nickte langsam und mit Bedauern in seinen Augen.

„Professor, ich weiß, was passiert ist. Ich war dabei.“

Nun stahl sich ein kleines, schwermütigs Lächeln auf Paiges Gesicht, während sie noch einmal ihre Mutter auf dem Bild betrachtete. Zu einer Zeit, als sie noch glücklich gewesen war.

„Er hat sie krank gemacht. Vielleicht nicht so direkt, wie manch Anderen, den er seinen Experimenten direkt ausgesetzt hat... Aber es war letztendlich seine Schuld.“

„Paige...“

„Ich hab es ihr nie verübelt, dass sie gegangen ist.“

Und dass sie ihr Kind zurück gelassen hatte. Früher hatte sie oft darüber gegrübelt, warum ihre Mutter sie nicht einfach mitgenommen hatte. Jetzt bestätigte ihr der Mann, den sie erst seit einem Tag kannte und der sich als Vertrauter ihrer Mutter heraus gestellt hatte, was sie sich selbst als junges Mädchen zurecht gelegt hatte.

„Sie war nicht mehr bei Verstand. Ich habe Sarah nur noch einmal gesehen, nachdem sie aus der World Underneath geflüchtet ist. Es war...“

Er musste den Satz nicht beenden, denn Paige konnte in seinen Augen lesen, was es gewesen war. Ein leichtes Glitzern hinter den Brillengläsern verriet genug.
 

Den Großteil der Nacht hatte er damit verbracht, im Internet zu recherchieren. Doch als es immer später wurde und er immer noch nicht hören konnte, dass Paige wieder zurück war, da liefen die endlosen Berichte, Texte und Bilder nur noch ungesehen vor seinen Augen ab. Dass er keine Ruhe fand und schließlich sogar aufstehen musste, um sich etwas zu bewegen, war das einzige Anzeichen dafür, dass er sich wohl Sorgen machte. Wenn er aber versuchte, dieses Gefühl in sich selbst zu finden, war da nur Leere.

Bestimmt übertrieb er es mit dem Denken auch. Sie war erwachsen. Sie konnte auf sich aufpassen und wenn die Ausgrabungsstätte weiter weg war, konnte es durchaus sein, dass sich alles verzögert hatte.

Außerdem hatten sie keinen Zeitpunkt ausgemacht, an dem sie sich treffen würden, um sich auf den neuesten Stand zu bringen, was die Nachforschungen anging. Also kein Grund, sich irgendwelche Bilder in den Kopf zu projizieren, die nicht nur völlig absurd waren, sondern ohnehin nichts in ihm bewirkten. Außer, dass sein Körper rastlos blieb und das Ziehen in seinen Schläfen beständiger Teil dieser Nacht wurde.
 

Die halbe Nacht hatten sie im Wohnzimmer des Professors – Stanley – gesessen. Sich über Sarah unterhalten und über die guten Zeiten, die sie vor dem Auftauchen von Paiges Vater zusammen gehabt hatten. Paige brannte darauf mehr über das glückliche Leben ihrer Mutter zu erfahren. Immerhin hatte sie sehr wenig davon selbst miterlebt.

Erst gegen zwei Uhr morgens kamen sie zu dem Schluss, dass Paige nicht ins Hotel zurück fahren sollte. Es war spät und in der Wohnung gab es ein Gästezimmer, das laut Stanleys Aussage sowieso viel zu wenig genutzt wurde.

„Bloß eine Zahnbürste kann ich dir leider nicht anbieten.“

Aber eine Nacht lang würde sie das aushalten. Am nächsten Morgen wollten sie dann den geplanten Ausflug zur Ausgrabungsstätte nachholen.

Ein leichtes Brennen lief durch Paiges Körper, als sie das an den Vormittag erinnerte.

Aber sie würde nicht mehr daran denken. Denn das hatte der Kerl gar nicht verdient. Wegen ihm würde Paige sich nicht ihren wohl verdienten Schlaf nehmen lassen!

Das sagte sie sich immer wieder, während sie sich hin und her warf, die Augen mit Gewalt geschlossen hielt und trotzdem nur für wenige Phasen döste, statt wirklich tief einzuschlafen. Erst gegen Morgen, als es hell im Zimmer wurde, war ihr doch etwas Erholung vergönnt. Und der Professor war so rücksichtsvoll sie erst gegen zehn mit einem leisen Klopfen an der Zimmertür zum Frühstück zu bitten.
 

Als der Morgen graute, fuhr Ryon den Computer wieder herunter, bestellte sich für seinen hungrigen Magen etwas zu Essen, da er bis auf das Frühstück gestern, nichts mehr zu sich genommen hatte und starrte sein Handy an, während er auf den Zimmerservice wartete.

Ryon wartete nicht auf einen Anruf oder eine Nachricht. Stattdessen überlegte er sich, was er schreiben könnte.

Natürlich war es schwierig nach dem gestrigen Gespräch irgendwo anzuknüpfen, aber er musste sich auch fragen, was wichtiger war. Paiges derzeitigen Aufenthaltsort und ihren Gesundheitszustand zu kennen, oder lieber im Dunklen zu tappen, nur weil er nicht die rechten Worte fand?

Rationell betrachtet, war das was er tat, vollkommener Unsinn. Weshalb er gerade zu seinem Handy greifen wollte, als es an seiner Zimmertür klopfte und das bestellte Essen eintraf.

Für den Moment schob er den Anruf noch einmal auf, um vielleicht während des Frühstücks zu den richtigen Worten zu finden.

Da es sich hierbei wie immer um eine gewaltige Menge an Essen handelte und er grundsätzlich nicht schlang, verging eine beträchtliche Zeit damit, bis er fertig war. Allerdings hatte ihn das trotz allem noch zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis geführt.

Schließlich schnappte er sich einfach das verdammte Handy, klappte es auf und begann kurz und bündig zu tippen.

Ohne zu zögern, drückte er auf den Sendeknopf, legte es wieder auf den Tisch und wartete, während er im Geiste noch einmal den Text durchging.

‚Dein Zimmer ist leer. Bist du wohl auf? Mache mir Gedanken darüber, ob dir etwas passiert ist. ~Ryon‘
 

Nach dem Frühstück waren sie direkt zu der Stelle gefahren, an der Paige nun zwischen Sand und einigen Felsbrocken stand. Wenn sie ehrlich war, hatte sie sich mehr von einer Ausgrabungsstätte erwartet. Aber sie musste auch bedenken, dass das ganze bereits über ein Jahrzehnt her war. In all diesen Jahren hatte der Wind, der auch jetzt heiß über sie hinweg wehte, eine Menge Sand über die Spuren der Ausgrabung gehäuft. Nur ein dunkler Eingang zwischen zwei Felsen, die wie ein dreieckiger Torbogen aussahen, war übrig geblieben. Das Gebäude dahinter hätte Paige weder hier vermutet, noch es irgendwie mit ihrer Vorstellung von Ägypten zusammen gebracht. Es sah eher aus wie eine einfache Hütte keltischen Ursprungs. Sogar ein paar verschnörkelte Zeichen waren an den beiden Torsteinen angebracht, über die Paige interessiert ihre Finger streichen ließ.

„Wir haben uns damals schon darüber gewundert.“, meinte der Professor neben ihr, der mit seinem alten Tropenhelm einen durchaus komischen Eindruck machte. Allerdings war Paige, der die Sonne aufs dunkle Haar herunter brannte eher neidisch als amüsiert über sein Aussehen.

„Aber aus unerfindlichen Gründen hat niemand der Tatsache, dass die Kelten niemals hier gewesen sind, irgendwelches Interesse beigemessen.“

Mit einem großen weißen Taschentuch wischte er sich ein paar Schweißperlen von der Stirn und machte dann eine einladende Handbewegung.

„Komm', lass uns rein gehen. Drinnen ist es kühler.“
 

Der Großteil des seltsamen, runden Baus war unterirdisch und einfach gestaltet. Ein vollkommen runder Raum, mit Zeichnungen an den glatten Wänden und einem Altar in der Mitte.

„Ausgerichtet ist es in keine bestimmte Himmelsrichtung. Aber mir ist von Anfang an das Loch in der Mitte aufgefallen.“

Paige trat vorsichtig an den Steinblock heran und beugte sich über die Stelle, die Stanley mit einer kräftigen Taschenlampe beleuchtete. Das Loch war kein wirkliches Loch. Lediglich eine Vertiefung im Stein, von der aus sich filigrane Muster über die Oberfläche des Altars zogen.

„Es mag lächerlich klingen, Professor, aber ... für mich sieht das fast wie ein Schlüsselloch aus.“

Eifrig nickte der ältere Mann und Paige konnte Begeisterung in seinem Blick aufflammen sehen.

„Das Gleiche dachte ich auch. Und sieh hier!“

Der Strahl der Taschenlampe ließ Paige für einen Moment völlig im Dunkeln, bis sie dem Professor folgte, der hinter dem Altar in die Hocke gegangen war und ihr dort eine Art Schublade zeigen wollte.

„Auf der anderen Seite ist ebenfalls eine. Hier drin habe ich ein steinernes Gefäß mit dem Amulett gefunden, das vor einigen Jahren aus Mr. Grants Besitz gestohlen wurde. In der anderen Schublade lag nichts. Aber der Einbettung nach nehme ich stark an, dass dort ein zweites Schmuckstück lag.“

„Das Gegenstück.“

„Ganz genau.“
 

Paige starrte einige Zeit mit einem mulmigen Gefühl auf das Display ihres Handys. Zweimal hatte sie die SMS gelesen und sie wusste, dass sich alles in ihr noch mehr sträuben würde, wenn sie es noch einmal tat. Also löschte sie kurzerhand die Nachricht und drückte stattdessen die Kurzwahltaste 1.

„Hier ist Paige. Ich bin gerade auf der Ausgrabungsstelle gewesen. Es gibt definitiv ein zweites Amulett und so wie es aussieht, sind die beiden eine Art Schlüssel. Es gibt einen Altar, in den Muster eingearbeitet sind und in eine Vertiefung passen die Amulette genau hinein. Was sie allerdings auf- oder verschließen sollen, weiß ich nicht.“

Sie hatte ihm keine Zeit gelassen außer dem 'Ja', mit dem er den Anruf entgegen genommen hatte, etwas zu sagen. Auch nachdem sie ihm ihre Informationen hingeknallt hatte, hätte sie am liebsten sofort wieder aufgelegt. Aber vielleicht hatte Ryon ja doch etwas zu sagen.
 

Bei dem Lärm in den Straßen hätte er das Klingeln seines Handys fast nicht gehört, weshalb er dankbar für den Vibrationsalarm war. Direkt in der Nierengegend hatte er den Ruf seines Handys zum Glück rasch mitbekommen.

Schnell zog Ryon es aus seiner Tasche, drückte auf ‚Annehmen‘ und schob sich mit einem ‚Ja?‘ in eine Seitengasse, um dem Trubel und dem Lärm etwas zu entkommen, dem er sich ausgesetzt sah.

Da er nicht auf das Display geachtet und somit eigentlich auch nicht mehr mit Paige gerechnet hatte, war er überrascht ihre Stimme zu hören.

So schnell wie sie ihm die gewonnenen Informationen herunter ratterte, hatte er Mühe, dem Faden zu folgen. Allerdings verschaffte ihm das anschließende Schweigen genau die Pause, die er brauchte, um die neuen Erkenntnisse zu verarbeiten.

„Kann jemand die Inschriften entziffern, um zu sehen, ob etwas über die Schmuckstücke niedergeschrieben wurde? Wenn es nun tatsächlich zwei sind und wir eines davon haben, können wir also vermutlich davon ausgehen, dass dieser Hexenzirkel wohl das Gegenstück dazu hat, oder es sich sicher bald beschafft haben wird.“

Es hätte nichts gebracht, auf Paiges Tonfall zu reagieren oder über irgendetwas anderes zu sprechen, als ihren Fund. Weshalb er es am Telefon auch dabei beließ, sich mit diesen Informationen zu beschäftigen.

Die Tatsache, dass sein Körper sich wenigstens jetzt etwas entspannte, da er ihre Stimme hatte hören können, ließ er einfach beiseite.

„Gibt es Hinweise darauf, wie die Amulette dorthin gelangt sind und in welcher Zeit?“

Wenn nichts darüber in den Inschriften stand, weshalb diese Schmuckstücke so wertvoll sein sollten, außer dass sie zusammen wohl als so eine Art Schlüssel fungierten, dann musste es doch auch noch wo anders Hinweise darauf geben, was für einen Zweck sie erfüllten. Immerhin waren diese Hexen nicht umsonst hinter dem Amulett her.
 

Paige versuchte so zu sein wie er. Völlig gefühllos nicht an sich heran zu lassen, was passiert war. Und auch nicht die Tatsache, dass ihr der Gedanke unangenehm war, ihn irgendwann wieder zu sehen.

"Professor Abraham hatte eine Abschrift der Zeichen. Mit einer Übersetzung kann er persönlich nicht dienen, aber es gibt eine. In Dublin."

Sie erinnerte sich an den modrigen Geruch des runden Raumes unter der Erde. Wie sie mit Stanleys Taschenlampe dagestanden und die Wände abgeleuchtet hatte. Eine ganze Geschichte war dort aufgezeichnet worden.

Ein Schauer durchlief Paiges Körper, obwohl sie hier wieder in der heißen Sonne und einige Meter von dem Torbogen entfernt stand.

"Es gibt Wandmalereien in dem Raum. Natürlich bin ich keine Expertin, aber Professor Abraham ist mit mir einer Meinung, dass die Amulette irgendetwas hinter Schloss und Riegel halten sollen, was sehr gefährlich ist."

Auf der Wand war es eine wabernde schwarze Masse mit feurig weißen Augen gewesen. Reißzähne hatte Paige wohl selbst nur in den leicht abgesprungenen Putz interpretiert. Zumindest hoffte sie das.

"Der Professor kann mir noch ein paar Aufzeichnungen zum Wann und Wie zeigen..."

Und dann? Sollte sie Ryon wieder anrufen? Irgendwann würde sie die Gastfreundschaft des Professors auch nicht weiter strapazieren können. Spätestens dann müsste sie ins Hotel zurück. Und einen Rückflug würde es ebenfalls geben.
 

Ryon hörte ihr genau zu, während er noch etwas weiter in die schmale Seitengasse zurück wich, um noch mehr Ruhe zum Nachdenken zu haben.

„Dublin in Irland?“, warf er kurzerhand ein, während er in Gedanken bereits bei dem war, was sie noch alles gesagt hatte.

Dass etwas Gefährliches geschehen könnte, wenn die beiden Amulette aufeinander trafen, war irgendwie vorauszusehen gewesen. Dieser Hexenzirkel war böse. Was also sonst sollten sie wollen, außer noch mehr böse Dinge zu tun?

Konnte es vielleicht sein, dass die Schmuckstücke nur zusammen irgendwie eine Wirkung hatten und sie ansonsten harmlos waren? Irgendwie konnte das Ryon nicht ganz glauben. Selbst wenn seines nicht verflucht war, in der Vergangenheit dieses Amuletts waren zu viele ungeklärte Unfälle und Tode. Das konnte einfach kein Zufall sein.

„Okay. Ich nehme dann an, dass du während du dir diese Aufzeichnungen ansiehst, bei dem Professor bleibst?“

Eigentlich wollte er nur sicher gehen, dass sie nicht sonst irgendwo in der Weltgeschichte herum reiste, ohne dass er davon wusste. Zwar hatte er keine Ahnung, wo genau dieser Professor Abraham wohnte, aber wenn er müsste, würde er es heraus finden. Trotz allem würde er Paige nicht einfach bedenkenlos in einem fremden Land herum streifen lassen. Er wollte nicht, dass ihr etwas passierte und konnte daher nur davon ausgehen, dass sie bei diesem Mann sicher war.
 

"Ja, das in Irland."

Paige verschränkte die Arme vor der Brust, während sie mit der Schuhspitze ein paar Steinchen durch die Gegend kickte. Welches Dublin sollte sie denn bitte sonst meinen? Gab es denn noch eins?

Ein Stein flog in hohem Bogen durch die Luft und sprengte Staub an einem der beiden Torsäulen hoch, als Paige kräftig dagegen trat.

'Was interessiert es dich denn, wo ich bleibe?!'

"Werde ich."

Sie legte auf.

Eigentlich hätte sie gern noch gewusst, wo Ryon selbst hinging. Ob er andere Spuren verfolgte und gar nicht auf die Idee kam, sie darüber einzuweihen. Warum sollte er auch?

"Dass du es gerade noch so erwarten kannst, bis sich unsere Wege wieder trennen."

Unzufrieden stopfte sie das Handy in die Tasche und ging zu Professor Abraham hinüber, der im winzigen Schlagschatten des Torbogens in die Hocke gegangen war.

"Hast du Lust ein wenig Keltisch zu lernen, Paige?", fragte er mit diesem spitzbübischen Lächeln, das sagte, er hatte von dem Gespräch mehr mitbekommen, als ihr lieb war. Deutlich mehr sogar.
 

Ryon hörte noch eine ganze Weile dem rasch aufeinanderfolgendem Tonsignal zu, das Paiges Stimme ersetzte, nachdem sie aufgelegt hatte.

Erst das störrische Murren eines Esels ganz in seiner Nähe, ließ ihn hoch fahren und endlich das Handy zuklappen. Er verstaute es wieder sicher in der Tasche, ehe er sich von der Wand abstieß, an der er schon die ganze Zeit gelehnt hatte.

Zurück auf der offenen Straße reihte er sich in den Strom von Leibern ein und ließ sich einfach davon treiben, während er tief in Gedanken versunken über alles nachdachte. Nicht nur über das Telefonat, sondern über die Dinge darüber hinaus.

Dass Paige sauer war, ließ sich nicht vermeiden. Sie hatte recht damit, das würde er nicht bestreiten. Wie er sich in ihrer Lage fühlen würde, wusste er nicht, aber darüber nachzugrübeln was wäre wenn … half auch nicht weiter. Er hatte seine Entscheidung gefällt und war daher auch bereit mit den Konsequenzen leben zu müssen.

Vielleicht mochte es im Augenblick nicht danach den Anschein haben, aber letztendlich war es besser, wenn sie wütend auf ihn war. Mit Wut konnte er umgehen, alles andere hatte er nun effektiv ausgeschlossen. Es war einfach besser so.
 

Als das Licht seinen Augen mehr und mehr zusetzte und ihm langsam auch die Hitze zu viel wurde, steuerte Ryon wieder direkt auf das Hotel zu. In seinem Zimmer angekommen zog er sich das Hemd aus, trank fast eine ganze Flasche voll Wasser leer und setzte sich wieder mit dem Handy auf das Bett.

Eine Weile starrte er es einfach nur an, unschlüssig, was er damit anfangen sollte. Es gab einfach nichts für ihn zu tun, was nicht gerade hilfreich war. Paige war gerade an Ort und Stelle, wo sie mehr über das Amulett herausfinden konnte. Da sie deutlich gemacht hatte, dass das auch noch eine Weile so bleiben würde, blieb ihm letztendlich nichts anderes übrig, als zu warten. Aber genau das wollte er nicht. Untätigkeit hatte er noch nie vertragen.

Schließlich legte er das Handy beiseite und stand wieder auf. Er holte seinen Koffer unter dem Bett hervor und suchte Marlenes Tagebuch heraus, das er stets bei sich hatte.

Wenn er schon nichts Näheres über das Amulett herausfinden konnte, dann vielleicht doch noch ein bisschen mehr über diesen Hexenzirkel. Immerhin hatte seine Gefährtin immer wieder Namen von Personen erwähnt, die einfach so verschwunden, ermordet oder übergelaufen waren. Außerdem erinnerte er sich noch vage an diverse Zeitungsartikel. Selbst wenn es eine sinnlose Suche werden sollte, so beschäftigte es ihn wenigstens.

Also setzte er sich trotz der leichten Kopfschmerzen wieder vor den PC und begann nach alten Informationen über die vermissten oder ermordeten Frauen zu suchen. Für die Menschen war natürlich bestimmt alles vertuscht worden, aber er wusste schließlich, dass es sich vermutlich um übernatürliche Morde gehandelt hatte. Vielleicht brachte ihn das wenigstens etwas weiter.

Ein Versuch war es zumindest wert und es war allemal besser, als das unerträgliche Warten.
 

"Die Kelten haben also Wanderungen bis aufs europäische Festland unternommen. Bis nach Rom und darüber hinaus. So unwahrscheinlich ist es da doch gar nicht, dass sie bis nach Ägyten kamen."

Paige aß einen weiteren Löffel Linsensuppe und trank einen Schluck Tee, bevor sie sich in ihrem Stuhl zurück lehnte, um weiter nachzudenken.

"Seltsam ist es aber schon, dass das nicht in den normalen Geschichtswerken verzeichnet ist. Es ist doch immerhin recht bemerkenswert, dass sie so weit gekommen sind."

Stanley Abraham brach sich ein kleines Stück Brot ab, tauchte es in die dicke Linsensuppe und steckte es sich in den Mund um dann versonnen zu kauen.

"Richtig. Aber du musst bedenken, dass keltische Bauwerke sich im Allgemeinen einfach nicht so gut gehalten haben, wie die der Ägypter. Die Bauweise war eine Andere und mal ganz ehrlich. Neben so eine Pyramide sieht der kleine Eingang zum unterirdischen Tempel schon ein wenig mickrig aus."

"Bloß weil etwas mickrig aussieht, heißt das nicht, dass es das auch ist.", meinte sie abgeklärt und nahm noch einen großen Schluck süßen Tee.

Die Stunden waren schnell vergangen, während sie zuerst ein paar Schriftzeichen und Symbole entziffert hatte, dann zu Professor Abrahams Wohnung zurück gefahren waren, um seine Aufzeichnungen durchzusehen ... und jetzt saßen sie schon beim Abendessen.

Paige kam es so vor, als wären die Stunden nur so verflogen. Vielleicht lag es auch daran, dass sie nicht die geringste Lust dazu verspürte, das zu tun, was am Ende dieses Abends stehen würde. Sie wollte ihn nicht wiedersehen. Nicht, solange es sich vermeiden ließ.

Erst als sie ihre völlig unkonzentrierten Augen wieder auf Stanley richteten, bemerkte sie, dass er sie anlächelte.

"Hm?"

Hatte er etwas gesagt? Sie war so in Gedanken versunken gewesen. Dabei sollte sie noch nicht einmal diese Energie aufwenden...

"Ich habe gefragt, ob du noch einen Mokka möchtest, bevor ich dir ein Taxi rufe."
 

Paige war in einem Hotel noch nie geschlichen. Geschweige denn in ihrem eigenen Zimmer, nachdem sie mit einem zugekniffenen Auge die Tür so leise es irgendwie möglich war, ins Schloss gezogen hatte.

Der dicke Teppich dämpfte ihre Schritte, aber sie lief trotzdem auf Zehenspitzen und zog sofort die Schuhe aus, als sie an der Garderobe ankam. Es war absolut lächerlich sich so aufzuführen. Immerhin war das ihr Zimmer. Wenn sie gewollt hätte, könnte sie hier nackt tanzend und singend durch die Gegend hüpfen.

Aber danach stand ihr bestimmt nicht der Sinn.

Nachdem sie durch das dunkle Zimmer geschlichen war und die Nachttischlampe angeknipst hatte, verschwand sie leise im Bad, putzte sich die Zähne, wusch sich kurz und zog sich um.

Selbst im Bett konnte sie sich nicht entspannen. Wenn er es wollte, konnte er bestimmt sogar die Sprungfedern hören, wen sie sich umdrehte.

"Ich bin dir scheißegal, also nimm deine Ohren aus meinem Zimmer.", sagte sie in normaler Tonstärke an die Zimmerdecke gewandt, bevor sie sich auf die Seite warf und nun endlich versuchte einzuschlafen.
 

Die Informationen, die man über das Internet erhalten konnte, waren für Ryons Geschmack verdammt dürftig. Zwar hatte er anhand der Daten ein paar der Mordfälle herausfinden können, musste sich aber lediglich mit aufgeputschten Schlagzeilen zufrieden geben, von denen bestimmt nicht einmal die Hälfte wirklich stimmte. Noch dazu war es auch sehr seltsam, dass bei einigen Vermissten nicht einmal eine Vermisstenanzeige aufgegeben worden war.

Diese Frauen wurden noch nicht einmal mit einem Wort erwähnt, als hätte es sie niemals gegeben, oder als wären sie niemals verschwunden. Dabei hatte Marlene sich nicht geirrt. Sie war hautnah dabei gewesen, wie ihr eigener Zirkel immer mehr auseinander brach. Sie würde nichts schreiben, was sie nicht absolut sicher wüsste.

Etwas war dennoch an dem Ganzen faul.

Wenn die Frauen nicht wieder aufgetaucht waren und ihre eigenen Familien nicht nach ihnen suchten, was war dann nur mit ihnen passiert?

Ryon rieb sich die müden Augen, während immer wieder die Zeilen auf dem Bildschirm vor ihm verschwammen. Für heute sollte er es gut sein lassen. Sein Körper war noch immer nicht wieder vollständig hergestellt und er hatte letzte Nacht nicht geschlafen. Er konnte auch morgen noch weiter nachforschen.
 

Als er schließlich endlich im Bett lag, schlief er zwar relativ rasch ein, aber er wälzte sich schon nach kurzer Zeit unruhig auf der Matratze hin und her. Sein Puls war beschleunigt, sein Herz hämmerte ihm nur so gegen die schweißnasse Brust, während sein Atem keuchend an den Wänden widerhallte.

Nachdem er die ganze Bettwäsche endgültig vom Bett gestrampelt und getreten hatte, riss er die Augen auf und wäre fast ebenfalls aus dem Bett gefallen, als er sich ruckartig aufsetzte. In seinem Kopf hallte Paiges Stimme wieder, die irgendetwas davon gesagt hatte, sie wäre ihm scheißegal…

Ryon presste seine Handballen gegen seine schmerzenden Augen und der pochenden Stirn, während er sich an seinen Alptraum zu erinnern versuchte. Aber alles was hängen geblieben war, waren Paiges Worte.

Das Wasser tat seiner Kehle gut, als er es gierig in vollen Zügen hinunter schlang. Sein Herz pochte immer noch schnell und er war vollkommen durchgeschwitzt, aber immerhin hatte er sich wieder beruhigt.

Nachdem er den Deckenventilator wieder auf Höchststufe eingeschalten und er sich wieder sein Bett hergerichtet hatte, legte er sich wieder hin und schloss die Augen. Es war nur ein Traum gewesen und er konnte sich noch nicht einmal daran erinnern, um was es sich dabei gehandelt hatte. Kein Grund, nicht zu versuchen, weiter zu schlafen.

Mit dem Gedanken, dass Paige ihm niemals egal sein könnte, schlief er schließlich wieder ein. Für den Rest der Nacht wurde er mit weiteren Träumen verschont.

31. Kapitel

Nach dem Sonnenstrahlen ihn schon eine ganze Weile gekitzelt hatten und somit jeder weitere Gedanke an Schlaf immer weiter in die Ferne rückte, zwang Ryon seine müden Glieder vom Bett hoch und unter eine kalte Dusche.

Das Wasser ließ seine Sinne erneut erwachen, aber seine Gedanken blieben noch eine ganze Weile träge, während sie um die Mordfälle, um Paige und das Amulett kreisten.

In einem Badetuch gewickelt setzte er sich wieder aufs Bett, hob den Hörer ab und bestellte sich Frühstück, auch wenn er nicht wirklich Appetit hatte. Dennoch, essen musste er, auch wenn er es alleine tun musste.
 

Paige lag auf dem Rücken und starrte an die Decke mit den kleinen hell- und dunkelblauen Mustern, die vielleicht einem leicht bewölkten Himmel gleichen sollten.

Sie war schon eine Weile wach, konnte sich aber beim besten Willen nicht dazu aufraffen unter die Dusche zu gehen und den Tag zu beginnen. Sie fühlte sich aufgewühlt und dennoch irgendwie vollkommen erschlagen.

Und Nachdenken half auch nicht unbedingt. Denn dorthin, wo sich ihre Gedanken bewegten, sah es auch nicht besser aus, als hier. Ryon brauchte sie nicht. Er könnte einfach ohne sie weiter machen. Das hätte er schon von Anfang an gekonnt. Was war denn genau sein Beweggrund gewesen, sich auf die Partnerschaft mit ihr einzulassen?

Paige kam zu dem Schluss, dass es genau der Gleiche war, wie ihrer. Ai. Sie und ihre Situation hatten Ryon an Marlene erinnert. Daran, dass man eine schwangere Frau besonders schützen musste. Ob man sie nun kannte oder nicht.

Fakt blieb, dass er sie nicht brauchte. Dass er sie nicht wollte und dass er froh war, sie so bald wie möglich los zu werden. Warum, verdammt nochmal, konnte es ihr selbst nicht auch so gehen?

Entschlossen schlug sie die Decke zur Seite, ging duschen und zog sich ein geblümtes Oberteil an, das ihre Stimmung heben sollte. Für heute hatte sie außer erst einmal frühstücken zu gehen, nichts vor. Stanley hatte einen Termin und heute keine Zeit für ein weiteres Treffen. Außer der Verbindung über Paiges Mutter gab es auch nichts mehr, was sie verband. Theoretisch hatte Paige die Informationen, die sie gesucht hatte.

Als sie den Frühstücksraum betrat, lagen ein paar Blicke auf ihr. Wohl die Gäste, die auch gestern bei der kleinen Szene zwischen ihr und Ryon anwesend gewesen waren. Es war Paige unangenehm. Aber nicht so unangenehm wie einfach davon zu gehen und diesen Blicken auszuweichen.

Also schnappte sie sich stattdessen eine englische Zeitung und vergrub sich dahinter, solange sie auf eine große Tasse schwarzen Kaffee und Marmeladenbrötchen wartete.
 

Das Essen schmeckte nach nichts, füllte seinen Magen aber immerhin weitestgehend, während er nebenbei schon wieder am PC saß, um unzählige Texte und grausame Bilder vor seinen Augen ablaufen zu lassen.

Nebenbei hatte er ein Textprogramm geöffnet, in dem er mit fliegenden Fingern chronologische Daten, Namen, Orte und Spekulationen der Polizei über die verschiedensten Fälle notierte.

Natürlich waren die meisten Mordfälle ungelöst geblieben, allerdings aber auch nach relativ kurzer Zeit schon zu den Akten gelegt worden. Entweder war es einfach nicht dringend genug gewesen – wobei man meinen könnte, ein Mordfall wäre wichtig – oder es hatte jemand genug Druck ausgeübt, um die Ermittlungen einstellen zu lassen.

Ryon glaubte eher an die letzte Möglichkeit, war sich aber nicht sicher, ob er damit wirklich hundertprozentig richtig lag.

Nachdem er seinen inzwischen kalten Kaffee ausgetrunken hatte, speicherte er seine Notizen ab und schickte sich selbst eine Mail nach England, damit er von dort aus weiter machen konnte, wenn sie zurück waren. Danach fuhr er den PC wieder hinunter und zog sich vollständig an.

Zwar war er in Gedanken noch immer bei diesen ungelösten Fällen und den nicht vermisst gemeldeten Vermissten, aber zugleich ließ ihm auch Paige keine Ruhe. Er hatte sie nicht in ihr Zimmer gehen hören und vermutlich war sie noch nicht einmal zurück. Immerhin hatte sie sich am Telefon so angehört, als könnten ihre eigenen Nachforschungen noch eine ganze Weile andauern. Wenn auch aus anderen Gründen, als angenommen.

Trotzdem marschierte er geradewegs zu ihrem Zimmer, nachdem er sein eigenes verlassen hatte, um etwas frische Luft zu schnappen. Das Stunden lange vor dem Bildschirm sitzen tat seinen Augen ebenso wenig gut, wie seinem Kopf. Er war es einfach nicht mehr gewöhnt.

Paige war hier gewesen. Das war ihm sofort bewusst, noch ehe er ganz ihre Tür erreicht hatte. Ihr Geruch hing stärker in der Luft, als er es gestern noch getan hatte. Wenn er es nicht besser wüsste, würde er die Witterung sogar für sehr frisch halten. War sie etwa gerade in ihrem Zimmer?

Ryon zögerte nur eine Sekunde, ehe er die Hand hob um zu klopfen. Er gab weder an, dass er es war, noch sagte er sonst etwas. Stattdessen wartete er ab.

Es war Stille, die ihm antwortete. Sie war also nicht da. Aber das hieß nicht, dass sie weit sein konnte. Der in der Luft liegende Duft von ihr lud förmlich dazu ein, der Spur zu folgen. Zumal es nicht das erste Mal gewesen wäre, dass er sie aufspürte und ihr wie ein Stalker nachstellte. Nur dass er sicherlich bessere Absichten dabei verfolgte.

Paige fast zwei Tage lang nicht zu sehen, war etwas, das man inzwischen durchaus als äußerst ungewohnt bezeichnen könnte. Selbst in England liefen sie sich im Haus ab und zu über den Weg, obwohl jeder seinen eigenen Beschäftigungen nachging, um sich von den Reisen zu erholen und nun waren sie Mitten in so einer Reise und sahen sich sogar mehrere Tage lang nicht. Selbst die Telefonate konnten das nicht ausgleichen, zumal sie sehr kurz angebunden gewesen waren.

Ryon war es in diesem Punkt egal, wie sauer Paige auf ihn war, er wollte sehen ob es ihr gut ging. Und wenn er damit nur seinem eigenen Egoismus frönte!

Außerdem hatte er ohnehin vorgehabt, sich etwas die Beine zu vertreten, solange es noch nicht zu heiß geworden war. Weshalb er sich auch auf den Weg zu den Fahrstühlen machte, während er Paiges Spur zielgenau folgte.
 

In der Zeitung stand nichts Interessantes. Zumindest nichts, was im Vergleich zu ihren Nachforschungen und Erkenntnissen auf dieser Reise aus dem Rahmen fiel. Ordentlich faltete Paige das große Blatt also wieder zusammen und legte es neben ihre Tasse auf dem kleinen, runden Tisch ab.

Die Zeichnung, die an der Innenwand des unterirdischen Raumes gewesen war, spukte ihr immer mehr im Kopf herum. Viele Kulturen hatten Vorkommnisse, aber auch Mythen und Legenden an die Wände ihrer Häuser und Kultstätten gemalt. Es musste nicht zwingend der Wahrheit entsprechen, was sie gesehen hatte. Aber weswegen sollte ein Schloss mit dazu passenden Schlüsseln erschaffen werden, wenn es nichts gab, das man einsperren musste?

Nun wanderten ihre Gedanken zu dem großen Buch zurück, das sie in Ryons Bibliothek so ausgiebig und interessiert studiert hatte. Irgendetwas in ihrem Hinterkopf klingelte leise. Aber es war so wenig greifbar, dass es sich immer mehr zu entfernen drohte, je weiter Paige darüber nachgrübelte. War es ein Bild gewesen? Oder ein Text? Alles verschwamm ineinander und ließ nur noch mehr Neugier zurück, die Paige schließlich von ihrem Stuhl hochzog.

Besonders oft hatte sie noch nicht im Internet gesurft. Aber in ihrem Zimmer stand ein kleiner silberner Laptop. Versuchen konnte sie es immerhin. Außerdem blieb es die beste Möglichkeit im Moment. An den dicken Wälzer in Ryons Bibliothek würde sie so schnell nicht wieder heran kommen. Denn Paige hatte inzwischen beschlossen, dass zumindest sie selbst dort keine Zwischenstation vor ihrer weiteren Recherche in Dublin machen würde. Warum das Ganze noch länger hinaus zögern? Und warum Menschen in die Augen sehen, die sofort sehen würden, dass es um... Ja, um was eigentlich? Um die Abmachung zwischen ihr und Ryon schlechter stand als jemals zuvor?

Versonnen ging sie auf die Fahrstuhltür zu, die gerade aufging und stellte sich in die kleine Kabine.

Irgendetwas Großes mit gleißend weißen Augen. Etwas, das seinen Ursprung ebenfalls im Keltischen hatte? Eine mystische Figur oder ein Feind, den man lediglich als Monster dargestellt hatte?

Als ihr Vlad Dracul im Vergleich einfiel, schüttelte sie leicht angewiedert den Kopf. Ein Körnchen Wahrheit war in jeder Übertreibung, nicht wahr?

Ein leises 'Pling' zeigte das Erreichen ihres Stockwerks an und Paige sah nicht wirklich auf, während sie auf die Türen zutrat, die sich leise vor ihr aufschoben.

Zu Zeiten der Kelten ... hatte es einen Tyrannen gegeben, der eine derartige Darstellung verdient-

Paige hatte ihrem Gegenüber einfach höflich ausweichen wollen, bis ihr jedes winzige, gewohnte Detail regelrecht ins Gesicht schlug.

Sie hatte nur eine Bewegung wahrnehmen müssen, die Art, wie er einen halben Schritt auf sie zu tat.

Als sie Wärme schmecken konnte, wich sie zurück. Nicht weit. Nur so viel, dass sich sein Geschmack nicht auf ihre Zunge legen und ihren gesamten Körper in zittrigen Wackelpudding verwandeln konnte. Sie wusste noch nicht einmal, ob sie ihn ansehen wollte - oder konnte.
 

Obwohl er gerade auf ihren Spuren wandelte, hätte er nicht mit dem Anblick gerechnet, der sich ihm bot, als sich die Fahrstuhltüren fast lautlos teilten.

Paiges Duft wurde intensiver und legte sich deutlich spürbar auf seine Geschmacks- und Geruchsrezeptoren, die ohnehin schon vollkommen auf sie ausgerichtet waren, um ihrer Witterung folgen zu können. Nun aber, war es fast schon wie ein kleines Feuerwerk für seine Sinne, plötzlich mit so viel davon bombardiert zu werden.

Seine Härchen im Nacken und auf den Armen stellten sich statisch auf, während sein Herz einen Moment lang aus dem Takt kam, ehe es deutlich arbeitswütiger weiter schlug.

Seine Augen glitten über den glänzenden Schimmer ihres schwarzen Haares, den dunkleren Teint ihrer Haut, der ihn fast an sein heißes Lieblingsgetränk erinnerte. Sie trug Kleidung in fröhlichen Farben, aber ihre Ausstrahlung…

Paiges Augen konnte er nicht sehen, aber als Jäger spürte er deutlich, wie sie sich vor ihm zurück zog, irgendwie kleiner zu machen versuchte, als könne er sie dann nicht sehen.

Er selbst stand einfach nur da. Unfähig etwas zu sagen, oder seinen Blick von ihr zu lassen.

Jeder Muskel begann sich plötzlich in ihm zu entspannen. Er fühlte sich mit einem Mal wie um ein riesiges Gewicht erleichtert, ja fast schon federleicht und doch war da etwas, dass ihn gepackt hatte, um ihn mit Gewalt auf den Boden der Tatsachen zurück zu ziehen.

Was auch immer das aufflammende Adrenalin in seinem Blut sagen wollte, sein Gehirn konnte diese Information nicht verarbeiten.

Paige so unvermittelt zu sehen, löste eine ganze Reihe an Reaktionen in ihm aus, doch sein Verstand schien davon völlig ausgeschlossen zu werden, als würde ein Medium fehlen, um die Informationen in eine verständliche Sprache umzuwandeln. Obwohl er es spürte, war er doch wie betäubt.

Die sich schließenden Fahrstuhltüren rissen Ryon aus seinem Zustand und zwangen ihn zum Handeln. Er trat einen Schritt näher heran, streckte die Hand aus, damit die Türen offen blieben und drehte sich zugleich so, dass Paige in den Flur treten konnte.

Da jedes Wort, das er sagen würde, genauso fehl am Platz war, wie dieses niederschmetternde Schweigen zwischen ihnen, war es keine sehr schwere Entscheidung den Mund aufzumachen. Es würde ohnehin nichts Gutes dabei heraus kommen.

„Guten Morgen, Paige…“

Er ließ den Arm sinken, mit dem er die Türen daran gehindert hatte, sich zu schließen. Sein Blick blieb unverwandt auf Paige gerichtet. Noch immer schlug sein Puls ihm bis zum Hals, während er mit jedem Atemzug ihren Duft einatmete.

Wie hatte er es nur fertig gebracht, dieses Etwas, das zwischen ihnen bestanden hatte, so dermaßen zu zerstören, dass es hatte so schwierig werden können? Natürlich, es war seine Entscheidung gewesen, aber das hieß nicht, dass es auch Dinge dabei gab, die er sich nicht anders wünschen würde.
 

Es war nicht ungewöhnlich.

Als Paige schließlich doch den Blick hob und auf den Gang trat, suchte sie automatisch nach seinen Augen. Sie waren schon immer tot und leer gewesen. Und selbst wenn sie jetzt nicht mehr schwarz waren, so hatte Paige das Gefühl, sie wären nach seiner eigenen inneren 'Säuberungsaktion' noch matter geworden.

Ohne irgendeine Reaktion zu zeigen, sah sie ihn weiterhin an. Für eine Erwiderung auf sein 'Guten Morgen' war es seit einigen Sekunden zu spät. Außerdem fühlte Paige sich so, als hätte sie noch nicht einmal die Energie solch lapidare Worte über die Lippen zu bringen. Am Telefon hatte sie sich noch das Gegenteil einbilden können. Jetzt sah sie mit eigenen Augen, dass er es tatsächlich bis zum Ende durchgezogen hatte.

Ob sie wohl etwas dazu denken sollte? Sagen würde sie nichts. Aber Paige hatte angenommen, dass ihr Puls rasen würde. So, wie er es tatsächlich tat. Aber da war weniger Schmerz, sondern viel mehr etwas, das sich wie Resignation anfühlte.

Jetzt war Ryon so, wie sie ihn sich am Anfang selbst erdacht hatte. Man könnte ihr hier und jetzt den Kopf abreißen. Vor seinen toten, goldenen Augen. Und es würde ihm noch weniger als gar nichts ausmachen.

"Wo willst du hin?", fragte sie mit einem Nicken zu der Fahrstuhltür, die sich gerade wieder geschlossen hatte.

Paige hasste sich dafür, dass sie sich in Ryons Gegenwart so vorkam wie ein zerkauter, ausgespuckter Kaugummi. Es erinnerte sie an das Gefühl nach einer Trennung. Wenn man gezwungen war wieder allein zu sein. Und doch versuchte so etwas wie gleichgültiges miteinander Umgehen zu pflegen. Es hatte noch in den seltensten Fällen funktioniert. War nur immer eine Phase des Aufbäumens gewesen, bevor man endlich die Kraft hatte endgültig zu gehen.

Ryon würde sie schon gewaltsam so weit von sich stoßen, dass es nicht lange dauern würde. Ein seltsamer Trost.
 

Er sah sie schweigend an, ohne zu blinzeln, bis er es endlich schaffte, seinen Blick von ihr abzuwenden. Wenn auch nur für einen flüchtigen Moment. Zuerst sah er von ihr zu den geschlossenen Fahrstuhltüren und dann wieder zurück.

Entschlossen kehrte er den Türen seinen Rücken zu und antwortete Paige vollkommen ehrlich auf ihre Frage.

„Deiner Spur folgen.“

Zwar mochte er sein Zimmer verlassen haben, um sich etwas Abwechslung zu gönnen, aber schon als er ihren Geruch im Flur wahrgenommen hatte, war dieser Entschluss zu etwas anderem geworden.

Dass er Paige hatte sehen wollen, war sicherlich kein absurder Wunsch seinerseits. Auch wenn so etwas wie Sorge ihn nicht mehr erreichte, so war er körperlich doch viel gelöster, jetzt, wo er sie gesund und munter wieder vor sich sah. Auch das hatte etwas zu bedeuten.

„Und du?“
 

Ihre Augenbrauen zogen sich nur eine winzige Spur breit zusammen, als er ihr so abgehakt auf ihre Frage antwortete. Ihrer Spur folgen? Warum das denn?

Diese Frage verkniff sie sich, weil er den Unterton sowieso nicht verstanden hätte. Also sagte sie lieber gar nichts dazu und versuchte sich genauso wenig zu wundern, wie auch nur ein Sandkörnchen Hoffnung zu hegen. Sie war ihm egal. Punkt.

"Ich habe mir beim Frühstück Gedanken über das Wandgemälde gemacht, das ich gesehen habe. Das den Altar mit dem Schloss wie eine Schriftrolle eingeschlossen hat. Die dunkle, bedrohliche ... Masse kam mir irgendwie bekannt vor."

Ein besseres Wort für die Bedrohlichkeit des Bildes und des dadurch symbolisierten Wesens fiel ihr im Moment nicht ein. Es war nicht ganz treffend, schien aber auch nicht ganz falsch zu sein.

Unbewusst hatte Paige nachdenklich den Kopf gesenkt und grübelnd die Stirn noch weiter gekräuselt.

"Irgendwo her kenne ich es. Aber ... es ist so, als würde es in meinem eigenen Kopf mit mir Verstecken spielen."

Um sich nicht diesem kalten Blick auszusetzen, dieser Nichtreaktion auf alles was sie sagte - auf alles, was sie war - drehte Paige sich um und ging auf ihre Zimmertür zu. Ob er ihr folgen wollte oder nicht, war Ryons Sache. Sie würde ihm im Leben nichts mehr aufdrängen. Vor allem nicht ihre eigene Gesellschaft.
 

Einen Moment lang musste er tatsächlich darüber nachdenken, von was Paige da gerade sprach, bis ihm wie ein Blitz das Amulett wieder einfiel. Nachdem er die letzten wachen Stunden damit verbracht hatte, über blutige Bilder und fetten Schlagzeilen zu verbringen, war dieser Teil in seinem Verstand zur Seite gerückt, in dem Wissen, dass es bei Paige gut aufgehoben war. Immerhin hatte sie sich an die Nachforschungen in diese Richtung gemacht, ohne dass er ihr irgendwie dabei hätte helfen können. Nun aber, witterte er die Möglichkeit, sich dem wieder anzuschließen.

Auf alle Fälle, war es bei weitem besser, sich darauf zu konzentrieren, als auf die Spannung die zwischen ihnen wie ein fettes Stromkabel lag.

„Eine bedrohliche Masse? So etwas wie ein Schatten, Geistwesen oder etwas in diese Richtung?“, fragte er nach und folgte ihr auf den Fersen. Immerhin hatte er sich nicht nur mit Nachforschungen über den Hexenzirkel und dessen zwielichtigen Handlungen beschäftigt, sondern war auch auf einige Seiten über Magie, Mythen, Legenden und allerlei finstere Kreaturen der Nacht gestoßen. Ein bedrohlicher Schatten war da garantiert auch darunter gewesen. Immerhin gab es so einiges, dass des Nächtens herum spukte.

„Hast du vielleicht einmal etwas darüber gelesen oder Bilder davon gesehen? Wäre möglich, dass es dir deshalb bekannt vorkommt.“
 

Ihre Zimmer waren sich nicht besonders ähnlich. Zwar war der grobe Schnitt der gleiche, aber Paiges Zimmer war in Blau- und Grüntönen gehalten. Anders als Ryons Suite, in der unter Anderem auch rot vorherrschte. Die Einrichtung war locker und aufgeräumt, dennoch nicht ungemütlich. Bei ihrem hitzigen Charakter gefielen Paige solche frischen Farben. Gerade in ihrem Schlafzimmer fühlte sie sich dadurch entspannt.

Jetzt, da Ryon ihr tatsächlich folgte, schien die Temperatur in dem großen Raum allerdings merklich zu sinken. Auf einen Punkt, der das Wasser in der kleinen Blumenvase hätte zu Eis erstarren lassen können. Und dabei strahlte die Sonne durch das große Fenster auf einen Großteil des säuberlich gemachten Bettes und ein Eck des auf Hochglanz polierten Schreibtisches.

Nichts in dem großen Raum erinnerte direkt an Paige. Zwar lagen ein paar Ohrringe auf dem Nachtkästchen, ihre Kleider im Schrank und ein Buch auf dem Fußboden neben dem Bett, aber es war klar, dass sie hier nur Gast war. Etwas, das ihr selbst im Moment sehr recht war. In so etwas wie ihr eigenes Reich - das, was zum Beispiel einmal ihre Wohnung gewesen war - hätte sie Ryon im Moment nicht gelassen. Da hätte sie lieber eine weitere Szene im Speisesaal riskiert.

Als Paige sich den Stuhl zurecht zog und sich so setzte, dass ihr Arm auf eben dieser warmen Stelle neben dem kleinen Laptop lag, versuchte sie Ryons Frage zu beantworten. Vorsichtig klappte sie das Gerät auf, das sie bis jetzt in ihrem Leben nur ein paar einzelne Male benutzt hatte. In einer anderen Situation hätte sie sich gern näher damit beschäftigt. Aber gerade eben war der Laptop nur Mittel zum Zweck und die Quelle für Informationen. Dabei wusste Paige nicht, wo sie anfangen sollte.

"Ich kann mich an keine Gestalt aus Legenden oder Mythen erinnern, die dem in dem Raum ähnlich gesehen hätte. Mal vom Boogieman abgesehen, aber dass es den gibt, bezweifle ich doch stark."

Nein, das war nur die Ausgeburt menschlicher albtraumhafter Phantasie.

"Wenn ich mich nicht irre, dann hat mich das Bild an etwas erinnert, das ich in dem alten Band in deiner Bibliothek gesehen habe. Aber..."

Verdammt! Menschliche und vor allem ihre eigenen Gewohnheiten abzustellen würde sie einige Aufmerksamkeit kosten. Aber wenn sie noch ein paar Mal in Ryons Augen sah... Einfach aus dem Grund, weil man das mit demjenigen tat, mit dem man sich unterhielt. Um seine Reaktion zu lesen, Zustimmung oder Ablehnung zu erfahren, ermutigt zu werden... Vielleicht würde sie es zu Anfang nicht verhindern können. Aber jedes Mal war es unangenehm. Und so würde sie es lernen. Irgendwann würde sie diese toten Augen entweder hinnehmen oder sie einfach gar nicht mehr ansehen.

"Es ist schwierig sich zu erinnern. Es war spät und ich war müde. Nur die gewöhnlichen Werwölfe und Nixen sind wirklich hängen geblieben. Und so etwas wie ein dunkler Schatten... Das kann aber doch kein Bild gewesen sein. Sonst hätte ich es sofort wiedererkannt."

Mit einem kleinen Seufzen rief sie nun den Internetbrowser auf und starrte auf den blinkenden Cursor im Suchfeld. Was sollte sie denn eingeben? 'Dunkle Masse Furcht der Kelten'??

Ihre Finger schwebten eine Weile untätig über der Tastatur, bevor sie 'Legenden Kelten' eingab.
 

Trotz der Suche nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen, musste Ryon zugeben, dass sie inzwischen sehr viel weiter gekommen waren, was das Amulett anbelangte. Sie hatten zwar noch keine konkreten Ergebnisse und auch jetzt noch blieb es einfach nur ein hübsches Schmuckstück um seinen Hals, aber offenbar war es weit mehr als das. Man konnte förmlich spüren, wie sie dem Geheimnis näher kamen.

Wenn ihr aller Leben nicht davon abhinge, die Suche nach einer Lösung für das Rätsel wäre mehr als nur abenteuerlich gewesen. Sie hätte – in einem anderen Licht betrachtet – sogar Spaß machen können. So aber schien alles vom Erfolg oder Misserfolg ihres Spürsinns abzuhängen. Die Umstände spitzten sich zu und Ryon war größtenteils Schuld daran, dass sich alles noch schwerer anfühlte, als es ohnehin schon war.

Ihm war nicht entgangen, wie oft Paige ihn ansah, wieder weg blickte, erneut hinsah, nur um wieder den Blick abzuwenden. Als sie ihre volle Aufmerksamkeit schließlich ganz dem Bildschirm zuwandte, konnte man förmlich spüren, wie die aufgeladene Atmosphäre sich etwas entspannte.

Um sich leichter auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren zu können, stellte Ryon sich so schräg hinter Paige, dass er den Bildschirm ebenfalls im Blick hatte, sie sich aber nicht genötigt sehen musste, sich immer zu ihm herum zu drehen, wenn sie etwas zu sagen hatte.

„Gibt es eigentlich Bilder von der Darstellung an der Ausgrabungsstätte? Oder sind die alles samt der Übersetzung in Dublin?“

Gerne hätte er diesen Schatten gesehen, den Paige da meinte. Er konnte sich zwar nicht erinnern, schon etwas in einem seiner Bücher darüber gelesen zu haben, aber es waren so viele, da war das auch nicht weiter verwunderlich. Zumal sie damals nicht nach einem Schatten, sondern nach Hinweisen auf das Amulett in den Büchern geblättert hatten.

Wenn sie sagte, sie könne sich noch an Werwölfe und Nixen erinnern, handelte es sich bei dem Buch dann um den Folianten, den er Zuletzt weggeräumt hatte?

Schon möglich. Aber genau würden sie es wohl erst wissen, wenn sie wieder in seiner Bibliothek waren. Bis dahin würde hoffentlich das Internet einigermaßen genügend Auskunft geben.

Während Paige die Suchergebnisse durchging, konzentrierte sich Ryon eine Weile auf die Zimmereinrichtung ihrer Suite, um nicht länger als nötig auf den Bildschirm blicken zu müssen. In letzter Zeit hatte er es wahrlich übertrieben, das beständige Ziehen in seinen Schläfen war dafür ein deutliches Zeichen.

Die Farben in Paiges Zimmer waren angenehm. Optisch betrachtet waren sie kühl, aber von der Temperatur her, war es bei ihr sogar etwas wärmer, als bei ihm selbst. Kein Wunder, sein Deckenventilator vollbrachte Höchstleistungen. Wie froh er doch sein würde, endlich aus dieser Hitze heraus zu sein. So wie es aussah, würden sie ohnehin bald wieder abreisen. Immerhin hatten sie, was sie wollten.
 

Wenn sie doch bloß ein wenig mehr Geduld aufbringen könnte. Bereits auf den ersten drei Seiten, auf denen nach ihrer Suche vor allen Dingen Musikbands und seltsame Menschen in Kostümen aufgelistet waren, begann Paige unruhig zu werden. Auch die angezeigten Bücher, in denen man keltische Legenden nachlesen konnte - oder auch nur weitere Verweise darauf - brachten sie in diesem Moment nicht weiter.

Mit einem leichten Schnauben und genervt von sich selbst, ließ sich Paige in ihren Stuhl zurück fallen und verschränkte die Arme vor der Brust.

Sie starrte den Bildschirm an, als wäre er persönlich dafür verantwortlich, dass ihr immer noch nicht einfallen wollte, warum ihr dieser dargestellte Schatten so bekannt vorkam.

"Ich bin nicht gut in diesen Dingen."

Ob sie jetzt die Internetrecherche oder etwas Anderes meinte, ließ sie offen. Eigentlich sprach sie im Moment sowieso mehr mit sich selbst, als mit dem anderen Anwesenden im Raum.

Sie ließ sich noch tiefer in den Stuhl sinken und lehnte ihren Kopf so auf die Lehne, dass sie direkt an die blaue Decke sehen konnte. Aus dieser Position sah es tatsächlich ein wenig nach Wolken aus. Allerdings aufgewühlt wie bei einem aufkommenden Sturm. Paige runzelte die Stirn, bevor sie sich wieder dem eigentlichen Thema widmete.

"Ich habe versucht ein Bild mit der Handykamera zu machen, aber das hat nicht funktioniert. Viel zu dunkel da unten und wir hatten nur eine Taschenlampe."

Unter Umständen hatte das die Bedrohlichkeit des Bildes um Einiges verstärkt. Im rechten Licht betrachtet wäre es womöglich sehr viel weniger beeindruckend gewesen.

"Es ist anzunehmen, dass bei der Entdeckung auch Fotos gemacht wurden. Das werden wir in Dublin sehen. Oh, da fällt mir ein..."

Mit flinken Fingern zog sie das kleine Telefon aus ihrer Hosentasche und wählte die zweite Nummer, die sie im Kurzwahlspeicher hatte. Die zweite Nummer überhaupt, die sie gespeichert hatte. Es läutete nur dreimal, bis er abnahm.

"Stanley? Hallo, hier ist Paige. Gut, danke. Und dir? Wie war der Vortrag?"

Nicht nur aus Höflichkeit hörte sie dem kurzen Bericht zu. Selbst nach so kurzer Zeit mochte sie Professor Abraham. Und wenn möglich, würde sie mit ihm in Kontakt bleiben, auch nachdem sie Ägypten verlassen hatte. Immerhin war er ein guter Freund ihrer Mutter gewesen. Das hieß jemand, von dem sie mehr über sie erfahren konnte. Über die Frau, die ihre Mutter gewesen war, bevor ihr Vater sie unglücklich gemacht hatte.

"Freut mich. Ja? ... Nein, es geht um Dublin. Du hattest mir angeboten jemanden zu kontaktieren, der mir die Berichte zeigt. ... Ja, aber ich befürchte, dass trotz deiner Lehrstunde ein Übersetzer auch nicht schlecht wäre."

Sie musste lachen. Dafür die gesamten Abschriften der Wandmalereien und Zeichen zu übersetzen, würde ihr bisschen, das sie von Stanley gelernt hatte bei Weitem nicht ausreichen.

"Vielen Dank! Das ist wirklich nett von dir und eine große Hilfe. Ich..."

Im nächsten Moment kam sie ins Stocken und ihr Hinterkopf fing auf eine verdächtige Weise an zu prickeln, als sie über das Angebot nachdachte, das ihr der ältere Mann gerade unterbreitet hatte. Es war nett gemeint, aber...

"Nein, danke. Das ist wirklich nicht nötig. Die Leute vom Hotel werden ein Taxi organisieren. Kein Problem zum Flughafen zu kommen, wirklich."

Sie verabschiedete sich und ließ sich keine Zeit darüber nachzudenken, warum sie partout nicht wollte, dass Stanley und Ryon sich begegneten. Es hätten sich einfach zu viele unangenehme Fragen aufgeworfen. Zusammenfassend hätte sie gesagt, dass es reichte selbst mit Ryons 'Zustand' umgehen zu müssen. Da musste sie das nicht noch jemandem antun, der gerade die Chance war, ihr zerbrechliches Verhältnis zu ihrer eigenen Familie etwas zu verbessern.

"Ich würde dich gern um einen Gefallen bitten.", sprach sie nun Ryon an, ohne sich allerdings nach ihm umzudrehen. Da er sich von selbst hinter sie gestellt hatte, war es ihm wohl ohnehin lieber, dass sie ihn nicht ansah... Paige hasste sich dafür, dass es weh tat.

'Denk an Marlene. Du wärst ohnehin nur zweite Wahl gewesen. Dass du für ihn noch nichtmal das bist, ist da doch auch nicht weiter schlimm.'

"Ich würde von hier aus gern direkt nach Irland fliegen. Das Umbuchen könnte ich selbst übernehmen, aber ich denke, dass sie deine Kreditkartennummer wollen..."

Mehr sagte sie nicht dazu. Ihr Entschluss stand fest. Sie würde Ai anrufen und ihr Bescheid geben, dass sie vorerst nicht in dieses Haus zurück kam.
 

So musste es also sein, wenn man Stück für Stück unsichtbar wurde. Zumindest hatte Ryon das Gefühl, der Lauscher an der Wand zu sein, während er Paige bei dem Telefonat mit Professor Abraham zuhörte.

Wunderte es ihn wirklich, dass sie diesen Mann, den sie erst seit so kurzer Zeit kannte, schon beim Vornamen nannte?

Das Ziehen hinter seinen Schläfen wurde zu einem Stechen.

Obwohl das nicht sein Zimmer war, ging Ryon zu Paiges Minibar hinüber und schnappte sich eine kleine Flasche stilles Mineralwasser. Er trank langsam, während er versuchte, nicht das Gespräch zu belauschen. Im Grunde ging es ihn nichts an, selbst wenn es um die Nachforschungen zu gehen schien.

Ihr Lachen ließ Ryon aufblicken. Sein ganzer Körper schien unter diesem Klang bis unter die Schädeldecke zu vibrieren. Doch alles was er sehen konnte, war Paiges Hinterkopf. Ihr Gesichtsausdruck blieb ihm verborgen. Vielleicht war das auch nur gerecht, immerhin war nicht er es gewesen, der ihr diesen Laut entlockt hatte. Alles was er zu Stande brachte, war Missstimmung.

Der Gedanke alleine hätte ihm etwas ausmachen müssen, aber was er getan hatte, war noch immer von Erfolg gekrönt.

Er empfand nichts…

Paige beendete das Gespräch und richtete nun ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihn. Allerdings ohne sich zu ihm herum zu drehen. Der Unsichtbare tauchte wieder auf und war doch noch immer durchsichtig.

Sie wollte ihn also um einen Gefallen bitten?

Ryon schlang seine Finger enger um die Wasserflasche, spielte mit dem Deckel, betrachtete die Flüssigkeit darin, während er mit gespannten Nerven auf ihre nächsten Worte wartete. Zu sagen, dass er ihr jeden Gefallen tun würde, wäre Unsinn gewesen. Einerseits hätte sie ihm nicht geglaubt und andererseits konnte er nicht versprechen, dass er ALLES für sie tun könnte.

"Ich würde von hier aus gern direkt nach Irland fliegen. Das Umbuchen könnte ich selbst übernehmen, aber ich denke, dass sie deine Kreditkartennummer wollen..."

Ein Blitzschlag drohte ihm den Schädel zu spalten, so heftig fuhr der Schmerz in seine Stirn. Beinahe hätte Ryon die Wasserflasche fallen gelassen, doch im letzten Moment fing er sich noch einmal. Für ein paar Sekunden schloss er die Augen, spürte, wie das Gefühl langsam wieder nach ließ. Erst dann konnte er sich richtig darauf konzentrieren, was Paige gerade zu ihm gesagt hatte.

Hatte er sie richtig verstanden, oder verstand er gerade etwas total falsch? Ryon war sich nicht sicher, aber für ihn hatte es sich so angehört, als wolle Paige alleine sofort nach Dublin fliegen. Ohne vorher einen Zwischenstopp in England zu machen und auch ohne ihn.

Wenn er mit seiner Annahme richtig lag, konnte er ihr diesen Gefallen tun? Konnte er sie einfach alleine fliegen lassen? Zumindest glaubte er nicht, dass ihr dort Gefahr drohte. Niemand vom Hexenzirkel wüsste, dass sie sich dort befand, um weiteren Nachforschungen anzustellen. Sie wäre also sicher, dennoch … war das sicher genug für sie?

Als Ryon schließlich die Wasserflasche abstellte, war eine drückende Stille aufgekommen. Keiner hatte etwas gesagt, doch offenbar wurde stark nach seiner Antwort verlangt. Eine, die er Paige eigentlich nicht geben wollte, doch es wäre kindisch gewesen, einfach stur zu schweigen. Also trat er neben sie, schnappte sich einen der Kugelschreiber auf dem Schreibtisch und einen Notizzettel und schrieb in fein säuberlicher Handschrift ein paar Nummern darauf. Danach legte er den Zettel samt einer seiner Kreditkarten vor Paige hin und erklärte kurz: „Das ist die Kreditkarte, mit der ich unsere Flüge und das Hotel bezahlt habe. Auf dem Zettel steht der Code, mit dem du Weltweit bei jedem Bankomaten Geld abheben kannst. Das erspart dir Unterschriftenfälschung. Darunter findest du die Nummer von…“ Zuhause? Nein, das war es nicht. Weder seins, noch ihres.

„…Damit kannst du Ai erreichen, falls du dich mit ihr unterhalten möchtest.“

Er machte ein paar Schritte vom Schreibtisch weg auf die Tür zu.

„Du willst dich sicher noch etwas erholen, bevor es für uns beide wieder los geht… Ich geh mir etwas die Beine vertreten. Falls du etwas brauchst … du weißt ja, wie du mich erreichen kannst.“ Auch wenn er nicht glaubte, dass sie das auch nur in Erwägung ziehen würde. Immerhin hatte er es gerade ihr überlassen, wie sie sich entscheiden konnte. Entweder sie buchte ihrer beide Flüge um, oder sie machte sich alleine auf den Weg. So oder so, er würde sie nicht aufhalten. Wenn es sein musste, konnte er ihr diese Freiheit lassen. Etwas Abstand wäre vielleicht keine schlechte Idee. Zumal die Sache in Dublin auch nicht viel länger dauern konnte, als ihre Reise nach Ägypten.

Er würde sich derweil eben einfach an die Fersen der vermissten Frauen heften. Ob es ihnen nützte oder nicht, stellte sich sicherlich noch heraus. Aber zumindest hatte er endlich wieder eine sinnvolle Aufgabe. Bei denen es nicht darum ging, irgendwelche tollwütigen Werwölfe zur Strecke zu bringen, oder in einen Kampfring zu steigen.

„Bis später … Paige.“

Entschlossen trat er den Rückzug an. Dabei der Versuchung widerstehend, sich die Schläfen wund zu massieren. Diese Kopfschmerzen gingen ihm langsam auf den Zeiger. Hoffentlich würde kühleres Wetter sie verschwinden lassen.

32. Kapitel

"Hier können Sie sehen, dass der Schatten nicht das Ende der Erzählung an der Wand darstellt, sondern gleichzeitig am Anfang steht."

Paige beugte sich weiter über den Tisch, auf dem sehr gut ausgeleuchtete, große Aufnahmen des unterirdischen Raumes in Ägypten verstreut lagen.

Es stimmte. Wenn man die Bilder aneinander reihte, ergab sich zwar auf der einen Seite eine Geschichte, wie man sie erwarten würde: kleine, einfach gestaltete Menschen liefen schnell vor dem Schatten davon. Doch der Raum war vollkommen rund gewesen. Daher liefen sie nicht nur davon, sondern gleichzeitig, je weiter sie rannten, auch genau in ihr Verderben. Oder war es das vielleicht gar nicht?

Die Frau neben Paige hatte schon fast zu typische, raspelkurze rote Haare, ein Meer von Sommersprossen im Gesicht und trug ein eng geschnittenes moosgrünes Kostüm, das ihre Augen geradezu zum Leuchten brachte.

"Gibt es denn einen Hinweis darauf, was die Bilder zu bedeuten haben?"

Paige konzentrierte sich sofort darauf die folgenden Worte zu verstehen. Es fiel ihr nicht gerade leicht, auch wenn sich die Doktorin redlich bemühte den breiten Dubliner Akzent für sie abzustellen.

"Wir hatten zuerst an eine allgemeine Bedrohung gedacht. Etwas in der Art wie die Babylonier für die Griechen oder die Hunnen für alle westlichen Reiche."

Paige nickte. An etwas Derartiges hätte sie auch gedacht. Eine Gefahr, die man als so mächtig erachtete, dass man sie nicht in jedem Detail darstellen konnte oder wollte.

"Aber im Fall der Kelten ist eine solche Bedrohung nicht wirklich auszumachen. Sie waren diejenigen, die in fremde Länder gereist sind. Einige mochten sie sogar selbst als Gefahr ansehen."

"Wurden sie nicht von den Angelsachsen in gewissen Sinne bedroht, da man sie ihnen ihre mythische Kultur und Religion aberziehen wollten?", fragte Paige neugierig ob ihrer eigenen Idee. Denn vorerst hatte ihr Dr. Brukes ihre eigenen Worte auf einem Silbertablett serviert.

"Könnte man ebenfalls annehmen."

Das Lächeln der Frau war so breit, dass es selbst dem von Paige Konkurrenz machen konnte. Und das wollte Einiges heißen.

"Aber dann kann ich persönlich mir noch nicht erklären, was es bedeutet, dass sie auf die Bedrohung zulaufen."

Das war richtig. Zwar ließ sich diese Tatsache ganz leicht damit erklären, dass es einfach kein Entkommen für die Kelten gegeben hatte ... aber warum sollten sie so etwas in einem Raum festhalten, der so etwas wie ein Schloss enthielt.

Paige schob ein großes Bild näher zur Tischkante heran und deutete auf den aufgenommenen Altar.

"Was ist Ihre Theorie hierzu?"
 

„Ich sagte Ihnen doch schon: Meine Tochter lebt mit ihrem Freund in Australien! Diana ist vor sieben Jahren dorthin ausgewandert. Wie oft wollen Sie es denn noch hören?“

So oft es nötig ist, dachte Ryon finster. Er glaubte dem untersetzten Mann mit dem schütteren Haar vor sich kein einziges Wort, obwohl dieser selbst zu glauben schien, dass Diana Jefferson – einst ein Mitglied von Marlenes Zirkel und seit sieben Jahren spurlos verschwunden – noch immer am Leben war.

„Wann haben Sie das letzte Mal mit Ihrer Tochter gesprochen? Haben Sie vielleicht eine Adresse oder Telefonnummer wo ich Sie erreichen kann?“

Obwohl er hier mitten im Regen stand, vor sich hin tröpfelte und alles andere als gut gelaunt war, weil der Mann noch nicht einmal den Anstand hatte, ihn herein zu bitten, sondern Ryon stattdessen auf dem Fußabstreifer verharren ließ, blieb er dennoch ruhig und auf seine Weise charmant. Es hätte nichts gebracht, einen zwielichtigen Auftritt hinzulegen, der seine Chancen auf ein paar Antworten nur deutlich gesenkt hätte.

„Wieso wollen Sie das wissen?“, fragte Mr. Jefferson nur knapp zurück, während er sich ein Stück zurück ins Haus zog, um nicht auf der Türschwelle zu erfrieren. Aber weichen würde er auch nicht. Dazu war dieser Mann einfach viel zu stur.

Ryon musste härtere Geschütze auffahren. Das hatte er leider auch schon bei den letzten drei Besuchen feststellen müssen, die er gemacht hatte. Aber obwohl er nichts bei dieser Art von Lüge empfand, so stellten sich ihm doch jedes Mal die Nackenhärchen dabei auf und die Kopfschmerzen wurden immer schlimmer. Kein Wunder. Er war nass bis auf die Knochen und das würde sich bei dem strömenden Regen auch nicht so schnell wieder ändern.

„Ihre Tochter, Diana, war eine gute Freundin meiner Frau Marlene Larson, über deren Tod ich sie gerne informieren möchte. Es ist mir ein persönliches Anliegen, es den engsten Freunden meiner Frau persönlich mitzuteilen.“

Das Lügen nicht gesund sein konnte, spürte er gerade am eigenen Leib. Es schüttelte ihn regelrecht vor Widerwillen, auch wenn es noch nicht einmal wirklich gelogen war. Marlene war tatsächlich tot, allerdings nicht erst seit Kurzem. Vermutlich hatte sie ihre Freundinnen sogar noch überlebt. Doch das war es nicht, was Ryons Aufmerksamkeit gerade besonders in Anspruch nahm, sondern die Augen von Mr. Jefferson, die bei Erwähnung von Marlenes Namen seltsam reagiert hatten.

Genau wie bei den drei anderen Elternteilen, die er hatte ausfindig machen können, schien auch hier irgendetwas in der Person vor ihm vorzugehen, als diese Marlenes Namen hörte. Doch wie auch schon bei den anderen, zeigte sich sonst keinerlei Erkennen in dem Gesicht. Er kannte den Namen vielleicht nur noch vage, aber es war inzwischen so lange her, dass selbst das wohl schon auszuschließen war. So eng, wie Ryon behauptete, waren seine Frau und diese vermissten Frauen nun auch nicht befreundet gewesen.

„Nun, wenn das so ist… Haben Sie etwas zu schreiben dabei?“

Mr. Jefferson schien mit einem Mal besänftigt. Obwohl irgendetwas an diesem Mann nicht stimmte, so wie an den anderen Personen vor ihm auch schon, war er doch auch wieder vollkommen normal und reagierte so, wie man es in den meisten Fällen erwarten würde.

Ryon spürte förmlich, dass da etwas im Busch war, das er noch immer nicht sehen konnte, aber er kam einfach nicht darauf, was es sein könnte.
 

Zehn Minuten später saß Ryon wieder im Trockenen seines anderen Wagens – ein unauffälliger Audi A5 in schwarz – und war auf dem Weg zurück in den Stützpunkt, wie er das Haus mitten im Wald inzwischen insgeheim nannte.

Dort wollte er die ihm übermittelten Adressen und Daten durchgehen und nach ihrer Echtheit prüfen. So seltsam es vielleicht klingen mochte, aber er glaubte von keiner einzigen Adresse, dass sie irgendwohin führen würde als in eine Sackgasse.

Sein Handy läutete, also setzte er sich sein Headset auf und hob ab.

Eine Weile hörte er der weiblichen Stimme am anderen Ende der Leitung zu, bis er plötzlich abrupt mitten auf der Landstraße abbremste und das Quietschen der Reifen seinen Ohren weh tat. Der Wagen drohte auszubrechen, aber dank der modernen Technik kam er nur etwas aus der Spur, ehe das Fahrzeug mitten auf der Fahrbahn zum Stehen kam.

„Ich bin schon auf den Weg.“, antwortete er nach einer kurzen Pause der Fassungslosigkeit und legte auf, noch ehe die Frau nachfragen konnte, weshalb er überhaupt vorhatte deshalb vorbei zu kommen.

Ryon wendete den Wagen mit ebenso unsanfter Art, wie er ihn gestoppt hatte und raste mit durchdrehenden Reifen los. Sein Puls so hoch, wie schon lange nicht mehr und mit den heftigsten Kopfschmerzen, die er seit dem Hitzekollaps nicht mehr erlebt hatte.

Er musste sich beeilen!
 

Eigentlich war es von Anfang an klar gewesen, dass die Theorien einer menschlichen Doktorin der Archäologie zu kurz reichen würden. Aberglaube, Religion... Das mochte alles richtig sein, aber in einem Maße, das sich Dr. Brukes nicht vorstellen konnte.

Würde sie herausfinden, dass sie den Nachmittag und frühen Abend mit einer Halbdämonin verbracht hatte, würde ihr analytischer, wissenschaftlicher Verstand wahrscheinlich einfach abschalten. Oder – noch schlimmer – Interesse an Paige bekommen, das diese ganz sicher nicht befriedigen wollte.

Ein Schauer lief Paiges Rückgrad hinunter, als sie seit Paris das erste Mal wieder an die Essenz dachte. In Ägypten hatte sie das 'Stärkungsmittel', wie es ihr Vater zu Anfang genannt hatte, nicht gebraucht. Sie hatte nicht einmal daran gedacht, denn wenn man es recht bedachte, waren sie dort keiner greifbaren Gefahr begegnet. Auch wenn Ryon das nach seinem Zusammenbruch bestimmt anders sah.

Paige dachte ab und zu an ihn. Nicht so häufig, wie sie erwartet hatte und deutlich weniger gefühlsbetont, als es normalerweise ihr Art war.

Als er ihr die Kreditkarte mitsamt wichtiger Daten auf den Tisch gelegt und sie somit weggeschickt hatte, war sie seltsam ruhig geworden. Es nützte nichts, sich aufzuregen, sich Hoffnungen zu machen oder auch nur irgendetwas Anderes. Wenn sie länger darüber nachdachte, war es vor allem der krasse Wechsel gewesen, der sie so kalt erwischt hatte.

Ryon hatte ihr gesagt, dass er sie als Freund betrachtete, hatte sie umarmt, sogar als sie ihn sehr deutlich und direkt an den Tod seiner Gefährtin und seiner Tochter erinnert hatte. Und dann war er noch kälter geworden, als sie ihn je gesehen hatte. Er hatte vor ihren Augen ihre gerade beginnende Freundschaft zerschlagen, als wäre sie nicht mehr wert als irgendein Teil der Hoteleinrichtung, die er mit seinem Vermögen leicht wieder ersetzen konnte.

Aber so war er einfach. Paige hatte nach den Momenten, in denen er auf ihre Hilfe angewiesen gewesen war, angenommen, er würde sich ein wenig öffnen. Sogar so viel, dass Freundschaft nicht nur ein hohles Wort zwischen ihnen sein würde. Sie hatte sich wohl mit ihm gefühlt und hätte sogar damit leben können, dass er seine Gefühle ein klein bisschen zurück zog. Aber völlig...

Entschlossen schlang sie ihren Schal fester um ihren Hals und steckte die kalten Hände in die Manteltaschen, bevor sie vom Archäologischen Institut aus in Richtung Innenstadt ging.

Bei dem eisigen Wind hätte sie auch ein Taxi nehmen können. Aber nur, weil sie jetzt Ryons Kreditkarte hatte, hieß das nicht, dass sie diese bis zum Limit ausschöpfen würde.

Auch wenn ihr das Gefühl echtes Geld in der Tasche zu haben, durchaus gefiel.

Deshalb machte sie sich auch nicht direkt auf den Weg zurück in das kleine Hotel, in dem sie untergekommen war, sondern suchte nach ihrem ausgiebigen Spaziergang eins der Pubs auf, die sich die Haupt- und Nebenstraßen entlang zogen.

Als sie in das Kellergewölbe hinunter stieg, schlug ihr Wärme, der Duft von Holz und fröhliches Stimmengewirr entgegen. Sofort hoben sich Paiges Mundwinkel und sie zog begeistert ihren Mantel und Schal aus, als sich ein Gastraum mit Holzbänken, üppig dekorierten Wänden und einer Bar vor ihr öffnete. Genau das, was sie brauchte. Gesellschaft.
 

Eine Stunde später saß sie mit Ian, Garry und Rebecca an einem kleinen Ecktisch und konnte sich vor Lachen kaum auf dem wackeligen Holzstuhl halten.

„Nein, ehrlich. Wärst du nicht so nett, würde ich dich wegen deines Akzents für den totalen Snob halten.“

Paige nahm einen großen Schluck Guinness und grinste Rebecca herausfordernd an, die ihr dieses halbe Kompliment an den Kopf geworfen hatte.

„Na, immerhin versteht mich der Großteil der Menschheit.“

Sie hoben die Gläser und prosteten sich mit einem Lachen zu. Es war nicht der erste Witz gewesen und würde in dieser Nacht nicht der Letzte sein. Auch wenn Paiges Stimme schon leicht rau war, weil sie über die laute Musik und den immer wieder einsetzenden Gesang hinweg rufen musste, um sich zu unterhalten.

Garry lehnte sich genau in dem Moment zu ihr hinüber, als ein neues Lied angestimmt wurde. Etwas Fröhliches, das viele dazu nutzten, sich zwischen den Tischen und Stühlen in dem engen Raum eine noch engere Tanzfläche zu schaffen und sich zumindest im Takt zu bewegen – auch wenn man es bei Einigen, deren Nasen bereits vom Alkohol rot leuchteten, nicht mehr recht tanzen nennen konnte.

„Schenkst du mir einen Tanz, Mylady?“, meinte der Schwarzhaarige mit den großen blauen Augen, die Paige wie ein Hundewelpe anflehten.

„Awww, aber klar, Kleiner.“

Ob er nun sie, oder sie ihn auf die Tanzfläche zog, konnte Paige danach nicht mehr sagen. Auf jeden Fall merkte auch sie sofort das Bier, das sich beim Herumwirbeln bloß noch schneller in ihrem Blut verteilte und sie ein wenig unsicher auf den Beinen machte. Und ihren Verstand endlich ein wenig von den Sorgen um die Hexen, das Amulett und diesen eigensinnigen Gestaltwandler befreite.

Die Runde ging über drei Tänze und Paige merkte erst beim Zweiten, dass sie nicht nur mitsang, sondern Garry sich unnötig fest an sie klammerte. Solange er seine Hände nirgendwo hinbewegte, wo sie selbst sie nicht haben wollte, störte sie das nicht. Er war nicht aufdringlich und wenn sie ihn sich so ansah ... auch nicht hässlich.

Paige war noch lange nicht so betrunken, dass ihr entging, worauf das hier hinauslaufen konnte, wenn sie es denn wollte. Aber noch war der Abend nicht zu Ende und sie wollte sich keine Gedanken darüber machen, ob sie nun knutschend im Pubeingang oder eben wo anders landen würde. Bloß an eins versuchte sie mit aller Gewalt, die sie aufbringen konnte, nicht zu denken. Um genauer zu sein – an jemanden.
 

„Und du willst sicher nur ein paar Tage hier bleiben? Ich meine, sieh es dir an, Dublin muss man in allen Einzelheiten erleben!“

Der Ire hatte sich mit hoch erhobenen Armen um die eigene Achse gedreht, um Paige mit einer großen Geste zu zeigen, was er meinte. Und sie konnte ihm mit einem kleinen, beschwipsten Kichern eigentlich nur zustimmen. Die Stadt und auch die Leute gefielen ihr. So herzlich war sie selten aufgenommen worden, auch wenn Paige normalerweise keine Probleme hatte, irgendwo Anschluss zu finden.

Wieder legte Garry seinen Arm um ihre Schultern, was Paiges Meinung nach das manövrieren ihrer schwankenden Schritte nicht unbedingt einfacher machte. Andererseits... ihr war kalt, er war nett, gutaussehend und charmant... Noch blieben alle Optionen offen.

Der Spaziergang zu ihrem Hotel dauerte nur deswegen so lange, weil sie immer wieder stehen bleiben mussten. Entweder, weil sie mit großen Gesten miteinander sprachen, sich totlachten oder beides. Paige hatte das Gefühl, so würde sie in dieser Nacht niemals nach Hause kommen. Und es war ihr egal. Es tat so verdammt gut, ein wenig ausgelassen zu sein. Ihre Aufgabe und alles, was damit zusammen hing, würde sie schnell genug wieder finden.

Deshalb war sie auch fast enttäuscht, als sie eine halbe Ewigkeit später doch den Eingang zu dem kleinen Drei-Sterne-Hotel fanden und dort vor der Tür stehen blieben.

Garrys Lächeln war klein, verschmitzt und abwartend. Paige hatte das Gefühl diesbezüglich in einen Spiegel zu sehen. Was die Sache noch schwerer machte, war die Tatsache, dass er sich nicht aufdrängte. Er überließ ihr die Entscheidung darüber, was noch passieren würde.

Sein Daumen streichelte über ihren Handrücken, während sie sich eine Weile schweigend in die Augen sahen und sich anlächelten. Paige war so hin und her gerissen, dass sie am liebsten gesagt hätte, er solle tun, was er wollte. Dabei war sonnenklar, warum er sie bis zum Hotel begleitet hatte und nun immer noch wie festgewurzelt hier stand, obwohl ihnen beiden der kalte Wind um die Ohren pfiff.
 

An der Strecke, für die er normalerweise fast eine dreiviertel Stunde gebraucht hätte, die er nun aber in weniger als zwanzig Minuten hinter sich gebracht hatte, konnte man seine Fahrgeschwindigkeit ausrechnen. Aber selbst das war nicht schnell genug gewesen, als er die Nachricht aus dem Waisenhaus gehört hatte.

Mit dem Gedanken, dass jemand mit dem Namen Alice Wood die kleine Mia adoptiert hatte, rammte er förmlich die Flügeltüren zu dem schon leicht renovierungsbedürftigem Gebäude und scherte sich einen Dreck um den Aufseher am Eingang, der sich bei seinem Anblick ohnehin wieder entspannte. Selbst wenn Ryon ein paar Flügel und Hörner gewachsen wären, wäre es Jimmy egal gewesen. Der alte Kriegsveteran hatte hautnah miterlebt, was er alles für das Waisenhaus getan hatte. Wenn es sein müsste, würde er sogar für Ryon eine Kugel abfangen, nur um dafür zu sorgen, dass ihnen ihr größter Gönner auch weiterhin erhalten blieb.

Amelia wartete bereits mit hochgezogener Augenbraue an der zerkratzten Bürotür mit einer Tasse. Ohne ein Wort drückte sie ihm den Becher in die Hand und machte eine einladende Geste ins Büro hinein.

„Bevor du hier einen Kopfstand aufführst, komm erst einmal herein. Du hast mich am Telefon nicht einmal richtig ausreden lassen.“

In der Stimme der blonden Frau lag so etwas wie eine Mischung aus leichtem Vorwurf und zugleich Verständnis. Sie wusste natürlich wie viel Ryon an Mia lag und das beruhte garantiert auch auf Gegenseitigkeit. Dass sie jetzt adoptiert worden war, war für keinen der beteiligten eine leichte Angelegenheit. Doch was Amelia nicht wissen konnte, war das Grauen, das Ryon dabei empfand.

Er zitterte wie Espenlaub und das garantiert nicht wegen der Kälte oder der rasenden Kopfschmerzen. Gefühlsmäßig mochte er nicht einmal so etwas wie ein schwaches Bedauern über die Nachricht empfinden, aber sein ganzer Leib war der reinste Ausdruck für seine fehlenden Gefühle.

Wenn Ryon nicht so mit Adrenalin vollgepumpt gewesen wäre, er hätte vermutlich ein Nickerchen auf dem Boden gehalten. Immerhin versuchte er noch immer zu verstehen, was er da gehört hatte.

Da ihn seine Beine ohnehin nicht mehr zuverlässig tragen konnte, setzte er sich auf den ausrangierten Stuhl dem Schreibtisch gegenüber und hielt mit zittrigen Fingern die Tasse umklammert, ohne allerdings davon zu trinken.

Amelia setzte sich ebenfalls in den Bürosessel, nachdem sie die Tür geschlossen hatte und betrachtete ihn eine ganze Weile nur schweigend.

„Ich weiß nicht, was mich mehr erschreckt. Deine äußere Erscheinung oder deine Reaktion. Eigentlich hätte ich gedacht, du würdest dich freuen, dass die kleine Mia endlich ein Zuhause und richtige Eltern bekommt. Außerdem müsstest du doch wissen, dass ich mir jedes Heim der Kinder gründlich ansehe, bevor ich sie tatsächlich an Eltern vermittle. Ich versichere dir, Alice Wood ist eine unglaublich gutherzige Frau mit einem ebenso freundlichen Mann und das Haus der beiden kann es locker mit denen aus Hochglanzmagazinen aufnehmen. Hast du denn wirklich kein Vertrauen mehr in mein Urteilsvermögen?“

Ryon starrte Löcher in seinen Kaffee. Seine Gedanken überschlugen sich so dermaßen in seinem Kopf, dass er keinen richtig fassen konnte. Doch je häufiger er den Namen Alice Wood hörte, je schlimmer wurde das Hämmern in seinem Schädel.

Fakt war, die Alice Wood, die in einer romantischen Kleinstadt außerhalb Londons gelebt hatte und einmal die beste Freundin von Marlene gewesen war, ehe man sie brutal in ihrer Wohnung ermordet hatte, schien gestern Mittag offenbar die kleine zweijährige Mia Stone adoptiert zu haben.

Natürlich gab es da immer noch die Möglichkeit, dass die Übereinstimmung der Namen immer noch purer Zufall sein könnte, aber nach allem was passiert war, glaubte Ryon einfach nicht mehr an Zufälle. Allerdings glaubte er nur zu stark daran, dass diese verdammte Hexe ihre Finger überall im Spiel hatte.

„Den Mann von Alice Wood… Kannst du ihn mir beschreiben?“

Wie absurd sich diese Frage anhörte, war ihm natürlich deutlich bewusst, aber er konnte sich jetzt auf keine gepflegte Konversation konzentrieren. Nicht, wenn Mia inzwischen schon tot sein könnte und wieder einmal würde es seine Schuld sein!

Amelia starrte ihn verwirrt an, sah aber offenbar ein, dass Ryon im Moment nicht in der Stimmung war, all ihre Fragen zu beantworten, die ihr so augenscheinlich auf der Zunge lagen.

„Hmmm… Ich muss zugeben, er sah ein bisschen ungewöhnlich aus. Ungewöhnlich gutaussehend, mit sehr viel Schmuck für einen Mann… Oh und ich war sogar schon versucht, ihn zu fragen, welches Aftershave er benutzt. Der Mann duftete einfach göttlich! Schade, dass ich dann doch nicht dazu gekommen bin. Als Weihnachtsgeschenk für meinen Freund wäre das sicher gut angekommen.“

Amelia zuckte gelassen mit den Schultern, während Ryons Magen zu Eis gefror, da er sich in seiner Vermutung bestätigt fühlte. - Der Magier!

So langsam wie möglich, um nichts zu verschütten, stellte Ryon die Kaffeetasse auf den Tisch ab und lehnte sich nach vor, um Amelia tief und beschwörend in die Augen sehen zu können.

„Ich will sämtliche Unterlagen haben, die dir vorliegen. Alle, verstehst du!?“

Seine Stimme war ruhig, unnatürlich gelassen, genauso wie seine Gesichtszüge, aber das alles täuschte nur über die Panik hinweg, die in seinem Körper wütete.

„Ryon, du weißt, dass die Daten streng vertraulich sind. Ich darf sie dir nicht zeigen.“

Mit einem traurigen Gesichtsausdruck begann Amelia an ihrer Unterlippe zu nagen, während sie offenbar mit sich selbst rang. Aber sie hatte hier große Verantwortung und das konnte sie nicht so leicht bei Seite legen. Auch nicht für ihn.

Mit aller Gewalt zwang er sich dazu, ruhig zu bleiben, nicht aufzuspringen und eigenhändig nach den Unterlagen zu suchen. Stattdessen blickte er der blonden Frau noch tiefer in die Augen.

„Amelia, bitte. Ich vertraue natürlich deinem Urteilsvermögen, aber ist es mir nicht einmal vergönnt, mich noch einmal von ihr zu verabschieden? Willst du mir auch das verwehren?“

Sie wich seinem Blick aus. Schluckte hart und verschlang willkürlich ihre Finger miteinander. Einen Moment lang sah es so aus, als würde sie standhaft bleiben, bis sie schließlich seufzte.

„Nein. Du hast natürlich recht. Vielleicht ist es auch besser so, damit du sehen kannst, dass es ihr gut geht. Du hättest Mia sehen sollen, sie hat sofort Zutrauen zu den beiden gewonnen. Hat nicht einmal geweint, als sie sich von den anderen Kindern verabschieden musste. Ganz im Gegenteil, so zufrieden hab ich sie bisher immer nur mit dir gesehen. Ich dachte, besser hätte sie es nicht treffen können. Außerdem…“

Amelia sah wieder hoch, Tränen in den Augen, da ihr das Ganze offenbar näher ging, als Ryon bisher gedacht hatte.

„Darum habe ich dich auch angerufen. Ich hätte es nicht übers Herz gebracht, dir nächstes Mal, wenn wir in den Park gegangen wären, zu erklären, weshalb Mia nicht mehr dabei ist. Ich wollte dir so früh wie möglich Bescheid geben. Das fand ich nur richtig.“

Verstohlen wischte sie sich übers Gesicht, ehe sie in geschäftiges Kramen verfiel, offenbar auf der Suche nach den Unterlagen.

Obwohl es nicht lange dauerte, schien es für Ryon eine Ewigkeit zu sein, die sie brauchte, um den Ordner mit Mias Unterlagen zu finden. Währenddessen hatte er die Gelegenheit, darüber nachzudenken, weshalb Mia sich so anders verhalten hatte. Kein Wunder, wenn der Magier in der Nähe war, dann war kein weibliches Wesen vor diesem Gestank sicher. Vermutlich hatte er sogar Amelia geblendet, um zu erreichen, dass die Adoption so schnell abgewickelt wurde. Denn normalerweise dauerte das wesentlich länger. Aber das hatte sie noch nicht einmal mit einem Wort erwähnt. Vermutlich, weil sie sich daran gar nicht in dieser Weise erinnern sollte.

„Hab sie!“, verkündete die Blondine triumphierend, zog einen Notizzettel hervor und begann für ihn alles nötige nieder zu schreiben.

Inzwischen saß er bereits wie auf Kohlen, weshalb er ihr den Zettel sogar beinahe aus der Hand riss, als Amelia ihn ihm gab.

„Danke, Amelia. Das ist mir eine große Hilfe.“

Er sprang fast von seinem Stuhl auf und war auch schon bei der Tür, ehe sich die Frau überhaupt von ihrem Sessel erheben konnte.

„Ich werde gleich bei ihr vorbei schauen und sehen wie es ihr geht. Ich lass von mir hören. Bis dann.“

Auf Amelias verdutztes ‚Okay‘ reagierte er gar nicht mehr, sondern war auch schon mit wenigen Sätzen aus dem Gebäude und in seinem Wagen.

Mit wenigen Fingergriffen hatte er die Adresse auch schon in sein Navigationssystem eingegeben und raste auch schon davon. Dabei ließ er keinen einzigen Gedanken mehr zu, außer den einen, diese Adresse so schnell wie möglich zu erreichen. Er wollte sich nicht ausmalen, was er vorfinden würde.
 

Paige wachte mit einem dröhnenden Schädel zu einer Uhrzeit auf, zu der es draußen noch stockdunkel war. Der Raum schien sich unter ihr in eine andere Richtung zu drehen, als es das Bett tat und ihr wurde schlecht.

Die Decke, die schwer wie Blei auf ihr lag, zur Seite zu schlagen und auf ihre Füße zu kommen, bedurfte aller Kraft die sie aufbringen konnte. Da war die Reise bis zum Badezimmer, wo sie Kopfschmerztabletten vermutete – nein, herbeisehnte – eine echte Herausforderung. Aber das Ergebnis lockte und ohne das Mittel würde sie ohnehin nicht mehr einschlafen können oder die Nacht im schlimmsten Fall auf den Fliesen vor der Kloschüssel verbringen. Es würde ihr nach den vielen Guinness zwar recht geschehen, aber wenn es sich verhindern ließ, dann wollte sie dafür alles tun.

Sie kämpfte sich hoch, versuchte den Nachttisch nicht zu rammen oder über den Stuhl zu fallen, auf und neben dem ihre Klamotten gelandet waren und schaffte es mit Zwischenstation am Türrahmen unfallfrei bis zum Bad. Dort prallte sie allerdings fast wieder zurück, als sie das Licht anknipste und es ihr so stark in den Augen brannte, als hätte sie sich Alkohol direkt hinein geschüttet.

Mit leicht zittrigen Fingern wühlte sie in dem Spiegelschränkchen und fand schließlich eine Doppelpackung Aspirin, die sie mit einem erleichterten Seufzer aufriss und sich eine von den Tabletten genehmigte.

Natürlich ließ der Schmerz nicht so schnell nach, wie sie es gern gehabt hätte, aber immerhin schaffte sie es die Augen offen zu halten und noch ein paar Schlucke Wasser zu trinken, während sie auf das Einsetzen der Wirkung wartete. Ein Blick in den Spiegel zeigte ihr zerzauste dunkle Haare, dunkle Schlieren, die das Augenmakeup unter ihren Wimpern hinterlassen hatte und blasse Haut. Mehr als ein deutliches Zeichen dafür, dass sie ihren Wecker ausschalten und am nächsten Morgen ausschlafen sollte.

So leise wie möglich ging sie ins Zimmer zurück und ließ das Licht im Bad einfach brennen. So konnte sie ohne Probleme den Weg zum Bett wieder finden und sobald sie in der Waagrechten war und die Decke um sich geschlungen hatte, war ihr sowieso alles egal. Der Schlaf legte sich wie eine warme, weiche Wolke um Paiges Körper, während sich ihre Lippen zu einem kleinen Lächeln kräuselten.
 

Erst gegen Mittag war sie innerlich bereits aufzustehen und duschen zu gehen. Wäre da nicht der Termin mit Dr. Brukes gewesen, sie hätte wahrscheinlich auch das sein lassen und den ganzen Tag im Bett verbracht.

Das erste Mal, seit sie in diesem ganzen Schlamassel ein wenig zur Ruhe kommen konnte, vermisste sie Ai so sehr, dass sie sogar hätte in dieses Haus zurück gehen wollen. Paige liebte es nach einer langen Schicht im Fass aufzuwachen und mit Ai einfach noch über einer Tasse Tee im Bett zu sitzen und sich zu unterhalten. Im Moment hätte sie auch eine Menge zu erzählen gehabt.

Verträumt strich sie sich mit dem Zeigefinger über die leicht lächelnden Lippen. Es war nur ein Abschiedskuss gewesen. Völlig harmlos und nebensächlich. Und trotzdem hatte es gut getan. Es war ein schöner Abend gewesen, sie hatte sich amüsiert und endlich einmal wieder von ganzem Herzen gelacht und gescherzt. Mit einem Kuss von einem netten Iren hätte sie nicht gerechnet und sie hatte es auch nicht darauf angelegt. Aber leid tat es ihr auch nicht. Immerhin war da niemand, der etwas dagegen haben könnte.
 

Je weiter er fuhr, umso größer war das Misstrauen seinem Navi gegenüber. Entweder stimmte etwas mit der Adresse, der Technik oder seiner Fähigkeit den Angaben zu folgen, nicht, oder die Lage sah düsterer aus, als bisher angenommen. Obwohl das kaum noch zu glauben war.

Als der Wagen schließlich zum Stehen kam, regnete es inzwischen so heftig, dass man das verlassene Bürogebäude und die Lager- und Industriehallen nur noch als düsteren Schatten erkennen konnte.

Ryon beugte sich leicht vor, um durch die Windschutzscheibe in das Unwetter hinaus zu blicken. Sein Navi gab an, dass er sein Ziel erreicht hatte.

„Noch nicht.“, murmelte er unheilverkündend. Aber wenn sie Mia auch nur ein Haar gekrümmt hatten, dann würde er dafür sorgen, dass er es erreichte. Wut war nicht umsonst ein äußerst interessantes Gefühl. Es wirkte sich so stark körperlich aus, dass man erst mitbekam, wie stark, wenn man es anders gar nicht mehr realisieren konnte.

Jeder Muskel in Ryons Leib bebte voller Anspannung und Energie. Das Hämmern in seinem Kopf machte alles nur noch einfacher. Es schien ihn aufzustacheln, wie es seine eigenen Gedanken nicht besser vermocht hätten.

Ohne noch weitere kostbare Sekunden zu verschwenden, stieg Ryon aus den Wagen und marschierte schnurgerade auf die Betonruine zu, die einst wohl einmal ein belebtes Office gewesen war, inzwischen aber nur noch ein Bild der Verwüstung darstellte. In den obersten Stockwerken schien es einmal gebrannt zu haben, was man anhand der dunklen Schatten um die glaslosen Fenster erraten könnte.

Kein Ort für ein zweijähriges Mädchen…

Seine Fingerknöchel knackten, als er seine Hände zu Fäusten ballte. Der Regen klatschte ihm seine Haare ins Gesicht, ließ es eiskalt seinen Rücken hinab laufen, bis sich das Wasser sogar in seinen Stiefeln sammelte. Jeder seiner Schritte ging im Prasseln der Wassermassen unter und verstärkte den Eindruck dieser verlassenen Gegend nur noch mehr.

Nirgends brannte Licht oder war eine Menschenseele zu sehen. Alles war wie ausgestorben.

Fast schon hoffte Ryon hier falsch zu sein, aber wie um seine klägliche Hoffnung zu verhöhnen, stieß seine Schuhspitze gegen etwas Weiches.

Als er nach unten sah, erkannte er pinkes Fell, lange Schlappohren, schwarze Knopfaugen und herausquellende Eingeweide in Form von aufgeweichter Watte.

Seine Kiefer krachten aufeinander, als er tief die Luft einsog und sie ruckartig wieder ausstieß.

Ryon begann zu Laufen.
 

Die ohnehin schon schief in den Angeln hängende Eingangstür wurde so hart aufgetreten, dass sie an die Wand krachte. Das Holz zerbarst unter der Gewalteinwirkung und landete in einem Häufchen aus Holzgerippe und gutem Brennmaterial auf dem schmutzigen, mit Glassplittern übersäten Linoleumboden.

Mit hämmernden Schritten stieg er einfach darüber hinweg. Sein Blick schweifte in die vorüber ziehenden und leer stehenden Räume.

Sobald eine Tür ihm die Sicht verhinderte, wurde mit dieser nicht anders verfahren, als der am Eingang. Doch im Erdgeschoss war nichts und niemand. Auch der erste und zweite Stock brachten nur ausrangierte Büromöbel, Kistenweise leerer Bierflaschen, unzählige aufgerauchter Zigarettenpackungen und Spritzen zum Vorschein. Keine Hexe. Kein kleines Mädchen.

Als Ryon sich gerade zu dem ausgebrannten Stockwerken hoch arbeiten wollte, stieß er auf einen weiteren Hinweis.

Die schwere Tür zum Treppenhaus stand leicht offen und dahinter, im Schatten verborgen lag ein kleiner geblümter Kinderschuh.

Ryon war auf der richtigen Spur, obwohl sich alles in seinem Innersten dagegen wehren wollte, diese Tatsache auch zu akzeptieren. Doch er verlor keine Zeit, stieß auch diese Tür auf und lief die rußgeschwärzten Treppen hoch. Der Gestank von verbranntem Stein, Asche und Kohle lag in der Luft, doch auch ganz leicht der Duft von Blumen, Kräutern und … etwas Süßlichem. Mia!

Wenn er an Mias Haar schnupperte, erinnerte ihn das stets an heißes Karamell.

Seine Schritte beschleunigten sich, als er ihren Geruch deutlich erkannte. Sie war ganz nahe.

Im nächsten Stock riss er die schwere Feuertür so heftig auf, dass es ihm einen schmerzhaften Stich in der Schulter verpasste.

Als er hindurch trat, blieb er wie angewurzelt stehen. Im großen Raum ihm gegenüber stand eine große schlanke Frau, die so große Ähnlichkeit mit dem Magier hatte, dass sie eigentlich tatsächlich nur seine Schwester sein konnte. Denn weder hatte der Kerl so alt ausgesehen, um ihr Vater sein zu können, noch war diese Frau im angemessenen Alter um seine Mutter darstellen zu können. Sie war vielleicht sogar noch jünger als Paige.

„Ich habe bereits auf dich gewartet, Ryon.“

Sie hatte eine Stimme so geschmeidig und fließend, wie die dunklen Gewänder die sie am Leib trug. Äußerst charismatisch, sympathisch und so vertrauenswürdig, dass es einem bis ins Mark und Bein ging.

„Komm doch näher, damit ich dich besser betrachten kann.“

Sie lächelte honigsüß und schien dabei noch mehr dieses blumigen Dufts zu verströmen, der sich auf seine klatschnasse Haut wie warmer Sommerregen legte.

Ryon trat durch die offen stehende Tür direkt auf die Frau zu, ohne sie aus den Augen zu lassen.

„Mhmm…“, schnurrte sie genüsslich.

„Ich habe schon gehört, dass du ein stattliches Exemplar deiner Spezies sein sollst. Wie gut, dass mich meine Interessen direkt zu dir geführt haben. Das dürfte ausnahmsweise vielleicht sogar einmal Spaß machen.“

Die Hexe, denn als nichts anderes konnte man sie bezeichnen, lächelte kokett, während sie sich ihr langes Haar nach hinten warf, was erneut eine Duftwelle durch den Raum fluten ließ.

„Wo ist das Mädchen?“

Ryon ließ sich nicht von seinem Ziel abbringen. Erst recht nicht, da er sich seltsam leicht zu entspannen begann. Seine Fäuste lösten sich, seine Muskeln begannen sich zu lockern und er nahm eine bequemere Haltung ein, die seine Deckung zunichtemachte.

„Nebenan und schläft friedlich. Also lass dich bitte nicht davon abhalten, dein Hemd zu öffnen. Ich will sehen, was sich darunter verbirgt.“

Einen gefühlt langen Moment starrte er regungslos in diese unergründlichen Augen. Inzwischen war der Gestank nach Verbranntem vollkommen verschwunden. Überdeckt von dem aromatischen Düften dieser Frau mit dem lieblichen Lächeln, die geduldig darauf wartete, dass er ihrer Aufforderung nach kam.

Er hob die Hände und begann sein Hemd aufzuknöpfen, um ihren Wünschen nachzukommen.
 

Beschwingt lief sie durch die Straßen, die sie auch in der vergangenen Nacht entlang gegangen war. Immer wieder fehlten ihr gedanklich Fetzen des Weges. Aber das wurde durch andere Bilder ausgeglichen. Immer wieder musste sie breit lächeln oder sogar grinsen, wenn sie an die Unterhaltung mit Garry und einige Scherze dachte.

Schon immer hatte Paige es seltsam gefunden, dass ihre Seiten sich auf ihre jeweilige Umgebung einstellten. Gestern hatte sie nicht ein einziges Mal daran gedacht, dass sie eine Feuerdämonin war. Die ganze Zeit über war es nicht wichtig gewesen, dass sie sich von Garry, einem ganz normalen Menschen sehr deutlich unterschied.

In einer fast unsicheren Geste klappte Paige den Kragen ihres Mantels hoch und ließ die Hände kurz an ihrem Kinn, während sie sich vorstellte, wann es garantiert zu Fragen gekommen wäre. In gewissen Situationen konnte kein Dämon oder irgendeine andere nicht-menschliche Person ihr Wesen zurück halten. Jetzt biss sie sich grinsend auf die Unterlippe und sah Garrys blaue Augen bildlich vor sich. Sie hätten sich bestimmt geweitet... Vor Schreck zuerst...

Mit einem Kopfschütteln vertrieb Paige die Gedanken. Sie hatte es nicht so weit kommen lassen. Dass er süß gewesen war und ihr ein wenig nachhing, war nicht zu leugnen. Aber es wäre nicht fair gewesen.

Ihre Schritte knirschten auf dem Bürgersteig, als sie langsam weiter ging und sich Gedanken darüber machte, warum sie nicht gesagt hatte. Seine Wärme hatte nach Getreide geschmeckt, ein wenig süß und nach Zimt. Mit ihrer dämonischen Seite hätte sie davon noch mehr aufnehmen können. Sie schmeckte Männer, die ihr so nah kamen sehr gern. Jeder hinterließ einen anderen Eindruck.

Ihre Schritte verlangsamten sich nur unmerklich, als Paige in den trüben Himmel mit den tief hängenden Regenwolken hinauf sah. Nur bei den wenigsten Männern hinterließ deren Körperwärme einen Eindruck von Substanz auf Paiges Zunge. Körnig und schmelzend, kurz bevor man die Blüte des Geschmacks richtig erhaschen konnte...

Entschlossen zog sie das Handy aus der Tasche und war schon im Nachrichtenmenü, bevor sie innehielt. Was sollte sie denn schreiben? 'Wie geht es dir?'

Mit einem schweren Seufzen stellte Paige fest, dass sie nichts schreiben konnte, das ihr eine sichere Antwort garantiert hätte. Er hatte sie bestimmt schon vergessen.
 

Der Schmerz in seinem Kopf war zunächst mehr und mehr schwächer geworden, verblasste zusehends, bis er mit einem Mal ganz verschwunden war. Dafür prickelte seine Haut heiß und es war ihm, als könne er jeden Wassertropfen einzeln auf seinem Körper spüren.

Während er langsam einen Knopf nach dem anderen öffnete und sein Hemd immer mehr Teile seines Oberkörpers freigab, blieben seine Augen starr auf das fein geschnittene Gesicht der Hexe gerichtet. Sie hingegen sah ihn mit unverhohlener Offenheit an. Ließ ihre Augen über die Konturen seiner Haut gleiten, als wolle sie ihn selbst von dieser Entfernung streicheln. Doch beim Anblick des Amuletts über seinem Brustbein sog sie erschaudernd die Luft ein.

„Wunderschön.“, hauchte sie in erhabenem Tonfall, ehe sie mit ausgestreckter Hand näher trat, um nach dem Schmuckstück zu greifen. Doch obwohl sie mit einem Selbstbewusstsein an ihn heran getreten war, das zeigte, wie deutlich sie sich ihrer Macht über ihn bewusst sein musste, wagte sie es dennoch nicht, das Schmuckstück zu berühren.

Stattdessen blickte sie mit einem zufriedenen Lächeln zu ihm auf.

„Ich kann verstehen, warum sie dich lebend haben will. Keiner der die Macht dieses Amuletts spüren kann, würde es unterschätzen. Kleinen verdorbenen Mädchen wie ich eines bin, würde dieses Schmuckstück gar nicht gut bekommen. Dir hingegen scheint es ganz und gar nicht zu schaden. Du siehst…“

Ihre Augen schweiften kurz über seine gut ausdefinierten Bauchmuskeln, ehe sie weiter sprach.

„…kern gesund aus. Aber ich denke, das trifft auf die meisten Wandler zu. Wie ich hörte, läufst du mit den Tigern. Ich persönlich fand Raubkatzen immer schon sehr anziehend. Sie sind so wild und stolz. Ungezähmt und unberechenbar. Aber vor allem sind männliche Raubkatzen dominant…“

Die Finger, die nicht gewagt hatten, das Amulett zu berühren, schienen offenbar kein Problem damit zu haben, etwas aus seiner Sich betrachtet, weitaus gefährlicheres zu tun.

Ihre kühlen Fingerspitzen berührten seine brennend heiße Haut direkt unterhalb des Schmuckstücks und fuhren die natürliche Linie zwischen seinen Muskelsträngen nach in Richtung seines Bauchnabels.

Seinem Körper gefiel diese Berührung offenbar, was sich an seinen härter werdenden Brustwarzen nur zu deutlich abzeichnete.

Mit einem wissenden Lächeln realisierte auch die Hexe diesen Umstand.

„Sag mir, die Dominanz der Raubkatzen trifft nicht zufälligerweise auch auf deine menschliche Seite zu? Ich muss gestehen, ich kann Waschlappen nicht ausstehen. Du hingegen siehst ganz und gar unartig aus, auch wenn du ein gutes Herz hast. Aber das würde uns wohl kaum im Weg stehen, oder?“

Da sie ohnehin keine Antwort auf ihre Worte zu erwarten schien, zumindest keine verbale, blieb er stumm, aber ganz und gar nicht teilnahmslos.

Seine Gesichtszüge waren unbewegt, wie immer, selbst als ihre Finger die Grenze seines Bauchnabels bereits weit überschritten hatten. Doch sein hämmernder Puls ließ sich nicht leugnen. Ebenso wenig, wie die aufflammende, regelrecht aggressive Hitze in seinem Leib, die durch diese zierlichen Frauenhände nur noch geschürt wurde.

Ryons Muskeln begannen vor gespannter Erwartung und Erregung zu zittern, als sich die Hand der Hexe genau auf jene Stelle legte, die ihn am Meisten verriet.

Ihre Augen weiteten sich leicht ungläubig und zugleich verzückt, ehe sie ihm tief in die seinen sah und ihr Duft so stark zu nahm, dass er ihn intensiv auf der Zunge schmecken konnte. Egal wie oft er schluckte.

„Ich denke, ich lag mit meiner Entscheidung richtig, meine Meisterin erst später darüber zu informieren, dass ich dich gefangen habe. Wie mir scheint, hätte sie uns sonst noch unnötig gestört.“

„Du bist allein?“, fragte er mit samtig weicher Stimme, der ihren Tonfall zu imitieren schien. Allerdings kam er bei seinem Bariton wesentlich besser zur Geltung.

Die Hexe nickte, während sie ihm das Hemd, zusammen mit seinem Mantel von den Schultern streifte, so dass beides zu Boden fiel.

„Oh ja. Mein Bruder wollte mir zwar davon abraten, da er meinte, ich könne nicht mit dir fertig werden. Aber was weiß er schon. Er ist ein Mann und wird somit immer die Waffen einer Frau unterschätzen. Immerhin war die List mit der Adoption ziemlich raffiniert, findest du nicht? Ich wusste, dass das kleine Mädchen aus dem Park dich zuverlässig in meine Hände locken wird. Und somit auch das Amulett.“

Ihre Finger strichen über die silberne Kette um seinen Hals, an der das heiß begehrte Schmuckstück hing. Offenbar suchte sie so etwas wie einen Verschluss, denn optisch betrachtet, wäre das die einzige Möglichkeit, wie man es ihm abnehmen konnte. Denn sein Kopf war zu groß, um es ihm einfach darüber ziehen zu können. Wie gesagt, optisch betrachtet. Die Realität sah anders aus.

„Ich spüre, dass auch auf der Kette ein Zauber liegt. Wie interessant.“, meinte sie mit sachlichem Interesse, ehe sie wieder zu dem honigsüßen Tonfall zurückkehrte.

„Nimm sie ab. Ich will nicht, dass sie uns bei etwas stört.“

Wieder hob er die Hände an. Zum Erstaunen der Hexe ging es ganz einfach, die Kette über seinen Kopf zu streifen und sie samt dem Amulett auf den Kleiderhaufen zu werfen, der zu seinen Füßen lag. Als wäre die Kette lediglich ein Gummiband und nicht aus einem festen, nicht dehnbaren Material. Der Zauber war nicht nur interessant, sondern auch raffiniert.

„Einmal von den offensichtlichen Dingen abgesehen, Hexe. Was bringt es dir, mit mir ‚fertig‘ zu werden? Geld?“, wollte er weiter wissen, während er seine eigenen Hände auf die Taille der Hexe legte und dort ihren Körper hoch streichelte, wobei er jede ihrer Konturen unter dem dünnen Stoff ihrer Kleidung ertasten konnte.

„Sianna. Nenn mich bitte nicht Hexe. Da komme ich mir so alt und buckelig vor und das bin ich ja wohl nicht.“

Er lächelte und ertastete prüfend ihren festen Hintern.

„Nein, das bist du nicht. Also, was bin ich deiner Meisterin wert, dass du dieses Risiko auf dich nimmst?“

Ryon beugte sich über sie, zog sie näher an sich heran, so dass sie sich entzückt an ihn schmiegte, während ihre Hände auf Erkundungstour gingen und das nicht gerade zurückhaltend.

„Ich wüsste nicht, wieso dich das interessieren-“

Sianna seufzte auf, als er die empfindsame Stelle unterhalb ihres Ohrläppchens sachte anknabberte, ehe er seine Lippen dicht an ihr Ohr legte und ihr leise seine Antwort zuflüsterte.

„Weil ich gerne wüsste, wie wertvoll ich für dich bin.“ Oder sie für ihn. Das würde sich schließlich noch herausstellen.

Ihre Hände streichelten seine Seite entlang nach unten, schoben sich unter den Stoff seiner Hose und legten sich um seinen Hintern. Ein entzückter Laut entkam ihr, dicht an seiner Brust.

„Einmal von deinem körperlichen Wert abgesehen, bekommt derjenige, der dich lebend fängt 1 Millionen Pfund und dazu noch Kräfte, die weit über das Vorstellungsvermögen einer einfachen kleinen Hexe hinaus gehen.

Du siehst also, meine Mühen haben sich ausgezahlt.“

Sie schenkte ihm ein zufriedenes Lächeln, als er ihr Gesicht zwischen seine Hände nahm und auf sie herab sah.

„Da bin ich anderer Meinung.“, widersprach er mit eisigem Tonfall und brach ihr das Genick.

33. Kapitel

Auch als sie hinein hauchte und sie fest aneinander rieb, wollten ihre durchgefrorenen Finger nur langsam warm werden. Aber das würde sich ändern, sobald sie eine große Tasse Tee in ihnen hielt und sich wieder in Dr. Brukes kleinem Büro befand.

Die Irin holte Paige am Empfang ab, wie beim letzten Mal, ließ sie ihr einen Besucherausweis ausstellen und ging anschließend mit ihr ein paar muffig riechende Gänge entlang. Paige wunderte sich, dass die hier Arbeitenden nicht jeden Tag auf's Neue mit Kopfschmerzen nach Hause gingen. Das Haus musste alt sein. Und nicht renoviert. An den Wänden hingen Tapeten, die Paige das Fürchten lehrten und ihrem Kater nur noch einmal Auftrieb verliehen.

Um das einigermaßen in Grenzen zu halten, sah sie auf den grünen, ausgelatschten Teppichboden und ging schnell neben Dr. Brukes her, bis sie das Büro erreichten, das die Frau wohl aus gutem Grund mit hohen Bücherregalen und ihren Diplomen gefüllt hatte. Von der lila karierten Tapete war nur an wenigen Stellen noch etwas zu sehen. Auch wenn das durchaus reichte, um das Pochen in Paiges Kopf zu verstärken. Mal von den Bildern, die sie erneut zwischen sich ausbreiteten, vollkommen abgesehen.

„Ich habe Ihnen die gewünschten Kopien gemacht.“

Die Rothaarige schob Paige eine braune Papiermappe zu, auf der ein kleiner USB-Stick lag. Um Ryon wenigstens minimal über ihre Ergebnisse zu informieren, hatte sie um einen Scan der Bilder gebeten, den sie ihm mailen konnte.

„Vielen Dank, das ist wirklich entgegen kommend von Ihnen.“

Das war es tatsächlich. Und Paige war ganz froh, dass sie nicht wusste, was Stanley dieser Frau über sie selbst erzählt hatte, um dieses große Vertrauen zu rechtfertigen. Immerhin hatte sie hier Vertrauliches in den Händen und konnte darüber verfügen, wie sie wollte. Vielleicht war den Menschen auch gar nicht klar, wie wichtig die Bilder und dieser runde Raum in Ägypten in Wirklichkeit waren. Eigentlich wusste sie das selbst auch nicht. Bloß weil der Schatten in ihr einen derartigen Nachklang verursachte, hieß das noch lange nicht, dass er auch wirklich so gewichtig war, wie sie annahm. Unter Umständen fischte sie hier total im Trüben, ohne etwas zur Lösung ihres Problems beizutragen.

„Keine Sorge,“, Dr. Brukes winkte ab und lächelte freundlich. „Mir wurde garantiert, dass die Daten bei Ihnen in sicheren Händen sind.“

„Haben Sie denn über meine Idee nachgedacht?“, fragte Paige unverwandt, um von ihren 'sicheren Händen' auf ein anderes Thema zu lenken. Immerhin war sie in ihrem Zuhause dafür bekannt, dass sie sich solcherlei Dinge mit ihren geschickten Fingern normalerweise auf illegale Weise beschaffte.

„Sie meinen das mit dem Schloss?“

Der Ausdruck im Gesicht der Wissenschaftlerin war weniger ablehnend, als Paige erwartete hatte.

„Ja. Es wäre doch nicht das erste Mal, dass so etwas vorkommt. Ich meine ... nicht nur in irgendwelchen Abenteuerfilmen.“

Sie hatte ehrlich gesagt keine Ahnung. Denn Indiana Jones war nunmal die Quelle, aus der sie ihr Halbwissen über Archäologie zog. Verschiedene Stellen an ihrem Körper kribbelten unangenehm, als sie daran dachte, dass sie jeden Moment auffliegen könnte.

„Schon, aber Sie müssen auch bedenken, dass Vieles bei den Kelten hauptsächlich symbolisch zu verstehen war. Nicht jedes Schloss muss zwingend auch etwas Reales einschließen. Es könnte nur für etwas Anderes stehen. Zum Beispiel, dass die Menschen sich vor schlechten Gedanken oder Ähnlichem hüten sollten.“

Das leuchtete leider ein. Aber sobald Paiges Blick wieder auf dieser undefinierbare schwarze Masse mit den hellen Augen fiel – und auch wenn sie sie nicht sehen konnte, wusste sie doch, dass da auch Reißzähne waren – war sie sich sicher, dass das nicht alles war.
 

Eine halbe Stunde später hatte sie sich mit einem festen Händedruck von Dr. Brukes verabschiedet und war zurück ins Hotel gegangen, um die E-mail an Ryon aufzusetzen. Auf ihre kurze SMS hatte er schnell mit seiner Adresse geantwortet. Paige sah noch einmal auf ihr Handy, bevor sie die Buchstaben in den PC in der Lobby eintippte. Sonst hatte er nichts geschrieben. Keinen Gruß, keine Frage – nicht ein überflüssiges Wort...

„Hallo Ryon,

vielen Dank für die schnelle Antwort.

Ich hoffe bei euch ist alles in Ordnung und du kommst mit der Suche besser voran als ich es im Moment von mir behaupten kann.

Im Anhang findest du die Fotos des Raumes. Damit du dir von meinem 'Schatten' selbst ein Bild machen kannst. Mein Kontakt konnte mir mit der Auslegung leider auch nicht sehr viel weiter helfen.

Liebe Grüße an alle!

Paige

PS:„

Mit jeweils einem einzelnen Klick der Entfernen – Taste löschte Paige die letzten drei Zeichen. Der Cursor hatte einige Sekunden dort geblinkt, wo sie etwas wie 'Ich hoffe es geht dir gut.' oder 'Dublin ist schön. Du hättest mitkommen sollen.' hatte anfügen wollen. Aber was brachte es? Sie wusste sehr genau, dass sie sich damit nur noch mehr herunter ziehen würde. Aus Ryon konnte sie keine nette kleine Reaktion heraus kitzeln. Er vermisste sie nicht und würde daher auch nichts Derartiges in einer E-mail schreiben.

Vor seiner eigenwilligen Veränderung hätte sie es trotzdem versucht. Nach ihrer Nacht auf dem Boden, den friedlichen Stunden, die sie gegenseitig im Arm des Anderen geschlafen hatten...

Widerwillig schüttelte sie so stark den Kopf, dass sie mit einem schmerzhaften Pochen belohnt wurde. Was dachte sie denn da? Bloß weil sie eine Flugreise weit von einander entfernt waren, brauchte sie doch noch lange nicht anfangen zu spinnen.

Ryon war Ryon. Eiskalt und gefühllos. Er hatte Gründe dafür und würde es nie aufgeben. Und Paige verstand es sogar ansatzweise.

Sie ging noch einmal hinaus auf die Straße, besorgte sich asiatisches Essen zum Mitnehmen in kleinen Pappkartons, Schokopudding mit Sahne und eine dicke Frauenzeitschrift. Etwas, das sie sich nur in speziellen Fällen gönnte. Und da sie keinen Fernseher hatte, auf dem sie die halbe Nacht hätte Cartoons schauen können, musste es eben das sein.

Nachdem sie das Essen an der Rezeption vorbei in ihr Zimmer geschmuggelt hatte, ließ sie sich mit allem auf dem knarzenden Bett nieder und breitete die Fotos aus, um sie sich noch einmal anzusehen. Es war beinahe unglaublich, wie sehr es sie wurmte, dass sie nicht darauf kam, woher sie ihn kannte.
 

Schweiß überströmt und mit pochendem Herzen riss sie die Augen auf. Eins der Bilder lag unter ihrer Wange, die Anderen waren in ihrem Kampf mit der Decke auf dem Boden gelandet. Sie wusste es!

Ihr wurde schwindelig, als sie so aus einem Albtraum hochgeschreckt vom Bett sprang und durch das stockdunkle Zimmer ins Bad stürmte.

Paige schlug mit der flachen Hand auf den Lichtschalter und war so schnell bei ihrem Kulturbeutel, dass das Bad noch gar nicht ganz erleuchtet war, bevor sie wie wild in ihren Sachen kramte.

Ihr Atem ging schnell und ihr Herz schlug beim Anblick dessen, was sie in der Hand hielt nur noch eine Spur schneller. Drei Phiolen hatte sie noch übrig. Die Vierte war bereits angefangen. Aber für Paiges Zwecke würde sie hoffentlich dennoch ausreichen. Eine ganze Injektion auf einmal würde sie...

Entschlossen stand sie auf, schloss die Badezimmertür und verriegelte sie, bevor sie die Badewanne mit kaltem Wasser voll laufen ließ. Mit zitternden Muskeln und einem schweren Stein ihrer zusammengezogenen Angst im Magen stand sie Momente später nackt und reglos vor der glatten Wasseroberfläche.

In der Hand hielt sie die Injektionspistole, die sie mit sich nahm, als sie mit zusammen gebissenen Zähnen in die Wanne stieg. Zufrieden stellte sie fest, dass ihr das Wasser, Dank des Sockens, den sie in den Überfluss gestopft hatte, bis zum Hals ging. Wenn sie sich vorsichtig hinlegte, würde es ihren Körper vollkommen bedecken. Es war nicht perfekt, aber es musste reichen.

Ihre gesamte Haut war überdeckt mit Gänsehaut. Sie zitterte vor Kälte und Anspannung, als sie die Pistole mit der rechten Hand direkt über ihrem Herzen aufsetzte.
 

Als ihre Hände von ihm abfielen, war es, als würde sich zugleich auch eine unsichtbare Fessel um seinen Körper deutlich lockern. Eine Art Kontrolle, die seinem körperlichen Empfinden und seinen Hormonen etwas aufzwang, das sein Verstand nicht nachvollziehen konnte, da, wie schon so oft in letzter Zeit, das passende Medium dafür fehlte – seine emotionalen Gefühle.

Deshalb empfand er weder Reue, Wut, Hass noch Abscheu der toten Hexe gegenüber, die er einfach wie einen unbedeutenden Gegenstand zu Boden gleiten ließ.

Genau aus diesem Grund hatten ihre Kräfte auch nicht vollständig auf ihn wirken können. Ryons Körper mochte vielleicht verrückt gespielt haben, aber das war unbedeutend, wenn man bedachte, dass sein Verstand immer noch vollkommen nüchtern und klarsichtig war. Nur eines hatte letztendlich der Hexe diesen vorzeitigen Tod beschert und die Farce beendet, die er da gespielt hatte.

Das Wissen, dass ein kleines Mädchen in dieser unwirklichen Gegend gefangen gehalten wurde und er hier kostbare Minuten vergeudete, um noch ein paar Fragen zu erhalten, hatte seine Geduld weit überstrapaziert.

Darum schenkte er der toten Frau auch keine Beachtung mehr, sondern schnappte sich stattdessen seine Sachen vom Fußboden und streifte sie sich über, während er im Laufschritt aus dem Raum lief.

Im Flur gab es weitere Türen links und rechts von ihm, doch Ryon ersparte sich zeitaufwendiges Suchen, in dem er einfach den deutlichen Spuren auf dem Fußboden folgte, welche die Hexe in der dicken Ascheschicht hinterlassen hatte.

Sie führten drei Türen weiter zu einer Abstellkammer, wo ein Blitz förmlich Ryons Schädel spaltete, als er die Tür aufzog und den Anblick dahinter realisierte.

Seine Kopfschmerzen kehrten mit solch einer Wucht zurück, dass der Boden unter ihm zu schwanken schien und einen Moment alles um ihn herum verschwamm.

Mit einem schmerzlichen Stöhnen, das nicht nur seinem Kopf galt, sank er auf die Knie und hielt sich am Türrahmen fest, während er um Fassung kämpfte.

„Mia…“, kam es ihm wortlos über seine Lippen.

Das kleine Mädchen lag in dem leeren Raum auf einer dünnen Schicht alter Zeitungen. Vermutlich ein humaner Versuch sie daran zu hindern, beim Schlafen etwas von der Asche einzuatmen, da ihr Kopf nichts außer dem schmutzigen Boden hatte, auf den sie ihn hatte ablegen können. Sie war noch nicht einmal zugedeckt, sondern lag mit ihrer hellgelben Latzhose, einer dünnen Strumpfhose und einem kurzärmeligen Hemdchen in dem kalten Raum. Ein Schuh fehlte. Ihre Kleider waren schmutzig und zerrissen, das für gewöhnlich schokoladenbraune Haar von Asche verklebt, was vermuten ließ, dass sie auch nass geworden war, obwohl es hier in diesem Raum trocken aussah.

Mias Atmung war tief und unnatürlich ruhig, wenn man die Umstände bedachte, unter denen sie hier so fest schlief. Was vermuten ließ, dass man ihr irgendetwas gegeben hatte, um sie ruhig zu halten. Kein Wunder, wenn man die rot geschwollenen Augen des Mädchens so sah, musste sie entsetzlich geweint haben.

Als Ryon endlich den ersten Schock überwunden hatte und den kleinen Körper vorsichtig vom Boden hoch hob, verspürte er den gewaltigen Drang diese Hexe noch einmal umzubringen und zwar in aller Ruhe, um keinen der Schmerzensschreie zu verpassen!

Doch als er Mias viel zu kalte Haut spürte und ihren trägen Herzschlag hörte, verflogen diese Rachegedanken schnell. Stattdessen musste er sich fragen, ob er sie noch rechtzeitig zu Tennessey bringen konnte. Sie war in einer absolut schlechten Verfassung.

Umso vorsichtiger drückte er sie unter seinem Mantel an seinen warmen Körper, während er sicher ging, dass auch wirklich kein Zentimeter ihrer Haut noch ungeschützt blieb, sie aber dennoch genügend Luft zum Atmen bekam.

Danach stand er auf, war aber gezwungen frustrierend langsam zu gehen, um sie nicht unnötig heftig durch zu schütteln.

Endlich unten auf der Straße angekommen, krümmte er seinen Rücken etwas, um sie vor dem strömenden Regen zu schützen, während er mit platschenden Schritten zum Auto ging.

Obwohl er nichts lieber getan hätte, als wie ein Irrer los zu rasen, musste er sich im Wagen erst einmal davon überzeugen, dass sie immer noch atmete. Außerdem streichelte er immer wieder ihre Wange, während er ihren Namen sagte, doch sie reagierte überhaupt nicht darauf. Also ließ er den Motor an und fuhr mit Mia an seiner Brust los.
 

Während der viel zu lange andauernden Fahrt, in der er sie auch weiterhin beschützend fest hielt, begann Mia sich langsam zu regen. Erst war es nur eine leichte Bewegung ihrer Finger oder den Füßen, bald darauf drehte sie sogar ihren Kopf auf die andere Seite und gab ein leises Wimmern von sich, bis sie schließlich Ryons schwer angeschlagenes Gemüt erleichterte, in dem sie leise zu Weinen anfing.

Als er dann mit dem Wagen endlich die Einfahrt erreichte, war sie wieder richtig lebendig geworden. Zwar drückte sie sich instinktiv näher an ihn heran, aber sie weinte so herzzerreißend laut, dass das Empfangskomitee nicht lange auf sich warten ließ, als Ryon mit dem kleinen Mädchen aus den Wagen stieg und durch den strömenden Regen zum Haus lief.

Tyler riss im selben Moment die Tür auf, als er sie erreichte. Völlig verdutzt sprang der Diener in letzter Sekunde zur Seite, bevor Ryon ihn rammen konnte.

Ohne auf irgendwelche Fragen zu antworten, die gegen das Weinen der kleinen Sirene gerufen wurden, schnappte er Tennessey am Arm und zog ihn im Laufschritt mit zu Ryons Büro, das der Doc auch zeitweise als sein eigenes Arbeitszimmer benützte.

Dort angekommen sperrte er unnötiges Publikum entschlossen aus.

„Hast du deine Arzttasche hier?“, verlangte er zu wissen, während er langsam seinen Mantel aufzog, um das strampelnde Bündel in seinen Armen zu befreien.

„Natürlich.“ Tennessey ging zu dem Regal wo er seine Sachen unter gebracht hatte und holte die schwarze Ledertasche, die er auf dem Schreibtisch abstellte und schon einmal öffnete.

„Kannst du mir vielleicht einmal erklären, was du mitten in der Nacht mit einem kleinen Kind bei diesem Wetter willst? Wer ist die Kleine überhaupt?“

„Später, okay?“

Ryon ließ den Mantel einfach auf den Boden fallen, nachdem er mit seinen Armen daraus geschlüpft war. Hier im Raum war es warm genug, so dass Mia nicht frieren musste und nun, da sie hatte sehen können, wer sie da die ganze Zeit herum trug, war auch ihr Weinen etwas leiser geworden, doch man sah ihr deutlich an, wie verstört sie noch war.

„Ich will erst sicher gehen, dass es ihr gut geht. Meiner Vermutung nach hat man sie betäubt und sie muss auch einige Zeit ungeschützt der Kälte ausgesetzt gewesen sein. Ich kann leider nicht fühlen, ob sie Fieber hat.“

Er legte zärtlich seine Hand auf ihre Stirn, aber für ihn war sie einfach nur kalt.

Einen Moment lang sah Tennessey verwirrt von Ryon zu Mia und wieder zurück, bis er schwer seufzte und sich entschlossen die Ärmel hoch krempelte.

„Na gut. Setzt dich mit ihr auf den Stuhl da. Damit ich sie mir ansehen kann.“

Ryon tat wie ihm befohlen und setzte sich.

Während er Mia so zu Tennessey herum drehte, dass er sie besser untersuchen konnte, flüsterte er ihr beruhigende Worte ins Ohr, um ihr die Angst vor seinem Freund zu nehmen. Was natürlich nur mäßig half. Immerhin waren ihr wohl in letzter Zeit genug fremde Gesichter zugemutet worden.

Mit einem Taschentuch wischte er ihr die laufende Nase und den beständigen Tränenstrom ab, während Tennessey in ihrem Ohr ihre Temperatur miss.

„Sie hat erhöhte Temperatur, aber kein Fieber.“, beruhigte Tennessey ihn, als Ryon ihm einen fragenden Blick zugeworfen hatte. Danach nahm der Arzt sein Stethoskop und wärmte es zwischen seinen Handflächen etwas an.

Inzwischen war Mia zu erschöpft, um noch weiter lauthals zu schreien. Stattdessen legte sie ihren Kopf an Ryons Brust und weinte nur noch im Stillen vor sich hin, während sie zuließ, wie Tennessey ihr die Träger der Latzhose über die Schultern zog, um unter ihr Hemdchen zu kommen, damit er ihren Herzschlag und die Lungenfunktion abhören konnte.

Ryon streichelte unablässig Mias Wange und wurde es nicht müde, immer wieder leise zu ihr zu sprechen, während sein Freund sie untersuchte.

Es war deutlich zu spüren, wie die Anspannung langsam von ihnen beiden abfiel. Die Kopfschmerzen wurden weniger, auch wenn sie nicht ganz verschwanden, aber dafür fühlte er sich zumindest im Augenblick beruhigt.

„Und?“, fragte er schließlich, als er sah, wie Tennessey seine Sachen zusammen packte.

„Wie lautet die Diagnose?“

Nachdem er den Koffer wieder verstaut hatte, sank der Doc in den Bürosessel und betrachtete einen Moment musternd das Bild, das Ryon und die kleine Mia für ihn abgeben mussten. Erst nach gründlicher Analyse brach er das Schweigen.

„Einmal davon abgesehen, dass sie dringend ein Bad, neue Kleider, etwas zu Essen und viel Ruhe braucht, dürfte sie mit dem Schrecken davon gekommen sein. Von was auch immer. Im Augenblick scheint sie mir nicht traumatisiert zu sein, aber das kann ich erst wirklich mit Sicherheit sagen, wenn ich sie länger beobachten konnte. Ich nehme an, sie bleibt für eine Weile hier?“

Ryon nickte nur, während er sich unbewusst die leicht brennenden Augen rieb. Das Licht in diesem Zimmer tat ihm weh und er fühlte sich ungefähr genauso erschöpft, wie das kleine Mädchen, das im Begriff war, auf seinem Schoß gekuschelt einzudösen.

Daher bemerkte er auch nicht Tennesseys musternden Blick, der ganz und gar ihm galt.

Schon als er hier ohne Paige angekommen war, hatte nicht nur der Arzt sondern auch Tyler ihn so seltsam angesehen und sich hinter seinem Rücken gegenseitig Blicke zugeworfen. Aber bisher hatte jeder von ihnen ihren Fragen für sich behalten, wenn auch sicher war, dass sie hinter seinem Rücken das Thema gründlich bearbeitet hatten.

Ryon wusste, irgendwann würde er nicht mehr einfach so ohne Erklärungen davon kommen. Aber zumindest heute, konnte es ihm egal sein.

Vorsichtig hob er Mia an seine Schulter und stand auf, während sie sich in seine Halsbeuge kuschelte und sich mit ihren kleinen Fäustchen an seinem Hemd fest krallte.

„Ich werde sie jetzt erst einmal baden und ihr was anderes anziehen. Danke für deine Hilfe, Tennessey.“

Bevor er die Tür erreicht hatte, rief ihn sein Freund noch einmal zurück.

„Hier. Nimm die dreifache Dosis von der angegebenen Menge. Das dürfte gerade so reichen.“

Ryon blickte auf das kleine Tabletten Schächtelchen, das Tennessey ihm hinhielt.

„Was ist das?“

„Schmerzmittel. Damit du vielleicht wenigstens heute in Ruhe durchschlafen kannst. Zwar kann ich dir nicht versprechen, dass die Symptome deiner Migräne dadurch ganz abgestellt werden, aber zumindest dürften sie wenigstens für ein paar Stunden etwas gemildert werden. Darüber sprechen wir übrigens auch ‚später‘.“

Tennessey drückte ihm die Schachtel in die Hand, öffnete ihm die Tür und schmiss ihn förmlich mit einem Für-heute-bist-du-noch-einmal-davon-gekommen-Blick raus.

Von den anderen war nichts zu sehen, wofür Ryon auch mehr als dankbar war. Im Augenblick hatte er wirklich nicht den Nerv, sich unnötigen Fragen zustellen. Außerdem wollte er Mia nicht noch länger in diesem Dreck lassen. Ein warmes Bad würde ihr sicher ganz gut tun.
 

Es war ein sehr seltsames Gefühl gewesen, nach all den Jahren das Kinderzimmer wieder zu betreten und dabei nichts zu empfinden. Zwar waren bei dem fast schon vertrauten Anblick Erinnerungen hoch gekommen, an jene Zeit, als er es liebevoll bis ins letzte Detail eingerichtet hatte, während Marlene nicht da war oder bereits schlief, aber da war kein Schmerz. Kein Verlustgefühl oder Trauer. Stattdessen war da eine seltsame Leere, die sich nicht richtig anfühlte.

Zum Glück hatte er Mia bei sich, die seine volle Aufmerksamkeit forderte und ihn somit von seinen Gedanken ablenkte. In dem extra für Kinder eingerichtetem Badezimmer, hatte er eine Wanne voll Wasser eingelassen, während er Mia von den schmutzigen Kleidern befreite. Dank einer speziellen Gummiente, die er im Badewasser hin und her schwenkte, konnte er die richtige Temperatur des Wassers bestimmen. Falls es zu heiß gewesen wäre, hätte sich das Gelb der Ente blau gefärbt. So aber war es genau richtig, als er Mia in die kleine Wanne setzte und ihr mit einem flauschigen Schwamm den Schmutz von der Haut entfernte, während sie sich völlig überfordert von den vielen neuen Eindrücken im Badezimmer umsah.

Ihr Blick blieb schließlich an ihm hängen.

„Katse…“, flüsterte sie leise, mit heiserer Stimme, während sie ihre Händchen nach ihm ausstreckte.

Ryon beugte sich zu ihr hinab und sah ihr tief in die großen grauen Augen.

„Ich bin hier, Mia. Und ich geh auch nicht mehr weg. Das verspreche ich dir.“

Eine Weile ließ er sich von ihr in die feuchten Haare fassen, bis sie nach der Gummiente griff und diese gründlich musterte. Das machte es leichter, ihr auch noch die Haare zu waschen und sie schließlich in ein kuschelweiches Handtuch zu wickeln.

Wieder nahm er sie hoch, damit er im Kinderzimmer nach ein paar Sachen für sie zum Anziehen suchen konnte. Damals hatte er keine Kindersachen kaufen dürfen, da Marlene sie selbst nähen wollte. Natürlich war sie so vorrausschauend gewesen, auch größere Kleidungsstücke zu machen, da Kinder in diesem Alter auch sehr rasch wuchsen.

Ryon fand die Sachen schön zusammen gefaltet in einer der Schubladen. Er suchte sich einen lavendelfarbenen Strampler und eine der waschbaren Windeln heraus, die Mia passen könnten.

Marlene hatte noch nie etwas von den Wegwerfwindeln gehalten, die Tonnen von Müll verursachten und in diesem Punkt hatte Ryon ihr stets voll und ganz zugestimmt.

Zurück auf dem Wickeltisch sah man dem kleinen Mädchen an, wie müde sie bereits war. Sie hielt ganz still, als er sie sanft abtrocknete, ihren wunden Hintern eincremte und puderte, da sie Stundenlang in einer nassen Windel hatte ausharren müssen. Als er ihr schließlich den Strampler anzog, schlief sie sogar schon mehr, als dass sie wach war. Dennoch würde er sich noch um etwas Warmes zu Essen für sie kümmern.

Damit ihre Kleidung nicht feucht wurde, während er sie trug, immerhin tröpfelte er selbst immer noch vor sich hin, nahm er eine der weichen Babydecken zur Hand und wickelte sie darin ein.

Nun, da sie friedlich an seiner Brust schlief, hatte er keine Hektik mehr, als er Mias schmutzige Sachen in den Mülleimer warf, die benötigten Sachen wider wegräumte und schließlich leise das Zimmer verließ.

Weit kam er allerdings nicht, da vor der Tür Tyler mit einer Babyflasche schon auf ihn wartete. Er hatte ein breites Grinsen im Gesicht, schwieg aber, da er Mia offenbar nicht wecken wollte. Stattdessen überreichte er Ryon die Flasche mit richtig temperierten Babygries und zog sich dann leise zurück.

Wie dankbar er seinem Freund für diese einfache Geste war, würde er ihm wohl niemals zeigen können.
 

Als das heiße Wasser seine Wirkung tat und den Boden zu seinen Füßen grau färbte, fiel nicht nur der ganze Dreck von Ryon ab, sondern auch eine Zentner schwere Last, die sich immer weiter angehäuft hatte, seit er diesen Anruf von Amelia erhalten hatte. Nun, da er wusste, dass Mia gesättigt, sauber und sicher in dem großen Bett schlief, das früher seine Gefährtin mit ihm geteilt hatte, war ihm so viel leichter ums Herz.

Zu wissen, dass offenbar nichts, was ihm etwas im Leben bedeutete, sicher vor diesem Zirkel war, belastete ihn sehr. Zumal Paige irgendwo in Irland ihren Nachforschungen nachging und er nicht einmal bei ihr sein könnte, falls man auch sie angriff.

Die Wahrscheinlichkeit war zwar äußerst gering, aber beruhigen konnte ihn das nach den ganzen Vorkommnissen der letzten Stunden überhaupt nicht.

Hätte er nicht diese eine SMS von ihr bekommen, die Sorge um sie hätte ihn vermutlich ebenfalls aufzufressen begonnen.

Zu fühlen und doch nichts zu fühlen, das war schon eine äußerst merkwürdige Angelegenheit. Doch inzwischen konnte Ryon sehr gut die Anzeichen seines Körpers deuten. Eine Gefühlsregung würde diesen Umweg zwar ersparen, aber im Moment, gab er sich mit Informationen aus zweiter Hand zufrieden.

Wenn er unruhig und rastlos war, seine Gedanken immer wieder zu Paige schweiften und er sich fragte, was sie wohl gerade tat, was anderes konnte man sonst daraus schließen, als dass er sich einfach Sorgen um sie machte? Das war einfach so. Ob Gefühl oder nicht. Er würde froh sein, wenn sie wieder sicher zurück gekommen war.
 

Mia schlief tief und fest, noch genau an der Stelle, wo er sie in einer kleinen Festung aus Decken und Kissen auf dem großen Bett eingebunkert hatte. Es war weniger eine emotionale Regung gewesen, sie hier unter zu bringen, als eine rationale Entscheidung.

Sein ehemaliges Schlafzimmer lag Tür an Tür mit dem Kinderzimmer und da mit einem kleinen Baby gerechnet worden war, stand folglich kein geeignetes Bett für Mia in dem Kinderzimmer. Also hatte er beschlossen, sich mit ihr in seinem alten Bett zum Schlafen zu legen, da er ebenfalls vollkommen erschöpft war und die eingeworfenen Schmerztabletten bereits ihre Wirkung zeigten. So angenehm erschöpft, hatte er sich zuletzt vor ein paar Tagen mit Paige im Arm gefühlt und er wusste noch sehr genau, warum er dieses Gefühl so sehr geschätzt hatte.

Als er zu Mia unter die Decke schlüpfte, sie wieder ordentlich zudeckte und ihr eine Weile beim Schlafen zu sah, da fühlte es sich behaglich, gut und sicher an. Für sie beide.

Doch eines fehlte so deutlich in dieser stetig anwachsenden, bunten Familie, dass es sich nicht leugnen ließ.

‚Paige…‘
 

Es war seltsam irreal darauf zu warten, dass es tatsächlich passierte.

Paiges Finger krallten sich um den Rand der Wanne und ihr Atem ging stoßweise, während sie ihren Blick konzentriert auf ihren nackten Körper im Wasser gerichtet hielt. Die Injektionspistole lag unbeachtet auf dem Vorleger neben der Badewanne. Vor wenigen Augenblicken hatte sich die Substanz aus dem Glasröhrchen schäumend in Paiges Haut und die Blutgefäße darunter entleert. Wenn sie es richtig gemacht hatte, würde es nur noch Sekunden dauern.

Das letzte Mal, als man ihr eine derartige Dosis gegeben hatte, war es von ihrer Seite nur halb freiwillig geschehen. Sie war auf einem Untersuchungstisch im Labor ihres Vaters festgeschnallt gewesen. Paige hatte ihm flehentlich in die Augen gesehen und nur zu gern glauben wollen, dass er die Wahrheit sagte. Er wollte nur das Beste für sie. Ihr Vater hatte endlich dafür sorgen wollen, dass sie vollständig war.

Keiner Seite richtig angehörte und daher gar keine Chance darauf hatte, dass man sie akzeptierte – geschweige denn liebte. Wie jetzt hatte Paige damals gezittert. Aus Angst, Anspannung und wegen der Miene ihres Vaters in der auch so etwas wie skurriler freudiger Erwartung zu lesen gewesen war.

Wasser spritzte hoch, als ein Muskelkrampf ihren Körper schüttelte und Paige die Zähne fest zusammen biss. Ihr blieb die Luft für einen Moment im Hals stecken, als sie eine Spur von Schwefel auf ihrer gespaltenen Zunge wahrnahm.

Es regte sich.

Kratzend löste sie ihre Finger mit den langen Nägeln nur deshalb vom sicheren Rand der Wanne, um sich einen rauen Waschlappen zu greifen und ihn sich als Knebel in den Mund zu stopfen. Das kalte Wasser würde helfen, aber sie durfte mitten in der Nacht nicht so laut werden, dass irgendjemand sich genötigt fühlte, die Polizei zu rufen oder das Zimmer aufzubrechen.

Ihre Haut wölbte sich. Zuerst vom Knöchel aus ihr Bein hinauf, umkreiste es ihre Knochen und Muskeln wie eine gierige Schlange. Wand sich in Richtung ihrer Körpermitte und hinterließ das Gefühl von tausenden kleiner, beißender Insekten, die sich unter ihrer Haut entlang arbeiteten. Ihre Zähne bissen fester in den Frotteestoff des Waschlappens, als sich das Beißen auch auf ihre Arme ausbreitete.

Nur noch ein paar Momente durchhalten. Sie musste es sehen!

Am ganzen Körper bebend ließ sie sich etwas zurück sinken, um ihren Bauch betrachten zu können. Trotz der Kälte, die sie im Wasser umfing, klebten ihr Haarsträhnen auf der schweißnassen Stirn. Die Wunde an ihrer Seite brach auf, als das Ding sich darunter entlang schlängelte.

Paige würgte. Ihre Bauchdecke dehnte sich unnatürlich unter dem Druck der Substanz, die sich gleich einem riesigen Blutegel durch sie fraß. Ihre Fingernägel quietschten ohrenbetäubend auf der Keramik des Wannenrandes, als sich Paige ein letztes Mal dazu zwang hinzusehen.

Blauschwarz drückte es sich von innen gegen ihre Haut, wand sich auf der Suche nach mehr Nahrung, bevor es sich zum eigentlichen Schlag in ihrer Bauchgegend zusammen zog. Noch nie zuvor hatte Paige um eine Ohnmacht gebetet. Das Ding spürte die Kälte; spürte Paiges Gegenwehr, die trotz des Übelkeit erregenden Anblicks immer noch da war. Damals hatte man sie gezwungen und sie hatte trotzdem nicht aufgegeben. Sie würde es auch jetzt nicht tun.

Noch ein tiefer Atemzug, bevor sie sich vollkommen ins Wasser gleiten ließ und ihre Hände und Füße gegen die Seiten der Wanne drückte, um sich einigermaßen festzuhalten. Sie musste nur durchhalten. Sie hatte es schon einmal geschafft.

Wie bei einem elektrischen Schlag zogen sich ihre Muskeln zusammen. Ihr Rücken wurde durchgebogen, bis Paige es laut knacken hörte. Der Schmerz durchzuckte sie so stark, dass sie in den Stoff in ihrem Mund hinein schrie.

Große, scharfkantige Schuppen explodierten aus ihrer Haut und ließen das Wasser, das nach den ersten Krämpfen noch übrig war hellrot werden.

Paige wand sich.

Noch nie hatte sie das werden wollen, was ihr Vater für sie vorgesehen hatte. Diese grüngelblichen Schuppen, die viel härter und stärker waren als ihre eigenen, das Ding in ihr und das bläulich heiße Feuer, das sich über ihren Körper ziehen wollte. Das war nicht sie.

Ein weiterer Muskelkrampf ließ sie erneut aufschreien, drückte ihr die Luft aus den Lungen und hielt so lange an, dass sie Wasser schluckte, als sie schließlich auf den Grund der Wanne zurück sank. Der Egel kämpfte in ihr um die Überhand. Wollte jede Faser in ihrem Körper unschädlich machen, die sie zu dem machte, was ihr Vater an ihr so hasste. Schwach und menschlich.

34. Kapitel

„Paige!“

Mit einem Brüllen, das ihm beinahe selbst das Trommelfell zerriss, fuhr Ryon hoch, so dass er kerzengerade im Bett saß und ein paar Schweißtropfen auf die Bettdecke sprühten. Er zitterte so stark, dass er einen Moment irritiert glaubte, ein Erdbeben würde das Bett erschüttern, doch als er schließlich das laute Weinen eines Kindes neben sich vernahm, riss ihn das zuverlässig in die Realität zurück.

Mia lag verängstigt zu einem Ball zusammen gerollt neben ihm und er konnte über seine eigene heftige Atmung hinweg ihren rasenden Herzschlag hören.

Sie presste fest die Augen zusammen, vermutlich weil sie sich vor dem Monster verstecken wollte, das hier so einen Krach veranstaltete. Es war zu dunkel, als dass sie ihn hätte sehen können, weshalb er sich zum Nachttisch hinüber beugte, um das Licht anzuschalten. Allerdings dimmte er es etwas herunter, damit seine folternden Kopfschmerzen nicht noch durch das grelle Licht verschlimmert wurden.

Danach streichelte er Mia vorsichtig über den Rücken, woraufhin sie heftig zusammen zuckte.

„Schhh…schhh… alles ist gut, Mia. War nur ein böser Traum.“, hauchte er ihr leise zu, während er sich wieder neben sie auf das Kissen legte, damit sie ihn besser ansehen konnte und er nicht so groß und bedrohlich neben ihr aufragte.

Als sie seine Stimme erkannte, öffnete sie tatsächlich die Augen und hörte zu weinen auf. Sie sah ihn auf eine Weise an, als könne sie direkt in seine Seele blicken, was ihn noch mehr zittern ließ.

„Katse?“

Mia löste ihre verspannte Haltun und kroch stattdessen auf ihn zu. Mit ihren kleinen Kinderhänden berührte sie sein Gesicht, während sie ihn noch immer mit diesen strahlend grauen Augen anblickte.

„Shhh…shhh…“, immitierte sie ihn auf ihre eigene Weise und fuhr mit ihren Fingern in seinen Haaren herum. Als er sie daraufhin nur weiterhin anstarren konnte, da ihm ein tonnenschwerer Elefant auf der Brust zu sitzen schien und er einen Kloß so gewaltig wie ein Meteor im Hals hatte, legte sie sich zu ihm. Kuschelte sich an ihn und umschlang mit ihren kurzen Ärmchen seinen Hals.

Da er ihr Gesicht so nicht mehr sehen konnte, löste er sich lansam aus der Starre, die ihn so willkürlich überfallen hatte. Er zog die Decke wieder so weit über sie, damit sie nicht frieren musste und starrte die Frisierkommode neben der Balkontür an, ohne sie wirklich zu sehen.

Seine Hand schmiegte sich an Mias Rücken und schon kurze Zeit später konnte er fühlen, wie ihre Atemzüge tiefer wurden. Also war sie wieder eingeschlafen.

Ryon allerdings, konnte im Augenblick ganz und gar nicht mehr an Schlafen denken. Schon in den letzten Nächten hatte er nicht sehr gut schlafen können, doch heute war das erste Mal gewesen, dass er schreiend mitten in der Nacht aufgewacht war.

Und obwohl er das Gefühl hatte, irgendetwas schreckliches sei in seinen Träumen passiert, konnte er sich nicht mehr erinnern, um was es gegangen war. Aber die kalten Schauer, die seinen Rücken hinab liefen und sein Zittern aufrecht hielten, warnten ihn davor, es auf die leichte Schulter zu nehmen.

Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht.
 

Sie konnte es sehen. Mit teilnahmslos geöffneten Augen lag Paige unter Wasser und starrte auf die Helle Oberfläche über ihr. Durch ihr Sichtfeld zogen sich schwarze Schlieren und weiße Flecken. Ihre Lungen protestierten heftig gegen den Sauerstoffentzug, doch die Schwäche ihrer geschundenen Muskeln war im Moment noch stärker. Es bewegte sich noch in ihr. Langsamer jetzt, aber nicht weniger aggressiv als zu Anfang. Die beiden Kontrahenten gönnten sich eine Pause, bevor es wirklich um den Sieg ging.

Es war die Hölle. Eine echte Dämonin zu werden konnte nichts anderes sein. Denn war es nicht das, was die Menschen dachten? Dass Dämonen Abgesandte des Teufels waren? Dann musste das hier ein Teil der Umgebung sein, zu der sie gehörte. Schmerzen, Angst und sogar Todessehnsucht.

Es wäre am Einfachsten gewesen tief Luft zu holen. Ihre Lungen mit Wasser zu füllen und so die dunkle Masse in ihr zum Schweigen zu bringen. Dass sie selbst dabei ebenfalls zur Ruhe kommen würde – endgültig – hörte sich in diesem Moment für Paige gar nicht so schlecht an.

Eine einzelne Luftblase kam aus ihrem Mund, als ihr Körper geschüttelt wurde. Sie musste sich entscheiden. Jetzt.
 

„Ma'am?“

Das Zimmermädchen war mit dem Generalschlüssel herein gekommen, nachdem niemand auf ihr Klopfen reagiert hatte. Dabei sah es nicht so aus, als wäre das Zimmer tatsächlich leer. Überall lagen seltsame Fotos herum und sie sah eine Handtasche auf dem Stuhl stehen.

Ihrer Erfahrung nach gingen selbst die vertrauensseligsten Gäste nicht ohne ihre Wertsachen aus dem Zimmer. Und die Zeit für's Frühstücksbuffet war schon lange vorbei.

Die junge Frau horchte aufmerksam ins Zimmer, bevor sie ein paar Schritte hinein wagte. Sie konnte auch später wieder kommen. Genug andere Zimmer zum sauber machen, standen noch auf ihrem Plan.

„Ma'am?“, fragte sie noch einmal. Lauter diesmal.

Erschrocken fuhr sie zusammen und trat einen Schritt zurück auf die Zimmertür zu, als sie ein Geräusch aus dem Bad hörte.

„Entschuldigung. Soll ich später wieder kommen?“

„Heute gar nicht. Ist in Ordnung.“

Die Stimme klang seltsam und das Zimmermädchen konnte Wasserplätschern hören. Sie starrte aus Gründen, die sie sich nicht recht erklären konnte, eine Weile auf die dunkle Holztür, die sie von der Dame trennte, die im Moment hier wohnte.

Doch dann zog sie sich zurück. Holte ein paar frische Handtücher von ihrem Wagen und legte sie zwischen die Fotos und eine Frauenzeitschrift auf's Bett, bevor sie leise den Raum verließ und die Tür hinter sich zuzog.
 

Paiges Hand, mit der sie die Wunde an ihrer Seite zuhielt, zitterte stark, so dass die ganze Aktion überhaupt nichts nützte. Sie hielt sich eigentlich auch nur, weil es weh tat. Um die Blutung im Wasser zu stoppen, hätte sie sowieso nichts weiter tun können.

Sie hatte die wenigen roten Schuppen ausgerissen, die am Wundrand noch heraus gestanden waren. Besser sie tat es jetzt, da dieser Schmerz bei allem anderen völlig unterging.

Eigentlich wollte sie aufstehen und die Wanne endlich verlassen. Bis in eine sitzende Position hatte sie es immerhin schon geschafft. Aber jetzt scheiterte sie eindeutig an dem hohen Wannenrand, an dem ihre glimmenden Hände rußige Spuren hinterließen. Dieses grüngelb erinnerte sie an den Schwefel, den sie immer noch auf der Zunge schmeckte.

Zum dritten Mal, seitdem sie aufgewacht war, musste sie würgen.
 

Er war nicht wieder eingeschlafen, nach dem er so unsanft aufgewacht war. Stattdessen hatte er stundenlang aus dem Fenster gestarrt, hatte versucht, sich an seinen Traum zu erinnern und dabei Mias regelmäßigen Atemzüge gelauscht.

Als sie sich dann endlich regte und somit seine Aufmerksamkeit verlangte, war er immer noch nicht zu einem Ergebnis gekommen, außer, dass er so bald wie möglich Paige anrufen würde. Einer Eingebung folgend war dieser Drang nahezu überwältigend, da es aber noch früh am Morgen war und er sie nicht wecken wollte, konzentrierte er sich erst einmal darauf, Mia zu versorgen.

Tyler wartete bestimmt schon mit den anderen am Frühstückstisch auf ihn, doch wollte Ryon dem kleinen Mädchen nicht so viele fremde Gesichter auf einmal zumuten. Stattdessen zog er ihr in aller Ruhe etwas anderes an, während er ihrem leisen Geplapper zuhörte, das kein Erwachsener verstehen konnte.

Danach zeigte er ihr erst einmal gründlich das Kinderzimmer, erklärte ihr, sie könne gerne so lange sie hier war, mit allem spielen, was sie mochte, auch wenn es für ihre ärmlichen Verhältnisse noch zu viel auf einem Haufen war, als dass sie sich hätte entscheiden können. Sie wollte noch nicht einmal ein Plüschtier zum Halten, stattdessen hielt sie beständig sein Amulett zwischen ihren Fingern, während sie sich mit großen Augen ansah, was Ryon ihr zeigte.

So folgte ein Zimmer dem anderen, während er ihr die Umgebung langsam näher brachte, damit ihr nicht mehr alles so schrecklich fremd und bedrohlich erschien.

Erst als er sich sicher war, dass sie guter Laune und auch hungrig genug war, machte er sich mit ihr zusammen auf den Weg in die Küche.

Hinter der Tür wurde heftig hin und her geplaudert, wobei immer wieder sein Name fiel, doch er hatte Anstand genug, nicht zu lauschen, sondern stattdessen gleich schnurstracks die Küche zu betreten.

Wie erwartet verstummte das Gespräch und drei Köpfe drehten sich zu ihm herum, um ihn schweigend anzublicken, bis es schon ein unhöfliches Starren wurde, das Ryon schließlich unterbrach.

„Darf ich vorstellen Mia, der Mann mit den roten Haaren heißt Tyler, den netten Doktor von gestern nennen wir Tennessey und diese bezaubernde Lady wird Ai genannt.“

Er deutete jeweils auf die richtige Person und wartete darauf, bis Mia ihre Aufmerksamkeit auf den- oder diejenige gerichtet hatte. Danach sah er jeden in der Runde an.

„Der kleine Engel hier heißt Mia und wird für eine Weile hier bleiben.“

„Katse.“

Mia deutete auf ihn und lächelte ihn an.

„Wie nett, dass sie dich uns vorstellt, nachdem du dich selbst ausgelassen hast.“, meinte Tyler amüsiert und reagierte somit als erstes von den Dreien.

„Ich habe dir übrigens schon in weiser Vorraussicht den Kinderstuhl an den Tisch gestellt und für Mia gibt es ebenfalls ein schwach gewürztes Frühstück in angemessen zerkleinerter Form.“

„Danke.“

Was konnte man sonst noch darauf sagen? Wenn Ryon Glück hatte, würde er während des Frühstücks vielleicht noch einmal davon kommen, aber die Chancen standen nicht besonders gut. Das konnte man an den fragenden Gesichtern ablesen.

Während Ryon sich also mit Mia an den Tisch setzte und sie mit einer Engelsgeduld fütterte, erklärte er in abgeschwächter Form, weshalb sie hier war. Natürlich wollte er nicht die unzensierte Version am Tisch lang und breit erzählen, während das kleine Mädchen zuhörte. Denn obwohl sie noch nicht einmal richtig sprechen konnte, hieß das ja noch lange nicht, dass sie dumm war und nichts mitbekam.

Also meinte er, dass der Zirkel sie durch eine gefakte Adoption in die Hände bekam, er der Spur gefolgt war und schließlich die böse ‚Hexe‘ erledigte, die sich Mia einfach geschnappt hatte. Danach war er sofort hier her gekommen und den Rest kannten sie bereits.

Wer Mia eigentlich war und woher er sie kannte, ließ er vorerst im Dunklen. Jetzt auch noch zu erklären, was er jeden Samstag im Park trieb, war ihm zu anstrengend und hielt ihn davon ab, Paige anzurufen.

Weshalb er sein eigenes Essen kurz und knapp hielt, ehe er sich Mia griff und mit samt seinem Handy zurück ins Kinderzimmer ging, wo er sie auf den flauschigen Teppich absetzte, damit sie sich eines der Spielsachen schnappen konnte, während er versuchte Paige zu erreichen.

Sie ging nicht ran. Egal wie oft er es bei ihr läuten ließ, nach einer Weile sprang immer nur die Mailbox an und mit der wollte er sich nicht zufrieden geben, weshalb er immer wieder die Wahlwiederholung drückte, bis er es schließlich aufgab. Vor allem, da Mia wieder ihre Aufmerksamkeit von ihm forderte und von ihm unterhalten werden wollte.

Vorerst gab er es also auf, dem dumpfen Gefühl in sich nachzugeben, doch er würde nicht eher Ruhen, bis er Paiges Stimme gehört hatte.
 

Eine Weile hatte sie noch darum gekämpft aus dem Zimmer oder zumindest aus der Wanne zu kommen. Für's Erste vergeblich. Es war kaum Gefühl in ihren Armen und Beinen, während ihr Bauchraum brannte, als wäre ein riesiger Entzündungsherd darin am Schwelen.

Da ihr in ihrer Position nichts Besseres einfiel, zog sie den Stöpsel und ließ das kalte, trübe Wasser ab. Danach legte sie sich flach auf den Rücken und stellte das Wasser wieder an, um die Wanne erneut zu füllen. Diesmal allerdings, um sich aufzuwärmen. In ihrem jetzigen Zustand war die Gefahr, dass sie in eine Kältestarre fallen könnte nicht besonders hoch. Aber dieses Risiko wollte sie selbst bei der winzigen Wahrscheinlichkeit nicht eingehen. Und wenn sie schon hier bleiben musste, wollte sie nicht frieren wollen.

Mit geschlossenen Augen und ruhigen Atemzügen wartete sie darauf, dass das Wasser ihren Körper einhüllte, sie wärmte und schließlich ein wenig schläfrig machte. Aber schlafen wollte sie nicht. Stattdessen sah sie an sich hinunter, auf die Blutergüsse, die das Ding hinterlassen hatte. Auch wenn man sie nur dort sehen konnte, wo ihre menschliche Haut zwischen den grünlichen Schuppen heraussah.

Mit ihren dunklen, gebogenen Fingernägeln tippte sie auf die starke Panzerung und versuchte die Stirn in einer unbewussten Geste zu runzeln. Es funktionierte nicht.

Mit der Hand, an der ein paar menschliche Fingerspitzen zu sehen waren, fuhr sie über ihre Wange. Sie war kalt und glatt. An der Schläfe ging sie in ein schräges Augenlid über, das mit einem flachen Nasenrücken verbunden war.

Auf der Wasseroberfläche versuchte sich Paige zu betrachten. Das Bild verschwamm, als sich eine Haarsträhne hinter ihrem Ohr löste und das Wasser kräuselte.

Mit einem Seufzer stellte Paige fest, dass sie nicht denken wollte. Sie hätte genug Gründe gehabt, sich Sorgen zu machen. Darüber, ob sie nun für immer so bleiben würde. Ob das missglückte Experiment – das ihres Vaters vor vielen Jahren und ihr eigenes in der vergangenen Nacht – etwas für sich hatte oder nicht.

Aber sie war zu müde und zu erschöpft. Bis über die Lippen ließ sie sich ins Wasser gleiten, schlang ihre Arme um ihren Oberkörper und versuchte sich auszuruhen.
 

Als sie das Läuten des Handys zum vierten Mal hörte, schlug sie die Augen auf und zerrte sich hoch. Es gab nur drei Leute, die diese Nummer hatten und wer immer es so permanent versuchte, musste einen guten Grund haben, sie erreichen zu wollen.

Mit beiden Händen auf den Wannenrand gestützt, zog Paige sich in die Hocke, schwang ein Bein über den Rand und stellte den Fuß auf den Vorleger, bevor sie das andere Bein hinterher zog.

Ihre Knie fühlte sie kaum, dafür aber den linken Knöchel, der bei einem der Muskelkrämpfe einiges abbekommen hatte.

Als das Läuten nach einer kurzen Pause wieder einsetzte, sah Paige hoch. Es musste etwas passiert sein!

Mit wackligen Schritten kam sie bis zur Tür. Dort war der Schlüssel, den sie in der letzten Nacht herumgedreht hatte ein größeres Hindernis, als sie je vermutet hätte. Ihre Finger zitterten, konnten den kleinen Schlüssel kaum in dem Schloss drehen, das sich nur dann zuverlässig öffnete, wenn man gleichzeitig am Knauf die Tür etwas heran zog.

Das Klingeln hörte auf, bevor es nach wenigen Sekunden erneut einsetzte.

Die Tür sprang auf und Paige wurde von dem plötzlich nachlassenden Gegendruck nach vorn gezogen und landete auf den Knien. Mit einem Stöhnen kniff sie die Augen zusammen.

„Wo..?“

Halb krabbelnd, halb kriechend gelangte sie zum Stapel ihrer Klamotten und dem Stuhl, auf dem ihre Tasche stand. Etwas vibrierte darin, als sie danach griff und die Tasche einfach neben sich auf den Boden fallen ließ.

„Moment... ich hab's gleich...“

Ihre Stimme war kratzig und leise. Als hätte man sie aus dem Schlaf gerissen und sie sei noch nicht ganz wach. Allerdings erklärte das nicht den zischelnden Unterton, den ihre dunkle Zunge jedes Mal erzeugte, wenn sie gegen ihre Schneidezähne traf.

Da. Es steckte unter einer Packung Tempos und der Wollmütze, die sie sich am Flughafen von Dublin gekauft hatte.

Bevor sie das Handy allerdings mit einem leisen „Hallo“ an ihr Ohr halten konnte, hörte das Vibrieren und auch das Läuten auf.

'6 Anrufe in Abwesenheit', verkündete das Display in leuchtend blauer Schrift.

Paige sah sich die Anruferliste an und ließ sich mit dem Rücken gegen das Bettgestell sinken, um etwas Halt zu finden.

Wenn er sie so oft anrief, musste etwas passiert sein. Bestimmt nicht mit ihm, denn es war nicht Ryons Art sie wegen eigener Verletzungen zu informieren.

Ai!

Paige blieb beinahe das Herz stehen, als sich ihr der Gedanke aufdrängte, Ai oder dem Baby könnte etwas passiert sein.

Die grünen Schuppen rieben so laut aneinander, dass es sich anhörte, als wäre eine Klapperschlange in dem Hotelzimmer gefangen. Paige lief es bei dem Geräusch selbst kalt den Rücken hinunter.

Mit pochendem Herzen drückte sie auf 'Rückruf' und hielt sich das kleine rote Telefon ans Ohr.
 

Er hing gerade mit Mia über einem spannenden Bilderbuch, das verschiedenste Darstellungen von Tieren zeigte, über die er dem kleinen Mädchen fantasievolle Geschichten erzählte. Teilweise waren es Geschichten aus seiner eigenen Kindheit und somit in seiner Muttersprache, aber das schien die kleine Mia kein bisschen zu stören. Stattdessen betrachtete sie neugierig die vollgemalten Seiten, auf denen es sehr viel zu entdecken gab.

Da Ryon sein Handy auf lautlos gestellt hatte, um Mias Aufmerksamkeit nicht zu stören, reagierte er auf das Vibrieren in seiner Brusttasche. Vorsichtig setzte er sich auf, da er mit dem Bauch neben dem Mädchen auf dem flauschigen Teppich gelegen hatte.

In gespannter Erwartung zog er sein Handy aus seiner Tasche und warf erst einen Blick auf das Display, ehe er es rasch aufklappte und an sein Ohr hielt.

Bei Paiges Namen auf der Anzeige hatte sein Herz einen freudigen Sprung gemacht, ehe es besorgt zu rasen anfing. Was wenn das gar nicht Paige war? Was wenn es jemand anderes war, der ihm mitteilte, dass etwas mit ihr geschehen war? Oder noch schlimmer, was wäre wenn es jemand von dem Zirkel war?

Seine Atmung beschleunigte sich, bei dem Gedanken daran, dieses nagende Gefühl in ihm, könnte sich bewahrheitet haben. Er hätte mit ihr mitfahren müssen‼

„Paige?“, fragte er schließlich zögernd, nachdem er sich wieder daran erinnert hatte, dass hinter dem Schweigen an der anderen Leitung auch tatsächlich sie sein könnte. Gesund und munter. Ohne dass sich irgendetwas von seinen Paranoia bewahrheitet hatte.

Mit zum zerreissen gespannten Nerven wartete er auf eine Reaktion des Anrufers. Gedanklich hoffte er, dass sie es war, die ihm antworten würde. Was er täte, wenn es nicht so wäre, wusste er nicht. Aber auf jeden Fall würde nicht einmal Mia ihn davon abhalten können, sofort aufzuspringen und in den nächsten Flieger nach Dublin zu steigen.

Dieser Alptraum gestern hatte ihn völlig durcheinander gebracht und diese verdammten Kopfschmerzen machten seine Unruhe nur noch schlimmer.

Mit zusammen gebissenen Zähnen rieb er sich die Schläfen, obwohl er genau wusste, dass es nichts bringen würde. Sein Problem lag viel tiefer, als er mit seinen Fingern erreichen könnte.
 

Die Schuppen gaben einen leisen, klickenden Laut von sich, als sie sich alle gleichzeitig flach an ihre Haut anlegten. Das einzelne Wort hatte alles wieder hoch gebracht, was Paige in den letzten Tagen entweder verdrängt oder schlichtweg vergessen hatte. Es war so, als hätte er ihren Namen in einen Eiswürfel verpackt durch die Atmosphäre in das kleine Handy in ihrer Hand geschickt.

Er hörte sich absolut gleichgültig an. Das Brennen in ihrem Bauch schien für einen Moment zu vibrieren, während Paige unter ihrer neuen Panzerung blass um die Nase wurde.

"Ja. Du hast angerufen..." Wollte sie sich etwa verteidigen? Sie hatte doch keinen Grund sich so zu fühlen, als hätte sie ihn gestört...

"Ist mit euch alles in Ordnung?"

Im Gegensatz zu ihm klang sie trotz ihrer Schwäche besorgt. Am liebsten hätte sie durch die Leitung gegriffen und Ryon geschüttelt. Warum sagte er ihr nicht auf der Stelle, was passiert war?
 

Obwohl das starke Stechen sein Hirn marterte, als würde man ihm immer wieder Messer hinein rammen, kam er nicht umhin, alles was er über das Handy wahrnehmen konnte, in sich aufzusaugen. Ein seltsames Klicken – vielleicht die Leitung. Paiges seltsam klingende Stimme – seine Sorge wuchs. Ihr besorgter Tonfall – warum war sie besorgt? Und zu guter Letzt, das Knistern, das in großen Wellen der Erleichterung durch ihn hindurch fuhr, als er ihre Stimme hörte. Aber entspannen konnte er sich dennoch nicht. Sie klang so seltsam.

„Allen geht es gut. Ai ist wohlauf. Tyler hält sie bei Laune und Tennessey lässt sie nicht aus den Augen…“ Aber was ist mit dir? Warum macht mich der seltsame Ton in deiner Stimme rasend?, wollte er wissen, brachte es aber nicht über seine Lippen.

Stattdessen presste er sich inzwischen die Faust gegen seine Stirn und unterdrückte ein Stöhnen. Es wurde von Mal zu Mal schlimmer.

Als das Schweigen beinahe schon zu lange andauerte, zwang er seine angespannten Kiefer auseinander.

Wenn er nicht schleunigst irgendetwas sagte, würde sie vermutlich wieder auflegen. Immerhin war sie sauer auf ihn gewesen, als sie sich getrennt hatten. Es gab keinen Grund, warum das nicht immer noch so sein sollte.

„Wie … geht es dir?“
 

Ihre Augen zuckten, als sie das Bein ausstreckte, an dem der Knöchel inzwischen blau angelaufen war und bei jedem Druck unangenehm schmerzte.

Es ging also allen gut? Das ließ sie zumindest ein wenig aufatmen. Die Sorge um Ai war also umsonst gewesen. Denn selbst wenn Ryon - wie er wieder einmal unter Beweis stellte - nicht der Typ zum Plaudern war, Schwierigkeiten, die Ai betrafen, hätte er ihr nicht verschwiegen.

Paige sah auf ihre Fingerspitzen und drückte an einer Reihe Schuppen auf ihrem Oberschenkel herum, während es in der stillen Leitung rauschte.

"Dann ist es gut.", meinte sie leise.

Das Gespräch war beendet. Vermutlich würde Ryon ihr nicht lang und breit erklären, warum er sie so vehement versucht hatte zu erreichen, wo doch alles in bester Ordnung war. Oder belog er sie doch?

Sie hatte gerade den Mund aufgemacht, um ihn diesbezüglich auszufragen, als er ihr ins unausgesprochene Wort fiel.

Mit einem Stich im Herzen sah Paige an sich herab. Betrachtete die zerrissene Figur, die sie in ihrem Zustand darstellte. Ihr Vater hätte ihr in diesem Moment gesagt, dass sie der größte Misserfolg seines Lebens war. Selbst bei dieser hohen Dosis hatte es nicht so funktioniert, wie es sollte.

Paiges Herz klopfte laut und überrascht stellte sie fest, dass sie ängstlich war. In den wenigen Tagen, die vergangen waren, seit Ryon sich in sich selbst zurück gezogen hatte, war Paige erfolgreich darin gewesen, es hinzunehmen. Das hatte sie zumindest gedacht. Jetzt schlug ihr das Herz bis zum Hals, als sie sich daran erinnern musste, dass er die Frage nicht ernst meinte. Er war gut erzogen. Ein höflicher Mensch erkundigte sich nach dem Befinden des Anderen.

"Mir geht's gut.", wie um ihre Lüge deutlich zu machen, war das Zischen in der Mitte des Satzes besonders laut. Oder bildete sie sich das genauso ein, wie Ryons Interesse?

"Ich... Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist? Kannst du frei sprechen? Du hast so oft angerufen?"

Vielleicht wurde er gezwungen das zu sagen. Wieder blieb Paiges Stirnkräuseln an den Schuppen hängen. Aber warum? Wenn er gefangen worden war, warum sollte ihn jemand zwingen sich gerade bei ihr zu melden?
 

Etwas stimmte nicht. Wie er darauf kam, konnte er nicht genau sagen, aber das unangenehme Gefühl, das ihn schon die ganze Zeit seit dem Aufwachen beschlichen hatte, wurde zunehmend schlimmer, obwohl er selbst hören konnte, dass Paige offenbar in Ordnung war. Aber andererseits, sprechen zu können, hieß noch lange nicht, dass einem nicht der Fuß oder die Hand fehlen könnte. Demzufolge könnte Paige auch nur behaupten es sei alles in Ordnung, während in Wahrheit das Haus um sie herum im Flammen stand oder sonst irgendetwas absolut ganz und gar nicht bei ihr stimmte.

Außerdem, was war das für ein seltsames Zischen in ihrer Stimme gewesen? Es ließ ihm förmlich die Nackenhaare zu Berge stehen!

„Es ist wirklich alles in Ordnung bei uns.“ Jetzt war er es, der log, wenn auch nicht ganz. Immerhin blätterte Mia friedlich in dem Buch, während sie sich noch immer nicht von seinem Telefonat stören ließ. Also war hier im Stützpunkt wirklich alles so, wie es sein sollte, bis auf die Tatsache, dass Paige fehlte.

Aber natürlich war ihre Frage begründet gewesen, immerhin hatte er tatsächlich bei ihr Sturmgeklingelt.

Nur wie konnte er ihr sein Unbehagen erklären, wenn er es nicht einmal selbst ganz verstand?

„Ich…“, begann er schließlich, brach aber ab, weil ihm einfach nicht die passenden Worte einfallen wollten. Doch es war der Druck, dass Paige einfach wieder auflegen könnte, wenn er nicht schleunigst mit der Sprache heraus rückte, der ihn schließlich zu einer Antwort zwang und bei den Kopfschmerzen hätte er ohnehin keine ausgefleite Rede wiedergeben können.

„Die Sache ist die: Halt mich ruhig für vollkommen durchgeknallt, aber ich werde das Gefühl nicht los, als würde bei dir etwas nicht stimmen. Die halbe Nacht schon lag etwas in der Luft und da es nur noch schlimmer wurde, musste ich einfach …“ Ja, was denn?

„…deine Stimme hören…“

Ihm wäre beinahe das Handy aus der zitternden Hand gefallen, als sein Kopf zu explodieren drohte.

Dadurch, dass er heftig die Luft eingesogen hatte, war Mia auf ihn aufmerksam geworden und hatte sich zu ihm herum gedreht.

„Katse?“ Fragend sah sie ihn besorgt an, da sie aber noch zu klein war, um irgendwie anders reagieren zu können, begann sie leise zu weinen. Vermutlich vor Hilflosigkeit.

Obwohl er kaum noch klar denken konnte, versuchte er seine angespannten Gesichtszüge zu glätten und hob sie auf seinen Schoß, wo er ihr das Amulett als Ablenkung in die Hände drückte und sich wieder auf das Telefonat zu konzentrieren versuchte. Aber wenn das so weiter ging, würde er es beenden müssen. Denn irgendwie schien der Anruf die Schmerzen nur noch schlimmer zu machen. Ob wegen der Strahlung oder wegen anderer Dinge, irgendwie hing das zusammen.
 

„Ryon?“

Was war denn nur los? Paige hatte sich trotz ihrer schmerzenden Muskeln und dem pochenden Knöchel kerzengerade hingesetzt und presste das Handy fest an ihr Ohr, um besser hören zu können.

Das war doch ein Schmerzenslaut gewesen. Und weinte da nicht ein Kind?

In einem Anflug von erstaunlicher Gedankenverknüpfung brachte Paige das Bild von Ryon und Kindern nur in einem Punkt zusammen. War es schon Samstag? Und war er wirklich noch einmal in den Park zurück gegangen, wo ihn der Magier genauso wie Paige selbst geschnappt hatte? Das Risiko würde er doch hoffentlich nicht eingehen!

„Hör' zu...“

Etwas hilflos sah sie aus dem Fenster an der gegenüber liegenden Wand und überlegte, wie sie die Situation am besten formulieren sollte. Wie Ryon gerade jetzt auf die Idee gekommen war, dass etwas nicht in Ordnung war, blieb ihr ein völliges Rätsel. Aber wenn er schon so oft angerufen hatte, dann wollte sie ihn nicht belügen. Zumindest nicht gänzlich.

„Ich bin krank. Nicht ernsthaft!“, fügte sie schnell hinzu und ihre Zunge verursachte wieder ein derartig lautes Zischen, dass sie sich am liebsten darauf gebissen hätte.

„Wahrscheinlich muss ich Morgen...“ sie sah an sich herab, betrachtete die grünlichen Schuppen, die Blutergüsse und ihren Knöchel. „... die nächsten paar Tage im Bett bleiben. Dann wird das schon wieder.“

Und dann? Ihr Herz hatte so einen heftigen Sprung vollführt, als sie Ryons letzten Satz gehört hatte, dass es sie beinahe auf die Füße gerissen hätte. Sie war also noch nicht so weit. Es würde immer noch weh tun, ihm in die toten Augen zu sehen.
 

Er erschauderte, als er wieder den zischelnden Ton in ihrer Stimme hörte und sofort wurde er noch unruhiger, als sie ihm erklärte, dass sie krank sei, aber es nichts Ernstes war. Warum dauerte es dann mehrere Tage?

„Paige… Sag mir bitte die Wahrheit.“, begann er nachdrücklich, weil er ihre Worte nicht so einfach hinnehmen konnte.

„Bist du in Gefahr?“ Ob von Außen oder von Innen. Hoffentlich verstand sie, was er damit sagen wollte. Denn noch eine weitere Halbwahrheit würde er nicht ertragen.

Natürlich hatte er nicht das Recht sie zu bevormunden und sich Sorgen um sie zu machen. Nicht nach alledem, was zwischen ihnen passiert war, aber wenn er nicht sofort irgendetwas hörte, dass seine körperliche Panik mildern konnte, die nach ihrer Erklärung eingesetzt hatte, dann konnte er für gar nichts mehr garantieren.
 

Paige starrte ein Loch in die Luft. In Ryons Hintergrund war genauso wenig zu hören, wie bei ihr, was die Spannung nur noch vergrößerte. Sie sollte ihm die Wahrheit erzählen?

„Ich kann nicht.“, sagte sie mit einer Stimme, die nicht mehr war, als ein Flüstern.

Bevor sie eine Antwort erhalten konnte, sprach sie schnell weiter.

„Es ist zu kompliziert und...“ Er würde zu viel über sie erfahren. Paige hatte das Gefühl sich schon einmal zu sehr geöffnet zu haben. Was würde es bringen, es wieder zu tun? Er würde sie bloß wieder von sich stoßen. Wenn sie so über ihre Dummheit der vergangenen Nacht nachdachte, nicht ganz zu Unrecht.

„Es ist wirklich keine große Sache. Ich bin etwas schwach auf den Beinen und muss mich ausruhen.“

Sie machte eine Pause, in der sie darüber grübelte, ob sie den nächsten Satz anfügen sollte oder nicht. Ein Argument dafür war, dass er dann auch Ai beruhigen konnte, falls sie sich nach ihr erkundigen sollte.

„Sollte ich Hilfe brauchen, werde ich mich melden.“

Am liebsten hätte sie noch hinzu gefügt, dass sie in spätestens einer Woche sowieso nach London zurück kehren würde. Wenn es ihre Verfassung zuließ auch schon früher. Aber da sie immer noch nicht sagen konnte, ob sie dann gefestigt genug war, um in sein Haus zurück zu gehen, schwieg sie lieber.
 

Ja, es war zu kompliziert. Ihre ganze Lage war nichts weiter als ein einziger wirrer Haufen aus Knoten und losen Enden die zu nichts führten, außer zu nur noch mehr Verwicklungen! Und genau deshalb würde sie ihm niemals ihr Vertrauen schenken.

Obwohl weiße Lichter vor seinen Augen tanzten und sich die Erde bereits zu drehen begann, war seine Stimme außergewöhnlich ruhig, für den Umstand, dass gerade etwas sein Hirn zu Brei zermatschte. Zumindest fühlte es sich so an.

„Es gibt etwas, Paige, das wir gemeinsam haben und genau deshalb glaube ich dir nicht. Wir beide bitten nicht um Hilfe, wenn es um die Dinge geht, die wir niemanden zeigen wollen und was dich angeht, weiß ich sogar noch weniger, als du über mich zu wissen glaubst. Sei ruhig sauer auf mich, weil ich mich meinen eigenen Dämonen nicht stellen will und weil ich dich und andere davon ausschließe. Aber ob du mir glaubst oder nicht, langsam beginne ich zu begreifen, wie sich das anfühlt, selbst von etwas ausgeschlossen zu werden. Vor allem von dir…“

Er legte auf, ehe ihm das Handy aus den bebenden Fingern glitt und er sich stöhnend auf den Rücken warf, so dass Mia fast von seinem Bauch kullerte.

Selbst wenn Paige ihn unterbrochen hätte, was er nicht glaubte, so hätte er es nicht mehr hören können. Das Dröhnen in seinem Schädel war so laut, dass er gar nichts mehr hörte. Doch so schwer das Denken auch fiel, es wurde Zeit etwas zu unternehmen. Weshalb er blind nach seinem Handy tastete, es wieder aufklappte und die Nummer des Hauses wählte, in dem er sich gerade befand. Wer auch immer rangegangen war, würde den Wink mit dem gekeuchten Wort ‚Kinderzimmer‘ schon verstehen. Danach konnte er nur noch warten und hoffen, dass Mia glaubte, er würde hier zum Spaß herum liegen.
 

Eine halbe Sekunde saß sie da, wie vom Donner gerührt und hörte dem Signal in der abgeschnittenen Leitung zu.

Dann riss sie sich in die Höhe, stolperte ins Bad und schaffte es gerade noch so, den Klodeckel hoch zu klappen, bevor sie sich übergeben musste. Ihr Körper wurde so stark durchgeschüttelt, dass ihr kleine Äderchen in der Netzhaut platzten. In ihrem Magen war schon lange nichts mehr, was sie hätte von sich geben können. Einmal von der pechschwarzen Essenz abgesehen, die sich wie kleine Kieselsteine am Grunde abgesetzt hatte.

Nach mehreren Minuten stand Paige der Schweiß auf der Stirn und ihre Arme, mit denen sie sich über der Keramik hielt, zitterten so stark, dass sie gewillt war, einfach aufzugeben. Doch stattdessen setzte ihr Körper noch einen drauf.

Ihr Schuppenkleid brach an sämtlichen Stellen ihres Körpers hervor, stellte sich auf, als müsse Paige mit einem übermächtigen Gegner ringen und klapperte selbst auf ihren Gesichtszügen unangenehm aufeinander.

Und das Einzige, zu dem sich Paige im Moment hier, auf den Knien, allein durchringen konnte, war all den Gefühlen nachzugeben. All ihre Angst, ihre Scham, ihre Wut und auch ihr verletzter Stolz brachen sich in einem Schluchzen aus ihrem Körper, das sie erneut erzittern ließ, bis Tränen über ihre schuppigen Wangen flossen.

„Du...“

Ihr linker Arm gab kurz nach und sie wäre beinahe gefallen. Was ihr hilflose Wut nur noch größer machte. Glaubte er denn wirklich, dass das Universum sich nur um Ryon den Tragischen drehte? Sie schloss ihn also aus? Er versuchte ihr sogar einzureden es sei Unrecht sich über seine emotionale Selbstverstümmelung aufzuregen?!

„Du verdammter Mistkerl!!“

35. Kapitel

Als Tennessey ihm mit einer Taschenlampe die Netzhaut verbrennen wollte, war Ryon versucht sie ihm einfach aus der Hand zu schlagen, doch der Doc war klug genug, sie von sich aus, wieder abzuschalten und in Sicherheit zu bringen.

„Ich weiß, das wird bei dir nicht lange wirken, aber ich denke, jetzt ist ein guter Zeitpunkt, dir einmal ordentlich das Fell über die Ohren zu ziehen.“

Was Tennessey ihm damit sagen wollte, konnte Ryon nicht wirklich nachvollziehen, bis er ein Picksen in seiner Armbeuge spürte, das ihn dazu veranlasste, an sich hinab zu blicken.

„Du gibst mir Morphium?“, fragte er leise, während er sich die riesige Spritze ansah, die der Doc ihm da in den Arm jagte.

„Was denkst du denn? Du bist vor Schmerz fast ohnmächtig geworden. Glaubst du, mit dir könnte man in deinem Zustand normal reden?“

Ryon schüttelte den Kopf. Keine gute Idee, wie sich einen Moment später heraus stellte, als hinter seinen Augenlidern ein Feuerwerk los ging.

„Der Hellste bist du ja nicht gerade.“

Das war Tylers Stimme und kam von der anderen Seite. Wenigstens war das auch schon alles an Puplikum. Mia hatte er zum Glück Ai anvertrauen können. Die beiden Damen schienen sich ohnehin auf Anhieb zu verstehen.

Eine Weile sagte niemand etwas, was auch gut so war, denn so bekam Ryon deutlich mit, wie das Morphium langsam seine Wirkung tat.

Als er sich im Stande dazu fühlte, sich aufzusetzten, tat er es schließlich auch. Der Schmerz war nicht ganz verschwunden, so wie es bei einem normalen Menschen hätte sein müssen, aber durch seinen deutlich beschleunigten Stoffwechsel, verbrauchte sich das Zeug auch wesentlich schneller. Das sah auch Tennessey so, denn er zog bereits eine zweite Spritze für den Notfall auf. Oder für den Fall, dass das Gespräch länger andauern sollte, als geplant. Denn jetzt war der Zeitpunkt der Wahrheit gekommen. Das konnte er in ihren Augen lesen, während er versuchte, die Spritze in Tennesseys Hand zu ignorieren.

„Fangt schon an.“, forderte er sie auf, da er keine Ahnung hatte, wo er selbst hätte beginnen sollen. Vor allem, da ihm das Gespräch mit Paige immer noch im Kopf herum schwirrte.

„Weißt du eigentlich, dass mir deine Gleichgültigkeit langsam gewaltig zum Hals heraus hängt?“, fuhr ihn Tyler schonungslos an, während sein Blick Ryon förmlich durchbohrte.

Aha, das meinte Tennessey also mit ‚Fell über die Ohren ziehen‘. Gut, dass er gerade nicht wirklich seinen Pelz trug. Vielleicht hätten sie den Spruch sonst noch wörtlicher genommen.

Ryon sah seinem Freund auf eine Weise an, die besagte, er solle ruhig weiter sprechen, was dieser dann auch tat, während ihm förmlich die roten Haarspitzen zu Berge standen.

„Glaubst du, du wirst irgendetwas damit erreichen, außer dass du ständig nur noch mehr Unglück über dich und andere bringst?“

Tyler schnaubte.

„Sie mich bloß nicht so an! Was du hier veranstaltest macht nicht nur dich vollkommen kaputt, sondern betrifft auch die Menschen, denen du was bedeutest. Ich weiß ja, du denkst, du wärst alleine und kein Schwein würde es interessieren, wenn du nicht mehr da wärst, aber da irrst du dich gewaltig!“

„Tyler…“, versuchte Tennessey seinen aufgebrachten Freund zu beruhigen, aber dieser hatte das gar nicht nötig. Sondern senkte von sich aus die Stimme.

„Ryon, ich war bei deiner Geburt dabei. Ich war dabei, wie du aufgewachsen bist, habe mich um dich gekümmert, bis du in der Lage warst, dich selbst um dich zu kümmern. Denkst du denn wirklich, du wärst mir egal? Oder all den anderen, die nicht von deiner Seite weichen, egal wie beschissen du dich aufführst?“

Der Schmerz wurde wieder heftiger, zumal auch sein Herz deutlich schneller schlug.

„Ja, ich weiß, dass ich euch nicht egal bin, aber manchmal … ist das einfach nicht genug. Ich sehe keinen Sinn darin, so weiter zu machen. Eben weil ich das Gefühl habe, alles um mich herum wird nur noch schlimmer, als besser. Wie sonst, außer mit Gleichgültigkeit soll ich damit umgehen? Wie?“

Tyler packte ihn grob an den Schultern und zwang ihn dazu, ihm tief in die Augen zu sehen.

„Versuch’s doch einmal mit Wut, Trauer … oder heul bis du vollkommen ausgetrocknet bist, das ist vollkommen egal. Hauptsache du lässt diesen ganzen Scheiß endlich mal hinaus, anstatt ihn mit nur noch mehr Schutt zu begraben.“

Der schneidende Tonfall klingelte förmlich in seinen Ohren, weshalb er sich von seinem Freund abwandte, so gut es ging.

„Tyler … ich war wütend, ich habe getrauert. Aber es hat nichts gebracht!“

„Blödsinn.“

Das kam von Tennessey.

„Marlenes Tod hat dich förmlich gelähmt und als die Zeit gekommen wäre, dass der Schock sich in Trauer und Verzweiflung bei dir gezeigt hätte, verlorst du auch noch deine Tochter. Du vergisst, dass wir beide damals bei dir waren. Wir haben genau gesehen, wie du dich in einen biologischen Roboter verwandelt hast. Dein Tier hast du misshandelt, eingesperrt und verflucht und als du erkannt hast, dass es deine Gefühle abtötet, wenn du es unterdrückst, hast du es ohne zu zögern getan. Wenn du glaubst, dass du bei uns noch auf Mitleid appelieren kannst, dann hast du dich gewaltig geschnitten. Deine Skrupellosigkeit macht uns nur noch verdammt sauer. Was ist denn in Ägypten passiert, dass du nun vollkommen den Verstand verloren hast?“

Ryons erster Gedanke war, dass die Wirkung des Morphiums schneller nach ließ, als vermutet. Sein Schädel fühlte sich wie in einer Müllpresse an. Erst recht, als seine Freunde ihn so derart in der Mangel hatten. Da war ihm sogar diese mörderisch große Spritze in Tenneseys Hand egal.

Sein Schädel platzte gleich!

„Tennessey … Morphium!“

Er presste die Fäuste gegen seine Augenlider, während seine Freunde ihn schonungslos weiter mit Worten bearbeiteten.

Sie warfen ihm vor, ein totaler Egoist zu sein, da er immer nur an sich denken konnte. Was aus den anderen wurde, war ihm offenbar vollkommen egal. Er war an seinem Schicksal selber schuld und dass alles in die Brüche zu gehen drohte, weil er sich davor versperrte, anstatt endlich wieder Teil des Lebens zu sein. Kein Wunder, dass Paige ohne ihn weiter fliegen wollte. Die Ärmste musste ja schon vollkommen fertig, von seinen Launen sein. Es war überhaupt ein ganz schön starkes Stück, dass sie es solange mit ihm ausgehalten hatte, wo er sich doch wie das reinste Arschloch aufführte. Und und und…

Das schien schier stundenlang so weiter zu gehen, bis Ryon vor Schmerzen die Augen tränten und er sich am Boden hin und her wand, da er es nicht mehr aushielt. Weder was er hörte, noch was er fühlte.

Schließlich verstummten beide und Tennessey nahm die Spritze zur Hand. Tyler nickte ihm zu und hielt Ryons Arm fest, der in der Hoffnung auf Linderung von selbst ganz still hielt.

Als der Doc ihm die Spritze verabreichte, wartete er sehnlichst auf das Einsetzen der Wirkung, doch was auch immer Tennessey ihm da gegeben hatte, es war kein Morphium gewesen, denn alles wurde noch schlimmer.

Der Schmerz raste ihm mit Höchstgeschwindigkeit durch seine Adern und verbreitete sich mit jedem verzweifelten Schlag seines Herzens in seinem gesamten Körper.

Entsetzt riss Ryon die Augen auf, starrte seine Freunde unter Tränen an, da er nicht fassen konnte, dass sie ihn so hinterlistig umbringen wollten.

Doch obwohl er versuchte, sie nach dem Warum zu fragen, kam kein Ton mehr über seine Lippen. Stattdessen verkrampfte sich sein ganzer Körper und er musste panisch mit ansehen, wie seine einstmaligen Freunde von ihm abrückten.

Er explodierte.

Seine Knochen brachen, seine Haut zerriss, Hitze schien seinen Körper zu versengen, doch als er glaubte, endgültig zerreissen zu müssen, setzten sich seine Knochen wieder zusammen. Fell sprieste in Sekundenschnelle überall auf seiner Haut. Sein ganzes Gesicht schien sich zu verbiegen, umzuformen und zu verändern, während sein Rückrat sich verlängerte, bis er schließlich schwer hechelnd auf der Seite liegen blieb, um sich einen Moment lang von der erzwungenen Verwandlung auszuruhen. Doch diese Ruhe gönnten ihm seine Freunde nicht. Sie packten seine Vorder- und Hinterpfoten. Fesselten sie mit stablien Seilen, die sie vorhin vor ihm versteckt hatten und um der ganzen noch die Krone aufzusetzen, knoteten sie ihn so an der wuchtigen Holzkomode fest, dass er vollkommen außer Gefecht gesetzt war, was seine körperlichen Kräfte anging.

„Ich wusste gar nicht, dass Tiger so schwer sind.“, erklärte Tyler dabei, während er Tennessey half, noch einmal die Knoten auf ihre Standhaftigkeit zu überprüfen.

„Der hier, wiegt ungefähr 280 Kg. Vermutlich sogar noch etwas mehr.“, gab der Doc sein Fachwissen zum Besten, ehe sich beide zurück zogen und sich so vor ihn hin setzten, dass er sie ansehen musste.

„Also, Ryon…“, begann Tennessey mit ernstem Tonfall.

„Ich will dir mal eine nette kleine Geschichte, über deine kürzlich auftretenden Migräneanfälle erzählen. Dir wird doch sicher schon aufgefallen sein, dass dein Kopfschmerz jetzt weniger geworden ist, nicht wahr?“

Der Kopfschmerz vielleicht, das musste Ryon zugeben, aber nun, da er sich langsam wieder von seiner Wandlung erholte, stürmte so viel anderes auf ihn ein, dass er die Kopfschmerzen mit Freuden noch länger ertragen hätte.

Er begann zu winseln, während er gegen die Fesseln anzukämpfen versuchte. Sinnlos.

„Ich werte das als ein 'Ja', Doc. Also weiter im Text.“

Tennessey nickte.

„Migräne hat oftmals psychische Ursachen und bei dir sogar garantiert. Als du mit diesen Glasaugen bei der Tür herein gekommen bist, hatte ich schon vermutet, dass das nicht lange gut gehen kann. Und glaub mir, als du gestern Nacht das ganze Haus zusammen gebrüllt hast, hatte ich einen Moment lang, wirklich Angst um die kleine Mia. Was mich zu meiner nächsten Diagnose bringt – Träume. Oder in deinem Fall Alpträume.“

Mit einem leisen Knacken, dehnte Tennessey seine Finger, ehe er in seiner Jacke nach irgendetwas herum kramte und schließlich sein Notizbuch hevor zog. Er blätterte etwas darin herum, bevor er in seinem Vortrag fortfuhr: „Wenn der Geist schläft, verarbeitet er in seinen Träumen das, was er am Tag erlebt hat, oder ihn am Meisten beschäftigt. Ich kann mir gut vorstellen, dass das bei dir so einiges ist. Erst recht, wenn dein Unterbewusstsein die ganze Arbeit erledigen muss. Hast du dich denn niemals gefragt, für was Gefühle gut sind? Es heißt ja schließlich nicht umsonst: Körper, Geist und Seele. Wenn eines davon wegfällt, bringt das die anderen solange aus dem Gleichgewicht, bis man stirbt. Und bei dir, mein Freund. Hätte es mich nicht gewundert, wenn du am Ende noch ein Blutgerinsel, einen Tumor oder Nierensteine bekommen hättest!

Du kannst uns also dankbar sein.“

Ryon knurrte und versuchte erneut sich von den Fesseln zu befreien. Vergebens, aber er gab nicht auf. Er wollte diesen ganzen Scheiß nicht hören!

„Ich glaube, er wird wütend.“, stellte Tyler vollkommen unbeeindruckt fest.

„Gut. Dann können wir jetzt anfangen.“

Mit entschlossener Miene blätterte Tennessey zum Anfang des Notizbuchs, las kurz etwas still durch, ehe er Ryon auf eine Weise anschaute, die ihm sein Nackenfell sträubte. Was auch immer jetzt kam, es würde weitaus schlimmer werden, als alles, was die beiden bisher mit ihm getan hatten. Das spürte er mit dem Instinkt eines Tiers, dass Gefahr wittern konnte, sich körperlich aber zu schwach fühlte, um etwas dagegen zu unternehmen.

„-17. Juli: Ich wusste nicht genau, was mich erwarten würde, als ich mit Ryon alleine in die Wälder campen ging. Doch kann ich nicht leugnen, dass ich mir ein paar Erwartungen bezüglich dieses Ausflugs erhoffte. Ich wusste schon immer, dass er anders als alle anderen Teenager war. Immerhin bin ich hellsichtig.

Vielleicht hat dieser Umstand ihn dazu gebracht, mir dort draußen in der einsamen Wildnis endlich sein Geheimnis zu verraten und ich muss zugeben, ich war nicht erschrocken, sondern begeistert. Ein Gestaldwandler! Jetzt machen meine Träume endlich einen Sinn. Er ist der Tiger, den ich ständig Nachts um unser Haus schleichen sah. Meine Mutter hat mir nicht geglaubt, aber das war mir ohnehin nicht wichtig. Sie hat mir nie geglaubt, wenn ich von meinen Visionen erzählt habe. Doch er glaubt mir, weil er ebenfalls … anders ist…-“

Tennessey unterbrach seine Vorlesung und warf einen prüfenden Blick auf Ryon.

Obwohl er kein menschliches Gesicht mehr hatte, sah man ihm das Entsetzen an, als er begriff, dass das nicht das Notizbuch des Arztes war, sondern Marlenes Tagebuch!

Die wenigen Worte, die sie zu dem Ausflug in den Wäldern geschrieben hatten, reichten schon dazu aus, ihm die Bilder wieder in Erinnerung zu rufen und vor allem, die damit einhergehenden Gefühle.

Die Angst, sie könnte seine Gestalt ablehnen. Sich vor ihm fürchten und nie wieder ein Wort mit ihm reden.

Die Erleichterung, als sie schließlich einfach nur neugierig durch sein Fell gestreichelt hatte und schließlich selbst erleichtert zu lachen anfing, da noch jemand etwas so besonderes, wie sie war.

Ryon presste fest die Augen zusammen. Wollte das alles weder sehen, hören noch fühlen. Aber das war genau die Reaktion, die Tennessey nicht sehen wollte. Er blätterte weiter in dem Buch und las vor: „-…Ich hätte lügen sollen. Die Kratzer auf meinem Rücken, waren zwar seine Schuld, aber was bedeuten sie, im Vergleich zu dieser wunderbaren Nacht? Natürlich, unser erstes Mal hatte ich mir vielleicht etwas anders vorgestellt, aber ich bereue Nichts! Mir hat seine Leidenschaft gefallen. Ich hab nicht einmal den Schmerz gespürt, als er mich so fest an sich zog. Ganz im Gegenteil, ich wollte nur noch fester gehalten werden. Ich hätte wirklich lügen sollen. Mir irgendeine Geschichte einfallen lassen müssen, um die Verletzungen von ihm abzulenken. Seit dem hat er Angst… Angst davor, mir weh zu tun. Er fasst mich jetzt mit Samthandschuhen an. Dagegen kann ich nichts tun. Aber vielleicht… Ja vielleicht wird die Zeit ihn vergessen lassen, dass er sich das eine Mal nicht hatte kontrollieren können. Für mich gibt es da nichts zu verzeihen … immerhin, es war auch sein erstes Mal…-“

Sein Brüllen zerriss die Luft und er begann sich so heftig zur Wehr zu setzen, dass die Schubladen der Komode halb aufgingen und ihren Inhalt über ihn schütteten. Umringt von Babykleidung, knurrte und brüllte er seine Freunde an, die ihm das alles antaten!

Er wollte nicht an diese Dinge erinnert werden. Er wollte nicht an all jene Momente erinnert werden, die ihm einst Freude, Angst, Glück, Vorsicht und Hoffnung gelehrt hatten.

Sein Herz tat weh, seine Augen brannten, bis das aggressive Brüllen zu einem entsetzlichen Winseln wurde. Ryon konnte nicht länger davor weg laufen. Die Trauer überrannte ihn und er begann zu weinen, zu klagen und zu schreien, bis er einfach nicht mehr konnte.
 

Er musste vollkommen erschöpft eingeschlafen sein, denn als er wieder erwachte, lag er zwar immer noch auf dem Boden, aber dieses Mal von seinen Fesseln befreit, nackt wie Gott ihn schuf, mit einer wärmenden Decke über seinen menschlichen Körper.

Seine Freunde waren bei ihm, als er die Augen aufschlug und dieses Mal waren ihre Augen sanft und voller Zuneigung.

„Willkommen zurück.“, begrüßte ihn Tyler.

„Und sieh mal, was wir für dich haben.“

Vorsichtig drehte Ryon seinen Kopf zu Tennessey, der ihm Mia vor die Nase hielt, die ihn fragend ansah, bis sie schließlich quietschvergnügt zu lächeln begann. Ihre Arme schlangen sich schneller um seinen Hals, als er sich aufsetzen konnte, doch das war nicht wichtig, als er sie mit seinen Händen packte und nah an sich heran zog. Er vergrub sein Gesicht in ihrem Haar, das so wunderbar nach Karamell duftete und fühlte zum ersten Mal die Freude darüber, das kleine Mädchen in den Armen halten zu können. Genauso, wie er die starke Zuneigung zu ihr und seinen Freunden intensiv wahrnahm.

Seine Gleichgültigkeit war verschwunden, was bedeutete, dass er nun vor einer weiteren Bürde in seinem Leben stand. Doch seltsamerweise fühlte er sich auch leicht. Sein Kopf tat nicht mehr weh und das lag sicherlich nicht an dem Morphium.

„Was ist passiet?“, wollte er unsicher wissen. Immerhin konnte er sich nur zu gut daran erinnern, was seine Freunde ihm angetan hatten, aber warum, verstand er nicht wirklich. Vor allem, wie es ihnen gelungen war, ihm Erleichterung zu verschaffen, obwohl er die Last seiner Gefühle deutlich auf sich spürte.

„Das was schon längst hätte passieren müssen, Ryon.“

Tyler berührte ihn an der Schulter.

„Du hast endlich begonnen, um deine Familie zu trauern. Also kannst du auch endlich damit anfangen, darüber hinweg zu kommen.“

Als Ryon den Kopf hob, um Tyler anzusehen, verschwamm seine Sicht, weshalb er sich rasch die Augen abwischte und Mia entschlossen an den Doc weiter gab.

„Bevor ich aber damit weiter mache, habe ich noch etwas zu erledigen. Hätten mich die Schmerzen nicht daran gehindert, hätte ich es schon früher getan. Danke, dass ihr mich davon befreit habt.“

Schneller als man ihm zugetraut hätte, stand Ryon auf seinen Beinen, mit der Decke um seine Hüften gewickelt und eilte davon, um sich anzuziehen.

Jetzt, da er wusste, was ihm der starke Kopfschmerz hatte sagen wollen, war sein Bedürfnis nur noch dringender. Er konnte sich auch noch während des Flugs, den Schädel über die Dinge zermartern, die seine beiden Freunde ihn mit dieser Aktion hatten beibringen wollen. Wie sagten sie doch so schön, das war erst der Anfang. Nicht das Ende.

Selbst auf die Gefahr hin, dass Paige ihn lieber umbrachte, als wieder zu sehen, würde er sich nicht davon abhalten lassen, nach ihr zu sehen. Denn so wie Hunde Unwetter schon Tage vorher spüren konnte, so hatte auch sein Instinkt ihn nicht getrogen. Etwas war bei ihr los und ehe er nicht wusste, was genau ihn da so sehr gewurmt hatte, würde er auch keinen Frieden geben. Erst recht nicht, wenn es um diese Frau ging.
 

Zusammen gerollt im Bett zu liegen und sich nicht zu bewegen war im Moment das Einzige, was sie tun konnte. Der menschliche Teil ihres Körpers versuchte sich auf die einzig natürliche Weise gegen den Angriff zu wehren, den er kannte und der sich normalerweise als wirksam heraus stellte. Sie hatte Fieber.

Jeder Knochen, jedes Gelenk und jeder Muskel taten ihr weh, wenn sie ab und zu aufstand, um auf die Toilette zu gehen oder sich auch nur versuchte umzudrehen.

Die Nacht hatte sie mit angeschalteter Nachttischlampe und einem Eimer neben dem Bett verbracht, aber da sie nichts zu sich genommen hatte, war ihr Körper nur immer wieder von Krämpfen geschüttelt worden, bis ihr schwarze Essenz und Galle hochkam.

Alle paar Stunden hatte Paige nach ihren Armen gesehen, ihr Gesicht betastet und gehofft, am nächsten Morgen vielleicht wieder normal auszusehen. Sie grünen Schuppen waren fest und stabil, würden sie bei einem Angriff besser schützen, aber... es waren nicht ihre.

Ihre Mutter hatte ihr früher einmal gesagt, dass der rote Farbton etwas Besonderes sei. Nicht so häufig wie die Tarnfarben, welche bei den Feuerdämonen trotz ihrer Möglichkeit zur Gegenwehr noch immer vorherrschten. Mit den schwarzen Mustern, die sich über ihren Rücken und ihre Seiten zogen, um sich auf ihrem Bauch zu verlieren, war sie auffällig. Etwas, das ihr Vater als Schwäche gesehen hatte, wie auch die Tatsache, dass Paiges Schuppen weich, elastisch und nachgiebig gewesen waren. Gewesen...

Mit einer Hand auf die Matratze und die Andere auf das Kopfstück des Bettes gestützt, zog Paige sich in eine sitzende Position. Als sie ihre Hände vor sich auf die weiße Decke legte, wallten Tränen in ihren Augen. Sie wollte sie wiederhaben.

Es klang wie der Wunsch eines kleinen Kindes, das sein liebstes Stofftier verloren hatte, weil es selbst nicht aufmerksam genug darauf aufgepasst hatte. Und doch konnte niemand das Spielzeug oder Paiges Schuppen zurück bringen. Sie hatte sich verloren. Beim letzten Mal, als die Dosis so hoch gewesen war, hatte sie sich wieder gefangen. Sie war noch ein Teenager gewesen und ihr Körper hatte sich ähnlich gewehrt wie jetzt. Bloß war es schneller gegangen. Bereits nach Stunden hatte sie an einzelnen Stellen das Rot unter dem neuen Panzer schimmern sehen können. Jetzt sah sie nichts dergleichen. Nur schlammgrüne, scharfkantige Plättchen, die sie am liebsten einzeln heraus gerissen hätte. Aber selbst wenn ihre Wut dafür ausgereicht hätte... Ihre Kraft tat es nicht. Sie sank wieder in die Kissen zurück und rollte sich auf der Seite zusammen, auf der die blauen Flecken nicht so zahlreich waren.

„Bitte...“

Sie schlief schon fast, als sie darum bat zumindest ihre menschliche Gestalt behalten zu dürfen. Dann würde sie es schaffen. Wenn sie zumindest zum Teil die bleiben durfte, die sie war.
 

Ohne Gepäck reiste man wesentlich schneller, als man glauben würde. Vor allem, wda man sich nicht sehr viel Zeit mit Vorbereitungen aufhalten musste. Was im Augenblick Ryon ganz und gar nicht recht gewesen wäre.

Jetzt verstand er die Rastlosigkeit und Unruhe, die er schon die ganze Zeit während Paiges Abwesenheit gespürt hatte. Es war nicht nur die Sorge um sie, die sie selbst noch geschürt hatte, sondern viele kleine andere Dinge. Die Ungewissheit, ob er sie überhaupt je wieder sah? Was wohl mit ihr los war? Würde sie überhaupt noch ein Wort mit ihm wechseln wollen? War sie überhaupt noch in Dublin?

Die Fragen nahmen einfach kein Ende, genauso wie der Flug sich schier in die Unendlichkeit hatte ziehen wollen.

Doch schließlich endlich am Dublinerflughafen angekommen, schien die Zeit ihm nur noch so durch die Finger zu rinnen.

Es war ohnehin schon nicht leicht gewesen, Paiges Aufenthaltsort heraus zu finden. Zumal sie ihm nicht den Namen ihrer Unterkunft mitgeteilt hatte. Aber wenn man lange und dringend genug etwas suchte, fand sich am Ende irgendwie eine Lösung.

In seinem Fall, war es das feuerrote Handy gewesen, das er ihr gegeben hatte. Ein paar gezielte Anrufe, Geldtransfers und schon bekam er den genauen Aufenthalt von besagtem Handy. Sofern sie es nicht nach ihrem Telefonat in irgendeinem Fluss versenkt hatte, würde genau dieses kleine Teil, ihn zu ihr führen.

Natürlich war nichts davon gewiss, dennoch war es ein Anhaltspunkt, bei dem er mit seiner Suche nach ihr beginnen konnte.

In dem kleinen Hotel angekommen, war es ein Leichtes das Personal zu bestechen, um an Flora Burkes Zimmernummer heran zu kommen. Immerhin, so ein großes Geheimnis war das nun auch wieder nicht und der Page freute sich über das überaus großzügige Trinkgeld.

Als Ryon schließlich tatsächlich vor ihrer Zimmertür stand, überkam ihm ein schreckliches Gefühl. Ein Geruch, den er schon einmal in sehr abgeschwächter Form glaubte gerochen zu haben, drang durch den Türspalt zu ihm hindurch, vermengt mit Paiges Duft.

Sie war da drin, aber in welcher Verfassung?

Kurzerhand klopfte Ryon entschlossen, einfach an ihre Tür. Wenn es sein musste, würde er sie sogar aufbrechen. In diesen Dingen hatte er sich absolut nicht verändert. Türen dieser Art würden nie ein Hindernis für ihn sein, zumal die Motivation stark genug war.

„Paige?“
 

Den Vormittag hatte sie gut hinter sich gebracht. Nachdem sie eingeschlafen war, hatte ihr Körper Einiges an Gegenwehr veranstaltet und Paige war zwei Stunden später mit dröhnendem Schädel und völlig verschwitzt aufgewacht.

Da sich ihre Muskeln etwas besser fühlten und sie dabei helfen wollte, ihren Organismus von dem restlichen Dreck der Essenz zu befreien, hatte sie sich hoch gerafft und aus dem oberen Fach des Kleiderschrankes eine Wolldecke gezogen. Diese um ihren immer noch nackten, schuppigen Körper gewickelt und wieder tief unter der Bettdecke vergraben, hatte sie gedöst und abwechselnd geschlafen oder an die Zimmerdecke gestarrt. Teilweise war sie beinahe so weit gewesen die Zeitschrift vom Boden aufzusammeln und einen oder zwei Artikel zu lesen. Aber nach dem ersten Versuch, bei dem sie am Inhaltsverzeichnis scheiterte, gab sie es wieder auf. Für's Erste musste man es ja auch nicht übertreiben.

Wie gern hätte sie einen Fernseher gehabt. Cartoons hätten nicht nur ihre Stimmung gehoben, sondern ihr auch das Gefühl von Einsamkeit etwas genommen. Denn das war im Moment das, was am Schlimmsten an ihr nagte. Paige wünschte Ai wäre bei ihr.

Bestimmt würde sich die Asiatin viel zu viele Sorgen machen, da sie Paige noch nie in diesem Zustand gesehen hatte, aber über ihre Gesellschaft hätte sie sich gefreut. Einfach nur eine Tasse Tee zu trinken und sich etwas erzählen zu lassen. Dann wäre es auch leichter wieder einzuschlafen.

Je weiter die Minuten fortschritten, horchte Paige bei jedem kleinen Geräusch auf, das vor ihrer Tür erzeugt wurde. Das Zimmermädchen würde irgendwann wieder kommen, um das Zimmer zu putzen. Schon gestern hatte Paige sie davon abgehalten und die junge Frau war bestimmt sehr zuverlässig.

Also musste Paige zu ihrem eigenen Besten wach bleiben, um zu verhindern, dass die Putzkraft sie sah. Zwar hätte sie – falls sie nicht den Schock ihres Lebens bekam – einen Haufen Kohle bei der Klatschpresse machen können. Aber Paige konnte darauf verzichten, jemandem Geld in Form von Gerüchten zu bringen, die man an die Regenbogenblätter verkaufte.

„Eidechsenfrau in billigem Hotel gesichtet“ - „Mutation von heruntergespülten Haustieren greifen Dublin an“

Das Kichern war anstrengend, aber Paige konnte nicht anders. Sie fühlte sich so elend, dass der Galgenhumor das Einzige war, der sie davon abhielt, schon wieder in Tränen auszubrechen.

In den vergangenen Wochen hatte sie ihrer Meinung nach mehr geweint, als so manche Jahre in ihrem Leben. Dabei war sie normalerweise nicht so nah am Wasser gebaut.

Nach einem Gähnen, das sie leicht durchschüttelte, zog es sie unter ihre Decke. Nach mehreren Versuchen die Decke unter ihre Füße zu schlagen, ohne sich dafür aufzusetzen, war Paige so erledigt, als wäre sie ein paar Kilometer gejoggt. Keine sonderlich guten Aussichten für das, was sie gegen Mittag vorgehabt hatte.

Bei einem leisen Klopfen und einer vorsichtigen Frauenstimme schreckte Paige aus ihrem Halbschlaf derartig hoch, dass ihr Herz raste und ihre aufgestellten Schuppen sich in der Wolldecke verfingen. Ein paar Fäden wurden heraus gerupft, als Paige die Decke höher zog, um so viel ihrer Haut wie möglich zu bedecken.

„Danke, ich brauche nichts.“

„Sind Sie sicher? Auch keine neuen Handtücher?“

„Nein, danke. Ich liege im Bett. Eine Grippe. Ich brauche nur Ruhe. Morgen wahrscheinlich auch.“

„Ist gut, ich werde eine Notiz machen.“

„Danke.“

Ihr Dank war leise und voller Ernsthaftigkeit gewesen. Paige wollte wenn möglich einfach nur schlafen. So lange, wie ihr Körper eben brauchen würde, um in seinen alten Zustand zurück zu kehren.

Wieder strich sie mit ihren Fingerspitzen über ihr glühendes Gesicht. Es fühlte sich eindeutig so an, als wären die Fremdkörper auf ihrer rechten Gesichtshälfte zurück gegangen. Nur noch der Haaransatz und der Nasenrücken bis zur Augenbraue waren betroffen. Und ihre Lippen. Wenn sie mit der Zunge, die sie ebenfalls in ihre menschliche Form bringen konnte, wenn sie sich nur ausreichend konzentrierte, darüber fuhr, waren ihre Lippen kalt und glatt. Nur ein winziges Stück am rechten Mundwinkel gab Grund zur Hoffnung, dass sich auch das wieder ändern würde.

Als sie sich wieder hinlegte, wirkte das leicht feuchte Laken für ihren Rücken bereits kalt und unangenehm. Aber so breit, dass sie dem ausweichen konnte, war das Bett leider nicht. Und um ehrlich zu sein, war es ihr auch egal.

Paige war hundemüde und nachdem sie nun niemand mehr stören würde, konnte sie sich endlich ohne Bedenken ausruhen. Dann wäre es Morgen schon besser. Oder vielleicht schon an diesem Abend.

Auf dem Nachtkästchen wartete noch ein Schokopudding darauf gegessen zu werden. Und obwohl sie jetzt wahrscheinlich sofort hätte zum Eimer greifen müssen, war Paige sicher, dass sie ihn am nächsten Tag essen könnte.

„Vielleicht zum Frühstück...“, murmelte sie leise vor sich hin, bevor sich ihre bleischweren Lider senkten und sie in einen schweren, traumlosen Schlaf fiel.
 

Ihr Ohr zuckte leicht unter ihren Haaren, als sie Schritte auf dem Gang hörte. Natürlich konnte es nicht sein, aber der Tritt kam ihr bekannt vor. Wahrscheinlich schlief sie noch halb und ihr Unterbewusstsein flocht die Geräusche in ihren Halbträume ein, damit sie nicht gänzlich aufwachen musste.

Als sie Schritte eindeutig vor ihrer Zimmertür stoppten, zog Paige die Decken etwas weiter nach unten, um besser hören zu können und öffnete eins ihrer geschwollenen Augen. Stimmte vielleicht etwas mit der Rechnung nicht? Hatte Ryon die Kreditkarte sperren lassen?

Paiges Herz schlug schneller, als sie sich vorstellte, sie müsse in ihrer Verfassung das Zimmer oder sogar das Hotel verlassen. Wo sollte sie denn hin? Selbst hatte sie kaum Bargeld dabei und auch nur ein winziges Polster auf ihrem Bankkonto. Was sie allerdings gleich vergessen konnte, denn mit ihrem Gesicht würde man sie eher in einen Zoo oder ein Versuchslabor stecken, als ihr ein Hotelzimmer zu geben.

Es klopfte.

Da sie nun keine andere Wahl zu haben schien, wickelte Paige sich die Decken einigermaßen um den immer noch schmerzenden Körper und kam auf die Füße. Unsicher tapste sie über einzelne verstreute Fotos und stieg über ihre Schuhe hinweg, die nahe bei der Tür unter einem Garderobenhaken lagen.

„Paige?“

Ihre Hand hielt jäh über dem Türknauf inne. Wieder das leise klacken ihrer Schuppen, die sich zahlreicher, als seit einigen Stunden durch ihre Haut schoben und eine glatte, ebene Panzerung bildete. Und dabei musste sie sich auf jeden Fall verhört haben.

Mit einer Hand hielt sie die Decken vor ihrer Brust fest, während sie sich mit der anderen flach an der Zimmertür abstützte. Ihr war kalt. Aber das war nicht der Grund, warum ihr winzige Schweißperlen auf der Stirn standen und ihr Herz hämmerte, wie ein Presslufthammer.

Mit einer Stimme, die völlig ungewollt nicht wie ihre eigenen klang, antwortete Paige so klar und deutlich, wie sie es vermochte. Er konnte es nicht sein. Und wenn doch, dann...

„Tut mir leid, Sie müssen sich im Zimmer geirrt haben.“

Selbst wenn sie angefügt hätte, dass es hier keine Paige gab, hätte sie es nicht unbedingt als Lüge aufgefasst. Sie fühlte sich nur noch als Abziehbild ihrer selbst. Und genau das war der Grund, warum sie hoffte, nein, flehte, dass er es nicht war. Denn einen weiteren verbalen Angriff würde sie nicht überstehen. Ihre Knie wurden jetzt noch weich und ihr Hals kratzte von dem Kloß, der sich bildete, wenn sie an das letzte Telefongespräch dachte.

Um weder im wörtlichen noch im übertragenen Sinn den Boden unter den Füßen zu verlieren, lehnte sie sich mit der Schulter an die Wand neben der Tür und hielt sich am Knauf fest. Mit einem dämonischen und einem menschlichen Auge, beide schwer vor Müdigkeit, sah sie auf die Tür, als würde sie direkt von ihr eine Antwort erwarten. Oder Schritte, die sich dahinter wieder entfernten.
 

Er konnte leise Geräusche hinter der Tür hören, weshalb er nicht glauben würde, das Zimmer wäre leer. Das hatte er ohnehin nicht angenommen. Immerhin wurde dieser seltsame Geruch immer stärker, bis er die Präsenz förmlich spüren konnte.

Sie war ganz nahe und doch klang ihre Stimme so falsch, als sie ihm zu erklären versuchte, er wäre hier nicht richtig.

Ryon legte seine flache Hand auf das Holz der Tür und beugte sich vor. Ohne seine Nase direkt an den Türspalt zu halten, atmete er tief ein und war sich nun vollkommen sicher.

„Vielleicht sollte ich dich Flora Burkes nennen, aber das wird nichts daran ändern, dass ich deinen Geruch überall wieder erkennen würde.“

Obwohl sie gerade total verfälscht roch. Dennoch, die Herznote würde immer die Gleiche bleiben und war zugleich für ihn wie Paiges persönlicher Fingerabdruck.

„Paige, bitte. Lass mich rein.“, flehte er leise, da er nicht einfach die Tür aufbrechen konnte, wenn sie so dicht dahinter stand. Denn genau das hatte die Nähe ihrer Stimme deutlich gemacht. Aber er würde sich auch nicht von ihr abwimmeln lassen.

Nicht etwa, weil er extra die Strecke von London nach Dublin auf sich genommen hatte, um sie zu besuchen, sondern weil er bestimmt noch einmal ein Magengeschwür bekommen würde, sollte er noch länger diese Ungewissheit über ihren Zustand ertragen müssen.

Seit er wieder gezwungen war, mit Gefühlen zu leben, kämpfte er auch ständig darum, sich von ihnen nicht vollkommen beherrschen zu lassen. Doch es ließ sich noch nicht verhindern, dass er zeitweilig ganz schön verwirrt, ob des ganzen Gefühlshaufen war und im Augenblick schien er sogar persönliche Rekorde darin zu brechen.

Sollte er nun die Tür eintreten, gereizt darüber, dass er überhaupt dazu gezwungen war? Oder wäre es besser, ruhig zu bleiben, es auf diplomatischem Wege zu versuchen und somit die Tür heil zu lassen? Eine andere Seite in ihm fürchtete sich davor, was er sehen könnte, wenn Paige die Tür öffnete, doch egal was nun letztendlich eintreffen würde, sein dringenster Wunsch war es, sie zu sehen.
 

An die kalte Wand gelehnt, versuchte Paige die beiden übereinander gewickelten Decken festzuhalten, die langsam an ihr hinunter rutschten. Wäre sie in einer besseren Verfassung, sie hätte sich vermutlich durch die Tür mit Ryon auseinander gesetzt, aber im Moment war ihr nicht nach reden, geschweige denn fühlte sie sich kräftig genug, um sich zu streiten. Ihr war kalt und ihr Knöchel tat ihr weh vom herumstehen.

Außerdem war sie noch nicht fertig damit, sich ein wenig selbst zu bemitleiden. Den Stolz, sich gegen Ryons Anblick und was immer ihn hierher geführt hatte, zu wappnen, konnte sie nicht aufbringen. Erst recht nicht, als ein Zittern ihre Schuppen zum Knirschen brachte.

Halb zog sie sich, halb stieß sie sich von der Wand ab, um auf ihre kalten Füße zu kommen. Er war hoffentlich schlau genug zu verstehen, dass er hier nicht einfach so die Tür aufbrechen konnte. Auch wenn es nicht so teuer und exklusiv war, wie die Hotels, in denen er normalerweise gastierte.

„Was machst du eigentlich hier? Ich dachte bei unserem charmanten Telefongespräch gestern, wärest du alles los geworden, was du mir sagen wolltest...“

Es war nur ein leises Murmeln, das er vielleicht gar nicht gehört hatte. Paiges müde Augen, die noch einmal an ihrer schuppigen Hand hängen blieben, die aus unerklärlichen Gründen noch immer den Türknauf umfasst hielt, blinzelten langsam.

Er bat sie darum, dass sie ihn herein ließ.

Wieder ein Blinzeln und ein rasselndes, klackerndes Geräusch, als eine Gänsehaut sich wie eine Welle unter den Schuppen hindurch schob, die immer noch nicht ihre waren.

Es waren nicht die Worte, die sie zögern ließen. So gut, wie Ryon seit sieben Jahren das Schauspiel eines normalen, wohlerzogenen Mannes aufrecht erhielt, hätte er das 'bitte' völlig nebensächlich einflechten können. Ohne Hintergedanken sogar. Aber es...

Mit gesenktem Kopf stand sie da, hielt sich zitternd an der Tür fest, die sie von einander trennte. Vor sich sah sie goldene Augen. Mit grünen und blauen Farbsprenkeln darin, ganz nah an der Pupille. Das Spektrum konnte man nur sehen, wenn man die Zeit und die wertvolle Gelegenheit bekam sich in einem der seelenvollen Blicke zu verlieren.

Es war auch schon egal.

„Ich hab dir gesagt, dass ich krank bin. Keine Ahnung, was du von mir willst, aber ich gehe wieder ins Bett.“

Als sie sich umdrehte und die paar Schritte zwischen Tür und Bett hinter sich brachte, schien das Klicken des Schlosses durch den kleinen Raum zu hallen, als wäre er eine Kathedrale. Beinahe konnte sich Paige einbilden, den kühlen Lufthauch, der durch Ryons Präsenz durch die offene Tür herein wehte, in ihren Haaren zu spüren.

Ohne ihm einen Blick über die Schulter zu schenken, legte sie sich hin und rollte sich unter den beiden Decken so zusammen, dass es nirgendwo darunter zog. Mit dem Stoff bis über die Nasenspitze hochgezogen, schloss sie die Augen.

Sie konnte den aufgeregt raspelnden Schuppen nicht Recht geben. Von Ryon drohte zumindest körperlich keine Gefahr. Wenn er sie hätte verwunden wollen, wäre sie gar nicht bis zum Bett gekommen.
 

Er hatte gehört, was sie so leise gemurmelt hatte. Doch konnte er ihr darauf keine Antwort geben. Denn, obwohl die Wahrheit manchmal schlimmer als eine Lüge war, so hatte er es doch ernst gemeint. Ryon wusste kaum etwas über Paiges Leben oder ihre eigene Vergangenheit. Natürlich hatte sie das Recht, es ihm und anderen vorzuenthalten, aber als sie meinte, sie würde schon um Hilfe bitten, wenn sie die bräuchte, da war etwas in ihm durchgegangen. Selbst hatte er nie um Hilfe gebeten, so dringend er sie auch gebraucht hatte. Das hatten seine Freunde mit ihrer merkwürdigen Art, ihre Freundschaft zu zeigen, bewiesen, als sie ihm sprichwörtlich das Fell über die Ohren gezogen hatten. Allerdings im umgekehrten Sinne.

Von selbst hätte es Ryon niemals so weit kommen lassen und bestimmt war Paige ebenso stur in diesen Dingen, wie er selbst es war. Darum war er hier.

Selbst wenn es sich tatsächlich nur als harmlose Erkältung herausstellen sollte, so wollte er dennoch bei ihr sein. So wie sie in Ägypten für ihn dagewesen war. Ohne Hintergedanken. Ohne eine Gegenleistung dafür zu verlangen, sondern einfach nur aus einem Gefühl heraus.

Die Tür öffnete sich mit einem Klicken, schwang nur ein paar Zentimeter weit auf, trotzdem hätte die Einladung nicht größer sein können, wenn sie sich weit für ihn geöffnet hätte. In der gegenwärtigen Lage war das schon mehr, als er hatte verlangen können. Immerhin ließ sie ihn in ihren schützenden Bereich.

Es war die Furcht vor dem Raum dahinter, der ihm die Gänsehaut über den Körper jagte und zugleich für sein Zögern verantwortlich war. So kam es, dass Paige bereits wieder im Bett lag, als Ryon den Mut aufbrachte, die Tür weiter aufzuschieben, um hindurch zu schlüpfen.

Sorgfältig schloss er sie wieder hinter sich und starrte einen Moment die Maserung des Holzes an, ehe er sich langsam umdrehte.

Wäre er in seiner Tiergestalt, er hätte die Ohren flach an seinen Kopf angelegt, sein Schwanz hätte nervös gezuckt und ihm würden die Nackenhaare zu Berge stehen. Zumindest Letzteres war ihm auch in seiner jetzigen Gestalt möglich.

Der merkwürdige Geruch umhüllte ihn, legte sich auf seine Haut und schien in jede seiner Poren einzudringen. Genauso wie dieses äußerst beunruhigende Rasseln, das ihn entfernt an eine Klapperschlange erinnerte.

Langsam ging er zu dem schmalen Bett hinüber, umrundete das Fußende, um Paiges Gesicht sehen zu können.

Allerdings hatte sie die Bettdecke so weit darüber gezogen, dass er nur noch ihr schwarzes Haar und einen Teil ihrer oberen Gesichtshälfte erkennen konnte, aber auch das machte klar, dass sie gerade nicht vollkommen wie ein Mensch aussehen konnte.

Waren das etwa ihre Schuppen, die dieses seltsame Geräusch verursachten?

Vielleicht nur eine Reaktion ihres Körpers, während sie gegen ihre Krankheit ankämpfte, was auch immer das sein mochte. Eine Grippe konnte es auf keinen Fall sein. Aber das unbehagliche Gefühl in seiner Magengegend sagte ihm, dass sie es besser mit einer Infektion zu tun hatten, als mit dem, was er noch nicht ganz erkennen konnte.

Obwohl es ihm immer mehr den Hals zu schnürte, da der merkwürdige Geruch immer intensiver wurde, je näher er ihr kam, ging er zu ihrem Nachttisch und kniete sich dann neben ihren Kopf auf den Boden.

„Paige … was ist denn … passiert?“, wollte er wissen, trotzdem er diese Frage kaum zu stellen wagte.

Ryon wollte die Hand ausstrecken, ihr die Decke vom Gesicht ziehen, um sie besser ansehen zu können, stattdessen unterdrückte er den Drang. Er wollte ihr nach allem was passiert war, nicht zu nahe treten.

Zumindest noch nicht.
 

Es war seltsam, dass er hier war. Bei dem, was sie schon alles zusammen erlebt hatten, hätte Paige damit gerechnet, dass es sich in irgendeiner Weise ... gewohnt anfühlen würde. Aber genau das Gegenteil schien der Fall zu sein. Was auch sehr gut mit ihrer dämonischen Seite zu tun haben konnte, die im Moment die absolute Überhand hatte. Eine dämonische Seite, sollte sie wohl besser sagen, denn obwohl es ihr Körper war, sich in ihrem Blutkreislauf bewegte, war sie es nicht. Und sie wollte es auch nicht sein.

Ihr Magen krampfte sich auf einmal so stark zusammen, dass Paige sich weiter zusammen rollen musste, um es irgendwie erträglicher zu machen. Solange sie es verhindern konnte, wollte sie vor Ryon nicht die teerartige Masse von sich geben müssen, die sie am liebsten aus ihrem Körper gerissen hätte. So, wie es sich anfühlte, war noch Einiges davon übrig.

Ryon war neben ihr, dicht an ihrem Gesicht und hatte sie gefragt, was passiert war. Die Magenschmerzen hatten ihr vor ihr selbst einen kleinen Aufschub gewährt. Aber jetzt musste sie wohl oder übel doch darüber nachdenken, was sie ihm sagen sollte. Denn obwohl es ihr noch merkwürdiger vorkam, als seine bloße Anwesenheit, war sich Paige sicher, dass er nicht gehen würde, solange sie ihn nicht dazu aufforderte oder ihm eine Erklärung für ihre „Krankheit“ lieferte.

„Ich hab dir doch von diesem Schatten erzählt...“

Ihre Stimme wurde von den Decken gedämpft, aber noch wollte sie ihre eigene Dummheit vor Ryon verbergen. Sie wusste immerhin, dass sie irgendwann ihre Augen öffnen und ihn ansehen würde. Vielleicht war es ganz gut, dass sie keinen Schock oder Ekel darin sehen konnte, wie es bei jedem Anderen bestimmt der Fall gewesen wäre.

„Hast du dir die E-Mail angesehen? Ich dachte zuerst, dass ich es aus deinem Buch kenne, aber ... nach einer Weile ist mir eingefallen, dass mein Eindruck viel älter ist als diese paar Wochen.“

Warum sprach sie denn weiter? Er musste nicht erfahren, woher sie diese schwarze Masse kannte. Und dass sie sich dann auch noch vergewissern musste...

„Nachdem es mir eingefallen war, hab ich ... was ausprobiert ... und...“

Immer noch mit geschlossenen Augen schob sie ihre Finger unter das Stück Decke, das ihr Gesicht bedeckte und zog es bis zu ihrem Schlüsselbein hinunter. Sofort kroch eine Gänsehaut unter den Schuppen entlang, die die scharfen Kanten wieder aneinander kratzen ließ.

„Ich befürchte, es hat zu gut funktioniert.“
 

Der Schatten… Daran hatte Ryon überhaupt nicht mehr gedacht. Er war auch nicht auf den Gedanken gekommen, dass Paige ihm eine Mail schicken würde, obwohl sie extra nach seiner Adresse gefragt hatte. Um ehrlich zu sein, hatte er bei den ganzen Ereignissen in den letzten Tagen ganz vergessen, was noch so alles in ihrem Leben vor sich ging.

Aber tatsächlich lagen hier überall Bilder auf dem Boden zerstreut herum, mit etwas darauf, dass ihm einen eiskalten Schauer den Rücken runter jagen ließ, während er versuchte, Paiges Worten zu folgen. Er verstand nicht ganz was sie-

Als sie die Decke ein Stück herunter zog, weiteten sich seine Augen voller Entsetzen. Was hatte Paige sich nur angetan!?

Durch den Anblick ihrer veränderten Gesichtszüge, der unvertrauten Schuppen, der reptilienhaften Nase und überhaupt dieser gesamte Eindruck, war er wie erstarrt und somit unfähig, wegzusehen.

Erst als er Blut schmecken konnte, da er sich so fest auf die Unterlippe biss, wagte er wieder zu atmen.

„Was…“, er brach ab. Es war nicht so, dass ihr Aussehen ihm die Sprache verschlagen hätte. Zumindest nicht in diesem Sinne. Immerhin kannte er sie bereits in ihrer dämonischen Form, aber zum Teufel. DAS war nicht Paige! Zumindest hatte er sie nie so gesehen. Dieses Grün ihrer Schuppen war so anders, als die rötliche Farbe, die er inzwischen kannte.

Unfähig, an sich zu halten, streckte er den Arm aus und ließ seine Fingerkuppen über ein paar der harten, scharfkantigen Schuppen gleiten, die seine Haut problemlos anritzten. Als er sie wieder zurück zog, starrte er seine Hand an.

„Was hast du dir angetan, Paige?“

Er konnte das Zittern in seiner Stimme ebenso wenig verhindern, wie den besorgten Tonfall darin. Verdammt noch mal, er konnte ja nicht einmal das Zittern seiner Hände oder den Rest von seinem Körper, zurück halten.

„Sieh mich an, Paige.“, verlangte er, als er den Blick wieder hob und erneut dem Ansturm von Entsetzen trotzen musste.

„Sie mich an und sag mir, was du dir angetan hast!“

Jetzt klang es eindeutig wie ein Knurren, ja fast schon wie ein Fauchen. Aber er konnte sich einfach nicht mehr beherrschen. Damit war es seit der Therapie seiner Freunde vorbei. Es gab kein Zurück mehr, auch wenn er in diesem Augenblick am liebsten genau das nur zu gerne getan hätte. Paiges Anblick wühlte Dinge in ihm auf, die schlimmer waren, als das unbestimmte Gefühl zuvor.

Was, wenn dieser Zustand erst der Anfang war? Was wenn alles nur noch schlimmer wurde und dieses Etwas, sie vollkommen in Besitz nahm? Was wenn sie … starb?

Bei diesem Gedanken wurde Ryon leichenblass.
 

Seine Berührung schien sie durch den dicken Panzer nur wegen seiner großen Körperwärme zu spüren. Druck übertrug sich fast gar nicht bis auf ihre darunter liegende Haut. Ganz anders als ihre dämonische Haut, die sie bis jetzt noch nie wegen solcher Unterschiede besonders geschätzt hatte.

Am liebsten hätte sie schon wieder losgeheult.

Gerade deshalb ließ Ryons Tonfall sie erschrocken zusammen fahren. Völlig automatisch zog sie den Kopf ein und riss die Augen auf, die Ryon, der im Gegenlicht des Fensters vor ihr kniete, gar nicht fixieren konnten.

Mit leicht geöffneten Lippen blinzelte sie ihn ungläubig an und zog die Decke wieder bis zu ihrem Kinn hoch.

Er hatte sie angefaucht. Schon im übertragenen Sinne rein menschlicher Kommunikation wäre das überraschend gewesen. Mit dem vibrierenden Zischen, das sich durch die Luft geschnitten hatte und eindeutig von mehr als rein menschlichen Emotionen zeugte, war es für Paige unfassbar.

„Ich... Es...“

Bevor sie auch nur wirklich zu einer Erklärung ansetzen konnte, kam sie ins Stottern und brach wieder ab. Sie hatte sogar schon vergessen, was sie sagen wollte. Oder sagen sollte? Hatte er sie denn etwas gefragt?

Paige starrte in zwei goldene Lavaseen. Aufgewühlt von Flammen, die irgendwo darunter züngelten, war in ihnen nichts, das irgendwelchen Halt bieten konnte. Es gab nur zwei Möglichkeiten. Um sein Leben zu laufen oder sich ohne zu überlegen hinein zu werfen und sich seinem Schicksal zu überlassen.

Paige klappte zunächst einmal ihren Mund zu.

Mit immer noch großen Augen folgte sie Ryons Gesichtszügen, seinen Nasenrücken hinunter, zu seinen schmalen Lippen und dem markanten Kinn. Dann wieder hinauf zu den Ohren, hangelte sich ihr Blick an seinen dunklen Augenbrauen entlang, nur um wieder dort hin zu gelangen, wo sie sich nur mit Mühe hatte losreißen können.

Erst als sie nicht nur die Augen als völlig hypnotisch akzeptierte, sondern etwas mehr Wert auf die Interpretation des gesamten Gesichtsausdrucks legte, riss sie sich zusammen. Ja, er hatte sie etwas gefragt. Sehr vehement sogar.

„Es ist ... etwas schwierig zu erklären.“, begann sie etwas hilflos.

Dass sie den Kopf leicht von Kopfkissen angehoben hatte, fiel ihr auch erst jetzt auf. Na, wenn sie schon dabei war, dann konnte sie sich auch gleich ganz aufsetzen. Auch wenn das ihrem Magen spürbar überhaupt nicht gefiel.

„Ich habe eine Essenz. So zu sagen eine Art Erbstück meines Vaters. Dazu gehört auch eine Injektionspistole.“

Bei dem Gedanken daran, was passiert war, nachdem sie fast die ganze Phiole in ihren Blutkreislauf gejagt hatte, wurde ihr übel.

„Mein Vater hat Experimente gemacht. Er wollte dass ich ... eine ganze Dämonin werde. Nicht nur das halbe Etwas, das ich für ihn war...“

Sie holte einmal tief Luft und krallte ihre Finger in die weiße Decke.

„Ich wollte nur wissen, ob ich mich richtig erinnert habe. Ob das Zeug, dass in der Essenz meines Vaters ist, so aussieht wie der Schatten auf der Wand.“
 

Dem Anblick ihrer Augen stand zu halten, war fast ein Gewaltakt.

Das eine, war genau so, wie er es immer sah, wenn er ihr für gewöhnlich ins Gesicht blickte. Doch das andere war … wie das eines Reptils. Fremd und ungewohnt. Von beiden angesehen zu werden, war mehr als nur verwirrend. Es machte ihm nur noch deutlicher, dass Paige ebenfalls zwei Seiten der selben Medaille in sich trug. Auch wenn sich alles in ihm gegen diese neue Erkenntnis sträubte, oder viel mehr, gegen diese neue Erscheinung, die so ganz und gar nicht zu ihrem Wesen zu passen schien. Als würde man einer bösartigen Schlange direkt ins fauchende Maul starren. Das war wirklich nicht Paige. Denn ihre wahre dämonische Seite an ihr, war wunderschön, selbst wenn sie brannte. Oder vielleicht sogar, gerade deshalb.

Als Paige sich aufsetzte, ließ er sich selbst auf die Fersen zurück sinken und blickte zu ihr hoch.

Seine Hände krampften sich auf seinen Oberschenkeln zu Fäusten zusammen, die zitterten, doch der Rest von ihm blieb reglos, während er ihrer Erklärung zuhörte. Richtigerweise ließ er sie ausreden, da er sich deutlich bewusst war, dass sie ihm etwas Wichtiges über sich erzählte.

Zu hören, dass ihr eigener Vater Experimente mit ihr gemacht hatte, weil er offenbar an der Vollkommenheit seines eigenen Kindes zweifelte, war wie ein Faustschlag ins Gesicht.

Seine Kiefernmuskeln arbeiteten, während sich seine Augenbrauen zusammen zogen. Das zu hören, machte ihn einfach verdammt wütend, auch wenn es sinnlos war. Denn ihren Worten war zu entnehmen, dass ihr Vater bereits tot war. Ein Umstand, den er in diesem Moment sehr bedauerte. Ryon hätte diesen Mann gerne persönlich ins Jenseits befördert.

Aber dieser Gedanke war auf einmal wie weggewischt, als Paige ihm mitteilte, dass sie offenbar die Experimente ihres Vaters weiter geführt hatte… An sich selbst.

Nun konnte er seinen Zorn über diese Dummheit tatsächlich nicht mehr verbergen. Sein Blick sprühte fast Funken, doch er zwang sich dazu, all die Worte hinunter zu schlucken, die er ihr eigentlich an den Kopf werfen wollte, weil sie so etwas nicht nur in Erwägung gezogen, sondern es tatsächlich getan hatte.

Wären da nicht ihre verkrampften Hände, die sich an der Bettdecke fest hielten, oder der Ausdruck in ihrem menschlichen Auge, er hätte tatsächlich seiner Wut Luft gemacht. Doch er sah ihr die Angst nicht nur an, sondern witterte sie überall in diesem Raum, da sich dieser Geruch lange hatte ausbreiten können.

Paige wusste selbst, was sie getan hatte. Besser sogar als er.

Sie jetzt wie ein kleines Kind dafür zu schelten, würde ihr nicht helfen. Außerdem, was hatte er für ein Recht, darüber zu urteilen, wie rücksichtslos sie mit sich selbst umging? Er war nicht besser. Auch das hatte er bei diesem Telefongespräch gemeint.

Schließlich senkte er den Blick für einen Moment, betrachtete seine Hände, an denen sich schon die ersten Ansätze von Krallen zeigten, ehe er sie wieder zurück zog und erneut den Kopf hob. Dieses Mal mit einem Ausdruck von Ruhe. Immerhin wollte er ihr nicht noch mehr Angst machen, sondern war hier, um ihr wenn überhaupt möglich, zu helfen.

„Paige-“ ‚Das war die Sache einfach nicht wert.‘, wollte er sagen, entschied sich aber im letzten Moment doch noch einmal um. Sie konnten auch später darüber sprechen.

Er rutschte näher an sie heran, richtete sich wieder auf, um ihr geradewegs in die Augen blicken zu können.

„-lass mich dir helfen, so gut ich kann… Bitte.“
 

Ihre Augen zuckten kurz zu Ryon hinüber, als sie nach dem Nennen ihres Namens auf ein Urteil von ihm wartete. Wenn sie es nicht besser wüsste, Paige würde sagen, es schwang Wut in seiner Stimme mit. Ihr war sein Blick nicht entgangen, der immer wieder leicht unsicher zu der Seite hinüber zu wandern schien, die ihre Menschlichkeit im Augenblick total verloren hatte.

Sie selbst wusste nicht, was sie an seiner Stelle zu dem ganzen Schlamassel sagen würde. Vor allem, wenn man die Tatsache bedachte, dass sie sich selbst da hinein manövriert hatte. Wenn sie nicht so viel Angst hätte, für immer so … abstoßend bleiben zu müssen, sie hätte ihre Wut auf sich selbst gern heraus gelassen. Da hätte selbst eine Badewanne voll eiskaltem Wasser nicht das Inferno aufhalten können, das in ihr schwelte. Aber sie war selbst dazu viel zu schwach. Und da sie nicht wusste, was dieser Dämon in ihr außer den scharfkantigen Schuppen alles verbarg, wollte sie es lieber gar nicht ausprobieren. Am Ende hätte sie noch unabsichtlich das Hotel abgefackelt. Oder sich selbst in ihrer neuen harten Schale gekocht.

Schon als Ryon näher rückte, sah sie ihn an. Ihre Augen ruhten auf seinen, die nun weniger brennend, aber immer noch voller Emotionen waren.

Er hatte sich verändert. War es wirklich so lange her, dass sie sich gesehen hatten? Im Moment kam es Paige so vor, als wären es Monate gewesen und nicht nur wenige Tage.

Ihr Haar fiel ihr übers Gesicht, als sie nach seiner Bitte den Kopf hängen ließ.

„Glaubst du...“

Sie streckte ihre Hände mit den grünen Fingern und den dunklen, scharfen Nägeln daran auf der Decke aus und betrachtete sie eine Weile. Niemals hätte sie erwartet, dass Ryon es sein würde, der dafür sorgen konnte, dass ihr etwas leichter ums Herz wurde. Damit, dass er vor ihrer Tür stehen würde, hatte sie in hundert Jahren nicht gerechnet.

Nach dem Telefongespräch musste irgendetwas passiert sein. Wäre es allein die Tatsache ihrer 'Krankheit' gewesen, die ihn her gebracht hatte, dann wäre er doch sofort gekommen...

Mit einem leichten Lächeln, das vor allem den Mundwinkel hob, bei dem unter den breiten Schuppen ein wenig menschliche Haut hervor sah, lehnte sie sich gegen das Kopfende des Bettes. Teils aus Scham, teils aus anderen Gründen strich sie die Haare nicht zurück, die den Großteil ihres Gesichts verdeckten und sah Ryon mit ihrem menschlichen Augen hoffnungsvoll an.

„Glaubst du, es wäre möglich Tee für uns beide zu besorgen?“, beendete sie ihre Frage leise. Ihre Stimme klang ungefähr so unsicher, als hätte sie ihn gerade gefragt, ob er die Sixtinische Kapelle für sie kaufen könnte. Eigentlich wollte sie sich nur auf die nächste Frage vorbereiten, die sogar noch sehr viel mehr Mut erforderte. Es war viel verlangt, das wusste sie. Und dass sie es gerade von ihm verlangte...

„Außerdem...“ Ihre Wange färbte sich rot, während die dämonische Seite sich rasselnd aufbäumte. Unter den Schuppen setzte ein Jucken ein, das Paige beinahe aus dem Konzept brachte. Aber sie wollte fragen. Also legte sie ihre Hand nur auf die unruhige Gesichtshälfte und sprach unbeirrt weiter.

„Würdest du mir einfach ein wenig Gesellschaft leisten? Ich möchte gern hören, was du gemacht hast, seit wir Ägypten verlassen haben.“

Ein weiteres Lächeln und das Jucken breitete sich aus. Winzige Entladungen schienen dafür zu sorgen, dass sich einzelne Stellen in ihrem Gesicht zurück verwandelten. Nur wenige, aber Paige konnte es unter ihren Fingerkuppen spüren. Vielleicht hatte sie doch Chancen wieder aus dieser fesselnden Panzerung heraus zu kommen? Sie wagte kaum darauf zu hoffen.
 

Wie schwierig es war, still zu sitzen und sich in Geduld zu üben, während einem einen Haufen Dinge durch den Kopf schwirrten, musste Ryon wohl erst wieder richtig lernen. Zwar war die Sorge um Paige, nun da er sie vor sich sah, etwas gedämpft, aber dass sie selbst Angst hatte, schürte auch bei ihm nur noch die Gefühle. Natürlich würde er sie niemals meiden, wenn sie so bliebe, wie sie jetzt aussah, aber was wäre das für ein Leben für sie? So etwas wünschte er ihr absolut nicht, daher auch die klägliche Hoffnung in ihm, das alles könne sich am Ende doch noch einmal zum Guten wenden. Vielleicht hatte ja diese Frau mehr Glück, als ihm selbst bestimmt war.

Paige streckte ihre dämonischen Hände aus und betrachtete sie nachdenklich. Ryon tat es ihr gleich, während er darauf wartete, dass sie ihm entweder sagte, er solle verschwinden, oder es zuließ, dass er ihr half.

Ihre Krallen könnten es locker mit den seinen aufnehmen, auch wenn er keine so starke Panzerung als Schutz hatte. Zu Halloween würden sie garantiert den ersten Preis für die schrägsten Kostüme gewinnen. Ein Tiger und eine Drachenfrau. Zumindest ein Jahresvorrat an Süßigkeiten wäre ihnen gewiss.

Nach einer Ewigkeit wie es schien, durchbrach Paige endlich zögerlich die Stille. Sofort sah er von ihren Händen zu ihrem Gesicht, das aber nun größtenteils von ihrem leicht zerzausten Haar verdeckt wurde. Er konnte nur noch etwas von ihrer menschlichen Hälfte erkennen. Sie lächelte.

Obwohl es kein überschwängliches Lächeln war, noch nicht einmal ein amüsiertes, so war es doch irgendwie ein klein bisschen hoffnungsvolles Lächeln, das sie ihm da schenkte. Zusammen mit ihrem Tonfall und dieser kleinen Geste, wurde eine so einfache Bitte, wie etwas Tee, zu einer ziemlich gewichtigen. Ryon hatte zumindest das Gefühl, als läge mehr in den Worten, als man erkennen konnte. Umso gespannter, wartete er deshalb darauf, dass sie weiter sprach.

In diesem Augenblick würde er tatsächlich alles für sie tun, sofern es in seiner Macht stand. Selbst wenn er sich in ein Baströckchen schmeißen und Hula tanzen müsste, würde er es tun. Nur damit es ihr nicht mehr so schwer ums Herz war.

Wieder war da so ein rasselndes Geräusch, das nun definitiv aus der Stelle in ihrem Gesicht kam, die vor ihm verborgen lag. Das änderte aber nichts daran, dass sich ihm wieder die Haare zu Berge stellten. Zumindest die auf seinem Unterarm und in seinem Nacken.

Paige unterband das Rasseln, in dem sie die Hand darauf legte und ihn auch schon mit ihren nächsten Worten davon ablenkte. Wieder lächelte sie.

Eine Weile sah er sie nur an, während es in seinem Kopf regelrecht ratterte und in seinem Körper nicht weniger Hochbetrieb herrschte.

Schließlich seufzte Ryon und senkte den Blick.

„Ich denke nicht, dass ich im Augenblick über die vergangenen Tage reden will… Außerdem könnte ich mir momentan bessere Gesprächsthemen vorstellen.“

Er sah sie wieder an. Zwar lächelte er nicht zurück, obwohl es seine Gesichtsmuskeln durchaus reizen würde, aber dafür war der Ausdruck seiner Augen noch sanfter geworden.

„Mein Lieblingstee ist ‚Earl Gray - Vanille‘. Welchen darf ich dir bringen?“

36. Kapitel

Als Ryon die Tür hinter sich geschlossen hatte und sie seine Schritte auf dem Gang draußen nicht mehr hören konnte, sprang Paige – zumindest für ihre derzeitigen Verhältnisse – aus dem Bett.

Eins der großformatigen Fotos blieb an ihrer nackten Fußsohle kleben und wurde mitgeschleift, bis sie das Bad erreicht hatte.

Schon bei Ryons letzten Sätzen, seiner kurzen Verabschiedung, hatte sie so gut schauspielern müssen, wie nie zuvor in ihrem Leben.

Es war wieder da.

An der Innenseite ihres Oberschenkels hatte es angefangen. Ein leichtes Pochen zuerst, das eigentlich nur dazu führte, dass Paige sich an der Stelle kratzen wollte. Als sie aber spürte, dass sich etwas unter ihrer Haut bewegte, sich kriechend ihr Bein hinunter bewegte, wollte sie am liebsten panisch um sich schlagen.

Oder das Ding einfach aus sich rausholen.

Zitternd stand sie im Bad auf den stabilen Fliesen und sah an sich hinunter. Ihr Bein schien ihr kaum noch Halt zu geben, wurden ihre Muskeln doch von dem egelartigen Ding vollkommen willkürlich zusammengedrückt und wieder gedehnt. Ein Keuchen entrang sich ihr, als sie endlich den Schock ein wenig überwunden hatte und erneut anfing zu atmen.

„Raus. Raus aus mir!“

Ihr Bein stand lichterloh in Flammen, bevor sie überhaupt realisierte, was sie tat. Ein hohes Zischen war zu hören und zu Paiges Überraschung ließ das Jucken zwar nicht nach, aber die grünen, sonst so stabilen Schuppen auf ihrer Haut, schienen schwarz anzulaufen.

„Aber das kann doch nicht...“

Wie hypnotisiert beugte sie sich nach unten, umfasste eine der Schuppen mit ihren Krallen und zog daran.
 

Exakt neunzehn Minuten und zweiundzwanzig Sekunden später schlüpfte er auch schon wieder mit einer großen Termoskanne voll heißem Wasser, Teebecher und einer Einkaufstüte, die wesentlich mehr als nur Tee enthielt, in Paiges Zimmer zurück.

Zu gehen, um die Sachen zu besorgen, war sehr schwer gewesen. Auch wenn man ihm das vermutlich kaum glauben würde. Aber nicht umsonst war er leicht außer Atem, als er die Sachen abstellte und zu ihrem Bett hinüber ging.

Die ständige Panik, etwas könnte mit Paige passieren, während er gerade in der Schlange an eine der Kassen anstand, hatte ihn enorm angetrieben.

Sie nun aber wieder zu sehen, beruhigte ihn umgehend. Selbst wenn ihre Körperfarbe größtenteils eher einem Oger glich als einem Menschen.

Als er wieder so neben ihrem Bett kniete, da darauf einfach kaum Platz für ihn selbst gewesen wäre - außerdem war es nicht wirklich anständig - holte er ein paar Mal tief Luft, bis er sich wieder gefangen hatte. Sein Haar war vom Nieselregen draußen noch immer leicht feucht und er machte einen etwas zerzausten Eindruck. Aber das störte ihn im Augenblick nur wenig.

Während er weg gewesen war, hatte er sich Gedanken darüber gemacht, wie er Paige am besten helfen konnte. Als er in Ägypten so krank gewesen war, schien sie wenigstens gewusst zu haben, was sie dagegen tun konnte, er stand hier aber vor einem vollkommenen Rätsel.

„Einmal von einer Teegesellschaft abgesehen, hilft dir sonst noch etwas? Wie sieht es mit Essen aus, kriegst du etwas hinunter, oder wäre das eher fatal? Und was ist mit der Temperatur. Ist dir zu kalt, zu heiß?“

An seinem fast schon plappernden Tonfall konnte man nur zu deutlich erkennen, wie aufgewühlt er war. Etwas, an das man sich bei ihm wohl erst noch gewöhnen musste. Ganz davon abgesehen, dass Ryon selbst erst wieder damit umzugehen lernen musste. Wenn man nichts oder kaum etwas fühlte, war es leicht, sich zurück zu halten. Wenn man aber nur noch so davon überquoll, wie es bei Gestaltwandlern eigentlich von Natur aus so war, dann war das eine ganz schöne Herausforderung. Nicht nur für ihn, sondern auch für seine Mitmenschen.
 

Inzwischen mit einem schwarzen Trägershirt und einem Slip bekleidet, saß sie wieder im Bett, als Ryon zurück kam. Der Tasche in seiner Hand nach zu urteilen, war er bei seinem kleinen Einkauf außerordentlich erfolgreich gewesen.

Nachdem er sich wieder neben das Bett gekniet hatte, sah sich Paige mit einem Schmunzeln seine Haare an und hörte seinem Wortschwall zu.

Wenn sie sich überhaupt noch über ihn wundern könnte, hätten sich ihre Augen ob seiner Kommunikationswut überrascht geweitet.

Das Wort „süß“ kam ihr in den Sinn, als sie darüber nachdachte, was sie von seinem eigentümlichen Verhalten halten sollte. Statt allerdings weiter darüber zu grübeln, beantwortete sie lieber seine Fragen. Zumindest so weit sie konnte. Denn in ihrer Hand hielt sie etwas, das sie ihm gern zeigen wollte, während ein Schauer ihren Rücken hinunter kroch, als sie in sich hinein fühlte. Es war da. Es wand sich in ihrem Innern und war über ihre Aktion im Bad keinesfalls glücklich. Da sollte es erst warten, was noch alles kommen würde...

„Nein, nichts zu essen, danke.“

Sie sah ihm fest in die Augen. Dem sich schnell verändernden Ausdruck darin, folgte sie mit Interesse. Aber es hielt sie nicht davon ab, weiter zu sprechen, während sie den kleinen Schatz zwischen ihnen hochhielt, damit Ryon ihn betrachten konnte.

„Ich kann sie wegbrennen.“

Der Ausdruck, der sich auf ihrem Gesicht spiegelte, war eindeutig Triumph.
 

Stumm blickte er von dem schwarzen Ding in ihren Händen zu ihrem Gesicht und wieder zurück, bis er schließlich die Hand ausstreckte und es ihr vorsichtig aus den Fingern nahm.

Während er seine Gedanken kreisen ließ, schob er die verbrannte Schuppe auf seiner Handfläche hin und her, hielt sie hoch, drehte sie ein paar Mal herum, ehe er seinen Kopf hob, um Paige anzusehen.

„Ich werte deinen Gesichtsausdruck als ein gutes Zeichen. Aber wenn du sie alle wegbrennen willst, wie wirst du dabei vorgehen und hilft es wirklich, oder nimmst du dabei irgendwie Schaden?“

Er sah etwas hilflos auf die Schuppe hinab.

„Ich meine, ich kann mir zwar nicht vorstellen, dass diese Seite wirklich zu dir gehört, aber als dir dieser Duftspender deine Schuppen heraus riss, sah das keinesfalls angenehm aus.“

Seine Augen blitzten für einen Moment wütend auf, als er daran dachte.

„Er hat dich verletzt… Kannst du mir garantieren, dass du dich nicht noch schlimmer zurichtest?“, verlangte Ryon zu wissen. Natürlich wäre es ihre Entscheidung und sie kannte sich sicher besser in diesen Dingen aus als er, aber wenn er sich so diese verbrannte Schuppe ansah, dann machte er sich natürlich Sorgen.

„Sag mir einfach, was ich tun kann und erkläre es mir. Ich habe immerhin keine Ahnung, was dich und deine Anatomie angeht.“

Vielleicht würde ihm das etwas von den Bedenken nehmen. Er war noch immer skeptisch. Paige war zwar eine halbe Feuerdämonin und kannte ihre Kräfte, aber das tat er nicht. Es wäre daher leichter, wenn er es verstehen würde.

„Was hat dieses ‚Experiment‘ eigentlich mit dir gemacht? Ich meine, warum hat es dich so … verändert?“

Ryon gab ihr die Schuppe zurück und sah sie fragend an. Er wollte so viel darüber wissen, wie er konnte.
 

Weil Ryon nicht sofort auf ihre tollen Neuigkeiten ansprang, wollte sie schon zu einem Redeschwall ansetzen. Aber sein besorgter Blick auf die angekohlte Schuppe und seine Fragen hielten sie erfolgreich zurück.

Mit nachdenklich gekräuselter Stirn setzte sie sich so hin, dass sie Ryon direkt zugewandt war. Die eine Decke zog sie sich über die Schultern, während sie die Wolldecke dazu benutzte, ihren Körper von der Hüfte abwärts zuzudecken.

Weniger um besser sehen zu können, als aus einer Gewohnheit heraus, strich sie sich die Haare hinters Ohr und drehte das Beweisstück ihres Triumphes zwischen den Fingern.

„Dir zu erklären, was genau das Zeug mit mir macht, geht über meine eigenen Kenntnisse. Mein Vater sagte mir damals nur, dass es die dämonische Seite in mir verstärken und alles Menschliche schwächen würde. Er hat mir eine größere Dosis verpasst, als ich es getan habe. Immerhin wollte er sicher gehen, dass es auch funktioniert.“

Paige sah zwar hoch, aber ihr Blick war an Ryons Ohr vorbei in die Ferne gerichtet. An einen Ort, von dem sie nie gedacht hatte, dass sie ihn – selbst gedanklich – je wieder betreten würde.

„Wenn ich mich richtig erinnere, hat er versucht mich völlig umzudrehen. Die Substanz in der Spritze vermengt sich mit meinem Blut und wird erst in meinem Körper zu dem, was mir wirklich schaden kann. Es...“

Nun sah sie tatsächlich für eine Sekunde in Ryons Gesicht. Nicht direkt in seine strahlend goldenen Augen, denn das wagte sie nicht. Stattdessen senkte sie ihre Augen wieder auf ihre Handfläche und sprach so leise weiter, dass ihre Stimme zu brechen drohte.

„Es frisst an mir. In kleinen Dosen ist es dafür gut meine angeborenen Schwächen zu kaschieren. Ich kühle nicht so schnell aus und kann mein Feuer länger am Leben halten...“

Mit zitternden Fingern zog sie ein wenig an der Wolldecke. Nur ein Stück ihres Knies musste sie freilegen, damit er sehen konnte, dass sich etwas in ihr bewegte.

„Nach einer Weile ist es abgestorben. Damals hat es länger gedauert als in Paris. Aber noch nie so lange wie jetzt.“

Sie sah ihn flehend an. Dabei konnte auch Ryon nicht viel tun, um ihr dabei zu helfen, das Ding aus ihrem Körper zu kriegen.

„Ich weiß, dass meine wahre dämonische Seite unter diesen grässlichen grünen Platten immer noch da ist. Wenn ich es schaffe, all die neuen Schuppen weg zu brennen, dann wird sicher auch die Substanz schneller verschwinden.“

Dass das mit Schmerzen einher gehen würde, hatte sie in dem gleichen Maße akzeptiert, wie die Tatsache, dass sie genau das Ryon verschwieg.

„Um nicht das ganze Hotel in einen Aschehaufen zu verwandeln, fällt mir nur eine Lösung ein.“

Zurück in die Badewanne. Ihr Feuer würde unter Wasser nur zwischen den beiden Schuppenschichten brennen und dann sang und klanglos in Hitze verpuffen.

„Solange du mir versprichst dich selbst nicht zu gefährden, könntest du mir helfen.“

Bei ihrem 'Experiment' hatte sie sich hauptsächlich dadurch Blutergüsse und Schürfwunden zugezogen, dass sie sich selbst nicht festhalten konnte. Die Krämpfe und die Gegenwehr ihres Körpers, wie auch der Substanz hatten sie zu sehr mitgenommen.

Aber er konnte.

Ryon war stark genug sie unter Wasser festzuhalten, bis es vorbei war.

„Ich weiß, dass es viel verlangt ist.“, sagte sie leise, aber mit vollkommen ruhiger Stimme.

„Du kannst nein sagen. Aber... ich wäre dir sehr dankbar.“
 

Paris? Sie hatte das Zeug schon einmal in Paris verwendet?

Plötzlich ging Ryon ein Licht auf. Natürlich, damals als sie zum zweiten Mal die Tunnel betreten hatten, um in die Unterwelt zu kommen. Da hatte er doch an ihr einen schwachen Geruch wahrnehmen können, den er zu dem Zeitpunkt nicht verstand. Jetzt war ihm klar, was ihn verursacht hatte. Immerhin erfüllte der gleiche Geruch, mit deutlich mehr Intensität den ganzen Raum.

Es war nicht gerade leicht, akzeptieren zu müssen, dass Ryon langsam aber sicher immer mehr Aspekte in Paiges Leben kennen lernte, die ihn zugleich schockierten und traurig stimmten. Tatsächlich hatte er keine Ahnung gehabt, was sich alles hinter diesen dunklen Augen verbarg und noch immer schien da so viel zu sein, von dem er nichts wusste. Aber da er nun hier war, hörte, wie es ihr schwer fiel, ihn überhaupt um etwas zu bitten, da wusste er, dass er mehr von ihr wissen wollte. Sehr viel mehr und dass, egal was es ihn kosten würde, er ihr helfen musste. Sein Gefühl verlangte es von ihm.

Die Augen auf ihr Knie gerichtet, wo etwas sich wand und schlängelte, das definitiv nicht zu ihr gehörte, fasste er seinen Entschluss. Selbstverständlich würde er ihr helfen, dieses Ding wieder los zu werden. Allerdings nicht etwa, weil er ihr einiges schuldete, sondern weil er es wollte.

„Ich versteh das Ganze zwar noch immer nicht vollkommen, aber…“, begann er mit einem leichten Zittern in der Stimme, ehe er den Kopf hob, um ihr fest in die Augen zu blicken.

„Sag mir, was ich tun soll, um dir zu helfen.“

Zwar hatte er keine Ahnung, was sie von ihm verlangen würde, doch sein Blick zeigte Entschlossenheit. Selbst wenn er es bereuen würde, er würde nicht kneifen. Immerhin könnte er Paige ein Leben in dieser Form nicht antun, wenn es sich verhindern ließ.
 

Paige krallte ihre langen Fingernägel in den Kragen des Bademantels, den sie sich beim Aufstehen übergezogen hatte. Bereits als Ryon ihr zugesagt hatte, dass er ihr helfen würde, hatte ihr die Entscheidung wie ein Klotz Beton im Magen gelegen. Denn an eins hatte sie bei ihrer Bitte nicht gedacht. Oder es zumindest nicht in dem Maße realisiert, in dem sie es in diesem Moment im Badezimmer tat.

Sie standen nebeneinander vor der Badewanne, als wäre sie ein Wunschbrunnen und sie hätten beide nur noch eine Münze und müssten sich für den besten Wunsch entscheiden.

Wäre es tatsächlich so gewesen, hätte Paige ihren Wunsch jedoch sofort formulieren können. Sie wollte das nicht tun müssen. Schon mit der winzigen Dosis in Paris war es schwierig gewesen – und es hatte weh getan.

Und wenn man ihrem rasenden Puls glauben wollte, ihrer Nasenspitze, die ihren Blick nach unten zog und eben nicht zu dem Mann, der neben ihr stand wie eine Marmorstatue, dann würde das hier schwerer werden, als sie angenommen hatte. Und das lag nicht daran, dass ihr Plan nicht aufgehen könnte. Paige zweifelte mit keiner Faser ihres Gehirns an der Möglichkeit auch unter Wasser genug Flammen zu erzeugen, damit es funktionierte. Immerhin würde alles wirklich Wichtige unter ihrer Haut stattfinden.

Haut, die Ryon sehen würde.

Ein Kloß so groß und rau wie ein Steinbrocken bildete sich in Paiges Hals und ließ sich auch mit größter Mühe nicht hinunter schlucken. Ja, sie hatte sich etwas übergezogen. Und wenn es so laufen sollte, wie sie es annahm, würde er so beschäftigt sein, dass er nicht einmal daran dachte, sie anzustarren...

Ein Rasseln, das sich ihre linke Körperhälfte hinunter zog, riss sie derart nachdrücklich aus ihren Gedanken, dass sie in einer entschlossenen Bewegung den Gürtel des Bademantels öffnete und ihn zu ihren Füßen auf den Boden fallen ließ.

Das Wasser fühlte sich so an, als würden winzige Eiskristalle sich zwischen den Schuppen in ihre Haut bohren. Paige zog zischend die Luft ein und sah mit aufeinander gepressten Lippen ihre Füße an, die zuvor die stille Oberfläche kurz aufgewühlt hatten, als sie in die Wanne gestiegen war.

Zuerst tat sich nichts. Paige starrte ihre Zehen an, die sich an den Stellen, die bereits menschliche Haut zeigten von Purpur zu weiß wechselten. Es war verdammt anstrengend in dieser Kälte eine Flamme unter ihrer Haut zu entzünden. Aber ein einziger Blick auf ihr Knie reichte aus, um genug Wut in ihr zu entfachen.

Paiges kurzes Lachen zitterte mit ihrem Körper um die Wette, als sich die Schuppen auf ihrem Fuß zuerst aufstellten, unhörbar klapperten, sich aufbäumten und schließlich ihre Farbe von einem zufrieden stellenden Schwarz überzogen wurde. Mit einem triumphierenden und dennoch sehr blassen Grinsen sah Paige Ryon an.

„Es klappt.“, sagte sie kurz angebunden. Bei mehr Worten wären ihr die eigenen klappernden Zähne wahrscheinlich im Weg gewesen.

Für mehr als nur einen Augenblick war Paige irritiert so etwas wie Unentschlossenheit und Sorge in Ryons Gesicht lesen zu können. Es war schnell wieder verschwunden, als sein Blick ihren fand, aber dennoch war es deutlich da gewesen.

Wenn das hier überstanden war, würde er hoffentlich damit rausrücken, was in der Zwischenzeit passiert war. Dass es nachdrücklich und folgenreich gewesen war, konnte sie ohne Zweifel sehen.

Da sie aber keine Zeit hatte sich jetzt damit auseinander zu setzen, ließ sich Paige schnell bis zum Hals ins kalte Wasser gleiten. Sie sah zu Ryon auf, der trotz seiner knienden Haltung, die er sehr schnell eingenommen hatte, mit seiner Größe noch immer über ihr lehnte.

„Gib mir deine Hand.“

Warum sie so sanft mit ihm sprach, als müsse es eine echte Überwindung für ihn sein, wusste sie nicht genau. So gut es ging hatte sie die Schuppen an den Stellen zurück gezogen, die er berühren würde. Er würde sich also bei der ganzen Sache bestimmt nicht verletzen. Zumindest nicht, solange er sich an den Plan hielt.

Vorsichtig, um ihn mit den scharfen Kanten der grünen Panzerung nicht aufzuritzen, nahm sie seine Hand und legte sie flach genau zwischen ihre Schlüsselbeine. Selbst im Wasser fühlte sich Ryons Haut noch warm an.

„Es wird vermutlich nur kurz dauern, bis das Ding mitbekommt, was passiert.“, setzte sie an und versuchte sich an Ryons Augen festzuhalten. Das erste Mal, seit sie ihn kannte, funktionierte es. Da waren nicht nur tote Pupillen, die eisig auf sie herab sahen und er war nicht der Eisklotz, der mechanisch tun würde, was sie sagte. Er würde es tun, weil sie ihn gebeten hatte. Es ließ sie ruhiger und zuversichtlicher werden.

„Ich werde wissen, wann ich ganz unter Wasser rutschen muss. Du brauchst nichts Anderes zu tun, als mich so gut es geht festzuhalten.“

Keinen winzigen Moment brach sie den Blickkontakt ab. Selbst wenn sie es gewollt hätte, wäre sie dazu nicht im Stande gewesen.

„Solange nicht der Großteil des Fremdkörpers verschwunden ist ... lass mich nicht los.“

Sie meinte es todernst. Paige würde den Kampf nur aufnehmen, weil sie vorhatte zu gewinnen.

„Bereit?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, schloss Paige die Augen und legte ihren Kopf am Badewannenrand ab. Sie horchte in ihren Körper hinein, um zu wissen, wo sie am besten anfangen sollte. Wäre die Gewissheit nicht gewesen, dass ihre eigenen Schuppen noch da waren, dass sie unter dieser grässlichen Schale noch die Selbe war, sie hätte nie den Mut gehabt.

Wieder regte es sich zuerst in ihrem Oberschenkel. Die Haut wollte sich aufblähen, die Schuppen sich aufstellen und ihre Muskeln sich verkrampfen, aber Paige war schneller. Unter ihren geschlossenen Augenlidern konnte sie die Hitze wie einen hellweißen Punkt sehen, die sie an der richtigen Stelle zu erzeugen versuchte.

Das Ding zog sich zurück. Weiter ihren Oberschenkel hinauf über ihre Hüfte.

Wenn es ihren Bauchraum erreichte, wo es sich mit all seinen abgespaltenen Partikeln zusammen rotten konnte, hatte Paige wenig Chancen.

Um Ryon zu zeigen, was sie tun würde, legte sie lediglich ihre Hand auf seine und atmete so tief ein, wie sie konnte.

Kein Blick, kein Zögern.

Sobald das Wasser ihr Gesicht bedeckte, ließ sie Ryons Finger wieder los und drückte ihre Handflächen gegen die Wände der Wanne, wie sie es schon zwei Nächte zuvor getan hatte.

Selbst für einen weiteren ruhigen Atemzug hätte die Zeit nicht gereicht. Ein Stich wie mit einem brennenden Eisen ging durch ihren Magen und ließ Paige sich vor Schmerzen zusammen krümmen. Luftblasen quollen aus ihrem Mund, als sie kurz aufschrie.

Der Druck auf ihrer Brust, dort wo Ryons Hand sie herunter drücken sollte, ließ nach. Paige griff sich sein Handgelenk und hinderte ihn so daran seinen Arm ganz aus dem Wasser zu ziehen.

Sie öffnete die Augen und sah ihn an.

Durch das Wasser, das sie einschloss, konnte sie ihn nur schemenhaft erkennen. Eine große Silhouette, die sich über sie beugte und wegen der Bewegungen auf der Oberfläche zu zittern schien. Oder war es nur allein das Wasser, das diesen Eindruck vermittelte?

Ein weiterer Schnitt in ihrer Magengegend und sie ergriff Ryons Handgelenk so fest, dass sie ihn bestimmt unabsichtlich gekratzt hatte. Im nächsten Moment landete sie mit dem Rücken flach auf dem Boden der Wanne.

Paige bekam keinen Augenblick Gelegenheit darüber nachzudenken, was alles passieren konnte. Ertrinken war ihr kleinstes Problem, denn der erste ernsthafte Muskelkrampf bog ihr in der nächsten Sekunde das Rückgrad durch und ihre Schuppen sträubten sich so stark, dass sie ihr Shirt aufschnitten.

Gegen die Flammen, die sich in einer geballten Entladung unter den grünen, flächigen Schuppen entlang fraßen, war selbst die emotionale Explosion in Ryons Appartement ein harmloses Lagerfeuer gewesen. Paige legte all ihre Panik, ihre Wut und ihre Verzweiflung in die Hitze, unter der sie ihre eigenen Schuppen spüren konnte. Wie ein vertrautes Kleidungsstück, das man unter einem Stapel alter Lumpen schon ertasten, aber noch nicht heraus ziehen konnte.

Ein Teil des Dings in ihr wand sich wie der Arm eines Tintenfischs ihre Seite entlang nach oben zu ihrer Brust. Paige schrie erneut auf und hätte beinahe unüberlegt tief nach Atem gerungen. Es schien inzwischen überall in und auf ihr zu sein. Je mehr Feuer sie zwischen den beiden dämonischen Schichten erzeugte, desto schlimmer wurden die Schmerzen. Krämpfe schüttelten sie so stark, dass sie sich die Schulterblätter am Boden der Badewanne blau schlug.

Ihre Lungen brannten und trotzdem konnte sie nicht aufhören, gurgelnd gegen den Schmerz anzuschreien. Es war nicht nur die Tatsache, dass sie in diesem Moment körperlich litt. Ihr eigener Vater hatte dieses Monster eigens für sie geschaffen. Weil er sie für nicht wert hielt, in ihrer Form am Leben zu sein. Paige schrie ihren Hass hinaus, ihre verletzten Gefühle und ihre Verzweiflung darüber, dass sie sich selbst nicht mehr lieben konnte, als es ihr Vater getan hatte. Vielleicht hatte er Recht. Vielleicht war es besser aufzugeben.

Eine schwarze Schuppe bewegte sich träge im Wasser, schaukelte hin und her, bis sich die Verbindung löste und sie in einer sanften Wellenbewegung zur Oberfläche trieb. Sie reihte sich ein in eine schwarze Schicht, die kaum Licht ins Wasser durchschimmern ließ.

Paige fühlte sich friedlich. Ihr Körper schien auf keines ihrer Signale zu reagieren, sondern war taub. Aber das machte nichts. Denn das hieß, es tat ihr auch nichts mehr weh.

Als sie die Augen schloss, rutschte auch ihre Hand ab, die sich bis jetzt noch um das einzig Warme in einem Meer aus Kälte und davon treibenden Schuppen geklammert hatte.

Sie konnte nicht mehr.
 

Das war der härteste Kampf seines Lebens.

Nicht, was den körperlichen Kräfteakt anging, sondern vielmehr die Grausamkeit dabei, die seine neu erwachten Gefühle so entsetzlich folterten, dass er keinen Gedanken daran wagen durfte, sonst würde er zerbrechen.

Paiges Körper vorsätzlich zu verletzten, damit sie sich selbst nicht noch Schlimmeres zufügen konnte, war ein Bruch mit seiner Natur. Zusehen zu müssen, wie sie vor Schmerz schrie und dem Wissen, dass ihr die Luft dabei immer knapper werden würde, war schmerzhafter, als jegliche Verletzung, die man ihm hätte körperlich zufügen können.

Was waren dagegen schon ihre Finger, die sich in seine Hand gruben, bis er blutete? Oder die Schnitte an seiner anderen Hand, die er um ihre Fußgelenke gelegt hatte, da diese sonst unter den starken Krämpfen brutal gegen den Rand der Badewanne geschlagen hätten?

Wüsste Ryon es nicht besser, so hätte er gerade das unbestreitbare Gefühl, Paige in der Badewanne zu ertränken und somit zu ermorden.

Allein ihre Bitte an ihn und der Ausdruck ihrer Augen, hielten ihn davon ab, sie sofort aus dem Wasser zu ziehen. Egal, ob sie danach das ganze Badezimmer ihn inklusive abfackeln würde. Es wäre besser gewesen als diese Tortur.

Doch je wilder sie sich aufbäumte, je lauter ihre gedämpften Schreie durch das Wasser zu ihm vor drangen, umso unnachgiebiger wurde er. Die Grenze, an der sie beide noch hätten zurück können, war überschritten. Sie hatten keine andere Wahl mehr.

Schon bald lösten sich so viele schwarze Schuppen von ihrem Körper, dass er den Kampf in ihrem Inneren nicht mehr mit verfolgen konnte. Viel eher war er damit beschäftigt, nicht selbst auf dem nassen Boden den Halt zu verlieren.

Umso fester drückte er seinen Brustkorb gegen den Rand der Wanne, bis er durchaus nachvollziehen konnte, was für einen Druck seine Hand auf Paiges Oberkörper auslösen musste. Wie groß seine Angst war, ihr dabei etwas zu brechen, konnte man sich kaum vorstellen.

Zum Glück konnte er langsam aber sicher, seine Kraft etwas zurück nehmen, denn ihre Krämpfe wurden schwächer, weniger intensiv, bis sie vollkommen aufhörten und sich eine erdrückende Stille im Badezimmer ausbreitete.

Im selben Moment, als ihre Finger seine Hand los ließen, richtete er sich auf, packte ihre Schultern und zog ihren Oberkörper aus dem Wasser.

Es hätte ihn vermutlich erfreuen müssen, zu sehen, dass ihr Gesicht wieder menschlich war, trotz der schwarzen Schliere auf ihrer Haut, die vom vielen Ruß kamen. Doch das kümmerte ihn im Augenblick so wenig, wie alles andere, das nicht mit ihrer Gesundheit zu tun hatte.

Sie war ohnmächtig geworden, was vermuten ließ, dass sie in der kurzen Zeit, die er gebraucht hatte, um sie wieder an die Luft zu holen, Wasser eingeatmet hatte.

Ryon schlang seinen Arm unter ihre Achseln hindurch und griff mit dem anderen, unter ihre Kniekehlen.

Ihr Körper war eiskalt, als er ihn an sich zog, um Paige aus der Wanne zu holen.

Vorsichtig legte er sie mit dem Rücken auf den durchnässten Badezimmerteppich ab, bog ihr dann den Kopf in den Nacken und hielt sein Ohr an ihren Mund. Sie atmete nicht mehr und ihr Puls war auch so gut, wie kaum noch vorhanden.

Ryon verlor keine Zeit.

Da ihr Oberteil ohnehin völlig zerrissen war, befreite er sie von den Stofffetzen, ging noch einmal sicher, dass ihr Kopf sich in der richtigen Position befand und hielt ihr dann die Nase zu, um sie zu beatmen.
 

Er brauchte drei Herzmassagen und vier Beatmungen, bis ihr Körper endlich krampfhaft zu husten anfing und er sie in die Seitenlage legen konnte, damit sie ihm nicht noch einmal daran erstickte.

Während Paige immer noch von kleineren Hustenanfällen geschüttelt wurde, deckte er sie mit ein paar Handtüchern zu und rieb ihr über den Rücken. Zwar blieb sie auch weiterhin bewusstlos, aber zumindest machte ihr Körper reflexartig das Richtige.

Nachdem er sich mehrmals versichert hatte, dass Puls und Atmung stabil blieben, befreite er die völlig verdreckte Badewanne von den Überresten des Experiments. Ryon warf die ganzen Schuppen einfach in eines der Badetücher, wischte noch mit einem anderen nach, ehe er das Wasser abließ und zusätzlich schruppte, bis die Wanne halbwegs sauber war. Danach ließ er einige Zentimeter lauwarmes Wasser ein.

Inzwischen atmete Paige wieder ruhiger, als er sie von den Handtüchern befreite, um sie erneut in die Wanne zu legen.

Das Wasser fühlte sich für ihn immer noch viel zu kalt an, aber wenn er Paige sofort eine zu hohe Temperatur zumutete, würde das wohl mehr schaden, als nützen. Außerdem, wollte er sie von dem ganzen Dreck befreien, der ihrer Haut anhaftete.

Dazu stützte er vorsichtig ihren Kopf mit der einen Hand. Die andere hielt einen Lufaschwamm zitternd umklammert, mit dem er zuerst ihren Hals reinigte, ihn danach auswusch, dann über ihre Schultern fuhr, ihn wieder auswusch, um sich ihren Armen zu widmen.

Minutenlang gab es nur zwei Gedanken in seinem Kopf. Den Schwamm auswaschen, ihre Haut reinigen. Auswaschen. Reinigen. Auswaschen. Reinigen…

Als Ryon schließlich grob Paiges Haare mit der Brause wusch, war das Wasser, das gurgelnd den Abfluss hinunter lief, vollkommen schwarz.

Dieses Mal ließ er warmes Wasser in die Wanne laufen, bis es Paige bis zu den Schultern ging. Vorsichtig legte er ihren Kopf auf ein zusammen gerolltes Handtuch am Badewannenrand ab, ließ ihre Schultern aber nicht vollkommen los, damit sie nicht hinein rutschte.

Das Drei-Sterne-Hotel bot nicht gerade viel Auswahl, an Badeartikel, doch zumindest war eine Flasche Shampoo und Seife dabei

Ryon nahm die nach Rosen duftende Seife und entfernte noch die letzten hartnäckigen Reste von Schmutz an Paiges Leib, bis sie zu seiner Zufriedenheit vollkommen sauber war und zu dem auch gut duftete.

Ihr die Haare zu waschen, war nicht sehr einfach, aber da er ohnehin keine Gedanken daran verschwendete, was alles schief gehen könnte, gelang ihm das auch schließlich. Nass war er selbst ohnehin schon zu Genüge, das bisschen Extra, machte da auch nichts mehr.

Schließlich, als sogar ihre Wangen eine leicht rosige Farbe angenommen hatten und sie so ruhig aussah, als würde sie lediglich schlafen, zog er sie an sich heran und erhob sich mit ihr.

Im Vorbei gehen griff er nach einem der letzten Badetücher und hüllte Paige darin ein. Ihr Haar hatte er bereits so weit ausgewrungen, dass es nicht mehr tropfnass war und ihr Kopfkissen somit nicht völlig einweichen konnte, als er sie in ihrem Bett ablegte.

Noch einmal ging er sicher, dass ihr nackter Körper es in dem dicken Frottee warm genug hatte, ehe er ihr auch noch die Decke über zog und diese sie kokonartig einhüllte.

Da sie inzwischen wirklich nur noch vor lauter Erschöpfung schlief, dämpfte er das Licht im Raum, ging noch einmal sicher, dass die Tür zu ihrem Zimmer abgeschlossen war, ehe er sich selbst ins Bad begab und sich zum ersten Mal das Chaos richtig ansah, das dort herrschte.

Zuerst einmal warf er alle Schuppenüberreste und völlig unbrauchbar gewordenen Handtücher auf einen Haufen, rollte das Ganze im Badezimmerteppich ein und stopfte es in eine unauffällige Ecke. Er würde die Sachen später wegschmeißen.

Danach zog er sich aus, warf seine schmutzigen Kleider ebenfalls in jene Ecke und glitt dann ins inzwischen stark abgekühlte Badewasser, das er drin gelassen hatte.

Seine Bewegungen waren mechanisch, als er seine eigene Haut von dem ganzen Schmutz befreite, sich die Haare wusch und sich danach tropfend, in die neuen Sachen zwängte, die er sich besorgt hatte.

Das weiße, kurzärmelige Shirt war ihm etwas zu klein, aber zumindest die Jeans passte. Auch wenn es sich neu und nicht gerade angenehm anfühlte, keine Unterwäsche darunter zu tragen. Doch dafür hatte er nun wirklich keine Zeit mehr gehabt.

Zurück bei Paige, schien sie sich überhaupt nicht bewegt zu haben. Sie lag immer noch so da, wie er sie zurück gelassen hatte.

Einen Moment lang, überlegte er, ob er sich um ihre Verletzung an der Seite kümmern sollte, doch sie hatte nach vorsichtigem Säubern nicht so schlimm ausgesehen, weshalb er sich erst später darum kümmern würde.

Vorsichtig, um Paige nicht zu wecken, da sie jede Erholung brauchen konnte, schob er sich neben sie auf die schmale Matratze, fuhr mit einem Arm unter ihren Körper durch und zog sie an sich, damit sie ihm auf der anderen Seite nicht hinunter fiel.

Noch immer in die Decke und das Badetuch gehüllt, veränderte er die Position so lange, bis er mit dem Rücken am Kopfende des Bettes lehnte und Paiges größtenteils auf seiner Brust und dem Bauch lag, während seine Beine sie am Rausfallen hinderten. Genauso wie die Arme, die sich um sie gelegt hatten.

Schließlich, als endlich Ruhe einkehrte, gestattete sich Ryon den Damm brechen zu lassen, der seit Paiges Bitte eine Flut an Gefühlen in ihm aufgestaut hatte.

Sofort begann er heftig zu Beben. Instinktiv drückte er sich näher an Paige heran, damit er sein Gesicht an ihr feuchtes Haar legen konnte.

Er gab keinen Ton von sich, als er die Augen schloss, doch auch so lief ihm ein unablässiger Strom an neuen Gefühlen seine Wangen hinab.

Seine Kehle, seine Augen, sein Herz hatten schon einmal so sehr gebrannt und geschmerzt. Zum damaligen Zeitpunkt hatte er alles verloren, was ihm etwas bedeutet hatte. Fast wäre es wieder geschehen…

37. Kapitel

Das erste, was sie spürte, war ihr Magen. Er gluckste leise, für die Außenwelt nicht hörbar und nicht gerade vor Vergnügen. Es war so, als hätte man ihr Prügel mit schweren Schlagringen verpasst und erst jetzt hatte sich ihr Körper von seinem Schock erholt und merkte, dass es weh tat.

Paige seufzte im Halbschlaf tief und drehte sich ein wenig mehr auf die Seite – auf der Suche nach einer Position, die weniger auf ihre angeschlagene Seite oder ihren Rücken mit den neuen Blutergüssen drückte.

Nach einigem hin und her, das schon wieder viel zu viel ihrer Kräfte beanspruchte, lag sie halb auf dem Bauch an etwas gekuschelt, das weich und warm war. So warm, dass Paige sich nicht dazu aufrappeln konnte, ganz aus dem Schlaf hochzukommen, der wie Kaugummi an ihr klebte.

Stattdessen wurden ihre Träume bunt und flauschig. Als würde die Welt um sie herum aus rosa Zuckerwatte bestehen und sie konnte dieser Süße gar nicht entkommen. Nicht dass sie es gewollte hätte.

Zweimal schnellte ihre dunkle Zunge zwischen ihren Lippen hervor, um etwas von dem Geschmack, der sie umgab aufzunehmen. Er brachte sie wieder zum Seufzen. Körnige Wärme, die sich auf ihren Gaumen legte und in tausende wunderbar schmeckende Tröpfchen zerfloss.

Paige kuschelte sich wohlig in das warme Nest, in dem sie lag und kostete noch einmal von dieser Wärme, die ihr auf so angenehme Art neu und dennoch so bekannt vorkam. Auch wenn ihre reale Umgebung nicht zu ihr durchdrang, eins wusste sie ganz genau. Hier war sie sicher.
 

Als sich etwas an ihm zu bewegen begann, wurde Ryon aus seinem leichten Schlaf gerissen. Sofort hielt er still, da er zuerst Paiges Bewegungen zuordnen wollte, um zu wissen, ob sie sich nur im Schlaf bewegte, oder doch im Aufwachen begriffen war.

„Paige?“, seine Stimme war heiser, rau und kaum hörbar, als wär er es gewesen, der dort in der Badewanne vor Schmerz geschrien hatte. Doch zu diesem Zeitpunkt hätte auch Schreien nichts mehr gebracht, darum war er stumm geblieben.

Bis auf ein leises Seufzen, bekam er auch von dem Bündel in seinen Armen keine Antwort. Paige drehte sich im Schlaf so, dass sie nun fast Bauch an Bauch lagen. Ihr Kopf kuschelte sich an seine Brust, ehe ihre Bewegungen zum Erliegen kamen.

Ryon nutzte die veränderte Position dazu, vorsichtig die Decke und das Handtuch von ihrem Rücken anzuheben. Natürlich war er auf den Anblick der unzähligen Blutergüsse gefasst gewesen, dennoch spannten sich seine Kiefernmuskeln, als er sah, wie groß sie waren.

Zudem wusste er nur zu gut, dass sie auch an vielen anderen Stellen ihres Körpers wie geprügelt aussah.

Hoffentlich würden sie beide das nie wieder durchstehen müssen. Noch einmal könnte er dabei nicht mehr zusehen.

Sanft legte Ryon seine große Hand in Paiges Nacken und strich rhythmisch darüber, während er wieder die Augen schloss und seinen Kopf an das Holzteil des Bettes lehnte.
 

Schon eine ganze Weile lag sie mit offenen Augen da und lauschte auf die Geräusche um sie herum.

Dem kräftigen, ruhigen Herzschlag ganz nah an ihrem Ohr. Und der gleichmäßigen Atmung, die seine Brust und damit auch Paiges Körper hob und senkte.

Keinen Millimeter hatte sie sich bewegt, seit sie aufgewacht war und mitbekommen hatte, wo sie sich befand. Zuerst hatte sie hauptsächlich Wärme gespürt und ihre malträtierten Muskeln, die schon beim Gedanken an eine Bewegung zu ächzen schienen. Paige hatte Magenschmerzen, wie noch nie in ihrem Leben und ihr pochender Kopf sagte ihr, dass sie dringend etwas trinken sollte. Bloß wollte sie beim Gedanken an Wasser vor überschäumenden Gefühlen gleich wieder anfangen zu zittern.

Also hatte sie nichts getan. Ganz ruhig lag sie weiterhin auf Ryons Bauch, den Kopf auf seine Brust und fühlte seine Hand leicht in ihrem Nacken. Selbst die Hand, die sie im Schlaf um seine Seite geschlungen hatte, beließ sie, wo sie war. Obwohl der Drang mit ihrem Daumen über den Stoff seines Shirts zu streicheln sogar sehr viel größer war als derjenige, den Arm einfach wegzuziehen.

Wenn sie einfach hätte wieder einschlafen können. Sie hatte es versucht. Einfach die Augen wieder geschlossen und an gar nichts gedacht. Nicht daran, dass sie mehr oder weniger auf ihm lag, in nicht mehr als ein paar Decken gehüllt...

Paige blinzelte heftig und schloss ihren Mund, der nur eindeutig zu viel des Geschmacks von Ryon an sie heran ließ. Sie sollte das nicht tun. Er hatte sie offensichtlich aus der Wanne geholt und sie gewärmt. Wie er es schon einmal getan hatte. Jetzt, da sie wach war, konnte man es reine Gier nennen, dass sie sich noch an ihn schmiegte. Und es war nicht nur die pure Körperwärme, die sie festhielt.

Sie würde einfach warten, bis er aufwachte. Immerhin wollte sie ihn nicht aus dem Schlaf reißen und ihn dann wieder kniend auf den Boden verweisen.

Gerade den stillsten Moment suchte sich ihr Magen heraus, um auf ein weiteres seiner Probleme hin zu weisen. Paige hatte seit zwei Tagen nichts mehr gegessen.
 

Ein knurrender Magen weckte ihn. Ob es seiner war oder der von Paige, konnte er nicht sagen, da er erst richtig munter wurde, als das Geräusch schon wieder verklungen war.

Ein kurzes in sich hinein fühlen und Ryon kam zu der Überzeugung, dass es durchaus sein Bauch gewesen sein könnte. Wie immer hatte er einen Bärenhunger, wenn er mehrere Stundenlang nichts zu sich nahm und soweit er sich zurück erinnern konnte, hatte er zuletzt ein Sandwich kurz vorm Start des Fliegers verdrückt. Auch eher nur aus reinem Nutzen als aus Lust. Immerhin hatte er seine Kräfte gebraucht. Jetzt allerdings war es ihm egal. Er wollte sich noch nicht von Paige lösen, nur um dieses Bedürfnis zu befriedigen.

Also seufzte er einmal tief und schloss wieder die Augen.

Die Finger, die inzwischen reglos auf ihrem Nacken gelegen hatten, begannen wieder mit dem inzwischen vertrauten Streicheln. Es beruhigte ihn mehr, als er zugeben würde, fühlte er so doch ihre Körperwärme, die weit entfernt davon war, sie in eine Kältestarre verfallen zu lassen.

Als er geschlafen hatte, musste sie einen Arm aus der schützenden Hülle ihrer Decke befreit haben, denn ihre Hand lag an seiner Seite. Das spürte er deshalb so deutlich, weil er sich jeden Zentimeter von ihr vollkommen bewusst war. All seine Sinne waren auf sie ausgerichtet, weshalb ihm schließlich die Veränderung in ihrer Atmung auffiel.

Sie war nicht mehr so tief.

Einen Moment lang blieb Ryon das Herz stehen, ehe es zu rasen begann. Er wollte sich schon erschrocken aufrichten, bis ihm gerade noch rechtzeitig einfiel, dass Paige auch einfach nur aufgewacht sein könnte und deshalb nicht mehr so tief atmete, wie man es für gewöhnlich im Schlaf tat. Vielleicht war tatsächlich alles soweit in Ordnung mit ihr. Dennoch musste er sich sicher sein.

„Paige?“, fragte er leise mit noch immer rauer Stimme, aber zumindest weniger heiser. Seine Hand in ihrem Nacken glitt zu ihrer Halsbeuge und legte sich darauf, um über ihre Halsschlagader ihren Puls messen zu können. Zwar hörte er ihren Herzschlag, aber so leise, dass er sich nicht sicher sein konnte.

Seine Position machte es ihm nur möglich, ihr auf den Scheitel zu blicken, sollte sie wach sein, müsste sie schon nach oben schauen, um ihn sehen zu können.

Ryon hoffte darauf, dass sie es tat. Nur um wieder das Leben in ihren Augen erkennen zu können. Erst wenn er ihre dunklen, menschlichen Augen sah, würde er sich endlich halbwegs entspannen können.

Wie als Ausdruck seiner Gedanken, strich sein Daumen von ihrem Hals hinauf zu ihrer Wange. Da waren keine scharfkantigen Schuppen, nur weiche, unversehrte Haut.

Sie hatte es tatsächlich geschafft.
 

Als er ihren Namen laut aussprach, brach er damit den Zauber, den Paige sich in seiner Umarmung selbst erschaffen hatte. Schon als sich seine Muskeln unter ihr für einen kurzen Moment so angespannt hatten, als wolle er sich bewegen, war ihr klar gewesen, dass er ebenfalls aufgewacht war.

Weiterhin hielt sie still, ohne ein Wort von sich zu geben, als sie die Bahn von Ryons Fingern verfolgte, die sich zuerst auf ihren Hals legten, um dann zu ihrer Wange zu wandern. Es war ein sehr seltsames Gefühl zu wissen, dass er gerade hatte sichergehen wollen, dass ihr Herz noch schlug.

Das Letzte, woran Paige sich erinnern konnte, war Ruhe und Leere. Außerdem eine schwarze Schicht, die sie von allem abzukapseln schien. Sie musste noch in der Badewanne gelegen haben. Aber was danach passiert war, davon hatte sie nicht die geringste Vorstellung. Ryons Verhalten nach könnte es recht schlimm um sie gestanden haben. Auch wenn Paige in diesem Moment oder vielleicht nie realisieren konnte, dass sie dem Tod mit Ryons Hilfe gerade so von der Schippe gesprungen war. Dass er allerdings die ganze Zeit bei ihr gewesen war und ihr geholfen hatte, war ihr auch ohne konkretes Wissen bewusst. Immerhin war er immer noch hier. Niemals hätte Paige geglaubt, dass sie sich nach dem Vorfall in Ägypten noch einmal so nah kommen könnten.

Paiges Herz schlug erschrocken eine Spur schneller und ihre Hand legte sich völlig automatisch kurz fester an Ryons Seite, bevor sie ihn ganz los ließ. Mit aufgerissenen Augen und dem lauernden Gefühl von Horror im Nacken starrte sie auf das weiße Hemd, das den Großteil ihres Sichtfelds einnahm.

Sie musste damit rechnen. Gestern, als er her gekommen war, um nach ihr zu sehen und ihr in ihrer 'Krankheit' beizustehen, war er verändert gewesen. Paige hatte seine Augen im wahrsten Sinne des Wortes leuchten sehen... Und jetzt?

Wenn sie den Kopf hob, war dann alles wieder vorbei? Wie ein schöner Traum, den sie mit einer falschen Bewegung zerstören würde?

Alles in ihr sträubte sich umso mehr, als Ryon mit seinen Fingerspitzen sanft über ihre Wange strich. Nur um zu prüfen, ob es funktioniert hatte? Damit er aufstehen und sie allein lassen konnte?

Wenn diese ganze Aktion nicht zu viel für ihn und sein Verschlossenheitsprinzip gewesen war, dann wusste Paige auch nicht, was ihn mehr einfrieren sollte.

Ihre Hand ballte sich zu einer Faust und sie presste ihre Augenlider so fest zu, dass sie bunte Lichtpunkte in der Dunkelheit aufflammen sehen konnte. Sie wollte nicht! Wenn sie jetzt wieder tote Pupillen und ein eingefrorenes Wesen dahinter sehen würde... Was dann?

Sie würde nicht zerbrechen, zumindest nicht körperlich. Aber es würde so viel zerstören, dass Paige sich nicht vorstellen konnte, weiterhin auch nur entfernten Kontakt mit Ryon zu haben. Wie hatte er gesagt? Er konnte das nicht? Paige würde es auch nicht können. Dafür hatte sie zu tief in diese goldenen Augen gesehen, die voller Leben und Gefühle gewesen waren.

Irgendwann würde sie es trotzdem tun müssen. Spätestens wenn ihre Schwäche keine Ausrede mehr war, hier auf ihm in einem schmalen Hotelbett herum zu liegen. Und das würde bald sein.

Einen Augenblick später wusste sie selbst nicht, was in sie gefahren war. Ihre Arme schienen sich ohne ihr Zutun um seinen Körper zu schlingen, ihre Finger hielten sich an seinem Hemd und den Muskeln darunter fest, als könne sie damit verhindern, dass er ihr bald verloren ging. Viel zu bald schon...

Anstatt ihn anzusehen, hob sie ihren Kopf nur, um ihr Gesicht an seiner Halsbeuge zu vergraben, wo sie so viel seiner Wärme einatmete, wie sie nur in dieser kurzen Zeit bekommen konnte. Gleich würde er sie von sich zupfen, wie ein lästiges Insekt und sie würde sich noch nicht einmal wehren. Aber sie würde so viel mitnehmen, wie sie konnte.
 

Paige schaffte es erneut, seinen Puls in die Höhe schnellen zu lassen, als sie sein Innerstes aufwühlte.

In dem sie sich fast schon verzweifelt an ihm fest hielt und ihr Gesicht an seiner Halsbeuge vergrub, war es wie eine Reflexion seiner eigenen Empfindungen.

Nur zu deutlich spürte er ihre Finger durch den dünnen Stoff seines Shirts, konnte fühlen, wie sie sich an ihn drückte, ihm so nahe wie nur möglich kam, als hätte sie Angst, jeden Moment könnte es vorbei sein.

Erneut bildete sich in seinem Hals ein dicker, mit winzigen Stacheln bespickter Kloß, den er einfach nicht hinunter schlucken konnte.

Ryon hätte Paiges Körper fest umschlungen, wenn er nicht fürchten würde, ihr damit nur noch mehr weh zu tun, als es ohnehin schon der Fall sein dürfte. Denn so wie ihr Körper aussah, musste sie Schmerzen bei jeder Bewegung haben. Darum blieb ihm nichts anderes übrig, als ihr vorsichtig den Arm um die entblößten Schulter zu legen und sie sanft noch etwas näher an sich heran zu ziehen.

Seine andere Hand suchte nach eine der ihren und fand schließlich Paige schlanke Finger, die er sofort mit den seinen umschlang.

Wer nun wen fest hielt, war nicht ganz klar. Offensichtlich war jedoch, dass sie es wohl beide dringend brauchten.

Was Paige gerade dachte oder fühlte, konnte er nur erahnen. Ryon selbst war noch immer von der Angst erfüllt, die er in den letzten Stunden um sie ausgestanden hatte. Zudem war da immer noch das Entsetzen, das er verspürt hatte, als er sie mit Gewalt unter Wasser drücken musste. Das würde er wohl nie wieder vergessen können.

Wortlos, aber ganz sicherlich nicht teilnahmslos, drückte auch Ryon sein Gesicht an Paiges Schulter. Nun konnte er ein Zittern doch nicht mehr ganz unterdrücken, vor allem, da sofort wieder die Bilder der letzten Stunden hochkamen, nachdem er die Augen geschlossen hatte. Doch öffnen wollte er sie auch nicht. Er traute dem brennenden Gefühl in ihnen nicht.

Der Sturm mochte vielleicht inzwischen abgeflaut sein, aber kleine Nachwehen ließen sich einfach nicht vermeiden. Weshalb er fest die Lippen aufeinander presste, um jeden verräterischen Laut zu unterdrücken.

Paige hatte schon genug eigene Ängste und bestimmt fühlte sie sich nicht nur körperlich verdammt elend. Ryon wollte das mit seinen Reaktionen nicht auch noch schlimmer machen. Es war vorbei und das Gefühl sollte sie auch bekommen.

Weshalb er mehrmals tief durchatmete, um sich wieder zu fangen.

Es war die zarte Wärme ihrer Haut, das Gefühl ihres leichten Gewichts auf ihm und ihr Duft, die es letztendlich schafften, das Brennen in seine Augen zu mildern, den Kloß in seinem Hals zu schmälern und das Zittern verebben zu lassen.

Doch erst, als er sich sicher war, dass seine Stimme nicht brechen würde, wagte er es, die Stille um sie herum zu brechen.

Sein Daumen streichelte sanft über ihr Schultergelenk, während seine Lippen ein Stück weiter daneben fast ihre Haut berührten, als er leise dagegen flüsterte: „Es ist vorbei, Paige… Du hast es geschafft…“

War das, was er sagte, wirklich die Wahrheit? Ryon begann kurz darauf schon zu zweifeln. War es denn wirklich schon vorbei? War die Angst, die Sorge um sie, tatsächlich in Zukunft nicht mehr nötig? War er davor sicher?

Allein der Gedanke daran, er müsste das Erlebte noch einmal durchmachen, ließ ihn erschaudern. Paige hatte ihn darum gebeten, doch noch einmal könnte er dieser Bitte nicht nachgehen. Nein, das konnte er nicht.

„Es ist vorbei…“, wisperte er noch einmal kaum hörbar. Doch fast schon klang es wie eine Frage. Denn schon die Vorstellung alleine, er hätte sie in dieser Nacht verlieren können, reichte dazu aus, dass er seine Lippen gegen ihre Haut drückte, um sie vom Beben abzuhalten.

Ohne es mitbekommen zu haben, hatte Paige mehr Platz in seinem Leben eingenommen, als er für möglich gehalten hätte. Er konnte sich nicht vorstellen, sie nicht zu kennen. Genauso wenig, wie er sich vorstellen könnte, sie nie wieder zu sehen, wenn das alles vorüber war. Das hatte ihm dieses Experiment bewiesen.

‚Doch das ist im Augenblick nicht wichtig‘, ermahnte er sich selbst und hob wieder den Kopf. Dabei konnte er ihren Geschmack auf seinen Lippen schmecken, als er sie mit seiner Zunge etwas benetzte, um seine nächsten Worte ruhig und weiterhin im Flüsterton darüber zu bringen.

„Jetzt ist wieder alles so, wie es sein sollte.“

Das konnte er nur bestätigen und hoffentlich nahmen seine Worte ihr auch etwas die Angst, ihre Aktion könnte gescheitert sein. Denn das war sie ganz und gar nicht. Zumindest am Ende nicht.

Um sich selbst davon abzuhalten, an ihren Beinahetod zu denken, löste er seine Finger von den ihren und legte sie ihr auf den Hals. Dort fuhren seine Fingerkuppen sanft, die Linie ihrer Halsschlagader nach oben, zu der unglaublich weichen Stelle unterhalb ihres Ohrs.

„Keine scharfkantigen Schuppen...“

Er folgte der Spur ihres Kiefernknochens entlang bis zu ihrem Kinn.

„Keine schlammgrüne Farbe…“

Sein Daumen streichelte besänftigend über ihre Wange, ehe er seinen Kopf noch weiter zurück bog und zärtlich ihr Kinn anhob, damit er ihr endlich in die Augen sehen konnte. Denn das musste er. Unbedingt. Erst dann würde er es glauben!

Langsam, Stück für Stück hob er ihren Kopf immer weiter an, bis er endlich ihren Blick einfing, der ihm förmlich den Atem verschlug.

Ihre Augen waren so voller Leben, nicht nur deshalb, weil sich die verschiedensten Gefühle darin tummelten, sondern weil er sich in ihren dunklen Seen selbst erkennen konnte und somit auch den Ausdruck seines eigenen Gesichts.

Seit Ewigkeiten hatte er nicht mehr so viele Emotionen in seinen eigenen Augen gesehen. Er versuchte zwar ruhig zu bleiben, aber das änderte nichts an dem Ausdruck in ihnen. Sorgenvoll, bekümmert, erleichtert, traurig, entsetzt, verwirrt und … sanft.

Ryon lächelte gequält, als ihn die Erkenntnis traf, wie unvollständig er gewesen war, ehe er durch Paiges Augen hatte sehen können, was er nun wieder gewonnen hatte. Dank seiner Freunde, dank der Dinge, die sein Leben umgekrempelt hatten und dank Paige.

„Siehst du, alles wieder in Ordnung.“

Sein Daumen zeichnete die Augenbraue nach, die er zuvor an Paige nicht hatte erkennen können, da diese Hälfte ihres Gesichts von der dämonischen Seite verunstaltet worden war. Nun aber, war alles wieder an seinem richtigen Platz.

„Selbst deine Nase…“

Langsam fuhr er mit dem Daumen ihren Nasenrücken entlang, über die Nasenspitze, ihre Oberlippe, bis er an ihrer Unterlippe hängen blieb, während der Rest seiner Finger sich um die Kontur ihres Kinns schmiegten.

Ohne es beabsichtigt zu haben, bekam Ryon Herzklopfen, als sein Blick seinem Daumen gefolgt war. Als er dann wieder in Paiges Augen sah, durchfuhr ein solch derartiges Prickeln sein Rückenmark, wie er es nicht für möglich gehalten hätte. Weder in diesem Augenblick, in dieser Situation, noch in diesem Leben, mit dieser Frau.

Doch es war da und obwohl es bar jeglicher Vernunft war, konnte Ryon nicht verhindern, dass er diesem Gefühl nachgehen wollte. Das er einfach wissen musste, ob sich dahinter etwas verbarg, oder ob sich sein völlig überdrehter Verstand einfach eine Pause von dem ganzen Erlebten nahm und er gerade überschnappte.

Ryon hatte sich bereits ein Stück auf Paige zubewegt, so dass sich ihre Nasenspitzen beinahe berührten, ehe in ihm alle Alarmsysteme los schrillten. Doch seltsamerweise waren diese so leise, dass er sie kaum hören konnte. Da war nur diese drängende, fast schon quälende Frage: War es überhaupt noch möglich, dass da mehr sein konnte?

Als wären in diesem einen Augenblick alle Fragen, bis auf diese eine vollkommen weggewischt, überbrückte Ryon die letzte Distanz zwischen sich und Paige. Seine Hand glitt von ihrem Kinn zu ihrer Wange und zog sie in selben Moment an ihn heran, als er den letzten Schritt nach vorwagte.

Ihre Lippen berührten sich so leicht, wie der Flügelschlag eines Schmetterlings, während er im Anblick ihrer Augen versank, bis er schließlich seine Lider niederschlug und sich langsam zurück zog. Nicht weit, aber trotzdem weit genug, um bebend ausatmen zu können. Die Fassungslosigkeit über sein Tun, war weit nicht so intensiv, wie die Antwort auf seine Frage.

Da war mehr…
 

Bei jedem Wort, das er sagte, schien etwas von dem riesigen Stein abzubröckeln, der auf Paiges Seele lastete. Sie fühlte sich den Umständen entsprechend gut. Keine Schuppen waren ihr an ihrem gesamten Körper bewusst, die sie dort nicht haben wollte. Und doch blieb die Angst, dass es nur ihr persönliches Wunschdenken war. Schon so mancher Geist hatte seinem Besitzer etwas vorgegaukelt, um ihn vor einem Nervenzusammenbruch zu bewahren, oder nicht?

Doch Ryon schien für sie sehen zu wollen. Ihr Spiegel zu sein, in den sie selbst jetzt noch nicht zu schauen gewagt hätte. Keine Schuppen, kein Grünton und auch keine geänderten Züge, die ihr Gesicht verschandelten. Ihr Herz wurde leichter. So, als würde Ryon es mit ihrem Kopf zusammen anheben, als sie seine Finger unter ihrem Kinn spürte.

Eigentlich wollte sie ihn doch nicht ansehen. Aber gegen seinen offensichtlichen Wunsch anzukämpfen, dafür war sie ebenfalls nicht stark genug.

An der Stelle, die damals in Ägypten so unangenehm gezogen und geziept hatte, meldete sich eine neue Empfindung. Etwas, das sich wie ein leises Klingen anfühlte, ein sanft berührtes Glöckchen, das sich kaum traute einen Ton von sich zu geben. Paige konnte es selbst kaum hören, als sie von dem Blick in Ryons Augen von der Welt abgelenkt wurde.

'Du lebst.'

Sie hielt völlig still. Fasziniert von dem Ausdruck in seinem Gesicht, den Funken sprühenden goldenen Augen, bekam sie nur am Klingen in ihrem Körper mit, dass seine Finger sanft über ihre Gesichtszüge wanderten.

Ihr eigener Herzschlag, stark und regelmäßig, hinderte Paige beinahe am Atmen. Ryon war so nah.

Die ganze Zeit über hatte sie auf ihm gelegen, in seinen Armen geschlafen und einfach nur geruht. Aber erst jetzt wurde ihrem Geist wie auch ihrem Körper auf einen Schlag bewusst, was das wirklich bedeutete.

Keinen Millimeter wagte sich Paige zu bewegen. Flach sog sie die Luft ein und versuchte ruhig zu atmen, um nicht rot anzulaufen. Ein Kribbeln breitete sich über ihren Körper aus, das sie für einen Moment offensichtlich um den Verstand brachte. Ryon würde doch nicht...

Ihre Nasenspitzen berührten sich fast und Paige hatte das Gefühl sie müsse sich zurück ziehen. Um ihn zu schützen. Oder sich selbst? Aber er würde nicht.

Auch wenn seine goldenen Augen sie immer mehr hypnotisierten. Auch wenn seine Finger sich sanft und gefühlvoll über ihre Haut bewegten. Er würde niemals...

Paiges Inneres wollte vibrieren als er es doch tat. Die Berührung war mehr eine Andeutung, als ein Kuss, aber es reichte aus, die Welt für Paige für einen Moment anzuhalten. Die Zeit blieb im wahrsten Sinne des Wortes stehen, als sie meinte in Ryons Augen die Sonnenoberfläche erkennen zu können. Sprudelnd von Feuer und Energie, die viel zu lange unterdrückt worden war.

Es fühlte sich wie eine schmerzende Rettung an, als er die Wimpern niederschlug und sie ihn nicht mehr auf ihren Lippen spüren konnte. Der Moment war so kurz gewesen, dass Paige glauben könnte, er wäre nie geschehen.

Aber da waren ihre Finger, die sich sanft in sein Shirt gekrallt hatten, ihre Daumen, der über den Stoff streichelte und die kleinen bunten Sternchen, die vor ihren Augen explodierten, weil sie bis jetzt vergessen hatte, dass sie Sauerstoff zum Leben brauchte.

Paiges Kopf war wie leer gewischt. Irgendetwas sagte ihr, dass sie auf das, was gerade geschehen war, reagieren sollte. Aber wie, sagte ihr niemand.

Also legte sie ihren Kopf einfach wieder auf Ryons Schulter ab, zog sich die Decke über die Schultern und legte anschließend ihre Hand wieder auf seine Seite, um weiter über den glatten Stoff seines T-Shirts zu streicheln.

„Ja, es geht mir gut.“
 

Ryon war immer noch wie paralysiert, als Paige sich wieder an seine Schulter kuschelte. Ihre Worte wollten kaum durch das intensive Surren in seinem Kopf vordringen. Doch sie mussten wohl positiv gewesen sein, denn er wurde den gegebenen Umständen entsprechend ruhiger. Zumindest was seine Sorge um sie anging.

Als er sich selbst wieder zurück lehnte, starrte er an die Zimmerdecke, ohne jedoch etwas zu erkennen, während sich seine Hand erneut schützend um Paiges Nacken legte und dort sanft mit dem Daumen darüber streichelte.

Sein Herz schlug immer noch rasend schnell, als wolle es seiner Brust entfliehen, während es in seinem Kopf vor lauter sich überschlagenden Gedanken nur noch so wimmelte.

In seinem ganzen Körper kribbelte es, am intensivsten jedoch an den Stellen, wo Paige ihn mit ihren Fingern streichelte. Doch war es nichts im Vergleich zu dem abflauenden Prickeln auf seinen Lippen, wo er gerade noch Paiges Wärme förmlich hatte schmecken können.

Er hatte sie geküsst, oder?

Ja, das hatte er. Denn sonst würde er nun nicht die Antwort auf die eine Frage kennen, die er sich bisher selbst nicht hatte stellen wollen. Einfach nur, weil er es für unmöglich hielt, jemals überhaupt eine Antwort darauf zu bekommen. Oder besser gesagt, eine, die ihn so derart überraschen konnte.

Ryon mochte zwar nicht sehr viel Erfahrung im Umgang mit verschiedenen Frauen haben, aber wenn er sich bei einem sicher war, dann dass es sich nicht so anfühlen würde, die Lippen einer Frau zu küssen, wenn es einfach nur irgendeine gewesen wäre.

Es hätte sich auch anders angefühlt, wenn da lediglich eine geschäftliche Beziehung zwischen Paige und ihm herrschen würde. Freundschaft fühlte sich ebenfalls anders an. Vertraut zwar und ebenso beruhigend, aber ein freundschaftlicher Kuss könnte niemals dieses Inferno in ihm hervor rufen.

Das hatte bisher nur eine Person gekonnt und diese unterschied sich in vielerlei Dingen so grundsätzlich von Paige, dass es kein kläglicher Versuch sein konnte, lediglich ein paar alte Erinnerungen aufzufrischen. Eigentlich hatte das Wirrwarr in seinem Inneren nur eines mit Marlene zu tun… Er fühlte sich schuldig.

Natürlich. Ryon hätte es nicht anders erwartet. Das konnte und musste er sogar akzeptieren. Aber das ließ ihn nicht vergessen, dass Schuld nicht das einzige war, das er in diesem Augenblick mit Paige im Arm empfand.

Trotz der vergangenen Stunden war er doch glücklicher, als in all den Momenten der vergangenen einsamen Jahre und das, obwohl er nicht einmal wusste, ob dieser flüchtige Wunsch nach etwas mehr in seinem Leben, überhaupt von Paige geteilt wurde. Sie hatte ihn für seine Kühnheit nicht geohrfeigt, angeschrien oder schräg angesehen. Ja noch nicht einmal etwas darauf erwidert. Vielleicht war Resignation sogar schlimmer, als all das zusammen.

Da er nichts auf ihre Worte erwidert hatte, da er einfach in seiner eigenen Welt herum geirrt war, dauerte das Schweigen eine ganze Weile an, bis er sich so weit von seinen Gedanken entfernen konnte, um sich wieder auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren.

„Brauchst du etwas?“, fragte er leise nach, während er sich daran erinnerte, dass er die Einkaufstüte extra neben das Bett gestellt hatte, damit er nicht aufstehen musste und Paige somit unnötige Bewegung zumutete. Wasser und Essen war also vorhanden. Auch Verbandszeug, falls sie sich schon bereit dazu sah, es mit ihrer verletzten Seite aufzunehmen. Was anderes, außer Wärme und Gesellschaft konnte er ihr leider nicht bieten.
 

Die stillen Momente waren verstrichen, ohne dass Paige über irgendetwas nachgedacht hätte. Sie kannte sich einfach zu gut, um das jetzt zu riskieren. Dann hätte sie mehr kaputt gemacht, als nötig. Aber sie wollte viel lieber in Ryons Armen liegen, an seinen warmen Körper geschmiegt und leicht seinen Geschmack bei jedem Atemzug über ihre Zunge streichen lassen.

Dabei war sie ihm eigentlich ganz dankbar dafür, dass er nüchtern ein völlig anderes Thema anschnitt. Hätten sie darüber gesprochen, was eben passiert war, Paige hätte ihnen beiden zugetraut, dass sie es nur völlig verdreht und zerfetzt hätten.

Es war schön gewesen. Und irgendwann würden sie vielleicht darüber sprechen müssen. Aber nicht jetzt.

„Mhm.“

Mit zwei tiefen Atemzügen wappnete sich Paige gegen den Schmerz, den sie garantiert zu erwarten hatte. Mit den Händen halb auf Ryon, halb auf die Matratze unter ihm gestützt, hob sie ihren Oberkörper ein wenig an, um sich auf die Seite zu drehen. Mit aufeinander gepressten Augenlidern schaffte sie es nur so weit, dass sie mit der Schulter an Ryon lehnen und einigermaßen schräg vor ihm sitzen konnte. Ihr Rücken hätte Weiteres absolut verboten. Selbst jetzt schien jede kleine Stelle zu pochen und in ihr Inneres auf unangenehme Weise auszustrahlen.

Sie wollte gar nicht wissen, wie es da drin aussah. Es war anzunehmen, dass die Essenz einiges aufgewühlt, wenn nicht sogar nachhaltig verletzt hatte.

Ihr Herz wollte anfangen hart gegen ihre Brust zu klopfen, als sich der Gedanke an innere Blutungen formte. Aber Paige kämpfte selbst die kleinste Idee hinunter und sah stattdessen Ryon an.

„Du hast doch Tee mitgebracht... Auch was zu essen?“

Niemals würde sie zulassen, dass er aufstand, um etwas zu holen. Daher war die Hoffnung auf eine positive Antwort umso größer.

Ein Blitzschlag wollte ihren Nacken spalten, als Paige den Kopf wandte, um auf ihrem Nachtkästchen nach dem übrig gebliebenen Schokopudding zu schielen. Vor Schmerz zuckte sie zusammen und griff sich in einer automatischen Reaktion an die Stelle, die wie Feuer brannte.
 

„Paige… Als dein vorrübergehender Pfleger, befehle ich dir, dich zurück zu lehnen, dich nicht anzustrengen und auf gar keinen Fall, wirklich, unter keinen Umständen darfst du dir etwas selbst holen. Verstanden? Ich verbiete es dir.“

Sein Ton war nicht ernsthaft genug, um bedrohlich zu wirken, aber es lag sehr wohl seine Sorge darin und wie in jeder Geschichte, steckte auch in seinen Worten ein Fünkchen Echtheit.

Sanft zog er ihre Hand von ihrem Nacken, der vermutlich der Grund für das plötzliche Erbleichen ihres Gesichts gewesen war.

Während er ihre Position mit einem Arm stützte, rieb er vorsichtig mit dem Daumen über die Stelle, die sie sich selbst schon gerieben hatte und sah ihr dabei eindringlich in die Augen.

„Das Wasser für den Tee sollte noch warm sein. Essen habe ich natürlich gleich mit besorgt.“

Immerhin würde er nicht extra noch mal das Zimmer verlassen, nur um ihnen etwas zum Beißen zu besorgen. Eher ließ er sie beide verhungern, als Paige in ihrem Zustand alleine zu lassen.

Nachdem sie wieder halbwegs Farbe bekommen hatte, hielt er sie vorsichtig fest, während er mit der anderen Hand hinter sich griff und die Kissen so hin und her arrangierte, bis er Paiges Oberkörper damit abstützen konnte.

Er selbst fiel dabei fast schon aus dem Bett, doch nachdem er sich so seitlich vor sie hingesetzt hatte, dass er ihre Beine quer über seinen Schoß legen konnte, war jegliche Absturzgefahr gebannt und zudem hatte er nun beide Hände frei.

Also griff er nach der Tüte, um ihnen zuerst einmal den Tee zubereiten zu können.

Während er das tat, versuchte er nicht daran zu denken, wie schlimm es Paige gehen musste, wenn sie sich kaum bewegen konnte, ohne dabei die schlimmsten Schmerzen zu empfinden.

Als er sie vorhin mit den Kissen gestützt hatte, war ihm nicht die verfärbte Stelle zwischen ihren Schlüsselbeinen entgangen, die deutlich sein Zeichen trug. Es waren nicht nur die Druckstellen, seiner Finger und Handballen, sondern es zogen sich auch deutlich fünf leuchtendrote Linien zu den Abdrücken hin.

Während des Kampfes mit diesem bösartigen Etwas, war es ihm natürlich kaum aufgefallen, aber eigentlich war zu erwarten gewesen, dass er seine animalische Seite bei dieser Grausamkeit nicht ganz hatte zurückhalten können. Er hatte sie gekratzt. Bestimmt war an ihren Knöcheln ebenfalls etwas davon zu sehen. Nicht tief, aber dennoch ein deutliches Warnmal an ihn. Kratzer hinterließen auf seiner Seele immer Narben, gerade wenn er sie jemand anderen zugefügt hatte und nicht sich selbst.
 

„In Ordnung, ich werde versuchen mich pflegen zu lassen.“

Das war das Beste, was sie anbieten konnte. Paige war zugegeben nicht gerade gut darin, anderen Leuten zur Last zu fallen. Es hatte absolut nichts mit Vertrauen zu tun. Das hatte sie zu manchen gehabt, die ihr hatten helfen oder sie bemuttern wollen. Aber Paige war so erzogen worden. Um sie kümmerte man sich einfach nicht. Egal, wie es ihr ging, sie hatte immer das Gefühl, allein zurecht kommen zu müssen. Daher war ihr Satz sehr viel tiefgreifender, als Ryon ahnen konnte. Denn sie meinte ihn ernst und würde tatsächlich versuchen, sich einfach ein wenig auszuruhen und Ryons Hilfe und Pflege annehmen.

Während er ihren Körper so drapierte, wie er es für richtig hielt, fielen Paige zwei Dinge auf, die ihr gleichermaßen eine Gänsehaut über die Arme laufen ließen. Erstens beeindruckte sie Ryon gerade in dieser Situation mit seiner körperlichen Stärke. Ohne auch nur Anstrengung zu zeigen, hob er sie hoch und setzte sie so aufs Bett, wie er es für richtig erachtete. Paige wurde erst jetzt klar, wie selbstmörderisch es damals gewesen war, sich in ihrer Wohnung einfach auf ihn zu stürzen. Hätte er gewollt, wäre es Ryon ein Leichtes gewesen ihr einfach den Kopf abzureißen. Ob sie nun in Flammen stand oder nicht. Umso unwirklicher fühlte es sich jetzt an, dass er sie so leicht herum hob. Er hatte sie bestimmt auch auf seinen Armen hierher getragen, sie in die Decken eingewickelt -

Paige lief so rot an, wie selten in ihrem Leben. Ginge es nach ihrem Körpergefühl, müssten ihre Ohren wie Scheinwerfer glühen, bloß um von ihren heißen Wangen noch übertroffen zu werden. Ihre malträtierte Haut riss schmerzhaft auf, als sich ihre eigenen, roten Schuppen bis zu ihrem Hals über ihren Körper legten.

Paige wusste nicht, wo sie hinsehen sollte, zupfte nervös an ihrer Decke herum, die ihr sowieso bis über die Schultern lag und wäre garantiert ins Stottern gekommen, wenn ihr denn nur ein einziges Wort eingefallen wäre, das sie hätte sagen können.

Er hatte sie aus der Wanne geholt, sie sauber gemacht und hierher gebracht. Auch in die Decken gewickelt hatte sie sich nicht allein...

Die Wolle streifte so unangenehm direkt über ihre bloße Haut, dass Paige sich am liebsten völlig darunter vergraben hätte. Ryon hatte sie nicht nur schwach gesehen, nein, er hatte sie in der einzigen Form vor sich gehabt, in der Paige sich tatsächlich nackt fühlte. Wenn sie ihre dämonische Seite nach außen ließ und Flammen ihren Körper bedeckten, war ihr der Umstand, dass sämtliche Kleidung das Zeitliche segnete herzlich egal. Ihre Schuppen bedeckten sie. Aber so war es nicht gewesen.

Selbst Paiges Gesicht schien zu knistern, während ihr das Blut so stark in den Ohren rauschte, dass sie kaum etwas Anderes hören konnte.

'Er hat nicht darauf geachtet. Ganz sicher hatte er Anderes zu tun.'

Ja, das stimmte. Dem Schmerz in ihrer Rippengegend nach zu urteilen, hatte er seine Gedanken ganz wo anders haben müssen. Aber trotzdem war sich Paige gerade jetzt ihres bloßen Körpers unter der Decke sehr stark bewusst.

Sie zog an dem Stoff des Handtuchs, um sich noch fester darin einzuwickeln und konnte immer noch nicht in Ryons Augen sehen, als er mit der Einkaufstüte in den Händen offensichtlich auf eine Reaktion wartete.
 

Da er nicht genau wusste, was Paige denn im Augenblick überhaupt hinunter brachte, zog er die Tüte an sich heran und begann zuerst das Essen zwischen ihnen beiden auszubreiten. Es war nicht viel, sollte aber zumindest solange ausreichen, um den Hunger von ihnen beiden zu stillen.

Sandwiches mit verschiedenen Füllungen, ein paar süße Teigtaschen, zwei große Äpfel und eine große Tafel Schokolade. Letzteres konnte kurzfristig ganz schön den Energielevel heben. War aber für Dauergebrauch nicht zu empfehlen. Zumindest nicht, wenn man keinen überdurchschnittlich hohen Stoffwechsel hatte. Somit sehr beliebt bei Gestaltwandlern.

Gerade als Ryon den Tee in zwei großen Bechern aufgoss, suchte er sich den ungünstigen Moment aus, um einen flüchtigen Blick zu Paige hinüber zu werfen, die bisher nicht sehr viel gesagt hatte.

Beinahe wäre ihm die Termoskanne aus der Hand geglitten, als er ihr rotes Schuppenkleid zwischen dem Stoff des Badetuchs und der Decke hindurch schimmern sah.

Noch rechtzeitig, erinnerte er sich daran, was er gerade hatte tun wollen, weshalb ihnen beiden ein nasses Plantschen im Teewasser erspart blieb.

„Wie ich sehe, ist auch das wieder so, wie es sein sollte.“

Ohne sie direkt anzusehen, nickte er in Richtung der roten Schuppen, ehe er die Termoskanne auf den Boden stellte und Paige einen Becher mit ihrem Tee reichte.

Was auch immer sie plötzlich so aufbrachte, es war ihr deutlich anzusehen. Wo vorhin noch ein bleiches Gesicht gewesen war, herrschte nun flammende Röte. Hoffentlich bekam sie kein Fieber.

„Dir ist hoffentlich klar, dass, wenn du das Bett ankokelst, ich dich mit dem Feuerlöscher besprühen muss.“, erwiderte er trocken nach einem kurzen unangenehmen Moment des Schweigens. Allerdings lag in seinen Augen ein Funkeln, das er Paige bisher noch nie gezeigt hatte.

Seine Mundwinkel zuckten leicht, ehe er an seinem Tee nippte, um diese Reaktion zu verbergen. Die Situation war alles andere als lustig. Was er fühlte, war alles andere als lustig. Paiges Schmerzen waren ebenfalls alles andere als lustig, aber irgendwie wollte er sie von all dem ablenken.
 

Paige nahm einen Schluck Tee und sah dann auf ihre Finger, die um den warmen Becher lagen.

„Du glaubst gar nicht, wie gut es sich anfühlt, wieder in meiner eigenen zweiten Haut zu stecken.“, sagte sie leise und wahrheitsgemäß. Und sie wäre mit ihrer Beschreibung fortgefahren, hätte Ryon sie nicht über seinen Scherz stolpern lassen.

Wie auf dem Friedhof in Paris brauchte sie einen Augenblick, um den kleinen Seitenhieb als Solchen überhaupt zu erkennen. Wieder war da das Klingen. Diesmal lauter, als Paiges Blick an Ryons schelmisch gehobenem Mundwinkel hängen blieb.

Mit einem breiten Lächeln nahm sie eine Hand von ihrem Teebecher und streckte sie Ryon langsam entgegen. Als sie die Finger leicht bewegte, spielte das Licht auf den leicht gewölbten, glatten Schuppen.

„Sie sind nicht heiß.“

Aufmunternd blickte sie ihn an. Wahrscheinlich war es reiner Eigennutz, aber Paige fühlte sich in ihrem dünnen Panzer so wohl und zu Hause, dass sie Ryon gern zeigen wollte, dass ihre dämonische Seite nicht zwingend etwas Abschreckendes haben musste. Besonders er als Wandler musste das bestimmt verstehen können.

Bloß weil er ein Raubtier in sich trug, hieß das nicht, dass eben diese Katze jeden angreifen würde, wenn er sie an die Oberfläche ließ.

Sofort wurde der Ausdruck in Paiges Augen weniger fröhlich und fast suchend, als sie erneut in Ryons goldene Augen sah. Ob er sich mit seinem Tier ausgesöhnt hatte? In so kurzer Zeit hatte er sich so sehr verändert, dass es bestimmt zu viel verlangt war. Aber Paige hätte es ihm gegönnt. Beiden.
 

Er glaubte ihren Worten auf der Stelle, immerhin war Ryon selbst verdammt froh, ihre roten Schuppen zu sehen. Eine Tatsache, die er niemals geglaubt hätte, wenn man es ihm damals in ihrer Wohnung mitgeteilt hätte.

Doch obwohl, oder gerade weil er ihre Fähigkeiten respekteinflößend fand, war ihr Schuppenkleid allemal schöner, als das des Dämons, den sie durch die Experimente ihres Vaters zum Leben erweckt hatte.

Es war, als würde man einen der germanischen Drachen aus dem Mittelalter, mit einem der chinesischen Drachen vergleichen. Ersterer war meistens rau, eckig und sah zudem keinesfalls vorteilhaft aus. Paiges dämonische Seite hatte jedoch etwas sehr … Zartes und Weiches an sich.

Darin fühlte er sich nur bestätigt, als Ryon seinen Becher auf den Nachttisch abstellte, um sich voll und ganz auf die ihm entgegen gestreckte Hand konzentrieren zu können.

Seine Daumen fuhren ohne zaghaftes Zögern tastend über ihre Handinnenfläche. Sie fühlte sich tatsächlich angenehm kühl und weich an, obwohl er deutlich jede einzelne ihrer Schuppen auf seiner Haut fühlen konnte.

Da waren keine scharfen Kanten, die sich in seine Haut schnitten, so wie sie es getan hatten, als sie beide darum kämpften, eben genau diese rötlichen Schuppen zu retten.

Viel mehr erinnerte es ihn an das Schuppenkleid einer Schlange. Die schimmernden Blättchen ließen einen glitschigen Eindruck vermuten, doch wenn man sie berührte, waren sie mehr als nur trocken. Sie waren wie glatte Seide, fest und doch nachgiebig boten sie den idealen Schutz vor Nässe und anderen Einflüssen.

Ryon war neugierig, was man ihm auch ansah.

Mit Zeige- und Mittelfinger strich er jeden ihrer Finger nach, tippte ihre Fingerspitzen an, drehte ihre Hand herum, zog Kreise auf ihren Handrücken, dem Handgelenk, nur um ihre Hand wieder zu wenden, um erneut die Innenseite zu erkunden. Das Gefühl war seltsam und doch sehr angenehm.

Er war mit dem Wissen aufgewachsen, dass er sowohl die menschliche Haut seiner Eltern bei jeder Umarmung oder jeder vertrauten Geste spüren konnte, wie auch ihr Fell, wenn sie einmal ihrer anderen Natur ihre Freiheiten ließen und als größte Raubkatzenart der Welt dürfte das auch kein Wunder sein. Freiheit war für sie ein Grundbedürfnis.

Bis auf den Unterschied, dass er hier Schuppen anstatt Fell berührte, änderte sich für Ryon nichts. Paiges dämonische Seite als das anzuerkennen, was sie war, nämlich als ein Teil von ihr, war für ihn einfach nur natürlich. Obwohl er seine eigene Natur lange geächtet hatte und es zum Teil immer noch tat, so akzeptierte er es doch an anderen.

„Wie übertragen sich Berührungen in dieser Form auf dich?“, fragte er neugierig nach, während seine Finger die unsichtbaren Linien ihrer Adern auf der Unterseite des Handgelenks entlang streichelten. Unter dem Schuppenkleid konnte er sie nicht sehen, aber er spürte nur zu deutlich, wie das Leben darunter hindurch rauschte.

„Gibt es für dich einen Unterschied zu deiner menschlichen Haut, oder fühlt sich alles gleich an?“

Sein Blick hob sich von ihren ineinander verschlungenen Händen zu ihren dunklen und ganz und gar menschlichen Augen.
 

Das Staunen darüber, dass Ryon sie ohne Weiteres berührte und auch noch neugierig über ihre Schuppen fuhr, ließ sich nicht so leicht abstellen. Nach allem, was bis jetzt zwischen ihnen passiert war, fühlte sich Paige so, als müsse sie immer auf der Hut sein. Als könne sich Ryon jede Minute wieder dazu entscheiden, sein Verhalten und Auftreten von Grund auf zu ändern. Es blieb ihr kaum etwas Anderes übrig und außerdem wollte sie in diesem Augenblick auch nichts Anderes, als genau diese Verwandlung so lange wie möglich hinaus zu zögern.

Paige überlegte.

Über Ryons Frage hatte sie zuvor noch nie nachgedacht. Jede ihrer beiden Seiten trat in bestimmten Situationen zu Tage. Bis jetzt hatte sich Paige noch nie überlegt, ob sich Berührungen weniger stark übertrugen, als direkt auf ihrer menschlichen Haut.

„Naja ... es ist eine Panzerung. Zwar nicht besonders dick, aber durchaus schützend.“

Wenn sie es recht bedachte, hatte sie ihr Schuppenkleid bis jetzt nur in Situationen getragen, in denen sie das Gefühl hatte, sich schützen zu müssen oder wenn ihre Gefühle die Überhand gewonnen hatten.

„Ich fühle den Druck deiner Finger. Meine menschliche Haut liegt ja direkt unter den Schuppen. Aber es ist ... ein wenig gedämpft.“

Mit einem Lächeln registrierte sie, wie Ryons Finger immer noch über ihr Handgelenk strichen. Mal fester, mal leichter, wenn auch nie um zu testen, wie viel die Schuppen tatsächlich aushielten.

„Selbst wenn du deine Krallen ausfahren würdest, wäre es schwierig für dich, mich zu verletzen.“

Dafür müsste er direkt in die Zwischenräume der aufgestellten Schuppen fahren.

Um es ihm zu zeigen, zog Paige ihre Hand ein wenig zurück und tippte mit dem Zeigefinger der anderen Hand auf eine Reihe Schuppen, die sich dann wie eine Schar Soldaten aufstellten.

„Siehst du? Da müsstest du rankommen.“

Mit dem Fingernagel hob sie eine Schuppe so weit an, dass ihre Haut darunter zu sehen war. Bis ihr einfiel, dass er das bereits einmal gesehen hatte.

Bevor ihr der Gedanke an den Magier allerdings zu peinlich werden konnte, nahm sie lieber von selbst Ryons Hand und zog ihre Schuppen langsam zurück, während sie über seine Finger streichelte.

„Und selbst dann könnte ich dir noch ganz schön Feuer unterm Hintern machen.“, meinte sie zwinkernd.
 

„Eigentlich ist es nicht besonders klug, mir deine Schwachpunkte zu zeigen.“, stellte er bar jeglicher Emotion in den Raum, da er bei diesem Satz tatsächlich nichts empfand. Es war Sachwissen. Zwar eines, das in den falschen Händen gefährlich werden konnte, doch so wie sie seine Hand nahm, war Ryon der absoluten Überzeugung, dass seine eigenen nicht zu dieser Sorte gehörten. Sie selbst mochte es nicht wissen, aber eigentlich war sie bei ihm, zumindest vor ihm sicher.

Spielerisch fing er ihre streichelnden Finger wieder ein.

„Außerdem…“ Ryon beobachtete dabei, wie sich die unterschiedliche Beschaffenheit ihrer Struktur aneinander rieb und somit gegenseitig erforschte.

„…käme es mir nie in den Sinn, dich vorsätzlich zu verletzen. Meine Krallen bleiben also da, wo sie keinen Schaden anrichten können.“ Zumindest solange, wie er sie beherrschen konnte.

Dieser Gedanke brachte ihn auf einen weiteren, der ihn dazu veranlasste, innezuhalten.

Noch einmal sah er sich die Färbung ihrer Schuppen an, ging noch einmal ihre Worte im Kopf durch, ehe er seinen Blick hob und Paige ernst ansah.

„Da du mir im Augenblick kein Feuer unter dem Hintern machst, nehme ich an, ich habe nichts allzu Ernstes getan, aber wenn du mir sagst, dass deine Schuppen eine Panzerung darstellen, wieso…“

Bevor er den Satz beendete, gestattete er sich selbst noch eine kurze Gedankenpause. Eigentlich hatte er an Paige diese Seite bisher nur immer in Situationen gesehen, in denen sie sich hatte verteidigen müssen. Warum also jetzt?

Seine Hände schlossen sich um ihre Hand. Hielten sie aber ohne Gewalt fest, nur mit dem Bedürfnis sie zu beschützen.

„Mache ich dir Angst?“

Was wäre es doch nur allzu verständlich!? Immerhin war in letzter Zeit so viel passiert, dass er selbst noch lange nicht alles in Gedanken durchgearbeitet hatte. Da im Augenblick aber wichtigere Dinge anstanden, als reine Gewissensforschung, hatte er somit wenigstens die Möglichkeit, sich einmal auf etwas anderes zu konzentrieren, als nur auf sich.

Wie hatte Tyler es doch so schön ausgedrückt? Er benahm sich egoistisch, konnte nur an sich selbst denken und überhaupt hätte man ihm in fetten Buchstaben H-O-F-F-N-U-N-G-S-L-O-S auf die Stirn tätowieren können, wenn dort nicht zu wenig Platz gewesen wäre.
 

Die Stimmung änderte sich nach Ryons Frage schlagartig. Paiges Finger, die gerade noch auf seinem Handrücken kleine Achten gezeichnet hatten, hielten aprupt inne, während ihr Gesicht wie das sprichwörtliche Fragezeichen aussehen musste.

„Ob du mir Angst machst?“

Das Rattern ihres Hirns musste wirklich laut zu hören sein. Bestimmt bis hinunter in die Lobby des Hotels, wenn nicht gar bis auf die Straße. Zumindest hatte Paige das Gefühl, es müsse so sein, bis endlich der Groschen fiel.

„Nein... Nein, gar nicht. Es ist nur...“

Sie senkte den Kopf und musste sich stark konzentrieren, um ihre eigene Aussage nicht Lügen zu strafen und noch mehr Schuppen auf ihrer Haut sprießen zu lassen. Dass Ryon jetzt auf so eine absurde Idee kommen konnte, war wirklich schlechtes Timing. Aber verdenken konnte sie es ihm auch nicht. Immerhin hatte sie ihm nur die eine Seite ihrer Schuppen – nämlich die der schützenden Panzerung – erklärt.

Noch ohne ihn anzusehen, sprach sie weiter und überlegte fieberhaft, wie sie ihm das Ganze begreiflich machen sollte, ohne selbst dafür zu sorgen, dass selbst ihr Gesicht nicht nur mit rein menschlicher Röte gezeichnet wurde.

„Dir ist doch sicher aufgefallen, dass ich in meiner menschlichen Form auch Hitze erzeugen kann. Vor allem wenn ich mich aufrege oder wütend werde.“

Jetzt sah sie unter leicht gesenkten Wimpern doch zu ihm hoch und versuchte ein Lächeln, das allerdings unter den Worten, die noch kommen sollten etwas schief geriet.

„Naja, mit den Schuppen ist das so ähnlich. Sie sind etwas, das ich in gewissem Sinne überstreifen kann, wenn ich mich zu sehr auf dem Serviertablett fühle. Und ... tja...“

In einer recht hilflosen Geste packte sie mit den freien Hand die Decke und zog sie ein Stück hinauf, um ihm zu zeigen, was sie meinte. Allerdings wollte sie bei seinem interessierten Gesichtsausdruck doch verbal noch etwas nachhelfen.

„Im Moment trage ich nur das Handtuch und diese Decke...“

Ihr Lächeln war sanft und sie hob die Augenbrauen, während sie abwartete, ob Ryon verstand, was die Schuppen verursacht hatte. Paige nahm an, dass er bloß selbst noch nicht daran gedacht hatte, weil er sie mit Feuer überzogen schon ein paar Mal nackt gesehen hatte.
 

Erst als er ihrer Bewegung folgte, wie sie sich noch mehr in die Decke hüllte, verstand er, was Paige ihm sagen wollte.

Offenbar schämte sie sich dafür, nur mit zwei Stofflagen bekleidet vor ihm zu sitzen, die man nicht mal als Kleidung bezeichnen konnte. Wie gut er dieses Schamgefühl nachempfinden konnte, würde sie ihm wohl niemals glauben. Allerdings musste es, wenn man es im rechten Licht bedachte, noch schlimmer für sie sein. Immerhin konnte sie anhand ihrer Lage, ihrem sauberen Zustand und den fehlenden Kleidungsstücken erraten, wie es zu alldem gekommen war.

Ryon senkte den Blick.

„Ich verstehe.“

Das tat er wirklich und zugleich verspürte er so etwas wie ein bisschen Neid, über ihre Fähigkeit, sich selbst im nackten Zustand noch bedecken zu können. Er konnte das nicht. Entweder trug er Fell oder Kleidung. Alles dazwischen war für ihn etwas sehr Persönliches. Weshalb er Paiges Empfindungen nur zu gut nachfühlen konnte.

Wieder sah er sie an, mit einem ruhigen Ausdruck in den Augen. Ihr Lächeln konnte er nicht erwidern. Das war noch viel zu schwierig.

„Ich weiß, diese Bitte ist völlig sinnlos, aber mach dir deswegen keine allzu großen Gedanken. Ich wollte dein Schamgefühl nicht verletzen. Aber es war besser, als die Alternative.“

Mehr konnte er dazu nicht sagen. Er wollte ihr nicht die Wahrheit darüber erzählen, was nach ihrer Bewusstlosigkeit alles vorgefallen war. Weder über die vielen toten Schuppen in der Wanne, den ganzen Schmutz, die panischen Ängste, das Entsetzen oder gar ihrem Herzstillstand.

Außerdem, selbst wenn er versucht hätte, sich an deutliche Details ihres nackten Körpers zu erinnern, alles drum herum war so entsetzlich gewesen, dass er sich nicht darauf hatte konzentrieren können.

Es war eine Sache, einen Körper in Ruhe und mit Hingabe betrachten zu können und eine vollkommen andere, dabei durch eine Notlage abgelenkt zu werden und ständig den Tod im Nacken sitzen zu haben. Zu dem Zeitpunkt war das keine nackte, weibliche Haut, sondern lediglich ein sachlich betrachteter Körper. Punkt.

„Ich finde, du solltest etwas essen.“, wechselte er schließlich das Thema und hielt ihr ein Sandwich hin, ohne dabei ihre andere Hand los zu lassen, die immer noch mit einander verschlungen waren. Unbewusst streichelte sein Daumen über ihre Haut, als hätte dieser ein Eigenleben entwickelt. Dabei war das für seine Rasse im Grunde nur natürlich. Berührungen waren zu großen Teilen dazu gedacht, ihr Temperament zu zügeln, da Gestaltwandler nur zu gerne zu Gefühlsausbrüchen neigten. Ryon zählte sich selbst zwar nicht unbedingt dazu, aber das änderte nichts an der lindernden Wirkung auf ihn.
 

Ruhig sah sie Ryon beim Denken zu. Nicht nur nachdem er ihr versichert hatte, er habe ihr nicht zu nahe treten wollen, sah man ihm an, dass er lieber vergessen würde, was er gesehen hatte. Da sie selbst keine Ahnung hatte, was passiert war, konnte sie nur auf den Nachhall dessen hören, was sich nach ihrem inneren Kampf abgespielt hatte. Der Schmerz an ihren Rippen und die Tatsache, dass sie vollkommen sauber war. Keine Spur einer verbrannten grünen Schuppe an ihr. Zumindest in so weit sie das selbst überblicken konnte. Bis jetzt war immerhin noch keine Zeit gewesen, ihren Körper ausführlich in Augenschein zu nehmen.

Als sie sich ein wenig anders hinsetzten wollte, sagte ihr der Druckschmerz auf ihrer Hüfte und am Rücken auf sehr verständliche Weise, dass es vielleicht auch besser so war. Den Anblick konnte sie sich gut und gerne noch eine Weile ersparen.

Mit einem Lächeln fügte sie innerlich hinzu: Auf jeden Fall so lange, wie Ryons Hand, die ihre hielt, sie daran hindern würde, aufzustehen.

Mit der freien Hand nahm sie das Sandwich entgegen und sah es sich an. Noch nie war sie ein sonderlich großer Fan von diesen fertig abgepackten belegten Broten gewesen, aber jetzt knurrte ihr Magen vor Begeisterung und Erwartung des ersten Bissens.

Aber bevor sie dem nachgab, hatte sie noch etwas viel Wichtigeres zu tun.

Ryons Daumen, der sie unablässig gestreichelt hatte, hielt inne, als Paige seine Hand ein wenig drückte. Er schien an ihrem Blick sofort zu erkennen, dass sie etwas Bedeutendes sagen wollte.

Während sie sein Gesicht betrachtete, ihre Augen sich auf seine schmalen Lippen legten und sich ihre Finger unwillkürlich noch eine Spur fester um seine legten, wünschte Paige sehr, dass sie den Mut aufbringen würde, sich anders zu bedanken. Wie gebannt musste sie ihren Blick von seinen Lippen losreißen, um ihm in die nicht weniger hypnotischen Augen zu sehen.

„Vielen Dank. Ich vermute, dass du mir mal wieder das Leben gerettet hast. Aber auf jeden Fall meine Haut...“, versuchte sie zu scherzen. Aber selbst Paige brachte kein Lächeln zustande, sondern sah Ryon nur weiterhin einfach an.

„Ich danke dir. Ohne dich hätte ich es auf keinen Fall geschafft.“

Jetzt!

Der Moment, in dem sie sich hätte vorlehnen und ihn küssen können, verstrich. Warum es so war, konnte sich Paige nicht erklären. Ihr fehlte einfach der Mut dazu, denn die Situation war so anders, als vorhin. Da hatte sie in seinen Armen gelegen und er hatte sich um sie gesorgt. Paige wollte nicht glauben, dass das der einzige Grund gewesen war, aber ein einzelnes Wort leuchtete so hell in ihrem Kopf, dass sie den Blick lieber auf ihr Sandwich senkte und vorsichtig hinein biss.
 

Spannung lag in der Luft und zwar eine von der Sorte, die kurz vor einem Sommergewitter herrschte. Der Himmel verdunkelte sich, ein Elektrisieren prickelte förmlich auf jeder Oberfläche und jeden Moment könnte das Naturschauspiel in seiner vollen Pracht beginnen.

Nur dass es dieses Mal nicht dazu kam.

In der Erwartung, Paige würde gleich ein wichtiges oder schwieriges Thema beginnen, da sie seine Hand auf eine Weise drückte, die irgendwie als Vorbereitung für etwas zu dienen schien, hatten seine Gedanken zu rasen begonnen. Genauso wie sein Puls, als er sich ihres Blickes an seinen Lippen bewusst wurde. Sie hatte nichts gesagt oder getan, aber dieser eine Blick, war ein Beweis für ihn, dass sie den Kuss nicht mit vollkommenem Desinteresse hingenommen hatte. Sonst würde es sie nicht beschäftigen. Zumindest war das seine Vermutung.

Als sie ihm dann allerdings in die Augen sah und sich bei ihm bedankte, war er irgendwie… Nun nicht enttäuscht, sondern eher … unbefriedigt.

Diese Spannung war stärker geworden, als läge da etwas zwischen ihnen, das keiner so recht beim Namen nennen konnte, dennoch deutlich spürbar war und anstatt mit ihren Worten diese aufgeladene Atmosphäre zu lösen, wie es eigentlich sein sollte, wurde es nur noch heftiger. Als würde sich ein Orkan zusammen brauen.

In dem Moment, wo der erste Blitz den Horizont erleuchten hätte müssen, senkte Paige den Blick und biss in ihr Sandwich.

Ryon sah sie an. Wortlos und mit einem plötzlich aufflammenden Hunger, der garantiert nichts mit seinem knurrenden Magen zu tun hatte, sondern viel tiefer saß. Ein Hunger nach jenem Gefühl, das diese flüchtige Berührung ihrer beiden Lippen in ihm ausgelöst hatte. Hunger nach noch viel mehr der schlichten Berührungen, wie sie zwischen ihren Händen herrschte.

Mit einem Mal empfand Ryon die Einsamkeit in seinem Leben als solch erdrückende Last, dass er bereit wäre, auf den Knien zu rutschen und zu betteln, nur um etwas davon abgeben zu können.

Er hatte Marlene über alles geliebt und würde sie auch immer lieben. Doch die Ressourcen an den Dingen, die er ihr nur allzu gerne und bereitwillig geschenkt hatte, waren nun unberührt, angefüllt bis obenhin, ohne einen Nutzen zu erfüllen. Er quoll förmlich über davon, was die Einsamkeit am Ende nur noch unerträglicher machte.

Erst als er Paiges Lippen geküsst hatte, war ihm erst die Tragweite dieser Tragödie bewusst geworden. Nichts zu bekommen, war absolut nichts im Vergleich zu dem Gefühl, nichts mehr geben zu können. Diese Erkenntnis traf ihn tief.

„Bis auf die Nummer in der Wanne, würde ich es wieder tun.“

Paiges Dank anzunehmen war schwer, weil er nicht das Gefühl hatte, es wäre nötig.

Selbstverständlich hatte er für sie getan, was er konnte. Es war irgendwie nur natürlich. Sie hatte auch ihn auf ihre Weise gerettet. Mehr, als sie ahnen konnte. Und so wie die Dinge lagen, schien diese Rettungsaktion lange noch nicht vorbei zu sein.

Ryon ließ ihre Hand los, um wieder nach seinem Tee zu greifen. Er brauchte jetzt etwas, um seine trockene Kehle zu befeuchten, auch wenn er dafür das Gefühl ihrer Haut aufgeben musste.

Doch er hatte nicht alles verloren, was er auch dadurch unterstrich, dass er seinen Arm auf Paiges Beine quer über seinen Schoß legte und durch den Stoff der Decke hindurch, ihre Konturen fühlen konnte. Das musste einfach genügen. Was er kriegen konnte, würde er nehmen. Mehr durfte er sich nicht erbitten. Denn obwohl er es doch immer noch anders sah, so hatte ihm das Schicksal schon sehr viel Glück bereitet. Nicht jedem Gestaltwandlermann war es im Leben vergönnt, eine Gefährtin für sich zu finden. Es sogar zweimal zu erleben, war wohl daher ein Ding der Unmöglichkeit. Doch wenn es jemanden gebe, den er dafür in Betracht ziehen würde, dann wäre es Paige und zwar nur sie alleine.

Er seufzte innerlich, während er auf das Muster von Paiges Decke starrte, die ihre Beine auf seinem Schoß verhüllte.

„Ich will dir noch keine zu großen Bewegungen zumuten, also wenn du dich vorerst mit einem Bademantel zufrieden geben möchtest, müsstest du zumindest nicht ohne irgendetwas herum sitzen.“

Denn er nahm nicht an, dass er ihr beim Ankleiden helfen sollte. Höchstens vielleicht, wenn sie in ihrer dämonischen Form war.
 

Das Brot in Paiges Mund schien beim Kauen nicht weniger, sondern mehr zu werden. Als würde es nicht nur wie Gummi aussehen, sondern vielmehr daraus zu bestehen. Dabei war das Sandwich gar nicht schlecht. Belegt mit Pute und Ruccola-Blättern hatte es einen interessanten Geschmack. Aber Paige kam es im Moment so vor, als könne sie genauso gut auf einem alten Taschentuch herum kauen.

Mit dem wunden Rücken in das Kissen gelehnt, ihre Beine über Ryons Schoß gelegt, passierte Paige etwas, das sie schon ewig nicht mehr erlebt hatte. Sie wurde nervös. An den Stellen, an denen Ryon sie bloß durch die Decke berührte, schien jedes Molekül ihrer Haut vor Freude hüpfen zu wollen. Und dabei musste sie sich auf das Kauen und Schlucken konzentrieren, um nicht wie leicht angeknackst vor sich hin zu grinsen.

Wie kleine Luftblasen in einem Sektglas wollte sich Lachen und glückliches Geplapper einen Weg aus ihr heraus bahnen. Wenn sie nicht weiterhin aufpasste, würde sie vor aufgestautem Herzflattern spätestens dann in Flammen aufgehen, sobald sie nicht mehr widerstehen konnte und Ryon erneut in die goldenen Augen sah. Falls sie nicht vorher explodierte und ihm doch noch ins Gesicht sprang.

Bevor diese Idee erschreckend reale Formen annehmen konnte, unterband Ryon die sich aufbauende Spannung, indem er sie auf eine Möglichkeit hinwies, sich zu bedecken. Völlig unbedarft und immer noch kauend, legte sie die Reste ihres Sandwiches auf dem Nachtkästchen ab und überdachte den Vorschlag. Ein Bademantel wäre eine Möglichkeit. Allerdings würde sie sich darin auch nicht wesentlich angezogener fühlen, als mit dem Handtuch, das im Moment um ihren Körper gewickelt war.

„Ich stecke in einer Zwickmühle“, gab sie mit lächelnden Augen zu, die richtig vermuten ließen, dass es sich um nichts allzu Dramatisches handeln konnte.

„Du hast mir verboten irgendetwas selbst zu holen. Und ich will meinem Pfleger bestimmt nicht widersprechen.“

Vorsichtig lehnte sie sich ein Stück vor, um sehen zu können, wie weit der Weg bis zu ihrem Koffer und dann ins Badezimmer war. Das Ziehen in jedem kleinen Muskel war eigentlich Zeichen genug, um es bleiben zu lassen.

„Aber ich würde mir gern was Richtiges anziehen. Naja, richtig im Sinne von meinem Schlaf-T-Shirt und Unterwäsche.“

Das würde schon gehen. Mit Bedacht und sehr vorsichtig zog Paige ihre Beine an, überprüfte mit ihren Händen den Sitz des Handtuchs um ihren Körper und schob dann die Decken etwas herunter. Ryons Blick hielt sie allerdings für einen langen Moment fest und brachte sie dazu mit ihrer freien Hand sein Knie unter der Decke zu drücken.

„Außerdem muss ich kurz da hin, wo auch der Papst allein hin geht. Also entschuldige mich, ok?“

Nur eine Tür würde sie trennen. Und selbst die würde sie nicht absperren. Denn wenn sie ehrlich war, hatte Paige angesichts ihres pochenden Rückens und der stechenden Schmerzen, die in ihrem Magen sofort einsetzten, als sie versuchte aufzustehen, bestimmt mehr Angst als Ryon, dass sie nicht lange durchhalten würde.
 

Er wollte ohnehin protestieren, da ihm sofort ihre unzähligen Blessuren in den Sinn kamen, als sie ans Aufstehen dachte. Denn auch wenn er nicht unbedingt auf die Vorzüge von Paiges Körper in nacktem Zustand geachtet hatte, so waren ihm doch die vielen blauen Flecken förmlich auf der Netzhaut eingebrannt. Auch die Druckstellen und Kratzer, für die er persönlich verantwortlich war.

Als er sah, wie sie sich aufmühte, machte es in Ryon klick und er kam schneller in die Gänge, als ein Geliebter der den Ehemann seiner Angebeteten herein kommen hörte.

Vorsichtig und doch entschieden ergriff er Paiges Taille und zog sie auf seinen Schoß zurück, so dass sie auf ihm saß. Danach schlang er einen Arm um ihren Rücken und legten den anderen wie schon gewohnt unter ihre Kniekehlen. Allerdings machte er keine Anstalten, sich mit ihr zusammen zu erheben. Dafür sah er ihr eindringlich in die Augen.

„Was dein Pfleger sagt, ist Gesetz. Also wenn du keinen Ärger mit mir bekommen willst, dann solltest du die Möglichkeit von einem Kompromiss in Betracht ziehen und zwar einen, mit dem ich einverstanden bin.“

Jetzt erhob er sich, mit ihr im Arm und ging zu ihrem Koffer, nur um dort wieder in die Knie zu gehen, damit sie ihn erreichen konnte. Immerhin wollte sie sich ja die Sachen zum Anziehen mitnehmen.

„Der Papst kann machen was er will, immerhin bin ich nicht katholisch und der Kerl ist mir absolut egal. Aber du wirst solange das persönliche Pflegertaxi in Anspruch nehmen, bis du mindestens eine Minute lang auf einem Bein balancieren kannst.“, fuhr er ungerührt fort, da er sich in diesem Punkt sicherlich nicht erweichen ließ.

„Ich setz dich an deiner Haltestelle aus und hol dich dann auch wieder ab. Was du dort machst ist deine Sache. Also mach dir keinen Kopf deswegen, ich werde hinter der geschlossenen Tür warten.“
 

Dass sich tragen lassen körperlich so unangenehm sein könnte, hätte Paige niemals vermutet. Ihre Arme um Ryons Hals zu schlingen wäre wegen der Möglichkeit zu fallen nicht nötig gewesen. Aber Paige musste sich wohl oder übel ein wenig aus seinen Armen hoch ziehen, damit ihr Gewicht nicht genau an der Stelle auf seinem Arm ruhte, an der sie sich das Schulterblatt blau geschlagen hatte.

Beim Koffer angekommen, dachte Paige gar nicht daran zu widersprechen, sondern suchte in ihren Sachen ihr hellblaues, leicht knittriges T-Shirt in Größe XL und einen Slip heraus und legte sich beides auf den Bauch.

Es war gar nicht ihre Art, aber weil die Situation sie eindeutig dazu zwang, würde sie sich herumtragen lassen. Zumal Ryon sie wahrscheinlich sogar auf einem seiner muskulösen Arme hätte balancieren können, wenn er es für richtig erachtet hätte. Hatte er nicht schon einmal gedroht, sie am ausgestreckten Arm verhungern oder einfach in den Abgrund fallen zu lassen?

Ungläubig darüber, dass sie beide noch die Gleichen sein sollten wie damals, als sie sich gegenseitig an die Gurgel gehen wollten, starrte sie Ryon einen Moment wortlos ins Gesicht. Auch das Wort 'seltsam' schien nicht mehr passen zu wollen – dabei war es vor einigen Wochen noch das Einzige gewesen, mit dem sie Ryon betiteln konnte. Jetzt fiel ihr gar nichts mehr dazu ein. Aber das schien im Moment auch nicht nötig.

Stattdessen lächelte sie ihn an.

„Ok, kann losgehen.“

Er trug sie sanft das kurze Stück zu dem kleinen Badezimmer und stellte sie dort wie eine zerbrechliche Kristallfigur auf dem Fliesenboden ab. Mit argwöhnischen Augen kontrollierte er, ob sie auch tatsächlich allein stehen konnte, bevor sie ihn mit einem Wink aus dem Zimmer befahl.

„Geh schon. Es ist allmählich wirklich dringend.“

War es nicht. Aber hätte er gesehen, wie Paige keine Sekunde später, als die Tür geschlossen war, in die Knie knickte und sich nur durch den Halt am Waschbecken von einem Sturz fangen konnte, er hätte sie wahrscheinlich heute keinen Moment mehr aus den Augen gelassen.

Mit zusammen gebissenen Zähnen zog sich Paige am Waschbecken hoch und stützte ihren linken Fuß lediglich auf den Ballen auf. Anscheinend hatte der bereits angeschlagene Knöchel bei der zweiten Aktion in der Badewanne erneut etwas abbekommen.

Leicht strich Paige mit den Fingerkuppen über ein paar rote Kratzer auf ihrer Haut und sah dann das Holz der Tür an, hinter der Ryon bestimmt Wachposten bezogen hatte.

„Verstehe...“, hauchte sie leise, als der Satz von vorhin erst jetzt Sinn für sie bekam. Sie wussten beide, dass es die einzige Möglichkeit gewesen war. Aber dennoch war es bestimmt schrecklich gewesen, ihren krampfenden Körper unter Wasser zu drücken.

Einen tiefen Atemzug nahm Paige zur Stärkung, bevor sie das Handtuch achtlos von ihrem Körper fallen ließ und zur Toilette hinüber humpelte. Im Sitzen war das mit dem Anziehen sicher auch viel leichter.

38. Kapitel

Etwa fünf Minuten später öffnete Paige einigermaßen bekleidet die Badezimmertür und sah zu Ryon hoch. Sie kam sich ein wenig vor wie ein Baby, aber der Weg bis zu ihrem Bett schien ihr mit dem blau angelaufenen Knöchel wirklich weit.

Also ließ sie sich hochheben und zurück tragen, wo Ryon sie absetzte und sich selbst auf der Bettkante niederließ. Das Bett war schmal. Man könnte sogar sagen verdammt klein.

Das war auch der Grund, warum Paiges Stimme so leise und zurückhaltend klang. Unter gesenkten Wimpern sah sie Ryon an und konnte wieder nicht anders, als nach seiner Hand zu greifen.

„Sag mal, du hast kein eigenes Zimmer, oder?“
 

Dass Paige sich ohne Widerrede so fügte, machte Ryon nicht deshalb so zufrieden, weil er seinen Kopf durchgesetzt hatte, sondern weil es ihn einfach beruhigte, etwas tun zu können. Er konnte ihr weder die Schmerzen, noch die Last ihrer Hilfsbedürftigkeit nehmen. Da war es für ihn zumindest klar, dass er ihr dann wenigstens bei den Dingen half, die in seiner Möglichkeit standen und dass er darüber nicht mit Paige lang und breit debattieren musste, war eine unglaubliche Energieeinsparung. Denn er würde mit ihr diskutieren, wenn es sein musste. Sogar die ganze Zeit über, bis sie wieder vollkommen genesen war.

So aber war er nach außen hin besänftigt, als er sich zu ihr ans Bett setzte. Dieses Mal ergriff sie von sich aus seine Hand, was er beinahe mit einem wohligen Schnurren quittiert hätte. Aber ihr Tonfall hinderte ihn daran.

Was sollte er auf ihre Worte sagen?

‚Nein, ich habe kein Zimmer, weil ich zu sehr damit beschäftigt war, dich in der Badewanne zu ertränken, anstatt mit dem Empfangschef zu reden?‘

Oder sollte er ihr erklären, dass er nicht einmal an die Möglichkeit gedacht hatte, er könne einen Schlafplatz gebrauchen, da stattdessen nur Sorge um sie in seinem Gehirn herum geschwirrt war?

Alle möglichen und unmöglichen Antworten wären fehl am Platz gewesen, also blieb er bei der schlichten Wahrheit.

„Nein, habe ich nicht.“

Seine Finger schlossen sich bei diesem Eingeständnis eine Spur fester um ihre Hand und er senkte den Blick.

Vorhin mochte er vielleicht den Breiten markiert haben, aber ihr jetzt auch noch seine Gesellschaft aufzudrängen, brachte er nicht über sich. Oder besser gesagt, brachte er es nicht fertig, ihr zu gestehen, dass er lieber auf dem Badezimmerboden schlafen würde, als räumlich von ihr getrennt zu sein. Wenn etwas passierte, während er vielleicht zu tief schlief, könnte er sich das niemals verzeihen. Zumal ihn die Sorge vermutlich ohnehin nicht schlafen lassen würde.

Ryon musste Paiges Atmen, ihren Herzschlag und das Rauschen ihres Pulses hören, um zumindest momentan die grausamen Bilder des Kampfes verdrängen zu können, die sich ihm sicher aufdrängen würden, wenn er alleine wäre.
 

Irgendwo knisterte die Plastiktüte auf dem Bett, als Paige sich ein wenig bewegte. Wieder schien ihr Körper aus der eigenen Haut und wieder hinein fahren zu wollen. Und das bloß, weil er ihre Hand hielt.

Obwohl es unmöglich schien, versuchte Paige für einen Moment logisch zu denken und die Geschehnisse der letzten Stunden für sich selbst so weit in eine verständliche Ordnung zu bringen, dass sie sich sicher sein konnte.

Ryon war zu ihr gekommen, weil er der Meinung gewesen war, sie sei krank. Dass es sich dabei um etwas Anderes als eine Grippe handelte, war ziemlich schnell klar gewesen. Dann hatte er ihr geholfen das Monster in ihr loszuwerden, hatte sich um sie gekümmert und...

Wieder schlich sich ein kleines, fröhliches Lächeln auf Paiges Lippen. Er hatte sie geküsst. Einfach so, ohne Vorwarnung. Und vor allem, ohne seine Tat anschließend ungeschehen machen zu wollen oder sich dafür zu entschuldigen.

Mit rosa Wangen sah sie ihn an und überlegte, ob ihre Frage dumm war. Ihre größte Angst war es, dass sie ihn schon wieder dazu bringen würde, sich in das eisige Gefängnis seines Verstandes zurück zu ziehen. So wie er es schon mehrere Male getan hatte.

Immerhin wusste sie absolut nicht, was in Ryon vor sich ging. Sie konnte nur sehen, dass er immer noch bei ihr war. Dass er ihre Hand festhielt und seine Augen voller Leben waren.

Bei jedem Anderen wäre das genug der Beweise gewesen. Doch Ryon würde immer ein Spezialfall sein. Vor allem, wenn es die Nähe zwischen ihnen betraf. Das hatte Paige versucht seit Ägypten zu akzeptieren. Und doch saß sie hier, mit einem klopfenden Herzen auf ihrer Zunge und überlegte sich, wie sie dafür sorgen konnte, dass er nicht ging.

„Ich weiß nicht, ob sich das für dich zu aufdringlich anhört...“

Er sah hoch und beinahe hätte es Paige die Sprache verschlagen. Was hatte sie sagen wollen? Verdammt, sie war doch schon so weit gekommen.

„Es... Du könntest doch... Also, das Bett ist ziemlich klein, aber...“

Mit einem tiefen Seufzen holte sie noch einmal Luft.

„Ich fände es sehr schön, wenn du hier bleiben würdest.“

Augenblicklich machte sich Angst in ihr breit. Was hatte sie gesagt?! Nicht nur, dass sie ihn fragte, ob er im Zimmer bleiben wollte, nein, sie bot ihm an, im gleichen Bett zu schlafen?!

Paige biss sich auf die leicht zitternde Unterlippe und harrte Ryons Urteil. Es tat ihr jetzt schon leid, dass sie ihn in die Bredouille gebracht hatte jetzt einen eleganten Ausweg zu finden. Am liebsten hätte sie eine Entschuldigung hinterher geschoben und ihm versichert, dass er natürlich nicht neben ihr schlafen müsse. Aber Paige blieb stumm. Es war vielleicht nicht das Beste, was sie tun konnte, aber dieses eine Mal wollte sie sich für ihr Angebot nicht entschuldigen. Natürlich konnte er nein sagen. Das würde sie vollkommen verstehen. Aber allein für die Möglichkeit, dass er es nicht tat, hatte sich die Frage gelohnt.
 

Ihm schwirrte der Kopf so sehr, als hätte er ihn in die Kloschüssel gesteckt und ein paar Mal kräftig gespült.

Was hatte sie ihm da gerade angeboten? Sie wollte sogar, dass er bei ihr blieb? Oder war das lediglich ein Hirngespinst von ihm gewesen, der seinen Gedanken unbedingt Ausdruck verleihen wollte?

Ryon musste sicher gehen, weshalb er Paiges Gesicht eingehend musterte. Er sah die leichte Röte auf ihren Wangen, das unsichere Funkeln in ihren Augen und wie sie ihre Unterlippe bearbeitete, als wäre sie sich gar nicht darüber im Klaren, was das bei ihm auslöste.

Alles in ihm begann zu kribbeln. Als würden sich aber Millionen kleiner Ameisen mit Samtschühchen unter seiner Haut entlang arbeiten. Das Kribbeln war so intensiv, dass es ihn eigentlich nicht verwundert hätte, wenn Paige es auf ihrer eigenen Hand gespürt hätte.

Mit einem Mal wurde Ryon nervös wie ein schüchterner Schuljunge, der vor der versammelten Klasse einen Vortrag über die menschliche Sexualität halten sollte.

Nein, er hatte sich Paiges Vorschlag definitiv nicht eingebildet. Da war er sich nun sicher und dass es für sie garantiert nicht leicht gewesen war, ihm diese Möglichkeit anzubieten, sah er ihr an der Nasenspitze an.

Unfähig die sich immer länger ausdehnende Stille zwischen ihnen zu brechen, da ihm einfach keine passende Antwort einfiel, die auch nur annähernd seine Gefühle ausgedrückt hätte, hob er seine freie Hand und berührte damit Paiges Wange. Sein Daumen strich über ihre Unterlippe, damit sie diese nicht noch länger mit den Zähnen bearbeiten konnte. Zugleich machte ihn dieser Anblick fast wahnsinnig.

„Es würde mich sehr beruhigen, hier bleiben und mich um dich kümmern zu dürfen.“, erklärte er schließlich, mit dem Anflug eines Lächelns.

Nur widerwillig ließ er seine Hand wieder sinken.

„Falls du es dir noch anders überlegen solltest, gebe ich bestimmt auch einen prima Bettvorleger ab. Sogar mit eingebauter Fußheizung.“

Nun trat ihm tatsächlich der Schalk in die Augen, aber auch nur, damit er sie über die Tatsache hinwegtäuschen konnte, dass sein Herz wie wild raste und er eigentlich nur noch an eines denken konnte, obwohl er genau das nicht sollte.

Er wollte sie noch einmal küssen.

Sich der Sehnsucht in seinen Augen bewusst, sah er hastig zur Seite und räusperte sich leise, ehe er sich ihr ganz entzog, um aufzustehen.

„Wenn es dir nicht allzu viel ausmacht, würde ich noch gerne ein paar Sachen besorgen, an die ich gestern nicht gedacht hatte. Ich will eigentlich nicht gehen, aber…“

Er warf einen flüchtigen Blick auf sie, wie sie da so in ihrem übergroßen Schlafshirt auf dem Bett saß, die schwarzen Haare offen über ihre Schultern und mit diesen tiefen Augen, in die man sich nur allzu leicht verlieren konnte.

Gefährlich nahe daran, sich genau dem hinzugeben, gab er sich stattdessen einen gewaltigen Dämpfer, in dem er Paiges blau angelaufenen Knöchel und die Kratzspuren daran ansah.

„…ich will dir etwas gegen die Schmerzen besorgen. Ein Kühlbeutel wäre auch nicht schlecht, damit die Schwellung schneller abklingt. Außerdem werden wir noch mehr zu Essen brauchen.“

Er kam wieder näher, setzte sich aber nicht mehr. Dazu war er nun viel zu aufgekratzt.

„Ich verspreche, bald wieder da zu sein. In der Zwischenzeit solltest du versuchen, dich auszuruhen.“
 

Paige nickte nur mit einem fast schon entrückten Lächeln auf den Lippen. Er würde hier bleiben. Das hatte er doch zumindest gesagt. Ob nun nur im gleichen Zimmer oder tatsächlich im gleichen Bett, das würde sich heraus stellen. Immerhin konnten sie beiden nicht sagen, ob die Schlafstätte breit genug für sie beide sein würde, damit es möglich war überhaupt Schlaf zu finden.

Ryons plötzliche Aktivität ließ Paige eine falsche Bewegung machen, die wieder ihre Nackenschmerzen auf den Plan rief. Also gar keine schlechte Idee, dass er ihr etwas gegen die Schmerzen besorgen wollte. Auch wenn sie robuster war, als sie für ihn anscheinend wirkte. Immerhin heilte auch ihr Körper schneller als der eines Menschen. Wenn auch nicht annähernd so zuverlässig und in atemberaubendem Tempo wie der eines Gestaltwandlers.

„Du musst dir keine Sorgen machen, ich werde nicht weglaufen.“, meinte sie grinsend und lehnte sich ein wenig nach vorn, um nach ihrem Zimmerschlüssel zu kramen, der mit dem roten Handy und ihrem Geldbeutel in der Schublade des Nachtkästchens lag.

„Hier, dann kannst du dich selbst rein lassen.“
 

Erst als Ryon schon verschwunden war, bemerkte Paige ihren Blick, der noch dort hing, wo er sich die Schuhe und die Jacke angezogen hatte.

„Doch, es ist seltsam.“, meinte sie leise zu sich selbst und griff nach dem Kissen, um ihre Bedürfnis nach einer Umarmung an irgendetwas auslassen zu können. Ihren Mund in den Stoff vergraben saß sie eine Weile lächelnd da und versuchte nicht in allzu verschlungenen Bahnen über die ganze Sache nachzudenken. Natürlich würde es sie brennend interessieren, was Ryon dachte. Oder vielmehr, was er empfand. Bei all dem und ... für sie.

Ihre Stirn kräuselte sich, als es schwieriger wurde einen anderen Gedanken zu verdrängen. Einen einzigen heftigen Schlag ihres Herzens musste Paige aushalten, bis sie sich aufraffte, um die Überreste des kleinen Picknicks auf dem Bett zusammen zu räumen und zumindest in soweit Ordnung zu schaffen, dass die Decken und Kissen so dalagen, dass es einladend aussah.

'Einladend'... Wenn sie so weiter machte, würde sie sich bis zu Ryons Rückkehr noch um den eigenen Verstand denken. Sie hatte doch noch nicht einmal gewagt ihn zu küssen...

Gerne wäre Paige Ryons Ratschlag gefolgt, aber so nervös, wie sie die ganze Situation machte, war an Ruhe sicher nicht zu denken. Stattdessen schaffte sie es auf einem Bein bis zum Fenster, um ein wenig zu lüften und dann auch noch ein paar der Fotos vom Fußboden aufzusammeln und sie in die Mappe zurück zu stopfen, wo sie das dunkle Ding und seinen Verwandten in der Essenz ihres Vaters am liebsten für immer vergessen hätte.
 

Eigentlich hätte ihn die nasskalte Luft, die Bewegung und die Beschäftigung seiner Gedanken mit den Einkäufen beruhigen müssen, stattdessen wurde er immer aufgedrehter und unruhiger. Fast schon lief er die Gänge des Supermarkts entlang, ließ seine Blicke analytisch über die Waren gleiten, schnappte sich ab und zu etwas und warf es in den Einkaufswagen, ehe er zur Kassa hetzte, um zu bezahlen.

Anschließend machte er einen Spurt bei einer kleinen aber gut sortierten Apotheke vorbei, bei der er sich dieses Mal mehr Zeit ließ.

Obwohl es sich furchtbar verbogen und falsch anfühlte, daran zu denken, dass Marlene bei Paiges Verletzungen sofort gewusst hätte, was zu tun war, konnte er es doch nicht verhindern. Die eine Frau mit der anderen in einem gedanklich sortierten Satz zu vermischen war … seltsam.

Aber es war nun einmal eine Tatsache, dass seine Gefährtin sich mit Verletzungen und deren Heilung tausendmal besser ausgekannt hatte als er, weshalb er sich in der Apotheke auch lang und breit beraten ließ, um Paige die bestmöglichste Versorgung bieten zu können, ohne sie in ein menschliches Krankenhaus bringen zu müssen.

Am Ende war er so voll gepackt mit Einkäufen, dass er Koordinationsschwierigkeiten beim Aufsperren von Paiges Zimmertür hatte, was auch noch dadurch erschwert wurde, dass ihm seine tropfend nassen Haare in die Augen hingen und er sie sich nicht zurück wischen konnte. Immerhin begnügte sich das Wetter im Augenblick nicht nur mit leichtem Nieselregen, sondern hatte lieber gleich alle Schleusen geöffnet.

Dennoch schaffte es Ryon, nicht ganz patschnass zurück zu kommen.

Endlich, da er die Tür hinter sich geschlossen, die Einkäufe abgestellt und Paiges Anblick eingefangen hatte, fiel seine Hektik und Unruhe von ihm ab. Er war wieder bei ihr, was sich ungefähr so anfühlte, als würde man ihm einen Hinkelstein von der Brust nehmen.

Dann erst bemerkte er, dass sie wohl etwas aufgeräumt hatte. Ihm war es nicht so wichtig erschienen, aber man merkte sehr wohl den Unterschied. Auf dem Boden waren überall Bilder gelegen, die nun spurlos verschwunden waren.

Was für Bilder das gewesen waren, wusste er. Aber im Augenblick wollte er nicht einmal daran denken.

Stattdessen schnappte er sich eine Flasche voll Wasser, kramte in der Tüte mit den Medikamenten herum und holte die Schmerztabletten heraus, die man ihm empfohlen hatte.

Auf den Weg zu Paige, schüttelte er kurz seine Haare aus dem Gesicht, um sie besser sehen zu können. Danach reichte er ihr das Wasser und die Tabletten.

„Eine müsste für Vierundzwanzig Stunden genügen. Falls nicht, kannst du gefahrlos noch eine halbe dazu nehmen. Wenn du im Moment sonst nichts brauchst, gehe ich schnell duschen.“

Nur mit Mühe konnte er ein Gähnen unterdrücken.

Bei dem Einkauf hatte er sich noch schnell ein neues Shirt in XXXL Format besorgt und farblich darauf abgestimmte Shorts. Keine Unterwäsche zu tragen war nicht nur verdammt verwegen, sondern für ihn und seine Erziehung absolut nicht tragbar. Außerdem war es nicht gerade angenehm, wenn sein bestes Teil ständig am Jeansstoff scheuerte, wo es doch an echte Seide gewöhnt war und zum Schlafen würde er die ausgewaschene Jeans erst recht nicht anbehalten. Obwohl er das in Anbetracht der Bettnotlage vielleicht noch einmal überdenken sollte.

Ryon verschob diese Angelegenheit auf später. So wie auch den Rest seiner müden Gedanken.
 

Während er unter der Dusche stand, ging er schon einmal die Dinge durch, die er Paige vor dem Schlafengehen noch angedeihen lassen würde. Er hatte eine kühlende Sportlersalbe für ihren Knöchel bekommen. Zusätzlich mit einer Bandage, würde das Ganze schnell kein Problem mehr sein.

Die Apothekerin hatte ihn noch nicht einmal seltsam angesehen, als er ihr die ganzen Verletzungen geschildert hatte. Quetschungen, Blutergüsse, Verdacht auf Prellungen, Schürfwunden usw. Normalerweise könnte man bei dem Haufen annehmen, dass Fragen aufkämen, aber ein Blick auf seine Statur, und die Frau hatte ihm gerne mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Vermutlich hatte sie ihn für einen Footballspieler oder so etwas in der Art gehalten. Das war auf alle Fälle besser, als ein brutaler Ehemann zu sein, der seine Frau regelmäßig misshandelte und danach selbst wieder zusammen flickte.
 

Frisch geduscht, in einem orange schwarzem Shirt und den dazu passenden Shorts, befand sich Ryon schließlich am Fußende von Paiges Bett, ihren Knöchel auf einem Kissen abgelegt, das sich auf seinen Schoß befand und trug vorsichtig massierend die Salbe auf die verfärbten Stellen auf, ehe er alles sorgfältig mit einer Bandage umwickelte.

Inzwischen konnte er sich ein Gähnen ab und zu nicht verkneifen. Ob nun im Bett, auf dem Boden oder auf einer glühenden Herdplatte, im Augenblick könnte er überall schlafen.
 

Während sich Ryon sehr sorgsam um ihren Knöchel kümmerte, hatte Paige Zeit die Atmosphäre des Raumes in sich aufzusaugen. Draußen schüttete es wie aus Kübeln, der Regen schlug ab und an von stürmischen Böen getrieben gegen die Fensterscheiben und ließ diese leise in ihren Rahme klappern. Außer einem Leselicht über dem Bett brannte nur die gedimmte Stehlampe in der gegenüberliegenden Ecke und tauchte den Raum vermischt mit der Dunkelheit draußen in schummriges Licht. Paige liebte es bei so einem Wetter drinnen zu sein. Irgendwo wo es warm war und man das graue Wetter mit gebührendem Abstand begutachten und auf diese Weise sogar genießen konnte.

Sie nippte an ihren letzten Schlucken Tee und betrachtete Ryon aufmerksam dabei, wie er ihren Knöchel verband. Es war immer wieder erstaunlich, wie sehr sich der Eindruck einer Person änderte, wenn man sie nicht in den gewohnten Klamotten sah. In ihrem jetzigen Fall wanderten Paiges Augen über Ryons dunkles T-Shirt und die dazu passenden Shorts.

Interessiert besah sie sich die muskulösen Oberschenkel und auch den Rest seiner Beine, soweit sie sie sehen konnte. Die Kleidung wirkte im Gegensatz zu seinem sonst recht strengen Auftreten sehr leicht. Auf eine Art, die Paige selbst nicht erklären konnte, machte der Aufzug Ryon ... berührbarer.

Ein weiterer Schluck Tee verhinderte, dass ihre vor Freude funkelnden Augen den gesamten Raum erhellten. Seine Haare waren nach der Dusche vollkommen durcheinander. Wahrscheinlich sein persönlicher Albtraum, wenn man bedacht, wie korrekt er sie normalerweise zu frisieren pflegte. Paige konnte sich an den wirr durcheinander stehenden, umso bunter wirkenden Haaren gar nicht satt sehen. Irgendwann würde sie ihm sagen, dass das sehr viel attraktiver aussah.

Als hätte er ihre Gedanken gehört, legte Ryon ihren Fuß vorsichtig auf die Matratze, was Paige dazu veranlasste, ihre Tasse weg zu stellen. Sie sahen sich gegenseitig so ratlos an, dass Paige lachen musste.

„Vielen Dank für den Verband. Fühlt sich gut an.“

Mit den Händen abgestützt rutschte sie auf eine Seite des schmalen Bettes und schlug die Decke nach unten.

„Ich weiß nicht, wie's dir geht, aber ich bin fertig für heute.“

Paige strich sich über die müden Augen und steckte ihre Beine vorsichtig unter die Decke. Alles so langsam, dass die Zeit, die Ryon zum Aufstehen brauchte und dafür, zur anderen Seite des Bettes zu kommen, überbrückt wurde.

Bereits als er sich setzte, konnte Paige sein Duschgel riechen. Und frisch gewaschene Haut, die gerade dank seiner eigenen Körperwärme trocknete. Paige versuchte ihr aufgeregt klopfendes Herz mit Schlucken daran zu hindern ihr aus dem Hals zu springen.

Ihre Finger waren vollkommen zittrig und daher fast nicht dazu zu gebrauchen die Stehlampe mit einem Schiebeschalter zu löschen.

Paige legte sich hin. Eine Position zu finden, die nicht auf irgendeinen blauen Fleck drückte, war schier unmöglich, also ließ sie die Versuche nach einer kurzen Weile einfach bleiben und legte ihren vor Müdigkeit schweren Kopf auf dem Kissen neben Ryon ab.

Ob sich dieses Lächeln je wieder aus ihrem Gesicht verabschieden würde? Wahrscheinlich nicht, solange er hier war. Ihr Herz schien Paige zerreißen zu wollen, während ihre dämonische, wie auch ihre menschliche Haut sie vor fröhlicher Aufregung ebenfalls fast um den Verstand brachten. Dabei hatte sie doch gar nichts vor.

„Gute Nacht“, wünschte sie lediglich und sah Ryon weiterhin in die Augen.

Ihr Gute-Nacht-Kuss war etwas länger, aber kaum fühlbarer, als seiner vom Nachmittag. So leicht, dass sie die Wärme seiner Lippen nur wie eine Andeutung spüren konnte, berührte sie ihn.

Das breite, vor Glück strahlende Lächeln war immer noch da, als sie sich von ihm löste, das Licht ausschaltete und ihren Kopf wieder in das Kissen kuschelte.
 

Da sein Mund viel zu trocken war, um anständig zu antworten, nickte er nur. Oh ja, er war sowas von fertig, aber ob ihm das beim Einschlafen helfen würde, konnte er bei Gott nicht sagen. Weshalb es vermutlich auch klüger war, dass er einfach nicht daran dachte, was gleich kommen würde. Stattdessen räumte er die Salbe und restlichen Bandagen weg, ging um das Bett herum und legte sich zu Paige.

Steif wie ein Brett, kam er zum Liegen und konnte kaum fassen, dass er tatsächlich hier war.

Sein ganzer Körper war so angespannt, dass ihm bestimmt bald die Augen zufallen würden, wenn er weiterhin so viel Kraft aufwandte, um sein verräterisches Zittern zu unterdrücken.

Er war so verdammt nervös, wie schon lange nicht mehr. Unzählige Szenarien, Gedanken und Vorstellungen wollten sich in seinem Kopf breit machen. Alles hatte damit zu tun, dass er hier so dicht neben Paige in einem Bett unter der gleichen Decke lag, dass er nicht nur ihren Duft riechen und schmecken, sondern die sanfte Wärmer ihrer Haut förmlich auf sich spüren konnte.

Als Paige ihm einen schlichten Gute-Nacht-Kuss gab, mutierte er vollends zur Salzsäule.

Zum Glück machte sie schon einen Moment später das Licht aus, was es ihm wenigstens ermöglichte, ihr ‚Gute Nacht‘ zu erwidern. Aber das war auch schon alles, was er fertig brachte.

In dem Wissen, dass sie ihn bei dieser Dunkelheit unmöglich sehen konnte, starrte er sie von der Seite her an. Natürlich beobachtete auch sie ihn, allerdings mit weniger Hartnäckigkeit. Immerhin konnte sie nicht so wie er, an jedem Gesichtszug hängen bleiben. Ihn eindringlich studieren und tief in sich aufnehmen.

Ryons Hunger nach bestimmten Gefühlen wurde stärker, je länger sie sich gegenseitig in die Augen blickten, ohne sich wirklich sehen zu können. Also schloss er sie.

An Schlafen war zwar nicht zu denken, aber er musste dem ganzen Wirrwarr in seinem Kopf nicht auch noch Nahrung geben.

Und während er versuchte, einfach an nichts mehr zu denken, entspannten sich seine Muskeln plötzlich, als hätte man ihm die Luft aus dem Reifen gelassen. Er seufzte noch einmal tief, ehe er erschöpft einschlief.
 

Es war so stockdunkel im Zimmer, dass selbst, als sich ihre Augen an die Nacht gewöhnt hatten, sie absolut nichts erkennen konnte. Was die Tatsache, dass Ryon immer noch neben ihr lag noch unwirklicher erscheinen ließ.

Er hatte ihr ebenfalls eine gute Nacht gewünscht und sie konnte hören, dass er atmete. Ganz leise und ein wenig abgehackt, bis er seufzte und seine Atemzüge schnell ruhiger und tiefer wurden. Man hätte meinen können, dass er noch müder war als sie selbst. Oder hielten sie nur ihre blauen Flecken und Blutergüsse wach, die Paige daran hinderten eine wirklich bequeme Position zu finden?

Wie schmal das Bett wirklich war, fiel ihr erst jetzt auf, da sie neben Ryon lag und versuchte ihm unter der Decke nicht unanständig nahe zu kommen. Da er noch nicht einmal ihre Hand genommen oder ihren Kuss erwidert hatte, wollte sie ihm nicht auf die Pelle rücken. Stattdessen hörte sie eine Weile seiner Atmung zu, schloss die Augen und versuchte sich zu entspannen.

Es gab sehr viele Gründe glücklich zu sein. Zuerst einmal hatte sie gleich mehrere Monster auf einmal besiegt. Die Essenz ihres Vaters und gleichzeitig sogar ein Stück seiner Macht, die er immer noch über sie gehabt hatte. Paige hatte gesehen, was zur Alternative stand. Und jetzt musste sie umso genauer, dass sie niemals anders sein wollte, als sie war. So halb und unvollständig sie manchem vorkommen musste, es war doch das, mit dem sie zufrieden war.

Ein wenig drehte sie sich auf die Seite, legte eine Hand auf Ryons Schulter und versuchte gerade noch einen weiteren sehr wichtigen Punkt zu überdenken, der sie glücklich machte, als sie bereits lächelnd eingeschlafen war.
 

Ihr Mund öffnete sich weit zu einem Schmerzensschrei, der ungehört einfach in einem Meer aus schäumenden Luftbläschen unterging.

Er drückte noch fester zu. Spürte, wie sich die Sehnen ihres Halses so fest gegen seine Hände anspannten, dass sie fast zu reißen drohten, während sich ihre Fingernägel in sein Fleisch gruben.

Sie kratzte ihn aus purer Verzweiflung blutig, schlug nach ihm, wand sich unter seinem Griff und starrte ihn dabei mit einem Blick an, der nicht nur den schmerzhaften Verrat an ihr offen legte, sondern auch das verlöschende Leben darin klar erkennen ließ.

Ihre Abwehr wurde schwächer, während seine Finger sich nur noch enger um den zarten Hals wanden, wobei sich seine Krallen tief in ihre Kehle bohrten, bis das vom Kampf wild tobende Wasser sich rot färbte.

Seine Finger waren eiskalt und fast vollständig taub, genau wie der Rest seines Körpers, doch das pulsierende, glühend heiße Leben unter ihnen spürte er nur zu deutlich.

Aus dem Verlangen heraus, mehr von diesem brennenden Gefühl zu spüren, die Leere in sich damit auszufüllen und einen flüchtigen Moment lang der Einsamkeit zu entrinnen, schlang er seine Hände noch enger um diesen Lebensstrom, wollte ihn festhalten und wusste doch zugleich, dass er ihn verlieren würde, umso mehr er ihn begehrte.

Egal wie sehr er sich an diesem Leben festklammerte, sein Verlangen war es, das es ihm letztendlich entriss. Das den pochenden Lebensstrom zum Versiegen brachte, bis sich die verzweifelten Hände von ihm lösten und lautlos im blutroten Wasser versanken.

Tote Augen starrten ihn anklagend unter der trüben Wasseroberfläche an. Haare so schwarz wie Ebenholz breiteten sich wie Fächer auf der sich beruhigenden Fläche aus und dann veränderte sich plötzlich das Bild vor ihm.

Das schimmernde Rot auf ihrer makellosen Haut kam nicht mehr nur von dem Blut. Die Haut ihres Gesichtes schien aufzureißen, sich zu verändern, obwohl ihre Gesichtszüge gleich blieben und der Ausdruck ihrer Augen sich nicht wandelte.

Wo vorhin noch Haut war, bereitete sich ein Schuppenkleid aus. Weich, geschmeidig und doch fest und schützend. Allerdings kam ihr Schutz zu spät… Paige war tot. Ihr Leben durch seine eigenen Hände entrissen, da er damit das unendliche Loch in sich hatte füllen und die Kälte damit hatte vertreiben wollen

Er hatte sie getötet.
 

„Paige‼!“

Mit einem Schrei purer Verzweiflung fuhr Ryon aus dem Schlaf hoch. Einen Moment lang war er vollkommen orientierungslos. Sein Herz hämmerte ihm wie eine Kanonensalve gegen die Brust. Bombardierte ihn förmlich mit jedem Schlag, bis er seine Arme um sich schlang, um es an Ort und Stelle zu halten.

Er bebte am ganzen Leib und seine Krallen zerrissen den Stoff seines Shirts, da er sich selbst so fest hielt, als würde er sonst in tausend Stücke zerbrechen.

Unfähig normal zu atmen, schnappte er immer wieder heftig nach Luft, als würde sein eigener Alptraum seine Hände nach seiner Kehle ausstrecken und nun ihm das Leben daraus quetschen.

39. Kapitel

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

40. Kapitel

In ihrer Lage hätte Ryon auch einfach seine Krallen ausfahren und sie ihr direkt ins Herz rammen können. Es hätte sich wahrscheinlich nicht schlimmer anfühlen können, als das, was sie mit leicht zitterndem Atem auch so mitbekam.

Zuerst einmal hatte Paige sehr wohl mitbekommen, dass es für ihn nicht erfüllend gewesen war. Trotz allem, was sie war und was ihm zumindest zu Anfang ein paar wohlige Laute hatte entlocken können, hatte es nicht gereicht.

Und als wäre das nicht genug, zog er sich ohne einen einzigen Blickkontakt so weit vor ihr zurück, dass Paige es nicht einmal wagte, ihn zu berühren.

Ihr immer noch schnell gehender Atem wurde schwerer und raspelte in ihrem Hals, als sie auf Ryons Kopf hinab sah, den er auf ihren Bauch gebettet hatte.

Seine Worte hatte sie schon einmal gehört. Damals in den Gängen unter Paris und auch in Ägypten. Er konnte nicht. Würde es nie können. Paige hatte sich lediglich zu wichtig genommen. Hatte sich mal wieder davon einlullen lassen, dass er ihr kurz seine gefühlvolle Seite gezeigt hatte. Aber sie war nunmal nicht genug.

Paige spürte es in jeder Faser ihres Körpers, die sich ihm gerade noch mit Herz und Seele hingegeben hatte.

Sein tiefes Seufzen schmerzte so sehr, dass Paige die Lippen genauso automatisch fest aufeinander presste, wie sie sich auf die Ellenbogen stützte und ihre Beine so übereinander schlug, dass sie sich nicht ganz so nackt und ... schäbig vorkommen musste.

Die Worte „zweite Wahl“ hämmerten ihr so stark von innen gegen den Schädel, dass sie das Blinzeln und Brennen ihrer Augen darauf schob.

Sie hatte es zwar gewusst, versucht sich darauf vorzubereiten, aber jetzt, wo es so weit war, konnte sie es tatsächlich kaum ertragen.

Und dennoch würde sie es aushalten. Es würde nicht das erste Mal in ihrem Leben werden, bei dem sie still hielt, während man ihr sagte, dass sie es einfach nicht wert war. Dass sie nie das sein konnte, was der Andere wollte oder brauchte.

Sie würde zerbrechen, am Boden liegen und irgendwann würde sie sich wieder zusammen setzten. Diesmal würde es lange dauern. Vielleicht länger als jemals zuvor...
 

Schweigen hing dicht wie undurchdringlicher Nebel über ihnen, während Ryons Augen einen imaginären Punkt an der gegenüberliegenden Wand fixierten und doch nichts sahen. Er war völlig reglos, doch in seinen Gedanken herrschte ein ziemliches Chaos, das er erst einmal zu schlichten versuchte, ehe er überhaupt irgendwo anfangen konnte.

Darum die Stille seinerseits.

Während er seine Gedanken ordnete, zog er so gut es eben ging ein Stück der Decke über Paige und sich. Zwar fror er nicht, aber nackt wie Gott ihn schuf, fühlte sich auf Dauer unter dieser drückenden Atmosphäre ganz und gar nicht angenehm an. Dennoch ließ er Paige nicht los.

„Ich kann deine Gedanken nicht lesen…“, begann er schließlich leise.

„…darum werde ich dir meine verraten."

Ryon schloss die Augen, um sich besser auf seine Worte konzentrieren zu können und schärfte zugleich seine Sinne. Sein Herz pochte noch immer wie wild, doch dieses Mal voller Aufregung, während sein Gesicht förmlich vor Nervosität glühte und doch blieb er ruhig. Es hatte keinen Sinn, davor weg zu laufen oder noch irgendetwas zu verschweigen.

Paige verdiente die Wahrheit, so wie niemand sonst sie verdiente, auch wenn es ihm bereits jetzt weh tat, sich all den Dingen zu stellen, selbst wenn es im Augenblick nur in Gedanken war. Gleich würden sie zu Worten werden und das nur allein für Paige. Für jemand anderen, noch nicht einmal für sich selbst, hätte er sich nicht diesen Schmerz unterzogen.

„Ich liebe Lenn und werde sie immer lieben... Das Leben, das ich geführt habe, bevor ich sie traf, war hohl und leer. Bedeutungslos im Angesicht dessen, was mir damals fehlte.

Sie war für mich wie die Sonne. Mein eigenes Universum, um das sich mein ganzes Leben drehte und auch wenn jetzt an dieser Stelle nur noch ein schwarzes Loch klafft, so werde ich dennoch nie vergessen können, was dort einmal voller Lebendigkeit für mich erstrahlte.“

Fast brach seine Stimme. Es tat entsetzlich weh, darüber zu sprechen und dabei waren das die Dinge, die er sich schon längst bewusst war. Dennoch zwang er sich zum Weiterreden, denn es war noch lange nicht alles, was er zu sagen hatte und Paige würde niemals verstehen, worauf er hinaus wollte, wenn er jetzt einfach schwieg. Dabei wollte Ryon, dass sie es verstand. Alles.

„Sie war die erste Frau in meinem Leben und bis zu dieser Nacht auch die Einzige…

Ich hielt bedingungslose Treue immer für selbstverständlich. Nie wäre es mir in den Sinn gekommen, meine Gefährtin in irgendeiner Weise zu hintergehen, da ohnehin nichts mit dem zu vergleichen gewesen wäre, was wir zusammen hatten.

Seit ihrem Tod erschien mir der Gedanke, mit einer anderen Frau zusammen zu sein sogar noch viel abwegiger. Meine Sonne war weg und keine andere Flamme könnte es je mit ihr aufnehmen … So dachte ich zumindest bis vor Kurzem…“

Der Schmerz bohrte sich tief in sein Herz, drehte sich wie eine heiße Klinge immer wieder darin herum und schien ihm die Luft zum Atmen zu nehmen. Ryon biss die Zähne fest aufeinander und atmete ein paar Mal tief durch, ehe er die Augen wieder öffnete und sich an dem banalen Muster der Wandtapete fest hielt, als wäre es ein ebenso zuverlässiger Rettungsanker wie der Körper, an den sich seine Hände festhielten.

„Mein Egoismus wird nur noch von meiner Grausamkeit übertroffen. Denn obwohl ich nicht glaube, dass ich je eine andere Frau lieben kann, so klammere ich mich doch mit aller Kraft an der Hoffnung, dass ich mich irre.

Du … tust mir gut, Paige. Ich fühle mich wohl in deiner Nähe und ich weiß sehr zu schätzen, wie du dich in Ägypten um mich gekümmert hast und es immer noch tust, ohne dass es dir vielleicht bewusst ist. Der Gedanke, dich nicht mehr bei mir zu haben, selbst wenn es nur im Streit ist, macht mich rasend. Denn zum ersten Mal, seit ich mich erinnern kann, ist nicht Lenn die Frau, um die sich in freien Augenblicken meine Gedanken drehen, sondern du bist es...“

Ryon machte eine Pause. Es war schon schwierig genug gewesen, das wiederzugeben, was er bereits gesagt hatte, doch zu erklären, was er nun los werden musste, war weitaus schwieriger. Nicht nur, was die vorsichtige Wortwahl anbelangte, sondern auch wegen der Tatsache, dass er es sich immer noch nicht ganz eingestehen konnte. Selbst wenn es sich um unumstößliche Tatsachen handelte.

„Bevor ich dich traf, war ich innerlich tot. Vielleicht hätte ich damit noch ein paar Jahre weiter machen können, ehe auch das nicht länger funktioniert hätte, aber der Gedanke zu sterben, hatte für mich ohnehin eine bereits völlig neue Bedeutung. Warum sollte ich weiter leben, wo ich doch jeden Sinn in meinem Leben verloren hatte? Der Tot schien da die beste Lösung zu sein und dennoch konnte ich es nicht. Vielleicht, weil ich immer noch das Gefühl habe, dass wenigstens durch den Schmerz meines Verlusts meine Gefährtin und unser gemeinsames Kind irgendwie weiter leben. Ich könnte nicht noch einmal ihren Tod verantworten. Selbst wenn es nur noch um ihr Andenken geht.

Bisher war das mein einziger Beweggrund für jeden Atemzug, den ich tat, doch nun bist du in meinem Leben erschienen.“

Ryon hob den Kopf leicht an und sah zu ihr hoch, als er weiter sprach.

„Wir haben uns verfolgt, gejagt, verletzt, bekämpft, misstraut, versorgt, geholfen und sogar Freundschaft geschlossen. Das ist mehr, als ich jemals noch für mein Leben erwartet hätte und daher umso verwirrender.

Aber was mir wirklich eine Scheißangst einjagt, sind die Gefühle, die ich für dich habe.“

Er sah wieder weg. Legte seine Wange wieder auf ihrer nackten Haut ab und sog den behaglichen Duft ihres Körpers ein, ehe er die Kraft aufbrachte, weiter zu sprechen, obwohl es ihm unglaublich schwer fiel.

„Wärst du Lenn ähnlich, ich würde es für den schwachen Versuch halten, wenigstens einen Schatten von dem zurück zu gewinnen, was ich verloren habe. Doch du bist ihr nicht ähnlich. Ganz und gar nicht ähnlich und ich habe auch nicht das Gefühl, als würde ich mich im Augenblick an einem Schatten fest halten.“

Seine Daumen streichelten leicht und regelmäßig über ihre Haut. Das Einzige an ihm, das nicht vollkommen erstarrt war.

„Du kannst auch gar nicht ihr Schatten sein, denn vor knapp einer Stunde hast du mir etwas gezeigt, das ich in meinem ganzen Leben noch nie erlebt habe…

Lenn war zierlich, fast sogar einen Kopf kleiner als du und obwohl sie große Fähigkeiten besaß, war sie doch immer vollkommen menschlich und somit in meinen Augen ganz und gar zerbrechlich.

Seit sie ein Teenager war, hatte sie zehn feine, langgezogene Narben auf dem Rücken. Kaum sichtbar für jemanden, der nicht wusste, dass sie dort waren. Aber für mich stets ein Mahnmal an das einzige Mal, als ich mich in ihrer Nähe nicht unter Kontrolle hatte. Seither habe ich es nie wieder zugelassen, mich in welcher Situation auch immer, vollkommen gehen zu lassen. Es war in Anbetracht unseres Rassenunterschieds einfach zu gefährlich und obwohl sie meine tierische Seite immer in jeder Form akzeptiert hatte, so war ich in ihrer Nähe doch immer mehr Mensch denn Tier. Ich dachte, egal welchen Teil ich von mir zurück halten muss, dass es das einfach wert war, weil sie mich liebte. Damals reichte mir das völlig aus und ich wusste auch nicht, was mir dabei entging, bis du es mir gezeigt hast, Paige.“

Langsam hob Ryon wieder seinen Kopf, suchte Paiges Blick und hielt ihn fest.

„Ich habe Sex noch nie so intensiv empfunden, wie mit dir. Dabei fällt es mir immer noch schwer, mich vollkommen fallen zu lassen. Ich konnte es nicht, doch hätte ich es getan, mein Weltbild wäre nicht mehr das Gleiche gewesen. Das ist es auch jetzt nicht mehr. Denn du hast es verändert. Zugleich ist das auch der Grund, weshalb ich aufgehört habe. Im Augenblick glaube ich nicht, dass ich loslassen kann, während mein Herz das Gefühl hat, dass etwas, das ich für rein, bedingungslos und absolut vollkommen hielt, durch mein neues Weltbild fehlerhaft und unvollkommen erscheint. Mir ist klar geworden, dass ich vor Lenn die ganze Zeit etwas zurück gehalten habe und wie sehr ich das bedaure. Trotzdem kann ich es nicht mehr ändern, aber wenn du mir die Chance lässt, dann will ich diesen Fehler nicht noch einmal begehen.“

Er streckte die Hand aus, um ihre Wange berühren zu können, während sein goldener Blick immer noch auf ihr lag und er seine letzten Kraftreserven zusammen kratzte, die er noch aufbringen konnte. Bereits jetzt war er wie poröser Stein, der zu lange Wind und Wetter ausgesetzt gewesen war. Noch einmal würde er kämpfen, doch wie es auch ausging, es würde seine letzte Schlacht sein. Zu mehr fehlte ihm einfach die Kraft.

„Paige … ich will dich. Ich brauche dich und selbst wenn diese ganze Hexen-Amulett-Geschichte schlecht ausgehen sollte, so will ich sie doch wenigstens mit dir Seite an Seite erleben. Aber ich will nichts Halbes mehr, nichts Befristetes und schon gar nicht, will ich einen Ersatz für etwas.

Mir ist klar, dass ich mit mir selbst noch in einigen Dingen ins Reine kommen muss, bevor ich vollkommen los lassen kann. Aber an einigen Tatsachen ist bereits jetzt nicht mehr zu rütteln. Ich begehre dich unumstritten. Deine andere Seite bringt mein Blut zum Kochen und noch nie hat es sich so gut angefühlt, den Tiger heraus lassen zu können wie bei dir. Wenn du also auch nur annähernd so für mich empfindest wie ich für dich, dann sei bitte ehrlich zu mir… Ist es von mir egoistisch, dass ich mich an dich klammere, weil ich in deiner Nähe glücklich bin, oder gibt es etwas, das ich dir dafür zurückgeben kann, um aus dem Egoismus etwas anderes zu machen? Vielleicht nicht Liebe, aber zumindest mehr, als das was es bereits jetzt ist?“
 

Paige konnte sie sehen. Während er erzählte, schien das Bild der jungen Frau zwischen ihnen regelrecht im Zimmer zu schweben. Sie war zierlich gewesen, filigran und verletzlich. Marlene. Der Mensch, der Ryon jede Form von Liebe zu einer Frau beigebracht hatte, die er kannte.

Obwohl sie ein leichtes Zittern bemerkte, das durch ihre verkrampften Muskeln lief, konnte sie sich nicht abwenden. Einzelne Worte schienen sich in Leuchtbuchstaben aus Ryons Erzählung zu lösen und anzuschwellen, bis Paige sie versuchte mit einem Blinzeln zu vertreiben.

Er liebte sie. Würde sie immer lieben. Keine Flamme würde je die strahlende Sonne ersetzen können.

Natürlich nicht.

Was war ein kleines Flämmchen in einer Welt, der die lebensspendende Sonne fehlte. Weder in Licht noch in Wärme könnte sie es je mit ihr aufnehmen. Niemals wäre sie dazu fähig.

Und das wussten sie beide.

Die Worte wollten sie ersticken, schlugen ihr regelrecht um die Ohren, bevor sie Paiges Schuppen auf ihrem gesamten Körper zurück drängten und nur das Gefühl von Kälte in ihrem Innern zurück ließen.

„Dann...“

Erst als er sich wieder auf ihren Bauch gelegt und sein Gesicht ihrem Blick nicht mehr zugänglich war, versuchte sie sich zu äußern. Nicht etwa deshalb, weil sie es wollte, sondern weil Paige das Gefühl hatte zu dem Mühlrad, das er ihr auf die Brust gelegt hatte, etwas sagen zu müssen.

Doch außer diesem einen Wort schaffte sie nichts zu erwidern. Was hätte sie auch antworten sollen? Sie verstand eigentlich gar nicht alles, was er ihr gesagt hatte.

Der Sex war gut gewesen, doch er fühlte sich dabei, als würde er Marlene betrügen. Selbst die Tatsache, dass er ihr Zusammensein als völlig anders empfand, hieß nur, dass er Gefahr lief, seine Verbindung zu seiner Gefährtin im Nachhinein herab zu setzen.

Bedeutete alles Andere nur, dass er sich an ihr ausprobieren wollte? Bestimmt tat es gut den Tiger ohne Gefahr an die Oberfläche lassen zu können. Bei Paige hatte er nicht zu befürchten, dass er größeren Schaden anrichtete.

Er wollte nichts Halbes. Keinen Ersatz.

Aber etwas Anderes könnte sie doch nie sein. In einer Welt, die ohne Sonne in Finsternis getaucht war, konnte eine kleine Flamme nur Ersatz sein. Und wie Ryon schon sagte. Liebe würde er niemals für sie empfinden können.

Paige wunderte sich selbst über die automatische Geste, als sie mit ihrem Daumen unter ihrem Augenwinkel entlang strich. Ihre Wangen fühlten sich heiß an, als hätte sie Fieber. Irgendetwas glitzerte auf ihrer Fingerspitze, obwohl sich Paige das nicht recht erklären konnte.

„Weißt du, es ist ja nicht so, dass ... ich es nicht gewusst habe. Mir war von Anfang an klar, dass sie ... dass Marlene die Einzige für dich ist.

Dass sie es immer sein wird und du für niemanden je wieder etwas Ähnliches empfinden kannst. Du brauchst dir also keine Gedanken über mich zu machen. Ich...“

Innerlich schrie sie sich selbst an. Ja, sie hatte es gewusst. Und jetzt hatte sie nur zu hören bekommen, was ihr von Anfang an hätte klar sein sollen. Was konnte sie für ihn sein? Eine Gespielin vielleicht. So etwas wie eine Partnerin mit Bonusvorzügen.

„Es war dumm von mir anzunehmen, dass... Es reicht nunmal nicht aus, dass ich dich gern habe.“

Sie konnte ihn nicht zwingen.
 

Ryon schwieg sehr lange, während er über Paiges Worte nachdachte.

Sie hatte nicht verstanden, was er ihr sagen wollte. War es denn so abwegig? Waren seine Worte für sie so verworren, dass sie deren wahre Bedeutung einfach nicht verstehen konnte, selbst wenn sie wollte? Aber wenn das tatsächlich der Fall war, wie konnte er sie ihr begreiflich machen?

Nachdenklich nagte Ryon an seiner Unterlippe herum, eine Angewohnheit, die er schon sehr lange abgelegt zu haben glaubte. Offenbar ebenfalls ein Irrtum.

„Ich mache mir aber Gedanken um dich, Paige.“, begann er schließlich, um es in ihren eigenen Worten zu sagen.

„Es vergeht kaum eine Stunde, in der ich nicht an dich denke, ob du nun dabei bist oder nicht. Irgendwie kehren meine Gedanken immer zu dir zurück und warum sagst du, es würde nicht reichen, dass du mich gerne hast?“

Er richtete sich auf und sah sie leicht betroffen an.

„Das ist mehr als ich erwarten kann. Das ist mehr, als ich noch hoffen kann. Wie viel muss es denn noch sein, bis es ausreicht?“

Sanft strich er ihr über die Wange, fühlte die Hitze unter seinen Fingern und verlor sich beinahe im Anblick ihrer Augen.

„Paige… Ich habe dich auch gerne. Sehr sogar. Das ist für mich weit mehr, als alles, was mir in den letzten Jahren widerfahren ist. Ich weiß nicht, ob es für dich ausreicht, aber eines weiß ich ganz genau… Dass dieses Gefühl wächst, egal was bisher darauf herum getrampelt ist. Außerdem irrst du dich. Marlene ‚war‘ das Einzige für mich, bis sie mir entrissen wurde. Was jetzt noch davon übrig ist, hat nichts mehr mit dem Sonnenschein zu tun, den sie in mein Leben gebracht hat. Stattdessen sitze ich an einem kalten, finsteren Ort der Pein. Seit ihrem Tod ist es mir nicht gelungen, auch nur eine glückliche Erinnerung an sie in mir hervorzurufen.“

Er ließ den Kopf hängen, suchte verzweifelt nach den richtigen Worten, war sich aber immer noch nicht sicher, wie er es Paige begreiflich machen konnte.

„Seit ich dich kenne, Paige, bade ich immer seltener in dieser Finsternis und muss dabei erkennen, dass es in meinem Leben durchaus ein paar vereinzelt sonnige Orte gibt, die ich nur nicht erkennen konnte, weil ich zu sehr von Marlene geblendet wurde.“

Ryon ließ sich neben ihr in das Kissen sinken, immer noch seine Hände auf ihr, weil er den Kontakt einfach nicht abbrechen konnte.

„Außerdem… Ich will gar nicht so ähnlich für dich empfinden, wie für sie oder gar gleich. Du bist eine ganz andere Persönlichkeit. Du kennst mich als das was ich jetzt bin und damals garantiert nicht war. Wie könnte sich da etwas ähnlich sein? Wenn … dann wirst du verstehen müssen, dass es etwas völlig Neues ist. Ich kann’s nicht benennen. Es gibt so viele verschiedene Arten der Zuneigung, aber … es gehört dir. Dir ganz alleine und das würde ich auch als solches verteidigen… Immerhin tue ich das in diesem Augenblick schon vor dir. Du glaubst mir nicht oder kannst nicht verstehen, was ich dir zu sagen versuche: Ich will dich, Paige. Weil du mir etwas bedeutest, weil du mir gut tust, weil ich mir nicht mehr vorstellen kann, dich gehen zu lassen und weil du der Grund bist, warum ich mich besser fühle, nur wenn ich dich sehe und mir Sorgen mache, wenn es dir nicht gut geht.“

Er seufzte.

„Ich kann verstehen, wenn dir das nicht genügt und du lieber jemanden willst, der dir einfach sagt, dass er dich liebt und trotzdem hoffe ich…“

Nein. Er hatte genug gesagt.
 

Wieder hatte sie zugehört. Ihre Augen brannten und Paige hatte das Gefühl, die Müdigkeit der gesamten Welt würde sich mit einem Schlag auf sie legen, während sie versuchte Ryons Blick und seinen Worten stand zu halten.

Als er sich zu ihr legte, ruhten ihre müden Augen auf seinem Gesicht. Fasziniert und dennoch ein wenig skeptisch, lauschte sie den Worten, die seine Lippen formten und die zu ihren Ohren drangen.

Sie hatte verstanden. Zumindest hatte ihr Verstand seinen Ausführungen folgen können, auch wenn ihr Herz scheinbar unbeteiligt weiter in einem Takt schlug, der sich schmerzlich falsch und holprig anfühlte.

Als er zu Ende war, sah sie ihm weitere Atemzüge lang in die goldenen Augen. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, an dem sie gern etwas gesagt hätte. Diesmal allerdings war es noch schwieriger als zuvor. Ihr Gefühlsleben schien so schnell hin und her geworfen worden zu sein, dass Paige sich nicht sicher war, dass sie sich den letzten Teil nur eingebildet hatte.

Ihr Blick schweifte über ihren immer noch nackten Oberkörper hinunter. Traf auf Ryons Arm, der über ihren Bauch lag und sie mit einer Hand an ihrer Seite festhielt. Selbst die Wärme seiner Haut war in diesem Moment wie gedämpft durch das Chaos, das in ihr herrschte. Nicht einmal zu einer erkennbaren Miene, die man hätte interpretieren können, reichte ihre Kraft. Zumal sie sich immer noch nicht darüber im Klaren war, wie sie reagieren sollte.

„Du... hast mich gern.“

Es klang nicht wie eine Frage, denn das war es nicht. Vielmehr hauchte sie leise etwas, über das sie nachdenken musste. Wie die Vorgaben einer Rätselaufgabe, deren eigentliches Ziel sie noch nicht kannte.

So verwirrt hatte sich Paige einfach schon lange nicht mehr gefühlt. Zuerst Ryons Offenbarung über Marlene ... und jetzt...

Mit kühlen Fingern griff sie über seinen Arm hinweg nach der Decke, die vollkommen verknüllt mehr auf dem Boden als auf dem Bett hing und zerrte sie über ihren Körper. Während sie an einem kleinen Riss in der Ecke des Bezeugs herum spielte, versuchte sie nachzudenken. Er hatte sie gefragt, ob ihr das reichen würde.

Vermutlich würde es nie so weit kommen, dass Ryon ihr sagen oder zeigen konnte, dass er sie liebte. Selbst wenn es sich im Laufe der Zeit von seiner Seite zu so etwas wie Liebe entwickeln sollte.

Langsam drehte Paige den Kopf, um Ryon wieder anzusehen, der geduldig auf eine Reaktion von ihr wartete. Als sie in seine goldenen Augen sah, die kleinen blauen und grünen Flecken darin fand, waren ihre Gedanken wie ausgelöscht.

Paige musste sich nicht entscheiden. Sie hatte schon seit längerem gewusst, was sie wollte. Dass sie es haben konnte, wenn auch mit vielen Mühen und Abstrichen verbunden, ließ nur einen Weg offen.

Vorsichtig legte sie sich in die Kissen, ohne ihren Blick von Ryon zu lösen oder etwas zu sagen. Jede Antwort, die sich auf ihre Zunge schlich, schien nicht das auszudrücken, was sie sagen wollte. Immer schien ein erklärendes Element zu fehlen.

„Ich weiß nicht, ob es mir genügen wird.“

Ihre Stimme war so fest und klang so ehrlich und überlegt, dass sie es selbst kaum glauben konnte.

Was allerdings im nächsten Moment, in dem sie sich umdrehte, ihre Hand und ihre Stirn an seine Brust legte, sehr hilfreich war. So konnte er sie noch verstehen, obwohl die Müdigkeit sie, sobald sie die Augen schloss, zu übermannen drohte.

„Wir werden sehen.“
 

Erst als Paige in einem einzigen Satz zusammen fasste, was er ihr zu erklären versucht hatte, fühlte sich Ryon etwas beruhigt. Sie musste gar nicht wissen, ob es ihr genügte. Ihm reichte es schon, dass sie seine Worte, seine Entscheidung nicht von vornherein ablehnte. Das war mehr, als er erwarten konnte.

Paige klang müde, als sie sich schließlich an ihn schmiegte. Dass sie es von selbst tat, ließ ihn förmlich erleichtert aufatmen, als hätte er schon befürchten müssen, nach der ganzen Misere würde sie ihn meiden wollen. Doch sie tat es nicht und darüber war er tatsächlich wahnsinnig erleichtert.

Einen Moment lang blieb Ryon noch reglos liegen, ehe er sich ebenfalls mit einem Teil der Decke bedeckte, seinen Arm um Paiges Schultern legte und sein Kinn sanft an ihren Kopf legte. Seine Hand streichelte über ihr Haar und den zarten Nacken, während er sich gar nicht mehr sicher war, ob sie überhaupt noch etwas davon mitbekam.

„Das werden wir.“, flüsterte er ihr leise zu, denn da war er sich sicher. Genauso wie er sich selbst versprach, alles zu geben, um es für Paige ausreichend zu machen. Selbst wenn es das Letzte sein würde, was er noch tat, bevor der böse Hexenzirkel gewann. Sollte dieser überhaupt gewinnen, immerhin würden sie lange noch nicht klein bei geben. Aber das hatte auch noch bis morgen Zeit.

Zwar schloss Ryon ebenfalls die Augen und versuchte zu schlafen, aber es war aussichtslos. Er war so voller Energie, wie schon lange nicht mehr und in seinem Kopf kreisten noch immer die vielen Worte, die gesagt worden waren. Er kam garantiert nicht zur Ruhe. Aber das musste er auch gar nicht. Immerhin musste er die Zeit ohnehin nutzen, die er ungestört nachdenken konnte, ehe sich die Ereignisse überschlagen würden.

Allerdings lauschte er lange einfach nur Paiges Atemzügen, während er sie immer noch vollkommen gedankenverloren streichelte.
 

Draußen nieselte es wieder leise, während das Licht, das durch das Fenster fiel grau und trostlos wirkte. Es war nebelig und daran konnte auch die aufgehende Sonne nicht sehr viel ändern.

Ryon wachte aus keinem bestimmten Grund auf, außer vielleicht dem, dass er es ohnehin zu nicht mehr als einem Dösen gebracht hatte. Weshalb er auch sofort hellwach war. Sein Blick durchstreifte das gemietete Zimmer, glitt über die fremden Möbel, die etwas fade wirkende Einrichtung und deren gewöhnlicher Eindruck. Alles war ruhig, nur draußen bellte irgendwo ein Hund, ansonsten waren sie auch weiterhin vollkommen ungestört.

Schließlich blieb seine Aufmerksamkeit auf der Mappe mit den Bildern hängen, die bei seiner Ankunft noch auf dem Boden herum gelegen hatten und erinnerten ihn daran, dass das Chaos und die sich überschlagenden Ereignisse noch lange kein Ende hatten. Vielleicht war das auch erst nur der Anfang davon.

Wenn es Paige besser ging und sie sich bereit dazu fühlte, es wieder mit ihren anderen Problemen aufzunehmen, würde er mit ihr über die Dinge sprechen müssen, die sie heraus gefunden hatte und jene die ihm selbst widerfahren waren. Die Geschichte mit der Schwester des Duftspenders würde er gerne auslassen, aber irgendwie musste er ihr auch erklären, weshalb plötzlich ein zweijähriges Mädchen bei ihnen die bunt zusammen gewürfelte Familie aufmischte.

Wie es wohl der kleinen Mia erging? Tyler würde sich sicher gut um sie kümmer, immerhin wäre sie nicht das erste Kleinkind, mit dem er zurecht kommen musste. Dennoch, Ryon vermisste das Mädchen und den Duft nach heißem Karamell schon jetzt irgendwie. Sie wieder zu Amelia zurück zu bringen, würde ihm sehr schwer fallen…

Seufzend schmiegte er sein Gesicht in Paiges weiches Haar und zog sie etwas näher an sich heran, so dass er ihren Atem auf seiner nackten Haut spüren konnte. Wenigstens eines musste er nicht hergeben und das würde er auch niemals freiwillig.
 

Paige konnte sich nicht erinnern jemals so tief und traumlos geschlafen zu haben. Sie erwachte mit leicht pelzigem Mund und Augenlidern, die ihr so vorkamen, als wären sie blau und so geschwollen, dass sie sie nicht öffnen konnte. Schon bei dem ersten Versuch – der absolut fehlschlug – gab sie ein kleines Murren von sich und versuchte anschließend lieber wieder in den Schlaf zurück zu kehren. Aber sie war eindeutig zu langsam gewesen. Denn ihr Körpergefühl funktionierte schon so weit wieder, dass sie jedes Zerren und unangenehme Drücken an ihren Muskeln wahrnehmen konnte.

Das Schmerzmittel war einerseits bestimmt der Grund, warum es sich so anfühlte, als hätte ein Hamster auf ihrer Zunge genächtigt, andererseits könnte sie das durchaus noch eine Weile ertragen, wenn ihr Körper sich dann nicht so anfühlen würde, als hätte sie zehn Runden in einem Käfigkampf durchgestanden.

Trotz der, im Gegensatz zu gestern, noch leichten Schmerzen, freute sich Paige aber sehr darüber ihr Körpergefühl wieder ganz wiedergewonnen zu haben. So spürte sie nämlich nicht nur die Decke auf sich, sondern auch Ryons warmen Körper.

Er war also noch da.

Da sie sich im Schlaf noch nicht einmal sonderlich bewegt zu haben schien, wirkte die Tatsache, dass er sie im Arm hielt, noch unwirklicher. Hatte das Gespräch – oder vielmehr Ryons erzähltes Geständnis – denn tatsächlich stattgefunden? Hatte er ihr gesagt, dass er sie wollte?

Und noch viele andere Dinge.

Paige lag absolut still da und versuchte über ein paar Sachen, die sie erfahren hatte, noch einmal nachzudenken. Sie für sich selbst zu ordnen, damit sie in einer einigermaßen vernünftigen Weise damit umgehen konnte.

In der letzten Nacht, nach dem völlig unerwarteten Sex, hatte er sie kalt erwischt. Nicht nur dadurch, dass er ihr gestanden hatte, dass es wohl noch eine Weile dauern würde oder vielleicht sogar nie soweit kam, dass er es in vollen Zügen genießen konnte. Wie sie bei der nächsten Versuchung damit umgehen sollte, darüber konnte und wollte sich Paige jetzt noch gar keine Gedanken machen. Es hätte wahrscheinlich nur dafür gesorgt, dass sie sich selbst dafür tadelte, dass sie es in der vergangenen Nacht sehr wohl bis zum Höhepunkt genossen hatte. Zweimal sogar.

Wieder ein leises Murren, was ihr aber auch nicht weiter half. Irgendwie würde sie mit all dem umgehen müssen.

'Alles eins nach dem Andern.'

Ein schöner Spruch. Und diesmal würde ihr auch nichts Anderes übrig bleiben. Die ganze Sache mit Ryon – das was zwischen ihnen war – würde schwierig werden. Vermutlich für sie beide. Aber man musste Rom ja nicht an einem Tag erbauen.

Mit einem tiefen Atemzug schlug Paige schließlich ein Auge auf. Sie blinzelte und drüchte ihre Nase noch einmal gegen Ryons warme Haut, sog tief seinen Geruch und die Wärme ein, die sie so mochte und hauchte einen Kuss auf seinen Oberarm, auf dem ihr Kopf gebettet lag, bevor sie zu ihm aufsah.

„Guten Morgen. Du siehst so aus, als wärest du schon zwei Stunden joggen gewesen.“

Ihre Stimme war kratzig vom Schlafen und bestimmt half der Hamster, der sich immer noch an ihrer Zunge festhielt nicht dabei, es besser werden zu lassen. Paige ließ auch offen, ob ihr Kommentar nun ein Kompliment oder eine tendenziell andere Andeutung gewesen war. Er sah einfach so müde aus, wie sie sich trotz der Stunden Schlaf fühlte.

Als sie ihn auf die Nasenspitze küsste, strichen ihre Füße seine Beine entlang nach unten und Paige stellte mit einem mitleidigen Blick fest, dass das Bett nicht nur verdammt schmal, sondern auch zu kurz für seine Körpergröße war.

„Wird Zeit, dass wir zurück nach London kommen.“, meinte sie völlig ernsthaft, während ihre Zehen mit seinen spielten und sie einen Arm auf seine Seite legte.

Noch etwas, worüber sie sich noch keine Gedanken gemacht hatte. Auch besser so, denn sobald sie auch nur den Hauch einer Vorstellung davon aufbaute, wie es nun sein würde in sein Haus – nein. In seines und Marlenes Haus! - zurück zu gehen, wurde ihr ganz unwohl.

Würde es seltsam werden?

In Ryons Augen wollte sie die Zukunft lesen. Paige wollte wissen, ob sie sich darauf gefasst machen musste, dass er sie in diesem Haus, das einmal als das seiner kleinen Familie erbaut worden war, nicht so behandeln konnte, wie er es jetzt tat. Würden sie vor Tyler und Tennessey und auch vor Ai so tun, als wären sie immer noch nur Partner?

Sie fand die Antwort nicht in seinen goldenen Augen, aber zumindest beruhigte der Anblick Paige etwas und ließ ihre Sorgen weniger schnell in ihrem Kopf rotieren.
 

Als Paige das erste Mal ein Murren von sich gab und danach wieder völlig still war, vermutete Ryon, dass sie wieder eingeschlafen war, weshalb er auch nichts sagte, sondern wieder seinen eigenen Gedanken nachhing. Davon gab es ja inzwischen genug. Vor allem, da er in der letzten Stunde langsam aber sicher einen Entschluss gefasst hatte, den er unter den gegebenen Umständen wirklich sehr genau durchdenken musste. Immerhin, wie würde Paige darauf reagieren und wie genau sollte er es ihr beibringen?

Im Augenblick stand das alles noch in den Sternen und wurde auch zur Seite geschoben, als sich die Frau in seinen Armen erneut rührte und schließlich zu ihm hoch blickte.

Ihr Anblick ließ sein Herz mit einem Mal schneller schlagen und es lag bestimmt nicht nur an seiner übermäßigen Ansammlung von Energie gestern Nacht, dass ihm noch immer der ganze Körper dabei kribbelte.

„Und du siehst wunderbar aus.“, hauchte er ihr leise zu, während er seine Stirn an ihre legte und ihre Zehen miteinander spielten. Ryon strich ihr zerzaustes Haar Strähne für Strähne glatt und meinte jedes Wort so ernst, wie es sich angehört hatte. Paige sah wunderbar aus. Die verwuschelten Haare, die kleinen müden Augen mit dem Schlafzimmerblick und diese Lippen…

Einen Moment lang schloss er die Augen und rief sich zur Ordnung. Das gestrige Gespräch war ein Anfang gewesen und hatte sicherlich einige Barrieren aus dem Weg geräumt, aber eben nicht alle, weshalb er es nicht überstürzen sollte.

Aber Ryon war nun einmal ein Mann. Einer der nackt in einem Bett lag, mit einer wunderschönen nackten Frau im Arm und mit einer immer noch sexuellen Anspannung, die fast einer Folter glich. Man sollte es ihm also nachsehen, dass er einen Moment lang bei Paiges Anblick nur an das eine denken konnte.

Da ihm dadurch nicht wirklich etwas einfiel, was er tun oder sagen könnte, um noch etwas länger ihren Pflichten zu entgehen, außer etwas zu kuscheln, was ihn sicher noch wuschiger machen würde, setzte er einfach auf das Nächstbeste, das ihm in den Sinn kam.

„Soll ich uns ein Bad einlassen?“

Angesichts der Tatsache, dass sie gestern ganz schön schweißtreibenden Sex hatten und Paige ja eigentlich noch immer mit den Nachwirkungen ihres Experiments zu kämpfen hatte, erschien ihm das als ein angemessener Vorschlag. Außerdem könnte er sich dann ihre Verletzungen noch einmal in einem anderen Licht ansehen und die Wärme würde ihren zerschundenen Muskeln sicher gut tun.
 

Paige quittierte seine charmante Lüge mit einem Lächeln und schloss noch einmal kurz die Augen, während sie Ryons Finger in ihrem Haar spürte.

Wäre das Bett nur etwas gemütlicher gewesen, hätte sie es sehr lange hier mit ihm aushalten können. Ein Tag mit Ryon im Bett... Frühstück, Tee, kuscheln und ein paar andere Dinge...

Ihre Mundwinkel hoben sich, während ihr Daumen sanft über seine Haut strichen. Ja, das könnte ihr durchaus gefallen. Einen Tag lang Zeit zu haben, einfach gar nichts tun zu müssen, außer sich gegenseitig und die Zeit miteinander zu genießen.

Gerade wollte sie wieder die Augen öffnen, um ihn anzusehen und ihn zu fragen, ob er eigentlich Cartoons mochte, als er ihr seinen Vorschlag unterbreitete.

Zuerst schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass sie möglicherweise zu zweit keinen Platz in der Wanne haben würden. Immerhin musste es für Ryon allein schwierig genug sein jemals ein Bad zu nehmen, bei dem ihm das Wasser bis zum Kinn ging. Andererseits hatte sie sich selbst völlig untertauchen können.

Für einen Moment, in dem die Zeit sich zu verlangsamen schien, wurden Paiges Augen leer. Sie schlug sie zwar auf, konnte aber nichts weiter sehen, als das Zwielicht unter der ruhigen, mit schwarzen Schuppen bedeckten Wasseroberfläche. Ein paar Luftbläschen, die vor ihr aufstiegen und von denen sie wusste, dass sie aus ihrem eigenen Mund gekommen waren.

Ein wenig erschrocken, aber entschlossen blinzelte sie die düsteren Erinnerungen an ihren Kampf aus ihrem Kopf und sah stattdessen in Ryons goldene Augen. Ihr Blick wurde schlagartig sanft und warm. Anders hätte sie gar nicht gekonnt.

„Das ist eine schöne Idee. Ich hab auch ein bisschen Badezusatz dabei.“

Als er sich von ihr löste, fiel ihr nur einmal wieder der Wärmeunterschied und die Kühle auf, die die Abwesenheit seines Körpers an ihrem hinterließ. Noch ein Grund, warum sie ihn am liebsten für ein paar Stunden – oder noch besser: ein paar Tage – nicht losgelassen hätte.

Mit den interessierten Augen einer Frau, besah sich Paige Ryons breiten Rücken und zog sich die Decke bis zu ihren schmunzelnden Lippen hinauf, als er aufstand, um ins Bad zu gehen. Bis jetzt hatte sie seinen Hintern nur in Hosen gesehen und gestern das Glück gehabt, ihn ein wenig anpacken zu dürfen. Aber ansehen war auch alles Andere als schlecht. Durchaus etwas, in das sie bei anderer Gelegenheit gern einmal ihre Zähne gedrückt hätte. Oder lieber daran lecken wie an einem leckeren Bonbon?

Ein wenig peinlich berührt, musste sie grinsen, als sie bemerkte, dass Ryon durchaus klar war, dass sie ihn und einen besonderen Körperteil von ihm anstarrte.

„Das wird nicht das einzige Mal sein, du musst also nicht stehen bleiben.“

Mit einer scherzhafen Geste forderte sie ihn dazu auf, ins Bad zu gehen und das zu tun, was er vorgehabt hatte. Auch wenn ihnen beiden durchaus klar sein musste, dass sie dann immer noch nackt zusammen sein würden. Eine Weile länger in der sie sich betrachten konnten.
 

Ryon stand nicht nur deshalb als Erstes auf, um ihnen das versprochene Bad einzulassen, sondern auch, weil er noch ein paar diverse Kleinigkeiten beseitigen wollte, die Paige gestern bestimmt nicht aufgefallen waren, als sie sich dort drin angezogen hatte.

Zum Glück war sie gestern wohl ziemlich erledigt gewesen, so dass sie auf den schwachen Brandgeruch gar nicht aufmerksam geworden war.

Gut, dass sie einen Badezusatz dabei hatte, der den Gestank locker überdecken würde und um den Rest hatte er sich schon fast ganz gekümmert.

Da er keine Ahnung hatte, wo sich im Augenblick seine Shorts befanden, ging Ryon mit nackten Fußsohlen und so wie Gott ihn schuf über den kühlen Dielenboden.

Der Schauer, der ihm dabei über den Rücken lief, konnte ihm gar nicht entgehen und als er sich leicht nach Paige umdrehte, war ihm auch klar, was ihn ausgelöst hatte.

Paige sah ihn auf eine Weise an, die ihm die Nacktheit seiner derzeitigen Lage eigentlich noch schlimmer erscheinen lassen hätte müssen, doch stattdessen wurde ihm heiß, sein Bauch kribbelte und ja, er genoss es, von ihr angesehen zu werden. Der Tiger räkelte sich förmlich für sie in seinem Kopf, doch alles was er ihm geben konnte, waren Paiges Worte. Sie hatte recht. Das würde nicht das einzige Mal sein, also drehte er sich langsam wieder um und verschwand im Badezimmer, um alle Spuren auf das Experiment restlos zu beseitigen.
 

„Darf ich?“

Nachdem sie auf ihr leises Klopfen an der Badezimmertür keine negative Antwort bekommen hatte, schob Paige sie ein Stück auf und steckte ihren Kopf in den inzwischen recht anheimelnd riechenden Raum. Schaum türmte sich so hoch auf dem immer noch einlaufenden Wasser, dass Ryon mehr oder weniger den gesamten Inhalt ihrer Probepackung in die Wanne geschüttet haben musste. Was ihr aber genauso gefiel, wie sein leicht prüfender Blick, der von seinem Werk zur Tür und wieder zurück wanderte.

Was er die ganze Zeit hier gemacht haben konnte, mal von dem abgesehen, was man morgens normalerweise im Bad tat, sah sie gerade daran, dass sie nichts sah. Das Bad glänzte mehr, als es das bei ihrer Ankunft getan hatte. Weder an der Wanne, auf dem Boden oder sonst irgendwo waren Spuren von dem zu erkennen, was noch vor zwei Nächten in diesem Raum passiert war.

Mit einer Hand vor ihrer Brust zusammen gehalten, zerrte sie das Leintuch wie eine Schleppe hinter sich her ins Bad und schloss die Tür hinter sich.

Mit wenigen Schritten war sie bei Ryon und schlang einen Arm um ihn, bevor sie ihre Wange an seine Brust schmiegte.

„Vielen Dank.“

Es beinhaltete so viel und konnte wahrscheinlich besser ausdrücken, was sie empfand, als jede noch so lange Erklärung. Ryon hatte ihr geholfen das Monster in ihrem Innern loszuwerden, hatte ihr das Leben gerettet und sich dann auch noch darum gekümmert, dass keine Spur dieses Kampfes zurück blieb. Wenn jemand verstehen konnte, dass sie mit dieser Erinnerung so frisch noch nicht zurecht gekommen wäre, dann er.

Aber das war nicht alles, was sie mit ihrem Dank meinte. Auch wenn es schwierig werden würde. Wenn Paige ihre anerlebten Sorgen auch ihm gegenüber nicht einfach abschütteln konnte. Es war dennoch schön, dass er sie wollte. Und dass er ihr zumindest das ohne Probleme sagen konnte. Zu was es sich entwickeln würde – ob sie überhaupt die Zeit bekamen, es zu irgendetwas wachsen zu lassen – das stand in den Sternen. Aber bereits in diesem Moment fühlte es sich gut und richtig an. Das war alles, was Paige im Augenblick dazu brauchte, um glücklich zu sein. Und sie hoffte so sehr, dass es Ryon ähnlich ging.
 

Gerade als er den Müllbeutel mit den verbrannten Schuppen und den Haufen voller schwarzgefärbter Handtücher in den kleinen Schrank unter dem Waschbecken verstaut hatte, hörte er Paiges Klopfen.

Er richtete sich rasch auf, ging zu der sich langsam füllenden Badewanne hinüber und hielt prüfend die Hand hinein, um überflüssigerweise die Temperatur erneut zu kontrollieren. Es war angenehm oder zumindest für Paige würde es das sein. Ihm kam es eher lauwarm vor. Doch das machte nichts.

Da er nicht dazu gekommen war, etwas auf ihr Klopfen zu erwidern und sie sich somit selbst einließ, erwischte sie ihn gerade bei einem weiteren prüfenden Blick durch den Raum.

Alles war blitzblank geputzt. Das war es gestern auch schon gewesen, nur jetzt schien noch nicht einmal ein überflüssiges Staubkörnchen herum zu liegen. Sicher war eben sicher.

Paige kam so rasch auf ihn zu, dass er noch nicht einmal die Zeit hatte, den Ausdruck ihrer Augen zu ergründen, stattdessen war sie auch schon bei ihm … an ihm.

Ryon schlang seine Arme um sie und schwieg. Ihr Dank hatte genug ausgedrückt, um ihm verständlich zu machen, dass sie sehr wohl wusste, was er hier getrieben hatte, doch das war egal, solange sie nicht sehen musste, was er gesehen hatte. Ihm wurde immer noch schlecht, wenn er daran dachte, was er ihr hatte antun müssen. Doch obwohl es notwendig gewesen war, wollte er es wieder gut machen. Wieder und wieder, bis er es sich selbst verzeihen konnte. Denn im Augenblick kam er nicht darüber hinweg.

Sanft glitten seine Hände nach einer Weile der angenehmen Stille zu ihren Schultern. Ryon lehnte sich etwas zurück, damit er Paige in die Augen sehen konnte, während er zärtlich ihre beiden Hände in die seinen nahm und schließlich von dem Laken löste, damit es mit einem leisen Rascheln zu Boden gleiten konnte.

„Es ist angerichtet.“, verkündete er gedämpft und mit einem Blick der besagte, dass im Augenblick die Welt untergehen könnte und es würde ihn nicht kümmern. Hier bei ihnen zählten nun nur noch sie beide und vor allem hatten sie Zeit. Kostbare Zeit die sie nicht verschwenden sollten.

Wie um seinen Worten Nachdruck zu verleihen, küsste er eine ihrer Hände, ehe er sich zuerst in das schäumende Wasser gleiten ließ, nur um dann Paige dabei zu helfen, sich zu ihm zu gesellen.

Da es anhand der Drei-Sterne-Badewanne etwas eng war, versuchte Ryon für Paige so eine Art lebende Sitzmöglichkeit darzustellen. Sein Körper rahmte den ihren ein und da er sich ohnehin genauestens ihre Verletzungen an den Schultern ansehen wollte, bot es sich an, dass sie sich mit dem Rücken gegen seine Brust lehnte.

„Ist das Wasser so angenehm für dich?“

Ryons Arme schlangen sich um Paiges nackten Oberkörper, während er einen Moment lang sein Gesicht an ihr Haar schmiegte. Er hätte sie fressen können, so gut duftete sie für ihn, aber das sollte er sich wohl für ein Andermal aufheben.
 

Mit ihrem rechten Zeigefinger hob sie ein Schaumkrönchen auf Ryons nacktes Knie, das neben ihr aus dem Wasser schaute. Überhaupt hatte er sich recht zusammen falten müssen, damit sie gemeinsam in die kleine Wanne passten und trotzdem noch etwas Wasser erhalten blieb.

„Ja, sehr angenehm.“

Durch Ryons Körper in ihrem Rücken und seine Arme, die sich um sie schlossen, war ihr auf jeden Fall nicht zu kalt.

Sanft zeichnete sie um das Bisschen Schaum auf seiner Haut einen kleinen Kreis und stupste so lange an den Seifenblasen herum, bis sie verschwunden waren und Platz für einen neuen Versuch gemacht hatten.

„Ich spiele gern.“, meinte sie ein wenig erklärend.

„Meine Mutter hat früher gesagt, dass ich mit allem spielen kann. Ob mit Essen oder dem Abwasch. Wenn ich Zeit und Muße habe, tue ich das gern.“

Mit einem entspannten Seufzer ließ sie sich noch ein bisschen tiefer gegen Ryons Brust sinken und zeichnete nun Schlangenlinien sein Bein hinunter, soweit bis sie unter Wasser auf seine Hüfte stieß. Dann wieder zu seinem Knie hinauf.

„Um ehrlich zu sein, bin ich noch ein bisschen kaputt von ... dem Ganzen.“

Was sie nun genau meinte ... das Experiment, den Sex, das Gespräch ... oder einfach alles zusammen, sprach sie nicht definitiv aus, denn sie wusste es selbst nicht.

„Am liebsten würde ich zwei Tage lang schlafen. Vorhin habe ich mir überlegt, dass ich gern ein paar Tage mit dir im Bett verbringen würde. Du weißt schon: Zusammen frühstücken, sich unterhalten, Cartoons und DVDs sehen.“

Das Wasser plätscherte leise, als sie sich ein wenig drehte, um zu ihm aufsehen zu können.

„Und was man eben sonst noch so im Bett tut.“
 

Mit geschlossenen Augen, dem Kopf im Nacken und mit leichten streichelnden Bewegungen seiner Daumen, ließ sich Ryon von Paige förmlich verwöhnen. Das was sie als Spiel bezeichnete, war für ihn so viel mehr als das. Er schnurrte beinahe vor Wonne, genoss er es doch so sehr, wie sie ihn einfach nur berührte ohne irgendwelchen erkennbaren Absichten. Zugegeben, jedes Mal wenn sie der Stelle seiner Hüfte nahe kam, ging ein spannungsgeladenes Knistern durch seinen Körper, aber er fühlte sich im Augenblick so wohl und leicht träge, dass es auszuhalten war.

Zufrieden und gleichzeitig sehr aufmerksam hörte er Paiges Worten zu. Wie sie über ihre Mutter sprach, von der er nichts wusste oder von den Dingen, die sie anscheinend zu mögen schien und von denen er ebenfalls absolut keine Ahnung hatte. Wie wenig er doch von Paige wusste!

„Du meinst also: Lesen, Kissenschlachten, sich gegenseitig die Bettdecke wegnehmen. Solche Sachen?“

Mit noch immer geschlossenen Augen verzog sich sein Mund zu einem leicht amüsierten Lächeln. Das was so locker und scherzend über seine Lippen kam, war nichts zu den Bildern, die da hinter seinen Augenlidern aufflammten, wenn Paige auch nur erwähnte, dass sie ein paar Tage zusammen in Bett verbringen sollten.

Selbst jetzt hatte er das Gefühl, ihre gemeinsame Begegnung von letzter Nacht wäre erst vor wenigen Minuten vorbei. Immer noch konnte er ihren Duft in seiner Nase spüren, wie sie sich unter seinen Händen angefühlt hatte und es immer noch tat. Ihre Schuppen auf seiner Haut und um seinen…

Ryon biss sich leicht auf die Unterlippe, ohne aufzublicken, obwohl Paige sich vermutlich gerade zu ihm herum gedreht hatte. Der Bewegung nach würde er das zumindest vermuten. Aber wenn er sich nicht zusammenriss, dann würde seine ganz persönliche Peepshow Wirkung zeigen und das wäre im Augenblick nicht unbedingt fair gewesen.

„Ich befürchte, in London wirst du allerdings kein Schlafzimmer finden, in dem auch ein Fernseher steht. Würdest du dich mit einer riesigen Couch, einer großen Portion Eis und Naschsachen auch milde stimmen lassen?“

Sich vorzustellen, mit Paige faul vor dem Fernseher herum zu hängen und sich Cartoons rein zu ziehen hatte etwas … völlig Unbekanntes an sich. Ryon sah nie fern und die Zeit, in der er sich noch für Cartoons begeistert hatte, lag weit bis ins Kleinkindalter zurück. Aber vielleicht wusste er auch gar nicht, was ihm entging.
 

Sein Lächeln ließ Paiges Herz für einen Moment aufgeregt flattern. Ob Ryon es nun wusste oder nicht. Der Anblick war immer noch so neu und fühlte sich für sie so besonders an, dass sie meistens zweimal hinsah. Was aber nur bedeutete, dass sie sich dann umso mehr darüber freuen konnte, dass sie ihn tatsächlich lächeln sah. Die winzige Andeutung eines Grübchens würde sich bestimmt zu einer liebenswerten Besonderheit steigern, wenn er einmal lachte.

Bis jetzt hatte Paige sich nie Gedanken darüber gemacht. Seit sie Ryon kannte waren sie in wenigen Situationen gewesen, die Lachen angebracht, wenn vielleicht auch wünschenswert gemacht hatten. Sie entdeckte diese Seite an ihm wahrscheinlich genauso offen und fasziniert wieder, wie er selbst. Paige würde sich niemals vorstellen können, wie man überleben konnte, während man jahrelang ohne Lachen auskam.

„Ja, genau das meinte ich. Schlafen nicht zu vergessen.“

Mit einem kleinen Kuss auf eben dieses Grübchen, das sich nun wieder neben seinem Mundwinkel versteckte, kuschelte sie sich in ihre bequeme Ausgangsposition zurück.

„Eigentlich liebe ich es gerade dann Cartoons zu sehen, wenn ich gerade vorm Eindösen bin. Aber wenn die Couch riesig genug ist, um darauf einzuschlafen,dann kann ich mich darauf einlassen, denke ich.“

Während sie weiter Kreise mit ihren Fingern auf seinen Knien, Beinen und bis auf seine Arme zog, dachte sie an Paris zurück, wo sie Ryon eine Praline vom Frühstücksteller geklaut hatte.

„Stehst du denn auf Süßigkeiten? Ich meine, wer tut das nicht? Aber ich meine, bist du ein echter Naschkater?“

Wie passend das wäre, brachte sie albern zum Schmunzeln. Paige selbst mochte Schokolade und ihr fiel etwas ein, das sie Ryon unbedingt einmal zeigen musste, wenn er wirklich auf Süßes stand. Eine Köstlichkeit, die seine Naschseite mit ihrem Spieltrieb paaren könnte.
 

„Wenn du willst, kannst du überall eindösen, wo dir gerade danach ist. Ich werde schon dafür sorgen, dass du am Ende immer im Bett landest.“ Besser gesagt, in seinem eigenen.

Der Gedanke nicht mehr alleine zu schlafen, war ebenso absurd, wie der Gedanke es ohne Paige zu tun. Irgendwie schien beides angebracht und doch wieder nicht passend zu sein. Das verwirrte ihn und brachte Ryon dazu, diesen Gedanken fallen zu lassen.

Stattdessen öffnete er die Augen und richtete sich etwas auf, um an das Haarshampoo zu kommen, das er wohlweislich nicht unweit der Wanne abgestellt hatte.

Ohne zu fragen, da er ohnehin kein Nein akzeptiert hätte, durchnässte er Paiges Haare vollkommen, ohne dass sie Wasser ins Gesicht bekam und verrieb dann eine gute Menge Shampoo zwischen seinen Handflächen. Er verteilte die Flüssigkeit zuerst in ihrem Haar, ehe er mit sanften Bewegungen damit begann, ihre Kopfhaut systematisch und mit aller Zeit der Welt zu massieren.

„Früher einmal mochte ich alles, was schmilzt. Eis, Schokolade, Sahne, Mousse… Alles was einem schier auf der Zunge oder … der Haut zergeht.“

Diese Vorliebe hatte sich natürlich auch mit seinen ganzen anderen Vorlieben in Luft aufgelöst, als nichts mehr ihm Freude bereiten konnte. Er aß, weil er es musste, nicht, weil er es genießen würde, obwohl er früher ein regelrechter Gourmet gewesen war, der nicht alles aß, was nach Essen aussah.

„Und du? Mopst du gerne anderer Leute Essen? Oder bin ich da die Ausnahme?“, fragte er neckend und kein bisschen böse. Eigentlich hatte er es damals in Paris ganz nett gefunden, wie sie sich an seinen Süßigkeiten vergriffen hatte. Denn das war es doch, woran sie eben gedacht hatte, oder?
 

Paige ließ sich sehr gern die Haare von ihm waschen. Es entspannte sie nur noch mehr und so wie Ryon sich dabei anstellte, hätte er stundenlang so weiter machen können. Sie selbst war in Massagen die totale Niete. Da stand ihr ihre mangelnde Geduld meistens einfach viel zu sehr im Wege. Eigentlich unfair, wenn man bedachte, dass sie das hier gerade so sehr genoss. Aber eben auch deswegen, weil sie währenddessen noch etwas Anderes tun konnte oder zumindest könnte.

Vielleicht brachte Ryon noch ganz andere Seiten an ihr zum Vorschein, als sie vermutete. Selbst wenn es für den Anfang nur die Geduld war ihm irgendwann etwas Ähnliches wie eine ausgiebige Massage zu Teil werden zu lassen.

„Oh, verstehe...“

Paige stellte sich seltsamer Weise ohne das geringste Fünkchen Eifersucht vor, wie Ryon und Marlene früher Nächte vor dem Kühlschrank verbracht hatten. Nicht nur, um sich gegenseitig zu zeigen, was das Eisfach hergab, sondern auch, was das für Spaß mit sich bringen konnte.

Vielleicht machte ihr gerade diese Vorstellung deshalb nicht so viel aus, weil Paige so etwas noch nie versucht hatte. Bei ihr hatte es Lebensmittel noch nie in einer Fülle gegeben, dass sie sich solcherlei Spielchen hätte erlauben können. Alles, was der Kühlschrank hergab, wurde aus Hunger gegessen.

„Nein, Mundraub ist nicht eins meiner Hobbies. Früher war es mal nötiger Broterwerb, aber das ist glücklicher Weise schon etwas länger vorbei.“

Sie wollte die Stimmung mit dieser kurzen Andeutung nicht herunter ziehen. Aber dass es ihr auch vor Ais Auftauchen nicht sonderlich gut ergangen war, musste Ryon ebenfalls klar sein.

„Als Hobby würde ich eigentlich nur das Singen bezeichnen. Auch deshalb mag ich den Job im 'Fass'.“

Ihr kam ein Gedanke, den sie sich erst auf der Zunge hin und her rollen ließ, bevor sie ihn schließlich doch leise und vorsichtig aussprach.

„Ich würde gern zur Weihnachtsfeier gehen. Wenn bis dorthin alles durchgestanden ist, meine ich. Die Leute sind meine Freunde. Und es wäre schön, mal wieder ausgelassen und albern zu sein.“

Und albern konnte man bei der Weihnachtsfeier im 'Fass' sehr gut sein. Es wurde gesungen, Musik gemacht, getrunken, getanzt und viel gelacht. Völlig harmlos und dennoch immer wieder ein Highlight des Jahres.
 

Während Ryon gespannt Paiges Erzählungen zuhörte, wanderten seine Hände in ihren Nackenbereich, um dort jeden noch so kleinen verspannten Muskel zu bearbeiten, auch wenn das dem Haarewaschen nicht unbedingt diente. Aber wenn er schon einmal dabei war, dann wollte er auch unbedingt weiter machen.

„Du hast recht Paige. Die Zeiten, in denen du dir um Essen sorgen machen musstest, sind vorbei. Für immer.“

Er hatte es leise gesagt, ernsthaft und mit einem Versprechen in seiner Stimme. Selbst wenn der unwahrscheinliche Fall eintreten sollte und aus ihnen beiden nichts wurde, würde er sie doch niemals in das Leben zurück schicken, aus dem sie gekommen war. Das könnte er einfach nicht.

Um jedoch wieder zu einem erfreulicheren Thema zu wechseln, ging er auf die Weihnachtsfeier im ‚Fass‘ ein.

„Natürlich kannst du zu der Weihnachtsfeier gehen, wenn alles vorbei ist. Immerhin bist du frei und kannst tun und lassen was du willst.“

Ryon wäre der letzte, der Paige von etwas abhalten würde, das sie glücklich machte. Obwohl er sich natürlich schon fragte, was für Freunde das waren und ob man dieses nagende Gefühl im Bauch einen Anflug von Eifersucht nennen konnte?

Er würde gerne mitkommen. Zwar nicht als Anstandsdame, aber es würde ihn zumindest beruhigen. Seine Besitzansprüche auf eine Frau waren da sehr viel ausgeprägter, als die menschlicher Männer. Auch wenn er sich Paige natürlich nicht aufdrängen würde. Es war ihre Entscheidung, wen oder ob sie überhaupt jemanden dazu mitnehmen würde.

Während Ryon sich soweit und so vorsichtig es ging, mit seinen Händen bis zu Paiges Schulterblättern hinab arbeitete, grübelte er eine Weile still vor sich hin. Es war alles noch so neu und immer hatte er das Gefühl vorsichtig vorgehen zu müssen, was auch immer er tat. Vielleicht lag es auch einfach nur an seiner Unsicherheit in diesen Dingen. Es war schon lange her und Lenn war nicht Paige gewesen. Was ihm bei seiner verstorbenen Gefährtin geholfen hätte, könnte sich bei seiner dämonischen Freundin ganz schön in ein Fettnäpfchen umwandeln. Zum Glück wollte er Paige vollkommen neu kennen lernen mit all ihren Seiten. Sein Wissensdurst über sie würde nie versiegen.

„Da hast gesagt, du singst gerne…“, begann er zögerlich, während seine Hände inne hielten. Noch einmal ließ er sich seinen Gedanken durch den Kopf gehen, ehe er sich vor beugte und ganz dicht an ihr Ohr flüsterte: „…würdest du etwas für mich singen?“
 

Wenn das so weiter ging, würde Paige wirklich das Bedürfnis bekommen, sich nach der Wanne sofort wieder ins Bett zu legen. Das heiße Bad und noch dazu Ryons Finger, die inzwischen vorsichtig aber angenehm wirkungsvoll ihre Nackenmuskeln durchkneteten...

Obwohl ihr ein paar der eingeseiften Haarsträhnen ins Gesicht fielen, lehnte sie dennoch ihren Kopf ein wenig nach vorn, damit Ryon mehr Platz hatte. Die Tatsache, dass er sich wegen ihrer Verletzungen nur sehr sanft um ihre Verspannungen kümmerte, machte das ganze sogar noch schöner. Es hatte etwas von einer ausgiebigen Schreicheleinheit, die Paige mehr genoss, als Ryon sich vorstellen konnte. Wer hätte denn gedacht, dass er einmal so mit ihr umgehen würde? Paige hätte nie geglaubt, dass er je den Wunsch danach hegen würde. Aber die Überraschung war sehr erfreulicher Natur.

„Die Weihnachtsfeier würde dir sicher auch gefallen.“, sagte sie leise und die Entspannung zeigte sich hörbar auch in ihrer Stimme.

„Ursprünglich hatte Marv es mal so geplant, dass nur die Belegschaft nach Ladenschluss ein bisschen feiern kann. Aber im Laufe der letzten vier Jahre hat es sich ausgewachsen. Das Fass wird schon gegen 22Uhr für die normalen Gäste geschlossen und es bleiben nur die Angestellten und deren Freunde.“

Das reichte allerdings auch, um den Laden voll zu machen. Die Stimmung war jedes Mal ganz anders als im normalen Betrieb, da jeder sich mehr oder weniger selbst bediente, es leckeres Essen auf einem Buffet gab und ein paar der Bedienungen auch zum Unterhaltungsprogramm beitrugen.

„Es hat etwas von einer großen Familie. Die Leute sind wirklich nett.“

Hoffentlich durfte sie überhaupt noch an der Feier teilnehmen. Immerhin war sie einfach verschwunden, ohne Bescheid zu geben oder auch nur zu sagen, dass sie in nächster Zukunft nicht mehr zum Dienst erscheinen würde. Paige war eine gute Bedienung, aber jeder konnte ersetzt werden.

Aber die Chance blieb, dass Jazz ihrem Chef gesagt hatte, dass sie nicht für immer verschwunden bleiben würde... Nur bis alles erledigt war und die Wogen sich geglättet hatten.

Paiges Blick hatte sich auf ihre Fingerspitzen geheftet, die wieder auf Ryons Oberschenkel lagen. Jazz... Sie hatte gar nicht mehr an ihn gedacht in dem ganzen Durcheinander, ihrer Abwesenheit aus London und ... dem hier. Ein wenig reumütig dachte sie daran, wie fies sie sich fühlen würde, wenn sie den Barkeeper bei einer Gelegenheit wie dieser Feier vor vollendete Tatsachen stellte.

Mal vorausgesetzt, dass alles gut lief und sie in dieser gar nicht mehr all zu fernen Zukunft überhaupt noch irgendetwas tun konnte.

Ihre Gedanken wurden trüber, bis sie Ryon an ihrem Ohr spürte und seine Frage unschuldig und doch so aufreibend in ihr Gehirn drang.

Paige richtete sich wieder ganz auf, strich sich die Haare so gut es ging aus dem Gesicht und drehte sich ein wenig zu Ryon um. Es war bereits ein körperliches Bedürfnis ihn sofort auf diese reizenden schmalen Lippen zu küssen, sich in den Anblick der goldenen Augen versinken zu lassen...

Ihre Stimme war leise, aber klar. Bei der Akustik des Badezimmers musste sie sich nicht anstrengen. Ihre Gesang wurde von selbst verstärkt und von den Fliesen zurück geworfen. Paige hatte gar nicht darüber nachgedacht, was sie ihm vorsingen sollte. Ob es zu kitschig oder romantisch oder einfach nur zu viel sein könnte. Es war eben eins der Lieder, die sie gern sang. Nur mit Klavierbegleitung oder eben allein.

Glücklicher Weise war ihre Reaktion so spontan gewesen, dass sie sich keine allzu großen Gedanken darüber machte, was sie gerade tat. Dass sie hier in einer Badewanne mit Ryon zusammen saß und ihm ein eindeutiges Liebeslied vorsang.

Dennoch spürte sie, wie sie leicht rot anlief, als die letzten Noten in dem Raum kurz widerhallten und dann wieder nichts zwischen ihnen war. Ein wenige fühlte es sich so an, als würde sie nun auf das Urteil einer Jury warten. Noch dazu einer, deren Urteil Paige mehr wert war, als die eines riesigen Publikums.
 

Obwohl Paige ihn ansah und er wusste, was gleich kommen würde, trafen ihre wohlklingenden Worte, die Melodie darin und der wunderschöne Klang ihrer Stimme ihn völlig unvorbereitet.

Ryon hatte das Gefühl, jeder einzelne Buchstabe und jeder Ton würde sich tief bis in die kleinsten Moleküle seines Körpers hineinschleichen, nur um dort immer wieder bei jeder Oktave vibrierend zu erklingen.

Warme Glückschauer durchfluteten ihn, hypnotisierten ihn regelrecht, während er nicht fähig war, Paiges Blick auszuweichen. Was er auch gar nicht gewollt hätte.

Erst als Stille sich wieder über den vorhin noch so erfüllten Raum legte, kam Ryons Verstand langsam wieder in die Gänge. Einen Moment lang war er fast sogar verwirrt, als hätte er eben noch geträumt und wäre gerade ziemlich schnell daraus erwacht, bis ihm wieder Paiges Gesang und seine Bitte danach einfiel.

Sie sah ihn an, als schien sie auf etwas zu warten. Ein Urteil vielleicht, aber das konnte ihr Ryon im Augenblick nicht geben. Seine Kehle war wie zugeschnürt, kein Ton käme ihm im Augenblick über die Lippen, da er noch immer mit halben Fuß in diesem Rausch steckte. Noch nie, wirklich noch nie hatte jemand so für ihn gesungen. Dabei war seine Mutter eine geborene Gute-Nachtlied-Sängerin. Aber selbst das war nur ein Schatten zu dem, was Paige gerade in ihm ausgelöst hatte.

Er fühlte sich vollkommen von ihr bezirzt, als wäre sie eine Sirene.

Langsam, als er wieder die Kontrolle über seine Muskeln zurück erlangte, stahl sich ein sanftes Lächeln auf seine Lippen. Es war mehr, als Paige jemals zu sehen bekommen hatte und doch lange nicht genug, um das auszudrücken, was nun in seinem Inneren lautstark sang.

Ryon strich Paige die Haare noch weiter aus dem Gesicht, damit ihr kein Shampoo in die Augen gelangen konnte. Danach beugte er sich zu ihr vor, hielt sie mit seinem eigenen Blick förmlich gefangen, ehe er sie küsste. Zärtlich zwar, aber mit einer deutlichen Intensität darin, die sein Feedback auf ihren Gesang stark wiederspiegeln sollte. Er konnte gar nicht anders. War es doch so viel besser gewesen, als sein Schnurren es jemals könnte.
 

Ihr Herz wollte sich vor Erleichterung und anderen Gefühlen am liebsten überschlagen. Sie war so ... glücklich.

Als sie sich wieder von einander lösten, streichelte Paige mit ihrem Daumen über die Stelle über Ryons linkem Mundwinkel, wo er ihr noch einmal dieses kleine Grübchen gezeigt hatte. Um es öfter zu sehen, hätte sie gesungen, bis sie heiser war.

Obwohl sie ihn liebend gern noch weiter geküsst hätte, war diese verdrehte Haltung auf die Dauer zu unbequem. Also drehte sie sich wieder so, dass sie mit dem Rücken an ihm lehnen konnte.

Paige nahm seine Hände und legte seine Arme so um ihren Körper, dass sie sich eine Weile einfach an einander festhalten konnten. Warum sie Lust dazu verspürte, wusste Paige selbst nicht. Noch nie war sie jemand gewesen, der sich beschützen ließ. Immer war sie auf eigenen Beinen gestanden und hatte sich beweisen wollen, dass sie niemanden brauchte.

Warum sich das gerade jetzt ansatzweise zu ändern schien, war ihr fast ein wenig unheimlich. Nun ja, sie wollte ja auch nur, dass er sie ein wenig festhielt. Das hatte noch nicht zu bedeuten, dass sie nicht weiter auf eigenen Beinen stehen konnte.

„Ich weiß, ich bin ein Spielverderber. Aber was hältst du davon, wenn wir uns aus der Wanne schälen und irgendwo was frühstücken, bevor wir nach England zurück fliegen?“
 

Ryon hatte absolut nichts dagegen, einfach eine Weile nur still dazusitzen und Paige im Arm zu halten. Nach den Gefühlen, die sich da immer mehr in ihm zu drehen begannen, war es sogar genau richtig so. Jeden Moment mit Paige wollte er auskosten und dass es dabei nicht nur um Sex ging, war klar. In seinem Fall sogar noch klarer, weil das ein Thema war, mit dem er sich noch beschäftigen musste, um es für sie beide erfüllender zu machen.

Doch das hier, kuscheln, sich gegenseitig Wärme schenken und zärtlich sein, das fühlte sich gut und richtig an und war für ihn auch nicht länger schwierig. In Ägypten war es das vielleicht noch gewesen, aber je mehr er sich mit seinen tiefsten Problemen beschäftigte, umso mehr schien sich davon aufzulösen. Vielleicht würde eines Tages kaum noch etwas von den alten Wunden zu sehen sein, außer gut verheilter Narben vielleicht. Er hoffte es zumindest.

„Ich bin auch dafür, dass wir uns trocken legen. Schrummpelfinger waren noch nie etwas, das ich gerne an mir erlebt hätte.“

Damit nahm er seine Arme von Paige, um das Shampoo aus ihren Haaren zu spülen. Ein ausgiebiges Frühstück wäre jetzt wirklich genau das richtige. Er war verdammt hungrig.

41. Kapitel

Da Ryon im Augenblick der Kopf von ganz anderen Dingen schwirrte, als der Hexenzirkel, das Amulett und die Bedrohung dadurch, vermied er das Thema auch weitestgehend. Zumindest vorerst wollte er nicht mit Paige oder jemand anderen darüber reden. Weshalb das Frühstück und der Flug mit belanglosen Gesprächen angefüllt waren.

Schon am Flughafen hatte er Tyler angerufen, damit dieser sie wieder mit einem Leihwagen abholen kam, während sie sich noch um Paiges Gepäck kümmerten.

Schon bei der Begrüßung durch seinen Freund wurde offensichtlich, dass Ryon sich wieder stark zurück hielt. Oder eigentlich gar nicht zurück halten musste, wenn es nach ihm ging. Es gab kein herzliches Hallo und schön dich wiederzusehen. Zumindest nicht von seiner Seite her.

Natürlich war es nicht so, dass er auf seine beiden Freunde sauer gewesen wäre, weil sie ihn mit dieser Rehabilitierungsmaßnahme so eiskalt erwischt hatten. Nein, das nicht. Viel mehr fiel es Ryon einfach nicht leicht, die jahrelang angewachsene Distanz zwischen seinen Freunden und sich zu überbrücken. Bei Paige war es etwas anderes. Sie bedeutete ihm sehr viel und obwohl sie sich sicherlich unter besseren Umständen hätten kennen lernen können, so hatte er doch nicht das Gefühl, als würde im Augenblick etwas zwischen ihnen stehen.

Es war leicht, sich ihr gegenüber natürlich zu geben. Umso schwieriger war es aber, das auch bei Tyler zu tun. Doch zum Glück schien seine Reserviertheit seinen Freund nicht abzuschrecken. Er war gutgelaunt wie immer und wenn Ryon auch nur noch irgendeinen Blick für so etwas in der Art übrig gehabt hätte, wäre ihm sofort dieses kleine verräterisch zufriedene Grinsen in Tylers Gesicht aufgefallen. So aber, entging es ihm vollkommen.

Umso dankbarer war Ryon jedoch für Tylers fröhliches Geplapper, das ihn davon abhielt, selbst irgendetwas sagen zu müssen. Stattdessen blickte er gedankenverloren aus dem Fenster. Es war noch immer trostlos draußen, aber bereits die ersten Sonnenstrahlen kämpften sich ihren Weg durch die dichte Wolkendecke.

Vielleicht sollte er es heute Nacht tun…
 

Ryon hatte ihr die Tür aufgehalten und Paige war hinten in den Wagen gestiegen, während er selbst auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte. Das war ihr auch lieber so, als alle anderen Varianten, die ihr in den Sinn gekommen wären.

Sie war schon seit ihrer Ankunft auf dem Flughafen sehr still geworden. Was nicht primär daran lag, dass sie sich unwohl fühlte. Paige war einfach nervlich völlig angespannt. Auf dem Weg von der Gepäckabholung zum Ausgang hatte sie sich bereits wie auf dem roten Teppich gefühlt, wo sie einen Prominenten als neue Eroberung begleitete. Die wenigen Augenblicke, die sie brauchten um Tyler zu sehen, der den Wagen direkt vor dem Ausgang geparkt hatte, waren eine echte Qual gewesen.

Und danach?

Die beiden Männer hatten sich begrüßt wie immer. Aufgeräumt und abgeklärt, als wären sie wirklich kaum mehr als Butler und Herr. Und obwohl Paige wusste, dass das nicht stimmte, beunruhigte es sie nicht sonderlich. Es war nun einmal so und sie hatte immer noch keine Ahnung, was zwischen Ägypten und dem Augenblick, in dem Ryon vor ihrer Tür in Dublin aufgetaucht war, mit ihm geschehen war.

Allerdings vermutete sie sehr stark, dass Tyler und auch Tennessey etwas mit seiner Veränderung zu tun hatten. Darauf deutete auch der Blick hin, mit dem der Rothaarige Ryon kurz bedachte. Es lag mehr darin als der leicht amüsierte Ausdruck, den Tyler oft zu Tage trug.

Wenn ihr nicht bald jemand reinen Wein einschenkte, würde Paige vor Neugierde vermutlich demnächst platzen.

Doch auch auf der Autofahrt hörte sie nur, wie gut es Ai ging, dass sie sich alle schon gewundert hatten, ob Paige tatsächlich zurück kommen würde und dass alles in Ordnung sei.

„Von Langeweile kann ja im Moment auch keinesfalls die Rede sein.“, meinte Tyler mit einem Augenzwinkern, das Paige im Rückspiegel sehen konnte.

Sie sah nur fragend zurück.

Sie tauschten sich – wenn auch nur oberflächlich – darüber aus, wie es Paige ging, was sie in Dublin getan hatte und ob sie auch genug gegessen hatte.

„Keine Sorge, Tyler. Ich freue mich schon seit unserem Abflug auf das Abendessen. Deine Kochkünste haben mir sehr gefehlt.“
 

Wieder war es so, dass Paige nervöser wurde, je näher sie dem Haus kamen. Ihre Augen huschten von ihrem Seitenfenster zur Windschutzscheibe, legten sich auf Ryons Nacken und wanderten zurück auf die Einfahrt, die sie wahnsinnig schnell zur Haustür brachte, wo Tyler den Wagen schließlich zum Stehen brachte.

Paige schlug das Herz so stark im Hals, dass sie kaum schlucken konnte. Das Einzige, woran sie denken konnte, war, wie sie sich um Himmels willen bloß verhalten sollte. Im Moment zitterten ihre Finger leicht bei dem Gefühl am liebsten nach Ryons Hand zu greifen und sich doch nicht zu trauen.

Was, wenn er sie einfach wegschubsen würde wie eine lästige Fliege?

Naja, vielleicht nicht so krass, aber... Es war ihr Haus. Die Präsenz war fast mit Fingern zu greifen.

„Katse!“

Ein begeistertes Quietschen ließ Paige hochschrecken. Sie blieb wie angewurzelt stehen und sah nicht einmal Tennessey oder Ai, die ebenfalls lächelnd aus der Tür getreten waren. Ihr Blick klebte allein auf dem süßen, blonden Mädchen, das die Arme nach Ryon ausgestreckt hatte und ihm begeistert entgegen lachte, während er auf sie zuging.

Paige sah, wie er das Mädchen auf seinen Arm hob, wie sie sich an ihn kuschelte und sich in seinen Haaren festhielt. Wie sie ihn immer wieder auf ihre zum Dahinschmelzen süße Art 'Katse' nannte.

„Das ist Mia. Sie wohnt bei uns, seit... Ja, fast seit dem Tag, an dem er allein aus Ägypten nach Haus gekommen ist. Die beiden kennen sich schon eine Weile.“

Paige lächelte Tyler an, der in seiner gewohnt unauffälligen Art neben ihr aufgetaucht war.

„Ich weiß.“, sagte sie leise. Paige wäre nicht so gut in ihrem illegalen Job gewesen, wenn sie das Mädchen nicht wieder erkannt hätte. Die Kleine aus der Gruppe von Kindern, die Ryon am Samstag besucht hatte. Sie mochte Schoko- und Vanilleeis und hatte selbst ein Lachen, das die Pole hätte schmelzen können.

„Na, dann steh hier nicht so in der Kälte rum, sondern lass' uns rein gehen.“

Sie schien bei dem Anblick vergessen zu haben, dass sie das überhaupt vorgehabt hatten. Ryon war inzwischen einige Schritte voraus und schon fast durch die Tür, während Ai nun auf ihre Freundin zukam und sie umarmte.

„Schön dich zu sehen.“

Paige drückte Ai so fest an sich, wie sie es konnte, ohne ihr weh zu tun.

„Ebenfalls. Ich hab dich vermisst. Sehr vermisst. Euch beide.“

Mit einem freundlichen Lächeln streichelte sie kurz über Ais Bauch. Dann warf sie einen verstohlenen Blick auf Tyler, der immer noch neben ihr stand, dessen Augen aber nur voller Liebe für Ai glitzerten.

Alles so, wie es sein sollte.
 

Erst als Mia seinen ‚Namen‘ rief, realisierte Ryon überhaupt, dass sie schon da waren und seine Füße ihn schon längst aus den Wagen steigen hatten lassen. Sofort war es, als wäre sein Kopf wie blank gewischt. Da war der blonde Sonnenschein und es … ließ sich nicht in Worte fassen.

Wie zwei stark anziehende Magneten, kam Ryon schnurgerade auf das kleine Mädchen zu, hob sie hoch und vergrub sein Gesicht in den kurzen blonden Löckchen die so wunderbar nach Karamell dufteten, dass er mit einem Mal entsetzliches Heimweh bekam. Nach einem Zuhause, das sich auch so anfühlte. Nach Frieden, der immer mal wieder Langeweile mit sich brachte und dem Glück, einfach nur auf dieser Welt zu sein. Ja, er hatte entsetzliches Heimweh und das würde sich leider auch noch eine ganze Weile so hinziehen. Wenn es überhaupt jemals vorbei sein würde.

Eine Weile vergaß er alles um sich herum, bis auf den kleinen, zerbrechlichen Körper, an seinem. Doch schließlich holte ihn die Realität wieder ein, weshalb er den Griff um Mia noch einmal entschlossen erneuerte und sich schließlich samt dem Mädchen und den Anderen zurück ins Haus begab. Tennessey nickte er lediglich zur Begrüßung zu, während er Ai freundlicher aber nicht weniger kurz bedachte, immerhin hatten sich die beiden Freundinnen schon eine Zeit lang nicht mehr gesehen und er wollte dem nicht im Wege stehen.
 

In der großen Eingangshalle verkündete Tyler, dass es sich mit dem Essen noch etwas hinziehen würde, also sollten sie sich ruhig erst einmal von der Reise erholen und richtig ankommen.

Ryon hatte nichts dagegen, da er Mia wirklich sehr vermisst hatte und ohnehin noch etwas Zeit für sich brauchte. Paige würde es mit Ai sicherlich kaum anders gehen und alles andere hatte bis nachher auch noch Zeit. Also trat er samt Mia an Paige heran, berührte mit einer Hand ihre Wange, während er sich zu ihr hinab beugte, um ihr leise etwas zuzuflüstern.

„Wir sehen uns später, Paige. Du hast sicher ein paar Fragen…“

Mia kicherte, als er sich wieder aufrichtete und sie kurz mit einem freundlichen Blick bedachte. Danach drehte er sich, ohne auf die anderen zu achten, um und ging mit der Kleinen davon.
 

„Wenn du noch selbst gefälliger grinst, frisst du am Ende noch deine Ohren, Tennessey.“, bemerkte Tyler spöttisch, während Ryons Schritte auf dem Marmorboden verklangen.

„Ach, was. Als würdest du dir nicht selbst auf die Schultern klopfen.“, brummte der Doc und machte ebenfalls die Fliege, allerdings in eine vollkommen andere Richtung.

Tyler drehte sich daraufhin lächelnd zu den beiden Damen herum.

„Ladys, darf’s ein kleiner Snack sein, oder soll ich mich ebenfalls verkrümmeln?“
 

„Warum hast du dich gar nicht gemeldet? Ich hab mir schon Sorgen um dich gemacht, Paige.“

Irgendwie war es dazu gekommen, dass sie Tylers nettem Angebot zugestimmt hatten und in die Küche gegangen waren, um einen Tee zu trinken und Scones mit Sahne dazu zu essen.

Dabei zupfte Paige die meiste Zeit nur an ihrem Teigstückchen herum und trank einen Schluck Tee, während sie gleichzeitig versuchte Ais Fragen zu beantworten und selbst ein wenig nachzudenken. Und das alles, ohne sich zu große Sorgen zu machen.

Ja, sie hatte Fragen...

„Ich hab...“

Mit forschenden Augen sah sie von ihrem Teller mit dem völlig zerlegten Scone in Ais Gesicht. Dann wandte sie sich kurz zur Küchenzeile, an der Tyler stand und gerade über die Arbeitsfläche wischte. Eigentlich wollte sie vor ihm nicht erzählen, was passiert war. Zumindest bestimmt keine Einzelheiten. Dafür kannte sie ihn einfach nicht gut genug. Und allein dass Ryon es wusste und Ai es gleich erfahren würde, war ihr unangenehm genug.

Andererseits würde Tyler ohnehin nicht verstehen, wovon sie sprach.

Als ihr Blick wieder den ihrer Freundin traf, holte Paige tief Luft.

„Zuerst habe ich versucht etwas über die Ausgrabungsstätte in Ägypten heraus zu finden. Über die Bilder an der Wand, die ich gesehen hatte. Ryon und ich wollten ein bisschen mehr darüber heraus finden, aber ich bin ein bisschen stecken geblieben mit meinen Nachforschungen. Und dann... Ich bin krank geworden...“

Ais elegant geschwungenen Augenbrauen kräuselten sich zu einer skeptischen Miene. Natürlich wusste sie, dass Paige sich gemeldet hätte, wäre sie nur mit einer Erkältung oder leichten Grippe im Bett gelegen.

Aber wie viel durfte sie Ai erzählen? Bestimmt war ihr inzwischen klar und sie hatte mit den beiden Männern ausgiebig darüber diskutiert, dass Ryon und Paige keine Urlaubsreisen unternahmen, sondern dass es damit etwas Schwerwiegendes auf sich hatte. Dass sie selbst noch nicht genau wusste, w i e schwerwiegend, machte kaum einen Unterschied.

„Die Bilder haben die Geschichte einer dunklen Bedrohung dargestellt. Sie kamen mir von Anfang an bekannt vor. So, als hätte ich nicht genau dieses dunkle Wesen schon einmal gesehen, aber vielleicht etwas sehr Ähnliches.“

„Was für eine Krankheit war das, Paige?“

Ais Stimme war leise, aber eindringlich. Außer ihr schien im Raum um die beiden Frauen herum gar nichts mehr zu existieren.

„Dad's Krankheit. Es war dem so ähnlich, was er erschaffen hat... Ich wollte... Es war dumm, aber ich wollte sicher sein.“

Eine fallende Stecknadel wäre so laut gewesen wie ein einstürzendes Haus. Paige konnte beim besten Willen nicht noch einmal von ihren Fingern aufsehen, die sich um den Rand des filigranen Tellers geschlossen hatten.

Scham brannte auf ihren Wangen. Und da war auch noch Furcht, dass sie es trotz allen positiven Anzeichen nicht ganz überstanden hatte. Vielleicht wiegte sie das Ding nur in Sicherheit, um noch einmal zuzuschlagen. Und dann endgültig.

„Und bist du sicher?“

Mit vielen Reaktionen hätte sie in diesem Moment gerechnet. Mitleid, Entsetzen, Vorwürfe, aber diese einfache Frage? Paige war so überrascht, dass sie genauso direkt antwortete.

„Darüber hab ich noch gar nicht nachgedacht. Ich...“

„Du warst zu beschäftigt damit nicht an dem zu krepieren, was du dir verabreicht hast.“

Die ruhige Feststellung war ein größerer Schlag ins Gesicht, als wenn Ai sie angeschrien hätte oder ausgeflippt wäre. Noch dazu wussten sie beide, dass sie ins Schwarze getroffen hatte.

Völlig unerwartet schlossen sich warme Arme um ihren Körper und Ais lange schwarze Haare ergossen sich über Paiges Schulter, als die Asiatin sich zu ihr beugte, um sie in den Arm zu nehmen.

„Und wann in dem ganzen Schlamassel hast du festgestellt, dass du bis über beide Ohren verliebt bist?“
 

Sie saßen geschlagene zwei Stunden in der Küche und kauten alles durch. Tyler hatte sein Talent genutzt und war bereits vor der geringsten Erwähnung irgendwelcher Gefühlsthemen aus dem Raum verschwunden und weder er noch irgendjemand anders hatte sich bis jetzt gezeigt.

Paiges Wangen glühten und ihr klebte ein wenig Salz in den Augenwinkeln, als sie sich nun aber wirklich zum letzten Mal ein Taschentuch nahm, um sich die Nase zu putzen.

Zu einer endgültigen Lösung waren sie nicht gekommen. Es gab nunmal keine Weisheit, die sich einfach auftat und einem das absolut Richtige präsentierte.

Aber das hatte sie schon vorher gewusst. Bloß nicht, dass es sie so auflösen würde mit Ai über alles zu sprechen. Darüber, was zwischen Ryon und ihr passiert war. Was sie sich erhoffte, was noch passieren würde. Und wie viel Angst ihr dieses Haus und die darauf lastende Vergangenheit machte.

Immerhin hatte er sie sofort stehen lassen. Die kleine Mia hatte nicht einmal Paiges Namen erfahren, bevor die beiden verschwunden waren. Ja, mit der Voraussicht, dass sie sich irgendwann später unterhalten würden.

Paige wollte gar nicht wirklich darüber nachdenken, wo ihr Gepäck nun stand. Da Tyler nichts ahnen konnte, bestimmt in dem Gästezimmer, das Ai und Paige sich am Anfang geteilt hatten. Inzwischen würde es Paige allein gehören...

„Würdest du bitte den Kopf nicht so hängen lassen? Das passt gar nicht zu dir.“

„Ich weiß...“

Paige blickte hoch und lächelte leicht, während sie ihre Taschentücher zusammen suchte und aufstand, um sie in den Mülleimer zu werfen.

„Keine Sorge, ich fang mich gleich wieder. Es war einfach alles ein bisschen... viel auf einmal.“

Aber das Gespräch hatte ihr geholfen eine paar Gedanken zu ordnen. Sich selbst darüber bewusst zu werden, was realistische Wünsche waren. Auch wenn das nicht unbedingt Paiges Stärke war... Realismus.

Aber dafür hatte sie nunmal so eine gute Freundin.
 

Während Ryon neben Mia auf dem Boden des Kinderzimmers lag und ihrer kleinen Faust dabei zu sah, wie sie den blauen Buntstift über einen großen Bogen Papier führte, gingen auch seine Gedanken verschlungene Wege, so wie die eigensinnigen Linien, Kreise und Muster die sie da malte. Sie murmelte beständig unverständliche Worte vor sich hin, während sie ab und zu um seine Aufmerksamkeit bat, ehe sie sich erneut auf ihr Werk konzentrierte.

Die Linienführung war mit der Zeit fast schon hypnotisierend und erleichterte es ihm förmlich, seine Gedanken zuzulassen, so schwer es ihm auch fiel.

Ryon hatte letzte Nacht eine Entscheidung getroffen, die, sofern er sie auch durchzog, alles verändern könnte und hoffentlich auch würde. Doch er würde erst wissen, ob es funktionierte, wenn er … dort war… An jenem Ort, den er nie wieder besucht hatte.

Sein Seufzen war lang und tief und brachte Mia völlig aus dem Konzept. Weshalb sie die Buntstifte weg legte und stattdessen auf seinen Rücken kletterte. Allerdings nicht, um ihn als Pony zu benutze, sondern um sich dort an ihn zu kuscheln. Wieder murmelte sie etwas Unverständliches, aber es hatte irgendwie etwas Tröstendes an sich.

Geschlagen vergrub er sein Gesicht in den Armen und seufzte ein weiteres Mal gedämpft. Paige würde es hoffentlich verstehen und hatte sie nicht selbst gesagt, dass sie gerne einmal ein paar Tage im Bett verbringen wollte? Bestimmt konnte ihr Tyler einen Fernseher samt Anschluss ins Zimmer stellen, damit sie ihre Cartoons sehen konnte. Außerdem hätte sie so auch die Möglichkeit, sich von ihrem Experiment noch weiter zu erholen und auf andere Gedanken zu kommen.

So gesehen, wäre es eine gute Sache, bis auf die Tatsache, dass er gehen musste, ohne dass er ihr sagen könnte, wohin. Das brachte er einfach nicht fertig, egal wie oft er das Gespräch auch in Gedanken durchging. Es war eine Sache, mit der er erst alleine zurecht kommen musste.

„Ach, Mia. Du hast ja keine Ahnung, wie sehr ich dich manchmal beneide.“

„Stimmt schon. Ihre Schönheit hast du nicht gerade und ich hätte auch nicht gedacht, dass du es genießen würdest, jeden Tag von Männern verwöhnt zu werden. Schreib doch mal einen Wunschzettel für dein nächstes Leben, ja? Vielleicht wachst du eines Tages als Männerschwarm auf.“

Ryon hob finster den Blick und sah zur offenen Tür. Tyler lehnte sich breit grinsend dagegen und hatte diesen triumphierenden Blick drauf, da er Ryon wieder einmal überrascht hatte. Sich so an ihn heran schleichen, konnten nur die wenigsten. Sein Freund gehörte eindeutig dazu.

„Hast du noch nie etwas von Anklopfen gehört?“

Leicht mürrisch richtete er sich auf und griff nach der halb dösenden Mia, die heute wohl noch nicht ihren Mittagsschlaf gehabt hatte.

„Kommt darauf an, was ich hinter den Türen zu hören bekomme. Ich dachte, schweres Seufzen und leises Kindergebrabbel kann nicht so schlimm sein, wenn ich da hinein platze. Eigentlich wollte ich sowieso nur sagen, dass das Essen fertig ist. Also, wenn du dich lieber in Wehmut ertränkst, nehme ich die kleine Lady mit, damit sie wenigstens anständig was zu essen bekommt. Die Kleine hat immerhin einen ganz schönen Appetit drauf.“

„Pass auf, dass sie bei deinem Essen nicht solche Rettungsringe ansetzt wie Tennessey.“, war alles was Ryon darauf noch kommentierte, da er sich sicherlich nicht vor Tyler für sein Verhalten rechtfertigen würde, obwohl er sehr deutlich riechen konnte, wie neugierig der Rothaarige war. Vermutlich weil Ryon nach der Rehabilitierung so schnell abgehauen war, dass seine Freunde das Versuchsobjekt nicht lange genug beobachten konnten. Die Genugtuung würde er ihnen aber auch weiterhin nicht geben. Auch wenn er ihnen eigentlich dankbar sein sollte. Das war er aber noch immer nicht.

„Keine Sorge, im Gegensatz zum Doc schläft sie nachts, anstatt sich am Kühlschrank zu vergreifen. Aber irgendwie erinnert mich das an noch jemanden…“

„Worauf willst du hinaus, Tyler? Das letzte Mal, als du mich mit den Fingern in der Keksdose erwischt hast, hatte ich noch nicht mal Bartwuchs, also such dir jemand anderen, über den du lästern kannst.“

Tyler hob beschwichtigend die Arme, ehe er sie vor seiner Brust verschränkte.

„Mann, sind wir heute wieder gut gelaunt. Aber glaub ja nicht, dass ich dich deshalb schonen werde. Wenn du stinksauer bist, ist mir das tausend Mal lieber, als wenn dir alles am Arsch vorbei geht. Vergiss das nicht und gewöhn dich schon mal dran, dass deine Freunde dich wieder in ihre Scherze mit einbinden werden. Ob du willst oder nicht, du kannst nicht mehr in dein Zombiedasein zurück. Also gewöhn dich schon mal daran, wieder etwas mehr Humor in dein Leben zu lassen.“

Ryon schenkte seinem Freund einen finsteren Blick, schwieg aber, als er mit Mia im Arm an ihm vorbei ging.

„Siehst du? Genau das meine ich. Wenn du nicht ohnehin schon so stinkreich wärst, würde ich für deinen Gesichtsausdruck bezahlen!“

Natürlich wusste Ryon worauf sein Freund hinaus wollte. Jede gefühlsmäßige Reaktion, mochte sie noch so schlecht sein, war besser, als dieses gefühllose Nichts, das noch vor Kurzem sein ganzes Wesen beherrscht hatte. Eigentlich konnte er es seinem Freund nicht verdenken, dass er mehr davon sehen wollte. Aber er sollte es bloß nicht zu weit treiben, was er ihm schließlich auch sagte.

Vorerst gab Tyler schließlich Ruhe, da er ganz zufrieden mit sich selbst schien und sich schließlich wieder auf das Abendessen konzentrierte, das noch darauf wartete, angerichtet zu werden.

Die Zeit lief Ryon davon. Das spürte er sehr genau. Nach dem Abendessen und nachdem er Mia ins Bett gebracht hatte, wollte er mit Paige reden. Zuerst einmal sollte er ihr erklären, weshalb Mia hier im Haus war. Dabei musste er ihr auch mitteilen, dass er in ihrer Abwesenheit erneut auf ihren Feind gestoßen war und schließlich kam das Schwerste. Er würde ihr sagen müssen, dass er ein paar Tage lang wegging, ohne das sie wissen durfte, wohin. Das durfte niemand…
 

Tyler war zurück gekommen, um das Abendessen zu kochen. Die beiden Frauen hatten ihm noch eine Weile Gesellschaft geleistet und sich darüber unterhalten, was während Paiges Abwesenheit im Haus vor sich gegangen war. Darüber, was Mia für ein liebes und fröhliches Mädchen war. Und sogar recht unkompliziert zu handhaben, wenn man ihre Herkunft bedachte und was sie in ihrem kurzen Leben bereits mitgemacht haben musste.

„Sie spricht noch nicht besonders viel. Aber mit ihrem einnehmenden Charakter kann sie auch so vermitteln, was sie möchte.“

Paige musste lächeln, als sie Ais glänzende Augen sah. Ihre Freundin konnte es offensichtlich kaum noch erwarten, dass es bei ihr selbst so weit war.
 

Das Essen war gelaufen wie immer. Tyler hatte den Großteil der Konversation bestritten und alle Anderen hatten mehr oder weniger oft eingehakt.

Ryon war still gewesen.

Er hatte die Runde genauso sehr ignoriert, wie sonst, wenn sie zusammen gegessen hatten. Etwas, das Paige ziemliche Magenschmerzen bereitete. Denn eigentlich hätte sie die Tatsache, dass jetzt sehr viel hinter seinen Augen vor sich ging, irgendwie beruhigen müssen. Aber das tat es absolut nicht.

Er sah sie kaum an, sagte fast nichts und aß Tylers leckeres Essen weiterhin so, als hätte es genauso gut aus Pappmaché sein können.
 

Nach dem Essen sprang er mehr oder weniger vom Tisch auf und nahm Mia mit sich, um die Kleine ins Bett zu stecken.

Paige kam sich so vor, als würde er nicht nur vor ihr flüchten, sondern auch mit aller Gewalt verhindern wollen, dass Paige näheren Kontakt zu Mia hatte. Warum das so war, konnte sich Paige nicht erklären. Wollte sie auch gar nicht. Denn sobald sie auch nur nach dem Ansatz für eine Erklärung suchte, hätte sie schon wieder heulen können.

Also half sie stattdessen beim Abwasch und ging dann in ihr Zimmer, um sich bequeme Sachen und dicke Socken anzuziehen.

Wie bereits am Vormittag besprochen, würde sie nur im Wohnzimmer mit ihrer Suche nach einem Fernseher Erfolg haben. Weshalb sie ihr Weg auch dort hin führte.
 

„Hey...“

Paige ließ sich auf das äußerste Eck des Sofas gleiten. Ein Stück von dem Punkt entfernt, an dem Ryon vor dem Kamin auf dem weichen Teppich saß. Für sie war es schon eine große Überwindung gewesen, den Raum überhaupt zu betreten.

Ryon wirkte so in Gedanken versunken, dass sie das Angebot ausgesprochen hatte, bevor sie überhaupt darüber nachdenken konnte.

„Entschuldige, ich wollte dich nicht stören. Ich kann wieder gehen, wenn du willst.“
 

„Du störst mich nicht, Paige. Bitte bleib.“

Ryon blickte von den lodernden Flammen auf zu Paige hinüber. Einen Moment lang betrachtete er sie eingehend, ehe er entschlossen seinen Becher mit dem Milchkaffee beiseite stellte. Es hatte ohnehin eher den Anschein gemacht, als würde er sich daran fest halten als umgekehrt.

Gänzlich gegen seine Gewohnheiten setzte er sich neben Paige auf die Couch. Wie auch die dazu passenden Sessel, benutzte er sie so gut wie nie, obwohl sich die Polsterung gut eingesessen anfühlte. Vermutlich das Werk seiner Freunde.

„Ich … möchte ohnehin gerne mit dir reden.“, begann er langsam, während er immer noch deutlich bemüht war, die richtigen Worte bzw. den richtigen Anfang zu finden. Aber selbst nach stundenlangem Nachdenken war er zu keinem Ergebnis gekommen. Was blieb ihm also anderes übrig, als es einfach frei heraus zu versuchen.

„Du hast dich sicher schon gefragt, warum hier plötzlich ein Waisenkind das Haus unsicher macht.“

So war es gut. Einfach eins nach dem anderen. Zumindest kam er dadurch vorwärts.

„Nun, sie ist leider ein Opfer des Kriegs geworden, der zwischen uns und dem Hexenzirkel tobt. Obwohl ich nicht glaube, dass der Zirkel direkt etwas damit zu tun hatte. Mein Eindruck war eher, dass wir jetzt auch noch übernatürliche Kopfgeldjäger am Hals haben. Zumindest gehörte die Schwester des stinkenden Magiers, der dich … manipuliert hat, dazu.“

Ryon sah einen Moment lang hoch, um sicher zu gehen, das Paige verstand, wen er meinte, ehe er wieder ins Feuer starrte.

„Amelia, die stellvertretende Leiterin des Waisenhauses, scheint einer Gedankenmanipulation zum Opfer gefallen zu sein. Sie hat Mia einfach von den beiden adoptieren lassen, da sie die Wahrheit offenbar nicht sehen konnte.“

Allein wenn er daran dachte, dass sie glaubte, diese Adresse würde zu einem wunderschönen Familienhaus, anstatt zu einer Ruine gehören, erschauderte er unter der Macht, die so viel Einfluss hervorrufen musste. Aber er hatte ihr zum Glück widerstehen können.

„Ich war gerade auf persönlicher Recherche, was unsere Suche angeht, als mich Amelia über Mias Adoption informiert hat. Sie wollte mir eigentlich nur Bescheid geben, weil es mich im Normalfall eigentlich für das Mädchen freuen würde, aber ich hatte anhand ihrer Beschreibung sofort das Gefühl, es sei etwas faul an der Sache und bin dem schließlich nachgegangen. Wie sich herausstellte, hatte ich recht behalten. Es war eine Falle.“

Und wie es das gewesen war. Man hätte Mia wegen ihm ernsthaft schaden können!

Ryons Fingerknöchel knackten, als er seine Hände ballte. Wenn er diese verfluchte Hexe nicht schon umgebracht hätte, er würde es sofort wieder tun. Allerdings sagte er zu Paige lediglich: „Die Sache hat sich inzwischen erledigt. Mia droht keine Gefahr mehr und wenn ich einmal den Kopf dafür habe, werde ich auch Amelia eine passende Geschichte zurecht schnitzen, so dass sie die Adoption rückgängig macht und Mia wieder…“ Ins Waisenhaus kam?

Allein der Gedanke war wie ein Säurebad für ihn, doch im Augenblick hatte er nicht den Kopf darüber noch weiter nachzudenken. Er musste Paige seine Entscheidung mitteilen.

„Da gibt es noch etwas, das ich dir sagen wollte … ich weiß nur nicht genau wie…“

Wie schon so oft an diesem Tag seufzte er schwer, ehe er sich einen Ruck gab. Es hatte keinen Sinn, es noch länger hinauszuzögern.

„Ich werde für ein paar Tage weggehen…“
 

Paige atmete auf, als er sie nicht wegschickte, sondern sie bat zu bleiben.

Trotz allem, was in Dublin passiert war, hatte sie nicht damit rechnen können. Bei ihrem kleinen Frühstück und im Flugzeug war noch alles in Ordnung gewesen. Sie hatten sich unterhalten. Über Dinge, die sie mochten, Dinge die sie nicht leiden konnten und sie hatten einfach ein wenig Smalltalk gemacht. Um mehr von einander zu erfahren als das, was sie schon wussten. Ryon hatte ihr erzählt, dass seine Mutter ihm immer Geschichten vorgelesen hatte...

Seit sie allerdings wieder in England waren, fühlte sie sich ihm so nahe, wie noch vor ihrem Flug nach Ägypten. Er war ihr aus dem Weg gegangen, hatte nicht mit ihr gesprochen, geschweige denn hatte er ihr durch eine Berührung gezeigt, dass sie mehr war als ein weiterer vorübergehender Gast in diesem Haus.

Unbewusst zog Paige ihre Strickjacke ein wenig zu, als Ryon sich zu ihr setzte und umständlich begann. Gespräche, die nach einer offensichtlich gewollten Funkstille mit diesen Worten gestartet wurden, konnten nach Paiges Erfahrung nichts Gutes bedeuten. Er hatte lange überlegt, was er ihr sagen sollte.

Das zeigte nicht nur sein Zögern, sondern auch seine Haltung. Er kam ihr nicht nahe, versuchte nicht sie zu berühren oder lächelte sie an. Nein, das würde absolut kein gutes Gespräch werden.

Selbst als er von Mia erzählte, blieb ihr nervöses Herzklopfen vorhanden. Und das lag nicht allein daran, dass er den Magier erwähnte. Ryons Blick war völlig überflüssig. Diesen Kerl würde Paige so schnell nicht wieder vergessen.

„Eine Schwester? Mit den gleichen Fähigkeiten? Aber wie..?“

Er sprach einfach weiter und wiegelte mit einer nichts sagenden Erklärung ab. Mia war sicher. Natürlich, er hatte sie gerettet und hergebracht. So wie er es auch für Ai und sie getan hatte.

Bevor sie diesmal etwas sagen konnte, hielt sie sein verletzter Blick davon ab. Das war doch nicht sein Ernst! Er hütete Mia wie seinen Augapfel. Ließ niemanden an sie heran, solange er sich selbst um sie kümmern konnte. Und da wollte er sie einfach wieder zurück ins Waisenhaus bringen?

Paige hatte ihr Gewicht verlagert und wollte ihn am liebsten an den Schultern packen, um ihm in die Augen starren und ihn zur Vernunft bringen zu können. Natürlich, im Moment war alles ungewiss, aber Mia war sicher in diesem Haus. So wie sie alle. Und das würde sie auch noch sein, wenn er denn tatsächlich den Kopf dazu hatte, sich um die Angelegenheit zu kümmern. Und wenn er dann zur Besinnung kam, würde er hoffentlich auch einsehen, dass Mia diejenige war, die ihm gut tat. Die Kleine hatte ihn um den Finger gewickelt und sorgte dafür, dass er wieder einen Sinn im Leben hatte.

Vielleicht war aber auch genau das der Grund, warum sich Paige darüber keine Sorgen machen musste. Mia würde allein dafür sorgen, dass er sie nicht mehr hergab. Das würde er gar nicht mehr können, wenn sie noch länger bei ihm blieb.

Also sagte sie nichts dazu. Ihre wäre auch gar nicht die Zeit geblieben. Denn obwohl Ryon erneut zögerte, erhöhte sich die Spannung in der Luft derart, dass es Paige beinahe den Atem raubte.

„Da gibt es noch etwas, was ich dir sagen wollte...“

Was seine zögerlichen und dennoch so ernsten Worte nicht vermochten, schaffte das tiefe Seufzen sehr nachdrücklich. Paige lehnte sich wieder zurück. Nur mit Mühe konnte sie verhindern, dass sie sogar die Arme vor dem Bauch verschränkte.

Ihre Augen waren aufmerksam, doch an dem Zug um ihren Mund hätte man lesen können, dass ihr sehr wohl bewusst war, dass sie treffen würde, was immer er zu sagen hatte.

Als er ihr schließlich die paar Worte vor die Füße warf, versuchte Paige ruhig durchzuatmen. Tausend Fragen, Vermutungen und Reaktionen schossen ihr auf einmal durch den Kopf und sie konnte spüren, wie der Plastikreißverschluss ihrer Jacke unter ihren heißen Fingerkuppen weich wurde.

Durchatmen.

Mit zusammen gebissenen Zähnen dankte sie Ai für das Gespräch vom Nachmittag. Sonst wäre sie jetzt explodiert, hätte Feuer gefangen und mit einem Streit alles nur noch schlimmer gemacht.

Noch nie zuvor hatte Paige sich so am Riemen gerissen. Ihr Herz wollte sich mit ihrer Atmung zusammen überschlagen und ihr Reflex sich zu fragen, was sie bloß schon wieder falsch gemacht hatte, war überwältigend. Aber ihre Angst noch mehr Schwäche zu zeigen – emotionale Schwäche – war größer.

„Da du nicht weiter sprichst, nehme ich an, dass ich weder mitkommen, noch erfahren soll, wo du hingehst.“

Sie biss sich auf die Zunge, bloß um sich für den gereizten Unterton in ihrer Stimme zu bestrafen. Wenn er nicht sowieso schon vorgehabt hätte zu gehen, dann wäre es kein Wunder gewesen, wenn er früher oder später sowieso vor ihr geflüchtet wäre.

Weiter durchatmen. Wahrscheinlich konnte sie stolz sein, dass sie es schaffte ihm immerhin weiter in die Augen zu sehen. Aber Paige spürte, dass sie genau das nicht mehr lange schaffen würde.

„Du hättest es mir nicht sagen müssen. Wenn du etwas zu tun hast, werde ich dich nicht davon abhalten. Das habe ich die ganze Zeit nicht getan.“

Scheiße, hör auf dich zu verteidigen!

„Ich hoffe aber, dass du nicht vorhast dem Hexenzirkel allein gegenüber zu treten. Unser Deal besteht noch und solange nicht einer von uns hops geht, wird er auch bestehen bleiben.“

Neue Gedanken. Hielt er sie nach ihrer völlig bescheuerten Aktion für zu schwach, um ihm zu helfen? Oder für zu dumm? Wenn er wirklich vorhatte den Zirkel allein auffliegen zu lassen, dann hatte er die Rechnung ohne Paige gemacht. Sie hatte sich schon einmal erfolgreich an seinen Arsch gehängt. Das konnte sie auch wieder tun, wenn er sie dazu zwang. Auf jeden Fall würde sie nicht zulassen, dass er sich einfach von diesen Hexen umbringen ließ!

Leichter Brandgeruch stieg in ihre Nase und Paige zog schnell ihre Finger von der bereits geschwärzten Wolle ihrer Jacke. Stattdessen verschränkte sie die Finger ineinander, was ihr auch dabei half nicht stürmisch aufzuspringen.

Stattdessen harrte sie einer Antwort. Und Paige wäre nicht Paige gewesen, wenn sie sich nicht auf das Schlimmste gefasst gemacht hätte. Auf etwas wie: Ich habe einen Fehler gemacht und bereue alles, was zwischen uns passiert ist.
 

Ihre deutlich fühlbare Anspannung, der Geruch von weichem Plastik und angekokelter Baumwolle und nicht zuletzt der Ausdruck in ihren Augen, hielt ihn davon ab, etwas zu sagen, bis sie zu Ende gesprochen hatte. Was auch immer sie so wütend machte, er verstand es nicht wirklich. Vielleicht die Tatsache, dass er gehen wollte? Alleine, ohne ihr oder anderen zu sagen, wohin? Möglich, aber das alleine wäre für ihn noch lange kein Grund dazu.

Es war schwer sich in Paige hinein zu fühlen, da er ihre Beweggründe nicht kannte. Im umgekehrten Fall wäre er wütend gewesen, wenn Paige ihn verlassen würde und zwar auf unbestimmte Zeit. Aber nicht auf sie sondern auf sich selbst.

Letztendlich konnte Ryon nur vermuten, dass sie sich Sorgen machte und das würde er an ihrer Stelle auch tun. Aber es war unbegründet.

„Paige…“, begann er sehr besänftigend, da er sie nicht noch mehr reizen wollte. „Wenn ich könnte, würde ich dich und all die anderen aus der Sache mit dem Zirkel heraus lassen, aber das kann ich nicht. Dafür bin ich nicht stark genug. Darum werde ich bis zum Ende an deiner Seite kämpfen und auf unsere gemeinsamen Kräfte vertrauen.“

Zugeben zu müssen, dass er zu schwach war, um diejenigen zu beschützen, die ihm alles auf der Welt bedeuteten, war genauso schwer, wie Paige in dieser Nacht verlassen zu müssen. Er wollte nicht gehen, sondern sie stattdessen solange umarmen und küssen, bis er alles um sie herum vergaß, aber das konnte er nicht.

„Ich gehe, weil ich gehen muss. Alleine, denn dabei kann mir niemand helfen. Im Augenblick kann ich dir nicht mehr darüber verraten. Aber ich verspreche dir, ich werde weder etwas Dummes tun, noch mich in Gefahr bringen.“

Ryon beugte sich etwas zu Paige hinüber, betrachtete eingehend ihr Gesicht und der Drang sie fest zu halten und bei ihr zu bleiben, wurde mit einem Mal so stark, dass er fast nicht mehr gegen seine Entscheidung ankam. Sein Entschluss wollte bröckeln, weshalb er die Hand, die er erhoben hatte, um sie trotz der Verbrennungsgefahr zu berühren, wieder sinken ließ und stattdessen aufstand.

„Ich werde ungefähr eine Woche weg sein und hoffe daher, dass du die Zeit nützt, um dich zu erholen.“ Seine Stimme war leise und rau. Ein Resultat seiner Kehle, die sich immer mehr zu zuziehen begann.

Er ging zur Terrassentür und machte sie auf, blieb aber noch einmal mit dem Rücken zu Paige stehen, während er den Kopf hängen ließ.

„Zwar kann ich es nicht von dir verlangen, aber ich hoffe wirklich sehr, dass du auf mich warten wirst, denn … du bist der einzige Grund, der mir die Kraft geben konnte, damit ich das hier tue. Gäbe es dich nicht, ich hätte es niemals geschafft…“

Die offene Tür ließ kalte Luft in den wohlig warmen Raum herein strömen, war jedoch nur wie eine dumpfe Empfindung auf seiner betäubten Haut.

„Ich … vermisse dich schon jetzt, Paige…“, flüstert er leise, ehe er die Kälte mit sich nahm, die Tür schloss und in der Nacht draußen verschwand.

Jeder weit ausholende Schritt, den er durch das feuchte Gras machte und seine nackten Fußsohlen reizte, war, als würde er gegen Wellen ankämpfen. Als wäre er ein Eisbrecher, der sich gegen eine Naturgewalt stemmte. Der Widerstand war so deutlich spürbar, dass er bereits angestrengt keuchte, als er am anderen Ende des Sees angekommen war. Noch einmal drehte Ryon sich um, um durch die Bäume hindurch den schwachen Schein des Wohnzimmers zu betrachten. Der Grund für den Widerstand bei jedem seiner Schritte und zugleich die Energie, die ihn schließlich antrieb, los zu laufen. Tief in den Wald hinein.

42. Kapitel

„Du wirst dir damit noch die Augen verderben.“

Paige sah hoch und blinzelte tatsächlich ein wenig, um das leichte Brennen ihrer Augen zu lindern. Auch den Laptop, den Tyler ihr zur Verfügung gestellt hatte, klappte sie zu, als der Rothaarige einen Teller mit belegten Broten neben ihren Arm auf den dunklen Schreibtisch stellte.

„Vielen Dank. Aber ich will nur noch etwas durchlesen.“

Der skeptische Blick entging ihr nicht. Das war so auch beabsichtigt gewesen. Seit Ryon verschwunden war, kümmerte sich jeder um Paige, indem alle versuchten, sie in ihren normalen Tagesablauf zu integrieren. Was so viel hieß wie: Tyler machte Frühstück, während Tennessey ihr Mia auf den Schoß setzte, damit die beiden ein wenig Freundschaft schließen konnten. Immerhin waren sie einander nun offiziell vorgestellt worden. Auch wenn Mia mit Paiges Namen absolut nicht zurecht kam und einfach fragend quietschte, wenn Paige gemeint war.

Sobald das Frühstück beendet war, verzog sich Paige meistens für ein paar Stunden in die Bibliothek. Hier war sie allgemein am Häufigsten anzutreffen. Wie auch jetzt über den Laptop oder einen Stapel Bücher gebeugt. Oder bereits darüber eingeschlafen, wenn Tyler nach Mitternacht noch einmal einen Blick in die Bibliothek warf.

„Das sagst du immer. Aber denk dran, dass dein Playdate wartet.“, meinte er mit einem Lächeln und verzog sich, bevor Paige nur noch etwas erwidern konnte.

Natürlich würde sie es nicht vergessen.

Immerhin hatte sie in den letzten Tagen sehr genau mitbekommen, dass es hauptsächlich Ai und Tyler waren, die sich um Mia kümmerten. Tennessey hielt sich zwar keinesfalls ganz aus der Sache heraus, aber er schien mit einer anderen, sehr wichtigen Sache beschäftigt, die ihn oft in seinem Büro festhielt. Was bedeutete, dass die Turteltäubchen in Ryons Abwesenheit kaum Zeit für sich allein hatten.

Paige wäre grausam gewesen, wenn sie das einfach mit angesehen und gar nichts getan hätte, um zu helfen. Noch dazu mochte sie Mia. Die Kleine warf mit Charme gerade zu um sich und es war kaum möglich, ihr nicht zu erliegen.

Außerdem war es sehr viel besser als sich weiter mit dem auseinander zu setzen, was Paige gerade im Internet recherchierte.

Das Bild eines herunter gekommenen Laboratoriums, das in einem kleinen Käseblatt veröffentlicht worden war, sprang ihr erneut schmerzhaft entgegen, als sie den Laptop wieder aufklappte, um ihn für heute herunter zu fahren. Vielleicht würde sie noch einmal in die Bibliothek kommen, sobald Mia im Bett war.

Nein, das war kein 'vielleicht', sondern ein 'bestimmt'. Denn so war es jede Nacht. Erst in den frühen Morgenstunden legte sie sich schlafen. Bis es Zeit für's Frühstück war. Länger konnte sie ohnehin nicht liegen bleiben.

Denn besonders dann fiel es ihr schwer... Wenn sie allein im Bett lag, in dem zwar freundlichen, aber eben unpersönlichen Zimmer, das nicht ihr gehörte und in das auch sie nicht gehörte.

Nachdem er gegangen war, hatte sie erst am folgenden Nachmittag ein Auge zugetan. Drei Stunden Schlaf gegen ein völlig zermürbtes Nervenkostüm und ein schmerzendes Herz. Nichts, was half, außer es zu ignorieren.

Paige nahm jeden Tag so, als wäre alles wie immer. Als hätte es Dublin nie gegeben und sie wären immer noch am Anfang.

Ryon war fort. Aber es hatte sie gar nicht zu interessieren, wohin er gegangen war. Die Zeit seiner Abwesenheit sollte und wollte sie allerdings nutzen. Immerhin nahm die Gefahr von außen zu, je länger sie auf der faulen Haut lagen. Auch wenn man das in der wohligen Umgebung des Hauses und seiner derzeitigen Bewohner durchaus schnell vergessen konnte.

Sie recherchierte in alle Richtungen, versuchte sich sogar intensiv am Internet und dessen Möglichkeiten, kam aber nur langsam voran. Es war frustrierend, ermüdend und doch nicht ausfüllend genug, um ihn nicht die meiste Zeit des Tages zu vermissen.

Paige hasste das Gefühl zu warten. Ein paar Tage. Vielleicht eine Woche. Vielleicht auch länger.

„Auf jeden Fall nicht jetzt.“, dachte sie jeden Morgen, wenn sie die Augen aufschlug und allein war. Nicht nur allein, sondern einsam. Etwas, das sie schon lange nicht mehr empfunden hatte, denn normalerweise schätzte es Paige durchaus einmal allein zu sein.
 

„Siehst du, das ist Coyote. Der hat meistens schlechte Laune, weil er nichts zu essen findet. Warum er in der Wüste bleibt und sich nichts zu essen kauft, wo er doch genug Geld hat, sich all diese Maschinen zu bestellen, weiß ich auch nicht.“

Mia saß auf Paiges Schoß und sah gebannt auf den großen Fernseher, auf dem gerade ein Cartoon lief, und lauschte Paiges Erklärungen.

Beide hatten sie sich zusammen in eine dicke Decke ins Eck der Couch gekuschelt und sich eine Portion Eis gegönnt. Das Wetter draußen war scheußlich genug, dass man am frühen Abend bereits das Gefühl hatte, es sei tiefste Nacht.

„Und das ist der Roadrunner.“

Mia lachte und quiekte mit der Cartoonfigur um die Wette, als diese ins Bild lief, nur um um Haaresbreite von einer Falle des Gegenspielers verfehlt zu werden.

„Sehr richtig, Mia. Und wenn dir der gefällt, dann können wir auch irgendwann mal zusammen Bugs Bunny sehen. Ich mag dort die Ente am liebsten.“

„Eis.“, meinte Mia mit ernster Miene und zeigte auf den Coyote, der sich gerade mit knurrendem Magen aus seiner Höhle heraus schleppte.

Nun war Paige es, die lachen musste.

Mit einem Kuss auf Mias weiches Haar, drückte sie die Kleine fest an sich und knuddelte sie ausgiebig.

„Du bist zum Anbeißen, Engelchen. Aber ich glaube, dass Onkel Tyler böse wird, wenn wir versuchen den Koyoten im Fernseher mit Eis zu füttern.“
 

Der Weg war weit und das Gelände zwischendurch überaus schwierig zu bewältigen. Doch getragen von dem Wunsch, Paige in Zukunft alles geben zu können, was in seinen Möglichkeiten stand, kämpfte er sich weiter durch dichte Wälder, weitläufige Wiesen und Weiden, Flüsse, die seinen Weg kreuzten und hügelige wie steinige Gebiete.

Seine Kleidung hing am Ende zerschlissen, verdreckt und aufgeweicht an seinem Körper, als er in den frühen Morgenstunden endlich den vollkommen entlegenen Ort betrat, der das Ziel seiner anstrengenden Reise darstellte.

Natürlich hätte Ryon einen Großteil der Strecke bequem in einem Auto bewältigen können, aber darum ging es nicht.

Er hatte das Laufen, das Auskosten seiner Grenzen und die viele Zeit zum Nachdenken gebraucht. Nun, da seine Muskeln vor wohliger Anstrengung zitterten, sein Atem sich langsam wieder beruhigte und am ihm nur noch der Geruch von Feuchtigkeit, Gras, Bäumen und Wind hing, fühlte er sich so erfrischt, als hätte er in einem Bergbach gebadet. Und genau so sollte es auch sein.

Denn er betrat schließlich nicht einfach nur eine völlig banale kleine Waldlichtung mitten im Nirgendwo, an der selbst hartnäckigste Wanderer niemals vorbei kommen würden. Nein, er betrat einen für ihn ehrfürchtigen Ort.

Das lag nicht nur an den Dunstschwaden, die knapp über dem Boden vor sich hin wabberten und im sanften Licht der ersten Sonnenstrahlen etwas Mystisches an sich hatten.

Es lag an dem völlig seltsam wirkenden Schatten, der sich mitten auf der Lichtung befand.

Ryon wagte nur einen Schritt zwischen den Baumreihen hindurch, ehe er mit sich weitenden Augen stehen blieb.

Schon für nichtwissende Augen war es ein faszinierender Anblick, mitten in einem riesigen Waldgebiet einen Fliederstrauch zu erblicken, doch für Ryon war es weitaus mehr als das.

Er war so unglaublich groß geworden…

Obwohl er nicht mehr blühte, da die Zeit dafür schon vorüber war und die Blätter einen eher trübseligen Eindruck machten, so waren die weit ausladenden Äste doch sehr stark und kraftvoll. Sie wirkten gesund und der Anblick musste einfach unglaublich sein, wenn der Strauch in voller Blüte stand.

„Lenn…“, hauchte Ryon mit nassglänzenden Augen, ehe er einen vorsichtigen Schritt nach dem anderen, auf den Strauch zu machte.

Eine ganze Reihe von Ereignissen schien an ihm vorüber zu ziehen, während er das letzte Stück des Wegs ging, für den er sich entschieden hatte.

Gespräche mit Marlene, wie sie ihm ohne Angst über den Tod und das Sterben erzählte. Sie hatte damals noch nicht wissen können, wie früh sie sterben würde und doch hatte sie immer erklärt, sie wolle niemals in einer kalten Holzkiste zu anderen toten, fremden Leibern gelegt werden. Feuer war der für sie einzige Weg, der körperlichen Hülle einen letzten Dank an die Erde zu entsenden, in dem sie selbst zu Erde bzw. Asche wurde.

Wenn man diese Überreste dann vergrub und etwas Lebendiges darauf pflanzte, so sogen die Wurzeln langsam die Essenz daraus, um es erneut in Leben umzuwandeln. Auf diese Weise wurde man unsterblich. Zumindest was den Körper anging.

Marlene hatte an die Wiedergeburt der Seele geglaubt.

Die Bilder wechselten in seinen Kopf zu jenen betäubten Tagen, nach denen nicht nur sie sondern auch ihre gemeinsame Tochter ihn verlassen hatte. Es war selbstverständlich gewesen, dass er sie beide zusammen der Flamme übergeben hatte.

Ihre Asche einfach mit zu nehmen, ohne ihren Eltern einen Teil davon zu geben, hatte das dünne Band zwischen Ryon und ihnen endgültig zerrissen.

Doch auch nur einen sterblichen Überrest seiner geliebten Frauen an diese Menschen zu geben, wäre ihm niemals in den Sinn gekommen. Marlene hatte ihre Eltern zwar geliebt, aber diese Liebe war völlig unverdient gewesen, hatten sie ihre Tochter doch immer als seltsam und absonderlich betrachtet und dementsprechend auch behandelt.

Das Bild wechselte erneut, Ryon konnte sich selbst sehen, wie er mit bloßen Händen die Erde inmitten der Lichtung aufgrub, mit vollkommen regungslosem Gesicht und toten Augen die Asche hinein streute und schließlich den kleinen Fliederstrauch darauf pflanzte.

Einen Moment lang, hatte er ihn betrachtet, die Umgebung angesehen und sich gedacht, dass dies ein guter Ort dafür gewesen war. Der Ort, an dem sie ihren ersten gemeinsamen Ausflug in die Wildnis gemacht hatten, an dem sie sich ihre Liebe gestanden hatte und sich beide sicher gewesen waren, für immer zusammen zu bleiben…

Danach war er gegangen und erst heute, an diesem Morgen war er wieder gekommen. Die Jahre hatten ihn gezeichnet, so wie sie den Strauch hatten wachsen lassen.

Als Ryon davor in die Knie ging, seine Hände auf die leicht raue Rinde legte und die Augen schloss, war er endlich bereit, das was er schon vor Jahren hätte zulassen müssen, nun auch zu tun. Er trauerte.

Erst still und reglos, doch je mehr er den Damm in sich zum Brechen brachte, umso heftiger begann er zu beben. Unablässig liefen ihm Tränen über die Wangen bis er seine Augen aufriss und den aufflammenden Schmerz in seinem ganzen Körper hinaus schrie.

Es zerriss ihn wortwörtlich. Seine Kleidung wurde zerfetzt, als er die Kontrolle seinen Gefühlen, seinem Tier überließ und sich verwandelte.

Der Tiger brüllte noch lauter und es klang wie die pure Verzweiflung die es war, während er sich an die Äste des Fliederstrauchs schmiegte, seine Pranken in die Erde grub und sich vollkommen dem Schmerz überließ…
 

Paige gähnte, als sie das warme Wasser anstellte und eine Gänsehaut überzog ihren fröstelnden Körper, als sie sich das Schlafshirt und den Slip auszog, um sich kurz unter die Dusche zu stellen. Die dritte Nacht hinter einander war sie erst gegen Sonnenaufgang zum Haus zurück gekommen und hatte die vier Stunden bis zum Frühstück mit Schlafen verbracht. Irgendwann am Nachmittag würde sie noch ein paar Stunden anhängen, bevor sie nach dem Abendessen noch ein wenig mit Mia spielte und sich dann wieder auf den Weg machte.

Während ihr das lauwarme Wasser über den Rücken brauste, lehnte sie ihre Stirn für einen Moment gegen die kalten blauen Fliesen der Duschkabine. Sie hatte Kopfschmerzen. Vor einigen Tagen war sie mit dem vertrauten Druckschmerz im Unterleib aufgewacht, den sie schon erwartet hatte. Etwas, das sie dieses Mal besonders frustrierte, auch wenn sie normalerweise nichts dagegen hatte. Es war nunmal vollkommen natürlich... Aber ein Eisprung und die damit verbundenen Konsequenzen - die überschüssigen Energien und keine Möglichkeit sie auszuleben - waren völlig indiskutabel gewesen. Einen Tag lang fast völlig in ihr Schuppenkleid gehüllt herum zu laufen und ihren Zyklus gewaltsam zu unterbrechen, war da die besser Alternative gewesen. Auch wenn es bedeutete, dass sie sich zwei Tage danach immer noch so fühlte, als hätte sie einen leichten Anflug von Grippe.

Sie wusch sich schnell und rubbelte sich nur notdürftig die Haut trocken, bevor sie sich vor das Waschbecken stellte, sich die Haare kämmte, die Zähne putzte und sich schließlich anzog.

Es war mit jedem Tag leichter geworden. Zuerst hatte es sich so angefühlt, als müsse sie ein tonnenschweres Gewicht mit sich herum tragen. Und mit jedem Mal, mit dem sie an ihn dachte, sich Sorgen um ihn machte oder zweifelte, dass er überhaupt zurück kommen würde, war die Last größer und erdrückender geworden.

Irgendwann hatte sie es nicht mehr ausgehalten.

Auf dem kleinen Sofa in der Bibliothek hatte sie sich zusammen gekauert und versucht ihn zu verstehen. Denn nur das würde vermutlich helfen.

Mit einem Blick aus dem Fenster in die kalte, klare Nacht hinaus, hatte sie sich getraut aufzuzählen, was sie wusste.

Er hatte ihr gesagt, dass er sie gern hatte.

Er hatte ihr gesagt, dass er Marlene immer lieben würde und für keine Frau jemals wieder Liebe empfinden könne.

Sie waren zurück nach England geflogen, waren in dieses Haus gekommen und Ryon hatte gegrübelt.

Anstatt mit ihr zu reden, war er Paige aus dem Weg gegangen, hatte sie kurz vor seinem Abschied vor vollendete Tatsachen gestellt und war verschwunden.

Er hatte ihr gesagt, dass er in ungefähr einer Woche zurück sein würde.

Inzwischen waren es zehn Tage.

Aus Tatsachen formten sich Schlussfolgerungen, während Paige ihr Kinn auf ihren Knien ablegte und weiterhin in die Dunkelheit hinaus blinzelte.

Er hatte ihr versichert, dass er nicht in Gefahr sein würde.

Aber da er sich nun verspätete, hatte er entweder gelogen oder...

Oder er hatte sich dazu entschieden später oder gar nicht zurück zu kehren.

Aus Gründen die Paige ebenso wenig wusste, wie den, aus dem er fort gegangen war.

Auch da konnte sie nur Vermutungen anstellen. Allerdings war sie sich recht sicher, um wen es ging, wenn sie nichts davon erfahren sollte.

Was aber bloß hieß, dass Paige sich noch mehr Gedanken darüber machte, warum er die Frist nicht einhielt.

Nach einer Stunde war sie aufgestanden, war an einem der Regale entlang gegangen und hatte ein Buch heraus genommen. Sie brauchte nicht länger nachzudenken. Den genauen Grund würde sie vermutlich sowieso nie erfahren. Aber eins stand unumstößlich fest. 'Warum nicht?'

So Vieles konnte wichtiger sein, als zu einem lose dahin gesprochenen Zeitpunkt wieder hier zu sein. Vielleicht hatte er jemanden getroffen, vielleicht hatte er einfach Lust ein wenig durch die Gegend zu streifen oder vielleicht wollte er einfach nicht hier sein. Ob sie nun selbst damit zu tun hatte, war ebenfalls egal. Sie war eine Person in seinem Leben. Das hieß nicht, dass sie wichtig war oder er irgendwelche Verpflichtungen ihr gegenüber hatte.

Außerdem wusste er doch, dass sie noch hier sein würde. Es war sogar anzunehmen, dass er ganz andere Dinge im Kopf hatte, als sich Gedanken darüber zu machen, ob sie nun wartete oder nicht. Er selbst wäre wahrscheinlich gar nicht auf die Idee gekommen in ihrer Abwesenheit derartig einzuknicken.

Also hatte sie an diesem Abend beschlossen das auch nicht mehr zu tun. Paige hatte keine Lust mehr zu warten, zu hoffen oder zu bangen. Sie würde sehen, was passierte. Und je länger er verschwunden blieb, desto einfacher wurde es damit zu rechnen, dass er einfach vor der Tür stehen und alles so sein würde, wie zuvor. So, als wäre die Sache in Dublin nie passiert.

Was ihre nächtlichen Ausflüge betraf, versuchte sie sich im Bezug auf ihren Kampf mit dem Hexenzirkel nützlich zu machen. Da Hexen meistens aus dem Geschlecht der Menschen stammten, musste sie sich noch nicht einmal auf das heiße Pflaster der World Underneath begeben, um sich ein wenig umzuhören. Paige schätzte Boudicca so ein, dass sie in den letzten Jahren keinesfalls damit aufgehört hatte, neue Mitglieder für ihre dunkel Sache zu rekrutieren. Schon gar nicht, wo Ryon und Paige selbst die Reihen schon einige Male dezimiert hatten. Der Zirkel brauchte frisches Blut, um seine Macht aufrecht zu erhalten. Und dieses Frischfleisch musste er irgendwo her bekommen.

Paige hatte sich einfach ein wenig im Internet umgesehen. Webseiten, die Hexentreffs und Zusammenkünfte für Interessierte oder magisch Begabte anboten, gab es zur Genüge. Sie musste sich nur bei ein paar dieser Seiten anmelden und zu der ein oder anderen Versammlung erscheinen, um mitzubekommen, wo Potential lag und wo es um den reinen Spaß am Nicht-Können ging.

Meistens war sie auf Letzteres getroffen und hätte nach völlig albernen Glas-Rück-Spielen und Hypnosen am liebsten schon wieder aufgegeben. Doch dann war sie vor drei Tagen auf eine kleine persönliche Homepage gestoßen. Eine Frau, die ihr Wissen in Kräuterkunde und anderen Naturheilverfahren der Öffentlichkeit weiter geben wollte.

Warum sie genau zu dieser Frau mit dem Gefühl gefahren war, etwas gefunden zu haben, war für Paige schwer in Worte zu fassen. Es war nur ein Kribbeln in den Fingerspitzen gewesen. Ein Hinweis, dem sie eben mit größerer Sorgfalt nachgehen wollte, als allen anderen.

Soweit sie das nach drei durchwachten Nächten in Ryons Wagen und vor den Fenstern des alten Hauses sagen konnte, hatte sie ins Schwarze getroffen. Diese Frau war eindeutig keine Möchtegern Zauberin, die Selbsthilfekurse gab, um junge Mädchen abzuzocken. Bei ihr steckte echtes Können hinter den Salben und Tinkturen, die sie im Keller braute. Und auch die Anhänger, die sie in einer kleinen Vitrine neben dem Klavier aufbewahrte, hatten es in sich.
 

Um halb neun packte Paige einen kleinen Rucksack mit Resten vom Abendessen, einer Thermoskanne schwarzen Tee und einer Taschenlampe ins Auto. Vermutlich würde es wieder eine bloße Überwachung werden. Aus unerfindlichen Gründen wagte Paige nicht mehr zu tun als das. Aber sie konnte genau damit auch nicht einfach aufhören. Nicht, bevor sie nicht wusste, ob ihnen die Frau irgendwie behilflich sein konnte.

Sie ließ den Motor an und fuhr langsam aus der Garage, die Kieseinfahrt am Haus vorbei und dann durch das Tor hinaus auf den unbefestigten Waldweg, der irgendwann auf die Bundesstraße mündete.

Es war immer ein langer Weg in die Stadt. Etwas, das seine Vor- und Nachteile hatte. Immerhin war Paige meistens kurz vorm Einschlafen, wenn sie mit Tagesanbruch von ihrem Posten vor dem Haus der Hexe abließ und sich auf den Rückweg machte.
 

Wie lange er dagelegen und sich im Schmerz der Trauer gewunden hatte, konnte Ryon im Endeffekt nicht sagen. Waren es Jahre oder nur wenige Minuten gewesen? Sein Zeitgefühl war völlig durcheinander und zugleich war es so absolut bedeutungslos. Denn in diesem Augenblick fühlte er sich so elend, dass er liebend gerne auch weiterhin reglos dagelegen hätte, bis ihn selbst irgendwann der Tod ereilte. Es erschien ihm momentan so viel erstrebenswerter, aber das war es nicht und das wusste er.

Trotzdem blieb er liegen. Noch hatte er nicht die Kraft, sich zu erheben, doch sie würde zurückkehren, denn schon jetzt, nachdem die schlimmste Zeit des Zulassens vorbei war, war es etwas leichter.

Phasenweise konnte er sich auf seine Umgebung konzentrieren, anstatt auf sein Innerstes. Er beobachtete die Vögel im Himmel, wie sich das Gras im Wind bog, sich die Wipfel der Bäume sanft hin und her wiegten. Von irgendwoher konnte er das leise Plätschern eines Bachs hören, aber bis auf die Geräusche der Natur war es vollkommen friedlich. Erst echt, wenn sich ein sternenklarer Nachthimmel zeigte.

Hier würde ihn niemand stören und auch nicht seine geliebten Frauen. Das war gut so.

So schnell wie die Ruhe gekommen war, schlug sie auch wieder um und er wurde erneut von Trauer erschüttert, obwohl schon lange kein Ton mehr aus seiner geschundenen Kehle drang, wimmerte er doch immer noch. Nur vollkommen leise.

Viele dieser Phasen kamen und gingen, waren heftig und mal weniger schlimm, bis die Abstände immer größer und das klaffende Loch in seiner Brust und die Verletzungen auf seiner Seele immer kleiner wurden.
 

An einem Morgen wie jeder andere, erhob Ryon sich schließlich. Sein Körper war verspannt, seine Knochen ganz steif und er fühlte sich unglaublich schwach. Die Rippen stachen deutlich an seinen Seiten hervor und auch an Vorder- und Hinterläufen hatte er einiges an Masse verloren.

Zumindest diese Anzeichen ließen vermuten, dass er Tagelang nur dagelegen und getrauert hatte. Obwohl er sich dem Wechsel von Tag und Nacht nicht bewusst gewesen war.

Ganz im Stillen begann er sein zerzaustes Fell mit seiner Zunge zu bürsten, bis es wieder glänzte. Bilder kamen dabei in ihm hoch, gegen die er nicht ankämpfen konnte und nun auch nicht mehr wollte. Denn es waren schöne Bilder…

Lenn, die mit dem Bauch auf der Couch lag und ihm dabei zu sah, wie er sich gründlich das Fell pflegte, in dem Wissen, dass sie es immer wieder faszinierend fand, sonst hätte er es nicht getan.

Nur zu oft, hatte sie absichtlich mit ihrer Hand durch seine Haare gestrubbelt, nur damit er von vorne anfangen musste. Sie hatte dabei immer fröhlich und neckend gelacht, während er das als Tiger nicht konnte. Aber er hatte dieses Lachen ebenso in sich gespürt, auch ohne es widergeben zu müssen.

Wieder etwas gepflegter, ließ er sich auf die Seite fallen, betrachtete das Schattenspiel der Äste des Fliederstrauchs auf dem Boden und sich selbst, während er langsam und in sehr kleinen Dosen Erinnerungen an die schönen Momente in seinem Leben mit Marlene zuließ. Viele davon waren noch zu schmerzhaft für ihn, doch alleine, dass er sich nun überhaupt wieder an gute Momente erinnern konnte, war ihm ein Trost. Das grausame Bild von Verlust, blindem Schmerz und Verzweiflung verblasste, mit jeder einzelnen Erinnerung, die wieder die Sonne in seinem Herzen scheinen ließ. Manchmal, aber wirklich nur manchmal, da musste er in Gedanken sogar schmunzeln, wenn Lenn wieder einmal einen Witz riss oder ihn sonst irgendwie auf die Schippe nahm, nur um wiederum von ihm geneckt zu werden.

Er hatte ganz vergessen, dass es so viele gute Zeiten gegeben hatte. Wie war das nur möglich gewesen?
 

Es war viel Zeit und viele gute Erinnerungen nötig, bis Ryon sich endgültig erhob, um sich, wenn auch nur für ein paar Stunden am Tag, um sich selbst zu kümmern. Er begann seine Muskeln wieder geschmeidig zu machen, in dem er durch die herum liegenden Wälder streifte, die Gegend mit seinen tierischen Sinnen erkundete und manchmal, wenn ihm das Glück hold war, auch seine lange eingerosteten Fähigkeiten zur Jagd einsetzte.

Seinem menschlichen Verstand und der Gerissenheit der menschlichen Rasse hatte er es zu verdanken, dass er trotz seines geschwächten Körpers doch kaum leer ausging. Und so wurde er wieder stärker und begann, obwohl er das eigentlich gar nicht vorgehabt hatte, seinen Tiger wieder völlig neu zu entdecken.

Bei der Jagd waren sie eine Einheit. Wenn sie im Fluss badeten, konnte man sie nicht trennen und wenn es um Marlene ging, so war das Tier der Grund dafür, wieso er so tief und emotional für sie empfinden und trauern konnte. Seine menschliche Seite hätte es niemals in diesem Maße vollbringen können. Es war dadurch viel schmerzhafter, aber zugleich auch viel realer.
 

‚Schau! Eine Sternschnuppe!‘

Seine schwarze Schwanzspitze schien dem Lichtschweif folgen zu wollen, während sich in seinen goldenen Augen der nächtliche Sternenhimmel spiegelte. Er lag, für einen Tiger relativ untypisch auf dem Rücken, mit den Hinterbeinen an ein paar der dicken Äste des Fliederstrauchs gestützt und redete nun schon seit Stunden wortlos mit seiner verstorbenen Familie. Doch bisher war kein Wort des Verlusts oder der Trauer gefallen. Stattdessen unterhielt er sich mit ihr über Mia, seinen Freunden, was er in den einsamen Jahren ohne sie alles erlebt hatte und immer wieder sprach er mit ihr über alte Zeiten, als wären sie wirklich bei ihm und tief in seinem Herzen, waren sie es auch. Das konnte er inzwischen sehr deutlich spüren.

‚Weißt du noch, dass du mir immer sofort deine Wünsche erzählt hast, wenn wir eine Sternschuppe sahen? Und ständig habe ich dir versucht, zu erklären, dass deine Wünsche dann nicht in Erfüllung gehen würden, wenn du sie jemand anderen mitteilst. … Du hast daraufhin immer nur gelächelt und gemeint, dass sie gerade deshalb jedes Mal in Erfüllung gingen, weil ich sie wusste… Natürlich hattest du recht damit… Als hätte ich dir jemals einen Wunsch abschlagen können…‘

Daraufhin schwieg er lange, während er gedankenverloren die funkelnden Sterne betrachtete und sich ebenfalls etwas wünschte – Paige…

Ryon schnaubte einmal so tief, wie es ein Seufzen kaum möglich gemacht hätte, doch der Beweggrund war der gleiche.

‚Bestimmt weißt du es schon, Lenn… Aber ich muss es dir trotzdem sagen.“

Einen Moment schloss er die Augen und sammelte die Kraft für seine nächsten stummen Worte. Denn es fühlte sich absolut nicht leicht an, das Leben der beiden Frauen mit einem Mal zu vermischen. Immerhin würde es endgültig sein.

Bisher hatte er beide immer strikt getrennt. Hier war Marlene, dort Paige und obwohl sie beide voneinander wussten, so stand doch jede Frau auf ihrer eigenen Seite und genau das wollte Ryon nicht mehr. Sie bedeuteten ihm beide alles und so sollten sie auch beide in seinem Herzen ihren Platz finden. Jede für sich und doch an dieser einen wichtigen Stelle vereint, die für ihn das Leben erst lebenswert machte.

‚Ihr Name ist Paige. Ich mag sie sehr und bin mir sicher, dass du sie ebenfalls gemocht hättest. Sie ist sehr feurig und das nicht nur im übertragenen Sinne, aber sie hat auch etwas … sehr Gütiges an sich. Manchmal habe ich allerdings das Gefühl, dass Andere ihr sehr viel wichtiger sind, als sie sich selbst.

Ich wüsste gerne, wie schlimm es mit ihrem Vater wirklich war und was aus ihrer Mutter geworden ist. Vielleicht könnte ich sie dann besser verstehen und warum sie manchmal so ist, wie sie ist… Aber fest steht, dass ich zum ersten Mal im Leben das Gefühl habe, los lassen zu können. Mein Tier war immer im Käfig und ich weiß, das hat auch dir nicht gefallen, aber dagegen konnte ich nichts tun, bis sie mir den Schlüssel dafür in die Hand gedrückt hat. Ich denke … sie kann damit umgehen, ohne dass ich Angst haben muss, ihr weh zu tun…‘
 

Ryon sprach in dieser Nacht noch lange über Paige, was er für sie empfand, wie sie sich kennen gelernt hatten, die Hoffnung mit ihr eine Zukunft zu haben und dass er darüber hinaus nie seine erste Liebe vergessen würde und schon gar nicht ihr gemeinsames Kind. Doch Lenn hatte gewollt, dass er weiter lebte und stets die guten Zeiten an sie in Erinnerung behielt.

Am Anfang war ihm das so irrsinnig erschienen, er war blind gewesen und nun, da dieser Nebel immer größere Löcher bekam, verstand er durchaus, dass Lenn ihn so nicht hatte sehen wollen.

Emotionslos, wie ein Zombie und ein Mörder. Nein, das hätte sie niemals sehen wollen und wenn er es ändern konnte, dann würde er es tun, denn immerhin, die Person, die er in den letzten Jahren dargestellt hatte, das war nicht er gewesen und zugleich konnte er auch nie wieder das werden, was er vor Marlenes Tod gewesen war. Aber er konnte sehr wohl sich selbst in diesen turbulenten Zeiten wiederfinden. Der, der er nun wirklich war. Mit seinem Tiger und keinesfalls mehr ohne ihn.

Das versprach er Lenn schließlich auch, als er sich am nächsten Morgen von ihr verabschiedete, ihr dafür dankte, dass es sie gegeben hatte und dass er sie wieder besuchen kommen würde, um ihr zu erzählen, wie es ihm ging und was er aus seiner neuen Chance im Leben gemacht hatte.
 

Paige kam sich fast verwegen vor, wie sie mit ihrer Wollmütze und dem heißen Tee in dem dunklen Wagen saß und das Haus beobachtete. Ihrer Meinung nach hätte es in diesem Moment verdammt gut gepasst, wenn sie rauchen würde. Man hätte hinter der Windschutzscheibe im Schatten nur den glühenden Punkt sehen können. Das hätte dem ganzen noch den letzten Schliff gegeben, wie sie fand.

So hielt sie den warmen Schraubbecher in den kalten Händen und sah etwas bedauernd auf den Beifahrersitz, auf dem eine bereits leere Brotzeitbox lag. Vor einer Stunde hatte sie es, obwohl sie keinerlei Hunger verspürte, nicht mehr ausgehalten und sich über die kalten Reste von Tylers hausgemachter Pizza hergemacht.

Nur eine schwarze Olive herunterklauen. Dann noch eine. Und dann ein paar von den Pilzen. Allerdings schmeckte die Pizza ganz ohne Belag auch nicht, was der überzeugende Schluss gewesen war und sie dazu gebracht hatte, gleich ganz von dem großen Stück abzubeißen.

Ihr Grinsen war so breit, dass es eigentlich jedem hätte auffallen müssen, der in der dunklen Straße an dem Auto vorbei ging. Allen hatte Tylers Pizza geschmeckt. Und vor allem auch der kleinen Mia, die beim Belegen hatte helfen dürfen. Ob sie beim Helfen oder beim Essen mehr mit Tomatensauce beschmiert worden war, konnte man am Ende nicht mehr feststellen. Auf jeden Fall hatte Paige sich mit Freuden dazu genötigt gefühlt das saucenverkrustete Mädchen zu baden und sie anschließend mit einem Lied ins Bett zu bringen.

Vor ein paar Tagen hatten sie heraus gefunden, dass sie einfach das perfekte Tanzpaar abgaben. Und was gab es für einen besseren Ballsaal, als das Kinderzimmer, bevor Mia tatsächlich ins Bett musste?

Ein Geräusch ließ sie hochschrecken und ein Blick auf die Uhr am Armaturenbrett zeigte ihr, dass sie für fast fünfzig Minuten eingeschlafen sein musste. Ein Gähnen und die kalte Luft schüttelten sie mit einem eisigen Zittern vollkommen durch, bevor sie sich auf das konzentrieren konnte, was sie wach gerüttelt hatte.

Stimmen.

Vor ihr hatten sich zwei Gestalten in dunklen Mänteln auf das Gartentor des Hauses zubewegt und sondierten offensichtlich die Lage.

Paige ließ sich noch tiefer in den Fahrersitz sinken. Gerade noch so konnte sie aus der Windschutzscheibe auf die kleine Szene sehen, die sich abspielte.

Eine der Gestalten drückte auf den Klingelknopf. Oder wollte es zumindest, denn kaum dass der Finger der Klingel nahe gekommen war, zog der Dunkle die Hand zurück, als hätte er einen Schlag abbekommen.

Paige runzelte die Stirn. Sie selbst hatte zwar nie versucht zu klingeln, war aber ohne Probleme einfach über den hüfthohen Zaun gesprungen, um in den Garten zu gelangen, der das kleine Haus umgab.

„Magie?“, hauchte sie leise, als ihr ein weiterer Hinweis geboten wurden.

Beide Besucher hatten sich nach vorn gelehnt. Anscheinend, um über das kleine Tor zu fassen und es von innen zu öffnen. Doch irgendetwas schien sie wirkungsvoll davon abzuhalten. Als würden sie gegen mehr als den Zaun angehen. Eine unsichtbare Mauer?

„Du musst ziemlich gut sein, meine Liebe.“

Ihre Worte ließen kleine Wölkchen kondensierter Luft nach oben steigen. Mit zusammen gekniffenen Augen glaubte Paige bei einem der beiden Männer einen Blauton auf der Haut am Hals erkennen zu können.

Ein Dämon. Eis oder Wasser vielleicht.

Als sich die beiden ruckartig umdrehten und in Richtung des Autos liefen, zuckte Paige zusammen. Reflexartig schlug sie die behandschuhten Hände vor den Mund und ließ sich quer über Fahrer- und Beifahrersitz fallen.

Nicht zu tief atmen. Tausend Gedanken darüber, was sie in diesem Moment auffliegen lassen konnte, schwirrten in ihrem Kopf herum, hämmerten mit ihrem Herz um die Wette, während Paige nur mit panisch geweiteten Augen an eins denken konnte: Er hatte Kiemen.
 

Seine Pfoten konnten ihn kaum so schnell tragen, wie er nach Hause wollte. Wobei er mit Zuhause nicht das Haus meinte, das ihm gehörte, sondern einzig und alleine Paige. Sie war der Ort, an den er zurück eilte, als wäre der Teufel persönlich hinter ihm her, dabei war es wohl eher die Zeit. Ryon hatte keine Ahnung, wie viel Zeit vergangen war. Als Tier galten andere Gesetzte als im Menschsein.

Doch wie viele Tage auch immer verstrichen sein mochten, er war definitiv zu spät und doch hätte er nicht früher gehen können. Es hatte eben alles sein eigenes Tempo gebraucht, doch dafür ging es ihm jetzt sogar richtig gut. So lebendig, so voller Energie und vor allem so voller Zuversicht hatte er sich schon seit Ewigkeiten nicht mehr gefühlt. Er war anders. Etwas hatte sich verändert und das spürte er bei jedem Sprung, bei jeder fliegenden Berührung seiner Pfoten mit dem Boden. Die niederdrückende Last war von seinem Herzen genommen worden und obwohl es immer etwas weh tun würde, sich dem Verlust seiner Familie bewusst zu sein, so behielt er sie doch immer in seinem Herzen.

Was geschehen war, konnte er nicht mehr ändern, aber er konnte das Beste daraus machen und wenn dieser verdammte Hexenzirkel ihn nicht vorher kalt machte, würde er das auch tun!
 

Obwohl er so schnell gelaufen war, wie er konnte, kam er doch erst mitten in der Nacht auf der Wiese vor der Terrasse an, da er während des Tages hatte vorsichtig sein müssen. Immerhin gab es im Normalfall keine freilaufenden Tiger in England und er wollte auch nicht das Gerücht in die Welt setzten, dass es doch so war.

Doch kaum hatte die Dämmerung eingesetzt, liefen seine Beine auf Hochtouren, weshalb er nun schwer keuchend erst einmal zu Atem kommen musste, ehe er sich verwandeln konnte.

Da ohnehin alles still im Haus zu sein schien, machte er sich keine Gedanken, es könnte ihn jemand nackt auf dem Rasen erwischen und selbst wenn, hätte sich das eben nicht vermeiden lassen können. Es war Ryon im Augenblick auch herzlich egal. Er wollte nur zu ihr…

Auf dem Weg zu seinem Zimmer, in dem er seine Kleider hatte, damit er sich etwas überziehen konnte, bevor er nach Paige sah, öffnete sich plötzlich die Tür zu seinem Büro und Tennessey sah mit verschlafenen Augen daraus hervor.

„Hab ich mir das nur eingebildet, oder…“

Der Doc riss erschrocken die Augen auf und prallte ein gutes Stück vor Ryons hünenhafter Erscheinung zurück.

„Ach du heilige Scheiße, musst du mich so erschrecken und dann auch noch im Adamskostüm!“

Ryon blieb stehen und drehte sich nur halb zu seinem Freund herum. Es reichte schon, dass dieser seine blanke Kehrseite sah, tiefere Einblicke würde er ihm garantiert nicht auch noch gönnen, aber irgendwie machte es ihm im Augenblick ohnehin nichts aus. Vielleicht weil er so lange nur im Fell herum gelaufen war. Länger als bisher.

„Und ich dachte immer, du wärst nicht gläubig, Charles.“, erwiderte Ryon in einem ruhigen, warmen Tonfall.

Der arme Tennessey schien daraufhin förmlich aus den Latschen zu fallen. Er riss die Tür noch weiter auf, so dass noch mehr Licht auf Ryon fiel und rückte seine Lesebrille auf seiner Nase zurecht.

„Okay. Wer bist du und was hast du mit meinem eiskalten Freund gemacht?“

Während sein Freund auf eine Antwort wartete, kam er näher und ging nun doch musternd ein paar Mal um ihn herum, ganz der Wissenschaftler wie er war.

„War es denn wirklich so schlimm?“

„Und ob es das war, Ryon. Verdammt noch mal, haben sie dir dort, wo du gewesen bist, einer Gehirnwäsche unterzogen, oder was? Außerdem, sieh dich mal an, als wärst du in irgendeine komische Politur gefallen… Du hast… Ja du hast tatsächlich dein Charisma wieder. Mann, ich kann’s nicht fassen...“

Ryon konnte Tennesseys Reaktion ebenfalls nicht glauben. So sehr hatte er sich nun auch wieder nicht verändert. Okay, er fühlte sich besser und hätte Bäume ausreißen können, aber ihn gleich so anzusehen, als wäre er ein Geist, war wohl doch ziemlich übertrieben und außerdem, Ryon hatte im Augenblick wirklich keine Zeit dafür.

„Bist du jetzt fertig, oder willst du noch länger meinen nackten Hintern anglotzen? Ich hab’s eilig, falls dir das was bedeutet.“

Tennessey schnaubte entrüstet. „Ach ja? Aber vorher so einfach für zweieinhalb Wochen verschwinden, ohne irgendjemanden Bescheid zu geben, was? Ich meine, ist ja nichts Neues, dass du deine Freunde so behandelst, aber ich dachte wirklich, Paige und Mia würden dir etwas bedeuten!“

„Was?“, fuhr Ryon den Doc vollkommen entsetzt an, ehe er auch schon herum wirbelte, um zu Paige zu eilen. Klamotten hin oder her. Sie war weitaus wichtiger, als sein Schamgefühl!

Während er förmlich durch die Gänge schlitterte, hämmerten ihm immer noch Tennesseys Worte im Kopf und bohrten sich immer tiefer und tiefer. Zweieinhalb Wochen … zweieinhalb Wochen‼

Wie hatte er nur so die Zeit verlieren können?

Ohne anzuklopfen oder sich sonst irgendwie anzukündigen, trat Ryon fast die Tür zu Paiges Zimmer ein, so dass diese aufschwang und lautstark an die Wand prallte. Doch das Zimmer war leer. Paige nicht hier und das ließ förmlich eine ganze Welt für ihn zusammen brechen.

Sie hatte nicht gewartet…

Als hätte man ihm die Luft aus den Reifen gelassen, schwankte er zu ihrem Bett hinüber, ließ sich darauf fallen und vergrub seinen Kopf in seinen Händen, während er sich mit den Ellenbogen auf seine Oberschenkel abstützte. Er war so geschockt über das was er gerade erst erfahren hatte, dass er keinen klaren Gedanken fassen konnte, nur dass Paige nicht hier war. Aber wo war sie dann?
 

„Und was genau willst du gehört haben?“

Die Stimme des Mannes hatte etwas Eigenwilliges. Wäre Paige nicht klar gewesen, was er war, es wäre ihr vermutlich im ersten Moment gar nicht aufgefallen. Jemand, der nur äußerst selten mit Lungen atmete und dessen Luftstrom ebenso durch die Kiemendeckel nach draußen gelassen wurde, wie durch die Luftröhre, hörte sich immer etwas gehetzt an. Als hätte er Atemnot oder wäre gerade einige Kilometer gerannt.

In Paiges Körper tobten elementare Abneigung und Angst um die Oberhand. Der Typ war ein Vollblutdämon. Wäre es nicht so, er müsste verrückt sein, in dieser Wohnsiedlung mit von Weitem erkennbaren blauen Schuppen herum zu laufen. Dass er genauso gut verrückt wie einfach nur verdammt selbstgefällig sein konnte, beruhigte Paige kein Stück.

In ihrer Position konnte sie nur aus dem Augenwinkel zum Fenster hinaus auf die Hecke des Grundstücks sehen. Aber sich zu bewegen, wagte sie auch nicht. Vielleicht hatte sie Chancen, dass sie doch nicht gesehen worden war. Im Film lief doch gerade im richtigen Moment eine Katze unter dem Auto hervor, um die bösen Buben in Sicherheit zu wiegen...

„Scheißegal, was es war, aber ich hab was gehört.“

Keine Hinweise in der Stimme. Nichts, was auf einen zweiten Wasserdämon hindeutete. Aber das hieß nicht, dass sie sich entspannen konnte. Was, wenn es Eis war? Was, wenn -

Gemächlichen, aber vorsichtigen Schrittes kamen sie näher. Paige konnte durch die Beifahrertür die Stiefel auf dem Straßenpflaster hören. Sie würden ins Auto sehen. Das würde sie selbst genauso machen...

„Na und? Wir wollten nur eine Freundin besuchen. Ist doch egal, wer uns dabei sieht.“

Eine Freundin. Natürlich. Deswegen seid ihr auch beide an der magischen Barriere gescheitert.

„Stimmt schon. Aber sie scheint unser Klingeln nicht gehört zu haben. Vielleicht sollten wir's nochmal am Hintereingang versuchen.“

Niemand wäre so dumm. Die Stimmen kamen näher. Genauso wie die Schritte. Sie wollten sie in Sicherheit wiegen, aber Paiges Schuppen brachen aus reinen Urinstinkten unter ihrer Kleidung aus ihrer Haut. Der Abstand zum Wagen konnte nicht mehr groß sein.
 

„Wo ist sie!?“, schrie Ryon beinahe erneut, während er sich stark zusammen reißen musste, seinen alten Freund nicht zu packen und die Antwort aus ihm heraus zu schütteln. Aber in Paiges Zimmer auf und ab zu tigern, wo überall noch ihr Geruch in der Luft hing, machte es auch nicht besser.

„Ich habe dir schon zum hundertsten Mal gesagt, dass ich es nicht weiß.“, verteidigte sich der Doc vehement.

„Sie hat sich in den letzten Nächten immer dein Auto geschnappt und ist in den frühen Morgenstunden wieder zurück gekommen. Was sie während ihrer Abwesenheit tut, weiß ich nicht. Ich bin schließlich kein verdammter Hellseher!“

Ryon blieb ruckartig stehen und sah Tennessey finster an, als würde er ihn gleich auffressen oder zu Hackschnitzel verarbeiten wollen.

Der Doc erkannte seinen Fehler rasch, weil er sich sofort entschuldigen wollte, doch Ryon tat die Bemerkung mit dem ‚Hellseher‘ einfach mit einer Handbewegung ab. Es war doch nur ein dummes Sprichwort.

„Schon gut, vergiss es.“

Er setzte sich wieder und zog die Tagesdecke von Paiges Bett, um sich darin einzuhüllen. Zu mehr hatte er im Augenblick nicht den Kopf.

„Also denkst du, sie wird bald wieder hier sein? Immerhin geht in einer Stunde die Sonne auf.“

Auch Tennesseys Tonfall war nun wieder ruhiger und er sah wirklich ehrlich bedrückt aus.

„Ich weiß es leider nicht.“, seufzte er, ehe er sich auf einen Stuhl neben dem Kleiderschrank setzte.

Sie schwiegen. Was blieb ihnen auch anderes übrig, als zu warten?

Ryon hatte keine Ahnung wo Paige war und das machte ihn wahnsinnig. Nicht nur, weil er sie unbedingt sehen wollte, sondern weil er sich sorgen machte. Was wenn SIE gerade etwas Dummes und Gefährliches tat?
 

Der Motor heulte so laut auf, dass Paige selbst erschrak, bevor sie die Kupplung einschnappen ließ und ohne zu zögern vom Bürgersteig fuhr. Einen der Kerle erwischte sie so, dass er zumindest unsanft am Boden landete. Er rollte auf die Mitte der Straße, blieb aber kaum eine Sekunde liegen, während sein Freund sich an Paiges Verfolgung machte.

Als sie das Auto im ersten Gang bis dreißig hochjubelte, dankte sie Ryon dafür, dass er bei diesem Model nicht auf Automatikschaltung bestanden hatte.

Weg hier. Weg hier!

Auch im dritten Gang quälte sie den Wagen bis zu Drehzahlen weit im roten Bereich, bevor sie einen panischen Blick nach hinten aus dem Rückfenster wagte.

Ein Fehler.

Denn sie konnte gerade noch sehen, wie auch der zweite Dämon in die Hocke ging. Die Straße war in weniger als einer Sekunde spiegelglatt.

Der Wagen brach nach links aus, was Paige mit flinkem Ausgleichen in die Gegenrichtung zu verhindern suchte. Doch es reichte nicht. Einer der Vorderreifen streifte erneut den Bürgersteig, ließ das Auto schwanken, als wäre es ein verletztes Tier, bevor das Heck mit einem widerlichen Geräusch von Metall, das an Stein entlang schrammte, an einem Garageneck anschlug.

Wieder gab Paige Gas. Ihre Finger rutschten fast vom Schaltknüppel ab, während sie unnötig brutal versuchte, den Rückwärtsgang einzulegen.

Sie rannten. Noch waren sie klein, aber Paige konnte erkennen, wie die Eisschicht, die sie vor sich her schoben, mit jedem Schritt näher auf sie zukam.

Der Gang schnappte ein und Paige nutzte das Ausbrechen des Wagens, um zurück auf die Fahrbahn zu gelangen.

Das Rückfenster wurde von einer dünnen Eisschicht überzogen, bevor sich Risse darauf bildeten.

Immer wieder schnellte Paiges Puls um ein paar Grad in die Höhe, als die Reifen nicht auf festem Asphalt griffen. Den Wasserdämon hätte sie geschafft. Vielleicht nicht ohne Weiteres, aber sie war schon einmal mit einem von ihnen fertig geworden.

Ein weiterer Blick über ihre Schulter, der um Haaresbreite dafür sorgte, dass sie gegen einen Hydranten fuhr, zeigte ihr, dass sie Land gewann. Die Schemen wurden kleiner. Wenn auch nicht so klein, wie es ihr lieb gewesen wäre.

Erschrocken schrie sie auf, als sie in den Sitz gedrückt wurde. Die Reifen hatten wieder festen Griff, was Paige ohne Nachzudenken in Geschwindigkeit umwandelte. Das Gaspedal bis zum Anschlag durchgetreten, fuhr sie einfach gerade aus. Nicht direkt zurück zum Haus. Nicht einmal in die Nähe des Waldstücks. Wenn sie noch hinter ihr her waren... Wenn sie sich das Kennzeichen gemerkt hatten...
 

Nach einer Stunde, in der sie Kreuz und quer durch Straßen, Gassen und sogar über die Autobahn gefahren war, um ihre Spur zu verwischen, blieb sie an einem kleinen Rastplatz stehen. Ein Junge, der leicht verschlafen über die Schulter seines Vaters sah, der ihn in das Bistro trug, zeigte mit dem Finger in Paiges Richtung.

Sie stieg nicht aus, um sich den Schaden am Auto anzusehen. Wahrscheinlich hätte sie sonst befürchtet, dass sie gar nicht mehr bei den Anderen ankommen würde.

Stattdessen stellte sie den Motor ab, verschränkte die Arme auf dem Lenkrad und ließ ihre Stirn darauf fallen, bevor sie versuchte tief durchzuatmen.

Ihr Puls raste immer noch, obwohl man ihr bestimmt nicht ansah, wie sehr sie durch den Wind war. Immerhin zeigte sich Adrenalin nicht so, dass man lila anlief oder grüne Pusteln im Gesicht bekam.

Dennoch musste sie sich beruhigen. Wenn sie mit diesen zittrigen Händen weiter fuhr, dann würde sie eventuell gar keine Verfolger brauchen, um doch noch einen Unfall zu bauen.

„Ich will nach Hause.“

Keine Sekunde zweifelte sie den Begriff an. Sie wollte zu ihren Freunden, zu den Menschen, bei denen sie sich sicher fühlte. Das war es, was ein Zuhause für Paige bedeutete. Auch wenn das Gebäude nicht ihres war.

43. Kapitel

Als das Morgenlicht die Schatten im Zimmer von Minute zu Minute mehr vertrieb, war Ryon mit seiner Geduld absolut am Ende.

Er hatte zusammen mit Tennessey schweigend gewartet, obwohl der Doc teilweise den Eindruck gemacht hatte, als würde er gleich vor Müdigkeit einnicken. Trotzdem war er geblieben.

Kein Wunder dass sein Freund erschrocken zusammen fuhr, als Ryon plötzlich vom Bett aufsprang und aus dem Zimmer stürmte.

„Was hast du vor?“, rief ihm sein Freund hinterher, doch Ryon ließ ihn einfach stehen und schloss ihn endgültig von seinem Gefühlsleben aus, als er die Tür zur Garage hinter sich zu schlug. Er konnte jetzt keine Erklärungen abgeben, sondern nur dem brennenden Gefühl in seiner Brust folgen.

Paige war nicht zurück gekommen, obwohl sie es laut Tennessey in den letzten Tagen immer getan hatte. Irgendetwas stimmte also nicht und er würde nicht eher ruhen, bis er wusste, was genau los war.

Also schnappte er sich die Schlüssel zu seinem bevorzugten Sportwagen, stieg ein und tippte die Nummer von Paiges Handy ins Autotelefon, während er darauf wartete, dass sich das Garagentor öffnete.

Ryon fuhr so schnell los, dass er das sich öffnende Garagentor nur um Millimeter verfehlte und sein Auto gerade noch so davor bewahrt wurde, zu einem Cabrio zu mutieren.

Kaum auf der Straße trat er das Gaspedal ganz durch, während er auf ‚Wählen‘ drückte und mit angespannten Nerven auf das Freizeichen wartete. Seine Finger auf dem Lenkrad hätten gezittert, wenn er es nicht so krampfhaft festgehalten hätte.

Zwar hatte er keine Ahnung, wo sich Paige aufhielt, was sie trieb und wieso sie das tat, aber wenn es sein musste, würde er die ganze Welt nach ihr absuchen, nur um darauf eine Antwort zu bekommen.
 

Paige war klar, dass sie fuhr wie eine achtzigjährige Oma, die ihre Brille zu Hause neben dem Bett hatte liegen lassen. Trotzdem oder gerade deswegen fürchtete sie bei jedem Schlagloch und jeder Bodenwelle, dass der Wagen unter ihr zusammen brechen könnte. Das Auto ächzte kläglich und wenn sie recht hörte, schleifte irgendein Teil in den Kurven auf dem Asphalt.

Wenn Ryon jemals zurückkehrte, würde er sie umbringen, sobald er sein teures Luxusspielzeug sah.

Ein Auge zusammen gekniffen, versuchte sie das Schaben zu ignorieren, als sie den Blinker setzte und langsam in den Waldweg abbog, der in Richtung des Hauses führte. Sobald die Karosserie über den unbefestigten Weg polterte, fing sie irgendwo an zu quietschen und Paige war sich sicher, dass sie jeden Moment liegen bleiben und den Rest würde laufen müssen.

Durch den ganzen Lärm glaubte sie ein Klingeln zu hören. Irgendwo im Fußraum der Beifahrerseite, wo ihr Rucksack lag. Ihr Handy?

„Aaaah!!!“

Den Moment, den sie unaufmerksam gewesen war und nach ihrem Gepäck hatte greifen wollen, hatte irgendetwas monströs Schnelles genutzt, um aus dem Wald auf sie zuzurasen.

Nicht zum ersten Mal an diesem Tag riss Paige das Steuer herum, kam vom Weg ab und bretterte diesmal eine kleine Böschung hinunter. Sie wurde ordentlich durchgeschüttelt, kam aber ohne mit einem Baum kollidiert zu sein in Schieflage zum Stehen.

Ihre Finger versengten das Gummi des Lenkrads, während Paige sich daran festkrallte. Es war wirklich genug für heute. Sie wollte aus dieser Todesschleuder raus und in ihr Bett. Was war denn nun schon wieder passiert? War sie doch von den Dämonen eingeholt worden?!
 

Hätte er nicht die Reflexe eines Gestaltwandlers gehabt, er hätte vermutlich niemals rechtzeitig die Bremse bis zum Anschlag gequält, bis sein Wagen endlich zum Stillstand kam. Das Autotelefon war ihm dabei ohnehin irgendwo zwischen Vollgas und Vollbremsung abhanden gekommen und war auch längst vergessen, als Ryon langsam zu realisieren begann, was da gerade passiert war.

Als der erste Schock vorüber war, schlitzte er förmlich seinen Sicherheitsgurt mit seinen Krallen auf, da er keinen Nerv hatte, ihn normal zu öffnen.

Der Motor ruckte ebenfalls empört, als er einfach die Kupplung los ließ, um aus dem Auto zu springen und dieser einfach abstarb.

Die paar Sekunden die er brauchte, um zu seinem anderen Wagen, der im Graben gelandet war, zu gelangen, waren die reine Hölle für ihn.

Ryon war nicht fähig, über irgendetwas nachzudenken, aber das Adrenalin gab ihm schier den Rest. Sein Herz pochte so schnell, als würde es sich nie wieder beruhigen können und er empfand so derartig tiefes Grauen, dass ihm schlecht davon wurde.

Ihm entging trotz allem der Schaden an dem Auto nicht, der definitiv nicht davon stammen konnte, dass Paige in den Graben ausgewichen war.

Hätte sie beinahe einen Unfall gehabt? Vor diesem?

Er hatte so entsetzliche Angst davor, was er im Wageninneren vorfinden könnte, dass er sich kaum bewegen konnte und dennoch trat er schließlich an die Fahrertür und öffnete sie.

‚Paige?‘

Er brachte es noch nicht einmal über seine bebenden Lippen, bekam er doch ohnehin kaum Luft durch seinen vollkommen zugeschnürten Hals, als er sie sah. Soweit er erkennen konnte, war sie unversehrt, aber bei Gott, sie sah genauso aus, wie er sich fühlte!

Ryons Füße gaben unter ihm nach und er sank direkt neben Paige auf die Knie. Der Schreck saß ihm tief in den Knochen und machte ihn einen Augenblick lang vollkommen bewegungsunfähig. Er war noch immer total entsetzt, dass er sie beinahe über den Haufen gefahren hätte. Was, wenn sie nicht ausgewichen wäre?
 

Ok.

Sie war also doch gegen einen Baum gefahren und lag nun entweder halluzinierend in den letzten Zügen oder irgendwo unter Drogen im Krankenhaus. Jedenfalls konnte sie nicht dort sein, wo sie sich bis vor ein paar Sekunden noch geglaubt hatte. Dass sie jemand gefunden hatte und die Tür aufriss, um nach ihr zu sehen, war ja vielleicht noch realistisch gewesen, aber...

Halb interessiert, halb verwirrt sah sie über einen Arm hinweg auf Ryon hinunter, der neben der offenen Fahrertür in die Knie gegangen war. Paiges Hände lagen immer noch auf dem Lenkrad und krallten sich ohne, dass sie es wirklich mitbekam so daran fest, dass ihr Knöchel weiß hervor traten.

Ob er wieder verschwinden würde, wenn sie es wagte zu blinzeln?

Paige begann sich darüber zu wundern, dass ihr bewusst war, dass es sich um einen Traum handelte und sie trotzdem nicht aufwachte. Na, ihr sollte es recht sein. Auch wenn ihr nicht so ganz klar war, was sie nun tun sollte. Wie sprach man denn mit einer Wunschvorstellung?

„Hi.“ Klassisch.

Konnte sie jetzt einfach so weiter machen? Wenn sie nicht das Gefühl gehabt hätte, dass sie dabei in Tränen ausbrechen musste, hätte sie ihm gesagt, dass sie gern nach Hause wollte.
 

Paiges schlichtes ‚Hi‘, war so irreal in dieser Situation und zugleich genau das Richtige, um ihn wieder auf Vordermann zu bringen.

Langsam hob er den Kopf, um ihr direkt in das blasse Gesicht zu blicken.

Wut begann in ihm hoch zu kochen, jetzt, da der Schrecken nach ließ und er auch wieder was anderes, als kaltes Grauen fühlen konnte. Allerdings war er nicht wütend auf Paige, sondern auf sich selbst, die Welt und diese ganze verdammte Situation.

Doch er gab dem Drang, auf irgendetwas einzuschlagen, nicht nach, sondern stattdessen richtete er sich etwas auf, um seine Arme um Paiges Hüfte schlingen zu können, während er seinen Kopf auf ihrem Oberschenkel ablegte und einfach nur ein paar Mal ihren Duft tief in sich aufsaugen musste, bis er tatsächlich glauben konnte, dass es ihr zumindest körperlich gut ging. Sie war unversehrt, aber verdammt noch mal, wie knapp war es denn gewesen?

„Wenn du mich umbringen willst, dann mach nur weiter so, Paige. Du bist auf dem richtigen Weg…“, entkam es ihm mit gebrochenen Worten.

Er hatte so viele Fragen, was denn passiert sei, wo sie gewesen war und überhaupt, wie waren sie beide denn hier gelandet? Aber keine davon brachte er über die Lippen. Stattdessen konnte er sich einfach nur an ihr fest halten, um noch ein paar weitere Kräfte zu sammeln. Immerhin wollte er nicht noch länger zwischen Schrecken und tiefer Sorge festhängen. Was er aber würde, wenn sie hier den ganzen Tag verbrachten.

Schließlich raffte er sich auf. Was auch immer es zu sagen oder zu tun gab, das konnten sie auch noch an einem sicheren Ort erledigen. Hier wie auf dem Präsentierteller zu hocken, brachte nichts und Ryon hatte auch keine Lust noch länger daran erinnert zu werden, dass er Paige fast über den Haufen gefahren hätte.

Also öffnete er ihren Sicherheitsgurt und löste vorsichtig ihre völlig verkrampften Finger vom Lenkrad.

In diesem Augenblick müsste sie ihn schon richtig durch braten, um ihn zum Loslassen zu zwingen, denn von sich aus, würde er es garantiert nicht tun, nachdem er sie vom Sitz gezogen und hochgehoben hatte. Mit einem Tritt verpasste er der Autotür eine weitere Delle, damit es wenigstens nicht hinein regnete, falls der Wagen länger hier herum stehen würde.

Noch immer ziemlich durcheinander brachte er Paige zum anderen Auto und setzte sie auf dem Beifahrersitz ab, ehe er einstieg, den Rückwärtsgang einlegte und die ganze Strecke bis zum Haus auf diese Weise zurück legte.

Dort angekommen stellte er den Motor ab, blieb aber einfach sitzen. Sein Blick hing an einem Punkt auf dem Lenkrad, während er das Gefühl hatte, ein einziges Nervenbündel zu sein.

„Ich hätte Lust auf Milchkaffee…“, stellte er schließlich in den Raum, auch nicht weniger grotesk als Paiges ‚Hi‘.
 

Wort- und widerstandslos ließ sie sich umarmen, ihre Finger vom Lenkrad lösen und sich schließlich aus dem Auto heben. Egal, wohin er sie brachte, es wäre bestimmt besser als weiter in dem dunklen Wagen sitzen zu bleiben oder ihn auch noch irgendwie aus dem Graben zu bekommen.

Ihr war kalt und sie war müde. Wahrscheinlich hatte sie einen Schock und soweit sie wusste, hatte sie auch eine Mütze aufgehabt, bevor sie im Graben gelandet war.

Weil ihr die brennenden Augen langsam aber sich zufallen wollten, sobald sich ihr Puls wieder einigermaßen normalisierte, sah sie nicht weiter konzentriert nach hinten, sondern den Weg hinunter, der zu dem Autowrack führte, das sie hinterlassen hatte und das inzwischen hinter einer kleinen Biegung verschwunden war.

Die Strecke kam ihr lang vor. Und es wirkte etwas befremdlich, dass Ryon einen Arm auf ihrer Sitzlehne abgelegt hatte und mit dem Anderen lenkte, während er recht schnell rückwärts die ganze Strecke zum Grundstück zurück legte. Erst als sie am Tor angekommen waren, drehte er um und sie fuhren geradeaus die Einfahrt hinauf und in die Garage.

Paige drehte den Kopf nur ein wenig, um Ryon anzusehen. Er wiederum starrte auf das Lenkrad oder einen Punkt dahinter, den Paige nicht ausmachen konnte. Jedenfalls sah er recht ... mitgenommen aus.

Wenn sie nicht so kaputt gewesen wäre und ihr Körper nach den so kurz aufeinander folgenden Adrenalinschocks nicht völlig zurück gefahren hätte, wäre sie vielleicht dazu im Stande gewesen, ihn zu fragen, was passiert war. Nicht nur vorhin...

„Ich hätte Lust auf Milchkaffee...“

Ohne etwas gesagt zu haben, ließ sie die Kopf wieder hängen. Ihr war eingefallen, dass er es ihr nicht sagen würde.

Also nickte sie nur, griff völlig überflüssig nach dem Gurtöffner und stellte fest, dass sie gar nicht angeschnallt gewesen war. Ebenso ewig wie das Aussteigen schien es zu dauern, bis sie aus der Garage im Haus und endlich in der Küche angekommen waren. Niemand begegnete ihnen auf dem Weg, auch wenn Paige sicher war, dass man ihre Ankunft mitbekommen hatte. Jeden Moment erwartete sie, dass die Anderen aus irgendeiner Ecke stürmen und sie mit Fragen bombardieren würden. Dabei wollte sie niemandem Fragen beantworten. Eigentlich auch Ryon nicht, bei dem sie immer noch davon ausging, dass er sich in den nächsten Minuten einfach wieder in Luft auflösen würde.

Ohne darauf hingewiesen worden zu sein, ließ sich Paige auf einen der Stühle am Tisch sinken und sah dabei zu, wie Ryon auf die Küchenzeile zuging und Milchkaffee machte.

Lieber als Kaffee wäre ihr ein Glas Wasser gewesen. Das hätte bestimmt auch ihren Kopf ein wenig beruhigt, der angefangen hatte zu schmerzen. Wahrscheinlich nicht zuletzt deshalb, weil sie herauszufinden versuchte, was sie als nächstes sagen oder tun sollte. Außer ihn anzusehen.

Jede seiner Bewegungen nahm Paige mit irgendwie anderen Augen wahr. Oder lag es vielleicht gar nicht an ihr? Hatte er sich in den vergangenen Wochen verändert? Irgendetwas war definitiv anders, aber was genau...

Er wirkte ... gefestigt.

Paige fiel kein besseres Wort dafür ein. Ryon wirkte so, als hätte er seine Mitte wieder gefunden. Selbst zu der Zeit, als er als Eisschrank durch die Gegend gelaufen war, hatte er nicht so einen bleibenden Eindruck hinterlassen. In ihrem müden Hirn konnte sie einfach keinen Begriff dafür finden, was sie meinte.

Geduldig blieb sie sitzen und wartete, bis er ihr eine Tasse vor die Nase stellte.

„Danke.“

Erst nach diesem leisen Wort sah sie fragend zu ihm auf.
 

Eigentlich hätte er gedacht, dass die Tätigkeit ihm etwas bei seiner Zerstreuung helfen würde, doch letztendlich war er anhand der Ereignisse so durch den Wind, dass er sich nur auf das konzentrieren konnte, was er gerade machte. Nämlich Milchkaffee.

Als Ryon damit fertig war und auch die Sachen wieder ordentlicher als nötig verräumt hatte, stellte er Paige eine Tasse hin und setzte sich ihr gegenüber.

Ihr leiser Dank drang kaum zu ihm durch, doch ihr fragender Blick tat es. Er erwiderte ihn. Ebenso fragend.

Während er Paige nach Verletzungen oder sonst irgendwelchen Schäden musterte, überschlugen sich die Spekulationen in seinem Kopf, was ihr passiert war.

Einfach nur ein Unfall beim Nachhause fahren? Möglich.

Allerdings was hatte sie in den letzten Nächten getrieben? Noch dazu sah sie so aus, als würde sie auf der Stelle im Sitzen einschlafen und da er die ganze Nacht lang durchgelaufen war, ging es ihm ähnlich, wenn auch langsam wieder etwas besser. Nun, da der Schreck gemächlich aber sicher nachließ.

Schließlich, als keiner von ihnen beiden gewillt war, anzufangen, weder mit dem Fragen noch mit dem Fragenbeantworten, schloss er für einen Moment die Augen.

Er war müde, erschöpft und ausgelaugt. Zwar wollte er wirklich wissen, was mit Paige passiert war, aber im Augenblick waren andere Dinge wichtiger. Zum Beispiel, dass sie sich ausruhen konnte. Sie sah vollkommen fertig aus und nach dem was ihr heute vermutlich schon alles widerfahren war, sollte er sie einfach nur unter die Dusche und dann ins Bett stecken, anstatt sie mit Fragen zu durchlöchern.

Ein Grund, wieso er sich schließlich wieder erhob, ohne auch nur einmal seine eigene Tasse angerührt zu haben. Er hatte ohnehin nicht vorgehabt, den Inhalt zu trinken. Seine Finger hatten einfach nur Beschäftigung gebraucht.

Ryon ging um den Tisch herum und stellte sich hinter Paige. Er beugte sich zu ihr herab, umschlang ihren Oberkörper mit seinen Armen und legte seine Wange an ihre, während er leise und sanft flüsterte: „Reden können wir auch später. Lass uns dich erst einmal ins Bett bringen, okay?“
 

Wäre ihre körperliche Reaktion so schnell gewesen wie ihr Verstand, Ryon hätte sich wahrscheinlich sofort erschrocken wieder zurück gezogen. Aber anstatt nach seinen Armen zu greifen, um ihn festzuhalten, schaffte Paige es nur, die Augen etwas aufzureißen.

Nein!

Sie wollte nicht ins Bett gehen. Nicht in ihr Bett und nicht allein. Wenn er reden wollte, dann würde sie es schon irgendwie fertig bringen auf seine Fragen zu antworten! Wenn das bloß bedeutete, dass er nicht schon wieder verschwand.

Ob er nun im gleichen Haus blieb, war da völlig egal. Es würden Wände und geschlossene Türen zwischen ihnen liegen. Und das war mehr als Paige im Moment auch nur geistig verkraften konnte. Nicht nach all dem, was in den letzten paar Stunden vorgefallen war.

„So... So müde bin ich wirklich noch nicht.“

Nur mit den Fingerkuppen und so leicht, als könne er wie trockene Asche unter ihrer Berührung einfach zerbröseln und von einem Lufthauch davon getragen werden, strich sie seinen Handrücken entlang.

Die Augen fielen ihr für einen Moment sogar im Sitzen zu, aber Paige brachte es erneut zustande sie zu öffnen.

„Bitte...“, es war kaum hörbar.

„Ich will noch ein bisschen bei dir sein.“
 

Sein Herz schlug schneller und ein warmes Gefühl überkam ihn bei Paiges Worten und dem offensichtlichen Protest, obwohl sie totmüde sein musste.

Sie wollte also bei ihm bleiben? Dann wollten sie doch beide das Selbe, allerdings schien sie das nicht zu wissen. Verständlich, nach dem er sie gut ein halbes Monat lang alleine gelassen hatte, obwohl er wusste, wie sehr es auch ihr schwer gefallen sein musste.

Sanft schmiegte er sich noch ein bisschen enger an ihren Rücken und schloss einen Moment lang die Augen, um einfach das Gefühl zu genießen, sie halten zu können. Uneingeschränkt und ohne Gewissenskonflikte. Die waren nun endgültig beseitigt.

„Paige… Wir wollen doch das Gleiche und ich bin ebenfalls ziemlich müde. Also keine Schwindeleien, ja? Ich bring uns beide jetzt in die Federn.“

Ryon setzte seine Worte ohne zu Zögern in die Tat um. Er schob Paiges Stuhl zurück, schlang einen Arm um ihren Rücken und den anderen unter ihre Knie, ehe er sie auch schon hoch hob und an sich drückte. Er schmiegte seinen Kopf an ihren, während er sie aus der Küche, durch die leeren Gänge in ihr Zimmer trug.

Erst in ihrem Badezimmer setzte er sie auf einer Kommode ab, strich ihr ein paar der zerzausten Haarsträhnen glatt und sah sie warm an.

„Ich würde gerne noch duschen gehen, bevor wir uns hinlegen. Willst du mich begleiten? Ich pass auch auf, wenn du im Stehen einschlafen solltest…“

Er lächelte immer noch zittrig.
 

Es war kaum zu glauben, aber selbst auf dem kurzen Weg in ihr Zimmer musste sie eingeschlafen sein. Denn an die Gänge oder daran, wie sie durch die Tür gekommen waren, konnte sie sich nicht erinnern. Genauso wunderte sie sich auf einmal mit den Füßen über dem Boden des Badezimmers zu baumeln.

Bei dem herzhaften Gähnen, das sie mit beiden Handflächen vergeblich zu verbergen versuchte, konnte sie garantiert nicht mehr leugnen, wie müde sie war.

Mit einem Blick maß sie die Entfernung zur Duschkabine ab und schätzte den Aufwand, sich die Kleider auszuziehen, in Anstrengung ab. Es war eigentlich nicht zu schaffen.

Dennoch nickte sie und versuchte sich auch an einem schwachen Lächeln, bevor sie nach dem Bund ihres Pullovers griff und ihn sich umständlich über den Kopf zog. Er landete unbesehen neben ihren Füßen und Shirt, Hose und Unterwäsche folgten keine Minute später. Sich jetzt noch Gedanken darüber zu machen, ob sie sich einfach so vor Ryon ausziehen sollte, war einfach nicht drin.

Deshalb ging sie auch mit einem weiteren Gähnen zur Dusche hinüber und drehte das Wasser auf. Nur die Tatsache, dass es etwas dauerte, bis es heiß kam, sorgte dafür, dass sich Paige daran erinnerte Handtücher aus dem Schrank zu holen. Für ihren Zustand sehr sorgsam hängte sie die flauschigen Handtücher über die dafür angebrachte Heizung und sah dann Ryon an, der inzwischen ebenfalls nackt in ihrem Bad stand.

Wieder kam er ihr auf seltsame Weise verändert vor. Irgendwie ruhiger und doch...

Mit einem kräftigen Blinzeln raffte sie sich auf, nahm seine Hand und zog ihn hinter sich in die Duschkabine, wo sie am liebsten unter dem heißen Wasserstrahl angewachsen wäre.

„Auch wenn's nicht so aussieht, ich teile...“, meinte sie leise und trat einen Schritt zurück an die Wand, damit Ryon zumindest ein wenig vom Wasser abbekommen konnte.
 

So wie sich Paige in ihrem schläfrigen Zustand mit ihrer Kleidung abmühte, war Ryon versucht, ihr schon dabei zu helfen, aber sie würden schneller fertig werden, wenn er sich selbst ebenfalls rasch auszog.

Obwohl es eigentlich unter den gegebenen Umständen vielleicht nicht unbedingt angebracht war, so konnte er doch nicht verhindern, dass er Paige heimlich musterte, während sie splitterfasernackt das Wasser anstellte, Handtücher heraus suchte und sie dann über den Wärmer hängte. Alles, ohne auch nur den geringsten Blick auf sich zu verwehren. Es war zwar nicht so, dass er sie nicht schon nackt gesehen hätte, aber inzwischen war das lange her und ein wahrer Kenner genoss solche Augenblicke einfach. Vor allem, da er keinen einzigen blauen Fleck mehr auf ihrer Haut entdecken konnte.

Unter der Dusche war das heiße Wasser so unglaublich gut, dass er fast vor Wonne gestöhnt hätte. Natürlich hatte er sich in den letzten Wochen nicht einfach gehen lassen, aber ein kaltes Bad in einem Bach war einfach nicht hiermit zu vergleichen. Schon gar nicht, wenn man ein dichtes Fell statt sensibler Haut hatte.

Um dennoch den Duschaufenthalt so kurz und effektiv wie möglich zu halten, wusch sich Ryon rasch die Haare, rubbelte sich mit Duschgel ab und während an ihm der Schaum abperlte, half er auch noch Paige dabei, sich die Haare zu waschen, da sie dazu sicher keine Lust mehr hatte, ihre Haare aber bereits feucht waren.

Vermutlich waren sie kaum zehn Minuten unter dem warmen Wasserstrahl. Für ihn auf jeden Fall ein neuer Rekord, wenn er nicht alleine war.

Ryon rubbelte sich die nassen Haare so trocken wie möglich und hing sich dann das Handtuch um die Hüften. Er hatte keine frischen Sachen mit, aber das störte bei ihrem Müdigkeitsgrad vermutlich keinen von ihnen beiden mehr.

„Soll ich dir schon mal ein Schlafshirt heraus suchen?“, fragte er leise, während er ein Gähnen unterdrückte, obwohl es ihn dennoch regelrecht durchschüttelte. Er war vollkommen erledigt. Erst recht, nach dem das heiße Wasser seine beruhigende Wirkung entfaltet hatte.
 

Paige sah beinahe flehentlich und aus winzigen Augen zu ihm hoch, als er ihr dieses für den jetzigen Moment, verführerischste Angebot der Welt unterbreitete.

„Ja, bitte. Das wäre wirklich nett.“

Sie selbst wollte sich nur noch die Haare ein wenig trocknen und die Zähne putzen. Was bei dem Bett, das ohrenbetäubend laut nach ihr schrie, fast einem Marathonlauf glich. Eine starke Gänsehaut legte sich über ihren gesamten Körper, während sie aus dem Gähnen fast nicht mehr heraus kam.

Ihre Haare waren an den Spitzen noch immer ein wenig feucht und das Zähneputzen war mehr oder weniger nur eine Andeutung gewesen, als sie in eins der Handtücher gewickelt ins Zimmer kam, wo Ryon schon unter der Decke lag.

Er hatte die Vorhänge zugezogen und nur ein einzelner heller Streifen Morgenlicht schnitt sich durchs Zimmer quer über das Bett, während alles andere in nahezu warmen Schatten getaucht war.

Paige konnte wirklich kaum noch die Augen offen halten, als sie sich das Shirt, das er ihr auf das Fußende des Bettes gelegt hatte, überzog und sich auch noch einen Slip aus der Schublade suchte, um ihn anzuziehen.

Es war bereits so wunderbar warm unter der Decke, das es Paige nur halb auffiel, dass Ryon keinerlei Klamotten zum Schlafen trug. Seine Haut war nicht kühl, sondern glühte im Gegensatz zu ihrer beinahe, als sie sich an ihn kuschelte.

„Tut mir leid... Dein Auto...“, nuschelte sie schon im Halbschlaf, während sie noch ihre Arme um ihn schlang, bevor sie ganz weg war.
 

Als Paige endlich zu ihm ins Bett kam, brannten seine Augen bereits so sehr, dass sie beinahe tränten, aber er konnte einfach nicht seinen Blick von ihr nehmen. Zumindest solange nicht, bis er sie sicher in seinen Armen hielt, denn dann war er sich bewusst, dass sie bei ihm war und auch nicht verschwinden würde.

So also konnte er endlich der Müdigkeit nachgeben und die Augen schließen. Allerdings öffnete er sie noch einmal, als sie ihm etwas zuflüsterte.

Wäre sie nicht schon im nächsten Moment eingeschlafen, sie hätte noch seinen verstimmten Blick bemerkt, so aber strich er ihr noch einmal über die Wange und kuschelte sich an sie.

„Als würde mich jetzt noch das Auto interessieren…“, murmelte er ebenso leise wie sie vorhin und vergaß im nächsten Moment die Welt um sich herum, als er vor Erschöpfung einschlief.

44. Kapitel

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

45. Kapitel

Da er ein Gestaltwandler in seinen besten Jahren und dazu noch sehr ausdauernd war, dauerte es vielleicht ein bis zwei Stunden, bis sich seine schlimmste Erschöpfung in neuerliche Energie umgewandelt hatte. Vor allem, weil er so tief wie ein Toter geschlafen hatte, konnte er sich so schnell regenerieren.

In diesem Zustand könnte Paige alles mit ihm angestellt haben, ohne dass er es mitbekommen hätte, doch als er einfach die Augen aufschlug und sie bei sich sah, war er wieder im Himmel.

Mit einem zufriedenen Schnurren kuschelte er sich an sie und stellte dabei fest, dass sie beide immer noch nackt im Bett lagen, von seiner Wärme behütet. Allein von diesem Standpunkt aus betrachtet, wäre eine Decke bei ihm vollkommen überflüssig.

Allerdings würde ihn das auch immer wieder in Versuchung bringen und nach diesem im wortwörtlichen Sinne überwältigenden Höhepunkt, brauchte er noch eine Pause. Sein bestes Stück würde es ihm sicherlich danken.

Obwohl ihn langsam die Realität wieder hatte, war er doch merkwürdig entspannt. Ob es nun nur an dem hervorragenden Sex lag, oder doch viel mehr, dass er sich in seinem veränderten Zustand bei Paige befand, konnte er nicht genau sagen, aber im Augenblick schien ihn kaum noch etwas erschüttern zu können.

Weshalb er auch ganz ernsthaft meinte: „Ich verhungere gleich und du?“

Wann hatte er denn zuletzt etwas gegessen und selbst wenn, ein paar Stunden mit Paige und er hatte einen Kalorienverbrauch von mehreren wilden Käfigkämpfen. Das konnte man kaum toppen.
 

Paige musste breit grinsen, als Ryon völlig unvermittelt vom Essen anfing. Gerade hatte er die Augen aufgeschlagen und war aus seinem tiefen Schlaf erwacht. Was sie nur noch mehr zum Schmunzeln brachte. Vor allem auch deshalb, weil sie sich schon seit ungefähr zwanzig Minuten Sorgen darüber gemacht hatte, dass ihr knurrender Magen ihn entweder aufwecken oder sie selbst dazu zwingen konnte, dass sie sich aus Ryons Umarmung löste, um etwas Essbares aus der Küche zu stibitzen.

„Ich kann mich nur anschließen.“

Mit einem kleinen Kuss setzte sie sich auf, schwang ihre Beine aus dem Bett und machte sich auf den Weg ins Bad, um sich dort einigermaßen herzurichten. Sie hatte nicht einen Kratzer am Leib, aber spurlos war ihre wilde Begegnung auch nicht an ihr vorbei gegangen. Ihre Haare standen ihr wuschelig vom Kopf ab und ein paar Falten des Kopfkissens hatten Abdrücke auf ihrer Wange hinterlassen.

Während Paige versuchte, mit der Bürste etwas ihre wilde Mähne zu bändigen, kehrten ihre Gedanken zu den Anderen zurück. Es musste ohnehin schon Zeit fürs Abendessen sein. Und so unverblümt, wie sie sich beide aufgeführt hatten, würden sie wohl nicht darum kommen, sich fragenden Gesichter gegenüber zu sehen. Oder vielleicht sogar Schamesröte auf Ais hohen Wangenknochen.

Etwa fünf Minuten später kam sie zurück ins Zimmer, suchte sich ein paar Sachen heraus und zog sich an. Sie hatten heute bestimmt nichts Großartiges mehr vor, also würde es eine bequeme Stoffhose und ein roter weicher Pulli tun. Paige schwebte ohnehin ein Abend vor dem Kamin vor. Denn auch wenn sie es nicht ganz wahrhaben wollte ... es standen zu viele Fragen unbeantwortet im Raum, als dass sie darüber einfach hätten hinweg sehen können.
 

Als sie die Küche tatsächlich betraten, herrschte die gleiche Stimmung wie immer. Tyler stand am Herd und gab wohl gerade der Hauptspeise den letzten Schliff, während Tennessey über eine Zeitung gebeugt am Tisch saß und ab und zu ein Wort mit Ai wechselte, die Mia auf ihren Knien hatte.

Paige hatte es bereits erwartet, aber die Reaktion des Mädchens zauberte ihr sofort ein Strahlen aufs Gesicht. Die Kleine hatte bestimmt nur einen winzigen Blick auf Ryon erhaschen können, der hinter Paige die Küche betreten und leise die Tür geschlossen hatte. Doch Mia streckte sofort die Arme nach ihm aus, ihre grauen Augen weiteten sich begeistert, während sie laut lachte und ihm ein herzerweichendes 'Katze!' entgegen quietschte.

Paige wusste, dass Mia auch sie selbst inzwischen lieb gewonnen hatte. Aber mit Ryon, den sie schon länger kannte und der sich schon immer um sie gekümmert hatte, würde sie niemals konkurrieren können. Das musste sie auch nicht.
 

Er war immer noch sehr entspannt und ausgeglichen, als er nach Paige die Küche betrat und nun nicht nur seinen Freund Tennessey wieder sah, sondern auch die anderen der kleinen bunten Familie. Doch allen voran fiel sein Blick sofort auf die kleine Mia, die sich schließlich von Ais Schoß befreite und unter dem Tisch mit ausgestreckten Ärmchen auf ihn zugestürmt kam.

Sofort ging er in die Hocke, streckte ihr seine sehr viel größeren Hände entgegen und hob sie mit einem herzlichen Lächeln hoch.

„Da ist ja mein kleiner Sonnenschein.“, sprach er mit ihr in vertrauter Zweisamkeit und vergrub sein Gesicht in ihr wohlig duftendes Haar, das ihn so absolut süchtig machte. Im Gegenzug dazu, griff sie in das seine, zog sanft daran und quiekte immer wieder vergnügt vor Freude, bis sie sich einfach nur noch an ihn kuschelte und somit mehr denn je an ein kleines Kätzchen erinnerte. Fehlte nur noch, dass sie schnurrte.

Erst nachdem seine – wie seine Mutter es wohl bezeichnen würde – Vaterscheuklappen wieder für mehr als nur das kleine Mädchen offen waren und er nun auch den Rest der Anwesenden voll und ganz mitbekam, nahm er sanft lächelnd Paiges Hand und ging mit ihr und Mia zusammen zum Tisch.

Es wurde Zeit die Platzordnung neu zu arrangieren, was er eigentlich schon längst hätte tun sollen. Weshalb er für Paige den freien Stuhl neben sich zurück schob, damit sie sich setzen konnte und er sich dann auf seinen eigenen setzen konnte.

Erst als er Mia richtig auf seinem Schoß platziert hatte und die fragenden Blicke ganz besonders von Tyler immer bohrender wurden, starrte er dem Gestaltwandler so lange in die Augen, bis dieser sich lieber wieder dem Essen widmete, das bereits ziemlich fertig duftete.

Ja, es gab Tonnenweise Fragen, aber die würde er zuerst Paige beantworten, ehe er auch nur in Erwägung zog, den Rest von ihnen mit einzubeziehen und was den Sex mit ihr anging, der vermutlich nicht zu überhören gewesen war, das ging sie alle noch viel weniger an und darüber würde er erst recht keine Auskunft geben. Immerhin reichten schon die unwillkommenen Lauscher an der Wand.

Tennessey half Ryon freundlicherweise aus der Patsche, als er ein sehr unverfängliches Gesprächsthema begann – das Wetter.

In der Zeitung stand, dass offenbar ein früher Wintereinbruch zu erwarten war und dass geraten wurde, sich dementsprechend darauf vorzubereiten.

Während Tyler schließlich darauf einging und irgendetwas von Winterreifen murmelte, servierte er das Essen und schon bald waren alle Fragen vorerst vergessen.

Obwohl Ryon wirklich einen ganzen Hirsch verputzen könnte, wobei er das in den letzten Wochen auch getan hatte, wenn man es recht bedachte, war er doch äußerst geduldig mit Mias Versuchen selbst zu essen und den immer wieder aufkommenden bitten, dass er sie fütterte. Er machte Halbe Halbe. Er fütterte ihr einen Löffel und wenn sie dann nicht selbst einen weiteren nahm, stellte er sich einfach quer. Obwohl es schwer war, ihren süßen Augen zu widerstehen, musste sie doch gewisse Dinge lernen und konnte nicht ständig verwöhnt werden. Bei Gott, sie hätte es wirklich verdient, aber ihrem erwachsenen Leben wäre das nicht sehr förderlich gewesen.

Erst als Mia wirklich satt war und lieber mit den Knöpfen an seinem Hemd spielte, kam er dazu, selbst etwas zu essen. Manierlich, obwohl er es am liebsten einfach nur noch in sich hinein gestopft hätte.
 

Paige besah sich die Szene mit interessiertem, halb erstauntem Blick. Was aber vor allem davon her rührte, dass sie ihren eigenen emotionalen Regungen nicht folgen konnte. Über zwei Wochen lang hatte sie mit diesen Menschen jeden Abend in der Küche gesessen. Sie hatten sich unterhalten, zusammen gegessen und meistens hatte Paige die kleine Mia auf ihrem Schoß gehabt, um ihre Gesellschaft zu genießen und sich um sie zu kümmern.

Jetzt, da sie neben Ryon stand, der mit dem kleinen Mädchen in eine eigene Welt abgetaucht schien, fühlte sich der Raum ganz anders an, als noch am Abend zuvor. Sie sollte es nicht, aber als Paige einen verstohlenen Blick auf Tennessey warf, fühlte sie sich ignoriert. Was aber noch besser war, als der fragende, für ihre Augen sogar kritische Blick, den Tyler ihnen vom Herd aus zuwarf.

Als Ryon ihre Hand nahm, senkte sie leicht den Kopf und lief nur noch röter an, als er ihr den Stuhl neben seinem heraus zog und ihr bedeutete, sich zu setzen.

Schon lange war sie nicht mehr so nervös gewesen. Sie kam sich ein wenig so vor, als müsse sie vor den Anderen eine besonders gute Figur machen, um zu rechtfertigen, was wohl keiner im Haus überhört haben konnte.

Ruckartig verschränkte Paige ihre Finger unter dem Tisch, wo es keiner sehen konnte, um sich selbst ein wenig von ihren zitternden Händen abzulenken. Das durfte doch nicht wahr sein! Immerhin war Ai ihre beste Freundin.

Und doch... Ai war mit Tyler zusammen. Und er hatte Marlene gekannt. Paige starrte auf das perlweiße Tischtuch vor sich, auf dem ein ebenso weißer Teller stand und Zweifel fingen an, sie zu durchbohren.

Dass der Rothaarige auch noch etwas von Winterreifen erwähnte, womit sich Paige gleich wegen des kaputten Autos angesprochen fühlte, half da auch nicht besonders.

Und dabei wusste sie doch, dass weder die Männer noch Ai ihr etwas Böses wollten. Sie verstanden sich alle gut, waren sogar Freunde. Paige hätte alle drei ohne zu zögern als das bezeichnet, was einer Familie für sie am Nächsten kam. Und doch fühlte sie sich in diesem Moment wie auf dem Prüfstand. Etwas spät, wenn man bedachte, wie viel alle bereits von ihr wussten.

Aber über Marlene hatten sie noch mehr gewusst. Sie hatten sie länger bei sich gehabt, sie wahrscheinlich ebenso sehr gemocht, wie Ryon sie noch immer liebte. Kein Wunder, dass Paige die Konkurrenz darstellte...

Erst als emsiges Geklapper von Besteck und Mias winzige Diskussion mit Ryon an ihre Ohren drang, realisierte Paige, dass ihr Teller sich inzwischen mit gebratenem Fisch, Kartoffeln und verschiedenem Gemüse gefüllt hatte.

Erstaunt sah sie auf, begegnete aber keinem Blick, der ihr gesagt hätte, bei wem sie sich bedanken sollte. Also murmelte sie nur einen allgemeinen Dank vor sich hin und begann vorsichtig und weiter nachdenklich zu essen. Auf Eierschalen zu sitzen hatte ihr noch nie gefallen. Ihr wäre es lieber gewesen, wenn irgendjemand das Thema, das offensichtlich schwer über dem Tisch hing, einfach angesprochen hätte.
 

Nachdem Mia sich auf seinem Schoß ruhig verhielt und irgendetwas leise vor sich hin sang, während sie ihren Kopf an seine Brust schmiegte, als wäre sie gerade in ihrer eigenen Welt, begann Ryon langsam aber sicher sehr deutlich die Atmosphäre im Raum zu spüren.

Zuvor hatte ihn sein gewaltiger Hunger noch davon abgelenkt, doch nun, da sich sein Magen immer mehr füllte, entging ihm nicht mehr das Geringste. Denn zu Ryons Überraschung war der Tiger immer noch sehr dicht an der Oberfläche. Nicht so sehr, wie vorhin noch mit Paige, aber doch so nahe, wie noch nie in einer derartigen Situation.

So war es leicht, zu erraten, dass Tyler sich verdammt hart zusammen riss, um nicht gleich vor lauter Fragen zu platzen oder irgendeinen Kommentar über sein plötzliches Auftauchen oder die danach geschehenen Ereignisse abzugeben. Tennessey war bereits vorgewarnt gewesen und daher dementsprechend ruhig, aber auch er brannte förmlich auf Neuigkeiten.

Ai schien im Gegensatz zu den Männern die ruhigste am Tisch zu sein, auch wenn sie ebenfalls einen fragenden Eindruck für seine Sinne hinterließ.

Paige allerdings war am Schlimmsten, was ihm selbst weh tat. Sie versuchte es zu verbergen, aber sie war nicht nur immer wieder tief in Gedanken versunken, sondern schien vor lauter Nervosität kaum auf ihrem Sessel sitzen bleiben zu können.

Was schließlich dazu führte, dass Ryon sein Besteck weg legte, obwohl er noch nicht satt war.

Für all das, war er der Grund, allerdings war er noch nicht bereit, auch dafür einzustehen. Nicht vor der gesammelten Mannschaft, ohne dass er vorher die Gelegenheit gehabt hatte, alleine mit Paige darüber zu sprechen. Wenn er sich für sein Handeln rechtfertigen musste, dann war sie die einzige Person, die es wirklich verdiente. Die anderen ging sein Leben überhaupt nichts an, egal ob sie seine Freunde waren oder nicht.

Während Tyler den Nachtisch vorbereitete und Tennessey sich anscheinend mit irgendetwas beschäftigen musste, da er den Tisch abräumte, streckte Ryon unter dem Tisch seine Hand aus und ergriff die von Paige, um sie sanft und warm zu drücken.

Es war ihm egal, wer von ihnen den beruhigenden Gesichtsausdruck oder das liebevolle Lächeln darin sah, das nur ihr alleine gebührte. Aber ihm war auch klar, dass er selbst den Nachtisch wohl kaum noch überstehen würde, wenn das hier so weiter ging, weshalb er die halb eingedöste Mia von seinem Schoß auf seinen Arm nahm und schließlich langsam aufstand.

„Paige, willst du mir helfen, Mia ins Bett zu bringen?“, fragte er leise, ohne die anderen anzusehen, die plötzlich merkwürdig hellhörig geworden waren.

Am liebsten hätte Ryon seinen Freunden in diesem Augenblick die Ohren lang gezogen, aber er konnte es ihnen leider nicht übel nehmen.
 

Schon seit ihrer Kindheit war ihr nicht mehr so nach zappeln gewesen wie in diesen Momenten. Am liebsten hätte sie ein lautes „Was denn?!“ in die so ungewöhnlich stille Runde geworfen, bloß um zu sehen, was passierte. Dass niemand eine Frage stellte oder auch nur andeutungsweise ein Gespräch in die Richtung lenkte, die sie alle interessierte, wunderte Paige außerordentlich. Sie waren doch sonst nicht auf den Mund gefallen. Vor allem Tyler warf sie in diesem Zusammenhang einen fast verzweifelten Blick zu, bevor sie überrascht ein klein wenig zusammen zuckte.

Paige entdeckte ein warmes Lächeln in Ryons Gesicht und realisierte, dass er ihre Hand genommen hatte. Ob sie mit ihm Mia in ihr Bett bringen wollte?

Sie hatte keine Ahnung.

Immerhin konnte sie im nächsten Moment in Ryons Augen mehr als Wärme lesen. Sofort war klar, was kommen würde, wenn sie wirklich mit ihm ging. Und auch wenn sie Antworten wollte... Paige wurde schlagartig kalt, bei der Vorstellung, dass sie tatsächlich Antworten auf all ihre Fragen bekommen würde. Nicht irgendwann, sondern jetzt sofort, wenn sie vom Tisch aufstand und mit ihm ging.

Die winzige, realistische Stimme in ihrem Kopf raunte ihr zu, dass sie nichts zu befürchten hatte. Was konnte er schon sagen?

Nach dem, was vor Kurzem in ihrem Schlafzimmer passiert war, konnte sie hoffentlich davon ausgehen, dass er sie nicht von sich stoßen würde. Zumindest nicht mehr, als das Stück das er sie ohnehin auf Abstand hielt. Es war keine Liebe. Das wusste sie.

Langsam und mit einem nervösen Blick in Richtung Spüle, wo Tyler und Tennessey fast in Zeitlupe das Geschirr in die Spülmaschine räumten, um auch ja nichts vom Geschehen zu verpassen, stand Paige auf und nickte.

Sie hätte ihm die kleine Mia gern abgenommen. Es hätte ihr ein wenig Sicherheit gegeben, sich an dem Mädchen festhalten zu können und gleichzeitig das Gefühl zu haben, dass er ihr auch wirklich zutraute, dass sie ihm helfen konnte.
 

Erst als Ryon erleichtert aufatmete, wurde ihm bewusst, dass er daran gezweifelt hatte, ob Paige wirklich nach der Rettungsleine greifen würde, die er ihr hin hielt. Aber andererseits konnte er sich kaum vorstellen, dass sie alleine in der Küche mit den anderen zurück gelassen werden wollte, denn Mia musste ins Bett, so oder so und niemals würde er sie dem Rudel hungriger Wölfe überlassen, die er eigentlich als seine Freunde betrachtete und auch wenn sich Tyler und Tennessey sicherlich nicht gleich so auf sie stürzen würden, was Fragen angingen, so hatte Paige in letzter Zeit doch wirklich schon genug durchgemacht.

Beschützend legte er ihr einen Arm um die Taille, als sie die Küche verließen.

Ryon verkniff sich jedes einzelne Kommentar, den er seinen Freunden gerne noch entgegen geworfen hätte, er war auch so schon verärgert genug auf sich selbst. Wenn er sich noch mehr hinein steigerte, würde das am Ende in Streit ausarten und das wollte er nicht, nun da es ihm sehr viel schwerer fiel, seine Gefühle zu kontrollieren.

Er wurde erst wieder ruhiger, als sie das Kinderzimmer betraten, das für ihn so lange er denken konnte, ein Ort mit guten Energien gewesen war, in denen man sich sofort heimelig fühlte. Denn nach dem es so ausgesehen hatte, als würde es niemals benutzt werden, hatte er es auch nicht wieder betreten und somit haftete für ihn nichts Belastendes daran.

„Könntest du sie bitte schon einmal ausziehen, während ich das Wasser bereit mache?“, fragte er Paige sanft, nach dem er die Tür hinter ihnen geschlossen und ihr das schläfrige Mädchen mit den blonden Locken überreicht hatte.

Sanft berührte er Paiges Wange und gab ihr einen zärtlichen Kuss auf die Lippen, ehe er ins Bad ging, um die fliederfarbene Babywanne mit angemessen temperiertem Wasser zu füllen. Während er darauf wartete, dass die kleine Plastikwanne halb voll lief, betrachtete er die Farbe und musste über die Ironie seufzen.

War er hier her gekommen, um Paige und sich selbst von der Küche zu retten? Oder lag es mehr daran, dass die Realität ihn eingeholt hatte und er sich nun den Dingen stellen musste?

Letzteres traf mehr zu, denn es fühlte sich einfach so an. Ja, die Realität hatte ihn eingeholt und trotzdem … es war wesentlich leichter als früher. Zu akzeptieren, was er nun wusste, was er fühlte und wie sich die Dinge entwickelten, das alles machte es sehr viel leichtert für ihn. Vor allem, da ihre Zukunft so ungewiss und jeder Moment davon kostbar war. Nichts davon, würde er verschwenden wollen. Er hatte aus seinem bisherigen Leben gelernt.

Noch immer tief in Gedanken versunken, suchte er Handtücher, Mias Badesachen und diverse Puders und Cremes zusammen, nachdem die fliederfarbene Wanne mit der richtigen Wassertemperatur angemessen gefüllt war.
 

Mia schlug die Augen auf und Paige erwartete beinah, dass das Mädchen weinen würde, weil Ryon sie einfach aus seinen Armen in die ihren legte. Aber die Kleine sah ihm nur mit großen Augen hinterher, wie er ins Bad verschwand, bevor sich ihr Blick auf Paige legte.

Konzentriert legte Mia die rosige Stirn in Falten, als würde sie über ein schwieriges Problem nachgrübeln.

„Was ist los, Sonnenschein?“, wollte Paige wissen.

Sie trug Mia zum Wickeltisch hinüber und ihre Schritte wurden bereits beschwingt, als sie kaum wieder in ihre all abendliche Routine eingetaucht war. Das Summen auf ihren Lippen wurde ganz von allein zu dem Lied, das Mia am liebsten hatte und das sie ihr fast jedes Mal vor dem Schlafengehen vorgesungen hatte.

Allerdings brachte sie nur die erste Strophe über die Lippen, bis das kleine Mädchen sich mit einem immer noch ernsten Gesichtsausdruck ihren Zeigefinger schnappte und Paige dazu brachte, ihr volle Aufmerksamkeit zu schenken.

Sie wollte bereits fragen, ob es Mia irgendwie schlecht ging, als die Kleine endlich ausspuckte, was ihr auf dem Herzen lag.

„P...“ Ihrer kleinen Nase entkam ein frustriertes Schnauben, bevor sie es noch einmal versuchte.

Diesmal wurde auch aus dem ersten Buchstaben nichts und die Müdigkeit machte es nur noch schlimmer, so dass Mia schon dicke Krokodilstränen in den Augen standen, als Paige sie noch einmal hoch nahm und sie an sich drückte.

„Ach Mia, ich weiß doch, was du meinst. Es ist einfach schwierig, nicht nur für dich, glaub mir.“

Sie hielt die Kleine ein wenig von sich weg, damit sie sich ansehen konnten.

„Sieh auf meine Lippen, ok?“

Vorsichtig setzte sie Mia auf den Wickeltisch zurück und legte ihren Zeigefinger an ihre eigenen Lippen, um dem Mädchen zu zeigen, was sie meinte.

„Du kannst einfach 'Fe' sagen. Versuch's mal. Ist ganz leicht. Fe...“

Der grübelnde Ausdruck auf Mias Gesicht machte Paige selbst schon fast Kopfschmerzen, als das Mädchen sich vollkommen konzentrierte.

„Ffff...“

„Ja, genau. Mia, du kannst das. Wer bin ich?“

Es brauchte noch zwei Versuche, aber als Mia ein tadelloses 'Fe' über die süßen roten Lippen brachte, war auch Paige kurz davor in Tränen auszubrechen. Wenn es sie vorher noch beim Wickeltisch gehalten hatte, waren jetzt alle diesbezüglichen Gedanken verschwunden. Sie zog die glücklich strahlende Mia in ihre Arme und tanzte mit ihr singend durch den großzügigen Raum, so wie sie es beide mochten.

Mias Lachen war dabei nur wahre Unterstützung für die Bedeutung des Liedes, das Paige ihr vorsang.
 

Sometimes I think about

What life was like before

Was it full of old remedies

That kept me reaching for the door

But I know this love is unconditional (yeah)

Deep inside you're my living joy (yeah yeah)
 

I'm gonna sing you a lullaby

A thousand times or more

You're a sweet as a butterfly

Baby all I need and more

Gonna sing you my song

Cos I think the world about you

You're the only one that matters now

Since the day you were born
 

The first time I looked at you

On the Friday afternoon

Your eyes were all a wondering

Who am I and who are you?
 

But I know our love is unconditional (our love, yes it is)

Deep inside you're my living joy (my living joy, yeah yeah)
 

Gonna sing you a lullaby (all night)

A thousand times or more (all night long, yeah)

You're a sweet as a butterfly (butterfly)

Baby all I need and more (all I need and more)

Gonna sing you my song

Cos I think the world about you (think so much about you)

You're the only one that matters now

Since the day you were born (day you were born)
 

Oh oh, thousand times or more

Oh oh, all I need and more

Sing you my song

Think the world about you

Day you were born
 

But I know this love is unconditional (yes it is)

Deep inside you're my living joy (my living joy)
 

Ryon stand im Türrahmen zum Bad, die Arme vor der Brust verschränkt, beobachteten seine Augen mit dem flüssigen Gold darin, wie Paige Mia in den Armen hoch hielt, das Mädchen sie dabei anlachte, während aus dem Mund dieser wunderbaren Frau, die sein Herz so sehr rasen ließ, dieses wunderschöne Lied erklang.

Wie schon einmal, erzitterte jedes seiner Moleküle unter dieser Stimme und vermischt mit dem Anblick, den die beiden ihm boten, übertrug sich dieses Zittern bis zu seinen Muskeln. Seine Kehle schnürte sich mehr und mehr zu und obwohl sein Herz heftig in seiner Brust sprang und mit dem Lachen des kleinen Mädchens mit jubelte, überkam ihn doch eine Welle tiefer Traurigkeit.

Das vor ihm deutlich gezeigte Bild hatte zwar seine Abwandlungen von dem, was er sich früher immer gewünscht hatte, damals als er noch Träume gehabt hatte, aber der Grundgedanke war der Gleiche. Seine Familie… Das wofür es sich für jemanden wie ihn lohnte, zu leben und zu kämpfen.

Ryon war nun nicht mehr so stark wie früher, oder besser gesagt, so kalt, weshalb er schließlich die brennenden Augen abwandte, sich wieder ins Bad zurück zog und mit dem Rücken zur Wand neben der offenen Tür stehen blieb, während er den Kopf in den Nacken legte, um wieder freier atmen zu können. Das Bild vor seinen Augen jedoch, verschwand nicht, sondern blieb wie ein Schnappschuss stechend scharf auf seiner Netzhaut, was ihn trotz allem zum Lächeln brachte. Seine Familie… Konnte es das jemals sein?

Schon einmal war es ihm nicht vergönnt gewesen, obwohl er bis dahin nie etwas böses getan hatte und nun, wo er die Bürde von unzähligen Morden, schlechten Taten und brutalen Gewaltakten auf dem Gewissen hatte, nun war es ihm erlaubt, sich erneut danach zu sehnen?

Mia war nicht seine Tochter, Paige nicht seine Gefährtin und trotzdem, der Unterschied war nur in Worten noch deutlich spürbar, sein Herz jedoch hatte schon angefangen, die Wogen dieses Unterschieds zu glätten. Das Mädchen war vielleicht nicht von seinem Fleisch und Blut, aber er liebte Mia wie er seine eigene Tochter geliebt hätte, wenn sie nicht schon so früh für ihn verloren gewesen wäre und Paige … das was er für sie mehr und mehr fühlte, war anders, als er für Marlene empfunden hatte. Genauso wie der Sex anders war. Genauso wie sein Verhalten in ihrer Nähe anders war. Es glich einfach nichts von dem was er kannte, aber das hieß nicht, dass es für ihn nicht genauso real, ernst und tief war.
 

Schon bevor sie das Badezimmer betraten, breitete sich ein seidenweicher, warmer Geruch aus, der von einem sehr edlen Badezusatz herrühren musste. Paige konnte Vanille darin erkennen. Etwas, das mit Mias eigenem Duft sehr gut zusammen passte.

Paige trat über die Schwelle und erkannte nur aus dem Augenwinkel, dass Ryon neben der Tür an der Wand lehnte. Als sie zu ihm aufsah, tat ihr Herz einen harten, besorgten Schlag, der scheinbar selbst Mia hochfahren ließ.

„Fe?“, fragte sie leise und sah mit großen, grauen Augen zwischen Ryon und Paige hin und her.

Paige musste einen Kloß in ihrem Hals hinunter schlucken, bevor sie lächeln und ihr antworten konnte.

„Ja, Mia.“

Er hatte mit eindeutig gequälten Augen auf sie herab gesehen. Nur für einen Moment, bis er sich gefangen und gelächelt hatte. Aber es war da gewesen. Paige war sich sicher, dass es nicht nur Einbildung gewesen war.

Sie mussten unbedingt miteinander reden. Bevor sich eine schwarze Gewitterwolke über ihnen bildete und Paige das Gefühl bekam, es könnte alles wieder ins Rutschen kommen und so enden wie ihre Reise nach Ägypten.

Prüfend sah sie noch einmal zu Ryon auf, um sicher zu gehen, dass seine Augen noch golden leuchteten.

„Ich hab das noch nie... Ich hab noch nie ein kleines Kind gebadet.“, gab sie etwas kleinlaut zu.

Es stimmte. Ryon schien sich mit all diesen Dingen sicherer zu sein. Zumindest wirkte er so. Und Paige wollte Mia bestimmt nicht irgendeiner Gefahr aussetzen. Hinzu kam, dass sie seit Dublin ein nachweislich ungutes Verhältnis zu gefüllten Badewannen hatte.
 

Er holte einmal tief Luft, um sich zu sammeln und war Paige sehr dankbar dafür, dass sie ihm die Möglichkeit eines kleinen Aufschubs gewährte. Zugleich drängte es seine Gedanken in den Hintergrund zurück und die Atmosphäre entspannte sich wieder merklich im Bad.

„Kein Problem. Ich zeig es dir und da unsere kleine Wasserratte hier ohnehin gerne badet, ist sie der perfekte Kandidat für deinen ersten Versuch.“

Ryon lächelte Paige nun wieder herzlich an und war sich noch nicht einmal wirklich der kleinen Gesten bewusst, mit denen er sie unbewusst immer wieder auf irgendeine Weise berühren musste. Wenn er ihr zum Beispiel über den Rücken strich, während er sie zu der fliederfarbenen Wanne führte. Oder die Art, wie er ihr das Haar zurück schob, das nach vor geglitten war und ihr etwas von der Sicht nahm, die sie nun aber brauchen würde.

„Ich habe bereits kontrolliert, ob das Wasser die richtige Temperatur hat. Du brauchst dafür vermutlich nur dein Handgelenk hinein halten und wenn es für dich angenehm warm aber nicht heiß ist, dann ist es richtig. Ich allerdings brauche immer die hier.“

Er hielt Paige die kleine Gummiente vor die Nase, nach der Mia sofort begeistert ihre Hand ausstreckte.

„Wenn man sie ins Wasser taucht und sie sich verfärbt, ist es zu heiß. Ohne sie wüsste ich nicht, was ich machen sollte. Meine Körpertemperatur liegt weit über das, was man bei einem Menschen als normal bezeichnen würde, wie du sicherlich schon mitbekommen hast. Ich nehme Temperaturen anders war, als andere.“

Mit diesen Worten nahm er die kleine Mia vorsichtig aus Paiges Händen, wobei seine Finger abermals ihre Haut streiften.

„Am besten du legst immer alles bereit, bevor du sie in die Wanne setzt, weil sie zwar von selbst sitzen kann, aber ich halte es für sicherer, immer eine Hand auf ihrem Rücken zu lassen, um sie zu stützen. Es kann nicht viel passieren, wenn ständig jemand dabei ist, aber sicher ist sicher und dann einfach die gleiche Routine, wie wenn du selbst baden würdest. Das Haarshampoo ist speziell darauf ausgerichtet, nicht in ihren Augen zu brennen, aber ich passe trotzdem immer auf, dass sie nichts davon ins Gesicht bekommt.“

Und so redete er im gleichen ruhigen Tonfall weiter, während er sich keine Gedanken um etwas anderes machen musste. Das Waschen von Mia überließ er Paige ganz alleine, während er ihr mit einem warmen Ausdruck dabei zusah und etwas in seiner Brust immer mehr wuchs und größer wurde.

Gott, wie sehr er die beiden Ladys doch in sein Herz geschlossen hatte!

Irgendwann, Ryon konnte es nicht verhindern, trat er hinter Paige, schlang seine Arme um ihre Taille und sah dicht an ihrer Wange über ihre Schulter zu Mia hinab, die sie beide mit einem zufriedenen Ausdruck anlächelte.

„Ihr beide gebt ein wunderschönes Bild ab, Paige.“, hauchte er ihr zärtlich zu und küsste ihren Nacken.
 

Ihre Finger zitterten leicht, während sie die Zähne unbewusst fest aufeinander biss. Sie wollte bloß nichts falsch machen. Was schon damit anfing, dass sie ihre eigene Nervosität nicht auf Mia übertragen wollte. In ihrem Nacken kribbelte es verdächtig, doch Paige riss sich zusammen und versuchte sich zu entspannen.

Ryon hatte Recht. Mia konnte allein sitzen und spielte mit einer Seelenruhe mit der Gummiente, auf die man neidisch sein konnte.

Es dauerte nicht lange und Paige fand Freude daran, sich Shampoo auf die Handfläche zu geben, sie aufzuschäumen und dann vorsichtig im Haar des kleinen Mädchens zu verteilen. Geradezu übermütig setzte sie Mia ein Schaumflöckchen auf die Nase, was das Mädchen mit einem erstaunten Schielen quittierte, bevor sie begeistert mit den Händen im Wasser plantschte. Wenn sie das weiter trieben, würden sie alle am Ende auf jeden Fall ein Handtuch brauchen.

Paige war so vertieft in ihr Tun, dass sie automatisch einen Schritt aus dem Weg gehen wollte, als sich Ryon hinter sie bewegte.

Als er ihr dann überraschend die Arme um die Hüften schlang, schlug ihr Herz laut und aufgeregt, während es sich so anfühlte, als hätte man ihr Knisterbrause in den Bauch geschüttet. Der Kuss in ihren Nacken und die warmen Worte machten alles nur noch Schlimmer – oder viel mehr 'noch besser'. Paige konnte nicht anders, als zu lächeln, ihre Wange kurz an seine zu schmiegen, während sie die begeisterte Mia von Kopf bis Fuß einseifte. Die Kleine sah ein bisschen aus wie ein schäumender Schneemann, bis Paige das warme Wasser in ihre hohle Hand nahm, um die Seife vorsichtig wieder abzuwaschen.

„Weißt du, ich finde ja, wir geben alle drei ein sehr schönes Bild ab.“, meinte sie sehr leise.

Noch war sie sich nicht sicher, ob sie mit solchen Aussagen alles in Schieflage bringen konnte.

Würde Ryon es so empfinden, dass sie ihm zu sehr auf die Pelle rückte? Er ließ sie zumindest nicht los, was wohl bedeutete, dass er sie für dieses Mal gewähren ließ.

Als Mia Paiges Meinung nach quietschsauber war, hob sie den Blondschopf aus dem Wasser und wickelte sie in ein flauschiges Badetuch, das sogar eine angenähte Kapuze hatte, damit es nicht so leicht herunter rutschte und Mia nicht schnell kalt werden konnte. Paige sah der Kleinen an, dass ihr bereits die Augen zufallen wollten. Weshalb sie Ryon das Mädchen in die Arme drückte.

„Ich mach hier schnell sauber. Dann könnt ihr schon den Schlafanzug anziehen. Ich bin gleich bei euch.“

Als sie allein im Bad stand und das Wasser aus der kleinen Wanne leerte, die kleinen Fläschchen ins Regal stellte und sich dann auf den Weg zurück ins Zimmer machte, verschwand das Schmunzeln nicht aus ihren Mundwinkeln. Das alles war so ... wunderbar. Mit einem anderen Wort hätte Paige es einfach nicht beschreiben können. Sie war so glücklich, dass selbst das wartende Gespräch mit Ryon sie nicht mehr wirklich schrecken konnte.
 

Dass Paige der Ansicht war, sie würden alle drei ein schönes Bild abgeben, ließ seine Brust nur noch mehr anschwellen. Immerhin, genau das war es doch, was er sich so lange gewünscht hatte und nun, da er sich mit alle dem in den letzten Wochen auseinander gesetzt hatte, war er auch bereit dazu, solche Dinge annehmen zu können. Wäre er nicht gegangen, sie hätten sich nur noch weiter voneinander entfernt, bis es nichts mehr gegeben hätte, was sie noch zusammen führen konnte. Doch so wie es nun aussah, begann es sich endlich einmal zu ihrem Vorteil zu entwickeln. Vielleicht nicht das, was den Hexenzirkel anging, aber zumindest ihre eigenen persönlichen Krisen schwanden mehr und mehr. Das hoffte er auf jeden Fall.

Dankend küsste er Paige kurz auf die Lippen, ehe er mit Mia zusammen zurück ins Nebenzimmer ging, um sie abzutrocknen, noch ordentlich ihren empfindlichen Hintern und ihre Haut zu verwöhnen, ehe er sie in eine frische Windel steckte, einen flauschigen Pyjama überzog und ihr wegen der feuchten Haare auch ein Wollhäubchen aufsetzte.

Danach nahm er sie in die Arme und ging mit ihr leise schnurrend durchs Zimmer, weil ihr schon während dem Windelanlegen die Augen immer wieder zugefallen waren und sie nun immer mehr und mehr eindöste, bis ihr Atem ruhig und langsam ging.

Trotz dem sie schon tief zu schlafen schien, ging er noch eine ganze Weile so mit ihr im Raum auf und ab, genoss den gepflegten Duft ihrer Haut sehr und schloss selbst dabei immer wieder genießend die Augen. Der kleine warme Körper an seinem ließ ohne jeden Zweifel all seine Beschützerinstinkte unter seiner Haut hervor brechen und wenn auch nur einmal jemand wagen sollte, Mia irgendwie zu schaden, für den würde es keine Gnade geben. Wenn es um seine Frauen ging, würde Ryon töten, um sie zu beschützen und der Tiger mischte dabei ganz vorne mit. Selbst jetzt noch spürte er ihn in jeder seiner Bewegungen, wenn er mit seinen Instinkten die Informationen der Umgebung wahrnahm und sich den leidenschaftlich starken Gefühlen gegenüber sah, die seinen Körper durchwanderten. Oh ja. Der Tiger war aus dem Käfig und Ryon hatte keine Zweifel daran, dass es sich so schnell wieder ändern würde. Immerhin hatte er ganz vergessen, wie stark seine andere Seite ihn machte und genau das musste er sein, wenn er dafür sorgen wollte, nicht noch einmal alles zu verlieren.

Schließlich legte Ryon das kleine schlafende Bündel in das Kinderbett und deckte sie ordentlich zu. Er überprüfte noch einmal das Lämpchen an dem Babyfon, das aussah wie ein Lamm und nahm dann das dazu passende Gegenstück an sich.
 

Diesmal war es Paige, die im Türrahmen lehnte und mit den Händen in den Taschen ihrer Stoffhose dem Geschehen im Raum zusah. Sie hatte Ryon nicht dabei stören wollen, als er Mia in ihr Bett packte und sie zudeckte. Er sah genauso zufrieden und gelöst aus, wie es sich Paige nicht anders wünschen konnte.

Mit einem leichten Lächeln trat sie zu ihm, sah auch noch einmal nach der entspannt schlafenden Mia, um sich dann bei Ryon unterzuhaken.

Erst als sie vor der geschlossenen Zimmertür im Gang standen, überlegte Paige, was sie eigentlich tun sollten. Eines stand unumstößlich fest: Sie wollte sich nicht irgendwelchen Fragen oder der seltsam aufgeladenen Stimmung in der Küche noch einmal aussetzen. Andererseits.....

Mit einem Zwinkern sah sie zu Ryon auf und drehte sich auf ihren dicken Wollsocken auf dem glatten Boden bereits halb um. Gespielt konzentriert lockerte sie ihre Finger, bevor sie Ryon verschwörerisch zuraunte.

„Du kümmerst dich darum, dass es im Wohnzimmer warm ist und ich sorge dafür, dass wir Nachtisch bekommen, ohne dafür mit einem Verhör durch die Anderen bezahlen zu müssen.“

Ohne auf irgendeine Antwort zu warten, schlich sie leise los. So weit von der Küchentür entfernt, wäre es bestimmt noch nicht nötig gewesen, aber der Schalk saß Paige im Nacken und nach den langen Stunden Schlaf und der gemeinsamen 'Aktivität', die ihre Energiereserven noch einmal aufgeladen zu haben schien, war ihr einfach danach ein wenig dick aufzutragen.

Geschmeidig ließ sie sich vor der Küche in die Hocke sinken und blickte durchs Schlüsselloch. Niemand war zu sehen. Der Tisch war abgeräumt und die Arbeitsplatte war sauber. Alle Zeichen deuteten darauf hin, dass sich die Anderen wirklich verkrümelt hatten.

Paige witterte ihre Chance und drückte leise die Klinke herunter, bevor sie aufstand und sich in die Küche stahl.

Über der Spüle fand sie einen kleinen Zettel.

„Schokomousse, Frucht- und Vanillesauce stehen im Kühlschrank.

Tyler

PS: Beherrscht euch bitte, Schokolade auf der Couch ist die Hölle!“

Paige wurde gleichzeitig rot und musste kichern.

Doch dann riss sie sich für eine Sekunde am Riemen, steckte den Zettel in die Hosentasche und gelobte hoch und heilig, dass keine Schokomousse die Couch verschandeln würde. Wäre auch wirklich zu schade, um die leckere Nachspeise.

46. Kapitel

Mit einem Tablett bewaffnet, erschien sie für menschliche Verhältnisse geräuschlos im Wohnzimmer.

Ryon hatte das Feuer im Kamin angezündet und saß noch immer davor, um gedankenverloren mit dem Schürhaken im Holz herum zu stochern.

„Man wusste, dass ich kommen würde.“, meinte Paige leise und ging mitsamt Tablett zu Ryon hinüber. Sie stellte die Nachspeise zwischen ihnen ab und setzte sich ihm gegenüber vor das wärmende Feuer.

Mit einem Lächeln sah sie ihn an. Es würde schon nicht so schlimm werden.
 

Er fand es ganz schön mutig von Paige, sich der Gefahr auszusetzen, den anderen über den Weg zu laufen, aber an ihrem Mut hatte er ohnehin noch nie gezweifelt, weshalb er sie mit einem Lächeln gehen ließ, um ihrem Wunsch so rasch wie möglich nachzukommen und ein Feuer im Wohnzimmerkamin zu machen.

Da er das schon sehr oft getan hatte und Tyler immer dafür sorgte, dass bereits alles vorhanden war, was man zum Feuermachen brauchte, prasselte es bereits wärmend, als Paige das Wohnzimmer betrat.

Seine Nasenflügel blähten sich leicht und er musste sich gar nicht zu ihr herum drehen, um zu wissen, dass sie fündig geworden war. Er roch die Nachspeise durch den ganzen Raum, wobei Paiges Duft der am Verheißungsvollste von allen war.

„Manchmal glaube ich, Tyler hat mehr Talente, als er zugeben will.“, gab er zurück, ehe er den Schürhaken hin legte und sich Paige und den mitgebrachten Dingen widmete.

Er war zwar nicht mehr hungrig, aber Platz für so viele Leckereien war auf alle Fälle noch reichlich vorhanden. Allerdings war ihm auch klar, dass sie nicht zum Naschen hier waren.

Sowohl Paige wie auch er wussten, dass sie miteinander sehr Vieles zu bereden hatten. Weshalb er sich schließlich auch nichts von den Köstlichkeiten nahm, sondern sich nach einer kurzen Schweigepause wieder davon wegdrehte, sich mit dem Bauch auf den Boden legte, nachdem er das Babyfon in Sichtweite auf einen kleinen Beistelltisch neben einem der Couchsessel abgestellt hatte und sicher gegangen war, dass das Licht immer noch leuchtete. Er stützte sein Kinn auf seine verschränkten Unterarme, während er den hellgrünen Lichtpunkt an der Brust des Plüschlämmchens mit den Hightecheingeweiden und dem Lautsprecher an der Flanke betrachtete.

Allein das Knacken und Knistern des Holzes ließ den Raum nicht vollkommen in Stille versinken und war zugleich auch die einzige Lichtquelle, bis sich Ryon langsam zuerst auf die Seite und dann auf den Rücken drehte, wobei er seine Arme als Kopfkissen benutzte, während sein Blick an die Decke starrte. Allerdings schlossen sich seine goldenen Augen, bevor er den Mund öffnete, um alles zu erzählen, was es zu erzählen gab.

„Ich war bei ihnen.“, begann er mit warmem und ruhigem Tonfall, während sich hinter seinen geschlossenen Augenlidern erneut die Bilder und Eindrücke abzeichneten, die er in den letzten Wochen erlebt hatte.

„Bei Marlene und unserer Tochter.“, präzisierte er seine Aussage, obwohl er fast schon glaubte, dass Paige das bereits nach seinen Worten gewusst hatte. Wen hätte er immerhin sonst meinen können?

„Seit ich vor Jahren ihre Asche an jenem Ort begraben habe, war ich nicht mehr dort und bevor ich dich kennen gelernt habe, hätte ich auch nicht gedacht, dass ich jemals die Kraft aufbringen würde, in noch einmal zu betreten. Aber das habe ich…“

Ryon kämpfte nicht gegen das Gefühl an, das ihn bei dieser Erinnerung überkam, sondern ließ es mit tiefen Atemzügen durch sich hindurch rieseln, bis er weiter sprechen konnte.

„Ich habe bis vor diesen Wochen nie gebührend um sie getrauert. Als Marlene starb, war meine Tochter noch am Leben. Meine ganzen Gedanken und Gefühle kreisten damals nur um das viel zu zerbrechliche Wesen, das alles darstellte, was mir von meiner Gefährtin noch geblieben war und obwohl es von Anfang an offensichtlicher nicht hätte sein können, konnte ich es doch nicht akzeptieren, dass auch meine Tochter noch nicht genug Kraft zum Leben hatte. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem auch ihr Herz zu schlagen aufgehört hatte, biss ich mich förmlich an den Gedanken fest, dass sie es schaffen würde.“

Wieder eine Pause. Mehr Gefühle die durch ihn hindurch fließen mussten, bis seine Stimme wieder gefestigt genug war, um fortfahren zu können.

„Layla lebte exakt vier Tage, dreizehn Stunden und ungefähr vier Minuten, bis ihr Tod mir endgültig den Boden unter den Füßen wegriss… An die Zeit danach kann ich mich nicht mehr so genau erinnern. Ich weiß noch, dass Tennessey als Marlenes Arzt bei mir blieb, obwohl es nicht seine Pflicht gewesen wäre. Tyler regelte alles, sprach mit meinen und ihren Eltern, unseren Freunden und Bekannten. Alles was ich zu alledem bei trug, war zu einem Wrack zu mutieren. Ich konnte nichts essen, ich konnte nicht schlafen, ich konnte noch nicht einmal mehr richtig atmen und der Tiger machte alles nur noch schlimmer. Seine Veranlagung zu tiefen Gefühlen ließen mich schließlich, nachdem ich meine Familie begraben hatte, völlig zusammen brechen, bis mich meine Freunde dazu zwangen, mich dem Leben wieder zu stellen. Aber es war nicht mehr das Selbe.

Ich war nicht in der Lage den Zeitpunkt der Trauer nachzuholen, der im Nachhinein betrachtet, mir sehr viel Erleichterung verschafft hätte. Stattdessen zwang ich meine Trauer nieder und was blieb war die Wut. Auf mich selbst, den Tiger, meine Unfähigkeit meine Liebsten vor so etwas wie den Tod zu beschützen…“

Ryon öffnete langsam die Augen, seine Iris hatte sich deutlich verdunkelt und er machte auch nicht den Eindruck, als würde er etwas von seiner Umgebung erkennen. Nein, erinnerte sich.

„Aus der Wut wurde schließlich Gewalt. Gegen mich selbst, gegen den Tiger und gegen andere. Es machte kaum noch einen Unterschied. Ich wusste nur, nachdem Tennessey mich wieder aufgepeppelt hatte und ich alle Gefühle immer nur in mich hinein fraß, war ich immer so voller Energie und total aggressiv, dass ich ständig nur noch Streit suchte. Irgendwann kam es schließlich dazu, dass ich mich blind wie ich war, einer Übermacht an zwielichtigen World Underneath Bewohnern gegenüber sah. Dass sie mich wüst zusammenschlugen, hatte mir nichts ausgemacht, ich spürte es kaum und Angst vor dem Tod hatte ich ohnehin nicht mehr. Aber einer von ihnen begann schließlich den Fehler, mich auch noch ausrauben zu wollen. Bis auf das Amulett hatte ich nichts von Wert bei mir, weshalb er es genau darauf abgesehen hatte. Das Problem ist nur, keiner außer mir selbst kann es abnehmen. Bei ihrem Versuch, es dennoch zu tun, hätten sie mich tatsächlich fast umgebracht. Enthaupten ist vermutlich eine der wenigen Möglichkeiten, es mir mit Gewalt abzunehmen.“

Zum Glück war ihnen das nicht gelungen, aber er wäre trotzdem verblutet, wäre er ein einfacher Mensch und kein Gestaltwandler gewesen.

Unbewusst strich sich Ryon mit den Fingerspitzen den Rand der langen Narbe um seinen Hals entlang, ehe er tief seufzte und wieder die inzwischen schwarz gewordenen Augen schloss.

„Die ganze Aktion hat den Tiger so stinksauer gemacht, dass er einfach die Kontrolle über mich an sich riss… Das war die Nacht in der ich meinen Freunden nicht länger unter die Augen treten konnte. In vielerlei Hinsicht war das der Zeitpunkt gewesen, an dem ich die Unschuld endgültig verlor. Weshalb ich das Morden später zu meinem Beruf machte, da ich offenbar ein Talent dafür besaß. Kopfgeldjäger zu sein ist zwar kein anständiger Job, aber er hat mir wenigstens geholfen, nicht zu viel über mich selbst nachzudenken und meine Aggressionen in Zaum zu halten. Außerdem wurde es immer leichter, je mehr mir meine Gefühle abhanden kamen und trotzdem … irgendetwas in mir drin hatte nie ganz von der Welt im Sonnenschein ablassen können. Ich war viel im Untergrund unterwegs, aber als ich eines Tages dieses kleine Mädchen weinend im Park auf einer Decke liegen sah, umringt von gezeichneten Kinderaugen, denen Lachen verständlicherweise nur noch sehr schwer fallen konnte, da ging ich einfach zu ihnen, ohne großartig darüber nachzudenken. Amelia, die Betreuerin war an diesem Samstag alleine für die ganze Gruppe zuständig und dementsprechend überfordert. Weshalb sie auch nicht gleich bemerkte, dass ich mich zu dem kleinen Mädchen auf die Decke setzte, das daraufhin langsam weniger heftig weinte. Es war und ist typisch Amelia, dass sie mich, als sie mich bemerkte, nur kurz gemustert und mir dann eine frische Windel in die Hand gedrückt hatte, ehe sie sich auch schon wieder um die anderen kümmerte.

Mia war damals fünf Monate alt und hat es wirklich damenhaft ertragen, wie ich zum ersten Mal in meinem Leben eine volle Windel gewechselt habe.“

Ryon lächelte bei der Erinnerung daran, dass er eigentlich zwei Windeln gebraucht hatte, weil er bei der ersten die Klebelaschen abgerissen und sie auch völlig falsch angelegt hatte.

Wieder drehte er sich zur Seite zu Paige gewandt und sah sie nun erneut aus goldenen Augen an.

„Früher hätten mich all diese schlechten und auch guten Erinnerungen fertig gemacht, aber während ich dich alleine gelassen habe, habe ich sehr viel Zeit gehabt, mich damit auseinander zu setzen. Ich habe getrauert, Paige. Die letzten Wochen habe ich all das nachgeholt, was schon längst geschehen hätte müssen. Ich habe mit Marlene gesprochen, mir alles von der Seele geredet und endlich zugelassen, dass ihr Verlust nicht mehr wie eine erstickend schwarze Wolke über mir hängt und all die guten Erinnerungen für mich unerreichbar machte.“

Er seufzte und rollte sich leicht zusammen, während er seine Hände betrachtete. In der einen Handinnenfläche waren immer noch die leichten Spuren seiner ersten Begegnungen mit Paige zu sehen. Das würde für den Rest seines Lebens so bleiben, wie die Narbe um seinen Hals und der Gedanke fühlte sich gut an.

„Weißt du, warum ich das alles getan habe?“

Er sah zu Paige auf.

„Ich kann jetzt eine zweite Chance erkennen, wenn sie vor mir steht, Paige. Zwar hätte ich es nie für möglich gehalten, aber diese zweite Chance, die mich wieder zu fühlen gelehrt hat, die mir beibrachte, wieder ich selbst zu sein und die den Tiger befreit hat. Paige, diese zweite Chance bist du.“

Langsam richtete sich Ryon auf, während er nicht die Augen von ihr nehmen konnte. Was auch immer alles im Augenblick in ihrem Kopf vor sich ging, er musste beenden, was er begonnen hatte.

„Selbst wenn uns in der Zukunft nicht mehr sehr viel Zeit bleiben sollte und wir den Kampf gegen diese Hexen verlieren, so habe ich mich doch entschieden, dass ich diese Zeit mit dir verbringen will. Uneingeschränkt und ohne Zurückhaltung. Was ich dir geben kann, will ich dir geben, aber eines musst du wissen…“

Sein Blick wurde traurig und leicht bitter.

„Ich will nie wieder leibliche Kinder haben…“
 

Paige hatte zugehört. Sie hatte seiner Geschichte gelauscht ohne zu unterbrechen oder eine einzige Fragen zu stellen. Dabei war ihr immer wieder danach gewesen mehr Einzelheiten zu erfahren oder einfach die Möglichkeit zu bekommen ihr Mitgefühl oder auch ihre Abscheu darüber auszudrücken, was ihm widerfahren war.

Denn bis zu seiner Frage, hatte Paige nicht einmal den Hauch einer Idee, warum er ihr das überhaupt alles eröffnete. Ryon müsste ihr das alles nicht erzählen. Er müsste seine Vergangenheit, seine Wunden und seine Gedanken nicht mir ihr teilen. Betrachtete man ihr gemeinsame Zeit zusammen, fühlte es sich für Paige sogar merkwürdig an, dass er es in diesem Maße tat.

Als er sie fragte, ob sie wisse, warum er das alles getan habe, konnte sie also wahrheitsgemäß nur andeutungsweise den Kopf schütteln.

Ihre Wangen brannten und ihr war unnatürlich heiß, als er ihr seine Entscheidung mitteilte. Denn so nannte er es selbst. Kein Herzenswunsch, kein Bedürfnis, sondern eine Entscheidung. Etwas, das er wieder mit seinem Verstand ausgemacht hatte und nicht mit seinem Herzen, was Paige so viel mehr bedeutet hätte.

Ihre Augen glitten von seinen zum offenen Feuer hinüber. Ihr Element kam Paige in diesem Moment fast so vor, als würde es voller Hohn über sie lachen. Sollte sie ihren Gedanken und Gefühlen wirklich in einer Explosion Luft machen, so wie es eigentlich ihr Naturell war?

Als sie den Kopf etwas hängen ließ, fielen ihr die schwarzen Haare ein wenig über's Gesicht, was Paige nur recht sein konnte. Ihre Antwort auf all die Dinge, die Ryon ihr gesagt hatte, konnte sie nur verständlich und mit dem Nachdruck über die Lippen bringen, den sie brauchte, wenn sie ihn nicht direkt ansehen musste.

Trotzdem schwankte ihre Stimme und ihre Finger, die sich ineinander verschränkt hatten, waren fast weiß vor Kälte und Anspannung.

„Vielen Dank, dass du mir das alles erzählt hast. Mir ist klar, dass es nicht leicht ist, so viele Erinnerungen – und dann noch solche wie es deine sind – mit jemandem zu teilen.“

Ihr war sehr wohl bewusst, dass er die Wahrheit in ihren Worten kaum überhören konnte. Über Paiges Vergangenheit wusste Ryon so gut wie gar nichts. Und das lag nicht zum Hauptteil daran, dass er sie nie gefragt hatte. Selbst wenn er etwas über ihre Eltern, ihre Kindheit und Jugend hätte wissen wollen ... sie wäre nur zögerlich mit der Sprache heraus gerückt.

Aber sie hätte es ihm erzählt. Alles. So wie auch er es gerade getan hatte.

„Es freut mich ehrlich für dich, dass du in den vergangenen Wochen das tun konntest, was dir in den Jahren verwehrt geblieben ist. Es ist schön zu sehen, dass es dir besser geht. Denn es ist wirklich nicht zu übersehen...“

Ein Holzstück zerbrach unter den reißenden Zähnen des Feuers im Kamin und sprühte Funken, um zumindest noch mit einem Geräusch und etwas Erkennbarem auf sich aufmerksam zu machen.

In Paiges Augen flackerte der Schein des Kaminfeuers wider, während sie sich ihre nächsten Worte überlegte.

Ryon hatte ihr alles gesagt. Er hatte ihr das mitgeteilt, was er für richtig hielt...

Wenn sie selbst nun mit ihren Gedanken hinterm Berg hielt, hätten sie beide nichts gewonnen.

Und dennoch fiel es ihr schwer.

Gerade seine letzten Worte hatten sie getroffen, hatten alles wieder aufgewühlt, was sie schon immer über sich selbst und die Liebe zu wissen geglaubt hatte.

„Ryon... Ich bin 27 Jahre alt. Als kleines Mädchen habe ich mir überlegt, dass ich zu diesem Zeitpunkt bereits verheiratet sein und zwei oder drei Kinder haben werde. Es hat nur ein paar Jahre gedauert, bis ich begriffen und für mich akzeptiert habe, dass es so leider nicht laufen wird.“

Ihre Schultern beugten sich, ohne dass Paige es selbst mitbekam. Sie sagte in ihren vorsichtig formulierten Worten so viel mehr, als Ryon bewusst sein konnte. Er war der Inbegriff dessen, vor dem sie immer Angst gehabt und sich doch sinnlos hinein gestürzt hatte.

„Du hast mir gesagt, dass du mich nie lieben wirst...“

Es war kein Vorwurf in ihrer Stimme und auch keine Verletzung.

„Jetzt hast du dich dazu entschieden, zumindest bis zu unserem vermutlich qualvollen Tod durch ein Rudel Hexen mit mir zusammen zu sein. Gleichzeitig zeigst du mir auch, dass selbst wenn wir eine Zukunft hätten...“

Mit einem Ruck sah sie ihn an und ihre Augen loderten, bis sie die Wimpern für einen Augenblick nieder schlug, um ihn dann warm erneut anzusehen.

„Ich kann dich verstehen, Ryon. An deiner Stelle würde ich auch kein Kind mehr wollen. Gar nichts mehr, das mir so wichtig sein könnte und das mich umbringen würde, wenn man es mir entreißt...“

Paige musste hart schlucken und ein paar Mal tief durchatmen, um sicher zu gehen, dass ihre Stimme nicht einfach zerbröckelnd versagen würde.

„Ryon, ich weiß nicht, was ich für dich bin. Ob Trostpreis, Übergangsfrau oder so etwas wie eine gute Freundin, für die du mehr Gefühle hast, als du gerne möchtest. Im Moment ist mir das auch nicht so wichtig... Ich mag es, mit dir zusammen zu sein. Wenn du wieder verschwinden würdest oder dich dazu entscheidest, mich vollkommen von dir zu stoßen, würde mich das sehr verletzen. Aber auch dagegen könnte ich nichts tun. Ich kann gar nichts Anderes tun, als darauf zu hoffen, dass es einfach nicht passieren wird.“

Wieder blickte sie ins Feuer und ihr Gesichtsausdruck wurde noch ernster, als er ohnehin schon gewesen war.

„An meinen Gefühlen für dich, wird sich nichts ändern... Egal, ob ich irgendwann doch feststelle, dass mir eine Beziehung ohne Gegenliebe oder Kinder nicht ausreicht. Wäre ich zu Bitterkeit über meine Vergangenheit in der Lage, würde ich sagen, dass das sogar genau das ist, was ich immer erwartet habe...“

Sie lächelte, auch wenn ihr nicht danach war.

„Aber eins möchte ich klarstellen.“

Ryon hatte einiges von ihr ertragen müssen, sah aber weniger schockiert aus, als sie es angenommen hätte. Seinen Gesichtsausdruck, als sie wieder zu ihm hinüber sah, hätte sie sogar als recht gefasst interpretiert.

„Ich werde nicht zulassen, dass du oder ich bei diesem Kampf auf der Strecke bleiben. Verstehst du mich? Diese Hexen mögen mächtig sein, aber verdammt noch mal, sprich nicht so, als wäre mit der Begegnung mit ihnen bereits alles vorbei! Wenn wir jetzt schon akzeptieren, dass sie uns umbringen werden, haben sie ohnehin gewonnen! Und das werden sie nicht.“
 

Ryon hörte ebenso aufmerksam zu, wie Paige es bei ihm getan hatte. Die ganze Zeit sah er sie dabei an, auch wenn sie es nicht immer tat.

Ihre Gesten, die Art, wie ihre Stimme manchmal zitterte und auch ihr Geruch vermittelten ihm sehr viele Informationen. Vielleicht bei manchem sogar mehr, als es ihre Worte konnten. Dabei verursachte allein das Gesagte in ihm rasendes Herzklopfen, das schon an Schmerz grenzte.

In der darauf folgenden Stille, hämmerten ihm einzelne Wörter von dem was sie ihm gesagt hatte, im Kopf herum, als würden sie einen Ausgang suchen, aber nur immer wieder an seiner Schädeldecke abprallen.

Wenn Ryon sie richtig verstanden hatte und irgendwie hegte er keine Zweifel daran, dann bedeutete er ihr sehr viel mehr, als er bisher auch nur geahnt hätte. Immerhin, würde sie sonst sagen, dass sie bei ihm bliebe, selbst wenn sie nie Kinder oder Liebe von ihm erwarten könnte? Und glaubte sie wirklich, er könnte sie jemals von sich stoßen?

Das was in ihm aufwallte, war verdammt heftig und er musste mehrmals tief durchatmen, um sich zusammen zu reißen.

Doch anstatt sich davon niederringen zu lassen, richtete er sich noch weiter auf, schob das Tablett mit dem Essen zwischen ihnen fort und rutschte ein Stück zu Paige hinüber, ehe er sich wieder hinlegte; den Kopf auf ihrem Schoß gebettet, während seine Arme ihr Taille umschlossen.

„Verdammt, Paige…“, fluchte er leise, weil er es einfach nicht unterdrücken konnte. Denn er hätte vor Frustration schreien können und zugleich waren da noch andere Gefühle in ihm, die er nicht genau definieren konnte, aber jeden seiner Nerven bis aufs äußerste reizte.

„…ich würde dir gerne Kinder schenken, wenn ich nicht so entsetzliche Angst davor hätte, dich gerade dadurch zu verlieren. Ich weiß, du bist zur Hälfte eine Dämonin und dadurch auf jeden Fall stärker, als ein gewöhnlicher Mensch, aber glaub mir… Ich würde lieber für den Rest meines Lebens ohne Kinder leben wollen, als ohne dich…“

Verzweifelt drückte er seinen Kopf enger gegen ihren Körper, während seine Arme sich fester um sie schlossen.

„…und trotzdem… Ich würde alles dafür tun, dich glücklich zu machen …“ Doch Kinder… Nein, er fühlte sich schon nicht wohl, wenn er Ais stark angeschwollenen Leib sah und sich somit deutlicher bewusst wurde, dass mit jedem weiteren Tag die Geburt ihres Kindes näher rückte.

Sich Paige in diesem Zustand vorzustellen, machte ihm klar, dass es ihm keine Freude machen würde, sondern ihn viel mehr mit jedem weiteren Tag in entsetzliche Panik stürzen würde, bis er nur noch ein nervliches Wrack wäre.

„Paige, ich kann dir nicht sagen … dass ich dich liebe…“ Es wäre vermutlich eine Lüge gewesen und er wollte sie nicht anlügen.

„Aber du bist weder ein Trostpreis, eine Übergangsfrau noch eine gute Freundin für die ich mehr empfinde, als ich mir eingestehen will. Paige, ich habe mir schon längst eingestanden, dass du und zwar nur du, die Frau bist, mit der ich zusammen sein will und ich weiß nicht, wie ich es dir verständlich machen kann, aber ich werde dich nicht von mir stoßen oder verlassen. Nicht freiwillig und auch nicht kampflos, bis das der Tod und scheidet, wenn du es so willst.“

Und was seine Worte und den Hexenzirkel betrafen, so hatte sie recht. Er sollte nicht so reden und er nahm sich fest vor, es auch nicht mehr zu tun. Denn Paige hatte ihm gerade etwas wichtiges gelehrt… Nämlich dass er für ihrer beider Zukunft bis zum Letzten kämpfen würde. Es gab nun nicht mehr nur ihn und sein beschissenes Leben, das ihm nichts wert war. Nun hatte er wieder etwas, für das es sich zu kämpfen lohnte und das würde er auch tun.
 

Seine Arme um ihren Körper, sein Kopf auf ihrem Schoß und überhaupt die Nähe erlegten Paige noch größere Hitze auf, als sie ohnehin verspürte. Ihre Wangen glühten und sie hatte das Gefühl, dass es auch ihre Augen taten, selbst wenn ihr Blick, mit jedem Wort das Ryon sagte, immer mehr verschwamm.

Es ließ sich nichts daran rütteln. Er liebte sie nicht, würde es auch niemals tun. Selbst wenn Hoffnung in ihr aufkeimen wollte, als er ihr sagte, dass er sie nicht verlassen würde. Es bedeutete einfach nicht das Selbe. Zuneigung vielleicht. Mehr als er jeder anderen Frau auf der Straße entgegen bringen würde. Oder auch nicht.

Während sie wieder ins Feuer starrte und nichts erwidern konnte, versuchte sie sich die Zukunft vorzustellen. Wie es wohl war zusammen zu leben und von Anfang an zu wissen, dass da von Ryons Seite nicht die gleichen Gefühle waren.

Mit einem bitteren Lächeln stellte Paige fest, dass es sogar besser so war. Bei den Männern, die ihre Liebe für sie ausgesprochen hatten und bei dem einen, von dem sie es einfach von Natur aus erwartet hatte, hatte es nicht funktioniert. Sie hatten sie alle samt fallen lassen. Ohne Warnung und völlig gleichgültig. Wenn nicht sogar mit Abscheu.

Die Erinnerungen riefen ein flaues Gefühl in ihrem Magen hervor. Paige hasste es, sich so machtlos zu fühlen und auch nur für einen Moment in Selbstmitleid zu versinken.

In gewisser Weise hatte Ryon selbst mit seinem Pessimismus Recht gehabt. Sie wussten nicht, wie alles ausgehen würde. Das galt nicht nur für die Angelegenheit mit dem Hexenzirkel...

Als sich ihre Hand auf sein Haar legte und sanft begann seinen Nacken zu kraulen, konnte sie immer noch nichts sagen. Paige hatte immer angenommen, dass es ihr am schwersten fiel, ihre Gefühle vor sich selbst zuzugeben. Doch in ihrem Inneren zog und kratzte es schmerzhaft, als sie daran dachte, Ryon zu sagen, was sie wirklich für ihn fühlte. Es tat weh, als sie feststellte, dass sie wahrscheinlich nie die Kraft aufbringen würde, es ihm zu sagen. Denn in ihren Ohren hätte es sich immer wie ein verzweifelter Versuch angehört, ihn dazu zu zwingen, ihr ebenfalls etwas zu gestehen, das er nicht empfand.

Ihre Stimme hörte sich kratzig an. Eingerostet wie Türscharniere, die man lange nicht benutzt hatte.

„Ryon, ich weiß nicht, was ich dir sagen soll... Außer, dass ich dich verstehe und deine Grenzen akzeptieren werde.“

Sie wollte nicht seufzen, aber der tiefe Atemzug war schwer und hörte sich ungewollt doch fast so an.

„Ich denke mich selbst sehr gut zu kennen. Was die Sache leider nicht gerade einfacher macht. Aber...“

Ihr entkam ein hilfloses Lachen, als ihr zuerst eine einzelne und dann weitere stumme Tränen über die Wangen liefen. Sie wischte sie mit einer Handbewegung weg, die zeigte, dass sie gar nicht wusste, warum sich ihre Emotionen auf diese Weise Luft machten.

„Wir werden einfach sehen müssen, wie sich alles entwickelt.“
 

Hoffnung… Was gäbe er in diesem Augenblick nicht alles dafür, dass er Paige irgendetwas besseres geben könnte, als das was er ihr anbieten konnte. Er sah ihr doch an, wie seine Worte sie trafen und das machte es nicht minder schwerer für ihn oder weniger schmerzvoll. Ganz im Gegenteil, als er ihre lautlosen Tränen sah, zerriss es ihn beinahe selbst. Da half auch das sanfte Kraulen ihrer Finger in seinem Nacken nichts.

Auf einem Arm abgestützt, richtete er sich so vor ihr auf, dass der Schein des Feuers ihn einrahmte und sie nur sein Gesicht sehen konnte.

Gerne hätte er ihr all das gesagt, was sie nicht so offensichtlich verletzen würde. Dass er zwar im Augenblick nicht ‚Ich liebe dich' sagen konnte, aber dass er in sich spürte, wie sich jeden Tag, ja selbst in diesem Augenblick immer weiter etwas in seinem Inneren verschob und ihn zu ihr hin drängte. Nicht rein körperlich, sondern auch auf anderen Ebenen.

Doch Ryon wusste genau, dass es ihm zwar besser ging, aber gewisse Teile immer noch vollkommen zerstört waren und das zu reparieren war vielleicht ein langer Prozess, der mit viel Geduld verbunden war, während sich am Ende herausstellen könnte, dass es doch nichts mehr bringen würde.

Hoffnung… Die würde er ihr gerne geben, aber das konnte er nicht, weshalb er auch nicht so grausam war, es dennoch zu versuchen.

Stattdessen zog er sanft ihre Hand von ihrem Gesicht weg, verschlang seine Finger mit ihren, während er ihr mit seiner anderen, zärtlich über die Wange strich und sich nach vor lehnte, um ihr eine neue Träne auf dem Weg über ihre Haut weg zu küssen.

„Ich kann dich nur um eines bitten…“, flüsterte er leise an ihr Ohr, während er seine Arme wieder um sie legte und sie an seine Brust zog.

„Nimm meine Worte nicht wichtiger, als das was du fühlst, wenn ich dich berühre. Denn letztendlich gibt es keine passenden Worte dafür, was ich für dich empfinde.“

Zärtlich strich er ihr über den Rücken, schmiegte sein Gesicht an ihr Haar und sog tief ihren Duft in sich auf.

Wenn sie nicht hören konnte, wie sein Herz in seiner Brust raste, wenn sie nicht spüren konnte, wie alles an ihm sich stets danach sehnte, sie zu berühren und zu halten und in ihrer Nähe zu sein, wie könnten dann seine Worte sie jemals richtig erreichen?

Manchmal glaubte er, sie könnte es einfach wirklich nicht. Dass auch in ihr etwas dicht machte, um sich selbst zu schützen. Darum hatte er immer wieder das Gefühl, dass sie nicht einmal um ihr Recht kämpfen würde, sollte er sich völlig unmöglicher Weise dazu entschließen, sie zu verlassen und das war es, was alles nur noch schwerer machte.

Ja, sie akzeptierte seine Grenzen. Sie würde lieber ein unglückliches Leben mit ihm, als eines ohne ihn führen und egal wie sehr es sie verletzten würde, wenn er sie verließe … sie würde ihn gehen lassen. Kampflos.

Nun entkam auch seinen Lungen ein tiefer Seufzer.

Das hieß dann wohl, dass sie ihm nicht vertraute und auch nie vollkommen vertrauen würde. Aber das war, in Anbetracht der Umstände, nicht mehr weiter von Belangen. Er würde sich ihr Vertrauen eben erringen müssen und wenn sie schon nicht bereit dafür war, dann wollte er wenigstens für sie beide kämpfen.

Nein, er würde sie niemals verlassen, aber stattdessen wollte er alles in seiner Macht stehende tun, damit sie mit ihm nicht unglücklich war.
 

Für eine Sekunde versteiften sich all ihre Muskeln, als Ryon sie an seine Brust zog und sie den warmen, markanten Duft in der Nase hatte, der sie sofort einhüllen wollte. Sie war noch nie gut darin gewesen, sich beschützen zu lassen. Ob nun vor Gefahr von außen oder – noch schlimmer – vor ihren Sorgen und Ängsten.

Vielleicht war es ihr aber auch bisher nur so schwer gefallen, weil so noch niemand wirklich versucht hatte. Einmal von Ai abgesehen, die sich durch ihre eigene Hilfsbedürftigkeit durch ein Hintertürchen in Paiges Herz geschlichen hatte.

Der Gedanke, dass es also sehr wohl jemanden gab, dass also auch Ryons Worte echt und ehrlich waren, entspannte sie allmählich.

Paige hörte sein Seufzen und vergrub ihr Gesicht für einen Moment an seiner Schulter. Mit tiefen Atemzügen zwang sie sich dazu, nicht so viel zu denken. Stattdessen brachte sie es endlich fertig nur seine Gegenwart zu spüren. Sein Herz zu hören, seinen Duft zu riechen und zu merken, wie er sie fest in den Armen hielt. Zu hoffen, dass er die Wahrheit sagte, fühlte sich in etwa so an, als würde sie einen tonnenschweren Felsbrocken hochheben müssen. Es war zu viel passiert, als das es hätte von einer Minute auf die Andere leicht sein können. Dennoch versuchte sie es.

Ihre Hand legte sich auf seinen Hals und Paige strich mit ihren Fingerspitzen leicht über sein Kinn, als sie sich nur so weit von ihm löste, dass sie ihm in die Augen sehen konnte.

„Ich kann dir sogar versprechen, dass ich das versuchen werde.“
 

Eine Weile hatten sie einfach so dagesessen, Paige an Ryon gelehnt, bis sie das Gefühl hatte, irgendetwas tun zu müssen. Vor allem als ihr Blick auf die Schokomousse fiel, die neben ihnen im Schein und der Wärme des Feuers allmählich bedenklich an Form verlor.

„Wie geht’s dir? Ich hätte immer noch Lust auf Nachtisch.“

Jetzt sogar mehr als noch vorhin. Denn auch wenn sie sich körperlich kaum bewegt hatten, war ihr Gespräch doch anstrengend und Kräfte zehrend gewesen.
 

Gut, sie würde es versuchen. Mehr wollte er gar nicht. Das reichte ihm schon.

Auch wenn er sich trotzdem nicht ganz lockern konnte, so entspannte sich ihre Situation nach einer Weile merklich. Was gesagt hatte werden müssen, zumindest von seiner Seite her, war gesagt und das war auch das Schwerste daran gewesen. Jetzt nicht mehr diese Dinge mit sich mitschleppen zu müssen, ohne dass jemand von ihnen wusste, war wirklich leichter, auch wenn das Gewicht wohl nie vollkommen verschwinden würde.

Eigentlich hatte Ryon überhaupt keinen Appetit mehr auf den Nachtisch, doch das hinderte ihn nicht daran, einen der für seine großen Hände sehr filigranwirkenden Dessertlöffelchen zwischen die Finger zu nehmen und in die dunkle Creme zu tauchen.

Er hielt ihn Paige an die Lippen und lächelte sie auffordernd an, während nun langsam aber sicher wieder ein Kribbeln seine Wirbelsäule erfasste.

Er hatte Paige noch nie gefüttert. Aber vielleicht würde das ja seinen Hunger auf ein Dessert anregen.

Zumindest schien die Vorstellung daran, es von ihrer Haut zu naschen, sehr viel verlockender, als es konventionell mit dem Besteck zu essen. Allerdings war er sich nicht sicher, ob er sich solche Gedanken so kurz nach einem solch tiefschürfenden Gespräch bereits wieder erlauben konnte. Wobei… An seinen Gefühlen hatte sich nichts geändert und das konnte man auch nicht einfach so abstellen. Das wäre das gleiche, als würde man von ihm verlangen, für eine Stunde oder länger die Luft anzuhalten.
 

Eine von Paiges Augenbrauen zuckte erstaunt, als Ryon zur Antwort auf ihre Frage eine Löffel nahm und ihr ein wenig Mousse hinhielt. Etwas zögerlich, aber ohne große Bedenken, nahm sie das Angebot an und ließ sich die Mousse mit geschlossenen Augen auf der Zunge zergehen. Ihre Mundwinkel hoben sich zu einem leicht verzückten Lächeln, während sie sich das Dessert schmecken ließ.

„Traumhaft.“, war ihr einziger Kommentar, als sie die Augen wieder aufschlug und ihren Blick über das Tablett schweifen ließ.

„Ich hab das noch nie in Kombination mit Saucen probiert.“

Wenig geziert nahm sie sich den zweiten Löffel, tauchte ihn tief in die etwas verlaufene Schokocreme und hob eines der kleinen Kännchen an, um einen Tropfen Vanillesauce darauf fallen zu lassen.

Mit den großen, leuchtenden Augen eines Kindes besah sie sich das kleine Kunstwerk auf Nasenhöhe, bevor sie Ryon den Löffel hinhielt.

„Möchtest du?“
 

Er genoss es, sie zu füttern und zu sehen, wie sie dabei die Augen vor Genuss schloss, um den Geschmack so richtig nach zu fühlen.

Tatsächlich funktionierte diese Strategie des Appetitanregens, weshalb er Paige tief in die Augen sah, ehe er sich nun von ihr füttern ließ und kaum, dass seine Geschmacksrezeptoren vollkommen ausgelastet wurden, entstieg ein sinnliches Schnurren seiner Brust. Das war wirklich … traumhaft. So wie Paige es gesagt hatte.

„Mhmmm … lecker. Tyler übertrifft sich wirklich ständig selbst.“

Ryon rückte ein Stück näher und nahm dieses Mal ebenfalls etwas Soße auf seinen Löffel, ehe er ihn Paige hin hielt.

„Sag mir, wie das schmeckt. Ich hab auch noch nie wirklich damit rumprobiert.“
 

Die Vanillesauce balancierte auf der Mousse, die Ryon ihr hinhielt und die sie nur zu gern annahm. Normalerweise stand sie nicht auf Vanille, aber solange der herrliche Geschmack von Schokolade sich nur mit dem Anflug des Vanillearomas mischte, war es herrlich.

„Auch gut. Wobei Vanille nicht zu meinen Lieblingsgeschmäckern gehört.“

Neugierig und weil ihr Spieltrieb durch die verschiedenen Schüsselchen und Kännchen angeregt wurde, beugte sie sich über die zweite Sauce und tunkte die Spitze ihres eigenen Löffels hinein, um zuerst etwas der puren Fruchtsauce zu testen.

„Oh, das passt gut.“

Begeistert nahm sie eine große Portion Mousse auf den Löffel und hielt das Kännchen schräg, um den Löffel einmal ganz hinein stecken und die Schokolade damit umhüllen zu können.

Als sie die klebrige, tropfgefährliche Fracht wieder heraus zog, erinnerte sie sich an Tylers kleinen Zettel.

„Mund auf. Das ist brandgefährlich...“ Mit einem breiten Grinsen fütterte sie Ryon ihre Kreation und wartete mit Neugier auf seine Reaktion.

Als sie allein die Andeutung eines Lächelns auf seinen Lippen erkennen konnte, lag ihr Mund auf seinem, ohne dass sie es für eine Sekunde hätte verhindern können.

Die Worte wollten sich selbstständig machen. Als hätten sie auf genau diese Sekunde gewartet, hüpften sie wie prickelnde Perlen auf Paiges Zunge herum und wollten heraus gelassen werden.

Aber mit einem Lächeln löste Paige sich wieder von Ryon und gestand sich ohne Reue oder schlechten Gefühlen ein, dass sie einfach noch nicht so weit war. Sie wusste es und irgendwann würde sie es sagen müssen, bevor sie vor Glück und Zuneigung platzte. Aber eben noch nicht hier und jetzt.

"Wenn du übrigens mal Lust auf echte Sauereien mit Schokolade hast, muss ich dir zeigen, was S'mores sind."
 

Als hätte Paige seine Gedanken erraten, waren auch schon ihre Lippen auf seinen. Dass diese so viel besser als jedes Dessert waren, hätte er ihr nur zu gerne gesagt, aber das hätte vorausgesetzt, dass er den Mund zum Sprechen frei hatte. Was er wiederum im Augenblick gar nicht wollte.

Es war Paige, die sich wieder zurück lehnte und es mit ihren nächsten Worten schaffte, ihn, zumindest rein körperlich betrachtet, leicht aus der Fassung zu bringen.

Wenn sie Wörter wie ‚Lust‘, ‚Sauereien‘ und ‚Schokolade‘ in einem Satz erwähnte, dann regte das deutlich seine Blutzirkulation an.

Ryon legte seinen Löffel weg und sah Paige mit einem seiner ‚Jägerblicke‘ an.

„Ich bestehe sogar darauf, dass du es mir zeigst. Später…“, raunte er leise, während er ihr auf anpirschende Weise immer näher kam, bis er sich schließlich zu ihr herabbeugte und sie erneut küsste.

Als er den Geschmack vom Dessert an ihren Lippen erhaschte, war sein Appetit nun vollkommen erweckt und alle nicht dazu passenden Gedanken rutschten in den Hintergrund, während er mit seinen eigenen Lippen, seiner Zunge und den Zähnen versuchte, noch mehr von diesem Geschmack zu stibitzen.

Eigentlich hätte er jetzt im Augenblick überhaupt nichts gegen eine schokoladige Orgie hier direkt im Wohnzimmer.

Zwischen zwei Atemzüge und mehreren hungrigen Küssen, sah er Paige an. Fast schon so, als ob er bei ihr um Erlaubnis fragen wollte, doch schließlich war sein Tiger es, der diese Zurückhaltung zerstreute. Stattdessen blickte er ihr mit einem hungrigen Glitzern in den Augen entgegen.

„Ich würde gerne eine weitere Beilage zum Dessert probieren.“, verkündete er mit einem verräterisch rauerem Tonfall, ehe er Paiges Hand nahm, den Ärmel ihres Pullis etwas zurück schob, um die Unterseite ihres Handgelenks frei zu legen.

Danach tauchte er einen Finger in seine Schüssel voll Schokoladenmousse und strich damit über Paiges Haut.

„Schokolade als Beilage, fand ich schon immer anziehend…“, hauchte er mit halb gesenkten Lidern, während er sein Werk betrachtete und somit klar machte, dass Paige das Dessert und das Mousse nur der Zusatz dazu war.

Schließlich schloss er die Augen und leckte mit einer langgezogenen Bewegung über ihr Handgelenk bis das Mousse ab war.

Er seufzte verzückt, ehe er langsam wieder die Augen öffnete und sich Paiges Handgelenk ansah.

„Gerade hat sich meine Lieblingsspeise geändert…“
 

Die Schokomousse war kühl, obwohl sie ihre Festigkeit in der Wärme des Raums verloren hatte und Paige den Mund verzog, bei dem Gedanken, dass die Schokolade wirklich gleich auf den Teppich tropfen würde.

Im nächsten Moment verhinderte Ryon das allerdings mit Bravour und sorgte dafür, dass Paige erstaunt inne hielt. Seine Zunge hinterließ ein prickelndes Gefühl auf ihrer Haut und ihre Finger schlossen sich um die seinen, während er mit der anderen Hand immer noch ihren Arm hielt.

Konnte es denn wirklich so … anders schmecken?

Obwohl sie natürlich einen Sinn für Geschmäcker und Gerüche hatte, war ihr noch nie zuvor der Gedanke gekommen, dass man Essen mit dem Duft einer Person mischen könnte.

Ohne Gegenwehr seinerseits wand sie ihr Handgelenk aus seinem Griff und nahm sanft seinen Zeigefinger, um ihn anschließend in das Schokomousse zu tauchen.

Mit gespannt aufeinander gelegten Lippen sah sie sich das Werk und dann Ryons Gesicht kritisch an, bevor sie seinen Finger zu sich heran zog und begann die Schokocreme abzulecken. Es war eine Kombination, die sie als bemerkenswert bezeichnet hätte, wenn es denn außer ihrem anerkennenden Summen noch weiterer Aussagen bedurft hätte.

Ein kleines Häubchen Schokolade ließ sie auf seiner Fingerspitze, um sie sich genießerisch in den Mund zu stecken und ihn dabei mit glitzernden Augen ansah. Ihre rein menschliche Zunge putzte jede Spur der Mousse von seinem Finger, bevor sie ihn wieder entließ und ihn mit einem zweideutigen Lächeln ansah.

Das machte zugegeben mehr Spaß, als sie sich je vorgestellt hatte. Auch wenn tief in Paige drin etwas dagegen protestierte, Lebensmittel als Spielzeug zu benutzen.
 

Ryons Blut begann nicht einfach nur zu sieden, sondern regelrecht zu kochen, als er wie erstarrt mit ansah, was Paige mit der Schokolade und seinem Finger vermischt mit ihrem Mund machte.

Irgendwie schien ihm sein Körpergefühl abhanden gekommen zu sein, oder besser gesagt, es spielte vollkommen verrückt, denn, obwohl seine Augen förmlich auf das starrten, was Paige da mit ihm anstellte, spürte er ihre Zunge doch nicht nur auf seinem Finger, sondern, als wäre das irgendwie logisch, viel tiefer an seinem Körper herab, dort wo er sie heute schon einmal mehr als nur deutlich hatte fühlen können.

Ein heißer Schauer lief durch seinen Körper hindurch, als sie den letzten Rest der Schokolade mit ihren geschlossenen Lippen von seiner Fingerspitze sog und dabei ein starkes Ziehen in seinem Unterleib verursachte.

Ryon musste mehrmals schlucken, bis seine Kehle wieder feucht genug war, um etwas sagen zu können. Dennoch hörten sich seine Worte schon eher wie ein tiefes Knurren an.

„Mach das noch einmal und ich reiß dir die Klamotten vom Leib, um dich als lebendes Serviertablett zu benutzen und glaub mir, ich werde dann sicherlich kein Besteck benützen, um von dir zu naschen.“

Seine Worte klangen nicht wie eine Drohung, obwohl das in einer gewissen Form sogar noch am ehesten zutraf, denn es war nur zu deutlich heraus zu hören, dass er es nicht vollkommen scherzend gemeint hatte.

Der Tiger streckte sich bereits und leckte freudig vor Erwartung über sein Maul, während Ryon Paige auf eine Weise ansah, die alles andere als harmlos war. Es war nicht das Feuer im Kamin, das seine Augen so zum Lodern brachte, sondern das Tier, das sie mit dieser einen, absolut nicht unschuldigen Geste aufgescheucht hatte.

Eine einzelne Schweißperle brach sich ihren Weg unterhalb einer seiner Stirnfransen hervor, glitt kühlend über die heiße Haut seiner Schläfe, ehe Ryon die Augen schloss, um sich zusammen zu reißen und der feuchte Tropfen in Vergessenheit geriet.

Es war nicht so, dass er sich für sein Verlangen nach ihr schämte oder es verbergen müsste, aber andererseits wollte er auch nicht, dass Paige den Eindruck erhielt, er wolle nur das eine von ihr, denn das stimmte ganz und gar nicht.

Wie oft am Tag, war eigentlich zu oft?

„Paige…“, begann er schließlich wieder mit normalerem Tonfall, was aber nichts gegen das Glühen in seinen Augen ausrichten konnte.

„…ich würde Tyler morgen gerne noch in die Augen sehen können, in dem Wissen, das Wohnzimmer unversehrt gelassen zu haben. Hättest du daher etwas dagegen, mit mir ein bisschen nach draußen zu gehen, um…“ Sich den Wind durch seine erhitzten Gedanken wehen zu lassen, auf das sie wieder abkühlen mochten? „…frische Luft zu schnappen. Ich koche schon jetzt in meinen eigenen Säften.“ Wortwörtlich und das nicht nur wegen des prasselnden Kaminfeuers.
 

Ein Bild blitzte in Paiges Kopf auf, das den Schein des prasselnden Feuers auf nackter Haut beinhaltete und ihre Augen für einen Moment genauso glühen ließ, wie Ryons, die ihr entgegen brodelten.

Die Vorstellung als Serviertablett für Mousse au chocolat benutzt zu werden, erschreckte sie wenig, was sie Ryon mit einer gehobenen Augenbraue und einem gesummten „Hmmm...“ auch zu verstehen gab.

Dass sie ihn allerdings mit einer kleinen Geste wie der eben, auf solche Gedanken bringen konnte, erstaunte sie ein bisschen. Wahrscheinlich allein deshalb, weil sie viel zu oft vergaß, dass sie es mit einem Raubkatzengestaltwandler zu tun hatte. Energien in geballter Form, so zu sagen.

Bevor sie noch über eine weiterführende Antwort nachdenken konnte, nahm ihr Ryon die Entscheidung ab und bat sie nach draußen. Da er mit Tyler argumentierte, von dem sie in jedem Fall ein Donnerwetter zu erwarten hatten – egal ob wegen Schokoflecken oder Brandflecken und Rissen von Krallen im Teppich – nickte sie nur zustimmend und ließ sich hoch helfen.

Ryon ging einem völlig natürlichen Instinkt folgend zur Terrassentür hinüber und merkte erst, dass sie stehen geblieben war, als er bereits den Griff in der Hand hatte, um die kühle Nachtluft herein zu lassen. Er wirkte fragend, als sie ihm mit einem Lächeln entgegen blickte und seine Aufmerksamkeit auf die dicken Wollsocken an ihren Füßen lenkte.

„Dir mag es barfuß nicht zu kalt sein, aber mir würden die Zehen abfrieren.“

Mit den Worten ging sie kurz in den Flur, um sich ihre Schuhe anzuziehen und dann keine drei Minuten später neben ihm aufzutauchen. Ihre Arme schlangen sich automatisch einmal fest um seinen Körper, bevor sie ihn losließ, damit sie zusammen nach draußen gehen konnten. Dabei klopfte ihr Herz so laut und eindringlich, dass Paige vor der Erkenntnis ihrer Gefühle beinah zusammen schreckte. Sie wäre am liebsten wie eine Klette an ihm geklebt.

Es war bestimmt eine sehr gute Idee, einen kleinen Spaziergang zu machen, um sich ein wenig abzukühlen.
 

Ja, er vergaß jedes Mal nur allzu leicht, dass andere sehr viel leichter frieren konnten als er. Das war schon immer so gewesen, da er immerhin sehr lange bei seinen Eltern gelebt hatte und die sich kein bisschen von ihm unterschieden, außer vielleicht in der Form, dass sie oftmals einfach zu beschäftigt gewesen waren, um mit ihm gemeinsam draußen herum zu streifen. Aber das war nicht weiter schlimm. Tiger waren von Natur aus Einzelgänger, weshalb er seine Streifzüge ohnehin viel lieber alleine verbrachte, es sei denn er hatte eine Gesellschaft wie Paige.

Sie drückte sich einen Moment lang an ihn, was er sehr schön fand, ehe sie ihn wieder los ließ, um ihm nach draußen zu folgen, doch da fiel ihm noch etwas ein, weshalb er sie kurz entschuldigend auf die Lippen küsste und für einen Moment stehen ließ, um das Babyfon zu holen.

Er würde es nicht mitnehmen, weil er nicht vor hatte, sich allzu weit vom Haus zu entfernen, aber er musste es zumindest so hin stellen, dass er es noch hören konnte, falls wirklich etwas sein sollte. Was er schließlich auch tat, in dem er es auf das Geländer, das die Terrasse weiträumig umschloss, zurück ließ und dann einen Arm um Paige schlang, um mit ihr in die kühle Nacht hinaus zu gehen.

Das Gras unter seinen nackten Füßen war feucht und herrlich erfrischend, der Wind blies sehr angenehm um sie herum und trug ihm die Gerüche des Waldes und des Herbstes zu. Tatsächlich lag auch schon so etwas wie Winter darin, aber nur sehr schwach. Schneien würde es sicher noch eine ganze Weile nicht.

Es war eine sternenklare Nacht, was es noch etwas kälter machte, als es ohnehin schon war, aber dafür umso schöner.

Da er nur sein dünnes Hemd und die nicht weniger dicke Hose anhatte, spürte er den Temperaturunterschied zu seiner Haut sehr deutlich, aber er fror nur in den äußerst seltenen Fällen. Paige hingegen, könnte es rasch kalt in ihrem Pulli werden, weshalb er sich überlegte, ob sie nicht doch eine Jacke für sie holen sollten, doch er entschied sich schließlich dagegen.

„Hast du was dagegen, wenn ich für dich den Heizkörper spiele, Paige?“, fragte er leise neckend, ehe er sie zwischen einer Gruppe von Bäumen, die den Beginn der Waldgrenze markierten in seine Arme nahm und erneut küsste.

Die Nacht mochte vielleicht kühl und die Erde unter seinen nackten Fußsohlen erfrischend sein, aber sie löschte nicht das Glühen in seinem Körper. Eher das Gegenteil war der Fall.

In dieser freien Umgebung fühlte er sich sogar noch lebendiger und naturbezogener, als in der zivilisierten Gesellschaft von Möbelstücken und allerlei anderer Dinge, die das Leben bequemer machten. Hier draußen jedoch, herrschte noch so etwas wie Wildnis, wenn auch in gepflegter Form und genau das, lockte sein Tier noch weiter hervor, das ohnehin schon längst Lust zu Spielen hatte.

Seine Krallen schabten an der rauen Rinde eines Baumes herab, gegen den er Paige sanft lehnte, dabei über sie gebeugt und sie mit seinem anderen Arm vor der kalten Rinde schützend.

Er knurrte erregt in den intensiver werdenden Kuss hinein, während die Kräfte der Natur ihn förmlich umschlangen.

Sein Körper machte ihm nur zu deutlich klar, dass er hier sofort auf der Stelle mit Paige Sex haben wollte, doch sein Verstand hielt ihn davon zurück, war er doch vorhin im Wohnzimmer noch der Meinung gewesen, dass er sich beherrschen sollte. Auch wenn das unter den Küssen immer schwieriger wurde. Letztendlich würde er es von Paige abhängig machen, ob sie diese Art des Aufwärmens begrüßte oder eher nicht.

Ein Grund, wieso er sich dazu zwang, von ihren Lippen abzulassen und leicht außer Atem tief in ihre Augen blickte.

„Ist dir kalt?“, fragte er leise und so … harmlos wie möglich, auch wenn ihm das anhand des Ausdrucks in seinen Augen nicht ganz gelang.
 

Angesichts der Jahreszeit war Paige überrascht, dass es nicht annähernd so kalt war, wie sie es erwartet hatte. Frisch durchaus, aber der Winter holte wohl erst Luft, bevor er wirklich kalte Luft in ihre Gegenden schickte und Tyler sich Gedanken wegen Winterreifen machen musste.

Mit den Armen um ihren Oberkörper geschlungen, sah Paige ihm dabei zu, wie Ryon das Babyfon-Lämmchen abstellte und sich dann ihr zuwandte. Selbst in diesen wenigen Momenten, als sie seine Bewegungen genau beobachtete, fiel ihr der Unterschied ins Auge. Wüsste sie es nicht, würde sie an ihrem Empfinden zweifeln. Aber da er es ihr gesagt hatte, fühlte sich Paige in zwischen in ihrer Vermutung bestätigt. Er hatte sich verändert. Oder vielmehr zu dem zurück gefunden, was er wirklich war.

Er war anders, bewegte sich mit einer Spannung, die nur schwer in Worte zu fassen war. Hätte sie es trotzdem tun sollen, hätte Paige gesagt, dass man den Tiger unter der Oberfläche nun sehen konnte. Immer noch war Ryon in der Form des Mannes und es bestand bestimmt nicht zu vermuten, dass er sich jeden Moment wandeln würde, aber dennoch war es nicht zu bestreiten.

Paige gefiel, was sie sah. Ryon schien vor Energie zu strotzen, was sie auch in seinen funkelnden Augen erkennen konnte, die trotz des wenigen Lichts vom Haus golden glänzten.

Mit einem Lächeln ließ sie sich in die Arme schließen und küssen. Selbst wenn sie zuvor noch geschwankt hatte, ob ihr zu kalt sein würde, heizte ihr Ryon mit seinen Küssen bereits nach kürzester Zeit ein.

Sie brauchte seine Krallen auf der harten Rinde des Baums nicht zu hören, um zu wissen, dass er mehr vorhatte, als ein wenig herum zu knutschen. Ob es nun das Knurren oder das Funkeln seiner Augen war... Paige konnte die Spannung in der Luft knistern hören.

Mit dem Mondlicht das sich seinen Weg durch die Äste auf sie hinunter bahnte und dem Wind, der sich leise durch die wenigen übrigen Blätter rauschte, sah sie Ryon mit einem Blick an, den man durchaus als herausfordernd bezeichnen konnte.

„Noch nicht...“

Mit beiden Händen griff sie in seinen Nacken und zog ihn wieder in einen intensiven Kuss, bevor sie weiter sprach.

„Glaubst du, dass du mich auch weiter warm halten kannst?“
 

Ryon schmolz fast dahin vor wohligem Verlangen, als Paige ihn im Nacken packte und erneut intensiv küsste, bis ihm fast die Luft weg blieb.

Er liebte es, wenn sie ihn mit solchen Gesten beherrschte und zugleich zähmte, wenn auch nie vollständig. Das hätte vermutlich weder sie noch der Tiger ganz zugelassen.

„Zumindest … werde ich es mit allen Mitteln … versuchen.“, war seine keuchende Antwort, ehe er sie nun mit richtiger Leidenschaft küsste und sich an sie drängte. Ihm selbst drückte die Rinde des Baums ganz schön in den Arm, aber solange es Paige nicht auch nur halb so erging, war ihm das vollkommen egal. Er spürte es immerhin kaum, während er ihren Rücken größtenteils davor bewahrte, aufgescheuert zu werden, solange ihre Schuppen sie noch nicht von selbst schützten.

Seine andere Hand zog die Krallen ein und umschlang ihre Taille, um sie noch ein bisschen enger an ihn zu drücken, aber auf eine Weise, die ihr noch genügend Luft zum Atmen ließ, sofern ihre gemeinsamen Küssen das nicht bereits verhinderten.

Das kaum hörbare Knacken eines kleinen Zweiges ließ ihn kurz aufhorchen und sich seine Aufmerksamkeit auf das Babyfon richten, ohne von Paige abzulassen oder die geschlossenen Augen zu öffnen.

Doch es blieb alles ruhig, bis auf ihre Atemzüge und den sanften Wind in den kargen Baumkronen. Weshalb er sich sofort wieder darauf konzentrierte, seine Hand unter ihren Pulli zu schieben, um ihre weiche Haut spüren zu können, die jedes Mal auf seinen Fingerspitzen ein sanftes Prickeln zurück ließ.

Vor lauter Atemnot sah er sich schließlich gezwungen, erst einmal von Paiges köstlichen Lippen abzulassen und das Spiel mit ihrer Zunge zu beenden, doch süchtig wie er nach seiner frisch auserkorenen Lieblingsleckerei war, wanderte sein Mund sofort zu ihrem Hals, während ihr Haar über sein Gesicht hinweg streichelte und ihn zum Seufzen brachte. Er liebte dieses Gefühl auf seiner Haut. Besonders wenn er dabei vollkommen nackt war. Allerdings würde das wohl hier und jetzt nicht ganz funktionieren. Für ihn vielleicht, aber bei Paige war er sich da nicht ganz sicher. Obwohl, wenn sie wieder Feuer und Flamme für ihn war, könnte sie am Ende sogar mehr Hitze abstrahlen als er, was ihren Klamotten sicher nicht ganz so gut bekommen würde, sofern sie seine Krallen überhaupt überlebten, obwohl er sich stark zusammen riss. So viel Geld er auch hatte, er konnte Paige nicht ständig die Klamotten ersetzen.

Seine Hand strich frech über ihren absolut hinreißenden Hintern, den er heute Mittag schon absolut zum Anbeißen gefunden hatte, als er sie von hinten nahm. Ihr Po hatte für ihn die perfekte Rundung und Beschaffenheit und die kleine Kuhle am Ende ihrer Wirbelsäule die sich oberhalb am Ansatz ihres Gesäß befand, hätte er stundenlang mit seiner Zunge bearbeiten können und auch jetzt war die Vorstellung sehr verlockend, dort heraus flüssige Schokolade zu lecken, als wäre er ein kleines Kätzchen vor einer Schüssel voll Sahne.

Wie sehr ihn diese Vorstellung erregte, ließ er sie deutlich spüren, als er seine Hüfte an sie schmiegte, während er ihr in den Hals biss. Neckisch und noch kein bisschen fest, aber das würde sich sicherlich bald ändern.

Mit einem zufriedenen Knurren sog er tief den Duft ihrer Haut ein und … erstarrte wie ein Reh im Scheinwerferlicht.

Etwas, das garantiert nicht zu Paige gehörte, legte sich hauchdünn und kaum bemerkbar auf seine Atemwege, aber da der Unterschied zwischen ihrem Duft und diesem Gestank so dermaßen groß war, konnte er gar nicht anders, als es zu wittern.

Paiges Duft war für ihn so süß wie Honig oder Sirup und legte sich auch meistens auf genau diese Art wie Balsam über seine Atemwege. Manchmal auch knisternd und lockend, doch das was sich da untergemischt hatte, roch scharf moschusartig und brannte förmlich in seiner Nase.

Seine Analyse hatte nicht einmal eine Sekunde gedauert, doch als sie sein Hirn erreichte, war seine Erregung und Leidenschaft mit einem Schlag aus ihm gewichen, als hätte jemand sie förmlich aus ihm heraus gesogen und zwar mit einem ultrastarken Sauger.

Im Versuch, ruhig zu bleiben und sich zumindest körperlich nach außen hin nichts anmerken zu lassen, blieb er so wie er war. Paige hatte bestimmt schon gemerkt, dass etwas nicht stimmte, aber sie sollte das auch unbedingt wissen. Der, den er gerochen hatte, allerdings nicht.

„Paige“, hauchte er ihr ganz dicht ins Ohr und in seiner Stimme lag deutliche Anspannung und Wachsamkeit.

„Wenn ich mich von dir gelöst habe, will ich, dass du ins Haus gehst, Mia holst, die anderen weckst und dich an Tylers Sicherheitsplan hältst. Er wird dir sagen, was zu tun ist und bitte, tu was ich dir sage. Komm nicht auf den Gedanken, das Haus zu verlassen!“

Um Paige gar nicht erst die Möglichkeit eines Protestes zu geben, ließ er sie unvermittelt los, sah ihr noch einmal fest in die Augen, während er einen Schritt von ihr weg machte und zischte ihr leise zu: „Geh!“

Danach drehte er sich herum und lief los, tiefer in den Wald hinein und so lautlos, als wäre er nichts weiter als einer der unzähligen Schatten, mit denen er schließlich verschmolz.

Paige drohte keine Gefahr, zumindest noch nicht, wenn sie sofort ins Haus lief und die anderen warnte, den derjenige, der glaubte, er würde vor Lust so blind sein, dass er keine Witterung mehr aufnehmen konnte, war noch viel zu weit vom Haus entfernt, um Schaden anrichten zu können. Aber alleine die Tatsache, dass er innerhalb der Grenzen war, ließ Ryon sich sein Hemd vom Leib reißen, um sich Notfalls rasch verwandeln zu können und sich dabei nicht in den Stofffetzen zu verheddern.

Je näher er dem Eindringling kam, umso deutlicher wurde der Geruch und es stellten sich ihm die Nackenhärchen zu Berge.

Es stank nach nassem Hund - ein Werwolf.

47. Kapitel

Sie mochten sich noch nicht allzu lange kennen, aber Paige bemerkte es sofort, als Ryons Hände auf ihrer Haut inne hielten und sein Atem nicht mehr aufgrund ihrer zu erwartenden erregenden Pläne schwer gegen ihren Hals schlug.

Außerdem war sie in den vergangenen Jahren oft genug in der Situation gewesen einen Feind zu erspüren, bevor sie ihn sehen konnte. Sie wäre einige Male beinahe geschnappt worden, hätte ihr Frühwarnsystem nicht so ausgezeichnet funktioniert.

Dem entsprechend juckten auch jetzt ihre Schuppen unter ihrer menschlichen Haut, während sich ihre Augen reflexartig öffnen wollten, um die Gegend abzusuchen. Aber außer einem wagen Gefühl war für sie nichts wahrnehmbar. Bloß Ryons Reaktion, die sich in Sekunden abgespielt hatte.

Jetzt hörte sie seine Worte an ihrem Ohr und wollte sofort protestieren, bis er ihr mit der Nennung von Mias Namen Einhalt gebot. Ryon konnte auf sich selbst aufpassen. Er war schnell, kräftig und erfahren. Wenn er ihre Hilfe wollte, indem sie nach drinnen ging, dann würde sie das tun. Denn Die Bewohner der Hauses konnten sich nicht derart verteidigen, wie es Ryon möglich war.

Mit einem knappen Nicken rannte Paige los und erreichte keine Minute später die Terrasse, wo sie das Babyfon schnappte und die Tür aufriss, um im Inneren zu verschwinden. Für Sekunden stand sie unschlüssig im Wohnzimmer. Noch immer hatte sie keine Ahnung, wo sich Tylers Schlafzimmer befand. Das Haus war eindeutig zu riesig, um jeden möglichen Raum abzuklappern.

Aber da ihr erster Weg ohnehin zu Mia führte, konnte sie sich in dieser Zeit überlegen, wie sie vorgehen sollte.

„Engelchen, es tut mir Leid...“

Mia quängelte leise, als Paige sie hochnahm und auf ihrem Arm wiegte, während sie sich schnell durchs Haus zu Ryons Büro bewegte. Doch das kleine Mädchen konnte die Nervosität so stark spüren, als hätte man sie direkt in eiskaltes Wasser geworfen. Ihr Weinen, das immer lauter wurde, wollte Paige das Herz zerreißen. Sie fühlte sich so hilflos, weil sie nicht wusste, wie sie Mia die Angst nehmen konnte. Es war noch nicht einmal klar, was eigentlich los war.

„Was ist denn hier los? Brennt es irgend-“

Tyler sah im Schlafanzug befremdlich aus, aber in Paiges Gesicht war bestimmt zu sehen, wie froh sie war, dass er vor ihr im Flur auftauchte. Das kleine Mädchen in ihrem Arm vergrub das Gesicht in Paiges Haar und krallte sich in ihren Haare fest, bloß um noch lauter zu weinen.

„Sshhh, Mia. Ist gut...“

Leicht streichelte Paige über den Rücken des Kindes, während sie Tyler fixierte.

„Irgendetwas stimmt nicht. Ryon ist im Wald. Ich soll dich nach dem Notfallplan fragen und wir sollen im Haus bleiben.“

In Paige sträubte sich wieder alles, während ihre Gedanken zu Ryon wanderten. Ja, er war stark und flink. Aber sie hätte trotzdem gern gewusst, mit was sie es zu tun hatten. Oder vielmehr, mit was er sich da draußen allein rumschlagen würde.

Weniger zu Mia, als zu sich selbst flüsterte sie leise in das Haar des Mädchens.

„Er kommt bald zurück. Keine Sorge.“

Tylers Züge schienen sich zu verhärten. Er wirkte weniger jugendlich als Paige es gewohnt war. Bevor sie es aber wirklich fassen konnte, drehte er sich um und verschwand kurz in einem der angrenzenden Zimmer, um mit einer völlig verschlafenen Ai keine Sekunde später wieder aufzutauchen.

„Paige, bring die beiden runter in den Keller. Die Tür neben der Garage. In dem Raum stehen viele Fläschchen mit Tinkturen und Bücher herum. Du wirst es erkennen, wenn du es siehst. Da sind wir sicherer, als in irgendeinem anderen Zimmer im Haus.“

Wieder ein kurzes Nicken und Paige fasste Mia ein wenig fester, schnappte sich mit der freien Hand Ai und lief los.

Ein Raum im Keller, der sicherer war, als jeder andere?

Die beiden Frauen schlitterten die Gänge entlang, schafften es ohne Zwischenfälle zur Kellertreppe und fanden hinunter.

Eine der schweren Türen unterschied sich rein optisch von allen anderen, aber Paiges dämonische Seite konnte auch spüren, dass irgendetwas diesen Raum schützte. Ihr selbst prickelte die Haut unangenehm, bis sie die Türklinke ergriffen und sie herunter gedrückt hatte.

Als sie die Einrichtung sah, die Fläschchen, die Bücher und die Gewürze, die an der Decke aufgereiht zum Trocknen hingen, entkam ihr Marlenes Name mit einem ehrfürchtigen Hauchen. Sie war eine Hexe gewesen. Hier unten konnte man ihre Gegenwart und auch ihr Können noch sehr deutlich spüren.

Ai war so geistesgegenwärtig ihr Mia abzunehmen, während Paige eine Gänsehaut im Nacken kribbelte.

Ihre Hände flammten auf, als sie Geräusche am oberen Ende der Treppe hörte.

„Wir sind's!“, klärte sie allerdings Tylers Stimme auf, der mit Tennessey herunter gepoltert kam. Beide sahen kurz auf die Flammen, die Paiges Finger umgaben, bis sie das Feuer mit einem Wink wieder löschte.

„Und das ist der Plan? Wir sollen uns hier unten verkriechen?!“

Paige war bereits nach dieser kurzen Zeit nah dran zu explodieren. Wenn jemand das Haus betrat, würde er sie früher oder später finden. Ob Marlenes Zaubergrenze dann hielt, war für Paige fraglich. Auch wenn sie der Hexe selbst nach so vielen Jahren noch sehr viel zutraute.

„Ihr bleibt hier. Ich gehe da rauf und werde jedem den Hintern wegbrennen, der hier runter will.“

Sie stürmte davon, ohne irgendjemandem Zeit für einen Einspruch zu lassen. Ryon hatte sie versprechen müssen, dass sie im Haus blieb. Aber sie würde nicht auf dem Silbertablett warten, dass jemand sie holte. Und schon gar nicht darauf, dass die ganze Familie auf einmal gefunden wurde. Wer immer es wagte diesen Leuten ein Haar krümmen zu wollen, würde es zuerst mit ihr aufnehmen wollen. Wenn Ryon ihm nicht ohnehin schon draußen den Kopf abriss.

„Komm bloß unverletzt zurück...“, bat sie zwischen zusammen gebissenen Zähnen, bevor sie in einer dunklen Ecke unweit der Tür Stellung bezog.
 

Zwischen überhängenden Kiefernästen saß der Quell des Gestanks ganz locker in der Hocke, als wäre er ein Spatz auf einer Stromleitung und kein ungefähr 300 Pfund schwerer Mann, dessen wahre Natur er alles andere als gut verstecken konnte.

Das gelbe Grinsen des Kerls war so breit und lüstern, dass Ryon sich nicht einmal die Mühe machte, sich an ihn heran zu schleichen. Der Typ hatte ihn schon kommen sehen, seit dem er Paige verlassen hatte. Das war schon auf dem ersten Blick klar zu erkennen. Was sich jedoch alles andere als offensichtlich zeigte, war die Tatsache, wie der Kerl, der aussah wie die werwölfische Version eines Penners, es auf die Mauer geschafft hatte.

Gut, sie war vielleicht nur drei Meter hoch, aber wenn man bedachte, dass durch Marlenes Zauber von der anderen Seite nicht einmal eine Mauer zu sehen war, war das schon eine ganz schöne Glanzleistung. Trotzdem würde Ryon dafür jetzt sicherlich nicht Beifall klatschen.

Außer Reichweite und doch gut erkennbar, blieb er schließlich stehen und starrte den Eindringling finster an.

Jeder von Ryons Muskeln war steinhart vor Anspannung und seine Kiefer mahlten wie eine Getreidemühle aufeinander, bis ihm die Zähne schmerzten. Dennoch folgte er nicht seinem ersten Instinkt und griff den Penner an, um sein Revier und somit seine Familie zu verteidigen, sondern blieb einfach ruhig stehen und wartete auf eine Reaktion des anderen, um ihn besser einschätzen zu können.

Der hatte sogar ein noch breiteres Grinsen aufgesetzt, als er Ryon auf sich zukommen sah. Allerdings war die Lüsternheit darin von einer Grausamkeit abgelöst worden, die dem Gestaltwandler eine Gänsehaut über den Körper jagte.

„Ihr hättet euch von mir nicht stören lassen müssen.“, begann der Werwolf schließlich mit tiefer, kratziger Stimme zu sprechen, die an alte Scharniere erinnerte, während er seine Finger mit den schmutzigen Krallen streckte und zugleich knacken ließ.

„Ich hätte gerne zugesehen, wie du die Schlampe nagelst, aber offensichtlich bist du einer der Typen, die lieber alles für sich behalten wollen. Wer hätte das gedacht.“

Ryons Augen färbten sich pechschwarz, während er schweigend den Beleidigungen des Köters zuhörte und sich darauf zu konzentrieren versuchte, mögliche Schwachstellen an dem anderen heraus zu finden. Allerdings war das von dieser Position aus nicht leicht zu erkennen. Der Typ saß im Halbschatten.

„Aber ich muss schon sagen, die Kleine hatte schon ein wirklich geiles Fahrgestell. Die würde ich auch nicht teilen wollen.“ Der Werwolf lachte und machte eine Bewegung mit dem Kopf, woraufhin man es deutlich erneut knacken hören konnte, als würde er sich die Nackenwirbel lockern.

Entweder ein Zeichen, dass sich der Kerl für einen Angriff rüstete, oder er wollte nur angeben. Ryon hielt Letzteres für wahrscheinlicher. Bis jetzt konnte der Typ nur zwei Dinge: Scheiße quatschen und bis zum Himmel stinken.

Als wäre der faulige Atem, vermischt mit dem Geruch von verwesendem Fleisch nicht schon genug, schien der Typ auch keine Ahnung zu haben, wozu es Wasser und Seife in Kombination gab.

Der Gestank nach wochenaltem Schweiß, ungewaschenem Körper und wölfisch-männlicher Ausdünstung war für Ryons empfindliche Nase fast wie ein Schock. Andererseits war genau das der Grund gewesen, weshalb er so schnell auf den Eindringling aufmerksam geworden war. Eigentlich sollte er ihm dafür also dankbar sein.

„Ich seh‘ schon, mit Quatschen werden wir hier nicht unsere Zeit verplempern.“

Der Werwolf seufzte und sprang dann überraschend lautlos von der Mauer. Sein Körper, so wuchtig er auch war, federte sich sanft auf dem Boden ab, ehe er sich zu seiner vollen Größe aufrichtete.

Der Typ war genauso groß wie Ryon, nur mit dem Unterschied, dass er nicht nur ein Berg aus Muskeln, sondern auch deutlich mehr Fett am Leib hatte.

Er trat ins Mondlicht, woraufhin Ryon nun nicht nur das noch immer vorhandene Lächeln sehen konnte, sondern auch den Rest davon.

Wettergegerbte Haut, unzählige verheilte Narben, gelbe Augen, seltsam deformierte Nase, als wäre sie schon unzählige Male gebrochen worden und schwarze verfilzte Haare bis zu den Schultern.

Ryon kannte ihn. Zumindest eine um mindestens zehn Jahre jüngere Version, mit weniger Narben, gepflegterem Aussehen, gerader Nase und nach seiner letzten Bilanz mausetot. Das konnte doch wohl unmöglich ein Verwandter von dem Werwolf sein, den er zuletzt bei einem Job zur Strecke gebracht hatte?

Es schien so, war aber überhaupt nicht wichtig, wenn man bedachte, dass dieser Typ gerade seine Füße auf sein Land gesetzt hatte.

Der Tiger brüllte in Ryons Kopf und krümmte die Krallen, aber ansonsten blieb er immer noch unnatürlich ruhig.

Paige und die anderen brauchten Zeit, sich in Sicherheit zu bringen und die würde er ihnen geben, sofern es überhaupt nötig war, denn lange würde er sich nicht mehr beherrschen können.

„Deinem Blick nach zu urteilen, kommt dir mein Gesicht bekannt vor. Ich schlage also vor, wir kommen gleich zum geschäftlichen Teil unseres kleinen Treffens. Gib mir die Kette, die du da um deinen Hals trägst und ich werde deine Schlampe vielleicht verschonen, nachdem ich mit ihr meinen Spaß hatte. Dich jedoch, werde ich ausstopfen und als Trophäe über meinen Kamin hängen, so wie du es mit meinem kleinen Bruder gemacht hast!“

Ryon stand kurz vor einer Explosion. Der Gedanke daran, dieser Dreckssack könnte Paige auch nur ein Haar krümmen, ließ ihn fast vollständig rot sehen.

Gerade noch so, konnte er verhindern, dass er einen Schritt nach vor und somit einen Schritt näher auf einen Kampf zu machte.

„Ich könnte mich nicht erinnern, jemals einen dreckigen Köter an meine Wand gepinnt zu haben.“, brach Ryon schließlich eisigkalt sein Schweigen und zuckte leicht zusammen, als er vom Haus her Mias Weinen hörte.

Der Blick des Werwolfs – nun wütend, wegen Ryons Worten – glitt zum Haus hinüber und erneut breitete sich ein fast schon diabolisches Lächeln auf dessen Gesicht aus.

„Deines?“, fragte er in gespielt freundlichem Tonfall, als könne der Wichser kein Wässerchen trüben.

„Ich liiiiebe kleine Kinder. Vor allem kleine Mädchen habe ich zum Fressen gern. Wenn ich mit dir fertig bin, werde ich mich einmal deiner Familie höflich vorstellen gehen. Das wird ein Spaß.“

Bevor das fast schon wahnsinnig klingende Lachen des Werwolfs verklingen konnte, riss Ryon endgültig der Geduldsfaden, als Mias Weinen sogar noch lauter zu ihm durchdrang, als wäre es ihre Antwort auf das Gesagte.

Der Tiger drehte völlig durch und Ryon machte keinerlei Anstalten, in zu stoppen.

Der Aufprall ihrer beiden Körper aufeinander war so heftig, dass der ganze Boden unter ihnen zu schwanken schien, bis sie beide als wirres Knäuel auf der Erde landeten und versuchten, sich mit ihren Krallen gegenseitig an die Gurgel zu gehen.

Mit nicht menschlichen Kampflauten griffen sie sich gegenseitig mit Tritten und Fausthieben an.

Ryon landete schon nach kurzer Zeit einen saftigen Treffer am Kinn des Werwolfs, der daraufhin die gelb gefleckten Zähne fletschte und ihm das Knie in den Brustkorb rammte, bis jegliche Luft aus seinen Lungen wich.

Aber auch ohne lebensspendenden Sauerstoff, ließ sich Ryon nicht abschütteln, sondern verpasste dem verdammten Köter ein weiteres Andenken an seine Krallen quer über das Gesicht.

Ein Schlag, der ein Feuerwerk hinter seinen Augenlidern explodieren ließ, war das Dankeschön dafür und brachte ihn zugleich unter den massigen Körper des Werwolfs, der nicht auf das viele Blut in seinem Gesicht achtete, sondern Ryon stattdessen die Krallen einer Hand in den Brustkorb trieb, um ihn fest zu halten und mit der anderen weit auszuholen.

Ryons Unterlippe platzte unter dem Hieb wie eine reife Tomate auf, doch auch ihm machte die Verletzung nichts aus. Ganz im Gegenteil. Der Schmerz ließ seine Sicht wieder klarer und seine gewaltige Wut nur noch größer werden.

Mit beiden Fäusten donnerte er dem Kerl auf die Ohren, bis dieser jaulend von ihm abließ und er somit die Chance bekam, den Tiger nun endgültig von der langen Leine zu lassen.

Von einer Sekunde auf die andere, stand er auf vier Pfoten da und setzte bereits zum Sprung an, als auch der Werwolf die Verschlechterung seiner Lage erkannte und seinem Tier völlig freie Hand ließ.

Werwölfe waren leider nicht mit Gestaltwandlerwölfen zu vergleichen. Sie waren mindestens dreimal größer, als ihre natürlichen Verwandten und auch ungleich stärker, weshalb Ryon absolut kein Gefühl von Triumpf in sich aufkeimen spürte. Für ihn war das bitterer Ernst, als er sich mit einem lauten Brüllen auf den Werwolf stürzte, bis sie erneut als wild um sich schlagendes Knäuel Erde und Dreck aufwühlten, nur mit dem Unterschied, dass sie sich nun nicht gegenseitig mit Fausthieben beschenkten, sondern versuchten, sich mit ihren Krallen gegenseitig aufzuschlitzen und die Zähne um die Kehle des jeweils anderen zu bringen.

Während sie wild fauchend, knurrend und brüllend immer weiter kämpften und sich absolut nichts schenkten, näherten sie sich immer weiter dem Haus. Ryon versuchte zwar immer wieder den Kampf in eine andere Richtung zu lenken, doch das ließ der Werwolf nicht zu. Dieser wollte zum Haus und das gelang ihm leider auch nur zu gut.

Die Blumenkübel und Töpfe auf der Terrasse wurden von ihren massigen Leibern umgeworfen und zerschlagen, das Holz von ihrem Blut besudelt und ihren Klauen zerkratzt.

Ryons Lungen brannten wie unter einem Säurebad und jeder seiner Muskeln zitterte heftig vor Anstrengung. Doch wenigstens war er nicht der einzige, der langsam aber sicher müde wurde. Der Werwolf schien sogar noch schneller schlapp zu machen, als er selbst, was bei dem hohen Blutsverlust auch kein Wunder war. Dennoch, der höhere Fettanteil am Körper des anderen, dämpfte etwas die brutalen Hiebe, die Ryon austeilte, während er selbst mit voller Wucht einstecken musste.

Da er keine Ahnung hatte, wie das hier enden würde und er um keinen Preis seine Familie verlieren wollte, setzte Ryon noch einmal alles daran, den Werwolf fertig zu machen. Es war ihm zwar nicht gelungen, ihm vom Haus fern zu halten, aber wenn er ihn aufhalten konnte, dann hatte er ebenfalls gewonnen.

Mit letzter Kraft, die er noch tatsächlich aufbringen konnte, nutzte er seinen Tiefschlag, als er auf dem Rücken landete und der Wolf ihn angriff, um den Körper mit einem kräftigen Tritt seiner Hinterläufe durch die Glasfront des Wohnzimmers zu befördern.

Es krachte so laut, dass seine Ohren klingelten, doch als er sich wieder aufgerafft hatte, herrschte Stille.

Der Werwolf lag in einem Scherbenhaufen auf dem Parkettfußboden und obwohl er heftig hechelte, rührte er sich doch ansonsten nicht mehr. Dass die Verwandlung zurück in den hässlichen Dreckskerl stattfand, war ein gutes Zeichen dafür, dass dieser Ohnmächtig war. Gott sei Dank. Ryon hätte nicht mehr sehr viel länger mit seinen Kräften haushalten können, denn selbst seine eigene Rückverwandlung zog sich sehr viel länger hin, als es sollte und als er nackt und aus mehreren Kratzern blutend, auf die Beine kam, keuchte er nicht weniger heftig, als der Bewusstlose auf dem Boden.

Mit wutverzerrtem Gesicht stieg er durch die zerbrochene Fensterfront, kniete sich neben den reglosen Werwolf nieder und verpasste ihm noch einen kräftigen Haken, der dem Typen wohl zum x-mal die Nase brach und dafür sorgen sollte, dass er auch noch länger schlief.

Doch selbst dann konnte er sich nicht beruhigen. Ryon zitterte heftig unter dem ganzen Adrenalin und musste sich stark zusammen reißen, dem Kerl nicht einfach die Kehle heraus zu fetzen.
 

Immer wieder zuckte sie heftig zusammen und ihr rasender Herzschlag zwang sie dazu, tief durchzuatmen und zumindest einen gewissen Teil von Beherrschung zu erhalten.

Paige konnte sie hören.

Ob es nun ein Angreifer war oder gleich eine ganze Horde, es hätte sich für sie wahrscheinlich kaum anders geäußert. Jede Faser ihre Körpers wollte da hinaus, sie wollte ihm helfen!

Und wenn sich auch nur die winzigste Ahnung von Verlust in ihr regen wollte, biss Paige sie nieder. Dabei wollte jedes Winseln oder verletzte Knurren, das eindeutig von einer Raubkatze stammte, ihr das Herz zerreißen. Beinahe konnte sie es vor sich sehen, wie er kaum hundert Meter von ihr entfernt verletzt wurde.

Als sie Scheppern und zerbrechendes Inventar auf der Terrasse hörte, war es genug. Mit einem Zischen gingen ihre Hände in Flammen auf und bloß um sicher zu gehen, wurde gleich ihr gesamter Körper von der Schuppenschicht überzogen.

Es war zu nah am Haus! Zu nah an Mia, Ai und den Anderen! Was, wenn Ryon nicht allein mit der Gefahr fertig wurde?

Sie zwang sich langsam zu gehen, auf jede Bewegung zu achten und jedes Geräusch, das sich im Hausflur regte. Immerhin machte sie das Geschehen draußen fast wahnsinnig, aber nicht blind. Es könnte alles ein Ablenkungsmanöver sein, um an Ryons Schwachpunkt heran zu kommen. Seine Freunde, Mia...

Paige hatte auf leisen Sohlen die Küche erreicht, als das Geräusch der zerberstenden Glastür sie zusammen fahren ließ. Ohne nachzudenken rannte sie los. Auf das Wohnzimmer zu, wo sie weitere Schläge hörte. Sie hatte versprochen im Haus zu bleiben. Dem entsprach sie, aber wenn sie hier reinkamen...

„Ryon!“

Der Ausdruck in Paiges Augen wechselte so schnell von aggressiv auf besorgt, dass ihr die Gesichtszüge für einen Moment entglitten. Die schockierende Wucht der Sorge um ihn riss sie nach vorn, über das Sofa, hinter dem sie ihn nur von der Hüfte aufwärts hatte sehen können, bis sie grob zurück geworfen wurde. Flammen leckten über ihr Gesicht, als sie sich den Handrücken vor Mund und Nase hielt und trotzdem hart schlucken musste, um gegen den bestialischen Gestand anzukämpfen, der ihr die Galle hochtreiben wollte.

„Mein... Gott...! Kannst du den Müll nicht draußen lassen?“

Immer noch auf dem Sofa stehen, sah sie Ryon in die Augen. Er stand aufrecht, atmete und schien bei Sinnen. Aber verdammt, wenn der Kerl, der ihn so zugerichtet hatte, nicht nach Verwesung stinkend vor ihr läge, er könnte seine Eier gebraten als Nachtsnack einnehmen.

„Noch alles dran?“, fragte sie sanft, aber etwas unbeholfen. Denn alle anderen Fragen waren ohnehin blödsinnig. Gut ging es ihm nicht und in Ordnung war auch auf keinen Fall etwas. Scheiße, wie hatte dieses Vieh hier reinkommen können?
 

Ryon spuckte Blut auf den Boden, weil das Erstens, ohnehin keinen Unterschied mehr machte. Der Großteil des gemütlichen Wohnzimmers war absolut eingesaut und Zweitens war es nicht sein Blut, sondern das dieses dreckigen Arschlochs und dementsprechend zum Kotzen war ihm auch. Aber er hatte den Würgereflex im Griff und wischte sich stattdessen mit dem Handrücken den blutigen Mund ab.

Einen Moment lang schloss er die tief schwarzen Augen, als er seine verletzte Unterlippe dabei berührte. Es brannte wie die Hölle, aber zum Glück war das Immunsystem eines Wandlers wesentlich erfolgreicher, als das eines Menschen. Ansonsten hätte er sich schon Sorgen machen müssen, dass er sich Tollwut oder etwas ähnlich Schlimmes eingefangen hatte.

Erst dann sah er Paige an, registrierte auf einen Blick die Gefühle in ihrem Gesicht und musste sich mit einem Mal noch sehr viel stärker beherrschen, nicht einfach auf den bewusstlosen Dreckssack einzutreten.

Ihren Kommentar und die Frage überging er einfach, stattdessen warf er noch einmal einen Blick auf den blutigen Fleischberg, ob dieser auch wirklich Dornrösschen Konkurrenz machte, ehe er mit einer Stimme, die er selbst kaum widererkannte, so rau und aggressiv war sie, sich erneut an Paige wandte.

„Hol Tennessey. Der soll diesen Köter so weit betäuben, dass er kurz vorm Einschläfern ist und-“

„Bin schon da.“

Ryons Krallen fuhren mit einem deutlichen Ratsch heraus und er zuckte in Richtung Wohnzimmertür, beruhigte sich aber schnell wieder, als er den Doc erkannte und wie als hätte er es bereits gewusst, hatte dieser auch seine Arzttasche dabei.

„Gut.“ Seine Stimme klang schon etwas ruhiger, aber noch lange weit von normal entfernt.

„Ihr bleibt im Haus. Ich werde mich draußen noch einmal umsehen, ob noch mehr von der Sorte hier sind.“

Das glaubte er zwar nicht, aber der Kampf hätte ihn ohnehin zu sehr abgelenkt, um sich noch auf etwas anderes konzentrieren zu können.

Er schenkte Paige noch einen kurzen Blick, in dem seine Augen einen Moment lang golden flackerten, ehe sie sich wieder verdüsterten und er sich herum drehte.

Obwohl er den Weg über die Glassplitter zur Terrasse ging, war es bis auf die Anstrengung, kein Problem für ihn, sich dabei wieder in den Tiger zu verwandeln. Früher war er sehr geschickt darin gewesen und das hatte sich nicht allzu sehr verändert.

Leicht humpelnd schlich er erst einmal ums Haus, während er mit allen seinen Sinnen in die Nacht lauschte, doch es war alles still. Also folgte er den Spuren ihres Kampfes, bis er an der Mauer angekommen war, an der Stelle, wo der Werwolf gesessen hatte.

Mit einem Satz, der ihm schon sehr viel schwerer fiel, sprang er hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter.

Sein ganzer Körper kribbelte, als er dabei Marlenes Schutzzauber durchquerte, aber das war anhand der momentanen Lage sogar sehr erfrischend.

Auf der anderen Seite angekommen, konnte er die Mauer zwar sehen, aber nur noch verschwommen und schattenhaft, als wäre er auf irgendeiner Droge und würde halluzinieren. Für jene, die nicht wussten, dass sie hier war, würde es wie überall in diesem Wald aussehen.

Mit gesenktem Kopf begann er die Spuren des Werwolfes zurück zu verfolgen. Es waren sehr viele und sie überschnitten sich immer wieder, was darauf schließen ließ, dass der Dreckssack hier eine ganze Weile herum geschlichen hatte, bis er die Mauer irgendwann doch bemerkt haben musste.

Wie genau Marlenes Zauber funktionierte, konnte Ryon nicht sagen, aber eigentlich verspürte ein Eindringling nur wenig Lust, weiter zu gehen, je näher er der Mauer kam. Personen mit schwachen Nerven, würden schon einen Kilometer vorher in Panik davon rennen. Aber schwache Nerven hatte der Werwolf eindeutig nicht gehabt.
 

Tyler war bei Ai und Mia geblieben, um sie zu beschützen, falls Ryon doch nicht alles im Griff hatte, aber Tennessey wurde soeben vom Gegenteil überzeugt. Der Haufen auf dem Boden, der wie ein mehrmals überfahrener Kadaver auf dem Highway im Hochsommer stank, rührte sich bis auf die heftigen Atemzüge nicht mehr.

Während Ryon sich also erneut auf den Weg machte, um den Stand seines Reviers zu kontrollieren, ging der Doc an Paige vorbei, nachdem er eine große Spritze voller Morphium aufgezogen hatte und jagte sie dem Typen schon vom Weiten, in den Hals, damit die Wirkung rasch einsetzte.

„Er wird zwar tiefer als eine Leiche schlafen, aber könntest du auf ihn aufpassen, während ich die für ihn passenden Accessoires hole?“

Paige sah ziemlich mitgenommen aus, aber sie war stark, er konnte sich also ohne weiteres auf sie verlassen, weil er eher zu befürchten hatte, sie würde dem Kerl in seiner Abwesenheit irgendetwas anbraten. Zumindest ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen.

Gut, solange sie den Werwolf nicht umbrachte, war es ihm egal, also ging er die Ketten holen, die sie, obwohl eigentlich normalerweise sehr friedvoll, immer auf Lager hatten. Man konnte ja nie wissen.
 

Nach gut zwanzig Minuten betrat Ryon wieder sein eigenes Reich und ging zum Haus zurück. Inzwischen fühlte er sich unglaublich müde und so hungrig, als wäre selbst eine Büffelherde noch lange nicht ausreichend, um diesen Hunger zu stillen. Das lag an seinen Verletzungen, sie heilten schnell und forderten dadurch ihren Tribut. Aber was er jetzt wirklich unbedingt wollte, war Paige in den Arm nehmen und Mia sehen, damit er sich bewusst wurde, dass es ihnen gut ging und er sich wieder beruhigen konnte. Allerdings sollte er sich vorher duschen. Er stank durch das Blut des Köters fast so schlimm, wie der Werwolf selbst, was wohl trotz des Hungers, seine Appetitlosigkeit erklären dürfte.
 

Paige war auf dem Sofa in die Hocke gegangen und sah mit gezwungen flacher Atmung auf den Werwolf herab, der leicht gurgelnd vor sich hin schnarchte. Tennessey jagte ihm irgendein durchsichtiges Mittel in die Blutbahn und verabschiedete sich dann kurz, um wohl so etwas wie eine angepasst Leine für diese Kreatur zu holen.

Kaum dass sie sicher war, dass der Arzt den Raum verlassen hatte, war Paige mit zwei Schritten vom Sofa herunter und hielt sich den Ärmel ihres Pullis vor die Nase, um sich den Eindringling näher zu betrachten.

Wirklicher Abschaum, wie er einem normalerweise hauptsächlich in den übelsten Spelunken oder den Abwasserkanälen der 'World Underneath' begegnete. Genau das ließ Paige daran zweifeln, dass Boudicca ihn geschickt hatte. Dafür war der Versuch einfach zu plump und der Kerl zu ... ordinär. Wenn man bedacht, wer sich bis jetzt so an Ryons und ihr eigenen Fersen geheftet hatte, entsprach das hier überhaupt nicht dem Stil der Hexenmeisterin.

Weil sie es nicht mehr länger in der Hocke aushielt, ohne dass sie leicht grün um die Nase wurde, stand Paige langsam auf. Allerdings ohne den schlafenden Riesen aus den Augen zu lassen. Es war eigenartig, aber sie fragte sich wirklich, was sie mit ihm anfangen sollten. Wäre Ryon im Kampf nichts Anderes übrig geblieben, als kurzen Prozess mit ihm zu machen, wäre das eben so gewesen. Aber jetzt... Sie konnten ihn doch nicht einfach um die Ecke bringen.

Ihre Gedanken wurden durch das Geräusch von jemandem auf der Terrasse in alle Winde zerstreut. Sofort schnellte Paiges Puls erneut in die Höhe und sie war mit vier ausholenden Schritten bei der Tür, die nur noch aus großen Glasscherben bestand, die noch im Rahmen hingen.

Ryon schien direkt aus dem silbernen Hauch aufzutauchen, der den Tiger wieder in seinen menschlichen Körper verbannte. Im Mondlicht sah er sogar noch geschundener aus, als zuvor, wo sie im Wohnzimmer einen flüchtigen Blick hatte auf ihn werfen können. Der Schock über den ganzen Vorfall und auch Ryons Aggression vorhin, steckte Paige noch in den Knochen. Deshalb versuchte sie auch nicht direkt, ihn anzufassen, sondern stand nur mit offenem Blick in der Tür, um sich um Ryon zu kümmern, wenn er es zuließ.

„So wie ich das vermute, hat Tennessey ihn bis zur Jahreswende ausgeknockt. Er sagte irgendwas von Assessoires...“

Als er kaum noch einen halben Schritt weit von ihr entfernt war, konnte sie nicht mehr. Beherrschung und Zurückhaltung hin und her, der Scheißkerl hätte ihn ernsthaft verletzen können!

Ihre Hände legten sich vorsichtig auf seinen Bauch, während Paige zu Ryon aufsah und dann sanft die Arme um ihn legte. „Du... Bist du schwer verletzt?“, wollte sie leise wissen und die Besorgnis schwang erschreckend klar in ihrer Stimme mit.
 

Oh Gott, Paiges besorgter Duft, war so viel besser, als dieser verdammte Gestank, den er vermutlich wochenlang nicht mehr aus der Nase bekommen würde und obwohl er genau das im Augenblick brauchte, ließ er es nur kurz zu, dass Paige ihn umarmte. Er war voller Blut, Erde und Schweiß. Nicht alles davon, war nur von ihm selbst, weshalb er sich ihr auch schließlich entzog. Sie sollte nicht mit diesem Dreck zu tun haben.

„Alles klar soweit.“, versuchte er sie zu beruhigen, aber bis er wieder im Normalmodus war, würde es noch eine Weile dauern, vor allem, als sich sein Blick auf das schlafende Wölfchen heftete.

„Er war alleine. Ich konnte keine weiteren Spuren finden, wir dürften also vorerst in Sicherheit sein.“

Ryon hob seine Hand, wollte Paiges Wange berühren, weil er das dringende Bedürfnis hatte, ihr nahe zu sein, aber als er das langsam trocknende Blut sah, ließ er sie wieder sinken.

„Ich brauche eine Dusche.“, stellte er resignierend fest und ein Schauder des Ekels ging durch ihn hindurch. Aber vorher wollte er diesen Penner gut verschnürt wie ein Weihnachtspaket sehen.

Der Doc bewies wieder einmal perfektes Timing, denn gerade als Paige fragen wollte, wie lange dieser bereits weg war, kam er auch schon zur Wohnzimmertür herein geschneit. Voll beladen mit Meterweise dicker Ketten, als wollten sie einen Lastwagen abschleppen.

Ryon ging über die Glasscherben, ignorierte es, dass er dabei barfuß war und nahm Tennessey die Ketten ab.

„Du kannst Tyler sagen, dass alles in Ordnung ist und sie wieder aus dem Versteck kommen können. Aber lots sie weit vom Wohnzimmer weg, okay? Ich will nicht, dass sie das hier sehen.“

Verdammt, Tyler würde ihm den Hintern versohlen, wenn er sah, wie das Wohnzimmer aussah. Hatte er sich vorhin wirklich noch ernsthaft Sorgen darüber gemacht, die Couch mit ein paar Schokoflecken zu verunzieren?

„Geht klar. Kommst du zurecht?“

Der Arzt besah ihn von oben bis unten und wartete offenbar auf eine Antwort. Vermutlich, weil er nicht von selbst sehen konnte, wie schlimm es war. Kein Wunder, es war kaum noch ein Zentimeter von Ryons Haut zu sehen, der nicht vor Dreck stand.

„Geh schon, mir fehlt nichts.“

Ohne abzuwarten, ob Tennessey wirklich ging, ließ Ryon den Berg an Ketten neben dem Werwolf zu Boden fallen und begann dann, sehr geschickt und systematisch diesen darin einzupacken.

Daraus würde sich dieser Dreckskerl nicht mehr von selbst befreien können, was Ryon schon etwas mehr beruhigte.

Schließlich, als er zusätzlich noch die losen Kettenglieder mit einem massiven Schloss verband, sah Ryon wieder zu Paige auf.

„Könntest du bitte voraus gehen und darauf achten, dass die Luft rein ist, wenn ich unseren Kumpel hier in den Werkzeugraum neben der Garage bringe?“

Ryon packte mit beiden Händen die Ketten um den Hals des Wolfes und um dessen Körpermitte und warf ihn sich mit einem Ruck über die Schulter.

Verdammt war der Penner schwer und durch das zusätzliche Metall, wurde es auch nicht gerade leichter. Aber er wollte dieses Arschloch nicht länger im Haus haben. Erst recht nicht, wenn er wieder zu sich kam. Was noch eine Weile dauern dürfte, die er mit duschen und essen verbringen würde. Denn am liebsten hätte er sich sofort aus seiner eigenen Haut geschält.
 

Es war wirklich so, als würde der Werwolf aus jeder Pore mit der Penetranz eines Büffels stinken. Paige wollten sich die Nackenhaare kräuseln, als sie ihn sogar ätzend auf der Zunge schmecken konnte. Deshalb verwandelte sie sich auch in ihre rein menschliche Form zurück, um die Sinneseindrücke ein wenig zu dämpfen.

Trotzdem konnte sie den Ekel nicht unterdrücken, der ihr ein Schaudern durch den Körper schickte, als Ryon dem übergewichtigen Kerl die Ketten anlegte. Hätte sie auch nur irgendwie dabei helfen können, außer den Haufen Metall immer wieder so zu entwirren, dass Ryon schnell voran kam, sie hätte sich wahrscheinlich zuerst selbst die Nasenschleimhäute wegbrennen müssen. Paige hatte wirklich schon mit einigen zwielichtigen Gestalten zu tun gehabt, aber der hier war wirklich mit Abstand das Dreckigste, was ihr je unter die Augen gekommen war.

Sie erlaubte sich einen prüfenden Blick, um vielleicht einschätzen zu können, ob Ryon die Wahrheit gesagt hatte. Er bewegte sich nicht schonend oder zuckte bei irgendeinem Tun vor Schmerz zusammen, was Paige als gutes Zeichen wertete.

Allerdings war sie noch lange nicht so weit, dass ihre Sorgen verfliegen würden. Er blutete und vermutlich würde er ein Veilchen und blaue Rippen davon tragen. Genauso wie eine geschwollene Lippe. Er sollte sich bloß weigern die Stellen, an denen man ihm offensichtlich Krallen in die Brust gerammt hatte, von Tennessey untersuchen und behandeln zu lassen. Wenn er sich stur stellen wollte, würde sich der Werwolf als sein kleinstes Problem an diesem Abend herausstellen.

Obwohl Paige nach einem Nicken und einem zustimmenden Laut vorausgehen wollte, entging ihr nicht, dass dem Werwolf blutiger Sabber aus dem Mundwinkel lief. Schnell sah sie weg, um nicht mitzubekommen, wo das Zeug landen würde. Schlimm genug, dass Ryon dieses verschnürte Ekelpaket auch noch herum tragen musste. Der Werwolf musste zusammen mit den Ketten ungefähr doppelt so viel wiegen, wie er selbst.

Mit besorgtem Blick, der gleichzeitig Ryon und der Umgebung galt, spähte Paige in den Flur. Niemand war zu sehen. Der Doktor hatte seine Sache wohl gut gemacht und die Anderen so schnell es möglich war, in den hinteren Teil des Hauses verfrachtet. Dort lagen ohnehin ihre Schlafzimmer, wie Paige nun wusste und Paige hoffte, dass Ai und Mia ein wenig Ruhe bekommen würden. Beiden konnte diese Anspannung nicht gut tun.

„Ok, du kannst.“

Paige winkte Ryon durch den Türrahmen, als würde er mit einem Sattelschlepper in eine Miniparklücke fahren wollen. Aber so ähnlich sah sie das auch. Beide wiederholten sie das Spielchen noch einmal, als sie den kolossalen Werwolf in den kleinen Raum neben der Garage bugsierten und Ryon ihn dort einfach knallhart auf den Betonboden fallen ließ.

Außer ein Stöhnen kam von dem Kerl keine Reaktion.

„Ich hab mir Sorgen gemacht, dass wir ihn nicht hier lassen können... Aber Tennessey scheint sein Handwerk zu verstehen.“, meinte Paige mit echter Hochachtung in der Stimme, während sie mit Ryon die Abstellkammer verließ und er die Tür hinter ihnen verriegelte.

Kaum dass der Gestank mit dem Werwolf einigermaßen hinter die Metalltür verbannt war, sah Paige erneut besorgt zu Ryon auf. Sein Atem ging schwer und Paige konnte nicht feststellen, ob es allein die Anstrengung gewesen war, den Dreckskerl hierher zu bringen oder ob er eine schwere Verletzung vor ihr verbarg.

„Du kannst dir jetzt aussuchen, ob ich dich in die Dusche begleite und dich abschrubbe, oder ob du das allein tun möchtest und ich dir derweilen etwas zu Essen mache. Und außerdem wird sich der Doc die Stichwunden an deiner Brust ansehen.“

Ihr letzter Satz war eine Feststellung und keine Bitte gewesen. Sie sah ihn ernst an, doch ein Zittern in ihren Augen zeigte, dass sie leicht unsicher war. Ryon musste sich von ihr nichts sagen lassen, aber Paige hoffte sehr darauf, dass er sich helfen lassen würde. Das würde ihr helfen, die nagenden Sorgen zumindest ein wenig zu lindern.
 

Er hätte den Typen umbringen sollen, als er es noch so einfach gekonnt hätte. Denn dann müsste er sich nicht mit diesem Müll belasten, der bei jedem Schritt immer schwerer und schwerer zu werden schien.

Ryons Rückenmuskulatur zog und zerrte an seinen Wirbeln, bis er glaubte, es würde ihm endgültig den Brustkasten einschnüren, doch da erreichten sie endlich den Raum, wo Tyler für gewöhnlich das Werkzeug für die Autos, Geräte zur Gartenarbeit und andere Dinge verräumte, die nicht ins Haus gehörte. Perfekt. Der leichte Benzin- und Grasgeruch würde auch dann noch vorherrschen, wenn sie diesen Kerl dort drinnen eine Woche lang vergammeln ließen. Zumindest danach. Währenddessen konnte wohl nichts den Werwolf an Gestank übertrumpfen.

Selbst wenn Ryon keinen Hass auf diesen Kerl gehabt hätte, er hätte ihn trotzdem wie einen Sack Kartoffeln auf den Boden geworfen. Seine Arme konnten ihn einfach nicht mehr länger tragen.

Das Zittern in seinen Händen konnte er vor Paige verbergen, aber sein Atem entging ihr eindeutig nicht. Trotzdem, soweit er selbst die Bilanz ziehen konnte, war er in Ordnung.

Als Paige ihm diesen absolut himmlischen Vorschlag machte – sowohl Essen wie auch Dusche – wollte er sie erneut berühren, dringender als noch zuvor, doch mit einem bitteren Seufzen ließ er es dann doch bleiben.

„Wenn du mir etwas zu Essen machen könntest, während ich mich aus meiner Haut pelle, wäre das einfach wunderbar.“ Dass sie dabei einen ganzen Futtertrog als Mindestmaß verwenden sollte, verschwieg er ihr jedoch. Stattdessen sah er sie eindringlicher an, sah das Zittern in ihren Augen und die Sorge darin.

Ryon war sich sicher, dass es ihm den Umständen entsprechend gut ging, aber wenn es Paige beruhigte, würde er sich von Tennessey genauer unter die Lupe nehmen lassen.

Das versprach er ihr schließlich auch, ehe er sich auf den Weg machte, um wieder als Mensch durchzugehen.
 

Als das lauwarme Wasser seine Haut und die unzähligen Blessuren traf, prallte Ryon fast vor dem Wasserstrahl zurück. Er hatte es wissentlich nicht auf heiß gestellt, weil er mit einem Brennen gerechnet hätte, aber das hier war weitaus schlimmer und dabei war es noch nicht mal richtig warm!

Trotz dem er nun allmählich jeden einzelnen Kratzer und Riss in seiner Haut zu spüren begann, zwang er sich unter die Dusche, damit er wenigstens den Gestank los wurde.

Sofort färbte sich das Wasser zu seinen Füßen Rot, Schwarz, Grau und noch in etliche Brauntöne, als er schonungslos seinen Körper mit den Händen abschrubbte.

Seine Kiefernmuskeln waren so angespannt, dass er Stahlnüsse hätte knacken können, aber immerhin entkam ihm kein Schmerzenslaut, obwohl er am liebsten das ganze Haus zusammen geschrien hätte.

Doch wenn man sich erst einmal an den Ganzkörperschmerz gewöhnt hatte, war es beinahe schon leichter zu ertragen und der Gedanke daran, Paige sehen und berühren zu können, sobald er hier fertig war, spornte ihn noch um ein gutes Stück an.

Eine zusätzliche Folter war die Seife und das Haarshampoo, aber auch ein notwendiges Übel. Nur mit Wasser alleine wäre er den Geruch nicht los geworden.

Schließlich stieg er nackt, tropfend und am ganzen Leib zitternd aus der Dusche.

Während der Badezimmerteppich schon einmal die gröbste Überschwemmung verhinderte, betrachtete sich Ryon im Spiegel und sofort sank seine Stimmung auf den absoluten Nullpunkt.

Erstens, starrten ihn zwei tiefschwarze Augen an, obwohl er sich ganz sicher war, dass er seine Gefühle nicht unterdrückte. Vielleicht lag es aber auch an dem Schmerz, den er nicht wahrhaben wollte und Zweitens sah er wie ein ausrangierter Kratzbaum aus. Es gab nur wenige Stellen, an denen seine Haut unversehrt geblieben war und obwohl sich die meisten Kratzer nur auf leichte, rötliche Linien beschränkten, so war deren Anzahl doch gewaltig. Aber die würden vermutlich schon innerhalb der nächsten Stunden wieder verschwunden sein. Die Schwellungen in seinem Gesicht waren schon jetzt kaum noch vorhanden, da seine Blutergüsse wie ein paar Tage alt aussahen. In menschlichen Maßstäben gerechnet. Trotzdem blutete seine Unterlippe noch leicht und auch ein paar andere Spuren des Kampfes waren weitaus tiefer gegangen, als bisher angenommen.

Den Kratzer auf seiner Brust, würde er sich auf jeden Fall von Tennessey ansehen lassen.

Da blaue Flecke und Blutergüsse seine geringste Sorge waren, konzentrierte sich Ryon volle fünf Minuten lang darauf, seine Augenfarbe wieder zu normalisieren. Es bedurfte dafür viel Atemübung und Entspannung, obwohl er die im Augenblick absolut nicht hatte, bis er sich aus dunkelgoldenen Augen ansehen konnte. Besser als nichts.

Die Tortur mit dem flauschigen Frotteehandtuch ersparte er sich gleich, also zog er sich eine locker sitzende Hose und ein schwarzes T-Shirt an, damit man nicht gleich die Blutflecken sehen konnte, die sich an mehreren Stellen auf dem Stoff ausbreiteten.

Noch ein letzter prüfender Blick in den Spiegel, ehe er sich schnurstracks auf den Weg in die Küche machte, um Paige zu sehen.
 

Es fühlte sich gut an, irgendetwas tun zu können. Bei der ganzen Aktion war sich Paige nutzlos genug vorgekommen, auch wenn sie bereit gewesen wäre, die Familie mit ihrem Leben zu verteidigen. Aber dazu war es dank Ryons eigenem Opfer nicht gekommen. Jetzt wollte sie ihm bloß dabei helfen, dass es ihm schnell wieder besser ging. Denn dass er litt, mochte er zwar gut verbergen können, aber Paige hatte das Gefühl doch zu wissen, dass er mehr Schmerzen hatte, als er zugab.

„Albernes Heldentum...“, grummelte sie leise vor sich hin, während sie die Masse aus zehn gequirlten Eiern in eine riesige Pfanne rutschen ließ und sofort ein angenehmes Brutzeln die Küche erfüllte.

Sie hatte auch Speckstreifen, Pilze, Tomaten und Frühlingszwiebeln klein geschnitten, die sie nun auf das Omelett streute, bevor sie nach kurzen Warten noch ein paar Hände voll geraspelten Käse zufügte. Eiweiß, Fett, Fleisch... Das sollte hoffentlich ein wenig Ryons Hunger stillen und ihn aufpeppeln. Im Ofen wurden gerade Weißbrotscheiben kross gebacken, die Paige zuvor mit Knoblauchbutter bestrichen hatte. Nichts Großartiges, aber alles ging schnell und würde hoffentlich gut schmecken.

Sie war ohnehin erstaunt gewesen, als sie den Kühlschrank geöffnet und alles in rauen Mengen und frisch vorgefunden hatte. Wie oft Tyler wohl zum Einkaufen fahren musste, um die ganze Mannschaft so durchzufüttern, wie er es tat. Ob es nicht riskant war? Immerhin könnte man ihn beobachten...

Erst als sich Paige überlegte, dass man ihn wiedererkennen könnte, fiel der Groschen. Tyler zeigte es im Haus nicht, vor allem, seit er mit Ai liiert war... Paige hätte daher beinahe seine Natur vergessen. Der Wechselbalg würde nicht so dumm sein und sich immer in der gleichen Gestalt beim Markt zeigen, wenn er einkaufen ging. Es war wirklich faszinierend und in diesem Fall unheimlich praktisch, dass er ohne Probleme in so viele unterschiedliche Rollen schlüpfen konnte.

Mit zwei Pfannenwendern drehte Paige das riesige Omelett um, damit es auch auf der zweiten Seite goldbraun werden konnte und war recht zufrieden mit sich, da es in der Mitte nicht aufbrach. Immerhin hatte sie es bis zum Bersten gefüllt, damit es bloß nicht zu wenig für Ryon sein würde.

Als alles fertig war, drehte sie den Herd ab und stellte den Ofen auf die niedrigste Stufe, um alles auf einem großen Teller warm zu halten. Bestimmt war er schon mit dem Duschen fertig, aber wenn sie seine Wunden bedachte, würde es vielleicht eine Weile dauern, bis er sich angezogen hatte und hierher gekommen war.

Um sich weiterhin zu beschäftigen und ihre Gedanken nicht zu direkt zu dem Raum neben der Garage und dessen Inhalt schweifen zu lassen, füllte sie zwei Gläser mit Saft und Wasser und machte Kakao.

In einer anderen Situation hätte sich Paige wirklich daran freuen können, ein mitternächtliches Mahl dieser Größe für Ryon zu machen. Sie war bloß gespannt, ob es im Vergleich zu Tylers Kochkünsten nicht völlig abstinken würde. Immerhin wusste sie sehr genau, dass sie mit der Erfahrung des Rothaarigen keinesfalls mithalten konnte.
 

So eilig er es auch hatte, in die Küche zu gelangen, als er dabei am Wohnzimmer vorbei musste, blieb er stehen, als er einen roten Haarschopf darin aufleuchten sah und zwar wortwörtlich.

Mit eingezogenem Kopf näherte er sich der Tür und sah Tyler inmitten des Chaos stehen, mit dem Rücken zu ihm und den Händen in die Seite gestemmt. Da der Doc nirgendwo zu sehen war, nahm Ryon an, dieser war jetzt bei den Ladys, um dafür zu sorgen, dass sich alles wieder beruhigte.

„Ich sagte: Schokoflecken auf der Couch sind die Hölle, aber das hier ist…“

Tyler machte mit den Händen einen allumfassenden Bogen, der das Chaos perfekt miteinschloss. Er wusste also, dass Ryon hinter ihm in der Tür stand.

„Du weißt, dass das keine Absicht war, Tyler.“

Ein schwacher Versuch, sich zu rechtfertigen, aber er hatte trotzdem das Bedürfnis dazu.

Mit einem Ruck drehte sich sein Freund zu ihm herum und obwohl in dessen Augen immer noch so etwas wie kochende Wut und Sorge stand, lächelte er doch entzückt.

„Würde es nur um Flecken auf der Couch gehen, hätte ich mich mit Fleckensalz herumschlagen müssen, aber jetzt kann ich das ganze Wohnzimmer neu gestalten. Danke, Ryon. Ich brenne schon lange darauf, etwas Neues in dieses Haus mit einzubringen. Die Umstände hätte ich mir zwar wesentlich besser vorgestellt, aber ich will mal nicht so sein, solange du den Dreck vorerst in der Abstellkammer lässt und dir das nächste Mal einen besseren Zeitpunkt aussuchst, um Panik zu verbreiten.“

Seltsam. Obwohl Tyler offensichtlich sauer war, so war es doch nicht wegen des kaputten Wohnzimmers. Ryon wusste genau, was der wahre Grund für die schlechte Laune seines Freundes war – Ai und der Gedanke daran, dass ihr etwas hätte passieren können. Aber was das anging, so hatten sie beide so ziemlich die gleichen Gefühle.

„Tyler, wenn du was an dem Haus verändern willst, dann kannst du das jederzeit tun. Selbst wenn du die Bude abreißen würdest, wäre es mir egal. Also, ich lass dir vollkommen freie Hand.“

Mit diesen Worten verließ er seinen Freund, um endlich Paige zu sehen. Jeder Nerv in ihm war kurz vorm zerreißen, so groß war das Bedürfnis, sie zu sehen und dabei hatten sie sich erst vor einer halben Stunde getrennt. Aber nach der ganzen Aktion, der Sorge, der Angst und allem was noch so dazu gehörte, stand er kurz vorm Durchdrehen, wenn das so weiter ging.

Ryon traf Paige in der Küche an, während sie gerade Kakao machte. Zumindest roch es so, aber nicht nur danach. Ihm wollte schier das Wasser im Munde zusammen laufen, bei dem köstlichen Geruch nach Eiern, Speck, Pilzen und Knoblauchbrot.

Sein Magen rebellierte heftig vor Hunger, aber das konnte er nur zu leicht ausblenden. Stattdessen stürmte er regelrecht auf Paige zu, schlang seine Arme von hinten um sie und drückte sie an sich. Tief vergrub er sein Gesicht in ihrem Haar und seufzte so erleichtert auf, als wäre ihm soeben ein tonnenschweres Gewicht von den Schultern genommen worden.
 

Sogar Paige hatte ihn herein kommen hören. Diesmal gab sich Ryon gar keine Mühe, katzenhaftes Anpirschen zu verwenden, denn Paige hatte noch nicht einmal Zeit sich herum zu drehen, bevor sie seine Arme um sich spürte und wie er sie fest an sich zog.

Mit einem breiten Lächeln, das nicht einmal ansatzweise so sehr strahlen konnte, wie es das Gefühl in ihrem Inneren verlangt hätte, setzte Paige die Tasse Kakao auf der Arbeitsplatte ab und streichelte vorsichtig über Ryons Unterarm. Auch dort fielen ihr tiefe Kratzer auf, die an den Rändern empfindlich entzündet wirkten. Allerdings so, als würde er sie schon mindestens zwei Tage mit sich herum tragen.

„Wir haben uns zwar erst einmal gesehen, aber ich danke deinem Tiger hiermit offiziell dafür, dass er deine Wunden derart schnell heilen lässt.“

Sie nahm seine rechte Hand und hob sie an ihre Lippen, um einen dankbaren Kuss darauf zu hauchen. Natürlich waren Ryon und sein Tiger nicht getrennt von einander zu sehen. Aber das war für jemanden, der selbst kein Gestaltwandler war, schwer nachzuvollziehen. Denn irgendwie waren sie doch verschieden...

Bevor sie sich weiter den Kopf darüber zerbrechen konnte, ob ihr Dank wohl bei dem Tier in Ryon angekommen war, drückte sie sich leicht an seinen warmen Körper und hob die beiden Kakaotassen wieder an.

„Du hast bestimmt einen Bärenhunger. Ich hab mir Mühe gegeben, aber falls es nicht reicht, kann ich noch mehr machen.“

Mit einem Schmunzeln löste sie sich von ihm, drehte sich herum ... und hätte beinah beide Tassen auf den Boden fallen lassen.

Unentschlossen, ob ihr der Mund vor Schreck offen stehen oder ob sie angespannt die Zähne aufeinander beißen sollte, tat Paige nichts dergleichen, sondern starrte ihn einfach nur unverhohlen weiter an. Vorhin waren ihr die pechschwarzen Augen bereits aufgefallen. Aber in guter Hoffnung hatte sie das nur auf das viele Adrenalin und die Schmerzen geschoben...

Warmer Kakao lief ihr über die Finger, da sie offensichtlich tatsächlich zusammen geschreckt war, ohne es zu bemerken. Was ihr im nächsten Moment, in dem sie Ryons Blick wahrnahm, sehr leid tat.

„Entschuldige... Deine Augen haben mich erschreckt.“

Ihre platte Ehrlichkeit erstaunte Paige selbst. Aber es brachte ja auch nichts, sich aus der Sache herauswinden zu wollen. Ihre Reaktion hatte er garantiert mitbekommen.

„Setz' dich erstmal, ich bring dir das Essen. Im Sitzen redet sich's gerade leichter, denke ich.“
 

Der Dank kam beim Tiger an. Obwohl es völlig unnötig gewesen wäre, denn das Tier in ihm war Paige noch weitaus mehr schuldig, als sie ahnen konnte.

Als sie sich jedoch zu ihm herum drehte und erschrocken zusammen fuhr, setzte sein Herz einen Schlag lang aus, ehe bei ihm erneut das Adrenalin einsetzte und seine ohnehin schon dunkleren Augen noch mehr verdunkelte.

„Es tut mir leid.“, sagte er schließlich leise und nahm Paige die Tassen aus der Hand, ehe er sich setzte und sie auf den Tisch stellte. Danach rieb er sich mit beiden Händen über die Augen, als könne das an der Farbe etwas ändern. Er war noch immer zu aufgebracht und schnell reizbar, als könne jeden Moment ein ganzes Rudel voller Werwölfe die Tür eintreten. Dementsprechend sah auch sein Innerstes aus, was sich wiederum auf seine Augenfarbe auswirken dürfte.

Paige stellte das Essen vor ihm auf den Tisch und im nächsten Moment knurrte sein Magen so laut, als hätte er einen wütenden Bären verschluckt. Das dürfte dann wohl auch wieder etwas die Anspannung lockern.

„Danke, Paige.“

Er lächelte sie etwas verunglückt an, ehe er sich mit unglaublicher Leidenschaft über das Essen her machte. Zum Reden hatten sie auch später noch Zeit. Jetzt erst einmal brauchte sein Körper Kraftstoff und den hatte ihm Paige ausreichend zur Verfügung gestellt.

Er spürte förmlich wie jede seiner Zellen aufatmete, als das Essen seinen Magen erreichte und sich von dort aus nützlich machte. Die Kratzer fühlten sich mit einem Mal weniger schlimm an und die Erschöpfung ließ etwas nach.

Paige war wahrlich eine Göttin!

„Geht es Ai und Mia gut? Ich … hab sie weinen hören…“

Der Gedanke an diesen Laut ließ erneut eine Gänsehaut über seinen Körper laufen. Er hatte Mia schon öfters weinen hören, aber noch nie so voller Angst.

Seine Fingerknöchel knackten, als er seine Hand um das Messer ballte. Der Drang aufzuspringen und sofort zur Garage zu eilen, um es zu beenden, war übermächtig, aber ein Blick in Paiges Augen und er konzentrierte sich wieder auf das Essen. Später.
 

„Ehrlich gesagt, habe ich sie nicht gesehen, seit du unseren ungebetenen Gast durch die Terrassentür geworfen hast. Aber vorhin, als ich sie in die ... in den Raum im Keller gebracht habe, ging es ihnen gut.“

Paige hatte es nicht Kräuterküche nennen wollen. Denn bestimmt war es sehr viel mehr als das gewesen. So etwas wie ein Labor, ein Arbeitszimmer und eben eine Werkstatt und Küche für Salben, Tinkturen und andere magische Dinge, von denen Paige nur sehr wenig bis gar keine Ahnung hatte. Deshalb wollte sie sich auch diese Betitelung nicht anmaßen.

Stattdessen sprach sie weiter und sah Ryon zufrieden beim Essen zu. Der Hunger half bestimmt über einiges hinweg, aber wäre ihre Kochkunst wirklich schlecht gewesen, hätte Ryon sich hoffentlich nicht gezwungen gefühlt seinen Teller derart leer zu putzen.

Um ihm nicht das einzelne Knoblauchbrot zu klauen, das so verführerisch auf dem Tellerrand balancierte, nahm Paige einen kräftigen Schluck Kakao.

„Ich denke, dass wir es erfahren hätten, wenn es den beiden nicht gut ginge. Mia hat einfach einen ganz schönen Schrecken abbekommen. Sie kennt mich noch nicht so wahnsinnig gut und konnte einfach spüren, dass mir die Sache auch nicht geheuer war. Aber sie ist ein starkes Mädchen... Verblüffend, wenn du mich fragst.“

Mit prüfenden und gleichzeitig leicht besorgten Augen sah sie ihn an. Er würde die kleine Mia doch nicht etwa wieder ins Waisenhaus bringen, wenn das alles vorbei war? Es versetzte Paige einen hohlen Stich in der Herzgegend, wenn sie sich an seine Worte darüber erinnerte, dass er keine eigenen Kinder mehr wollte. Aber Mia war etwas Anderes. Sie gehörte schon jetzt so sehr zu ihnen, dass Paige lieber einen waschechten Streit vom Zaun brechen würde, als sie einfach so wieder wegzugeben. Und auch wenn sie sich wegen allem, was mit ihrer Beziehung zu Ryon zu tun hatte, noch nicht hundertprozentig sicher war... Mia würde sie nicht kampflos aufgeben.
 

„Ja, sie musste schon einiges in ihrem jungen Leben mitmachen.“, pflichtete Ryon ihr leise bei und nahm das letzte Knoblauchbrot, ehe er es in zwei Hälften brach und die andere davon, Paige reichte. Er war gerade mal so halbwegs satt, aber das reichte ihm auch schon im Augenblick, weshalb er sich seine Hälfte in den Mund steckte, langsam kaute und hinunter schluckte, um sich anschließend seinem Kakao zu widmen.

„Ich habe vorhin im Wohnzimmer Tyler getroffen. Mal von dem ganzen Stress abgesehen, scheint er sich sogar darüber zu freuen, dass ich die Einrichtung demoliert habe. Aber über Schokoflecken auf der Couch hätte er sich bis zur Weißglut ärgern können. Manchmal versteh ich den Kerl wirklich nicht.“

Nun lächelte er schon richtig. Was wahnsinnig gut tat. Es löste seine Anspannung und die von Paige hoffentlich auch.

Allerdings war alles dahin, als nun erneut der Doc zur Tür herein schneite und seine Arzttasche neben Ryons leeren Teller auf den Tisch stellte.

„Also, ich war gerade bei unseren beiden Ladys. Ihnen geht’s gut, Mia ist inzwischen wieder beim Eindösen und Ai macht auch einen sehr fitten Eindruck. Mutter und Kind geht es ausgezeichnet und was unseren Gast angeht, so hab ich ihm zur Sicherheit noch eine kleine Menge an Beruhigungsmittel gegeben. Damit dürfte er für den Rest der Nacht auf jeden Fall artig sein, bis wir wissen, was weiter mit ihm geschehen soll.“

Tennessey zog sich den Sessel neben Ryon hervor und ließ sich darauf nieder. Dabei machte er einen ebenso geschafften Eindruck, wie es wohl alle anderen von ihnen auch ging. Kein Wunder, er war auch nicht mehr der Jüngste.

„Dann werde ich dich einmal ansehen.“

Wie Paige vorhin, war auch das keine Bitte, sondern eine eindeutige Feststellung und noch bevor Ryon protestieren konnte, hatte der Arzt sein Kinn gepackt und drückte vorsichtig um die Stelle an seiner aufgeplatzten Unterlippe herum.

Ob er ihn darauf hinweisen sollte, dass er gerade gegessen hatte und ihm von diesem Herumdrücken nicht gerade wohl wurde?

Nein, lieber nicht. Darauf sollte sein Freund ruhig selbst kommen.

„Ich frag erst gar nicht, ob das weh tut. Aber keine Sorge, bei deinem Heilungsfortschritt, wird das nur eine kaum sichtbare Narbe hinterlassen.“

Der Doc klopfte ihm mit einem Lächeln auf die Schulter, was Ryon fast zum Fauchen gebracht hätte. Aber er konnte sich gerade noch rechtzeitig zusammen reißen. Es reichte schon, dass seine Gesichtsfarbe merklich blasser wurde.

„Danke.“, knurrte Ryon sarkastisch, ehe er sich auf einen Blick von Tennessey hin, mit dem ganzen Stuhl etwas vom Tisch zurück schob und sich das Shirt über den Kopf zog, das ihn offenbar nur ungern loslassen wollte.

Ein kurzer Blick seines Freundes, ehe dieser seufzend nach seiner Tasche griff, um darin herum zu wühlen, ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren.

Wie ein Märtyrer saß Ryon reglos da, die Hände an seinen Seiten zu Fäusten geballt und die Tischplatte anstarrend, während der Doc jeden seiner noch leicht offenen Kratzer zu desinfizieren begann und sich das Beste für den Schluss aufhob.

Dort wo der Werwolf ihn gepackt und mit den Klauen zu Boden gedrückt hatte, ging Tennessey mit dem Desinfektionsmittel noch sehr viel gründlicher vor, wusch die Wunde regelrecht damit aus, damit auch wirklich kein Dreck mehr dort zurück blieb.

Ryons Augen waren so schwarz, wie seine Stimmung. Er atmete flach, stoßweise und verspürte einen unerklärlichen Drang, bei jeder Berührung vom Sessel hoch zu fahren.

Bis der Arzt ihm endlich einen leichten Verband anlegte und seine Sachen wieder verräumte, war Ryon bereit, dem Werwolf jeden Knochen einzeln zu brechen, aber vorher würde er sich zum Dank übergeben.

Ihm war so unglaublich schlecht.

„Du bist dir sicher, dass der Köter auch noch da sein wird, wenn ich morgen nach ihm sehe?“, wollte er mit zitternder Stimme wissen, woraufhin Tennessey ernst nickte und eine Spritze aufzog.

Ryons Augen weiteten sich.

„Wenn die nicht für den Werwolf ist, dann hau bloß ab damit!“

Er stand so schnell vom Stuhl auf, dass ihm einen Moment lang schwindelig wurde. Danach ging er um den Tisch herum, um nach Paiges Hand zu greifen.

„Ich schlage vor, wie lassen den Doc und sein Folterinstrument alleine. Ich will bloß nur noch ins Bett.“

„Komm schon Ryon, du hast Schmerzen. Lass dir doch wenigstens die abnehmen.“, versuchte es Tennessey auf nette Art und Weise.

„Nein. Keine Spritzen.“ Darüber würde er nicht diskutieren.

Sein Freund sah Paige mit einem bittenden Ausdruck an.

„Ich appelliere an die Vernunft. Er muss schlafen, damit er schneller wieder fit ist und seine Wunden besser heilen.“

„Ich werde auch schlafen, ohne das Zeug!“, fuhr Ryon dazwischen, aber Tennessey ignorierte ihn einfach in dem Wissen, dass er den Wandler sehr viel besser kannte, als dieser ahnte.
 

Niemals hätte Paige gedacht, dass ein leichtes Lächeln ihr so viel wert sein könnte. Sie glaubte sogar zu sehen, dass Ryons Augen wieder etwas an Farbe gewannen, als er von den für ihn unverständlichen Eigenarten seines Freundes sprach. Aber dass Tyler besonders war – im Übrigen so wie jeder der Bewohner dieses Hauses – ließ sich auf keinen Fall abstreiten.

Gerade wollte Paige zu einer Antwort ansetzen, als Tennessey den Raum betrat und Ryons Stimmung offensichtlich derart ins bodenlose sank, dass Paige Angst bekam ihre Füße würden zu Eisklötzen gefrieren.

Allerdings erging es ihr nicht viel anders, als er sich den Pulli über den Kopf zog und sie so die ganze Pracht dessen sehen konnte, was der Werwolf angerichtet hatte. Solidarisch zuckte sie jedes Mal zusammen, wenn der Arzt sich einer neuen Wunde zuwandte, sie desinfizierte und Ryon nicht einmal eine Miene verzog. In Paige rumorte es allerdings so deutlich, dass sie glaubte seine Schmerzen bald mitfühlen zu können. Am liebsten hätte sie ihre Arme um ihn geschlungen. Aber das würde es vermutlich nicht leichter machen.

Als er schließlich mit dem Verband dasaß, den Tennessey ihm angelegt hatte und seine Hautfarbe kaum von der des Mulls zu unterscheiden war, konnte Paige kaum noch an sich halten. Sie wollte Ryon nur noch ins Bett stecken, damit er sich ausruhen konnte.

Keine Sekunde später stand sie leicht verwirrt von ihrem Sessel auf und sah zwischen dem Doktor, der Spritze in seiner Hand und Ryon hin und her. Ob es nun lächerlich war oder nicht, auf Ryons Reaktion hin hatte sich Paige automatisch ein wenig zwischen ihn und Tennessey gestellt. Ihr Finger drückten ein wenig Ryons Hand, während sie verständnislos etwas Unbestimmtes in den Augen des Arztes suchte.

„Ist das denn wirklich nötig, Tennessey? Ich meine, muss es eine Spritze sein? Hast du nicht was, das er einnehmen kann, wenn ein Beruhigungsmittel wirklich nötig ist?“

So aufgebracht gegenüber einem Freund hatte sie Ryon noch nie erlebt und wenn er tatsächlich noch eine andere Phobie als die vor Höhen hatte, musste man ihm das doch auch wirklich nicht antun. Auch wenn sie sicher war, dass der Doktor eigentlich wusste, was er tat.
 

Er wollte sich nicht wie ein Feigling hinter Paige verkriechen, aber dass sie sich leicht zwischen ihm und die Spritze schob, rechnete er ihr in diesem Moment sehr hoch an.

Tennessey seufzte.

„Wenn es irgendeine Pille geben würde, die bei ihm auch diese Wirkung erzielen würde, wäre ich sofort dabei. Aber er ist ein Gestaltwandler und die verbrennen solche Substanzen wahnsinnig schnell. Aspirin ist sozusagen wie ein Tropfen auf einer glühend heißen Kochplatte, während eine Spritze einem ganzen Topf voll Wasser gleich kommt. Hält zwar auch nicht lange, aber doch wenigstens lange genug.“

Sein Blick richtete sich auf Ryon.

„Du weißt, dass du mir keine andere Wahl lässt, wenn du dich noch länger gegen diese lächerlich kleine Nadel sträubst. Willst du es auf die sanfte oder die harte Tour?“

Klein? Er nannte dieses Hammerding klein?

„Auf die harte Tour, egal wie sehr ich sie hasse.“, antwortete er ohne lange zu überlegen. Was er seinem Freund damit antat, war kein Trost. Auch nicht in dem Wissen, dass dieser ihm als Ausgleich eine Spritze in den Arm jagen durfte. Keiner hier hatte etwas damit gewonnen, aber freiwillig unterzog sich Ryon dieser Prozedur niemals und das wusste Tennessey.

„Glaub mir, ich hasse es genauso sehr wie du.“

Ja, das wusste Ryon, weshalb er es ihm nicht übel nahm, als der Blick des Arztes plötzlich sehr viel intensiver wurde und Ryon das Gefühl hatte, als würde etwas in ihn hinein schlüpfen. Vertraut zwar und nicht beängstigend, doch er war nicht mehr alleine in seinem Körper.

Der Tiger gebärdet sich in seinem Kopf wie wild, wehrte sich gegen den fremden Eindringling, der dennoch jegliche Kontrolle übernahm, so dass Ryon nun vollkommen ruhig und reglos dastand, während sein Freund um den Tisch herum kam, seinen Arm nahm, die Stelle in der Armbeuge desinfizierte und ihm schließlich die Spritze in eine Vene setzte, ohne dass Ryon auch nur einmal blinzelte. Danach wischte er noch den einzelnen Blutstropfen weg, der sich in der Armbeuge gebildet hatte und verstaute die Spritze wieder in seiner Tasche, so dass der Stein des Anstoßes nicht mehr zu sehen war.

„Siehst du, schon ist es vorbei.“ Der Doc strich ihm sanft über die Schuler, ehe er ihn wieder vollkommen frei gab.

Ryon atmete tief ein, als wäre er gerade von Standby in den Normalmodus gewechselt, danach schüttelte er sich und bewegte seine Finger, als wollte er testen, ob er wieder Herr seines Körpers war. Oh ja, er hasste diese Fähigkeit wie die Pest, wenn Tennessey sie an ihm selbst anwandte. Zum Glück war das nur sehr sehr selten nötig.

„Ich geh jetzt schlafen.“, war alles was er noch zu seinem Freund sagte, da er spürte, wie die Wirkung des Beruhigungsmittels rasch einsetzte. Noch ein Nebeneffekt wenn man ein Wandler war. Wenn man ihm etwas in der richtigen Dosis verpasste, dann ging der Effekt davon auch sehr schnell auf ihn über. Auch wenn es sich ebenso schnell wieder verbrauchte.
 

„Was..?“

Paige begriff überhaupt nicht, was gerade passierte. Völlig überrascht starrte sie nur auf Ryons Armbeuge, während Tennessey nun seelenruhig die Spritze ansetzte und Ryon noch nicht einmal zurück zuckte.

Da die beiden Männer sich nicht an die Kehle gingen, sobald alles vorbei war, beschloss Paige, dass sie manche Dinge nicht begreifen musste, die zwischen den Freunden vor sich gingen.

Allerdings kam sie sich etwas blöd dabei vor, einfach herum zu stehen, wo sie doch gerade noch versucht hatte, sich zwischen die beiden zu stellen.

Das Gefühl änderte sich auch nicht, als Ryon sich direkt abwandte, um seinen Worten Folge zu leisten und ins Bett zu gehen. Dass ihm dabei schon halb die Augen zufielen, ließ Paige noch einen skeptischen, halb angesäuerten Blick auf den Arzt werfen, der ihn ihr aber offensichtlich nicht krumm nahm.

Bereits an der Tür holte sie Ryon ein und verschwand mit ihm auf dem Gang. Wenn er so müde war, wie er aussah, würde er ohnehin fast im Stehen einschlafen und sie konnte vielleicht dann noch das Chaos in der Küche beseitigen. Immerhin bediente Tyler sie schon jeden Tag von hinten bis vorne, ohne Aufhebens darum zu machen. Er sollte nicht auch noch dann hinter ihr her räumen müssen, wenn sie mal gekocht hatte.

An ihrem Schlafzimmer angekommen, hielt sie Ryon die Tür auf und knipste das Licht für ihn an. Da er sich sofort aus seiner Hose schälte, hatte sie gerade noch Zeit, die Decke für ihn zurück zu schlagen, bevor er sich einfach auf das Bett fallen ließ.

Paige setzte sich neben ihn, strich ihm eine Haarsträhne aus dem müden Gesicht und zog ihm die Decke über, bevor sie sich zu Ryon hinunter beugte und ihm einen Kuss auf den am wenigsten mitgenommenen Mundwinkel gab.

„Ich warte, bis du eingeschlafen bist. Dann geh ich noch ein bisschen die Küche aufklaren. Keine Sorge, du wirst garantiert nicht ohne mich aufwachen.“

Nichts lag ihr ferner, als die Nacht nicht an Ryons Seite zu verbringen. Auch wenn sie bei dem Gedanken gern zu Tennessey gegangen wäre, um sich ebenfalls eine dieser Spritzen verpassen zu lassen. Jeder, außer Ryon, würde diese Nacht wohl mit einem wachen und einem schlafenden Auge verbringen. Immerhin hatten sie einen Werwolf im Haus. Und so sehr man den schweren Ketten auch vertrauen konnte, ganz sicher würden sie sich alle trotzdem nicht fühlen.
 

Als Ryon in Paiges Schlafzimmer angekommen war, schwankte er bereits wie eine Boje während eines Taifuns, aber er schaffte es dennoch, aus seiner Hose zu kommen und fiel gerade im richtigen Augenblick ins bereits von Paige vorbereitete Bett, als seine Beine ihn nicht mehr länger tragen konnten.

Er war so unglaublich müde, dass es ihm fast so vor kam, als würde sich ein tonnenschweres Gewicht auf ihn legen und nicht etwa der Schlaf, aber dafür hatte er keinerlei Schmerzen mehr. Ganz im Gegenteil, irgendwie war alles so … vollkommen herrlich…

Tief in seinem Inneren wusste Ryon, dass der Doc ihm eine Dosis verabreicht hatte, die ihn fast schon high machte. Anders wäre es nicht gegangen, dennoch sträubte er sich gegen dieses Glücksgefühl. Es war nicht richtig, auch wenn es sich so anfühlte. Aber wenn er schon keine Schmerzen mehr fühlte, dann wollte er das auch zu seinem Vorteil nutzen, bis bei ihm die Lichter ausgingen.

Zu hören, dass Paige bei ihm sein würde, wenn er erwachte, war einfach wunderbar. Sie war so wunderbar, genauso wie das weiche Bett unter ihm einfach nur wunderbar war und wenn er noch einmal dieses beschissene Wort dachte, dann würde er am nächsten Morgen Tennesseys Hintern wunderbar in die Atmosphäre katapultieren.

Da er seinen Ärger ohnehin nicht mehr heraus lassen konnte, ergriff er schwach Paiges Gesicht und zog sie zu sich heran. Selbst dafür reichte kaum noch seine Kraft aus, aber es war ja nicht so, dass sie sich dagegen sträuben würde.

Ihr Gutenachtkuss hatte ihm lange noch nicht gereicht, weshalb er sie nun richtig küsste, bis ihm schwindlig wurde. Allerdings nicht vor Schmerz. Er spürte gar nichts, nur ihre Wärme auf seiner und der Duft, der ihn umhüllte und davon trug, bis er völlig unvermittelt die Augen niederschlug und im nächsten Augenblick auch schon weg war. Denn je eher er schlief, umso eher würde er Paige wieder sehen, wenn er wieder aufwachte. Oh ja, das war wirklich ein wunderbarer Gedanke…
 

Es war zu einem gewissen Teil erschreckend, wie schnell Ryon einfach wegkippte und seine tiefen, gleichmäßigen Atemzüge zeigten, dass er eingeschlafen war. Hoffentlich nützte dieses Zeug auch wirklich etwas, wenn es ihn schon so völlig von den Socken haute... Aber Tennessey hatte Ryon schon zu lange in Behandlung und wahrscheinlich bereits ähnliche Wunden an ihm gesehen, um sich bei der Dosierung grob zu täuschen. Allerdings hätte es Paige doch interessiert, wie der Arzt Ryon vorhin in der Küche dazu gebracht hatte, auf einmal vollkommen still zu halten, wo er keinen Moment zuvor noch hatte davon laufen wollen.

„Naja, auch nicht so wichtig, solange es dir Morgen wieder gut geht...“, sprach sie leise gegen Ryons Wange, an die sie sich nach seinem Kuss geschmiegt hatte und von der sie sich nur mit Widerwillen löste. Es war ja nicht so, als wäre diese ganze Aufregung spurlos an ihr vorbei gegangen. Der Schreck saß ihr so tief in den Knochen, wie wohl auch jedem Anderen im Haus.

Was es Paige tatsächlich auf gewisse Weise erleichterte, sich wieder aufzusetzen, dem schlafenden Ryon noch über die Wange zu streicheln, die Decke etwas ordentlicher über seinen Körper zu ziehen und dann das Zimmer zu verlassen.

Nicht ohne einen besorgten Blick in die Richtung, in der die Garage lag, ging sie in die Küche zurück, um dort ein wenig aufzuräumen. Der Abwasch war Dank der Spülmaschine schnell erledigt, doch Paige blieb an die Arbeitsplatte gelehnt noch einige Minuten in dem leeren Raum stehen.

Ihr war nicht bewusst gewesen, dass sie das Ganze so derart schockiert hatte. Erst jetzt, als ihr der Schreck langsam aus dem Körper wich, bemerkte sie, wie angespannt sie gewesen war. Nicht nur, dass Ryon verletzt worden war und unter Drogen im Bett lag... Der Werwolf hatte es durch die Barriere geschafft.

Zugegeben Paige wusste nicht viel über diese Sicherheitsmaßnahme, aber Ryon hatte so sicher gewirkt, dass niemand sie überwinden konnte... Das machte ihr wirklich große Sorgen. Sie würden sich früher oder später beide vom Haus entfernen müssen, um sich mit dem Hexenzirkel auseinander zu setzen. Bis jetzt war Paige immer davon ausgegangen, dass die anderen vier der kleinen, inzwischen zusammen geschweißten Gruppe hier geschützt sein würden. Wenn das nun doch nicht der Fall sein sollte, wusste sie wirklich für den ersten Moment weder ein noch aus. Zurück in die 'World Underneath' zu einem ihrer Freunde wollte sie die Familie nicht bringen. Aber sie irgendwo allein zu lassen, war ebenfalls viel zu gefährlich. Genauso wie es unmöglich war, sie mitzunehmen oder immer bei ihnen zu bleiben...

Frustriert seufzte Paige einmal tief, bevor sie sich von der Küchenzeile abstieß und den Raum verließ. Sorgsam löschte sie das Licht und hob kurz den Blick, als ihr auffiel, dass zum wohl ersten Mal, seit sie hier war die Tür zum Wohnzimmer geschlossen war. Durch den Türspalt konnte sie einen leichten Luftzug spüren.

Bei ihrem Zimmer angekommen, schlich sie sich leise hinein, knipste nur die Nachttischlampe an und bedachte Ryon, der sich in ihrer Abwesenheit nicht einmal bewegt zu haben schien, mit einem warmen, liebevollen Lächeln. Hätte sie es vermocht, sie hätte ihm liebend gern jeden Kratzer, jeden blauen Fleck und seine geschwollene Lippe gesund geküsst. Aber Ruhe würde die Aufgabe im Moment besser erledigen.

Also zog Paige sich aus, stellte sich unter die Dusche und sammelte dann Ryons Hose vom Boden auf, bevor sie sich in ihrem Schlafshirt zu ihm ins Bett legte.

Es war wirklich so, wie sie erwartet hatte. Selbst das Licht auszuschalten widerstrebte ihr ein wenig und sie dachte daran, wie sie am schnellsten zu Ai und Tyler kommen würde, um sie über eventuell drohende Gefahr zu informieren.

Mit schweren Gedanken, die sich in der Dunkelheit nur noch verselbstständigten und anwuchsen, warf sie sich eine Weile hin und her. Nicht einmal Ryons gleichmäßiges Atmen half ihr wirklich dabei einzuschlafen. Hinzu kam, dass sie ihn auch nicht zu fest umarmen wollte. Er heilte zwar ungemein schnell, aber Paige wollte das bestimmt nicht unterbrechen, indem sie ihm auf irgendwelche offenen Kratzer drückte.

Nach scheinbar endlosem Herumwälzen brannten Paiges Augen, als sie in die Schwärze der Nacht starrte. Sie musste Ruhe finden, wenn sie am Morgen noch zu irgendetwas zu gebrauchen sein wollte. Was sie wieder zu dem Werwolf brachte, mit dem sie sich am kommenden Tag auseinander setzen mussten. Mit einem Stöhnen rollte sich Paige zusammen, boxte sich ihr Kissen zurecht und zwang sich dazu, überhaupt nichts mehr zu denken.

Ryon holte tief Luft, was sie wieder aufschrecken ließ, und drehte sich langsam und umständlich auf die Seite. Paige spürte, wie er die Decke von sich schob, weil ihm wohl zu warm war. Gott, wie selbst so etwas ihr Herz höher schlagen lassen konnte, würde für Paige immer ein Rätsel bleiben. Eines, das sie in dieser Nacht nicht mehr lösen wollte. Stattdessen schmiegte sie sich nun doch eng an Ryons Rücken und legte ihre Hand sanft und leicht auf seine Hüfte, wo ihr keine Wunde aufgefallen war.

Nach weiteren, sich wie wild drehenden Gedanken, senkte sich der Schlaf endlich bleischwer über sie und Paige ließ sich mit einem erleichterten kleinen Seufzen in traumlose Schwärze fallen. Auch wenn ihr Körper immer noch angespannt lauschte, um nur kein Zeichen von Gefahr zu verpassen.

48. Kapitel

Zunächst einmal fiel Ryon in ein schwarzes Loch, wo es weder Gedanken, Gefühle, Schmerzen, noch ein Bewusstsein gab. Nur bleischwere Müdigkeit, die ihn dort für schier unendlich lange Zeit gefangen hielt.

Nach und nach entwickelte sich aus diesem Sammelsurium aus Nichts ein Unwohlsein. Ihm wurde heiß, sein ganzer Mund und Hals wurde trocken und was sich zunächst nur als Ziehen und Verspannung äußerte, wurde schließlich langsam zu Schmerz. Nicht sehr viel und auch nicht ausreichend, um ihn aufzuwecken, aber sein Unterbewusstsein realisierte alles davon ganz genau.

Irgendwie, Ryon hatte keine Ahnung, ob er das nur träumte oder sich im Delirium bewegte, fühlte es sich so an, als ob er sich ganz von der Decke befreien und sogar aufstehen würde.

Seine Schritte waren langsam, lautlos und trotzdem zielgenau, obwohl seine Augen kaum die Kraft hatten, offen zu bleiben.

Er schlenderte ins Badezimmer, drehte in der Dunkelheit den Wasserhahn am Waschbecken auf und schöpfte sich mehrere Handvoll dieser köstlich frischen Flüssigkeit in den Mund, bis sein wilder Durst endlich gestillt und ihm nicht mehr so unerträglich heiß war.

Sein Brustkorb begann durch die Bewegung zu jucken, weshalb er das Wasser wieder abstellte und dann im Halbschlaf an den Verbänden zerrte, die ihn am Kratzen hinderten.

Seine Geduld war ohnehin so gut wie nicht vorhanden, weshalb er sich die störenden Stoffstreifen herunter riss und zu Boden fallen ließ.

Durch die frische Luft hörte das Jucken fast vollkommen auf, weshalb er nur noch sanft mit den Fingerkuppen über die gut verheilenden Kratzer strich, um das nervige Gefühl ganz weg zu bekommen.

Die ganze Aktion hatte ihn seltsamer Weise ziemlich schnell ausgepowert, weshalb er erst einmal leise auf den Klodeckel sank, um sich auszuruhen und wieder dorthin zurück kehren zu können, von wo er hergekommen war.

Wo auch immer das gewesen war.

Ein paar Momente des vollkommenen Blackouts folgten, ehe er seine Umgebung wieder klarer sehen konnte. Alles schien plötzlich gewaltig gewachsen zu sein oder er war geschrumpft. Auf jeden Fall war der Fußboden näher als die Decke und somit schien sich auch die Perspektive verändert zu haben.

Seine Ohren zuckten träge in verschiedene Richtungen, um kaum deutbaren Geräuschen zu folgen, als würden sie ein Eigenleben besitzen, genauso wie es sein gestreifter Schwanz tat, der unkontrolliert leicht hin und her schwenkte.

Verwirrt schüttelte er den massigen Kopf und schnaubte.

Schlafen. Er wollte schlafen.

Fast wie ein Geschenk des Himmels war der Badezimmerteppich nicht weit. Nur zwei oder drei Schritte.

Mühsam schleppte er sich halb liegend, halb krabbelnd über die Badezimmerfliesen, ehe er sich einfach zur Seite und direkt auf den flauschigen Teppich fallen ließ.

Autsch. Schmerz. Ein leises Knurren und die Augen fielen ihm erneut zu.

Der Tiger schlief friedlich und lang ausgestreckt, ohne sich dabei stören zu lassen.

Er war total kaputt.
 

Alle Viere von sich gestreckt wachte Paige auf und blinzelte mit leicht geschwollenen Lidern. Dem Licht nach musste es früher Vormittag sein. Vielleicht so gegen acht? Es wunderte sie, dass sie nach all dem Herumwälzen überhaupt noch etwas Schlaf gefunden hatte.

Wahrscheinlich hatte Ryons Ruhe doch irgendwann auf sie abgefärbt... Dass er schon aufgestanden war und noch dazu, ohne dass sie es mitbekommen hatte, wunderte sie ein wenig. Für die Verhältnisse der fast schlaflosen Nacht und den schweren Gliedern drehte sich Paige schnell um und sah sich den leeren Raum an.

Ryons Hose hing noch dort, wo Paige sie über die Stuhllehne gehängt hatte. Da er seine Klamotten in einem anderen Zimmer hatte und nicht gerade jemand war, der es genoss, vor jedermann nackt herum zu laufen, konnte er vermutlich nicht weit sein.

Erst jetzt, mit ziemlich verspäteter Wirkung setzte so etwas wie Sorge ein, die aber fast unmittelbar in Angst umschlug. Paiges Füße berührten scheinbar ohne ihr Zutun den Boden und sie schoss so schnell in die Höhe, dass die Welt sich schnell und wackelig um sie drehte.

„Ryon?“

Das Kratzen in ihrem Hals war so stark, dass sie kurz husten musste, um noch einmal nach ihm zu fragen. Vielleicht waren ihm die Medikamente auch einfach nur auf den Magen geschlagen.

Mit klopfendem Herzen und sehr vorsichtig näherte sich Paige der Badezimmertür. Allein der Gedanke, dass es ihm schlecht gehen könnte, ließ Bilder aus Ägypten in ihr hochsteigen. Doch das Visuelle war nicht das, was ihre Hand zittern ließ, als sie den Türknauf ergriff und langsam durch den sich öffnenden Spalt lugte.

„Ryon, bist du...“

Das Flüstern brach ab und Paiges Augenbrauen tanzten verwundert in die Höhe, bei dem Anblick, der sich ihr bot. Es wäre schon ungewöhnlich gewesen, einen nackten Mann auf ihrem Badezimmerteppich vorzufinden... Aber das hier war schon außergewöhnlich.

Mit einem verhaltenen Schmunzeln ging Paige zu dem Tier hinüber, um sich dann neben ihm in die Hocke sinken zu lassen. Seine Schnurrhaare zuckten leicht und das Geräusch, das Paige hörte, war eindeutig ein leises Schnarchen.

„Da bin ich ja fast beleidigt, dass du das hier meiner Gesellschaft im Bett vorziehst...“, meinte sie leise.

Ob sie ihn wecken sollte? Die Frage war wahrscheinlich auch, ob sie ihn überhaupt wach bekommen würde. Die Dosis schien ja offensichtlich noch höher gewesen zu sein, als Paige vermutet hatte.

Nicht sicher, ob sie ihn nicht erschrecken würde und dann ungewollt ein blaues Auge kassierte, biss sie sich leicht nervös auf der Unterlippe herum, während sie die Hand ausstreckte, um den Tiger am Kopf zu berühren.
 

Er hörte Stimmen oder besser gesagt nur leise, aber dennoch unverständlich. Sein Körper fühlte sich so träge an, dass er sie einfach ignorierte und nicht weiter darauf einging.

Aber dieser Duft…

Seine Zunge leckte über seine Nase, um den Geruch besser schmecken zu können. Oh ja, das war sein Lieblingsduft!

Mit einem leisen Schnauben versuchte er zunächst erfolglos die Augen zu öffnen, doch als ihn etwas am Kopf berührte, das sich langsam zu einem Kraulen entwickelte, drückte er sich gegen die kleine Hand und schlug die Augen doch auf.

Einen Moment lang war Ryon verwirrt. Nicht nur darüber, dass er auf dem Badezimmerteppich lag, sondern eine ganz andere Sicht hatte, als jene, die er als Mensch gewöhnt war. Die Farben waren anders und auch die Art, wie er etwas visualisierte.

Doch als er zu Paige hoch blickte, die neben ihm auf dem Boden hockte, war das alles egal. Sein Herz begann zu klopfen und ein Gefühl von Wärme durchströmte ihn, die es schaffte, seine müden Glieder zur Bewegung anzutreiben.

Etwas langsam wuchtete er seinen fast 200 Kilo schweren Leib auf seine Beine, nur um sich dann direkt vor Paige hinzusetzen und seinen Kopf mit der Stirn an ihrem Brustkorb zu lehnen. Wieder ein leises Schnauben gefolgt von regelmäßigem Schnurren. Dieser Duft war einfach so wunderbar und sie in seiner Nähe zu wissen, war sogar noch sehr viel besser.

Noch immer so an sie gelehnt, verwandelte er sich zurück in seine menschliche Form, wobei der vertraute Schmerz ihm dankenderweise die nötige Klarheit verschaffte, die er an diesem Morgen wohl brauchen würde. Doch zunächst einmal, schloss er seine Arme um Paiges Körper, zog sie auf seinen Schoß und vergrub sein Gesicht an ihrem Hals.

„Ich hab zwar keine Ahnung, wie ich hier her gekommen bin, aber ich bin sehr froh, dass du dennoch da warst, als ich aufgewacht bin. Einen besseren Morgen kann man sich kaum vorstellen.“, hauchte er leise, ehe er ihren Hals küsste und mit seinen Händen über ihren Körper streichelte, um sie besser spüren zu können. Er hatte sie unglaublich vermisst und obwohl er die ganze Nacht durchgeschlafen hatte und wohl auch etwas durch den Wind gewesen war, so kehrte die Sorge, die Pflicht und die Last ihrer Situation sofort zu ihm zurück. Wie gerne hätte er das alles einfach von sich geschoben. Doch das ging leider nicht.

„Ich muss mit Tennessey reden.“, meinte er schließlich. Je eher sie den Werwolf aus der Garage hatten, umso besser.
 

Die Größe des Tigers war wirklich beachtlich. Er konnte sogar über Paige hinweg sehen, wenn sie so in der Hocke blieb. Aber anstatt an ihr vorbei zu sehen, legten sich seine goldenen Augen kurz auf ihr Gesicht. Sie waren lange nicht mehr so dunkel, wie noch in der vergangenen Nacht, aber Schatten schwammen immer noch darin, die Paige ihre Sorgen sicher nicht vergessen lassen würden.

Doch im nächsten Moment brachte er sie zumindest für einen Augenblick dazu, leise aufzulachen, als er ganz in Katzenmanier seinen großen Kopf an sie drückte. Wahrscheinlich konnte er seine eigene Kraft gar nicht richtig einschätzen, die Paige sanft dazu zwang, sich ein Stück nach hinten auf die Fersen sinken zu lassen.

Ihre Hände versanken in seinem dichten Fell und kraulten sich ihren Weg von seinen Schultern hinauf zu seinen kuscheligen Ohren, bevor ein silberner Schein nicht nur den Körper des Tigers, sondern auch Paiges Hände einhüllte.

Als er sie auf seinen Schoß zog und sein Gesicht an ihrem Hals vergrub, atmete Paige erleichtert auf. Auf den allerersten, wirklich flüchtigen Blick sah es so aus, als ginge es ihm gut. Keine schwerwiegenden Nachwirkungen der Drogen oder klaffende Wunden, über die sie sich sorgen musste...

Auf seine Worte hin schmiegte Paige ihre Wange an seine und antwortete ihm leise ganz nah an seinem Ohr.

„Glaub mir, irgendwann werd ich dir zeigen, was ein wirklich angenehmer Morgen ist.“

Es war kein anzügliches Versprechen, auch wenn sie den Unterton durchaus mitschwingen ließ. Aber in ihrer Vorstellung ging es mehr um Sorgenlosigkeit, Frühstück im Bett und ein Tag, der einen Gutes erwarten ließ.

Eindeutig nicht so wie der heutige.

Das zeigte ihr Ryon mit seinem nächsten Satz nur zu deutlich und sie konnte seine Anspannung sogar unter ihren Fingerspitzen spüren, die über seine Schultern und Arme streichelten.

„Ok. Aber würdest du mir den Gefallen tun und mich darüber einweihen, was du vorhast? Gestern so taten- und vor allem ahnungslos herum zu stehen und nicht wirklich von Nutzen zu sein, ging mir absolut gegen den Strich.“
 

Er freute sich schon darauf, dass Paige ihm einmal einen richtig guten Morgen zeigen würde, aber das musste leider noch warten. Immerhin hatte sie auch recht damit, dass er sie gestern sozusagen nur hin und her geschubst hatte, ohne irgendetwas zu erklären.

„Tut mir leid. Ich hätte dir gestern auch einige Erklärungen liefern sollen.“ Aber er war nun einmal leicht abgelenkt gewesen. Was heute nun wenigstens nicht mehr der Fall war.

„Zunächst mal, muss der stinkende Köter wieder zu sich kommen. Tennessey kann das sicherlich bewerkstelligen. Ich weiß zwar nicht, wie deine Meinung über unseren Gast ist, aber ich bin mir sicher, dass er kein Abgesandter der Hexenmeisterin ist. Er wollte zwar das Armulett haben, hatte aber andere Gründe, um sich an meine Fersen zu heften.“

Einen Moment schwieg Ryon, während er sich durch sein Haar strich und es dadurch noch mehr zerzauste. Deutlich spürte er überall starken Muskelkater, aber wenn das sein kleinstes Problem war, dann ging es ihm richtig gut.

„Ich habe seinen kleinen Bruder getötet.“, erklärte er weiter. „Das war mein letzter Auftrag als Kopfgeldjäger. Seine Familie scheint ja wirklich reizend zu sein und ich will gar nicht wissen, was dieser Drecksack schon alles auf dem Gewissen hat, wenn ich mir überlege, wie schon sein sehr viel kultivierterer Bruder unter der Menschheit gewütet hatte, ehe ich ihn aufhalten konnte. Der hier, muss sehr viel schlimmer sein.“

Ein schweres Seufzen entkam ihm, als er daran dachte, dass der Kerl heute die Nacht nicht mehr erleben würde. Jemanden wie diesen Werwolf konnten sie nicht mehr gehen lassen, erst recht nicht, da er ihr Versteck nun kannte. Stellte sich nur noch die Frage, wie es zu Ende gehen würde…

„Dir dürfte gestern nur unschwer entgangen sein, dass auch Tennessey so seine speziellen Talente hat, auch wenn er ansonsten recht unscheinbar wirkt.“

Einen leichten Themenwechsel hielt Ryon jetzt für angebracht und zugleich würde es hoffentlich etwas die Situation lockern. Immerhin hatte es einen Vorteil, dass der Werwolf noch lebte. So war noch einiges aus ihm heraus zu holen, mochte noch so viel Dreck in dessen Hirn herum schwirren.

„Wenn wir Glück haben, können wir durch Tennessey vielleicht herausfinden, wie es dieser Typ geschafft hat, durch die magischen Barrieren zu kommen. Den Spuren nach zu folgen, war es aber auch so nicht sehr leicht für ihn. Er muss eine ganze Weile die Grenzen abgelaufen sein…“

Wenn sie wussten, wie es der Werwolf geschafft hatte, herein zu kommen, dann könnten sie die Sicherheitsmaßnahmen auch erhöhen, um zukünftigen Angriffen zuvor zu kommen.

Langsam kam Ryon mit Paige auf die Beine. Er wollte sich etwas anziehen, aber vorher warf er noch einen flüchtigen Blick in den Spiegel. Es war zwar nicht sehr hell im Badezimmer, aber auch so war zu erkennen, dass er schon wesentlich besser aussah und trotz der Frage, wie er ins Bad und in den Körper des Tigers gekommen war, so schien Tennesseys Mittelchen doch ganz schöne Arbeit geleistet zu haben. Er könnte sich fast sofort wieder auf den Werwolf stürzen, was aber auch mehrere andere Gründe hatte, außer dass sein Körper sich wieder besser anfühlte.

„Stört es dich, wenn ich vorher noch bei Mia vorbei schaue?“, fragte Ryon leicht abwesend, während er sich in seine Hose schälte. Der Werwolf konnte sicher noch eine Stunde länger warten, er jedoch musste dringend das kleine Mädchen sehen und riechen. Jetzt da er wusste, dass es Paige gut ging, wollte er sich auch bei seinem Sonnenschein davon überzeugen.
 

Ein zweischneidiges Gefühl ließ sich einfach nicht vermeiden, als Ryon davon erzählte, dass er den Bruder des Werwolfs vor nicht allzu langer Zeit zur Strecke gebracht und getötet hatte. Natürlich hatte Paige auch eine Meinung dazu, wenn man jemandem einfach das Leben nahm, aber es war auch immer zu bedenken, was alles verloren sein könnte, wenn Ihresgleichen unter den Menschenkindern zu wüten begann. Das kam leider nicht allzu selten vor und brachte die gesamte übernatürliche Gemeinschaft in Gefahr. Es ging ohnehin das Gerücht, dass es vor ein paar Jahren beinahe so weit gewesen wäre. Irgendjemand hatte angeblich dafür sorgen wollen, dass ihr Schutz aus Mythen und Legenden zerbröckelte. Paige hatte noch nie wirklich an dieses Gerücht geglaubt, aber ganz abwegig war es auch nicht. Und die Folgen konnte sich jeder nur zu gut ausmalen...

Also war es besser, ein paar Irrläufer unter ihnen zu beseitigen. So zu sagen, zum Wohle der Gemeinschaft und der Menschen, die immer noch nichts von ihnen wussten.

„Ehrlich gesagt, will ich mir nicht anmaßen, über jemanden zu urteilen, aber ich muss dir Recht geben. So, wie er sich gestern aufgeführt hat, denke ich auch, dass er eine Gefahr nicht nur für uns ist...“

Als sich das Bewusstsein darüber in Paiges Hirn formte, was das bedeuten musste, wurde ihr leicht übel. Ein Kampf war eine Sache, aber … eine Hinrichtung?

Mit einem schweren Stein im Magen, der bei jedem Gedankengang größer zu werden schien, versuchte Paige weiter zu sprechen. Dabei konnte sie allerdings nicht mehr in Ryons goldene Augen sehen, sondern ihr Blick huschte unstet im Badezimmer hin und her.

„Nein, er kommt nicht vom Hexenzirkel. Das ist nicht deren Stil. Und sie sind normalerweise nicht allein unterwegs.“

Wie sie sich noch lebhaft Dank des Vorfalls in Ryons Abwesenheit erinnern konnte. Nein, nachdem Ryon die Duftzauberin erledigt hatte, würde der Hexenkreis nicht mehr so dumm sein und einen seiner Kettenhunde allein losschicken.

„Umso bedenklicher, dass er es hier herein geschafft hat.“

Nun sah sie Ryon doch wieder an, der sie immer noch umarmt hielt und ihr offensichtlich aufmerksam zugehört hatte.

„Würdest du mir nachher erklären, ob es für uns eine Möglichkeit gibt, die Barriere zu verstärken? Ich meine ... so ohne ... magische Kompetenz.“

Ohne Marlenes Hilfe und Fähigkeiten hätte den Nagel eher auf den Kopf getroffen. Paige konnte die Sorgen um Ai, Mia und auch Tyler und Tennessey einfach nicht zur Seite schieben. Es war einfach zu beunruhigend, zu ahnen, dass sie hier nicht mehr absolut sicher waren.

Keine Sekunde, nachdem er seinen letzten Satz beendet hatte, stand Paige auf und streckte ihm ihre Hand hin, um ihm aufzuhelfen.

„Natürlich habe ich nichts dagegen. Ich würde sogar gern mitkommen. Aber ich verstehe es auch, wenn du sie eine Weile für dich allein haben willst.“

Das Einzige, was ihr so etwas wie einen Anflug von Traurigkeit verschaffte war, dass Paige das Gefühl hatte, sie würden nicht alle drei zusammen gehören. Es gab Ryon und sie und es gab Ryon und Mia. Vielleicht würde sich das ändern, wenn Ryon sich endlich dazu durchgerungen hatte, sich selbst einzugestehen, dass Mia nie wieder ins Waisenhaus zurück kehren würde.
 

Er musste in Marlenes Handwerkbuch nach sehen, ob dort etwas über magische Barrieren stand, die nach einer Weile ihre Wirkung verloren, wenn sie nicht regelmäßig von irgendetwas eingespeist wurden. Aber natürlich machte er sich nicht allzu große Hoffnungen, damit auch etwas anfangen zu können. Er war immerhin keine Hexe, sondern ein halbes Tier. Das reichte einfach nicht, aber bestimmt würden sich seine eigenen Kenntnisse nützlich machen, wenn es um moderne Sicherheitsanlagen ging.

„Nein. Komm nur mit Paige.“

Ryon schnappte sich ihre Hand und zog sie erneut an sich heran, um ihr mit den Fingerknöcheln sanft über ihre Wange streicheln und ihr tief in die Augen sehen zu können.

„Als ich da draußen war und gekämpft habe, da waren meine Gedanken ständig bei unseren Freunden, aber allen voran bei dir und Mia.“, gestand er ihr plötzlich in einem sanften Tonfall.

„Ich hätte es mir nie verzeihen können, wenn auch nur irgendjemanden etwas passiert wäre, umso erleichterter bin ich, dich wieder bei mir zu haben. Das kannst du mir glauben. Ich würde es also vorziehen, wenn du dich für eine ganze Weile an mich ketten würdest.“

Seine Arme zogen sie an seine Brust, streichelten über ihren Rücken, während er Paige sanft und zärtlich küsste, mit einem Hauch dessen, was er stets dabei empfand, wenn er sie küsste und sein ganzer Körper dabei zu kribbeln anfing, selbst wenn sie bis zum Hals in Problemen steckten.

Mit einem unwilligen Schnurren ließ er sie schließlich los, damit sie ihren Pflichten so schnell wie möglich nachgehen konnten. Nun war es wohl endgültig vorbei mit der Ruhe.
 

Wenn er wüsste, wie lange sie sich in Wahrheit gern an ihn gekettet hätte, wäre es Ryon möglicherweise Angst und Bange geworden. Allein, dass er ihr sagte, dass es ihm gut tat, sie bei sich zu haben, ließ ihr Inneres warm erklingen. Ob er sie nun liebte oder einfach nur sehr gern hatte, schien allmählich egal zu werden. Solange es ihnen beiden gut bei dieser Sache ging, war es genau das, was Paige wollte.
 

Ryon wollte sie partout nicht mehr los lassen. Weshalb sich die geplante Stunde Verzögerung auch auf zwei ausdehnte. Zuerst einmal versuchte er das kleine Mädchen von vorne bis hinten abzuknuddeln, sie zum Lachen zu bringen und ihr auch noch die letzten Reste an Anspannung zu nehmen. Danach folgte das morgendliche Ritual von Waschen und Anziehen, ehe es für sie alle hieß, erst einmal ein bisschen etwas zur Stärkung zu frühstücken. Das Wohnzimmer hatte Tyler inzwischen ganz verriegelt, weshalb die Küche fast schon unerhört normal wirkte, auch wenn das Frühstück alles andere als üblich ablief.

Tennessey nahm nicht daran teil, sondern sah lieber in regelmäßigen Abständen nach ihrem Gast und an der inneren Unruhe des Arztes zu urteilen, wusste er, was bald kommen würde, weshalb er auch etwas Zeit für sich alleine brauchte, um sich darauf vorzubereiten.

Tyler kam irgendwie überhaupt nie zum Sitzen, sondern musste noch dieses und jenes in der Küche erledigen, obwohl alles wie immer vollkommen ordentlich war und auch ohne dieses ständigen Hin und Her, fiel jedem auf, dass merklich eine unangenehm drückende Spannung in der Luft hing.

Jemand hatte es hinter die Mauern ihrer Grenzen geschafft. Jemand hatte ihren Schutz durchbrochen. Absolute Sicherheit war also nicht mehr garantiert und das wirkte sich stark auf ihr aller Gemüt aus.

Dennoch versuchte Ryon sich seine eigene Anspannung nicht anmerken zu lassen. Er verwöhnte Mia ausnahmsweise damit, dass er sie auf spielerische Art fütterte, während er irgendwie noch die Zeit fand, selbst etwas zu essen, um auch weiterhin einen raschen Heilungsfortschritt zu garantieren. Aber in Gedanken war er bereits immer wieder bei dem Werwolf und der Bürden die dieser ihnen auferlegt hatte.

Er hätte den Dreckskerl gleich umbringen sollen, aber was ihm früher leicht von der Hand gegangen war, das begann sich mehr und mehr zu verkomplizieren. Die Duftmagierin war eine Sache gewesen, wenn man absolut nichts fühlte und die Kämpfe im Käfig… Nun, er hatte auch da nicht sehr viel Herzenswärme verspürt, doch jetzt war er wie verwandelt und das wirkte sich nachhaltig auf seine Handlungen aus.
 

Der Gestank hatte sich bereits in der ganzen Garage ausgebreitet und war nicht zu leugnen, als Ryon die Tür öffnete, um die Sache endlich hinter sich zu bringen.

Im Schlepptau hatte er Tennessey und Paige. Tyler war bei den anderen geblieben, um dafür zu sorgen, dass sie nicht allzu viel von dem mitbekamen, was hier unweigerlich stattfinden würde.

In seinem Innersten verabscheute Ryon diese Kreatur von ganzem Herzen und allein deren Existenz bedrohte alles, was er liebte und ihm etwas bedeutete, dennoch verspürte er bei dem Gedanken daran, den Werwolf zu töten, Widerwillen.

Andererseits befanden sie sich mitten in einem Krieg, der Opfer forderte und solange er verhindern konnte, dass keines davon aus ihren eigenen Reihen kam, würde er auch weiterhin seine Hände mit Blut besudeln. Das war sein persönlicher Zweck, der die Mittel heiligte, denn hier ging es nur noch ums nackte Überleben.

In dem Augenblick als Ryon nun auch die Tür zum Geräteraum aufschob, wünschte er sich, er hätte nichts gefrühstückt.

Der Gestank war hier so schlimm, dass ihm beinahe die Augen tränten, während er sich dazu zwang, diese verpestete Luft durch den Mund einzuatmen.

So konnte er den Geruch zwar nicht allzu deutlich wahrnehmen, dafür legte sich aber der süßmetallische Geschmack von Blut wie zähflüssiger Schleim auf seine Zunge und ließ seinen Magen rebellieren. Wäre es nicht so verdammt kontraproduktiv, würde Ryon sich am liebsten auf der Stelle übergeben.

Nein, so wurde das eindeutig nichts und das stellte er schon fest, bevor er den Schalter betätigte, der die Neonröhre an der Decke aufflackern und den Raum hell erleuchten ließ. Als er jedoch das Knäuel aus verfilztem Haar, nackter Haut, klaffendem Fleisch und meterweise Metall auf dem Boden erblickte, um den sich eine Blutlache gebildet hatte, stand sein Entschluss fest. Hier war es eindeutig zu eng und bedrückend, um den Werwolf aufzuwecken und bestimmt ging es nicht nur ihm so, dass der Gestank seine Gedanken wie Watte zu umhüllen schien und es schwer machte, sich zu konzentrieren.

„Ich weiß zwar nicht, wie du das aushalten konntest, Tennessey. Aber ich kann’s nicht.“, durchbrach Ryon schließlich mit abgeflachter Atmung das Schweigen, während er sich über den bewusstlosen Werwolf beugte, eine Hand nach den Ketten an dessen Nacken ausstreckte und seine Finger so fest darum schloss, dass seine Knöchel weiß hervortraten.

Alleine die Tatsache, diesen Kerl erneut anzufassen, war, als würde man den Tiger beständig gegen die Haarwuchsrichtung bürsten. Es war unangenehm, aber nicht schmerzhaft, unterschwellig und doch so beständig, dass es ihn langsam aber sicher immer weiter aufbrachte. Was man daran erkennen konnte, dass er mit einem Ruck den Werwolf halb vom Boden hoch riss und ihn einfach aus dem Raum zerrte.

Der Typ konnte Tennessey wirklich dafür dankbar sein, dass er nicht mitbekam, wie er mit seinen Wunden über den Betonboden schleifte, unsanft über die metallene Türschwelle holperte, die ins Freie führte und dann auch noch ein gutes Stück lang über nasses Gras geschleppt wurde, bis Ryon mit beiden Händen zu packte und ihn hochkant in das kalte Wasser des Sees beförderte.

Wenn ihn das nicht aufweckte, dann würde es doch hoffentlich wenigstens zur Luftverbesserung beitragen.

Obwohl Ryon ihn eigentlich gerne absaufen hätte lassen, watete er ebenfalls ins Wasser, packte die Kehle des Werwolfs und zog dessen Kopf wieder an die frische Luft.

Leben kam wieder in den bisher erschlafften Körper, als der Kerl prustend nach Luft schnappte und in seinen Augen einen Moment so etwas wie Verwirrung und auch den Anflug von Panik aufflackerte, ehe sich der Ausdruck darin wieder ihn irrsinnige Gelassenheit verwandelte, die absolut abnorm wirkte, in Anbetracht der offensichtlichen Tatsachen.

Einen Moment lang starrten sie sich an. Nicht wie Menschen, sondern wie ein Tiger der genau die Mordlust in dem Werwolf ihm gegenüber spüren konnte, obwohl dieser absolut im Nachteil war.

Die Luft um sie herum begann sich knisternd aufzuladen und Ryon standen sämtliche Härchen zu Berge.

Seine Muskeln spannten sich an. Bereit diesem Kerl jede Art von Gewalt angedeihen zu lassen, die ihn nicht töten, aber ernsthaft verletzen würde, sollte er es auch nur wagen, eine Drohung seiner Familie gegenüber anzudeuten.

Er wollte die Zähne zu einem Fauchen fletschen, doch da wandte der Werwolf gelassen seinen stechenden Blick von ihm ab und musterte zuerst den Doc mit unverhohlener Neugierde, ehe sich seine Augen auf Paige richteten.

Das Arschloch lächelte sie charmant an und entblößte dabei gelbgefleckte Zähne die – und darauf würde Ryon seinen Arsch verwetten – sicherlich auch schon das ein oder andere rohe Fleisch in dieser Form gekostet hatten.

„Nett, dass du wenigstens deine heiße Spielgefährtin zu unserer kleinen Poolparty mitgebracht hast und ich dachte schon, du wärst ein mieser Gastgeber.“

Ryon schloss zähneknirschend die Augen. Jeglicher Anflug von schlechtem Gewissen war plötzlich wie weggewischt und der Gedanke, diesem Kerl ordentlich die Fresse zu polieren, bekam plötzlich etwas sehr Verlockendes.

Grob stieß er den Werwolf ans Ufer zurück, mit dem Gesicht nach vorne, auf dem der Wichser auch ungeschützt landete, da er seine Hände natürlich immer noch nicht frei hatte.

Mit einem zufriedenen Gefühl im Brustkorb, registrierte der Tiger jeden noch so kleinen Kratzer auf der nackten Haut des Werwolfs. Der Kerl sah weitaus schlimmer aus, als Ryon es getan hatte, was auch nur wieder bewies, wie robust diese Typen waren. Immerhin hatte ihn keiner versorgt und bis auf eine Menge Schlaf, hatte der Werwolf auch nichts bekommen, woraus er seine Kraft beziehen konnte. Doch selbst das schien ausgereicht zu haben, um selbst seine körperlichen Kräfte als Bedrohung wahrzunehmen.

Er wand sich in seinen Ketten und drehte sich schließlich auf die Seite.

Dass der Kerl vollkommen nackt war, störte Ryon in diesem Augenblick fast genauso sehr, wie der Blick den dieser immer noch Paige schenkte, obwohl er gerade mit dem Gesicht im Dreck gelandet war.

Die Augen des Werwolfes fixierten sie nicht einfach nur, weil er sie unverhohlen gerne betrachtete, sondern Ryon sah genau das vertraute Funkeln darin.

Er war ein Jäger, der seine Beute im Blick hatte und man würde ihn schon mit allen Mitteln aufhalten müssen, um ihn daran zu hindern, sein Ziel zu erreichen.

Ryon stellte sich zwischen den Eindringling und seine Freunde. Brach damit den Blickkontakt ab, was aber nichts an seinem Zittern änderte, das unterdrückt durch seine Nervenbahnen zuckte.

Er hatte gewusst, dass er Paige lieber nicht mitnehmen sollte, doch hatte er es ihr auch nicht verweigern können. Sie hatte ein Recht darauf, hier dabei zu sein, auch wenn es ihm immer noch so derart gegen den Strich ging, dass er am liebsten geschrien hätte. Erst recht, nachdem er mit seiner Reaktion den Werwolf noch breiter zum Lächeln brachte. Der Kerl wusste, dass es ihn treffen würde, würde dieser Paige auch nur ein Haar krümmen.

„Immer noch genauso geizig, wie das letzte Mal, was?“

Er lachte, als wäre das alles nur ein Scherz. Als würde jeden Moment jemand hinter einem Busch hervor springen, Überraschung rufen und ihm die Ketten abnehmen, damit sie tatsächlich mit der ‚Poolparty‘ beginnen konnten.

Das machte Ryon nur noch wilder.

Zu wissen, dass dieser Typ wahnsinnig war und doch noch immer diesen berechnenden Blick besaß, der ihn umso gefährlicher machte, behagte ihm absolut nicht. Außerdem wollte er dieses Spielchen keine Sekunde lang mitspielen, weshalb er sich nicht weiter von dem Werwolf provozieren ließ, sondern sich stattdessen an seinen Freund wandte.

„Wärst du so freundlich, bevor ich ihm die Stimmbänder per Hand entferne?“, knurrte er leise, ohne den Wahnsinnigen dabei aus dem Blick zu lassen.

Armer Tennessey. Würde es nicht um ihre Sicherheit gehen, er hätte den Kerl einfach hier auf der Stelle umgebracht, ohne lange zu fackeln oder auf Antworten zu beharren und seinem Freund somit einen Höllentrip erspart. Aber sie mussten wissen, wie der Typ es angestellt hatte, sie hier zu finden und das ging einfach am schnellsten, in dem der Doc sein spezielles Talent einsetzte. Auch wenn die Konsequenzen davon äußerst unangenehm für seinen Freund waren.

Tennessey seufzte, zögerte aber keinen Moment. Er war bereit gewesen, schon bevor sie aufgebrochen waren und auch jetzt würde er nicht zurück weichen. Ryon wusste es und bewunderte immer wieder erneut den Mut dieses Mannes, der schon so viel mehr schreckliche Dinge gesehen haben musste, als er sich überhaupt vorstellen konnte.

Der Doc ging um ihn herum und vor dem Werwolf in die Hocke; behielt aber einen Sicherheitsabstand bei.

Ryon legte ihm eine Hand auf die Schulter, spürte die Anspannung in jedem Muskel seines Freundes, während er beobachtete, wie der Wahnsinnige reagierte.

Völlig unbeeindruckt schien er zunächst nicht so recht zu wissen, was er von der ganzen Szenerie halten sollte, immerhin machte Tennessey nicht den Eindruck, als würde er ihn gleich foltern wollen oder sonst irgendwie angreifen, doch dann machte er den Fehler und sah ihm in die Augen.

Mit einem Mal erlosch das anzügliche Lächeln auf dem Gesicht des Werwolfs und er wurde ganz starr, als blicke er in weite Ferne.

Tennesseys Körper begann unter Ryons Fingern leicht zu zittern und trotz der kühlen Luft hier draußen traten ihm Schweißperlen auf die zerfurchte Stirn. Sein Atem wurde flach, setzte teilweise ganz aus, ehe er in tiefe Züge überging, nur um sich dann wieder zu überschlagen.

Als sein Freund bedrohlich zu schwanken begann, hielt Ryon ihn mit beiden Armen fest, war die Stütze, die Tennessey mit seinem Körper verband, während sein Geist im Kopf des Werwolfs auf Wanderschaft ging und sich dort durch alle möglichen Grausamkeiten wühlen musste, um einen Zugang auf das Kurzzeitgedächtnis zu bekommen, das vor kurzem in ein Langzeitgedächtnis übergegangen war. Der Schlaf hatte das bewirkt.

Ryon wusste, es war für seinen Freund schon nicht leicht, einen Geist zu übernehmen, der sich ihm freiwillig überließ, aber es musste noch sehr viel schwieriger sein, mit einem Wahnsinnigen um die Oberhand zu kämpfen und diesen Kampf konnte man förmlich spüren, obwohl es von außen so aussah, als würden sich beide einfach nur in die Augen starren.

Tennesseys Körper erschlaffte förmlich, als die Spannung aus ihm wich und er zurückkehrte. Sein Atem ging rasend, war aber nichts zu dem des Werwolfs, der kaum noch richtig Luft bekam und nun alles andere als amüsiert schien. In seinen Augen stand nun echte Furcht und das Wissen, dass es etwas Gefährlicheres als Zähne und Klauen auf dieser Welt gab.

„Ich habe, was wir brauchen.“ Tennesseys Stimme war kaum zu verstehen. Er sackte in die Knie, hielt sich an Ryon fest, während er versuchte, seinen Atem zu beruhigen, um weitersprechen zu können. Aber er tat es nicht, als er schließlich wieder gefasster war.

Ryon glaubte zu wissen, was der Grund dafür war. Die Antwort lag in den Worten, die sein Freund nach dieser nonverbalen Konfrontation mit dem Werwolf gesagt hatte.

Das, was sie wissen wollte, ruhte nun ebenfalls in Tennesseys Gedächtnis und darauf würden sie auch später noch Zugriff haben. Jetzt aber war es an der Zeit, das hier zu beenden. Die Zeit des Werwolfs war abgelaufen. Er hatte keinen Wert mehr für sie und das bedeutete, er würde nun sterben müssen. Durch eine von ihren Händen.

„Ich will nicht, dass du das mit ansiehst, Paige.“

Ryon legte seine Hände fester um Tennesseys Schultern und drehte den Kopf zu Paige herum. Doch nicht er hatte gesprochen, sondern der Doc, auch wenn er damit genau das angedeutet hatte, was er selbst dachte. Sie sollte keinen Mord mit ansehen müssen.
 

Der Himmel war grau und schlierige Wolken hingen tief über dem Waldstück sowie dem Haus, das sie vor einer Weile verlassen hatten. Ein Windhauch rupfte ein paar Haarsträhnen hinter Paiges Ohr hervor und wehte sie quer über ihr ungewohnt blasses Gesicht.

Allein der Gestank hatte sie beinahe umgehauen. Diese ranzigen Ausdünstungen dessen, der für Paige trotz allen Ekels und der anzüglichen Blicke seinerseits noch als Lebewesen vor ihr im schlammigen Dreck lag.

Mit aller geistiger Gewalt, die sie aufbringen konnte, hinderte sie sich selbst daran, dem Reflex nachzugeben und ihre Arme in einer beschützenden Geste um ihren Oberkörper zu schlingen. Doch das würde dem Kerl, der sie betrachtete wie ein Stück Fleisch, nur Oberwasser gewinnen lassen.

Und selbst wenn es in ihrem Inneren zu brodeln begann, sie die Schuppen ganz dicht unter ihrer menschlichen Haut fühlen konnte, so würde sie ihm diese Genugtuung nicht geben.

Paige würde eher ihrem feurigen Gemüt entsprechen und eine Flammenspur von ihrer Position bis zu dem Werwolf verlaufen lassen, um ihm sein Gewebe von den Knochen zu brennen, als ihm das Gefühl zu geben, sie hätte Angst. Denn vor sich selbst konnte sie das leider nicht leugnen. Zwar hatte sie sich schon vielen solcher Blicke ausgesetzt gesehen, aber das hier war etwas Anderes. Sie hatte gesehen, wie der Werwolf einen kräftigen Mann wie Ryon zugerichtet hatte.

Allein diese Erinnerung ließ ihre Fingerspitzen in einer Weise prickeln, die Paige nun doch dazu brachte, ihre Hände hinter ihren Rücken zu ziehen, damit ihr Gegenüber ihr Feuer nicht bemerkte.

Warum Paige nicht wollte, dass der Werwolf ihre dämonische Seite sah, war ihr selbst nicht ganz klar. Vielleicht, weil er sie 'heiß' genannt hatte? Sie wehrte sich vehement dagegen, irgendetwas zu sein, das dieses Stück Dreck auch nur in einer anderen Bedeutung in den Mund genommen hatte.

Ryons beschützende Haltung und Tennesseys Einsatz seiner Fähigkeiten schienen zusätzlich alles nur noch schlimmer zu machen. Paige konnte die Luft zittern sehen und wusste nicht, ob es tatsächlich an der Spannung zwischen allen Anwesenden oder ihren Augen lag.

Ihre Haut kribbelte unangenehm und widernatürlich, bis der Doc die aufgebaute Atmosphäre mit seinen leisen Worten durchbrach, wie er es mit einer Bombe nicht besser gekonnt hätte.

Paige rührte sich nicht. Keinen Millimeter wollte ihr Körper sich wegbewegen, in dem schauerlichen Wissen, was passieren würde, wenn sie es doch tat. Nicht passieren könnte, sondern würde. Sie wusste es. Und auch wenn sie nicht dabei war, würde sie es immer wissen. Ob sie nun jetzt ihre Augen davor verschloss oder nicht.

Wäre Tennesseys zusammen gesunkener Körper nicht gewesen, sein Rücken, der gebeugt das Alter des Arztes verriet, so wie es Paige noch nie zuvor aufgefallen war... Sie hätte es nicht tun können. Nicht wegen des Werwolfs, der ein lebendes, atmendes Wesen war und genauso ein Recht auf Überleben hatte, wie sie alle, sondern wegen Ryon und seinem Freund. Paige konnte dem hier den Rücken zudrehen, doch die beiden nicht.

Paige sah Ryon in die Augen und tat ein paar Schritte nach vorn. Ruhig und wie in Watte gepackt, fühlte sie nicht den entsetzten Blick auf ihrem Gesicht, noch die Augen des Werwolfs, die ebenfalls wieder auf ihr ruhten. Sie wollte nur eines wissen und das trieb sie vorwärts.

Als sie ihn erreicht hatte, ließ sie sich auf ein Knie sinken. Nur für einen Augenblick. Sie musste einfach sicher sein. Sonst würde sie es nicht können...

Ihre Schuppen rissen schmerzhaft an ihrem menschlichen Wesen, jaulten regelrecht auf, als sie den Schmerz und die Verzweiflung dessen sah, was Tennessey im Kopf des Kerl entdeckt hatte. All jene, die der Werwolf auf dem Gewissen hatte, schienen aus den alten, nun müde wirkenden Augen des Arztes zu sprechen und ihr die Luft abzuschnüren.

Paige stand wortlos auf, drehte sich um und ging aufs Haus zu. Sie hatte gesehen, was sie wissen musste.
 

Mit heftig donnerndem Herzen blickte Ryon Paige nach, wartete bis sie verschwunden war, ehe die tonnenschwere Last von ihm abfiel.

Er hätte es getan, auch wenn sie dabei gewesen wäre, doch keiner von ihnen beiden – weder Tennessey noch Ryon – hätte gewollt, dass Paige ihnen dabei zu sah, wie einer von ihnen zum Mörder wurde.

Dass Ryon ein Mörder war und Tennessey auch keine blütenreine Weste besaß, war klar. Aber etwas zu wissen und etwas mit eigenen Augen zu sehen, war etwas vollkommen anderes. Er war unglaublich erleichtert, dass dieser Anblick ihr erspart blieb.

Mit ernstem Gesichtsausdruck wandte er sich wieder an den Werwolf. Dieser hatte nun vollkommen seine Sprache verloren und in seinen Augen konnte man sehr genau lesen, dass er sein Schicksal kannte. Er war einer jener Sorte, die nicht dagegen aufbegehrten, sondern es hinnahmen, wenn es tatsächlich einmal so weit kam.

Zum Glück. Es hätte alles nur noch schlimmer gemacht, wenn der Werwolf auch noch um sein Leben gebettelt hätte.

Ryon ließ Tennessey langsam los und trat einen Schritt nach vor, direkt auf den Todgeweihten zu. Dieser sah ihn verächtlich an, spuckte arrogant aus und meinte herablassend: „Ich wusste, dass du ein Feigling bist. Hast du meinen Bruder ebenfalls erst gefesselt und dann umgebracht, nachdem er sich nicht mehr wehren konnte? Hast du denn überhaupt keine Ehre?“

Ryon schnaubte, während sich seine Krallen krümmten.

„Genauso wenig wie du, wenn du mich fragst.“

„Das reicht.“

Überrasch drehte Ryon sich zu Tennessey herum, der wieder auf den Beinen war, wenn auch sehr wackelig.

„Du rührst ihn nicht an, verstanden?“ Er warf dem Werwolf einen finsteren Blick zu.

„Nach alldem was ich gesehen habe … kenne ich nur noch Mitleid mit den Opfern dieser Kreatur. Er hingegen, darf am eigenen Leib erfahren, was es heißt, vollkommen herzlos zu sein.“

Vermutlich verstand Ryon ebenso wenig wie der Werwolf selbst, aber zumindest eines war klar und mehr musste er auch nicht wissen. Tennessey wollte die Sache zu Ende bringen.

Was an sich schon außergewöhnlich war. Der Mann war Arzt, schenkte Leben so gut er konnte. Es zu nehmen schien dahingehend einfach unfassbar zu sein und dennoch, vielleicht brauchte sein Freund diesen Abschluss.

Im Laufe der Jahre musste er viele Methoden entwickelt haben, um mit dem Gesehenen umgehen zu können. Wie sonst hätte er das alles mit heilem Verstand überstehen können?

Ryon trat schließlich zurück und überließ Tennessey die Führung. Was auch immer sein Freund vorhatte. Er würde ihn nicht aufhalten.

„Du hast ein starkes Bewusstsein.“, meinte der Doc zu dem Werwolf, ohne sich auch nur von der Stelle zu rühren.

„Aber weißt du, was noch stärker ist?“

Er warte gar nicht erst auf eine Antwort ab, sondern sprach sofort weiter.

„Dein Unterbewusstsein und somit ist es zugleich deine größte Schwäche. Denn das kannst du nicht kontrollieren. Ich hingegen schon.“

Tennessey streckte seinen Arm aus, schien nach irgendetwas zu greifen, ohne jedoch den Werwolf anzufassen.

„Das Unterbewusstsein ist schon etwas sehr Faszinierendes. Um vielfaches Leistungsfähiger als das Bewusstsein, könnten wir ohne es nicht leben. Denn keiner denkt darüber nach, zu Blinzeln, zu Verdauen, zu Atmen oder … sein Herz schlagen zu lassen.“

Der Blick seines Freundes wurde unglaublich kalt und doch lag so viel Leid darin, dass es Ryon die Kehle zuschnürte. Anhand der Erzählung dämmerte es ihm langsam, worauf der Arzt hinaus wollte. Als einen Moment später schweigend erneut ein Kampf stattfand, fühlte er sich in seiner Theorie bestätigt.

Der Werwolf riss seine Augen in Panik auf, wehrte sich gegen die Ketten, schnappte wild nach Luft und krümmte sich, doch egal was er tat, er konnte dem nicht entkommen, das seine Hand nach ihm ausgestreckt hatte.

Ein paar Sekunden später, erlosch das Bewusstsein in den Augen der Kreatur und weitere Herzschläge später war er tot.

Tennessey hatte seinem Herzen befohlen, einfach mit der Arbeit aufzuhören. Dagegen, kam selbst der stärkste Geist nicht an.

Ein Würgen riss ihn vom Anblick des Toten los und ließ Ryon nach Tennessey greifen, der fast kopfüber nach vorne gekippt wäre.

Sein Freund zitterte am ganzen Körper, sagte jedoch nichts, sondern versuchte stattdessen sofort wieder aufzustehen. Weg von der Kreatur. Einfach nur weg.

Ryon griff ihm unter die Arme, zerrte ihn aus der kauernden Position hoch und brachte ihn mehr tragend als stützend zurück zum Haus und in sein Zimmer. Dort legte er seinen Freund vorsichtig ins Bett, zog ihm die Schuhe aus und zog die Vorhänge zu, so dass nur noch Dämmerlicht im Zimmer herrschte.

„Danke.“, flüsterte Tennessey mit unglaublich müder Stimme, während er sich seine Hände gegen die Stirn presste. Er musste wahnsinnige Kopfschmerzen haben.

„Warte, ich hole dir was dagegen.“

Tennessey wehrte ab und schloss die Augen.

„Nein… Zuerst schlafen…“

Im nächsten Augenblick war sein Freund auch schon weg.

Besorgt darüber, dass der Arzt das Bewusstsein verloren haben könnte, drehte er ihn auf die Seite, damit dieser nicht ersticken konnte, falls es tatsächlich so war. Sachte zog er ihm noch die Decke bis zu den Schultern, ehe er ihn ausruhen ließ. Das musste heute anstrengender für Tennessey gewesen sein, als es den Anschein gehabt hatte. Normalerweise kippte er nicht so leicht um.

Leise zog Ryon die Tür hinter sich zu und machte sich wieder auf den Weg nach draußen. Er würde so schnell wie möglich wieder kommen, aber vorher wollte er die Leiche aus den Augen haben. Er hatte auch schon so eine Idee, wohin er sie verfrachten sollte.
 

Zwanzig Minuten später erschien er in der Küche, um sich die schmutzigen Hände zu waschen und Tennessey einen Krug Wasser und Schmerztabletten zu bringen. Er wollte bei ihm sein, wenn er wieder erwachte. Das war das Mindeste, das er für ihn tun konnte.

Gott, war das ein beschissener Start in den Tag gewesen und allem Anschein nach, würde sich der restliche Tag auch nicht besser entwickeln.
 

Paige hatte sich im Flur herum gedrückt. Unruhig war sie an geschlossenen Zimmertüren vorbei gelaufen, hatte zweimal in der Küche Halt gemacht, bloß um den Raum dann doch wieder zu verlassen.

Sie wusste nicht, wohin mit sich selbst und ihren Gedanken. Ein Teil von ihr wollte verhindern, was dort draußen vor sich ging. Genauso, wie sie Ryon damals daran gehindert hatte, den schleimigen Franzosen umzubringen...

War das hier denn wirklich etwas Anderes?

Ihr unsteter Weg führte sie am Wohnzimmer vorbei. Ein Blick auf das Holz der Tür und der Anblick des Chaos, das sich dahinter verbarg, bohrte sich in ihre Gedanken. Er hatte Ryon umbringen wollen. Aus Rache, was sich vielleicht noch verstehen ließe. Aber Paige wusste, dass er zum Haus gewollt hatte.

Ihre Finger krümmten sich und hinterließen verkohlte Spuren im Holz, als sie daran dachte, was der Kerl Mia und den Anderen hätte antun können. Was er vielen Menschen und Nicht-Menschen schon angetan haben musste.

Sie musste daran denken, dass es vielleicht nicht Rechtens, aber hoffentlich richtig war, diesen Werwolf zu töten.

Dennoch lief ihr ein eisiger Schauer den Rücken hinunter, als sie die Hintertür hörte und wie Ryon mit Tennessey herein kam. Aus ihrer Position im Türrahmen eines anderen Zimmers konnte sie trotz der Entfernung erkennen, wie schlecht es dem Arzt ging. Er schien kaum noch aus eigener Kraft gehen zu können. Eine Tatsache, die Paige den Werwolf nur noch mehr verwünschen ließ. Selbst jetzt konnte er Anderen noch Schmerzen bereiten.

Nachdem Ryon wieder gegangen war, um wohl den Müll aufzuräumen, stahl sich Paige zum Zimmer des Arztes und schob die Tür leise ein wenig auf. Im Raum herrschte nur sanftes Licht, da die graue Helligkeit durch die Vorhänge fast gänzlich ausgesperrt worden war.

Mit besorgtem Blick hielt Paige die Luft an, um kontrollieren zu können, ob Tennessey regelmäßig und ruhig atmete. Es war leichtsinnig zu glauben, dass ihn das Erlebte nicht in seine Träume verfolgen würde.

Auf leisen Sohlen trat sie in das Zimmer, nicht genau wissend, was sie eigentlich vorhatte. Aber der Blick in den Augen des Docs ging ihr einfach nicht aus dem Sinn. Er war so voller Horror gewesen. Egal, ob es sich um einen erwachsenen Mann handelte, sie wollte ihn mit diesen Qualen nicht allein lassen.

„Wärst du ein Kind, würde ich dir etwas beruhigendes vorsingen...“, sagte sie sanft, als sie sich vorsichtige auf der Bettkante niederließ.

„Aber ich werde auf jeden Fall hier sein. Keine Sorge, Doc. Du musst damit nicht ganz allein fertig werden.“

Irgendwie hatte Paige das Gefühl, dass es nicht Ryon gewesen war, der es beendet hatte. Vielleicht irrte sie sich auch, aber es war auch Tennessey gewesen, der sie ins Haus geschickt hatte.

Ganz automatisch legte sich eine ihrer Hände warm auf die Schulter des Arztes, während sie seinem Atem lauschte, der immer noch gehetzt klang.
 

Mit einem Glas, einen Krug voll Wasser und den Schmerztabletten schlich Ryon leise durchs Haus zu Tennesseys Zimmer. Es war so absolut still in den Fluren und den Zimmern, dass es fast wie ausgestorben wirkte und ihn trotz seiner Hitze frösteln ließ.

Der Tag war so grau, wie es sich anfühlte und mit ebensolcher Bedrücktheit belastet.

Ryon fühlte sich um Jahre gealtert, auch wenn er bestimmt nicht so aussah. Aber das war heute wieder einer dieser Tage, die einem jedes Fünkchen Freude heraussogen und nichts mehr zurück ließen, die Hoffnung wecken konnten.

Er war unglaublich deprimiert, als er schließlich leise die Tür aufschob und schon dabei Paiges Geruch auffing, der zunahm, als er das Zimmer betrat.

Ryon sah sie auf dem Bett sitzen, sagte jedoch nichts, sondern schob mit seinem Fuß die Tür hinter sich zu und stellte erst einmal die Sachen auf den Nachttisch neben dem Bett, ehe er Tennessey musternd betrachtete und seinem alten Freund eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich.

Man sah, dass es kein guter Schlaf war, aber offenbar war es für den Doc sehr wichtig, erste einmal alles auf diese Art zu verarbeiten, ehe er darüber sprechen konnte und dann würde es auch nur die Dinge betreffen, die wichtig für sie waren. Der Rest würde einfach von seinem Verstand verschluckt werden. Ungesehen und doch so stark vorhanden, dass sein Freund es nie mehr vergessen würde.

Wie gerne hätte er das alles Tennessey erspart. Vielleicht hätte er den Werwolf tatsächlich mit Gewalt zum Reden bringen sollen, aber keiner von ihnen hätte sagen können, wie zuverlässig die Aussagen gewesen wären.

Mit einem Gefühl, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen werden, glitt Ryon vor Paige auf die Knie, umschlang mit seinen Armen ihre Beine und legte seinen Kopf in ihren Schoß, so dass er Tennessey immer noch sehen konnte, wenn er die Augen offenhielt. Doch im Augenblick war selbst das viel zu schwer für ihn.

Manchmal hasste er es, seine Gefühle wieder zu haben. Sie waren eine genauso große Last, wie sie ihm Freude bringen konnten. Ein gerechter Ausgleich für seinen Lebenswandel, nicht wahr?
 

Paige hätte es nicht gewundert, wenn sie unter der Last, die beide Männer im Zimmer auftürmten, angefangen hätte zu zittern. Jedem, der in diesem Moment den Raum betreten hätte, wäre die Anspannung nicht entgangen.

Doch das machte das Ganze auf gewisse Weise sogar erträglicher. Sie waren keine eiskalten Mörder. Sonst hätte sie der Tod des meuchelnden Raubtiers nicht derartig mitgenommen.

Während Paige ihren freien Arm über Ryons Schultern legte und mit ihrem Daumen leicht über seine Schulter streichelte, lehnte sie sich etwas nach vorn. Eigentlich hatte sie ihm sagen wollen, dass er sich ruhig auch ein wenig Schlaf gönnen konnte. So wie es aussah, wollte er nicht allein in ihr Zimmer zurück gehen. Verständlich. Paige hätte sich auch nicht allein hinlegen wollen. Aber in seiner Raubtierform war der Boden in Tennesseys Zimmer genauso angenehm wie überall im Haus.

Allerdings kam die Idee wohl zu spät, denn Ryon hatte die Augen bereits geschlossen und atmete ruhig, aber schwer.

Paige seufzte leise und wünschte nicht zum ersten Mal an diesem Morgen, dass sie den Männer zumindest ein wenig dieser Last hätte abnehmen können.
 

Sie war eine ganze Weile dort gesessen. Auf die Uhr hatte Paige nicht gesehen – interessanter Weise schien Tennessey keinen Wecker zu besitzen – aber ihre Beine, die unter Ryons Umarmung eingeschlafen waren, zeigten an, dass es nicht nur eine viertel Stunde her sein konnte, dass er herein gekommen war.

Zuerst dachte Paige daher, sie wäre auch schon im Halbschlaf, als Tennessey ein leises Stöhnen von sich gab und anfing sich unter seiner Decke ein wenig zu winden.

49. Kapitel

Ryon war tatsächlich unter der drückenden Last auf seinem Herzen eingedöst, oder hatte einfach einige Zeitlang vollkommen abgeschalten, um sich nicht mit seinen Gedanken auseinandersetzen zu müssen. Das änderte sich jedoch schlagartig, als Geräusche an seine Ohren drangen und er hoch zuckte.

Einen Moment sah er sich irritiert im Raum um, beruhigt dadurch, dass Paige bei ihm war, bis er wieder ganz zurück in die Realität fand. Sofort war er auf seinen Beinen und bei Tennessey, der keine Sekunde später gequält die Augen aufschlug und sie rasch wieder zusammen kniff.

Selbst das im Zimmer vorherrschende Dämmerlicht schien ihm in den Augen weh zu tun. Es wurde Zeit, dass dem ein Ende bereitet wurde.

Ryon füllte das Glas mit dem Wasser, drückte eine der Tabletten auf seine Hand, ehe er sich neben seinen Freund auf das Bett setzte und ihm dabei half, sich etwas aufzurichten.

Seltsamerweise war Tennessey sofort hell wach gewesen und machte den Eindruck, als wüsste er auf Anhieb, wo er war, was vorgefallen war und wieso er sich so beschissen fühlte. Aber wenn man bedachte, mit was sich sein schlafender Geist vermutlich befasst hatte, würde einen das auch nicht wundern.

„Hier. Das wird dir helfen.“, flüsterte Ryon leise, während er ihm die Tablette in die Hand drückte und das Wasser bereit hielt, da er sich vorstellen konnte, wie sich seine Stimme für den Doc im Normalzustand angehört hätte.

Laut Tennesseys früheren Berichten, war es wie ein entsetzlicher Kater nach einem kräftigen Saufgelage, wenn er mit einem anderen Geist gekämpft hatte. Nur ohne das Glücksgefühl. So sah es auch aus.

Mit einem gemurmelten Dank nahm sein Freund die Schmerztablette, steckte sie sich in den Mund und zusammen mit Ryons Hilfe, schaffte er es, das ganze Glas leer zu trinken, ehe er sich mit geschlossenen Augen einen Moment lang zurück sinken ließ.

Während Ryon das Glas erneut füllte, war deutlich spürbar, wie sich Tennessey etwas zu entspannen begann. Seine eigenen Mittel wirkten offensichtlich auch bei Menschen nur allzu gut.

„Sein Name war Dorian Ravenwood. Er war alleine und keiner, der jemals mit ihm zu tun hatte, weiß, dass wir hier sind.“

Wie Ryon befürchtet hatte. Tennessey leierte einfach die Fakten herunter, die für sie von äußerster Wichtigkeit waren. Der Rest wurde einfach unter den Teppich gekehrt. Aber dagegen konnte er nichts tun. Es war die Entscheidung seines Freundes.

„In der World Underneath sind überall Phantombilder von euch aufgehängt, mit einem saftigen Kopfgeld darunter. Dadurch ist er auch auf dich aufmerksam geworden.“

Tennessey sah Ryon einen Moment lang an, ehe er wieder die Augen schloss, um sich trotz der immer noch sichtbaren Kopfschmerzen zu konzentrieren.

„Eine Nummer ist auch angegeben, an der man Informationen abgeben kann. Ich weiß nicht, wie viel die euch weiter helfen wird, aber ich schreib sie euch später auf.“

Er überlegte einen Moment, als müsse er erst die ganzen Eindrücke und Bilder zu etwas zusammen fügen, was Sinn ergab und das schien nicht gerade leicht zu sein. Tennesseys Körper begann schon wieder zu zittern, wenn auch nur leicht.

„Er hat dort angerufen, gab Gründe an, warum er dich tot sehen will und dass ihm das Amulett eigentlich vollkommen egal sei. Daraufhin hat man ihn irgendwann mit einem Hinweis zurück gerufen.“

Erneut schlug Tennessey die Augen auf und sah Paige mit einem Blick an, der Ryon mit einem Schlag wachsam machte.

„Sie wussten noch dein Autokennzeichen und wie dein Wagen aussah.“

Der Schauder, der durch Ryons Körper ging, behagte ihm gar nicht und zugleich konnte er sich nicht dazu durchringen, Paige direkt anzusehen. Irgendwie erahnte er schon die nächsten Worte, ohne sie wirklich zu wissen und weigerte sich deswegen erst recht, hier irgendjemandem die Schuld zuzuschieben. Keiner konnte etwas für ihre Enttarnung und dabei würde es für ihn auch bleiben.

„Anfangs war er noch ziellos. Wusste nicht, wo er zu suchen anfangen sollte, aber irgendwann sah er den Wagen vor dem Waisenhaus parken, in deren Nähe er herum gelungert hatte, da er wusste, dass du mit den Kindern fast jeden Samstag in den Park gegangen bist. Auch das haben sie ihm zugesteckt.“

Jetzt wurde es Ryon eiskalt. Den Werwolf so nahe bei den Kindern zu wissen, schürte in ihm pures Entsetzen, bis ihm wieder einfiel, dass die Sache hiermit erledigt war und da bisher nichts zu ihm durchgedrungen war, ob etwas im Waisenhaus geschehen sei, musste er die Kinder in Ruhe gelassen haben. Jetzt konnte er ihnen wenigstens nichts mehr tun.

„Er hat deinen Wagen bis zu einem seltsam verlassenen Ort verfolgt. Keine Ahnung. Leer stehende Bürogebäude?“

Tennessey zuckte schwach mit den Schultern. Er konnte nur entnehmen, was er in den Erinnerungen gesehen hatte und es war auch nicht weiter wichtig. Schlimm genug, dass Ryon ihn offenbar direkt zu ihrem Haus geführt hatte.

„Allerdings hat er dich anschließend bei dem strömenden Regen aus den Augen verloren, da du wie ein Besessener gerast bist und die Gegend besser kanntest als er. Aber nun war ihm die Richtung bekannt, in die du wolltest … Er war sehr geduldig.“

Offensichtlich.

„In den letzten Wochen hat er sich einfach auf die Lauer gelegt und die Hauptstraße beobachtet, an der Stelle, wo er dich verloren hatte. Allerdings nicht sehr erfolgreich bis … dein ramponierter Wagen mit einer perfekt langsamen Geschwindigkeit jede weitere Verfolgung möglich machte.“

Wenn Ryon in diesem Augenblick nicht schon den Ausgang der Geschichte kennen würde, dann wäre er spätestens jetzt vor Entsetzen aufgesprungen. Zu wissen, dass dieses Monster in der Nähe gewesen war, als Paige sich nicht mehr richtig hatte wehren können und er selbst auch nicht gerade der Wachsamste gewesen war, machte ihn ganz krank vor Sorge.

So aber blieb er mit angespannten Kiefernmuskeln sitzen und hörte weiter schweigend zu. Das alles ging ihm gewaltig gegen den Strich.

„So wie ich das sehe, war er zwar direkt auf eurer Spur, verlor euch aber, als ihr die magische Barriere überschritten habt. Er konnte weder das Haus, noch den Steinwall darum sehen, wusste aber, dass ihr hier irgendwo sein musstet, denn euer Geruch war noch da, auch wenn ihr selbst wie vom Erdboden verschluckt gewesen wart.“

Tennessey rieb sich die Schläfen, als würden ihn die ganzen Bilder und Sinneseindrücke verwirren, die vermutlich auch den Werwolf ganz schön durcheinander gebracht hatten.

„Keine Ahnung, wie er es ausgehalten hat, trotz dieses … grauenhaften Gefühls nicht einfach Panik zu schieben und weg zu laufen. Stattdessen ist er immer wieder die Grenzen abgewandert, hat versucht den natürlichen Selbsterhaltungstrieb seines Tiers zu umgehen, damit er sich der für ihn nicht sichtbaren Mauer näher konnte, aber irgendwie fehlte immer noch der Beweis dafür, dass er nicht doch völlig durchgeknallt war und sich das nicht alles einfach nur einbildete. Bis er gestern Nacht eure Stimmen gehört und euch gewittert hatte. Das war der Anstoß, der bisher gefehlt hatte, um sich dieser unbekannten Lage endgültig zu stellen. Den Rest, kennst du ja.“

Ryon konnte nach dem Gehörten nicht mehr still sitzen. Weshalb er schließlich aufsprang und im Raum auf und ab tigerte. Die magische Barriere war also noch stark genug, ihre Feinde zu verwirren, aber sie hatte sie nicht mehr vollkommen abschrecken können. Dafür mussten sie noch eine Lösung finden, auch wenn es im Augenblick etwas beruhigend war, dass der Werwolf nur auf seine Rache gesinnt hatte und somit niemanden über den Verbleib dieses Anwesens unterrichtet hatte. Wirklich nur ein kleiner Trost. Vor allem würden sie jetzt die Autos los werden müssen, was bei dem zerbeulten Wagen im Graben auch eine hervorragende Idee war, wenn man den Inhalt des Kofferraums bedachte. Tyler musste ihnen andere fahrbare Untersätze besorgen, die sie abwechseln konnten und somit weniger schnell auf sie aufmerksam machte.
 

Dass Ryon wie auf Kohlen durchs Zimmer lief und seine Stirn durchfurcht war, als hätte er mindestens solche Kopfschmerzen wie der arme Tennessey, half wenig dabei, die drückende Stimmung im Raum zu verbessern.

Paige lehnte sich nach vorne, stützte sich mit den Unterarmen auf ihre Knie und faltete die Hände. Kleine Feuerkugeln entstanden zwischen ihren Handflächen, bloß um von Paige zerdrückt zu werden und neu zu entstehen. Sie riss sich wirklich zusammen.

Würde sie der inneren Anspannung nachgeben, sie würde lichterloh in Flammen stehen. Aber auch das half ihnen nicht weiter.

An Tennessey gewandt, versuchte sie ein winziges Lächeln, bevor sie sprach.

„Wenn es dir zu viel wird, musst du es mir sagen. Aber ich hätte da ein paar Fragen...“

Der Arzt schlug die Augen auf und nickte schwach, was Paige etwas entspannte. Sie wollte nicht mehr darüber wissen, was Tennessey im Kopf des Werwolfs an anderen Grausamkeiten gesehen hatte. Diese Qualen wollte sie ihm keinesfalls auferlegen.

„Wenn in der World Underneath Steckbriefe von uns hängen, wundert es mich, dass die Scheusale nicht vor dem Grundstück Schlange stehen... Es gab Zeiten, da bin ich selbst bei meinem zwielichtigen Job auf Andere getroffen, weil der Preis entsprechend hoch war.“

Wahrscheinlich galten sie als gefährlich. Zumindest Ryon, wie sie mit einem Blick auf ihn feststellte. Sie selbst war im Vergleich zu einem Wandler seiner Statur eine Spinne, über die man nur ein Glas stülpen musste, um sie zu fangen.

„Dann ist Boudicca also so weit, dass sie so stark in die Öffentlichkeit tritt... Was zumindest bedeuten muss, dass wir ihr auf die Nerven gehen.“

Etwas, das Paige innerlich ein gewisses Triumphgefühl vermittelte. Immerhin hätte man sie auch damals vor dem 'Fass' abfangen und töten können. Oder in ihrer Wohnung, wenn Ryon dort nicht für 'Ruhe' gesorgt hätte.

„Ich weiß, dass ich meinem Naturell entsprechend vielleicht übertreibe ... aber wäre es nicht eine Idee, einfach diese Nummer zu wählen? Nicht unbedingt jemand von uns beiden, aber ... wir könnten ein paar Sachen heraus bekommen. Vielleicht sogar, wo sich der Zirkel aufhält.“

Die Kugel zwischen ihren Händen war zu einem kleinen Ball angewachsen, der sich träge drehte, während Paige sprach. Sie wollte endlich etwas tun. Es sollte endlich vorbei sein!
 

Ryon hörte zu, während seine Schritte ihn immer weiter trieben. Würde er nicht wenigstens auf diese Weise sich etwas abreagieren, hätte er sich irgendetwas gesucht, dass er zu Kleinholz verarbeiten konnte. Er war nicht nur stinksauer über diese ganze Situation, sondern fühlte sich zugleich auch hilflos und wie ausgeliefert. Dabei ging es ihm noch nicht einmal um ihn selbst, sondern um all die anderen, um die er sich Sorgen machte.

Hätte es irgendetwas gebracht, er wäre sofort zu dieser verdammten Hexe gegangen und hätte ihr einfach gegeben, was sie wollte. Aber das konnte er nicht.

Abrupt blieb Ryon stehen, presste die Augenlider zusammen und versuchte seinen Zorn zu bändigen, doch das schien beinahe unmöglich.

Seit dem Tod des Werwolfes war da in ihm ein klaffendes Loch, das sich mit all dem Mist zu füllen begann, was er in den letzten Jahren so erfolgreich hatte von sich abprallen lassen können. Wut, Verzweiflung, Hass, Hilflosigkeit und einem ohnmächtigen Zorn, der so heftig war, dass es ihn körperlich schmerzte.

Mit einem grollenden Laut in seiner Brust, packte er das Amulett, riss es sich über den Kopf und warf es mit solcher Wucht gegen die Wand, dass der Putz abbröckelte, ehe es klirrend zu Boden fiel.

Ohne weiter darauf zu achten, tigerte er erneut im Raum auf und ab, während seine Gedanken sich wie ein Wirbel nur noch zu kreisen schienen, ohne eine hilfreiche Lösung auszuspucken.

Paige hatte recht. Sie konnten die Nummer wählen und wenn sie Glück hatten, würden sie vielleicht sogar etwas damit erreichen. Aber diese Schlampe von Hexe war sicherlich nicht so dumm, diese Anrufe direkt in ihrem Versteck entgegen zu nehmen, ansonsten könnten sie nämlich ziemlich schnell den Standort der Rufnummer heraus finden und eigentlich glaubte Ryon nicht, dass sie dieser Frau auf die Nerven gingen, sondern viel mehr, wollte sie ihnen das Leben zur Hölle machen.

Es war vermutlich pures Glück, dass bei ihnen noch keine Schlange vor der Haustür stand, da sie in letzter Zeit nicht die Möglichkeit gehabt hatten, sich in der World Underneath oder auch sonst wo, großartig blicken zu lassen. Sie waren mit Nachforschungen beschäftigt gewesen, die trotz allem, noch immer irgendwie kein bisschen hilfreich waren und auch absolut keine Möglichkeiten aufwiesen, wie sie diese verfluchte Hexe endlich erledigen konnten und ihren ganzen Zirkel gleich mit.

Das Amulett… Alles schien von diesem verfluchten Amulett abzuhängen. Dabei wussten sie noch nicht einmal, wieso dieses Scheißding so wertvoll sein sollte. Einmal davon abgesehen, dass es für ihn einen persönlichen Wert hatte, auch wenn er das im Augenblick nicht so empfinden konnte.

Gott, er wollte schreien!

Doch statt diesem Drang nachzugeben, stellte sich Ryon schließlich ans Fenster und schob die Vorhänge ein Stück zur Seite.

Er verschränkte seine Hände vor der Brust, um sie außer Gefecht zu setzen und starrte hinaus in das trostlose Grau des Tages. Jede Hoffnung schien vollkommen zerstört zu sein, aber wie er sich selbst geschworen hatte, würde er diese Empfindung nicht laut vor Paige aussprechen. Denn trotz allem würde er kämpfen, auch wenn er seine Zweifel hatte.

„Wenn du mir die Nummer aufschreibst, kann ich zumindest heraus finden, wo sich die Stelle befindet, an der die Anrufe entgegen genommen werden. Vielleicht gibt es von dort aus einen Hinweis darauf, wie wir den Unterschlupf der Hexe ausfindig machen können.“

Einen Moment schwieg er, ehe er leise, aber mit einem donnernden Grollen in der Stimme hinzufügte: „Ich bin es leid, mich zu verstecken. Vielleicht kommen wir weiter, wenn wir sie einfach angreifen…“
 

Als Antwort auf ihren Vorschlag bekam sie von Ryon ein Schnauben, während er weiter durch das nicht gerade riesige Zimmer stapfte und offensichtlich bei jedem Schritt wütender wurde. Es war abzusehen, dass er in irgendeiner Weise demnächst explodieren würde. Paige war bereits dabei aufzustehen und zu ihm zu gehen, als sie instinktiv zurück zuckte, als etwas gegen die Wand flog und scheppernd auf dem Boden landete.

Ihr Herzrasen kam davon, dass sie sich wirklich erschrocken hatte, aber dass sie nun wie festgeleimt auf der Bettkante verharrte, hatte auch andere Gründe.

Mit besorgt trüben Augen folgte sie seiner Bewegung durch den Raum und beinahe wäre ihr ein Seufzen entkommen.

Bis ihr Blick auf Tennessey fiel, der völlig ruhig allem zugesehen und zugehört hatte, nur um Paige nun mit einem Ausdruck in den Augen zu mustern, den sie absolut nicht zuordnen konnte. Es hatte etwas … Ermunterndes. Als hätte der Arzt Paiges Gedanken lesen können und die Gründe dafür, warum sie hier noch mit rasendem Puls herum saß, anstatt ihre Arme um Ryon geschlungen zu haben, wie sie es vorgehabt hatte und wie es jede Faser ihres Körpers und nicht nur diese zu verlangen schien.

Doch Paige senkte leicht irritiert den Kopf, als ihr auffiel, dass Tennessey seine Fähigkeit bei ihr nicht einsetzen musste, um zu wissen, was los war. Es war schon fast unangenehm, wie wenig sich in diesem Haus verbergen ließ. Und noch mehr, wie viel alle über sie zu wissen schienen, wo Paige von den Eigenarten und Problemen der Anderen keinen blassen Schimmer zu haben schien.

Für einen Moment streifte Paiges Blick das Amulett auf dem Boden, um dann zu Ryon zu wandern, der ihnen beiden den Rücken zugekehrt hatte und am Fenster stand. Es würde noch eine ganze Weile nicht leicht sein...

Doch gerade dieses kleine Lächeln, die Andeutung eines Nickens von Ryons langjährigem Freund ließ die Zweifel kleiner werden. Sie würde niemals Ryons Gefährtin sein, was hieß, dass sie nie eine derart beruhigende Wirkung auf ihn haben würde, wie es ihr als Gefährtin möglich wäre. Aber das bedeutete nicht, dass sie es nicht versuchen durfte.

Entschlossen stand sie auf, hob zunächst das Amulett auf, bevor sie zu Ryon hinüber ging und eine Hand auf seinen Rücken legte, bevor sie sich neben ihn stellte und ebenfalls nach draußen sah.

„Wir werden etwas tun. Nicht kopflos und nicht mit dem im Nacken, was heute passiert ist. Der Zirkel hat das lange geplant. Wenn wir jetzt irgendetwas überstürzen, dann rennen wir ihnen ins Messer.“

Mit festem Blick der besagte, dass sie sehr wohl zu kämpfen bereit war, blickte sie Ryon in die Augen. Auf ihrer offenen Hand lag das Amulett, von dem Paige immer noch glaubte, dass es ihn beschützen sollte. Sie würden es noch brauchen. Und es war wichtig, dass er es trug und niemand sonst.

„Ich hab dir doch gesagt, dass sie nicht gewinnen werden. Was meinst du, wo sollen wir anfangen?“
 

Er konnte zwar hören und spüren, dass Paige aufgestanden war und schließlich hinter ihn trat, aber erst als er ihre Hand auf seinem Rücken fühlte, war es, als hätte man ein straffgezogenes Seil zerschnitten, das ihn nicht nur gewürgt, sondern auch vollkommen bewegungsunfähig gemacht hatte.

Mit einem Mal bekam er wieder richtig Luft und die Anspannung in seinem Körper, die jeden seiner Muskeln verhärten ließ, wich schließlich aus ihm.

Seine Wut und die aufgestaute Aggression verrauchten, aber nicht vollkommen. Das würde erst der Fall sein, wenn sie endlich ihre Ruhe hatten.

Mit einem müden Blick sah er zuerst Paige und dann das Amulett an, das sie ihm entgegen hielt. Selbst bei der Wucht des Aufpralls war es immer noch unversehrt geblieben. Glänzte genauso schön wie eh und je und schien sich durch nichts seine uralten Würde nehmen zu lassen.

Langsam löste Ryon seine verschränkten Arme und griff zögerlich nach dem Schmuckstück. Ein paar Millimeter bevor er es berührte, hielt er noch einmal inne.

Er wollte es nicht haben. Es bedeutete ihm so viel und dennoch wollte er es nicht bei sich wissen. Denn dieser eine Gegenstand war es, der alles bedrohte, was ihm noch im Leben an wertvollen Dingen geblieben war und das war er einfach nicht wert.

Paige, Mia, seine Freunde, das alles war so viel wertvoller, als dieses Amulett, denn auch wenn Marlene es gewesen war, die es ihm geschenkt hatte, so bräuchte er es nicht, um sich an sie zu erinnern. Dazu bedurfte es keine Gegenstände mehr.

Dennoch schloss Ryon schließlich seine Hand um das Schmuckstück, während er Paiges Handfläche mit seinen Fingerspitzen länger als nötig berührte und ihr tief in die Augen blickte. Die seinen waren immer noch von dunkler Honigfarbe, aber das kümmerte ihn im Augenblick wenig. Stattdessen unterbrach er den kribbelnden Hautkontakt mit Paige, legte sich die Kette wieder um den Hals, fühlte das vertraute Gewicht auf seiner Brust und akzeptierte hiermit, dass es noch eine Weile dauern würde, bis er es endgültig ablegen konnte.

Paiges Worte machten ihm Mut und zugleich wurde ihm klar, dass er nicht dort draußen vor dem Fenster nach Hoffnung suchen sollte, sondern stattdessen in dem beruhigenden Blick dieser faszinierenden Frau.

Ohne großartig darüber nachdenken zu müssen, zog er sie an sich, schmiegte sein Gesicht gegen ihr Haar und sog tief ihren Duft in sich auf.

Es mochte vielleicht den Anschein haben, dass er sie beschützend umarmte, doch das war nur der äußere Schein. In seinem Innersten fühlte er sich wie ein kleiner, hilfloser Junge, der sich, zumindest in diesem Augenblick, in Paiges Schoß versteckte, um die Welt um sich herum nicht länger mit ansehen zu müssen.

Er wollte sie nie wieder los lassen.
 

Ein leises Räuspern durchbrach schließlich die inzwischen entspanntere Atmosphäre und ließ Ryon hoch blicken. Tennessey sah ihn mit einem freundschaftlichen und zugleich entschuldigenden Lächeln an, während er ihm einen Zettel entgegen streckte.

„Ich störe euch beide nur ungerne, aber ich würde mich am liebsten noch etwas ausruhen. Auf dem Zettel steht die Nummer. Hoffentlich bringt sie euch weiter.“

Ryon kannte seinen Freund gut genug, um zu wissen, dass dieser sich eher unbehaglich dabei fühlte, ihnen beiden bei einem solch vertrauten Moment zuzusehen, als sich seine Müdigkeit einzugestehen. Was das anging, war er im Grunde ein harter Brocken, der nicht so leicht jammerte. Aber Ryon verstand den Wink mit dem Zaunpfahl auch so, weshalb er sich langsam von Paige löste, ohne ihre Hand los zu lassen, um den Zettel entgegen zu nehmen.

„Wenn du etwas brauchst, dann-“

„Werde ich es mir schon selber holen. Mach dir keinen Kopf deswegen. Es gibt schlimmeres als einen Kater.“

Das bezweifelte Ryon, denn die Augen von Tennessey straften seine Worte Lügen. Doch es lag auch sanfte Nachdrücklichkeit darin, die jeglichen Widerstand schließlich hinweg fegte.

Ryon nickte.

„Ich werde später nach dir sehen, falls du bis dahin nicht schon längst wieder im Haus herum spukst.“

Tenessey lachte leicht und winkte ab.

„Geht schon. Ich komme klar.“

Sanft drückte Ryon Paiges Hand etwas fester, während er mit seinem Daumen über ihren Handrücken streichelte. Er wollte sowieso mit ihr unter vier Augen über die ganze Angelegenheit reden und er brauchte den Computer, der in seinem Büro stand, um dieser Nummer vielleicht etwas abgewinnen zu können, bevor sie dort anriefen. Außerdem war da auch noch der Tresor und Marlenes Zauberbuch darin.

Auf jeden Fall genug Gründe, um Tennessey seine Ruhe zu gönnen.

"Okay, wir sind dann im Büro, falls du uns brauchst.", fügte er zur Sicherheit noch einmal hinzu, damit auch Paige wusste, was er vorhatte. Oder zumindest, wo es hinging.
 

Erleichterung schwappte über Paige wie eine warme Welle, als Ryon sie in seine Arme zog und sie festhielt. Es machte sie fertig, ihn so völlig aufgerieben von allem zu sehen, was um sie herum passierte und sich selbst doch so ohnmächtig zu fühlen. Sie konnten nur in ganz kleinen Schritten vorwärts gehen. Sich vorsichtig an das heran tasten, was sie erwartete. Paige hatte sich schon lange nicht mehr so allein auf weiter Flur gefühlt. Es gab einfach niemanden, den der Kampf mit dem Zirkel ebenfalls betraf und den sie um Mithilfe hätten bitten können. Sie würden das zu zweit durchstehen müssen, auch wenn die Vorstellung ihnen bloß noch mehr den Wind aus den Segeln nahm.

Und trotz allem hatte Paige nicht im Geringsten vor aufzugeben. Nicht jetzt und auch nicht, bevor sie dieser Hexe, dem Ursprung dieses ganzen Übels gegenüber gestanden hatte.
 

Sie gingen in den Raum, den Paige bis jetzt gar nicht als Ryons Büro angesehen hatte. Hier hatte sich meistens der Doktor aufgehalten, über irgendwelchen Notizen gebrütet oder sie nach der unschönen Begegnung mit dem Duftmagier behandelt.

Der Magier... Ryon hatte dem Kerl übel mitgespielt. Aber er war noch da draußen und bestimmt noch ein Anhänger von Boudicca. Wenn Paige ihm nicht noch einmal so leicht ins Netz gehen wollte, würde sie sich etwas einfallen lassen müssen. Das Risiko, dass man sie so mir nichts dir nichts manipulieren und vielleicht sogar gegen Ryon einsetzen konnte, durfte sie nicht eingehen.

Das Summen des hochfahrenden Computers ließ sie hochblicken. Interessiert erhaschte sie einen Blick auf den Zettel in Ryons Hand, auf den Tennessey die Nummer notiert hatte.

„Was fangen wir damit an? Du wirst vermutlich nicht einfach im Telefonbuch nachschlagen, wem die Nummer gehört...“

Wenn sie doch bloß ein bisschen mehr Ahnung davon hätte...

„Kann ich auch irgendwie helfen?“
 

Ryon setzte sich auf den gemütlichen Ledersessel und betrachtete, nachdenklich die Ziffern auf dem kleinen Zettel, den Tennessey ihm gegeben hatte, während er darauf wartete, dass der Computer hoch fuhr.

„Nein, das nicht. Aber so ganz Unrecht hast du auch nicht. Manchmal ist die simpelste Idee die Beste. Zumindest sollten wir einfach einmal versuchen, die Nummer einzugeben und abwarten was passiert. Wenn sie wirklich in einem Internettelefonbuch steht, würden wir uns Einiges ersparen. Wenn nicht…“

Er zuckte mit den Schultern.

„…kenne ich noch ein paar andere Möglichkeiten, um die dazu passende Rechnungsadresse heraus zu finden.“

Er sah von dem Zettel hoch und zu Paige hinüber. Unwillkürlich zeichnete sich ein sanftes Lächeln auf seinen Lippen ab, als er sie betrachtete. Gerade noch stinksauer und jetzt wieder voller Tatendrang… Das konnte auch nur Paige schaffen.

„Du könntest mir das Buch aus dem Safe hinter dem Bild dort, holen. Die Kombination lautet 1-5-0-9-0-2. Vielleicht finden wir dort etwas, das wir zu unserem Vorteil nutzen können. Magie gegen Magie oder so etwas in der Art.“

Auch wenn er nicht genau wusste, wie sie das anstellen sollten, da er keine Ahnung von solchen Dingen hatte. Doch Marlene hatte ihm einmal erklärt, dass einfache Zauber die sehr wirkungsvoll waren, von jedem gewirkt werden konnten, wenn man die richtige Anleitung dazu hatte. Magie umgab diese Welt schließlich und selbst Ryon musste zugeben, dass die Verwandlung von einem Mensch in ein Tier nicht gerade rein wissenschaftlich erklärt werden konnte oder in Paiges Fall einfach so in Flammen aufzugehen, ohne sich dabei zu verbrennen.

Der Computer war schließlich einsatzbereit, woraufhin sich Ryon wieder voll und ganz auf die Telefonnummer konzentrierte.

Erst einmal gab er sie bei einem der gängigen Suchmaschinen ein, die wie ganz gewöhnliche Telefonbücher funktionierten, wenn auch in elektronischer Form.

Wie zu erwarten, brachte das kein Ergebnis, weshalb er kurz mit dem Tippen inne hielt, um seine Finger knackend zu lockern, ehe er sich an die Arbeit machte.

Zwar war Ryon kein Hacker, aber er hatte schließlich nicht umsonst studiert. Endlich machte sich das auch wieder einmal bezahlt, obwohl er schon längst festgestellt hatte, dass er lieber mit vollem Körpereinsatz arbeitete, als in einem mit Akten vollgestopften Raum mit summenden Rechnern, ständig klingelnden Telefonen und einer nervenden Sekretärin zu sitzen, die alle fünf Minuten herein geschneit kam und das waren noch die guten Jahre gewesen.
 

Das Bild schwang leicht zur Seite, als Paige den Rahmen fasste und ihn auf sich zuzog. Die Scharniere waren kaum zu sehen, aber trotzdem...

„Entschuldige, dass ich mir das nicht verkneifen kann, aber hinter Bildern sieht man in meiner Branche als Erstes nach.“

Sie drehte an dem Schloss, gab die Kombination ein und die schwere Tür sprang ohne die geringste Gegenwehr auf. Im Inneren lagen ein paar Papiere, aber nicht viele. Wahrscheinlich bewahrte Ryon die meisten Sachen in einer verschlossenen Schublade auf. Immerhin war das Grundstück gegen normale Diebe mehr als geschützt. Nur über übernatürliche Eindringlinge musste man sich Sorgen machen. Und die wären bestimmt vor allem hinter dem her, was ganz oben auf in dem Safe lag.

Es war schwer für so ein handliches Format, denn die Seiten schienen sehr dick zu sein. Bestimmt handbeschrieben und verschieden Dinge zwischen die einzelnen Seiten gelegt. Der Band wirkte alt und der Umschlag viel begriffen. Die Kanten und Ecken waren abgestoßen und der Schnitt völlig vergilbt. Dennoch lag es sehr gut in der Hand und strahlte selbst im geschlossenen Zustand eine gewisse ... Erhabenheit aus.

Paiges Finger strichen vorsichtig über den weichen Umschlag, nachdem sie das Buch neben dem Computer und Ryons hektisch tippenden Fingern abgelegt hatte.

Für Paige sah es faszinierend aus, wie er vollkommen konzentriert irgendwelche Seiten öffnete, bloß um sie schnell wieder zu schließen.

Sie stellte sich hinter ihn, um über seine Schulter blicken zu können und so vielleicht andeutungsweise mitzubekommen, was er da tat. Bis jetzt war die Aktion wohl nicht von Erfolg gekrönt, denn Ryon äußerte sich nicht auf positive Weise. Unregelmäßiges tiefes Luftholen und ein Grummeln ab und zu konnte bestimmt nicht als Triumph gewertet werden.

Paige hatte das Bedürfnis, wie Ryon vorhin, im Zimmer auf und ab zu laufen, wenn sie schon nichts Besseres tun konnte.

„Bevor ich hier vor Ungeduld in Flammen aufgehe, werd ich uns schnell was zu Essen holen.“

Gesagt, getan, bevor er widersprechen konnte. Paige wanderte in die Küche, holte eine riesige Platte aus dem Schrank und plünderte den Kühlschrank für belegte Brote. Dazu noch Cocktail-Tomaten und Gurkenscheiben.

Als sie wieder ins Büro kam, stellte sie mit fragendem Blick die Platte auf den Tisch, brachte das Buch auf einem weiteren Stuhl in Sicherheit und nahm sich eins der Brote, während sie sich vorlehnte, um wieder auf den Bildschirm zu linsen.

„Wie sieht's aus?“, wollte sie wissen.
 

„Damit hast du bestimmt recht. Aber ich bewahre das Buch ja schließlich nicht im Safe auf, weil ich Angst hätte, es könnte jemand stehlen.“

Ryon schenkte Paige nur einen kurzen Blick, ehe er sich wieder auf seinen Bildschirm konzentrierte.

„Es ist dort einfach sicherer aufgehoben, sollte das Haus brennen oder sonst irgendwie darüber zusammen brechen.“ Und was die Diebe anging, so müssten die das Grundstück zuerst einmal finden, was schon von diesem Werwolf eine ganz schöne Leistung gewesen war. Außerdem war Marlenes Buch zwar sehr nützlich, aber es gab kostbarere. Nur deshalb würde niemand ins Haus einbrechen und die wirklich wertvollen Dinge lagen sicher auf verschiedene Banken aufgeteilt.

Als Paige vorschlug, etwas zu Essen zu besorgen, war sie schneller weg, als er sich vom Bildschirm los reißen konnte, doch er sah ihr nach, als sie den Raum schon längst verlassen hatte.

Eine Minute lang starrte er auf seine reglosen Finger, sich fragend, wie das alles hier wohl enden würde, doch da ihm mögliche Antworten darauf nicht gefielen, machte er sich schließlich wieder an die Arbeit.

Wenn Ryon einmal in die Welt des Cyberspace abgetaucht war, dann verlor er auch jedes Gefühl von Raum und Zeit. So kam ihm Paiges Abwesenheit nur wie wenige Augenblicke vor, obwohl sicher einige Minuten vergangen sein mussten, doch da er an seiner Sache schon sehr nahe dran war, ließ er sich ausnahmsweise nicht von dem Duft des Essens und den noch intensiveren von Paige ablenken. Er antwortete ihr noch nicht einmal, wohingegen seine Finger nur noch schneller über die Tastatur flogen und er sich leicht vor Anspannung nach vor lehnte.

Schließlich tippte er ein letztes Mal auf die Enter-Taste, woraufhin sich ein neues Bildschirmfenster öffnete, in dem die gesuchten Daten standen. Mehr sogar, als erwartet.

Die Rechnungsadresse, eingehende und abgehende Anrufe, die Dauer der Anrufe und sogar die Nummern der gewählten Anrufe. Auch ein Firmenname war zu finden, der Ryon aber absolut nichts sagte und ganz offensichtlich nur eine Tarnung für irgendetwas war, um dem ganzen eine unscheinbare Fassade aufzuerlegen, obwohl ständig neue Zeilen hinzu kamen, die auf weitere Anrufe hinwiesen, die in diesem Augenblick ein- und ausgingen. Es erinnerte ihn stark an die Auskunft, könnte aber auch ein ganz regulärer Bürobetrieb sein. Um das genauer heraus zu finden, müssten sie dort vermutlich persönlich vorbei schauen.

Überlegend lehnte Ryon sich in dem Stuhl zurück, griff sowohl nach einem Brötchen, wie auch nach Paiges Hand und biss ab, während er seine Finger mit ihrer verschlang, als wäre das Bedürfnis nach ihrer Nähe genauso selbstverständlich und wichtig, wie der Drang zu Essen.

„Es ist zumindest eine Spur, auch wenn wir hier sicher keinen Volltreffer gelandet haben.“

Ryon riss seinen Blick vom Bildschirm hoch und sah über seine Schulter zu Paige.

„Wollen wir uns dort einmal unauffällig umsehen?“
 

Paiges Augenbrauen hoben sich bei Ryons Vorschlag ein wenig und ein Schmunzeln stahl sich in ihren rechten Mundwinkel.

„Ein unmoralisches Angebot... Sehr gern.“

Ob sie es allerdings unauffällig schaffen würden, bezweifelte Paige stark. Immerhin erinnerte sie sich noch sehr lebhaft daran, was passiert war, als sie unauffällig das Haus der Hexe beschatten wollte. Als ihr genau das wieder einfiel und zusätzlich, dass sie Ryon noch gar nicht erzählt hatte, warum sein Auto nun schrottreif im Graben lag.

Sie ließ seine Hand nicht los, während sie sich wieder setzte und sich den letzten Bissen ihres Brotes in den Mund schob.

„Ich befürchte, dass es ein echtes Problem für mich gibt, wenn uns dort jemand erwarten sollte.“

Paige holte tief Luft und starrte auf den Rand der Servierplatte, an dem ein Tomatensamen klebte, den sie mit dem Fingernagel wegschob.

„Eigentlich hätte ich es gern verdrängt, aber ich glaube, dass es wichtig ist, dir zu erzählen, warum dein Auto es nicht mehr bis in die Garage geschafft hat.“

Sie sah ihm in die Augen, in denen sich bereits jetzt so etwas wie Sorge spiegelte. Und das, obwohl dieser Zwischenfall vorbei war und Ryon noch nicht einmal wusste, was sie ihm erzählen wollte.

„Als du weg warst, konnte ich nach ein paar Tagen einfach nicht mehr tatenlos herum sitzen. Ich bin zwar immer wieder die Bücher in deiner Bibliothek durchgegangen, aber geholfen hat das wenig. Über das Amulett habe ich nicht mehr heraus gefunden, als schon in Dublin.

Aber mir kam der Gedanke, dass der Zirkel wahrscheinlich seine Zeit auch nicht Däumchen drehend verbringen würde, während wir immer wieder einen ihrer Abgesandten zum Versager stempeln. Ich bin raus gegangen, habe angebliche und echte Hexen besucht und bin auf ein paar Damen gestoßen, die von Boudicca dazu gezwungen werden sollten, in den Zirkel mit einzusteigen.“

Sie kam der Geschichte dieser einen Nacht näher und damit auch dem, was sie Ryon erzählen wollte. Die Gefahr, mit der sie möglicherweise nicht ganz fertig werden konnte, sollte sie erneut darauf treffen.

„In der Nacht, in der du nach Hause gekommen bist, habe ich das Haus einer Hexe beobachtet. Sie ist eindeutig eine von der realen Sorte und das weiß auch dieser Zirkel. Es kamen zwei Dämonen an ihr Tor, um sie wohl noch einmal und wahrscheinlich endgültig zu überzeugen.“

Paige biss kurz die Zähne aufeinander, als sie sich an die vertraut röchelnde Stimme des Dämons und ihre panische Flucht erinnerte.

„Es waren ein Wasser- und ein Eisdämon. Mit einem allein wäre ich vermutlich zurecht gekommen. Aber zusammen ... waren sie mir zu viel. Ich bin einfach abgehauen und dabei hat dein Wagen ziemlich gelitten...

Es ist für mich verdammt frustrierend das sagen zu müssen, aber sollten wir auf die beiden oder diesen Duftstengel treffen, werde ich vielleicht nicht von so großer Hilfe sein, wie ich es gern möchte...“
 

Zum Glück hatte Ryon den Bissen schon gut durchgekaut und hinunter geschluckt, bevor Paige ihm eine Gänsehaut nach der anderen über die Haut jagte. Was sonst passiert wäre, hätte er in diesem Augenblick nicht genau sagen können.

Während er das angebissene Brötchen wieder zurück auf die Platte legte und angestrengt ihren Worten zuhörte, konnte er nicht verhindern, dass mit der Sorge auch vergangene Bilder in ihm hoch kamen.

Bilder von Frauen die verschwunden waren. Bilder von Frauen die grausam getötet worden waren. Bilder von Freundinnen seiner Gefährtin, die er gekannt hatte!

Und dann war da auch noch Paige, die sich offenbar sehr dicht an der Gefahr befunden hatte, ohne dass er ihr damals hätte helfen können.

Ryon wurde langsam schlecht und er vergrub einen Moment lang sein Gesicht in seiner freien Hand, während er die von Paige immer noch fest hielt.

Das alles klang nicht sehr viel versprechend. Vor allem, da er wieder daran erinnert wurde, dass Boudicca ständig neue Mitglieder rekrutierte und diejenigen, die sich weigerten, mitzumachen, wurden einfach ausgeschalten. Vermutlich um am Ende nicht doch noch eine Gefahr darzustellen. Aber eine Gefahr für was?

Ryon fuhr mit einem Ruck hoch. Der Gedanke hatte ihn auf eine Idee gebracht.

„Ich will hier nicht einen auf Miesepeter machen, aber ich werde dir gegen solche Typen ebenso wenig eine Hilfe sein. Wir sind einfach nicht unsterblich und allmächtig. Aber du sagtest doch, dass du Hexen getroffen hast, die wohl ebenfalls um ihr Leben fürchten müssen, wenn sie nicht mitmachen. Glaubst du nicht, dass es vielleicht eine Möglichkeit wäre, uns mit ihnen zusammen zu schließen? Oder es gibt doch sicherlich auch noch andere, die auf Boudiccas Abschussliste stehen. Ich meine, okay, sie ist hauptsächlich hinter dem Amulett her, aber Lenn meinte…“

Ryon verstummte, während er ins Nichts starrte. Nur sein Daumen strich unablässig über Paiges Handrücken, als wäre das Gefühl die einzige noch verbliebene Verbindung zwischen seinen sich überschlagenden Gedanken und seinem Körper.

Irgendwie schien alles keinen Sinn zu ergeben und dann doch wieder wie ein vollendetes Puzzle zu sein.

Okay. Fakt war, Boudicca hatte es auf das Amulett abgesehen, vermutlich um ihre Kräfte noch zu verstärken. Was an sich wohl ihren Größenwahnsinn bestärken dürfte. Andererseits bräuchte sie dafür aber nicht wehrlose Hexen zu töten, die sich weigerten, in ihrer kleinen Privatarmee mitzumischen.

Was ihn wiederum auf die Passage in Lenns Buch brachte, in der sie erwähnte, dass sie das Amulett nur deshalb gekauft hatte, um ihn zu beschützen. Also, wenn er das Amulett im Augenblick nicht hätte, würde er dann trotzdem bis zum Hals in der Scheiße stecken?

Das dumpfe und absolut grässliche Gefühl in seiner Magengrube wäre eigentlich schon Antwort genug gewesen, aber er musste es trotzdem mit absoluter Sicherheit wissen.

Langsam erhob sich Ryon von seinem Sessel.

„Mal angenommen, Boudicca hätte es nicht nur auf das Amulett abgesehen, sondern auch auf magische Mitglieder, die sie sich zu Eigen machen konnte. Was glaubst du, wäre dann ihr eigentliches Ziel? Umsonst würde sie doch nicht eine ganze Armee zusammen sammeln, wenn sie nicht noch einen Hintergedanken dazu hätte.“

Ryon sah Paige fragend an, als wollte er sehen, ob sie seinen Gedanken folgen konnte. Doch er wartete gar nicht erst auf eine Antwort ab.

„Entschuldige mich kurz, ich bin gleich wieder da.“

Er ließ ihre Hand los, verlor dadurch die Verbindung mit ihr, was ihn abrupt in der Bewegung inne halten ließ. Noch einmal kehrte er zum Schreibtisch zurück, ergriff ihr Gesicht mit seinen Händen und küsste sie kurz, intensiv und leidenschaftlich auf die Lippen, ehe er davon eilte, um Lenns Buch zu holen, dass er seit dessen Entdeckung nicht mehr angerührt hatte. Er musste noch einmal genau wissen, was dort über den bösen Hexenzirkel geschrieben stand und darüber, warum Marlene ihm das Amulett besorgt hatte. Er konnte sich leider nicht mehr genau daran erinnern. Die Sache mit ihrem Tod und dass sie davon wusste, hatte ihn damals einfach zu sehr von den anderen Dingen abgelenkt.
 

Keine fünf Minuten später kam er mit dem aufgeschlagenen Buch in den Händen zurück, gab der Bürotür einen kleinen Tritt, so dass sie wieder ins Schloss fiel und setzte sich dann in dem Buch blätternd wieder in den Sessel, bis er die richtige Stelle fand und laut vorzulesen begann:

22. Februar

Ich bin der Verzweiflung nahe. Sarah, Michelle, Nicole und Diana sind einfach spurlos verschwunden und jetzt ist auch noch Jessica zu diesem schrecklichen Orden konvertiert. Die Reihen meines Zirkels lichten sich immer mehr. Die Plätze können bei den Ritualen kaum noch ausgeglichen werden. Manche Zeremonien müssen wir sogar ganz ausfallen lassen. Boudicca ist nicht zu stoppen. Diese schreckliche Frau beherrscht nun schon mehr als die Hälfte aller magischen Anhängerinnen. Wenn das so weiter geht, wird es in dieser Stadt keine einzige gute Hexe mehr geben. Was soll ich nur tun? Bald werde ich nur noch alleine da stehen. Unser Zuhause wird nicht mehr sicher sein, denn ich weiß, dass sie es irgendwann auf mich – den letzten Widerstand – absehen wird. Wie kann ich dich und das Baby nur beschützen?

Zwar habe ich nichts in diese Richtung gesehen, aber ich mache mir Sorgen darüber, ob sie nicht auch irgendwann auf dich und deine andere Seite aufmerksam wird. Diese Magierin kann Blutlinien lesen, sie wird also schnell herausfinden, dass du von einem mächtigen Kriegerclan abstammst, auch wenn dir das selbst nicht mehr bewusst ist. Deine Vorfahren waren Jahrhunderte lang hervorragende Kämpfer…

Ryon schlug das Buch leise zu, während er sich den Inhalt noch einmal vergegenwärtigte.

Boudicca hatte es auf Marlene und ihrem Zirkel abgesehen, weil es die letzte Gruppe von guten Hexen in London war, die gegen sie gekämpft hatte. Wenn auch auf Distanz und mit ihren eigenen Mitteln.

Dann meinte sie noch, diese Frau hätte es womöglich schon bald auch auf ihn abgesehen, da er … besonders reines Blut hatte? Das ließ sich nicht leugnen. Tyler selbst hatte ihm oft von einigen seiner Vorfahren und deren hervorragenden Leistungen während diverser Kriege erzählt, aber warum sollte Boudicca das interessieren? Wollte sie denn einen Krieg anzetteln und brauchte sie dafür noch Soldaten oder stocherte er damit in vollkommener Dunkelheit herum?

Hilflos sah Ryon zu Paige hoch.

„Mal angenommen, Boudicca will sich eine Armee aufbauen und mit dem Amulett zusätzliche Macht gewinnen. Gegen wen könnte sich dieser Angriff richten? Oder ziehe ich falsche Schlüsse?“
 

Paige hatte das Gefühl, dass man ihr einen Brocken Eis auf die Schultern legte, während Ryon ihr den Tagebucheintrag aus Marlenes Büchlein vorlas. Wieder sah sie die zarte, junge Frau vor sich, die eine große Magierin gewesen war und doch nicht dazu fähig ihre Familie, ihre Freunde und sich selbst vor so viel Leid zu beschützen.

Ihr Herz wollte vor dem Schmerz zerreißen, der sich in diesen wenigen Absätzen, die nur ein kleiner Teil des Buches waren, wieder fanden. Es war kein Wunder, dass Ryon zusammen gebrochen war, als er es das erste Mal und nach so vielen Jahren des erfolgreichen Ignorierens gelesen hatte. Paige selbst wollte auch ganz flau im Magen werden. Fühlte sie sich doch inzwischen ein wenig in der Position, in der Marlene damals gewesen war und selbst mit all der Macht, die Paige selbst nicht hatte, nicht abwenden konnte. Marlene hatte Ryon beschützt, sie hatte ihm dieses Amulett geschenkt. Aber Boudicca hatte sie nicht stoppen können. Dafür war sie zu früh gestorben. Und selbst wenn es nicht so gewesen wäre...

Paiges Blick sank auf ihre Finger in ihrem Schoß, während sie versuchte, sich von den Worten und der Geschichte dahinter nicht zu sehr mitnehmen zu lassen. Aber es war nicht zu leugnen, dass aus Marlenes Kampf irgendwie ihr eigener geworden war. Und das nur, weil sie einem hünenhaften Kerl ein Schmuckstück hatte klauen wollen, um Essen und ein Babygeschenk für Ai kaufen zu können...

Als sie sich zurück lehnte, zog sie ein Bein auf den Stuhl, schlang ihre Arme darum und legte ihr Kinn auf ihrem Knie ab. Eine Weile dachte sie nach und hatte Schwierigkeiten ihre Gedanken zu ordnen.

„Die Idee, dass wir uns an die Hexen wenden könnten, die noch nicht zu Boudiccas Zirkel gehören, ist mir auch gekommen. Vor allem die Frau, bei der ich war, um das Haus zu beobachten, scheint sehr große Kräfte zu haben. Vielleicht könnte sie uns dabei helfen auch noch andere ihrer Sorte zu finden.“

Wenn sie die Hexe davon überzeugen konnten, dass sie die bessere Alternative zu Boudicca waren. Immerhin tauchten sie auch mit irgendwelchen unmöglichen Geschichten und Fragen vor ihrer Tür auf. Wobei Paige wieder einfiel, dass sie ohne die Probleme, mit denen die beiden Dämonen zu kämpfen gehabt hatten, über den Zaun gekommen war. Ob das allein an ihrer menschlichen Seite gelegen hatte?

Paiges Mund wurde trocken, als sie auf Marlenes Buch blickte, das Ryon immer noch in der Hand hielt. Was, wenn wirklich niemand mehr da war, der ihnen helfen konnte? Marlene war seit Jahren tot und sie war die Letzte ihres hellen Zirkels gewesen...

Nicht nur, weil sie es Ryon verboten, sondern weil sie es auch sich selbst versprochen hatte, versuchte Paige positiv zu denken. Was ihr aber bei seiner Frage und der Antwort die ihr spontan in den Sinn kam, nicht gerade leicht fiel.

„Mir kommt nur eine Gruppe in den Sinn, die jemand, der seinen Ursprung auf unserer Seite des Übernatürlichen hat, als Feind ansehen könnte.“

Wahrscheinlich würde es Ryon nicht anders gehen.

„Aber die Menschen haben uns nie wirklich ernsthaft bedroht. Warum... Na, vielleicht braucht sie keinen Grund.“
 

Ryons Fingerspitzen berührten Paiges Knöchel, während er das Buch auf den Tisch legte und sich in seinen Stuhl zurück lehnte. Sein Daumen streichelte erneut über ihre Haut, als wäre es so eine Art Zwang, aber tatsächlich fand er es einfach nur sehr beruhigend. Es war wie ein Katalysator für seine Anspannung, die sich dadurch in Grenzen hielt.

„Doch Paige, das haben sie.“

Er sah sie an und wusste zugleich, dass sie vermutlich nichts von der ‚Organisation‘ wusste, die vor Jahren versucht hatte, Ihresgleichen zu registrieren und als abnormal zu brandmarken. Natürlich waren sie keine ganzen Menschen, aber trotzdem war das auch ihre Welt und sie hatten ebenso viel Recht auf Anonymität, wie jeder andere.

Zum Glück war die Moonleague noch immer zu geschwächt, um erneut Druck auf die magische Welt auszuüben.

Vielleicht wollte Boudicca dieser Organisation zuvor kommen, aber dann hätte sie auch schon damals gegen sie ankämpfen können, anstatt sich zurück zu halten.

„Es wäre möglich, dass sie es leid ist, im Schatten zu leben, so wie wir alle es tun. Die meisten Menschen wissen nichts von unserer Existenz und ich bin darüber auch sehr froh, aber dieser Frau könnte es anders gehen. Vielleicht ist sie einer dieser Fanatiker, die der Ansicht sind, dass sie die stärkere Spezies sind und somit auch die Welt beherrschen sollten. Was weiß ich…“

Ryon legte seinen Kopf in den Nacken und starrte an die Decke, während er nachdachte.

Es war im Grunde egal, welche Ziele Boudicca nun tatsächlich verfolgte. Denn so oder so, sie würden erst vor ihr in Sicherheit sein, wenn sie ausgeschaltet war und das dürfte dann vermutlich auch alle weiteren Probleme lösen. Zumindest konnten sie das nur hoffen.

Langsam ließ er Paiges Knöchel los und zog sich mit der Hand an den Schreibtisch heran und brachte sich somit ihr ganz nahe. Er streckte die Arme aus, um sie zu berühren und somit dem drängenden Bedürfnis in sich nachzugeben, das er in sich verspürte.

Gerade in solchen schweren Situationen brauchte er ständig irgendwelchen Körperkontakt zu Paige, da sie für ihn wie die Erdung für einen Blitzschlag war. Mit ihr, ging die Wucht durch ihn hindurch, ohne Schaden anzurichten. Ohne sie, wusste er nicht wohin damit und das war gefährlich.

„Ich gebe dir Recht. Bevor wir etwas gegen Boudicca und wegen dieser Nummer unternehmen, sollten wir bei dieser Hexe vorbei schauen. Wenn wir Glück haben, kann sie uns vielleicht helfen. Es wäre sicherlich besser, erst unsere eigene Front zu verstärken, ehe wir auch nur gegen irgendjemanden vor gehen. So ungern ich es auch zugebe, aber wir sind nur zu zweit und Boudicca hat viele Anhänger. Wir müssen versuchen, unsere Chancen zu verbessern.“

Vermutlich sollten sie sich so bald wie möglich darum kümmern. Also schon heute, auch wenn er im Augenblick nicht so recht die Kraft dafür aufbrachte. Die Sache mit dem Werwolf hatte ihn härter getroffen, als er sich eingestehen wollte. Dabei war das wirklich nur Abschaum der untersten Schicht gewesen, der es absolut verdient hatte, für seine Taten gerichtet zu werden. Dennoch… Es war schon genug Blut geflossen. Er wollte eigentlich nicht noch mehr davon vergießen. Aber wenn es nicht anders ging, dann war es eben so.

Ryon seufzte schwer und legte seinen Kopf an Paiges Oberschenkel, während er einen Moment lang die Augen schloss. Er war das alles so leid und trotzdem raffte er sich im nächsten Augenblick wieder hoch. Sich gehen zu lassen, würde nichts bringen, außer dass er erneut alles verlieren könnte und das war das Letzte, was er wollte.
 

Hatten sie?

„Dann sind die Gerüchte also nicht so stark aus der Luft gegriffen, wie ich immer vermutet habe.“

Es war keine Frage, sondern eine ernüchternde Feststellung. Denn in Ryons Blick hatte sie lesen können, was ihr ohnehin klar gewesen war. Er würde sie nicht belügen. Weder bei etwas Profanem, noch bei etwas Einschneidendem wie dieser Eröffnung.

„Dennoch kein Grund erst einmal unter Unseresgleichen zu wüten, bloß um später gegen die Menschen vorzugehen. Wenn du mich fragst, ist diese Verrückte schon mit dem Plan viel zu weit gegangen.“

Was die Sache nicht gerade einfacher machte. Wenn man es mit jemandem zu tun hatte, der in gewisser Weise vernünftig handelte, konnte man seine Taten nachvollziehen und leichter etwas dagegen unternehmen. Bei Boudicca würde das vermutlich schon im Ansatz fehlschlagen.

Als Ryon sie mitsamt Stuhl zu sich heran zog und sie schon wieder leicht berührte, strich Paige leicht über seinen Oberarm. Es tat ihr gut nah bei ihm zu sein. Aber noch mehr Wärme und ein inzwischen willkommen geheißener Klang erfüllten ihren Körper, wenn er sie von sich aus berühren wollte und es auch tat. So klein die Zuwendungen auch waren, es blieb etwas Besonderes, das Paige jedes Mal wie einen reinen Diamanten zu schätzten wusste.

Deshalb strich sie ihm auch durchs Haar, als er sich gegen ihr Bein lehnte und küsste seinen Nacken. Ihre Lippen lagen auch anschließend noch eine Weile auf seiner Haut, während Paige darüber nachdachte, wie sie weiter vorgehen sollten.

„Ich denke, dass wir nicht warten sollten, bis es dunkel wird, um uns der Hexe vorzustellen. So wie ich das sehe, liebt sie ihre Privatsphäre so sehr wie wir und ist Störenfrieden gegenüber sehr gut gewappnet. Was hältst du davon, wenn wir uns nach dem Mittagessen zu ihr aufmachen? Stärkung kann nicht schaden und außerdem wird es eine Weile dauern, bis wir ein anderes Transportmittel haben.“

Sie würde auch gern mit Ai sprechen und etwas Zeit mit Mia verbringen. Es kam Paige allmählich so vor, als hätte sie die beiden schon eine Ewigkeit nicht mehr zu Gesicht bekommen. Diese ganze Krisensituation, die nun bedenklich auf ihnen allen lastete, schien die Zeit für Paige ins Unermessliche zu dehnen. Gerade weil sie das Bedürfnis hatte, sich von der Sicherheit aller jede mögliche Minute zu überzeugen.

Ohne nachzudenken und auch ohne wirklichen Grund schlag Paige ihre Arme um Ryon und vergrub ihre Nase noch tiefer in seinem Haar, wo sie seinen Geruch tief einatmete.

„Keine Sorge...“

Mehr konnte sie nicht sagen. Aber es fühlte sich richtig an diese beiden Worte auszusprechen. Am liebsten hätte sie angefügt, dass sie sich darauf freuen wollte, irgendwann Zeit für Zweisamkeit und Dreisamkeit mit Mia zu haben. Das stimmte auch, aber dieser Gedanken war wie ein kleines, flackerndes Leuchten im Sturmwind der düsteren Gefühle und Gefahren, die noch im Weg standen. Trotzdem war Paige sicher, dass sie es schaffen würden.
 

Keine Sorge…

Es waren zwar nur Worte, doch dabei Paiges Berührungen zu fühlen, ihren Duft in seiner Nase und ihre Haut an seiner, das alles schien dadurch sehr viel realer zu sein, als die wirklich bedrohlichen Dinge um sie herum und solange er nicht vergaß, dass es auch solche gestohlenen Momente zwischen ihnen gab, gab ihm das Hoffnung.

„Ja, lass uns nach dem Mittagessen aufbrechen.“, war alles, was er dazu noch sagen konnte, ehe er erneut Paiges Gesicht ergriff und sie zärtlich küsste.

Wenn es schon gestohlene Momente waren, dann wollte er sie auch als solche nützen, um daraus Kraft zu schöpfen und das tat er. Mit jedem Wort von ihr, mit jeder Berührung, jedem Kuss und jeder zärtlichen Geste, fühlte er sich stärker.

Umso schwieriger war es, sich auch wieder voneinander zu trennen. Doch der Gedanke Mia zu sehen, war ein Trost dafür und außerdem musste er noch mit Tyler wegen der ‚Müllentsorgung‘ sprechen. Das wäre sicherlich nicht die erste Leiche in seiner Familie, die sein Freund schon diskret entsorgt hatte. Wenn er da so an die Geschichten über seinen Urgroßvaters dachte…

50. Kapitel

Der Wagen war nicht gerade das, was Ryon als geeignetes Transportmittel bezeichnet hätte, aber er tat wenigstens seinen Zweck, was die Unauffälligkeit anbelangte und zusätzlich hatte er noch ein paar verborgene Pferdestärken unter der Haube, was man anhand des rostigen Lacks und den diversen Beulen gar nicht vermuten würde. Das Ideale Gefährt für ihre Mission also. Trotzdem fehlte es Ryon an Euphorie.

Ganz im Gegenteil. Er war total verspannt und seine Sinne arbeiteten auf Hochtouren, weshalb er auch Paige hatte fahren lassen. Nicht nur, weil sie den Weg bereits kannte, sondern weil ihn das nur zu sehr von der Umgebung abgelenkt hätte, die er keine Sekunde lang aus den Augen ließ.

Weshalb er Paige auch bedeutete, dass sie kurz warten sollte, während er als erstes Ausstieg und die Eindrücke der relativ normal wirkenden Gegend in sich aufsog.

Kein verräterischer Geruch, keine seltsamen Geräusche, stattdessen herrschte fast schon so etwas wie Banalität an diesem Ort. Was aber vielleicht auch an den ersten Sonnenstrahlen liegen könnte, die sich durch die Wolkendecke kämpften und den Tag somit nicht mehr ganz so unfreundlich machten.

„Okay, alles in Ordnung.“, flüsterte er leise, ehe er die Beifahrertür vorsichtig zu schlug, als könne sie unter größerer Gewaltanwendung einfach abfallen. Der Gedanke war aber auch wirklich nicht abwegig.
 

Am liebsten hätte sie es seit ihrer Flucht vergessen, aber Paige fand den Weg zum Haus der Hexe ohne Probleme. Vor dem unangenehmen Zwischenfall war sie ja auch einige Male dort gewesen.

Während sich ihre Kiefermuskeln immer weiter anspannten, je näher sie der Straße kamen, die ihr Ziel war, konnte Paige auch Ryons Anspannung auf ihren Armen prickeln fühlen. Sie redeten nicht, sondern warfen nur immer wieder misstrauische Blicke nach allen Seiten.

'Warum macht dich das so fertig? Steckbriefe solltest du in deiner Branche auf die leichte Schulter nehmen.'

Hatte sie auch schon. Aber das hier war etwas Anderes. Es ging nicht darum, dass sie ein Händler oder ein Juwelier suchte, den sie beklaut hatte. Das hier war größer. Erschreckend groß sogar und etwas, das einem durchaus Kopfschmerzen und ein flaues Gefühl im Magen verursachen konnte. Vor allem, wenn man gerade dorthin zurück fuhr, wo man erst vor Kurzem um ein Haar erwischt worden war.

Daher hätte Ryon ihr gar nicht bedeuten müssen, kurz im Auto sitzen zu bleiben, während er sich umsah. Paige hielt das Lenkrad so fest umklammert, dass sie die Pause brauchte, um sich überhaupt bereits zu fühlen, sich aus dem Sitz und schließlich aus dem Wagen zu schälen.

Ihre Tür gab einen holprigen Laut von sich, als Paige sie zudrückte und den verbeulten hellgrauen Wagen absperrte, um anschließend Ryon zum Gartentürchen des Hauses zu führen.

Auf dem kleinen, auf Hochglanz polierten Klingelschild stand der Name „McAndrews“. Kein Vorname und Paige war sich auch nicht sicher, ob außer der Frau, die sie mehrmals gesehen hatte, noch weitere Personen hier lebten.

In Erinnerung daran, was passiert war, als die Dämonen hatten klingeln wollen, kam Paige Ryon zuvor, dessen Finger bereits über dem Klingelknopf schwebte und kniff ein Auge zu, während sie ihre Anwesenheit im Haus kundtat.

Nichts passierte. Kein Stromschlag, kein Schmerz, gar nichts. Was Paige erstaunt ihr Auge wieder öffnen und über den Garten sehen ließ.

„Ich kaufe nichts! Und eine neue Gemeinschaft, die mir Gott und die Welt näher bringt, brauche ich auch nicht! Verschwindet!“

Paige war instinktiv ein Stück vor der Gegensprechanlage zurück gezuckt und starrte nun die kleinen Schlitze in der Metallplatte an, aus der die Stimme gekommen war.

Wenn sie reagieren wollten, dann sollten sie es schnell tun. Doch dem kratzenden Geräusch der Impulse nach, war die Leitung noch offen.

„Mrs. McAndrews, wir wollen Ihnen nichts verkaufen, wir...“

„Mädchen, sie wären nicht die Erste, die einen Fuß in meine Tür kriegen will.“

Paige sah irritiert zu Ryon auf und ihre Lippen formten das erste Wort der Hexe mit einem zweifelnd fragenden Ausdruck nach. 'Mädchen?'

„Hören Sie, wir sind nur hier, weil wir mit Ihnen über ... Ihre nächtlichen Besucher sprechen wollen. Es...“

Es klackte und die Leitung war tot.

„Scheiße.“

Aber zu erwarten. Wenn die Dame anders mit irgendjemandem umgehen würde, der einfach so vor ihrer Tür auftauchte, wäre sie bestimmt schon eine von Boudiccas Schergen.
 

Es schien alles so vollkommen friedlich zu sein, dass es auf Ryon schon nicht mehr normal wirkte, obwohl er auch einfach nur paranoid geworden sein konnte, wenn man die kürzlich ereigneten Situationen mit einbezog. Aber wenn dem so war, dann ging es Paige wohl auch nicht gerade besser.

Nicht nur, dass sie ihm mit dem Klingeln zuerst kam, sie sah auch so aus, als wäre das ein Knopf, der den ganzen Vorgarten in die Luft jagen könnte, nur wüsste sie nicht, ob er tatsächlich funktionierte oder doch nicht.

Das darauf folgende Läuten im Haus war daher schon fast enttäuschend, aber auch irgendwie erleichternd. Genauso wie die darauf folgende Stimme.

Ryon konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen, als die Frau Paige als ‚Mädchen‘ bezeichnete. Sie hatte ja keine Ahnung!

Da er sowieso nichts anderes erwartet hätte, als die Tür vor der Nase zugeknallt zu bekommen, war er auch nicht großartig enttäuscht, dass genau das tatsächlich passierte.

„Und was jetzt?“, fragte er mehr in die Luft, als direkt an Paige gewandt.

„Ich meine, wir könnten es uns hier natürlich gemütlich machen und den ganzen Tag lang Sturmläuten, aber ob das was bringen würde…“

Er hatte wirklich keine Ahnung und bestimmt käme es auch gar nicht gut an, wenn er sich einfach Zugang zum Haus verschaffen würde, wobei er nicht einmal sicher war, dass ihm das gelingen würde. Immerhin hatte er noch immer nicht Paiges Reaktion auf den Klingelknopf vergessen. Vielleicht war der Vorgarten ja tatsächlich vermint.
 

„Hm...“

Paige sah sich das Gartentürchen und die Pfeiler an, in die die alten Scharniere eingelassen waren. Dabei erinnerte sie sich an ihre nächtlichen Überwachungsaktionen.

„Wer nicht wagt...“

So schnell, dass Ryon nicht reagieren konnte, griff Paige die obere Strebe des Türchens und schwang sich in einem Satz darüber. Mit beiden Füßen landete sie gleichzeitig fest auf einer der Steinplatten, die den Weg durch den weichen, noch grünen Rasen, zum Haus kennzeichneten.

Gerade wollte sich Paige mit einem Schulterzucken zu Ryon umdrehen, als ein Knacken sie erstarren ließ. Ihre Muskeln spannten sich an und wenige Schuppen schoben sich an Händen und in ihrem Nacken durch die menschliche Haut.

„Bringen Sie sich und Ihren Begleiter so unauffällig wie möglich zum Hintereingang bei der Terrasse. Sie wissen ja wo.“

Die Stimme der Hexe war weder erbost noch angespannt gewesen. Paige glaubte sogar so etwas wie unterdrückte Heiterkeit heraus gehört zu haben.

Weder verstand sie das, noch wollte sie im Moment darüber nachdenken. Schon gar nicht, wo sie im nächsten Moment ein Summen hören konnte, das die Gartentür entriegelte, damit Ryon sich nicht die für ihn kaum merkbare Mühe machen musste, ebenfalls über den Zaun zu springen.

„Eine Einladung?“

Natürlich war sie skeptisch. Aber mehr würden sie auf keinen Fall mehr bekommen. Die Chance mussten sie entweder jetzt nutzen oder sie bekamen nie wieder eine.
 

Am liebsten hätte er sie in der Luft noch eingefangen, als Paige einfach so über den Zaun sprang und absolut nichts passierte. Aber es hätte etwas passieren können, weshalb er nicht gerade glücklich über ihre Aktion war.

Das war im nächsten Moment aber auch schon vergessen, als er wieder die Stimme der Frau hören konnte, die offenbar ihre Meinung geändert hatte, was ihre Besucher betraf.

Kommentarlos ging Ryon durch die aufgeschwungene Tür, schloss sie wieder hinter sich und folgte Paige durch den Garten ums Haus herum. Offenbar schien sie wirklich zu wissen, wo es hin ging, obwohl ihm selbst alles Fremd war, weshalb er seine Wachsamkeit keine Sekunde lang fallen ließ.

Bei jedem noch so kleinen Geräusch zuckten seine Fingerspitzen und wenn jetzt jemand hinter ihn treten und ihn an der Schulter antippen würde, wäre derjenige vermutlich einen Kopf kürzer.

Ryon war total angespannt, auch wenn das vermutlich gar nicht nötig zu sein schien. Dennoch. Er konnte nicht leugnen, dass er sich hier draußen unwohl fühlte, wo sie für jeden ein gutes Ziel abgaben. Inklusive dieser McAndrews.
 

Rein die Tatsache, dass ihr auch in den Nächten, in denen sie sich über den Zaun geschwungen hatte, auf der Rasenfläche nichts passiert war, ließ Paige so ruhig bleiben, dass sie um das Haus herum gehen konnte, ohne sich in einen Feuerball zu verwandeln. Trotzdem war sie angespannt und wachsam. Außerdem half es ihrer Nervosität nicht wirklich, dass sie Ryons Schritte kaum hören konnte, obwohl er immer wieder dicht hinter oder sogar neben ihr auftauchte und sie damit erschreckte. Raubkatze hin oder her, im Moment wäre es ihr lieber gewesen, er wäre nicht ganz so auf leisen Sohlen geschlichen.

Vor ihm stieg sie die zwei Stufen zu der hölzernen Terrasse hoch, ging langsam und mit skeptischem Blick an dem Rankgitter für die Rosen vorbei, um dann unentschlossen neben der Tür zum Wohnzimmer stehen zu bleiben.

So weit sie das sehen konnte, bewegte sich im Inneren nichts.

„Kannst du was sehen?“

Ryons Sinne waren besser als ihre. Und so auf Hochstrom wie gerade jetzt, konnte er bestimmt eine Ameise in einem der trübseligen Blumenkübel husten hören.

Allerdings blieb ihm das erspart, als die Tür zur Seite geschoben wurde und eine Frau mit grauem Haar ihren Kopf heraus streckte. Sie sah die beiden Besucher mit funkelnden, aber durchaus nicht bösartigen Augen an und zog sich den bunten, weiten Schal fester um die Schultern.

„Na, kommen Sie schon rein. Hier draußen ist es zu kalt, um Tee zu trinken.“

Paige war von der Einladung so perplex, dass sie einfach folgte und keine Minute später in dem vollkommen überladenen, vollgestopften Wohnzimmer stand. Jede freie Fläche Wand war mit Bildern, Photos oder Masken aus verschiedenen Ländern und Kulturkreisen behängt. Dazwischen tummelten sich kleine Glasfigürchen, die wohl Elfen oder Kobolde darstellen sollten. Paige empfand das alles als hauptsächlich erschlagend.

Aber es passte in jedem Fall zu ihrer Gastgeberin, die sich gerade über ein filigranes Teetischchen gebeugt hatte, dessen Platte aus farbigem Glas zusammen gesetzt war.

Mrs. McAndrews goß – dem Geruch nach – Kräutertee in winzige, mit Mustern und Goldrand übersäte Teetassen und hob Paige eine davon entgegen, bevor sie auch Ryon eine reichte und sich dann selbst mit ihrer Tasse in der Hand auf das Sofa sinken ließ. Paige erkannte mit einem Blick, dass Ryon mit seiner Statur vermutlich von dem Möbel schier gefressen werden würde, wenn er es wagen sollte, sich in die wolkenweichen Kissen zu setzen.

Die Hexe schob sich eine graue Haarsträhne aus der Stirn, bevor sie nach einem Seufzer an ihrem Tee nippte.

„Ich dachte schon, dass Sie sich nie an meine Tür trauen würden, nachdem diese beiden Grobiane Sie bedroht haben.“

Paige musste bei der Wortwahl breit lächeln. Als 'Grobiane' hätte sie die beiden Dämonen wirklich nicht bezeichnet.
 

Das ging ihm zu leicht und war einfach zu sonderbar, als dass Ryon es nicht komisch hätte finden können, wie die Dame sie empfing. Kräutertee und ein warmes Wohnzimmer? Fehlten eindeutig nur noch die Plätzchen und das Teekränzchen wäre perfekt.

Ryon sträubten sich alle Nackenhärchen, als Mrs. McAndrews ihm eine wahnsinnig zerbrechlich erscheinende Teetasse, samt dazugehörigen Teller und Löffel in die Hand drückte. Ehe sie sich schließlich setzte und sofort einen eher lockeren Plauderton anschlug, obwohl für ihn das Thema durchaus sehr ernst war.

Noch immer schweigend, schnupperte er kurz unauffällig an seinem Tee, konnte aber nur eine angenehme Kräutermischung riechen. Dennoch stellte er die Tasse schließlich auf einem kleinen Beistelltischen neben einer Katzenglasfigur ab und versuchte sich mit seiner Größe so unauffällig wie möglich zu verhalten.

Was seine Meinung anging, hatte er hier definitiv eine Rolle als Aufpasser mit Lauschfunktion inne. Den Rest überließ er vertrauensvoll Paige.

Sie war vielleicht besser in solchen Dingen als er, weshalb er sich nach einer Weile an eines der Fenster stellte und wachsam hinaus blickte. Allerdings konnte er durchaus auch das Wohnzimmer in einer Spiegelung an einem Bild neben dem Fenster sehen. Besonders die ältere Frau ließ er nicht sehr oft aus den Augen.
 

Eigentlich hatte sich Paige tatsächlich auf den Rand des Sofas niederlassen wollen. Doch ein winziges Detail, ein Blick, den sie nur aus dem Augenwinkel bemerkt hatte, sorgte dafür, dass der Tee in der Tasse anfing intensiver zu dampfen.

Der interessierte und auf irgendeine Art für Paige triumphierend wirkende Blick hatte nicht ihr selbst gegolten. Mrs. McAndrews hatte über ihre kleine Teetasse hinweg Ryon angesehen. Nicht einmal ihn als Person, sondern einen Punkt, der nur kurz unterhalb seines Hemdkragens lag.

Paiges Muskeln verkrampften sich und sie musste sich dazu zwingen in einem Sessel Platz zu nehmen, der nicht ganz so flauschig aussah wie das Sofa und außerdem näher an der Terrassentür stand. Näher am Fluchtweg, wie es ihr verkam.

„Mrs. McAndrews, nicht nur deshalb, weil sie mich erkannt haben, möchte ich mich für den Hausfriedensbruch entschuldigen. Ich hätte nicht einfach auf Ihrem Grundstück herumschleichen dürfen.“

Endlich stellte Paige den Tee auf dem Couchtisch auf einem der gehäkelten Untersetzer ab, um dann die Hände in ihrem Schoß zu verschränken und auf eine mögliche Antwort ihres Gegenübers zu warten.

„Naja, meine Liebe, wären Sie anders vorgegangen, hätte ich nicht sofort gewusst, dass Sie eigentlich nicht gekommen sind, um mir zu schaden.“

Die alte Frau zwinkerte Paige zu und nahm noch einen Schluck Tee.

„Wie Sie bestimmt aus der Reaktion der beiden ungebetenen Herren entnehmen konnten, weiß mein Grundstück mich sehr wohl zu schützen. Nicht jeder, der herein möchte, kommt auch über die magische Grenze.“

Sie redete also zumindest nicht um den heißen Brei herum. Das konnte ihnen allen hier nur von Nutzen sein. Paige nickte und erlaubte sich zum ersten Mal nach deren Blick auf Ryon von der Hexe weg zu sehen und den Raum ein wenig auf sich wirklich zu lassen.

Sie hätte es vielleicht bleiben lassen sollen. Denn bereits im nächsten Moment hatte sie das Gefühl die Wände könnten unter der Last des Kitsches einfach einstürzen und sie alle darunter begraben. Da konzentrierte sie sich lieber auf das Gespräch, das Ryon anscheinend ihr allein übertragen hatte. Ob er sich noch unwohler fühlte, als Paige selbst? Allmählich wurde es ihr nämlich schon zu warm hier drin und wenn sie da an Ägypten dachte...

„Dann sehen Sie uns beide nicht als Bedrohung an?“

Ein winziges Lachen, das besser zu einem Schulmädchen als zu der Frau mit dem grauen Dutt gepasst hätte, ließ Paige erstaunt die Augenbrauen hochziehen.

„Ach, Mädchen, natürlich nicht. Würde ich Sie und ihren eisig schweigenden Begleiter sonst herein bitten und Ihnen meinen besten Kräutertee anbieten? Auch wenn er Ihnen offensichtlich nicht zusagt.“

Der letzte Satz hörte sich so an, als hätte die Jugend einfach keinen Sinn mehr für Werte wie gemütliches Beisammensitzen bei Tee und Keksen.
 

„Ich trinke grundsätzlich nur meine eigene Mischung.“, gab Ryon zu seinem Besten, ohne sich umzudrehen. Eisiger Begleiter, ja? Die Frau hatte anscheinend absolut keine Ahnung. Außerdem würde er hier nicht einmal etwas trinken, wenn es nur nach Wasser riechen würde. Es gab zu viele geruchlose Gifte, als dass er sich einfach so bei fremden Leuten bedienen würde, selbst wenn sie einen noch so … ‚harmlosen‘ Eindruck machten.

Wobei eine Frau mit so gut geschütztem Vorgarten sicherlich nicht absolut harmlos sein konnte und wenn Boudicca es auch auf sie abgesehen hatte, musste sie einen gewissen Wert für die Hexenmeisterin haben. Mit einer einfachen Kräuterhexe wäre es nämlich nicht einfach getan.

„Was die beiden ungebetenen ‚Herren‘ anging, würde mich wirklich interessieren, weshalb Sie nicht so sehr von ihnen angetan waren. Ich nehme nicht an, dass es sich hierbei um einfache Bibelforscher gehandelt hat?“

Garantiert nicht. Denn wenn sogar Paige das kalte Grausen bekam, dann hieß das Alarmstufe Rot. Allein der Gedanke daran, was ihr alles hätte passieren können, ließ seine Unterkiefer aufeinander krachen. Wenn er diese verdammten Bastarde in die Finger bekam, würde er ihnen entweder ordentlich die Haut vom Knochen ziehen, oder bei dem Versuch drauf gehen.

Aber vorerst kehrten seine Gedanken wieder in die Gegenwart und in das völlig überladene Wohnzimmer zurück. War hier eine Kitschbombe explodiert?
 

Paige hätte am liebsten die kleine Tasse in einem Feuerball explodieren lassen!

Eisig? Was ließ sich diese dahergelaufene Hexe denn bitte einfallen. Er war nicht...

"Ich trinke grundsätzlich nur meine eigene Mischung."

Ihr Blick zuckte nervös zu Ryons Rücken hinüber. Ihr Herz schlug ihr auf einmal bis zum Hals und sie wusste leider nur allzu genau, warum das so war. Es war einfach noch zu frisch, um keine plötzliche Panik mehr in ihr auslösen zu können. Paige kannte Ryons warme Seite, lernte sie jede Minute des Tages aufs Neue kennen und freute sich sehr daran. Aber dennoch war es noch mehr als ein Staubkörnchen in ihrem Verstand, das sie davor warnte, es könnte sich schnell wieder ändern. Die Eiseskälte in den bodenlosen, schwarzen Augen könnte zurück kehren.

Mit einem winzigen Kopfschütteln holte sie sich zurück in die Gegenwart und versuchte dem minimalen Gespräch zuzuhören, das sich im Raum abspielte.

Ryons Frage war mehr als angebracht. Umso interessierter blickte Paige in das Gesicht der alten Hexe, das sich überlegend runzelte.

"Wie ich bereits andeutete, habe ich Mittel und Wege, meine Freunde von meinen Feinden zu unterscheiden. Die beiden Dämonen - wir wollen das Kind doch beim Namen nennen - waren eindeutig Letzteres. Hätten sie sonst..."

Sie sah Paige fragend an und hielt ihre Hand in einer Geste vor sich hin, dessen Bedeutung die jüngere Frau nur allzu gut verstand.

"Fe. Nennen Sie mich einfach Fe."

"Also gut. Warum hätten diese Dämonen also Fe angreifen sollen, wenn sie einfach nur nach einer Adresse hätten fragen wollen. Nein, nein, ich kann sehr wohl erkennen, wenn jemand mir etwas Böses will."

Sie nahm einen großen Schluck Tee, der die kleine Tasse erstaunlicher Weise nicht leeren konnte und sah dann zwischen Paige und Ryon hin und her, bevor sie fortfuhr.

"Außerdem waren es in gewissem Sinne doch so etwas wie Vertreter. Und die kann ich nicht leiden. Egal, ob menschlich oder nicht."

"Was wollten sie Ihnen denn andrehen?"

Paige hatte gefragt, ohne auch nur eine Sekunde auf Denken zu verschwenden. Wenn die Hexe dabei war, ihr Herz auszuschütten, dann sollte man die Kuh melken, solange sie Milch gab.

"Eine Mitgliedschaft."

Die Worte hätte sie genauso gut auf den Boden ausspucken können, so viel Gift enthielten sie.

"Mitgliedschaft?", fragte Paige leise nach, um den Schwall an Informationen bloß nicht versiegen zu lassen.

"Der Zirkel ist immer noch auf Mitgliederfang. Ich denke, dass wissen Sie beide auch. Und das dürfte meiner Vermutung nach auch der Grund für Ihren Besuch sein. Haben Sie mir etwas Besseres anzubieten?"
 

Ryon hatte dem Wortabtausch einige Zeitlang schweigend zugehört, bis er sich schließlich bei der letzten Frage der Hexe dazu entschied, sich herum zu drehen, um sie direkt ansehen zu können, wobei er jedoch nun seine anderen Sinne nach draußen richtete, anstatt umgekehrt, wie vorhin noch.

Mit verschränkten Armen vor der Brust sah er im Augenblick wirklich nicht besonders warmherzig aus, aber er war nun einmal skeptisch und angespannt. Immerhin befand er sich hier mit Paige in einem fremden Terrain und das behagte ihm ganz und gar nicht. Er hätte sie gerne in Sicherheit gewusst, aber dass der beste Schutz ihn nicht davor retten konnte, etwas so Bedeutendes wie diese Frau zu verlieren, war ihm nun durchaus klar. Weshalb er sie lieber bei sich wusste, um wenigstens in ihrer Nähe zu sein, wenn die Welt untergehen sollte.

„Nun, wir haben zwar keine Clubjacken, besonderen Rabatte und gruselige Aufnahmerituale. Aber dafür verschwinden bei uns nicht einfach Personen und tauchen nie wieder auf. Wir akzeptieren auch ein ‚Nein‘, ohne weiter nachzubohren und was wohl noch wichtiger ist, bei uns gibt es Vertrauen und nicht diese herzlose Vorgehensweise, in dem man nicht mehr ist als ein Bauer in einem Schachspiel, den man leicht austauschen kann, wenn er fällt. Mich wundert es überhaupt nicht, dass der Zirkel immer noch auf Mitgliedersuche ist, bei dem Verschleiß, den sie haben.“

Ryon schnaubte bei dem Gedanken und schüttelte kurz mit gesenktem Blick den Kopf, ehe er die alte Frau wieder fixierte, mit der ganzen Kraft seines Raubtierblickes.

„Und was macht Sie so wertvoll für den Zirkel, dass die schon vor Ihrer Haustür übernachten? So köstlich er auch riecht, Ihr Kräutertee alleine kann es wohl nicht sein.“
 

Paige war beinahe irritiert über Ryons Offenheit und nicht mehr ganz unterdrückte Aggressivität. Es hätte sie schon gar nicht mehr gewundert, wenn er die Frau, die wirklich nicht nach viel mehr aussah als nach einer alten Dame, auch noch angeknurrt hätte. Und Paige hätte ihm beigepflichtet. Auch wenn sie nicht recht in Worte fassen konnte, warum. Aber diese Hexe war ihr nicht geheuer. Unter anderem vor allem deshalb, weil sie wirklich noch nicht wussten, was sie für Kräfte besaß und jede Sekunde gegen sie wenden konnte.

„Der Zirkel will mich aus dem gleichen Grund rekrutierten, wie sie beide...“

Wieder ein seelenruhiger Schluck Tee.

Allmählich konnte Paige ein ungeduldiges Jucken auf ihren Unterarmen spüren. Warum rückte sie nicht ganz mit der Sprache heraus, wenn sie schon mehr oder weniger anfing auszupacken?

„Es geht nicht im Geringsten darum, was, sondern wen ich bieten kann, mein Lieber.“

Paiges flammende Hände zogen eine helle Spur durch die Luft. Nur Millimeter an irgendetwas Brennbarem vorbei, was es in diesem Zimmer überall gab. Die beiden Frauen waren zum exakt gleichen Zeitpunkt aufgesprungen. Allein Paiges Altersvorteil hatte sie es zu verdanken, dass sie sich noch vor Ryon hatte aufbauen können, bevor die Hexe ganz auf die Beine kam.

Mit ausgebreiteten Armen und einem Blick, der kaum weniger flammte als ihre Finger, funkelte sie die Alte kampflustig an.

„Wenn Sie nicht die absolut richtige Antwort auf den Lippen haben, Gnädigste, dann werd ich Ihnen den Kitsch von den Wänden brennen.“

Der Blick war wieder da gewesen. Genau in dem Moment, als die Hexe ihre Worte ausgesprochen hatte, waren ihre Augen zu Ryon gewandert. Eindeutig dort hin, wo das Amulett unter seiner Kleidung verborgen lag. Ein Fehler. Paige würde dieses Weib nur über ihre eigene Leiche an Ryon heran lassen!

„Feuer...“ Die Frau sah Paige mit einer Miene an, die besagte, dass sie deren Natur nicht vollkommen überraschte.

„Das erklärt, warum Sie solche Angst vor den beiden hatten..:“

Ein schwarzer Fleck entstand an der Decke, als Schuppen Paiges Gesicht überzogen und ihre Haut und Haare vor Wut in die Höhe loderten.

„Ich...“

„Sie – reagieren gerade völlig übertrieben. Ich möchte nicht an das Amulett, wie Sie bestimmt annehmen. Und ich entschuldige mich sogar dafür, dass ich diesen Eindruck erweckt habe. Würden Sie bitte damit aufhören, mein Wohnzimmer anzukohlen...“
 

Es ging alles so schnell, dass Ryon es gerade noch so verhindern konnte, sich zu wandeln. Er war ohnehin schon angespannt gewesen, aber als Paige zu brennen anfing und die beiden Frauen dann auch noch gleichzeitig aufsprangen, da wäre seine Selbstbeherrschung beinahe in die Brüche gegangen.

Auch jetzt noch, da Paige lodern zwischen ihm und der Alten stand, ging sein Atem keuchend, er war in eine leicht gebeugte Haltung gegangen, als hatte er zum Sprung ansetzen wollen und seine Krallen krümmten sich nicht nur bloß zur Warnung. Dennoch beruhigte er sich langsam wieder etwas. Einer musste hier ruhig bleiben und zugleich gefiel es ihm gar nicht, dass sich Paige schützend vor ihm gestellt hatte.

Nicht, dass er an ihrer Stärke zweifeln würde, aber so wie sie ihn beschützen wollte, lag ihm ihr wohl mehr am Herzen, als sein eigenes. Niemals würde er sie als Schutzschild haben wollen.

„Paige…“, hauchte er ihr leise zu, so dass nur sie es hören konnte, wenn überhaupt, während er ihr eine krallenbesetzte Hand mit zärtlicher Geste auf die Taille legte, um sie zu beruhigen. Es hatte keinen Sinn, hier alles in Flammen zu setzen, solange sie noch im Gebäude waren, doch zugleich fixierte er die alte Frau auch weiterhin aus Raubtieraugen.

„Ich würde vorschlagen, Sie kommen endlich zur Sache. Meine-“ Ryon zögerte. Das Wort brannte ihm schier auf der Zunge und er wollte es sogar aussprechen, doch es war zu früh und gewiss nicht der passende Moment dafür und zugleich wären alle anderen Synonyme dafür nur minderwertig, also ließ er den Satz fallen.

„Wir sind verständlicherweise beide nicht mehr sehr geduldig, wenn Sie das überhaupt verstehen können.“
 

Die Welt hätte in diesem Moment untergehen und die Alte hätte sich mit einem Dolch direkt auf sie stürzen können. Paige hätte sich dennoch nur ein wenig gestrafft. Ihre Ohren glühten unter den Flammen, die allein nach Ryons sanfter Berührung kleiner geworden waren. Ihre Augen hatten sich überrascht geweitet und jede Faser ihres Körpers und vor allem auch jeder Winkel ihres Herzens wartete, was nach dem 'Meine' kommen würde. Schon ein "Freundin" wäre mehr gewesen, als sie sich erhoffte.

Dennoch war Paige nicht enttäuscht, als er gar nichts sagte. Jetzt an Definitionen zu denken, war wirklich fehl am Platz. Immerhin hatte sie sich mit dieser Hexe herum zu schlagen, der sie immer weniger über den Weg traute. Deshalb würde sie ihre Position vor Ryon auch nicht aufgeben, solange die Alte nicht erklärt hatte, auf welcher Seite sie nun stand.

"Ob Sie es glauben oder nicht. Ich verstehe sogar sehr gut. Ich weiß, wer Sie sind."

Die alte Frau sah Ryon an und lächelte. Zumindest das glaubte ihr Paige ohne mit der Wimper zu zucken.

"Und ich weiß, dass Sie der Hüter des Amuletts sind. Was bedeutet, dass wir uns gegenseitig helfen können. Bevor mich ihre Begleiterin unterbrochen hat..."

Paige ließ ein winziges Zischen hören, bevor sie ihre Hände löschte. Allerdings überzogen immer noch Schuppen ihren Körper. Sie war jederzeit bereit diese Schnepfe zu grillen, wenn sie nur einen falschen Schritt machte.

"Wollte ich sagen, dass der Zirkel mich deshalb haben will, weil ich nicht allein bin. Es gibt eine weitere Gemeinschaft von Hexen. Allerdings welche, die gegen Boudicca vorgehen und ihr das Handwerk legen will."

Die Hexe sah Ryon so tief in die Augen, dass Paige die Hände sinken ließ. Es fühlte sich so an, als wäre sie aus dem Gespräch oder sogar aus dem Raum verschwunden, während die alte Frau ihren Satz aussprach.

"Es sind schon zu viele gute Hexen umsonst gestorben."
 

Von Augenblick zu Augenbick wurde Ryon immer unwohler in seiner Haut, so als würde die schützende Schicht ihn ganz und gar nicht mehr beschützen, sondern seine Nerven offen vor ihnen liegen.

Die Hexe kannte ihn? Und woher wusste sie von dem Amulett? Außerdem … Hüter?

Ryon war verwirrt und das nicht zuletzt deswegen, weil diese alte Frau offenbar mehr wusste, als er und Paige zusammen, was dieses verfluchte Schmuckstück anging, sondern weil ihr zuletzt ausgesprochener Satz mehr zu beinhalten schien, als bloß die offenkundigen Worte.

Obwohl er sich nichts anmerken ließ, zitterten seine Finger leicht an Paiges Taille und unwillkürlich zog er sie näher an sich heran, nachdem sie zu brennen aufgehört hatte und seine Krallen wieder eingefahren waren

Aber selbst wenn sie noch immer in Flammen gestanden hätte, wäre sein Handeln nicht anders gewesen. Er brauchte dringend Paiges Nähe. Dringender noch als er Luft zum Atmen brauchte.

„Wie können wir uns gegenseitig helfen und vor allem, was wissen Sie über das Amulett?“

Ryon fand nur langsam seine Sprache wieder, während sein Daumen sich im Schutz von Paiges Rücken unter ihr Oberteil schob, um direkt ihre Haut berühren zu können. Die vielen bereits gefallenen Hexen erwähnte er erst gar nicht. Sie alle wussten, dass schon zu viele gestorben waren. Nicht nur Hexen.

Erdung … er musste sich erden. Nur so konnte er auch weiterhin halbwegs ruhig bleiben. Das Thema behagte ihm ganz und gar nicht, also trat er einen Schritt vor, dichter an Paige heran und ließ seine Hand hinter ihrem Rücken ganz unter ihr Oberteil wandern, um sie auf ihre Wirbelsäule zu legen und mit den Fingerspitzen darüber zu streichen.

Die Berührung tat seine Wirkung auf der Stelle. Seine Muskeln begannen sich etwas zu lockern und er konnte wieder freier Atmen.
 

"Mir wäre es lieber, wenn wir uns alle wieder setzen würden. Wie Sie sehen, bin ich im Gegensatz zu Ihnen beiden nicht mehr so jung und fit..."

Als wolle sie ihre Worte noch unterstreichen, ließ die Hexe sich mit einem kleinen Ächzen auf das Sofa zurück sinken und sah mit einem ernsten Gesichtsausdruck zu ihnen auf.

"Jedem in World Underneath ist Ihr Gesicht inzwischen bekannt. Wenn auch die Wenigsten wissen, warum Sie tatsächlich gesucht werden."

Sie machte es sich auf der Couch bequem und Paige hatte einen Moment, Ryons Berührung an ihrem Rücken wahrzunehmen. Seine warmen Finger auf ihrer Wirbelsäule und seine Gegenwart so nah hinter ihr.

Das war auch nötiger, als ihm selbst bestimmt bewusst war, als die nächsten Sätze der Hexe Paige fast im wörtlichen Sinne den Boden unter den Füßen wegzogen.

"Ich habe zwar nicht Marlene persönlich, aber ihren Zirkel gekannt. Gute Frauen, die sich um das Richtige bemüht haben."

Ein warmes Lächeln, das allein Ryon und seiner Vergangenheit galt und Paige unwillkürlich die Nackenhaare zu Berge stehen ließ. Sie wollte nicht, aber eine Feder in ihr schien sich anzuspannen. Dabei half es vielleich sogar, dass die Frau einfach weiter sprach ohne auch nur auf eine Reaktion zu achten oder darauf zu warten.

"Sie hat sich damals nach einem Schutzgegenstand erkundigt und in dem Amulett gefunden, was sie gesucht hatte."

Ein Schluck Tee, der Paige dazu brachte, eine kleine Feuerkugel zwischen ihren Fingerspitzen zu zerdrücken. Konnte diese Frau nicht zur Sache kommen? Schnell und so schmerzlos es ging. Dabei war Letzteres bereits ein verlorenes Spiel.

"Dass sie damit nicht nur den Schutz für Sie, sondern gleichzeitig auch den Hüter für das Schmuckstück gefunden hatte, wusste sie nicht. Das haben auch wir erst nach Marlenes Tod heraus gefunden. Und da waren Sie bereits... von der Bildfläche verschwunden."
 

Ryon versteifte sich bei dem Gesagten. Da half es auch nicht, dass er sich an Paige fest hielt. Dazu hätte er ihr noch viel näher sein müssen, um das alles einfach so über sich ergehen lassen zu können, ohne einen unbändigen Drang zur Flucht zu verspüren. Die Alte zwang ihn mit ihren so harmlos dahin gesagten Worten förmlich in die Knie, wenn auch nicht im praktischen Sinne übertragen.

Gut, er hatte sich bereits sehr viel mit Marlenes Tod und den damit verbundenen Gefühlen auseinander gesetzt, aber etwas aus dem Mund einer Fremden über sie zu hören, war noch zu viel, als dass es ihn hätte kalt lassen können und dann auch noch in Paiges Anwesenheit. Er spürte nur zu deutlich, dass nicht nur er sich immer unwohler in seiner Haut zu fühlen begann, weshalb er Paige schließlich direkt an sich zog und einen Moment sein Haupt beugte, um ihren Duft in sich einsaugen zu können. Das gab ihm die nötige Kraft, dem Blick der alten Hexe stand zu halten.

„Kommen Sie endlich zur Sache, anstatt in Erinnerungen zu schwelgen.“ Sein Knurren war kaum unverhohlen. Aber war es ihm zu verdenken?

„Ich versteh nicht, was es mit diesem Hüter auf sich haben soll und wenn wir schon dabei sind, würde es mich interessieren, was Sie und ihr Zirkel dazu beisteuern können, gegen Boudicca anzugehen. Überleben alleine wird in diesem Fall ja leider nicht ausreichen.“
 

Erstaunen zeigte sich im Blick der Hexe, als Ryon so deutlich reagierte. Und anscheinend so anders, als sie es erwartet hatte. Auch Paige war überrascht. Aber mehr darüber, dass Ryon sie an sich heran zog. Bei der Erwähnung von Marlene und davon, was sie für ihn getan hatte, hätte Paige Körperkontakt von ihm am wenigsten erwartet.

"Um Ihnen alles über das Amulett und die Rolle des Hüters zu erklären, müsste ich noch einmal aufstehen. Ich hoffe, diesmal werden sie nicht derart in Feuer aufgehen."

"Keine Sorge..."

Paige trat sogar einen Schritt zur Seite. Allerdings nur so weit, dass sie sich nicht von Ryon lösen musste, der seinen Arm um ihren Bauch geschlungen hatte und nicht so wirkte, als wolle er sie demnächst loslassen.

Die Hexe trat an eine Kommode heran, zog langsam eine der Schubladen heraus und entnahm ihr ein Kästchen, in dem verschiedene Papiere und auch Fotos lagen. Einige davon legte die alte Frau auf dem Couchtisch aus, nachdem sie sich wieder gesetzt hatte.

Ihre Stimme klang auf einmal weicher. Als würde sie ihren Enkeln ein altes Märchen erzählen.

"Das Amulett ist nur eines von zwei Teilen. Seine Aufgabe ist es, Gutes zu verstärken und den Träger zu schützen. Es hat auch noch andere Aufgaben und Kräfte. Aber über alles sind wir uns auch noch nicht im Klaren. Es ist allerdings so, dass es nicht nur schützt, sondern auch geschützt werden muss. Damit seine Kräfte nicht in falsche Hände fallen."

Nun verdüsterte sich der Blick der Hexe merklich, bevor sie weiter sprach.

"In unserem Fall sind diese falschen Hände diejenigen, von dieser Schreckschraube Boudicca. Sie will das Amulett dafür benutzen, eine alte, böse Kraft zu befreien und sich zur obersten Macht von Menschen und Übernatürlichem aufzuschwingen. Sie war noch nie ganz richtig im Kopf."

Etwas, das Paige sich vorstellen konnte, was die Sache aber nicht leichter machte. Zumal sie sich des Eindrucks nicht mehr länger erwehren konnte, dass ihre Gastgeberin die Wahrheit sagte. Immerhin würde der Altar mit dem Schloß in Ägypten dafür sprechen. Dass etwas eingesperrt war... Der dunkel Schatten, der an der Wand dargestellt gewesen war.

Eiskalt lief es Paige den Rücken hinunter. Ryon musste es selbst durch seine Kleidung spüren, da war sich Paige sicher. Ihre Instinkte standen auf Flucht. Wäre da nicht die Hoffnung gewesen, dass sie tatsächlich so etwas wie Verbündete gefunden hatten.

"Zurück zur zweiten Frage. Wie glauben Sie im Kampf gegen Boudicca und ihr Gefolge helfen zu können?"

Die Oberlippe der Hexe kräuselte sich zu einem erfreuten Lächeln.

"Mädchen, Geduld ist offenbar wirklich nicht Ihre Stärke."

"Da haben Sie verdammt recht. Also rücken Sie endlich raus mit der Sprache, bevor ich mein bisschen Beherrschung doch noch verliere."

Wie konnte sie eine einzige Person mit so wenigen Worten bloß so in Rage bringen?

"Der kleine Trick mit der Schutzmauer ist nicht das Einzige, was ich vermag. Und der Zirkel besteht aus sehr starken Hexen. Wir wollen alle verhindern, dass Boudicca noch länger ihr Unwesen treibt und dass ihr Wahnsinn noch mehr Opfer fordert. Ich denke, das sollte schon fast genug sein, oder nicht?"
 

Dieses Mal schwieg Ryon und mischte sich nicht ein, stattdessen begann sein Kopf zu arbeiten.

Er wusste, dass die alte Frau nicht log, denn eine Lüge hätte er sofort gewittert, andererseits konnte er sich immer noch nicht vorstellen, dass sein Amulett auch nur irgendetwas für ihn tat, außer ihm Unglück zu bringen. Weder war er deshalb stärker noch sonst irgendwie im Vorteil gewesen, wenn er sich mit irgendjemanden angelegt hatte.

Gerade der Vorfall mit dem Werwolf war noch frisch genug, um zu wissen, dass das Schmuckstück ihm nicht beigestanden hatte. Ryon war trotz allem verletzt worden und nur knapp einer Niederlage entkommen. Nein, das Teil sah nur hübsch aus, blieb für ihn jedoch immer noch einfach nur nutzlos. Aber darüber hätten sie wohl noch bis in die Nacht hinein streiten können und darauf hatte er keine Lust.

Zumindest der Rest der Erzählung schien sich mit den Dingen zu decken, die Paige bereits in Ägypten hatte heraus finden können und als ihr Körper unter seiner Berührung förmlich erzitterte, tauchte vor seinem inneren Auge wieder die Szenerie in der Badewanne auf.

Bevor das Grauen von damals ihn erneut packen konnte, schob er den Gedanken beiseite. Dieser Schatten oder dieses böse Etwas hatte Paige nicht länger in seiner Gewalt und würde es hoffentlich auch nie wieder tun.

„Allein der Wille zu überleben, wäre schon genug gewesen.“, fügte Ryon nun deutlich ruhiger an, während sich seine Muskeln wieder entspannt hatten. Die Aufmerksamkeit auf ihre derzeitige Lage anstatt auf die Vergangenheit zu richten, war ihm tausendmal lieber und das war auch deutlich spürbar.

„Wir wollen offensichtlich alle das Gleiche und im Grunde ist es mir egal, was es mit diesem Amulett auf sich hat. Ich will nur, dass diese Frau endlich von der Bildfläche verschwindet, aber zu zweit sind wir dazu nicht in der Lage. Wäre Ihr Zirkel bereit, sich mit uns zusammen zu tun?“

Das war hier für ihn die grundlegendste Frage und zugleich auch der Grund für ihren Besuch. Sie konnten natürlich noch bis Ende nie quatschen, aber es wäre sinnlos, wenn diese Frauen ein Bündnis mit ihnen ablehnen würden. Darum wollte er endlich zum wahren Grund ihres Besuchs kommen. Den Rest konnten sie immer noch besprechen, wenn zumindest einmal dieser Punkt geklärt war.
 

Paige war es nicht recht, dass Ryon vor dieser Hexe ihre Schwäche eingestand. Nein, sie konnten gegen Boudicca nicht allein ankommen. Genau deshalb waren sie ja hier. Aber dennoch kam es schon einer kleinen Niederlage gleich, es so direkt zuzugeben.

Aber es schien die richtige Taktik gewesen zu sein, wie das Lächeln der alten Frau zeigte. Als hätte sie auf diese Frage nur gewartet, stand sie erneut auf. Was Paige dazu brachte, sich wieder ein Stück vor Ryon zu schieben und ihre Schuppen über ihre gesamten Finger ziehen zu lassen. Noch war sie von dem guten Willen und der lichten Natur des Zirkels nicht völlig überzeugt. Immerhin konnte es auch nur einer von Boudiccas Tricks sein, um endlich an Ryon und das Amulett heran zu kommen. Allerdings war da irgendetwas, das ihr die Skepsis ein wenig nahm. Vielleicht einfach nur Ryons Wille der Frau zu glauben? Denn so wirkte es. Und Paige mochte der Hexe nicht vertrauen, aber Ryons Instikten glaubte sie umso mehr.

"Natürlich werden wir mit Ihnen zusammen arbeiten. Nur allzu gern. Immerhin ist Boudicca nicht nur eine Bedrohung für unsereins, sondern das ganze Gleichgewicht zwischen den Menschen und unserer Welt. Und ich mag sie einfach nicht."

Ein Zwinkern, das Paige fast ein Stöhnen entlockte. Sie wollte hier weg. Hatten sie jetzt nicht, was sie wollten?

Das wiederum brachte sie auf einen anderen Gedanken.

"Ich weiß, dass ich hier meine Karte als Schwarzer Peter bloß wieder ausspiele, aber ... was verlangen Sie von uns, wenn Sie uns helfen?"

Nun wirkte die ältere Frau beleidigt. Paige tat das nicht leid, da ihr die Hexe wirklich auf die Nerven ging. Dass man ihr alles aus der Nase ziehen musste. Wenn sie nun noch einmal das Amulett erwähnte, würde Paige zumindest diese pink gewandete Minielfe an der gegenüberliegenden Wand zum Schmelzen bringen.

"Wir möchten nur, dass die Schwestern, die zum Übertritt gezwungen wurden, ohne jegliche Schrammen aus diesem Zirkel heraus kommen. Sie wurden manipuliert oder gezwungen und verdienen es nicht, noch weiter Opfer des Ganzen zu werden."
 

Der Wunsch der Hexe versetzte ihm einen Stich mitten ins Herz. Erinnerte es ihn doch daran, dass auch viele von Marlenes Zirkel und Freundinnen auf die ein oder andere Weise zu Boudicca gewechselt waren und bestimmt nicht alle freiwillig. Allerdings war Alice wohl zu erfahren gewesen und bereits in ihrer Persönlichkeit zu gefestigt, um sich noch manipulieren zu lassen. Ein Grund, warum die beste Freundin seiner Gefährtin hatte sterben müssen.

Nein, wenn es sich vermeiden ließ, sollte so wenig Blut wie möglich vergossen werden. Erst recht, wenn darunter unschuldiges war.

„Es dürfte wohl klar sein, dass wir keine absolute Garantie dafür geben können, aber es liegt auch in unserem Interesse, so wenig Unschuldige in diese Sache hinein zu ziehen, wie es uns möglich ist.“

Sich selbst beruhigend, streichelte Ryons Daumen über Paiges Bauch, während er die Hexe keine Sekunde lang aus den Augen ließ. Die Atmosphäre hatte sich zwar merklich entspannt, aber er konnte es kaum abwarten, die Kurve zu kratzen. Das alles war mehr, als seine angespannten Nerven für einen Tag verdauen konnten, ohne dass er sich irgendwie hatte abreagieren können. Noch mehr Überraschungen und er würde einfach explodieren.

„Wann wäre es möglich, mit dem gesammelten Zirkel zu sprechen?“ Bevor er auch nur in Betracht zog, über irgendwelche Vorgehensweisen zu debattieren, wollte er erst einmal wissen, wer ihnen alles den Rücken stärken sollte. Mit einer gewissen Vertrauensbasis als Grundlage war ein Aufbruch in den Kampf sicherlich nicht verkehrt. Und zugleich war seine Frage hoffentlich auch ein dezenter Wink mit dem Zaunpfahl, dass sie bald aufbrechen würden.

51. Kapitel

Paige starrte auf die Straße hinaus, folgte dem Verlauf aber mehr automatisch, während ihre Gedanken zu dem Gespräch zurück wanderten. Nach Ryons Frage war es fast so schnell zu Ende gewesen, wie Paige es sich gewünscht hatte. Der Zirkel traf sich in letzter Zeit alle paar Tage, um den Schutz für die einzelnen Mitglieder zu erneuern und dafür zu sorgen, dass sich Nachrichten schnell genug verbreiteten. Außerdem lag ihre Stärke in ihrer Gemeinschaft. Allein konnte ein Dämon oder auch zwei eine der Hexen leicht einschüchtern oder anders überwältigen. Egal wie stark ihr Wille war, sich gegen den bösen Zirkel zu wehren. Oder wie stark ihre Kräfte.

Paige hatte am eigenen Leib erfahren, wie beängstigend es sein konnte, auf gleich zwei seiner größten Feinde zu stoßen. Dass sie damals feige die Flucht ergriffen hatte, tat ihr jetzt, da sie wusste, dass sie von dieser McAndrews dabei beobachtet worden war, noch mehr Leid, als zuvor.

An einer roten Ampel wagte sie einen Blick zu Ryon hinüber, der aus dem Fenster sah und die ganze Fahrt über genauso wenig gesagt hatte, wie sie selbst.

Paige konnte sich nur zu gut denken, warum das so war. Sie schluckte einen Seufzer hinunter und drückte stattdessen kurz sein Knie, bevor die Ampel auf Grün sprang und sie weiter fahren konnten.

Es musste ihn mitgenommen haben. Die Erwähnung Marlenes. Und dann auch noch im Zusammenhang mit dem Amulett, das er inzwischen von Herzen zu verabscheuen schien. Und in einem Atemzug mit dem Tod anderer Hexen und ihrem eigenen. Selbst Paige war dabei ganz anders geworden, obwohl sie die Frau gar nicht persönlich gekannt hatte.

Sie wollte Ryon einfach nur nach Hause bringen und ihm irgendetwas Gutes tun. Allein Mias Gegenwart sollte ihn ein wenig aufbauen können. Und ein gutes Abendessen...

"Ich weiß, dass es wahrscheinlich doof klingt, aber..."

Sie warf ihm einen warmen Blick zu, bevor sie sich wieder auf's Fahren konzentrierte.

"Jetzt, da das Wohnzimmer Tylers Reich ist... Wir könnten tatsächlich einen Fernseher mit ins Schlafzimmer nehmen und uns heute vor dem Schlafengehen ein paar Cartoons ansehen. Mit Mia."

Als sie es ausgesprochen hatte, fiel ihr erst auf, wie unpassend der Vorschlag wirken musste. Nach dem, was sie gerade erfahren hatten und was noch alles besprochen werden musste.

"Ich meine das nicht so, dass..."

Diesmal klang das tiefe Luftholen wirklich mehr wie ein Seufzen.

"Ich habe nicht vor das von eben zu ignorieren. Wir müssen uns Gedanken darüber machen. Aber... Es kommt mir nur so vor, als könnte auch ein wenig Ablenkung und so etwas wie Batterien aufladen nicht schaden?"

Es war seine Entscheidung. Vielleicht wollte er auch lieber allein sein, barfuß durch den Wald rennen und seine Anspannung an seinen Muskeln auslassen. Sie würde ihn nicht aufhalte.

"Das ist nur das, was mir hilft. Wenn du lieber etwas Anderes tun möchtest..."

Langsam bog sie in den Feldweg ein, den ihr Ryon heute erst gezeigt hatte und der von der anderen Seite zum Haus führte. Es war eindeutig zu gefährlich nach so kurzer Zeit die gewohnte Route zu nehmen. Mal ganz davon abgesehen, dass Paiges Finger drohten am Lenkrad zu zittern, wenn sie nur an das Autowrack im Graben dachte.
 

Obwohl sie das Haus der alten Hexe schon seit einigen Minuten verlassen hatten, worüber Ryon wirklich sehr froh war, hingen seine Gedanken immer noch dort herum und waren bei dem, was gesagt worden war.

Eigentlich sollte er froh darüber sein, dass sie offenbar Verbündete gefunden hatten, aber irgendwie konnte er sich des Gefühls nicht erwehren, dass dadurch alles nur noch realer wurde, als es ohnehin schon war und das fühlte sich nicht sehr gut an.

Sie waren mitten im Krieg.

Paiges flüchtige Berührung holte ihn etwas aus seinen finsteren Gedanken zurück, wofür er ihr ein winziges Lächeln schenkte, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder mehr oder weniger auf die Landschaft vor dem Fenster richtete.

Als sie zu sprechen begann, zuckten seine Ohren in tierischer Manier wachsam und er richtete sich etwas in seinem Sitz auf, um ihr zuzuhören.

Cartoons waren nie sein Fall gewesen, aber das galt für Fernsehen im Allgemeinen und er wollte absolut nicht etwas ablehnen, das Paige gefiel, ohne es nicht zumindest vorher ausprobiert zu haben. Ryon verstand sogar sehr gut ihr Bedürfnis, den Abend so banal wie möglich zu gestalten. Weit weg von den düsteren Gedanken und Gefühlen, die ohnehin ihr Herz nie ganz verlassen würden.

„Klingt verlockend.“

Nun war es an Ryon, Paige eine Hand auf ihren Oberschenkel zu legen und sie von der Seite her anzusehen. Er war auf jeden Fall dabei, auch wenn er vor dem Abendessen noch eine Sache für sich erledigen musste. Denn gemütlich vor dem Fernseher liegen war nur dann für ihn drin, wenn er sich auch so fühlte. Im Augenblick war er total angespannt, stand unter Strom und allgemein befand sich sein Körper eher im Kriegszustand als im Kuschelmodus. In diesem Fall half nur eines: Dauerlauf oder Sex.

Letzteres wäre sicherlich nicht verkehrt, weil er bereits bei der alten Hexe das starke Bedürfnis verspürt hatte, Paige nahe zu sein.

Mochte es nun daran liegen, dass er irgendeine Verbindung zu seiner Familie brauchte, um in diesen Augenblicken Ruhe daraus zu gewinnen, oder die Erinnerung daran, was er alles verlieren könnte und bereits verloren hatte. Das war im Grunde egal.

Paige nicht bei sich zu haben, war ein unerträglicher Gedanke und umso dringlicher war das Gefühl, die Bande mit ihr ständig zu erneuern. Selbst wenn es nur eine zarte Berührung war.

Kein Wunder also, dass er sie in der Garage noch einmal zurück hielt, nachdem sie ausgestiegen waren. Den Moment der Ungestörtheit ausnutzend, schlang er seine Arme um sie und küsste sanft seitlich ihren Hals.

„Ich wäre dir auf Ewig verbunden, wenn du für ein Abendessen sorgen könntest, während ich eine Runde ums … Grundstück drehe.“, flüsterte er fast schon sinnlich schnurrend. Eine Runde ums Haus wäre definitiv nicht ausreichend genug gewesen. Außerdem wollte er noch einmal sicher gehen, dass nicht noch weitere fremde Spuren an der Grenze entlang hinzu gekommen waren. Danach würde er auf jeden Fall besser schlafen.
 

Paiges Augen schlossen sich sofort, als sie Ryons Nähe spürte und seinen vertrauten Geruch in der Sicherheit dieser Umgebung riechen konnte. Sie holte genussvoll einmal tief Luft, um Ryons Umarmung und seinen Kuss auf ihren Hals zu genießen. Zufrieden schlang sie ihre Arme um seinen Körper und sah ihm in die goldenen Augen, als er sich wieder von ihrem Hals gelöst hatte.

Mit einem Lächeln legte sie ihre Lippen kurz auf seine, bevor sie sich losmachte. Am liebsten hätte sie weiter gemacht, anstatt ihn draußen in der Kälte herum laufen zu lassen.

"Geht klar. Aber lass' dir nicht zu lange Zeit, ja?"

Mit einem Zwinkern und einem Kniff in seinen Hintern drehte sie ihm den Rücken zu, um ins Haus zu gehen und Ryons Wunsch nachzugehen. Ein Essen würde ihr selbst nicht schlecht tun. Und der Geruch von Kräutertee, der ihr eigentlich in Zusammenhang mit der Hexe die Schleimhäute hatte verätzen müssen, machte ihr eher Lust auf eine Kanne des warmen Getränks. Mit Honig und ein paar Keksen.

Aber schon als sie die Tür zum Flur öffnete, schlug ihr ein Duft entgegen, der besagte, dass es noch ganz andere Köstlichkeiten als schnöde Kekse zum Abendessen geben würde. Wenn sie es richtig einschätzte, roch es angenehm nach Braten und ... vielleicht gebackenes Gemüse?

Die Duftwölkchen zogen sie noch in Jacke und Straßenschuhen zur Küchentür, die sie ein Stück öffnete, um bloß den Kopf in den warmen, hellen Raum zu stecken.

"Fe!"

Wie Mia sie so schnell hatte entdecken können, war Paige schleierhaft. Aber das Mädchen krabbelte unter Ryons Stuhl am Kopfende des Tisches hervor sofort auf sie zu und wollte hochgehoben werden, was Paige auch herzlich gerne tat.

"Hallo Mia. Na, alles klar bei dir?"

"Fe, klar.", meinte die kleine mit einem breiten Lächeln.

"Na, dann ist's ja gut. Ryon kommt auch gleich. Er ist noch ein bisschen draußen. Herumrennen."

Mia folgte Paiges Erklärung spätestens nach der Erwähnung von Ryons Namen mit größtem Interesse. Das Wort 'Herumrennen' schien es ihr besonders angetan zu haben, weil sie immer noch auf Paiges Lippen sah, während sie versuchte die neue Vokabel irgendwie mit 'Katse' in einen ihrer kurzen Sätze zu packen. Es war seltsam, aber Paige hatte das Gefühl, dass das Mädchen allein in den paar Wochen, die sie hier war, sehr große Fortschritte gemacht hatte. Sie mochte vielleicht nicht so weit sein, wie ein anderes Kind in ihrem Alter, aber an Begeisterung und Bemühen lag das sicher nicht.

"Hallo."

Ai hatte ihre Zeitschrift zur Seite gelegt und sah nun Paige mit einem glitzernden Lächeln an. Es lag so etwas wie Erleichterung darin, auch wenn Paige das regelrecht irritierte. Zumindest für den ersten Moment.

Seit Tyler für ihre Freundin so wichtig geworden war, hatte Paige kaum noch Zeit mit ihr verbracht oder solche Gespräche geführt, wie sie es früher ständig getan hatten. Sie verbrachten einfach keine Zeit mehr zusammen im Bett mit Buttertoast und Früchtetee. Da wäre es einfacher gewesen, auf dem Laufenden zu bleiben. Wenn man daran dachte, was allein in den vergangenen paar Stunden passiert und gesprochen worden war, konnte Paige nachvollziehen, dass Ai sich Sorgen machte, sobald die Freunde das Haus verließen. Immerhin hieß es in Ryons und Paiges Fall meistens, dass sie sich der im Dunkeln drohend lauernden Gefahr aus freien Stücken bloß noch weiter näherten.

"Habt ihr Fortschritte gemacht?", war die unverblümte Frage, die Paige gestellt wurde, während sie versuchte, Mia auf ihrem Schoß zu halten und gleichzeitig aus ihrer Jacke zu kommen.

"Kann man so sagen. Aber als großen Erfolg können wir es erst Übermorgen werten. Dann treffen wir uns mit ein paar Leuten, die uns vermutlich unterstützen können. Verbündete, könnte man sagen."

Etwas, das Ais Miene aufhellte und daher auch Paige ein Lächeln entlockte. Wenn man es recht bedachte, hörte es sich doch wirklich positiv an. Verbündete. Vielleicht keine Armee. Aber ein paar Hexen, um ihnen den Rücken zu stärken. Das war sehr viel besser als Nichts!
 

Eine Sekunde länger und er wäre über Paige hergefallen. Er hätte sie gepackt, sie auf die immer noch warme Motorhaube des Wagens gelegt und ihr die Klamotten mit gezielten Bewegungen vom Leib gefetzt, während er sich an sie gedrückt und leidenschaftlich und fast schon animalisch geküsst hätte. Ein kurzes Vorspiel mit anschließendem Ausdauertest für die Handbremse des Wagens.

Paige ließ von ihm ab, kniff ihm in den Hintern und verschwand dann mit einem Zwinkern im Haus. Sie hatte offenbar keine Ahnung, warum er sie nicht von sich aus auf die Lippen geküsst hatte.

Beherrschung war schon wirklich eine Sache für sich. Selbst jahrelanges Üben konnte mit der richtigen Motivation einfach in einer Sekunde auf die andere hinweg gewischt werden.

Ryon atmete tief ein und aus, während er sich sein Hemd aufknöpfte und es anschließend samt seiner restlichen Kleidung auszog. Kaum, dass er die Tür nach draußen geöffnet und die kühlende Abendluft ihn eingehüllt hatte, lief er auf allen Vieren los.

Absichtlich schlich er noch einmal an der Küche vorbei, nur um zu sehen, ob Paige auch gut dort angekommen war.

Sie zusammen mit Mia zu erblicken, ließ seinen Brustkorb anschwellen und ihn lautstark schnurren, ehe er mit einem für einen Tiger zufriedenen Gesichtsausdruck im Dunklen verschwand und sich auf den Weg machte, um seine ganzen angestauten Energien in gute Bahnen zu lenken.
 

Er hechelte angestrengt, selbst als er sich in seine menschliche Form zurück verwandelte. Jeder seiner Muskeln war warm, geschmeidig und zitterte vor wohliger Anstrengung, während er sich seine Kleidung schnappte und sich rasch wieder anzog.

Schon als er erneut an der Küche vorbei geschlichen war, dieses Mal näher, um auf das bereits fertige Essen spähen zu können, hatte sein Magen voller Vorfreude geknurrt, doch statt sofort in die Küche zu gehen, machte er noch einen Abstecher ins verbotene Territorium von Tyler, um den Plasmafernseher aus dem Wohnzimmer zu holen, der zum Glück nichts abgekommen hatte.

Das Teil war mit seiner Größe nicht nur unhandlich sondern auch merklich schwerer, als man ihm zutrauen würde, aber es war trotzdem kein Problem, ihn in Paiges Zimmer zu verfrachten und dort auf einer Kommode ab zu stellen.

Ryon richtete noch die Programme neu ein, damit es nach dem Essen sofort los gehen konnte. Danach ging er erst einmal frische und leichte Klamotten für sich holen und in seinem Zimmer duschen.

Eine bequeme Trainingshose in rot und dazu ein schwarzes Shirt – er erwärmte sich langsam für diese Kleidungsstücke – und dem Essen stand nun nichts mehr im Wege.
 

Leise, wie auf Samtpfoten schob er seine große Hand in die viel zu klein wirkende Plastiktüte, schaffte es aber, sich mehrere Gummibärchen zu schnappen, ohne ein zu lautes Knistern zu verursachen.

Ohne von dem Fernseher wegzusehen, zerteilte er ein grünes Gummibärchen in der Mitte und schob es Mia vorsichtig in den bereits weit geöffneten Mund, die sich sehr über seine Fütterungstechnik zu freuen schien, während ihre Augen ebenfalls auf der Mattscheibe hängen geblieben waren. Sie kicherte immer wieder leise. Ob nun wegen des Cartoons oder etwas anderem, das konnte er nicht sagen.

Zu Beginn ihres Kinoabends hatte er es noch gewagt, Fragen bezüglich des laufenden Cartoons zu stellen und seine beiden Ladys waren netterweise bereit gewesen, sie ihm auch geduldig zu beantworten.

Jetzt wusste er zumindest, dass der komische Vogel ‚Roadrunner‘ hieß und auch wenn er immer noch nicht schnallte, weshalb der dürre Coyote hinter dem Gefieder her war, so war es doch immer wieder lustig, wie er selbst in seine eigenen Fallen ging. Schade, dass das nicht auch im wirklichen Leben so ablief. Da gewann leider nicht immer nur das Gute.

Mit einem leisen Schnurren, um den Fernseher nicht zu übertönen, legte Ryon seinen Kopf auf Paiges Schulter, während sein Arm, den er um sie geschlungen hatte, immer wieder unbewusst ihre Seite auf und ab streichelte.

Mia hatten sie zwischen ihre beiden Körper verfrachtet, so dass sie eher auf ihnen beiden lag und da Ryon bei seiner Größe noch genügend Ablagefläche zu bieten hatte, lagen auch diverse Tüten voll Süßigkeiten auf ihm herum, um für jeden Geschmack etwas hergeben zu können.

Nach einer Weile schloss Ryon die Augen.

Nicht etwa aus Müdigkeit, sondern weil er sein eigenes Glück nicht fassen konnte. Es war so banal und dennoch, hier zusammen mit den beiden wichtigsten Menschen in einem Bett zu liegen, sie so dich bei sich zu haben, dass er jeden Augenblick etwas von ihnen berührte, das war einfach … unglaublich.

So etwas hatte er noch nie erleben können. Umso mehr hoffte er, dass das keine einmalige Gelegenheit blieb.

Erst als Mia wieder an seiner Hand zupfte, um weiter wie ein kleiner Vogel gefüttert zu werden, bekam er wieder etwas von den Cartoons mit, die er für einen langen Moment vollkommen ausgeblendet hatte.

Er seufzte zufrieden und schob seinem kleinen Sonnenschein ein durchsichtiges Gummibärchen in den Mund und musste unwillkürlich kichern, als sie ihm neckisch und sanft in den Finger biss und dann fragend zu ihm hoch sah. Als müsse sie erst abschätzen, wie er darauf reagierte. Ein kurzer Blick auf sein lächelndes Gesicht und sie fing ebenfalls zu kichern an.

Wie wahnsinnig gut das tat, ließ sich auf keiner Skala der Welt messen.
 

Mit einem Kuss auf seinen Kopf, wandte Paige sich kurz Ryon zu, dessen Aufmerksamkeit aber keine Sekunde später wieder von Mia gefordert wurde. Die beiden waren einfach zu süß, um wahr zu sein. Vor allem das überraschende, gemeinsame Kichern, ließ Paiges Herz regelrecht stolpern, bevor es freudig und laut weiter schlug.

Sie selbst ließ den Gummibärchenvorrat unangetastet und nahm sich stattdessen ein Schokocrossy, um es sich in den Mund zu schieben. Es knurpste so auffällig, als sie die Süßigkeit zerkaute, dass Mia mit großen Augen zu ihr hochsah. Bei dem irritierten und dann schon fast strafenden Blick, weil sie es wagte, so einen Krach zu machen, musste Paige lachen.

„Entschuldige, Sonnenschein. Aber es ist eine DVD. Ich kann zurück spulen, wenn du möchtest.“

Mit einem Arm schob sie die wieder lächelnde Mia ein Stück auf ihren eigenen Bauch, damit sie selbst noch näher an Ryon heran rücken konnte. Dabei lag sie bereits jetzt schon in seinem Arm und spielte unter der Decke mit ihren Zehen immer wieder mit seinen. Es war einfach noch nicht genug. Wäre es möglich und gleichzeitig nicht vollkommen unnötig gewesen, sie hätte ihn am liebsten genauso auf sich gezogen, wie sie es mit der kleinen Mia getan hatte.

Der flimmernde Fernseher in dem sonst bis auf eine gedimmte Stehlampe dunklen Zimmer, ihr Riesenvorrat an Süßigkeiten auf Ryons Bauch und sie alle gemeinsam unter der Decke... Paige hätte heulen können, vor Glück. Genau so hatte sie sich das immer in ihren kühnsten Träumen vorgestellt. Wenn sie es denn gewagt hatte, sich eine derartige Szene im Zusammenhang mit ihrer eigenen Zukunft überhaupt vorzustellen. Es war einfach so irrwitzig perfekt, dass es ihr fast Angst machte. Mehr Angst davor, dass das Luftschloss jeden Moment platzen könnte, als dass es möglich war, an zu viel Wohlbefinden zu Grunde zu gehen.

Mit immer noch klopfendem Herzen streichelte sie Mia über den warmen Bauch, was das Mädchen dazu brachte noch einmal zu kichern und sich mit ihrer kleinen Hand an Paiges Fingern fest zu halten, bevor sie noch vor Lachen von ihrem Bauch kullerte. Was weder Paige noch Ryon jemals zugelassen hätten.

Er hatte sich bereits ein Stückchen nach vorn gelehnt. So weit, dass Paige sich gar nicht anstrengen musste, um ihm einen Kuss auf den Mundwinkel zu geben.

Sie versank in seinen goldenen Augen, als er sie aus dem Augenwinkel heraus ansah.

Der Satz prickelte ihr auf der Zungenspitze. Nicht nur deshalb, weil sie seine Haut noch immer auf ihren Lippen schmecken konnte. Auch nicht, weil sie diese wunderbare Dreisamkeit mit Mia vollkommen aus ihrem emotionalen Schneckenhaus zerrte ... sondern weil er es wissen sollte.

Vielleicht mochte es zu früh sein und in ihrer gemeinsamen Situation auch nicht richtig. Aber Paige hatte das Gefühl, platzen zu müssen, wenn sie nicht mit dem heraus rückte, was ihr vor wenigen Momenten mit einer Deutlichkeit klar geworden war, die sie von den Füßen gerissen hätte, wenn sie nicht schon gelegen wäre.

Mit gesenkten Lidern schmiegte Paige ihren Nasenrücken und dann ihre Wange an die von Ryon. Ihre Lippen waren ganz nah an seinem Ohr...

„Katse!“

Beide zuckten auf Mias Schrei hin zusammen und Paige hatte das Gefühl, ihr bereits überfordertes Herz müsse auf der Stelle aus ihrem Brustkorb springen. Sie sah Mia und dann Ryon an, bloß um ihre Aufmerksamkeit dann wieder auf das Mädchen zu richten. Die Kleine deutete mit einem Finger auf die Packung mit Gummibärchen und sah Ryon mit einem so auffordernden Blick an, dass Paige erneut in Lachen ausbrach.

„Na, da hast du ihr aber was beigebracht.“

Sie konnte Mia nicht böse sein. Und wenn Paige es recht bedachte... Sie hatte noch viel Zeit, um es ihm zu sagen.
 

Sein Herz klopfte immer schneller, während er Paiges Nasenrücken und Wange an seinem Gesicht spürte, wie sie sich an ihn schmiegte, nachdem sie ihm einen Kuss auf den Mundwinkel gegeben und ihn mit ihren dunklen Augen angesehen hatte. Irgendetwas lag in der Luft, so deutlich, dass alles an ihm Kribbelte und der Cartoon in weite Ferne rückte, doch gerade, als er ganz in diesem Gefühl abtauchen wollte, riss Mia ihn wieder zurück in die Realität.

Eigentlich hätte er böse sein müssen, aber er war es nicht. Denn sie war ebenfalls einer der Gründe dafür, weshalb er sich im Augenblick so behaglich fühlte, als würde er in einem wunderbaren Traum leben.

„Vielleicht bringe ich ihr mal das Apportieren bei, wenn sie schon so gelehrig ist.“, scherzte er leise, ehe er Mia noch ein Gummibärchen in den Mund schob und ihr dann durch die blonden Locken wuschelte.

Er würde ihr niemals so einen Blödsinn beibringen, noch dazu, wo sie anscheinend sehr intelligent war und viel Besseres aus ihrem Leben machen konnte. Schon jetzt hatten ihre Fähigkeiten gewaltig zugenommen, was vielleicht daran lag, dass sie hier volle Aufmerksamkeit bekam und nicht wie im Waisenhaus in einer Masse aus Kindern unterging.

Der Gedanke, sie dorthin wieder zurück zu bringen, begann mehr und mehr unwirkliche Ausmaße anzunehmen. Er könnte sich genauso gut das Herz heraus schneiden und fort geben. Aber zum Glück musste er sich im Augenblick keine Gedanken darüber machen. Sie war hier und das würde sich auch noch lange nicht ändern.

Zur Sicherheit schob er Mia noch ein Gummibärchen in den Mund, um etwas Zeit zu gewinnen, ehe er seine Zehen mit denen von Paige verhakte und seinen Kopf zu ihr herum drehte.

Erst schmiegte er sich an ihrer Wange, wie sie es zuvor noch getan hatte. Darauf folgte ein sachtes Streifen seiner Lippen über ihre Haut, ehe er ihr einen zärtlichen Kuss auf den Mund hauchte, den er aber nicht abbrach, sondern langsam intensiver gestaltete, während seine Augen Paige keine Sekunde lang frei gaben.

Sofort schaltete sein Herz in den nächsten Gang und er spürte, wie prickelndes Adrenalin seine Bauchraumgegend durchflutete.

Sanft neckend nahm er Paiges Unterlippe zwischen seine Zähne und leckte mit seiner Zungenspitze darüber, ehe er sie wieder frei gab und lautlos lächelte. Mia hatte voller Konzentration schon wieder in seinen Finger gebissen, anstatt das Gummibärchen zu bearbeiten.

Doch kaum, dass sie sich der Verwechslung bewusst wurde und sich nun tatsächlich mit dem Fruchtgummi beschäftigte, erlosch Ryons Lächeln wieder und wurde zu etwas anderem. Einem sanft drängendem Hunger, der nichts mit Süßigkeiten zu tun hatte und wohl niemals ganz versiegen würde, egal wie satt er war.

Seine Gedanken in der Garage fielen ihm in diesem Augenblick wieder ein und brachten ihn dazu, seinen Blick zu senken, während sein Mund Paiges Kinn entlang strich und sanft mit ihrer köstlich schmeckenden Haut spielte.

Es reizte ihn nahezu, ihr seine Gedanken mitzuteilen, aber andererseits, konnte man die Hungerattacke von vorhin nicht mit diesem Gefühl von jetzt vergleichen.

Ryon war entspannt, er war gelassen, locker und eher in Stimmung für ausgiebiges Räkeln und umgarnen, spielerisches anpirschen, um den Appetit anzugregen und dann wieder genussvolles Zurückziehen, um die Erwartung zu steigern. Was auch nicht verkehrt war, denn Mia machte noch nicht den Eindruck, als würde sie Müde werden, aber das würde schon noch kommen. Zumindest was ihr Verlangen nach Gummibärchen anging, ließ es schon nach und sie war auch weit nicht mehr so hibbelig, wie noch am Anfang der DVD.
 

Wenn er dachte, sie könne in dem kurzen Blick nicht lesen, wonach ihm der Sinn stand, dann hatte sich Ryon aber gehörig geschnitten. Er hätte genauso gut drei hell blinkende Buchstaben auf der Stirn tragen können. Denn obwohl er recht schnell die Augen senkte, konnte sie das Flackern seiner goldenen Augen unter den Wimpern sehen.

Vielleicht lag die Deutlichkeit, mit der Paige das wahrnahm aber auch daran, dass er bei ihr nicht auf taube Ohren stieß. Der Kuss hatte es in Paiges Innerem gehörig Knistern lassen.

Wäre Mia nicht gewesen, hätte sie den Tanz nur zu gerne feuriger gestaltet. Sie hatte sowieso das Gefühl, seine Haut, seine Zunge und vielerlei Farben seines Körpers schon viel zu lange nicht mehr geschmeckt zu haben!

Aber vor Kinderaugen war etwas Anstand geboten.

Mit einem leicht hinterhältigen Funkeln in ihren Augen, beschloss Paige, dass 'etwas' ein dehnbarer Begriff war. Sie würde nichts tun, was Mias unschuldigen Geist verderben könnte, aber ein wenig Necken war sicher drin. Außerdem hatte Ryon angefangen.

Ihre freie Hand, die bis jetzt nur ab und zu damit beschäftigt gewesen war, etwas von dem Süßkram zu erhaschen, wanderte unter die Decke und auf Ryons Bauch. Zwar musste sich Paige dafür etwas verrenken, aber das konnte sie nicht davon abhalten, sein Shirt ein Stück nach oben zu ziehen und mit ihren Fingern über seine nackte Haut zu streicheln. Langsam fuhr sie die Konturen seiner Muskeln nach, die sich unter ihrer Berührung leicht festigten und zusammen zogen. Konnte es sein, dass Ryon ein wenig kitzelig war?

Mit einem vielsagenden Lächeln sah sie Ryon fest in die Augen, während ihr Zeigefinger den Rand seiner Hose entlang streifte. Kurz und nur ein einziges Mal tauchte sie unter den Stoff, bevor sie die Hand wieder hervor zog und sie auf die Decke legte.

Die Show des Roadrunner war gerade zu Ende und Bugs Bunny kam ins Bild, was Mia mit einem missbilligenden Geplapper quittierte.

„Wie du vielleicht merkst, steht der Hase nicht gerade sonderlich weit oben auf der Beliebtheitsskala. Ich glaube, er quatscht Mia zu viel.“

Mit Schwung griff Paige das kleine Mädchen unter den Armen und hob sie hoch, um ihre Beine unter ihr hervor und aus dem Bett zu schwingen.

„Und, wen sollen wir als nächstes ansehen?“

Mit wenigen Schritten ging sie um das Bett herum, bückte sich zu dem Stapel DVDs und zog zwei heraus, die sie Mia und Ryon dann zur Entscheidung hoch hielt.

„Micky Maus oder Pink Panther?“
 

Er war zwar darauf vorbereitet, dass gleich irgendetwas passieren würde, weil er das Funkeln in Paiges Augen nicht missverstehen konnte, dennoch zuckte er unmerklich zusammen, als ihre Hand sich unter die Decke und seinem Shirt schlich, um mit streichelnden Bewegungen seinen Bauch zu berühren.

Mit prickelnder Anspannung sah er ihr so unbekümmert wie möglich in die Augen, um die Szenerie oberhalb der Bettdecke so gelassen wie möglich zu halten, während er das kurze Abtauchen von Paiges Hand in seiner Hose alles andere als gelassen sah.

Ein kurzes Zittern seiner Atmung, war alles, was er sich anmerken ließ, ehe Paige auch schon richtig feststellte, dass Mia kein Fan von Bugs Bunny war. Er ebenso wenig. Das bemerkte er schon auf den ersten Blick.

Während Paige also aus dem Bett kletterte, um ihnen eine neue Wahl an Cartoons vorzustellen, setzte Ryon Mia auf seinen Schoß und richtete sich auf, nachdem er eine Tüte nach der anderen von sich herunter sortiert hatte.

Kurz wechselte er mit Mia fragende Blicke, bis sie sich einstimmig für Pink Panther entschieden. Welche Maus konnte schon interessanter als eine Raubkatze sein? Da war die Wahl nicht allzu schwer.

Die DVD war schnell eingelegt und schon kam das wahre Objekt seiner geheimen Interessen wieder zu ihnen ins Bett geklettert.

Es war schon seltsam, wie nahtlos sie sich wieder ineinander kuschelten, als hätten sie das schon tausendmal geübt. Paige in seinem Arm, er teilweise an sie gelehnt und mitten drin die kleine Mia, die leicht zur Titelmusik von Pink Panther auf und ab wippte, ehe sie gespannt der angenehmen Erzählstimme zuhörte.

Ryon bekam nicht einmal das erste Wort davon mit, stattdessen richtete er seine volle Aufmerksamkeit wieder auf Paige und dieser hinreisenden geschwungenen Unterlippe, die regelrecht dazu einlud, sich an ihr zu laben.

Während er sie keinen Moment aus den Augen ließ und dabei mit einem gewissen Lächeln immer wieder zu ihren Lippen hinab wanderte, tastete sich seine Hand wieder nach der Gummibärchentüte und legte seine angefüllte Hand dann so vor Mia, damit sie sich selbst bedienen konnte, sofern sie es wollte.

Seine andere hingegen, wanderte nun Paiges Beispiel von vorhin folgend unter die Decke, ihre Seite entlang, zu dem dünnen Stoff, der ihren Oberschenkel bedeckte, über den er streichelte.

„Fühlt sich gut an.“, flüsterte er ihr so leise zu, dass nur sie es hören konnte, genauso wie das anschließende Schnurren, das voll und ganz von seiner männlichen und zugleich menschlichen Seite herkam.
 

Nicht beim bekannten und mitreißenden Titellied von Pink Panther zu summen, war bereits eine große Aufgabe. Vor allem, da Mia sogar im Takt in die kleinen Händchen klatschte, um sich dann fasziniert über den farbigen Kater nach vorn zu beugen.

Aber was als Nächstes kam, forderte noch mehr von Paiges Selbstbeherrschung. Ryons Arm um ihren Rücken und seine streichelnden Finger auf ihrem Oberschenkel waren noch nicht einmal annähernd so aufstachelnd, wie seine geflüsterten Worte und sein Schnurren. Es zeigte ihr nur umso mehr, dass das hier nur ein kleines Spielchen war, das sich ausweiten würde, sobald der lauschige DVD-Abend zu dritt beendet war.

Außerdem war es eine unausgesprochene Herausforderung.

Ryon zeigte ihr, dass der Tiger auf sie wartete. Darauf, dass sie ihn ein bisschen lockte, mit ihm spielte und dem Mann dabei Spaß und Freude bereitete. Was sie nur allzu gerne tun würde. Aber erst, wenn das Schlafzimmer Kleinkind freie Zone war.

Ihre Lippen streiften nur leicht seine Wange, während sie sich noch mehr an ihn kuschelte.

„Das finde ich auch.“

Was genau sie damit meinte, konnte er sich selbst zusammen reimen. Denn sie meinte tatsächlich beides. Das Zusammen sein, das ihr so viel Freude machte und ihr Innerstes vor Glück vibrieren ließ. Genauso wie Ryons Fingerspitzen und sein viel sagender Blick, den sie nur zu gern erwiderte.
 

Noch eine halbe Stunde Pink Panther hatte sie durchgehalten, bis Mia zuerst von einem und dann von einer ganzen Reihe von Gähnen geschüttelt wurde. Ihre Augen waren bereits ganz rot und sie lehnte sich schon leicht auf die Seite gedreht gegen Ryons Oberkörper. Es würde nicht mehr lange dauern, bis sie auf seinem Bauch einfach einschlief. Und ihre Müdigkeit und der fast schon verzweifelte Kampf dagegen griffen um sich.

Paige fühlte sich bei dem Anblick selbst schon völlig matt und erschöpft. Auf das rosa Raubtier im Fernseher konnte sie sich kaum noch konzentrieren.

Sanft schlang sie einen Arm um das kleine Mädchen, drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und sah sie mit warmen Augen an.

„Was meinst du, Mia? Sollen wir 'Gute Nacht' sagen? Sollen wir dich ins Bett bringen?“

Statt einer Antwort streckte das Mädchen nur ihre Ärmchen nach Paige aus und drückte sich mit einem weiteren Gähnen in deren Arme.

„Das ist Antwort genug, hm? Ich bring sie ins Bett.“

Ganz dicht an Mias Ohr flüsterte sie der Kleinen etwas zu. Gespannt wartete sie ab, wie das Mädchen reagieren würde und konnte ein breites Lächeln nicht unterdrücken, als Mia sich noch einmal von ihr löste, mit müden Augen Ryon ansah und ihm einen extrem nassen Kuss auf die Wange gab.

„Katse, Nacht.“, erklang es noch ganz leise, bevor Paige sich mit Mia erhob und sie in ihr Kinderzimmer brachte.

Dort zog sie den bereits fast eingeschlafen Sonnenschein um, legte Mia ins Bett und sang ihr noch ein kurzes Lied vor, bevor sie ihr noch einen Kuss gab, das Babyfon einschaltete und das Empfänger-Lamm mit sich ins Schlafzimmer zu Ryon zurück nahm.

Der saß scheinbar immer noch so im Bett, wie sie ihn dort zurück gelassen hatten. Allerdings war der Fernseher inzwischen ausgeschaltet und die unglaubliche Menge an angebrochenen Tüten voller Süßigkeiten lag in einem mehr oder weniger ordentlichen Stapel auf dem Fußboden neben dem Bett.

52. Kapitel

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

53. Kapitel

Ein warmes Farbspektrum hüllte sie ein. Orange, gelb und Rottöne streichelten über ihre Haut, legten sich auf ihre Gesicht und ihre Zunge. Mit geöffneten Lippen wagte sie sich ein Stück vor, ließ ihre gespaltene Zunge über die Ursache dieser Wunderwelt an Farben streichen.

Die Töne veränderten sich. Fast unmerklich aber doch so, dass Paige sich in der neuen Note wand. Ihr Körper schmiegte sich an, wollte gefallen und noch andere Farben und Geschmäcker hervor rufen...

Erschrocken über sich selbst riss Paige die Augen auf. Ihre Lippen lagen direkt unter Ryons Ohrläppchen, ihr Atem schlug heiß gegen seine Haut und sie konnte sogar mit offenen Augen sehen, wie sich sein Duft um sie wand.

Genauso wie sich ihr Körper als Reaktion darauf um ihn geschlungen hatte. Mit einem Bein hatte sie seine Oberschenkel in Beschlag genommen, ihre Körpermitte fest an die Außenseite seiner Hüfte gedrückt. Aber nicht nur das. Sie ... rieb sich an ihm. Ganz leicht nur, aber unverkennbar. Genauso, wie ihre Hand sein in der Nacht noch so williges Fleisch gefunden hatte und wie ein gieriges Raubtier daran herum strich...

Als hätte sie etwas gestochen, riss Paige sich von Ryon los. Von seinem warmen, gestählten Körper. Von den Muskeln, die vom Morgenlicht gestreichelt leicht schimmerten...

Nein!

Sie brauchte gar nicht in sich hinein zu spüren, um zu wissen, was los war. Am liebsten hätte sie sich sofort auf ihn gestürzt, selbst wenn er ihr Verlangen im Schlaf nicht löschen konnte.

„Verdammt...!“

Wie hatte sie es nicht schon früher bemerken können? Über zwei Wochen war er weg gewesen. Sie hatte ihren Zyklus gleich am Anfang seiner Abwesenheit verschoben. Aber eben nur verschoben, nicht vollkommen angehalten. Und jetzt...? Jetzt verlangte es sie nach Erfüllung, danach, dass er dem Ruf ihres Körpers nachkam. Auf der Stelle, immer wieder, bis... Bis ein Ergebnis am Ende stand, das sie ihm nicht antun konnte!

Nur weil sie wusste, dass es seine einzige Bedingung an ihre Beziehung war, stand sie auf. Jede Faser in ihr schien dabei zu schmerzen, wollte zu ihm zurück, sich erneut und mehr als nur einmal mit ihm verbinden, sich von Ryon nehmen lassen, um neues Leben zu zeugen.

Zitternd schleppte sie sich unter die Dusche, sah an sich herab und ließ mit einem schweren Seufzen ihre Schuppen sprießen. Wenn sie Glück hatte, war es noch nicht zu spät... Und wenn sie größtenteils in ihr Schuppenkleid gehüllt war, würde ihm der Geruch dessen, was sie zu verbergen versuchte, wenigstens nicht zu intensiv entgegen schlagen. So weit so gut. Das hieß dann nur noch, dass sie sich selbst zusammen reißen und ihre Finger bei sich behalten musste. Keine leichte Aufgabe, denn schon der Gedanke daran, dass er nebenan im Bett lag... Nackt...

„Oh mann...“
 

Ryon räkelte sich so ausgiebig und voller Wonne, dass er einen Moment lang nicht sagen könnte, in welcher Gestalt er sich gerade befand, wenn er die Augen aufschlug. Allerdings wollte er das ohnehin noch nicht tun. Er hatte so wunderbar geträumt, dass er Paiges traumhafte Hände immer noch auf sich zu spüren schien und dann erst der Rest von dieser Fantasie! Einfach köstlich.

Wohlig schnurrend schmiegte er seinen Kopf in das Kissen und sog tief den Duft von ihr und sich selbst ein, der daran haftete.

Allein die Vorstellung daran, was sie gestern Nacht getan hatten und dann erst die Erinnerung an den Traum mit Paige, ließen ihm heiße Wonneschauer durch den Körper jagen.

Kein Wunder, dass er sofort seine Hand nach ihr ausstrecken und sie wieder an sich heran ziehen wollte, damit er sofort noch einmal damit beginnen konnte, sie zu verführen, so wie sie es mit ihm in seinem Traum getan hatte.

Doch alles was seine Hand schließlich neben sich fand, war kühler Stoff, der von der Sonne beschienen wurde und als er sich daraufhin verwirrt aufsetzte, begrüßte ihn die härteste Morgenlatte, die er seit Beginn seiner Pubertät an sich erlebt hatte.

Ryon sah sich stirnrunzelnd im leeren Schlafzimmer um. Irgendetwas stimmte hier nicht.

Wobei die Tatsache, dass er sich sofort auf Paige stürzen könnte, sie aber nicht da war, ein Anhaltspunkt dafür sein könnte.

Da er aber Wasserrauschen hörte, musste sie unter der Dusche stehen, also war alles so, wie es sein sollte.

Mit einem Seufzen ließ er sich wieder zurück in die Kissen fallen, während die Sonne seine nackte Haut beschien.

Er spielte mit dem Gedanken ihr unter den warmen Strahl zu folgen.

Der Tiger gab einen äußerst zustimmenden Laut von sich und brachte ihn bereits aus dem Bett, bevor Ryon überhaupt eine Chance hatte, ihn in seine Schranken zu weisen.

Mit beiden Händen am Türrahmen zum Bad abgestützt, starrte er die angelehnte Tür an und bekam nun noch mehr das Gefühl, hier stimme etwas nicht. Er konnte nicht sagen was, aber sein Instinkt schlug auf alle Fälle darauf an. Außerdem schien es auch seinen Tiger aufzubringen, was so früh am Morgen eher selten vorkam. Die Raubkatze zählte eigentlich eher zu den Langschläfern.

„Paige?“ Seine Stimme war immer noch ganz rau von ihren nächtlichen Aktivitäten und das war definitiv nicht seine einzige körperliche Reaktion an ihm, die die Nacht nicht vergessen hatte.

Herrgott noch mal, sogar seine Brustwarzen standen wie Einsen!
 

Paige fühlte sich ertappt. Ihr Puls schnellte in schwindelerregende Höhen, während sie die Dusche abstellte und sich so schnell es ging in eins der großen Handtücher hüllte. Und dabei stritten sich mehrere Stimmen so lautstark in ihrem Kopf, dass sie kaum klar denken konnte.

Ihr Instinkt brüllte sie an, sie solle das blöde Handtuch fallen lassen und sich holen, was sie wollte. Was sie brauchte und was Ryon genauso wollte wie sie. Auch wenn ihm das vielleicht noch nicht klar sein sollte. Sie sollte die Tür aufreißen, ihn zurück auf das Bett drängen und...

Kaum hatte sie einen entschlossenen Schritt auf die Tür zu gemacht und sogar schon das Handtuch gepackt, um es wieder fallen zu lassen, hielt eine andere Stimme sie zurück.

Nein! Er wollte es eben nicht! Nicht aus dem Grund, aus dem sie es gerade wollte – nicht aus dem Grund, den die Natur und ihr Körper ihr diktierten. Er wollte kein Kind zeugen. Nicht mit ihr. Niemals wieder!

Noch einen Moment ließ sie ihn vor der Tür stehen, überlegte hin und her, was sie tun sollte. Vorhin, unter dem warmen Wasserstrahl der Dusche, hatte sie sich noch dazu entschieden, ihm nicht auf die Pelle zu rücken. Oder im jetzigen Fall wohl eher 'zu springen'. Und dabei würde es auch bleiben. Der Ruf der Natur würde immer da sein, jeden Monat würde er wieder kommen. Aber sie würde ihn ignorieren. Jedes Mal aufs Neue. Denn Ryons Wunsch; sein schon einmal so verletztes Herz war ihr sehr viel wichtiger, als selbst Mutter zu werden.

Mit einem lauten Seufzen richtete sie ihren Blick auf die Tür, hinter der Ryon stand und offensichtlich auf eine Antwort wartete.

„Guten Morgen. Komm rein, ich beiße nicht...“

Oder zumindest nur da, wo er es mochte.
 

Er hörte ihr Seufzen und vermischt mit den zerstrittenen Bedürfnissen, die Tür einzutreten und zugleich sich davor zurück zu halten, steigerte das seine Sorge noch mehr. Aber das war einfach nicht möglich. Das musste er sich einbilden.

Trotzdem zögerte er, als er die Badezimmertür ein Stück weit aufschob, nachdem Paige ihm gesagt hatte, sie würde ihn nicht beißen.

Irgendetwas wollte gegen diese Versicherung protestieren. Oder besser gesagt, sein Tiger wollte in diesem Augenblick sogar nur allzu gerne von ihr gebissen werden.

Ryon streckte den Kopf ins Badezimmer, während seine zitternden Finger die Klinke fest hielten, damit er nicht gleich seinen aufgeladenen Zustand offenbarte.

„Aber dafür ich…“, schnurrte er mit einem vielsagenden Lächeln und gab keine Sekunde später seinem Tiger einen gehörigen Tritt in den pelzigen Hintern. Wieso hatte er das nur gesagt!?

Ein Blick auf Paiges Körper, der in ein Handtuch gehüllt war und er hätte tatsächlich beinahe die Tür eingetreten, obwohl das nicht einmal nötig gewesen wäre.

Leichter Dunst wabberte im Bad und trug ihren Duft mit sich, der sein Gehirn benebelte und ihn fast zum Knurren gebracht hätte.

Mit einer plötzlich aufflammenden Erkenntnis, weiteten sich seine Augen und er zog den Kopf so schnell wieder zurück, dass er sich dabei fast beide Ohren abgerissen hätte, wenn er auch nur eine Sekunde schneller die Tür hinter sich zugeknallt hätte.

Heftig atmend drückte er sich an die kalte Wand neben der Tür, seine Krallen vergruben sich im Putz und er zitterte am ganzen hoch erregten Körper.

Er begann zu schwitzen, während er sich mit aller Kraft dort an der Mauer fest hielt, um nicht über Paige her zu fallen. Denn genau das würde passieren, wenn er dem wilden aufbegehren seines Tigers nachgeben würde.

„P-Paige?“ Seine Stimme war um eine Oktave tiefer gerutscht.

„Ist es das, was ich glaube, das es ist?“

Er presste die Augenlider fest zusammen und holte tief Luft.

„Ich meine, wirst du…“ Rollig? Verdammt!

Ryon ließ seinen Hinterkopf gegen die Wand sausen und knurrte nun tatsächlich. Allerdings wegen seiner eigenen Unfähigkeit zur Beherrschung. Schon lange hatte er nicht mehr damit kämpfen müssen, dafür traf es ihn jetzt umso unvorbereiteter. Dabei war es zu erwarten gewesen. Auch wenn sein Verstand Paige vielleicht nicht als Gefährtin sah oder es noch nicht sehen konnte. Seine Natur konnte er damit nicht täuschen.

Sie war seine Gefährtin und noch dazu begann sie fruchtbar zu werden!
 

Genau drei Sekunden lang starrte sie die Tür an, die er gerade zwischen ihnen zugeworfen hatte. Dann fiel mit einem Mal die gesamte Last ihrer Sorgen und Ängste auf ihre Schultern und wollte sie auf den gekachelten Boden hinunter ziehen.

Er hatte so erschrocken ausgesehen, sogar ein Anflug von Panik war in seinem Gesicht erschienen, bevor er sich zurück gezogen und sie eingeschlossen hatte. Ryon hatte sie so nachdrücklich von einander getrennt, dass Paige seine gedämpften Worte gar nicht hören musste. Sie wusste auch so, dass er es gerochen hatte. Dass ihr ... Zustand der Grund war, warum er sich in Sicherheit gebracht hatte.

Ihre Antwort war leise und in jeder Silbe klang das schlechte Gefühl von so etwas wie Schuldbewusstsein mit. Sie hätte es einfach früher mitbekommen und es wieder verhindern müssen!

„Ja...“

Wieder erkannte sie das Geräusch, das sie damals in den Tunneln unter Paris schon gehört hatte. Er schlug seinen Kopf gegen die Wand, weil ... weil er vermutlich genauso wenig wusste, was er tun sollte, wie Paige.

Unsicher tat sie einen Schritt auf die Tür zu und legte die Hand flach auf das leicht angelaufene Holz. Und das Einzige, was ihr im Kopf herum raste, was sie wahnsinnig machte und sie ihren Körper verfluchen ließ war: Bitte geh nicht weg!

Irgendwie würden sie das schon hinbekommen. Sie würde sich einfach vollkommen an ihre dämonische Seite halten und sich von ihm fern halten, so gut es ging. Solange er bloß nicht in der Weise die Notbremse zog, dass er wieder spurlos verschwand.
 

Er war der Verzweiflung nahe!

Ryon wusste schon jetzt nicht mehr wohin mit seinen zerrissenen Gefühlen und war sich dabei im Klaren, dass es mit Paiges fortschreitenden Fruchtbarkeitszyklus nur noch schlimmer werden würde. Sehr viel schlimmer.

Dabei hätte er meinen können, dass gerade der Gedanke, mit ihr ein Kind zu zeugen, ihn auf der Stelle impotent machen würde, weil die Angst sie zu schwängern einfach so übermächtig war, so dass ihm ganz anders wurde.

Doch über seinen geistigen Zustand setzte sich immer noch sein Urinstinkt hinweg und der hämmerte ihm ein, dass dort drin seine Gefährtin darauf wartete, dass er sie nahm und zwar solange, bis sie ihn wieder frei gab.

Ryon rutschte an der Wand entlang zu Boden und schlang seine Arme um seine Beine, damit er sie bei sich behielt, während er um einen klaren Kopf kämpfte.

Das eine Wort von Paige, die eine Bestätigung von ihr, machten alles nur noch schwerer. Denn durch ihren Tonfall hatte er auch noch mit dem überwältigenden Bedürfnis zu kämpfen, sie in seine Arme zu nehmen und zu trösten, weil sie schließlich nichts dafür konnte. Doch genau so hatte sie geklungen. Schuldbewusst.

„Bitte … gib mir einen Augenblick…“, bat er, zwischen schweren Atemzügen, ehe er seinen Kopf zwischen die Knie legte, um nicht völlig durchzudrehen.

Sein triebgesteuerter Verstand funktionierte nur noch sehr für praktische Denkaufgaben, dennoch marterte er ihn so lange, bis er langsam zu möglichen Lösungsvorschlägen dieses … Chaos durchdrang.

Die ersten davon gefielen ihm überhaupt nicht und deshalb verwarf er sie sofort wieder. Er würde sich weder von Paige fernhalten, noch in sein altes eisiges Verhaltensmuster zurückfallen. Das konnte er nicht und würde er auch nicht tun. Niemals!

Zugleich war ihm aber auch bewusst, dass dieser Zustand nicht tragbar wäre, solange sie nicht irgendetwas dagegen taten. Denn es wäre unmöglich, auch nur in Paiges Nähe zu sein und nicht daran zu denken, über sie herzufallen, egal ob sie gerade am Frühstückstisch saßen oder im Kinderzimmer standen. Das machte dann keinen Unterschied mehr.

Natürlich wäre da noch die Möglichkeit, den Dingen ihren Lauf zu lassen. Aber dagegen protestierte seine Seele so sehr, dass er sich lieber selbst kastrieren würde, als Paige der Gefahr einer möglichen Schwangerschaft mit tödlichem Ende auszusetzen.

Je länger Ryon verzweifelt nach einer Antwort suchte, desto weiter drangen seine Gedanken in die Vergangenheit zurück. Vor Marlenes Tod. Vor dem traurigen Ereignis. Sogar noch vor ihrer Schwangerschaft. Denn genau dort lag die Lösung. Zumindest hoffte er das. Sonst würde er sich dem nicht aussetzen.

Es kostete ihm sehr viel, sich daran zu erinnern, wie es war, als er und Marlene noch zu jung für Kinderwünsche gewesen waren, aber dennoch schon Sex miteinander hatten und natürlich hatte sich auch damals schon eben genau dieses Problem gezeigt. Für Gestaltwandler gab es im Grunde drei Möglichkeiten damit umzugehen:

1. Dem natürlichen Erhaltungstrieb der Rasse nachgeben und Kinder zeugen. Die Stillzeit danach verhinderte währenddessen jegliche weiteren Schwangerschaften und deckte somit einen Großteil der Zeit ab.

2. Die Gefährtin übernahm den schwierigen Teil und versagte sich dem Gefährten. Dieser akzeptierte diese Entscheidung ohne zu zögern und versuchte auch, sie in dieser Zeit nicht zu sehr zu reizen. Sexuell gesehen.

3. Verhütung. Da weder die Pille, das Stäbchen noch sonstige hormonbedingten Verhütungsmethoden bei Gestaltwandlern sicher funktionierten, griff man auf die altbewehrten Kondome zurück. Teilweise auch nicht sehr sicher, aber nur wegen der falschen Handhabung, durch die raue Art des Aktes an sich.

Ryon erinnerte sich wieder. Aber er erinnerte sich auch daran, dass diese Art zwar eine Schwangerschaft meistens verhinderte, dafür war sie aber auch in gewissen Maße nicht ganz … befriedigend. Wenn sie sich wirklich dafür entscheiden sollten, dann würden sie harte Tage und Nächte voller Körpereinsatz vor sich haben und der Verbrauch an Kondomen wäre enorm.

Leise seufzend ließ er den Kopf noch weiter hängen. Vielleicht sollte er doch einmal eine Vasektomie an sich in Betracht ziehen. Das wäre zumindest endgültig, aber leider würde sich sein Tiger dagegen sperren. Der immer noch die winzige Hoffnung hegte, einmal seine Gene weitergeben zu können. Obwohl er lange darauf warten konnte.

Auch wenn es nicht viel war, die Gedanken hatten Ryon zumindest soweit ernüchtert, dass er aufstehen und die Tür einen Spalt breit öffnen konnte. Allerdings zog er sich sofort wieder an die Wand zurück, als Paiges Geruch seine Sinne betäuben wollte. Zumindest die rationell denkenden.

„Oh Gott, ich will dich so sehr!“, keuchte er zittrig und schob sich noch ein gutes Stück weiter von der Tür weg, wobei er tiefe Kratzer in der Wand hinterließ. Proteste seines Tigers.

Um Beherrschung ringend holte er noch einmal tief Luft.

„Mir fällt auf die Schnelle nur Verhütung ein, Paige. Denn dass ich meine Finger von dir lassen werde, steht hier nicht einmal zur Debatte. Ich kann’s einfach nicht.“
 

Paige hatte sich auf den Badezimmerteppich sinken lassen, um Ryon die paar Augenblicke zu geben, die er sich erbeten hatte. In ihr Handtuch gewickelt hatte sie da gesessen, und ihren Haarsträhnen dabei zugesehen, wie Tropfen daraus auf ihre Schultern, Arme und auch den Boden fielen.

Das Öffnen der Tür hatte sie aus ihren sich drehenden und windenden Gedanken gerissen. Sie sah hoch und konnte doch keinen Blick mehr auf Ryon erhaschen. Dafür hörte sie Schaben an der Wand neben dem Türrahmen, die ihr wegen des Geräuschs einen Schauer über den Rücken jagten.

Ganz anders als das heiße Prickeln, das seine nächsten Worte in ihr auslösten. Sie war so schnell auf den Beinen, dass sie es selbst kaum mitbekam. Er hatte sie frei gelassen. Nicht nur ihren Körper, sondern auch ihr Verlangen ihn zu sehen. Nicht nur zu sehen, sondern ihn zu berühren, sich an ihn zu drücken...

„Aaah!“

Frustriert gab sie der Tür einen Tritt, die lautstark wieder ins Schloss knallte und Paige die Möglichkeit gab, sich mit der heißen Stirn dagegen zu lehnen. Schwer atmend riss sie sich das Handtuch vom zitternden Körper und ließ hellrote, heiße Flammen von ihren Fersen bis zu ihrem Scheitel hinauf wandern.

Ihr Körper überzog sich mit ihrer leichten Panzerung in rot und schwarz, während sie sich nur Stück für Stück wieder beruhigte. Mit tiefen Atemzügen zog sie sich einen Bademantel über, wickelte sich fest darin ein, bevor sie sich so gefasst fühlte, dass sie sich diesem Problem zusammen stellen konnten.

„Ryon...“

Ganz vorsichtig, als könnte sie sie beißen, legte Paige ihre Finger auf die Türklinke, drückte sie hinunter und zog sie ein Stück weit auf sich zu. Nur so weit, dass sie um das Holz herum in das Schlafzimmer sehen konnte.

Ihr Blick fiel sofort auf die Kratzer an der Wand und Ryons zitternden Körper. Seinen zitternden und sehr nackten Körper!

„Oh bitte...“

Mit vor die Augen gedrückten Händen massierte sie sich ihren dröhnenden Kopf, der ihr bloß befehlen wollte, sich ihm an den Hals zu werfen.

„Das hier ist absolut lächerlich. Aber bitte Ryon... Zieh dir was an. Sonst kommen wir nichtmal aus diesem Zimmer, um wegen der Kondome zur Drogerie zu fahren.“
 

Als er Paiges Anwesenheit deutlich in seiner Nähe spürte, ihr Geruch zunahm und er sie dann auch noch erblickte, wäre fast seine ganze Kontrolle zusammen gebrochen. Ein paar wirklich schwere Sekunden lang, starrte er sie einfach nur fixierend aus sehr unmenschlichen Augen heraus an. Natürlich war das auch immer noch er, aber in diesem Augenblick war er mehr Tier als Mensch und dieses Tier wollte sich auf Paige stürzen, um ihr diesen Bademantel herunter zu reißen, ihr die Beine zu spreizen und sie sprichwörtlich an die Wand nageln!

Ryon schnappte lautstark nach Luft, zog sich noch weiter von ihr zurück, direkt auf den Kleiderschrank zu, in denen Paiges Sachen hingen.

Er ließ eine Tür aufschwingen, damit er sich dahinter verbergen konnte. Das war wirklich erbärmlich.

„Ich glaube nicht, dass ich in diesem Zustand auch nur eine Runde ums Haus drehen könnte.“ Seine Stimme war mehr ein Knurren, als wirklich gesprochen.

„Außerdem glaube ich nicht, dass wir deshalb das Haus verlassen müssen. Vor Ai hatte Tyler auch noch so seine … Bekanntschaften…“ Dass seine Stimme sich nun langsam in ein erotisches Schnurren umwandelte, war kein sehr gutes Zeichen.

Hastig sah er sich den Inhalt von Paiges Kleiderschrank an, was ihm beim Anblick ihrer Unterwäsche fast zum Hecheln brachte.

„Wenn du hier bleibst, kann ich ihn ja mal durch die Mangel drehen … ich meine, nett fragen.“

Nein, hier fand er definitiv nichts, was ihn bedecken würde, dafür genug, was ihn wahnsinnig machte. Er hatte wohl keine andere Wahl.

Mit einem geschmeidigen Satz war er bei der Tür, gerade als der silberne Dunst ihn schon wieder verlassen hatte.

Mühsam zwang er sich dazu, sich nicht zu seiner Gefährtin herum zu drehen. Das hätte ihm noch den Rest an Beherrschung geraubt, also grabschte er mit seiner Pranke ein paar Mal nach dem Griff der Tür, bis diese aufschwang und war auch schon verschwunden. Egal ob Tyler noch schlief, wenn der für ihn nicht die Rettung in Latexform hatte, dann würde er sich schon in einen Grizzlybären verwandeln müssen, um den Tiger davon abzuhalten, das ganze Haus zu durchsuchen.

54. Kapitel

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

55. Kapitel

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

56. Kapitel

Auf die Krallenspuren an der Wand legte sich ein warmer Rotton, als die Sonne unterging. Er konnte also noch nicht sehr lange geschlafen haben und dennoch brannte er bereits wieder vor Energie und Tatendrang, obwohl sein vernunftbegabter Verstand sagte, dass das alles einfach nur noch verrückt war.

Ebenso sehr wie er verrückt nach Paige war, die warm, nackt und verführerisch duftend halb auf seiner Brust lag und friedlich schlief und trotzdem hatte sie es geschafft, sein williges Fleisch zu wecken.

Aber noch war er nicht halb wahnsinnig vor Verlangen, sondern sogar sehr klar im Kopf, weshalb er Paige auch vorsichtig neben sich auf das Kissen bettete und ihr die Decke bis über die Schultern zog, nachdem er den wärmenden Kokon des Bettes verlassen hatte.

Natürlich hätte er niemals das Zimmer verlassen können. Nicht in diesem Zustand, der ihn mit unsichtbaren Ketten an diese Frau fesselte, die er weder zerreißen konnte noch wollte. Doch zumindest schaffte er es bis zum Fenster, um es weit zu öffnen.

Frische kühle Abendluft umspielte seinen vollkommen nackten Körper und die Kälte machte seinem pochenden Fleisch nicht das Geringste aus. Eher das Gegenteil. Der Kontrast auf seiner Haut stachelte es nur noch weiter an, doch Ryon ignorierte seine tieferen Körperregionen, während er eine Weile mit verschränkten Armen mit dem Rücken zum Fenster lehnte und seine schlafende Gefährtin betrachtete.

Ein sanftes Lächeln umspielte seinen Mund und ein unglaublich warmes Gefühl breitete sich in alter Vertrautheit in seiner Brust aus. Glückshormone kribbelten durch seinen ganzen Körper, während er daran dachte, dass er sie nie wieder hergeben wollte.

Er löste seine verschränkten Arme, drehte sich herum und stützte sich auf dem Fensterbrett ab, während er hinaus in die sich ausbreitende Dunkelheit blickte.

Noch glitzerte das Abendrot auf dem Wasser des Sees, doch schon bald würden sich auch dort die Schatten ausbreiten und dann, wenn es dunkel genug für die Sterne und den Mond war, würde sich der Nachthimmel darin spiegeln.

Ryon wusste es genau, denn er hatte schon oft hinaus gesehen, um nachzudenken, wenn er es nicht direkt am See tun konnte.

Eine Weile kreisten seine Gedanken um den Hexenzirkel, doch war das eher nur ein Zwang. Eine Art des Aufschubs um sich nicht weiter über wirklich grundlegende Gedanken den Kopf zerbrechen zu müssen. Dabei war die Zusammenkunft der Hexen wirklich wichtig. Aber was konnte schon wichtiger sein, als seine Frau in diesem Bett?

Gefährtin…

Es ging ihm gedanklich so leicht über die Lippen, da es sich so unglaublich natürlich und richtig anfühlte, doch was es damit auf sich hatte, war schon viel schwerer einzugestehen.

Er hatte Paige einmal erklärt, dass er nicht glaubte, jemals wieder lieben zu können. Doch die Hoffnung hatte natürlich auch in ihm immer darum gekämpft, nicht vollkommen ausgelöscht zu werden und nun hatte sich diese Hoffnung durchgesetzt.

Ryon liebte Marlene und ihre gemeinsame Tochter über alles, aber durch diese missliche Lage, in der Paige und er sich im Augenblick befanden, war er zu einer weiteren Erkenntnis gelangt, die ohne das animalische Drängen vermutlich noch länger auf sich warten hätte lassen.

Er liebte Paige ebenfalls… So sehr, dass es weh tat.

Denn sein Herz hatte dank der vergangenen Ereignisse nicht nur gelernt, dass Liebe etwas Schönes, sondern auch etwas entsetzlich Schmerzhaftes sein konnte.

Ryon konnte, wollte und würde sich nicht gegen dieses Empfinden für sie sperren, aber er war nicht so naiv zu glauben, dass diese Liebe jemals ganz ohne Schmerz einher gehen würde. Wenn Paige etwas zustoßen würde, wäre das sein Untergang und dieses Mal würde er keine Sekunde lang zögern, um diesem Leid ein Ende zu bereiten, sollte es wirklich erforderlich sein.

Doch was für eine Zukunft konnten sie beide schon haben, wenn die Aussichten so düster standen? Natürlich, er wollte positiv denken, aber manchmal … da fiel es ihm sehr schwer. Gerade in Momenten wie diesem, wenn er schmerzhaft klar erkannte, dass die Gefahr nicht nur von außen kam, sondern auch von ihm selbst ausging.

Niemals würde er Paige absichtlich Schaden zufügen, aber das Gleiche hatte er auch stets bei Marlene empfunden und nun war sie tot.

Ryon ließ den Kopf hängen und starrte auf seine geballten Fäuste.

Das Glück mit Paige schien von allen Seiten bedroht zu werden und selbst wenn sie Boudicca überleben sollten, so würde das doch nichts an ihre derzeitige Lage ändern. Außerdem … da war noch etwas, über das er eigentlich nicht nachdenken wollte, aber gar nicht verhindern konnte.

Er hatte gesehen, wie Paige mit Mia umging. Wie gut sich die beiden verstanden und die Zuneigung füreinander war deutlich zu spüren.

Paige wäre eine gute Mutter und davon war er nicht nur überzeugt, weil sie selbst garantiert dafür sorgen würde, dass ihre eigenen Kinder nicht so aufwachsen mussten, wie sie es hatte müssen, sondern auch weil sie sowohl eine starke, wie auch unglaublich liebevolle Halbdämonin war. Sie mochte zwar manchmal in Flammen stehen, wenn ihre Gefühle mit ihr durch gingen, aber bisher hatte sie ihm kein einziges Mal geschadet, obwohl sie nicht gerade Blümchensex praktizierten.

Es stand also außer Frage, dass sie auch einmal eigene Kinder würde haben wollen. Kinder mit ihm…

Die aufflammende Angst zerriss ihm beinahe das Herz und zugleich fraß ihn seine Hilflosigkeit langsam aber sicher auf, so wie sie es schon seit Jahren getan hatte.

Jeden Kampf, jedes Opfer und jeden Schmerz würde er für Paige auf sich nehmen, um ihr Leben zu schützen, doch wenn es um Kinder ging, war er machtlos. Er konnte nur daneben sitzen, nutzlos zusehen und hoffen, dass alles gut gehen würde.

Natürlich, Paige hatte die Stärke ihres dämonischen Ichs auf ihrer Seite, aber ein Kind zwischen ihr und ihm wäre ungleich stärker.

Oh Gott. Er wollte sie nicht verlieren!

Ryon legte seine zittrige Hand auf sein Gesicht, holte einmal tief Luft und strich sich dann durch die Haare, ehe er sich am Fensterrahmen fest hielt und mit nassglänzenden Augen weiter hinaus blickte.

Die ersten Sterne zeichneten sich bereits auf dem dunkelblauen Nachthimmel. Es würde heute eine klare sternenreiche Nacht werden.
 

Paige drehte sich mit einem tiefen Atemzug auf die Seite, schlang die Decke fester um ihren Körper und rollte sich ein wenig zusammen. Ihre Augen flatterten so kurz und eigenständig auf, dass die Nachricht der Erkenntnis erst Momente später wirklich in ihrem Hirn ankam.

Die Decke bis zur Nase hochgezogen blinzelte sie zum Fenster hinüber, an dem Ryon stand und hinaus blickte. Er hatte ihr den Rücken zugewandt, aber seine Haltung kam ihr dennoch irgendwie … merkwürdig vor.

Auf einen Unterarm gestützt setzte sie sich auf, schob die Decke zur Seite und stand auf. Der Raum war für ihr Empfinden bereits empfindlich kalt. Ryon musste schon länger als nur ein paar Augenblicke dort stehen. So in Gedanken versunken. Gedanken, die – davon war Paige auf wenig greifbare Weise überzeugt – keine Guten sein konnten.

„Hey…“

Ihre Hand streichelte seinen Oberarm, während Paige sich etwas vorlehnte, um in sein Gesicht sehen zu können. Was sie erkannte, ließ ihr Herz schmerzhaft in ihrer Brust schlagen.

„Was ist denn los?“

Sie klang zurückhaltend – vorsichtig. Denn Paige war zugegebener Maßen nicht ganz klar, wie sie reagieren sollte. Ryon war es, seit sie sich kannten, schon öfter schlecht gegangen. Das Verhältnis zu seinen Gefühlen war – milde ausgedrückt – schwierig gewesen. Mochte es bestimmt in gewisser Weise immer noch sein. Und vielleicht war er aufgestanden, um es eben nicht mit ihr teilen zu müssen.

Sie würde Ryon immer diese Freiheit lassen, sich zurück zu ziehen. Jeder brauchte einmal Zeit für sich, um seine Gedanken und Empfindungen zu ordnen. Aber sie konnte vor sich selbst nicht leugnen, dass es ihr wehtat, sie erschreckte, ihn so zu sehen und daran zu denken, dass sie ihm vielleicht nicht helfen konnte. Weil er sich von ihr nicht helfen lassen wollte.
 

Ryon brauchte eine Weile, ehe er sich vom Anblick des Sees losreißen konnte, um Paige anzusehen, deren Hand warm auf seinem Oberarm ruhte. Es war eine simple Berührung und doch schien sie ihm unglaubliche Lasten abnehmen zu können.

Dennoch entzog er sich ihr kurz, um die Decke vom Bett zu fischen und Paige wieder darin einzuwickeln. Danach zog er sie an seine Seite.

„Mir schwirrt der Kopf von den ganzen Ereignissen in letzter Zeit.“

Er wollte ehrlich mit ihr sein und nichts verheimlichen.

Seine Hand strich durch ihr Haar, da ihn das vertraute Gefühl beruhigte. Kurz beugte er sich zu ihr herab, um ihr einen Kuss auf den Scheitel zu geben, ehe er seinen Blick wieder nach draußen richtete.

„Wir müssen zu dem Treffen dieser Hexen gehen, koste es, was es wolle. Wir brauchen Verbündete und wenn sie können, auch ihren Schutz, damit wir wenigstens hier auf dem Grundstück sicher sind.“

Ein guter, klarer Gedanke und vermutlich auch mit der höchsten Priorität, obwohl sich das nur schwer einschätzen ließ. Sein Herz hatte höhere Prioritäten im Sinn, genauso wie sein Körper.

„Ich habe über eine Lösung unserer derzeitigen Lage nachgedacht, aber ich bin nicht damit zu frieden. Sie wäre zu einseitig.“

Das war sie tatsächlich. Nur er hätte halbwegs etwas davon, Paige müsste weiterhin unter ihrer Natur leiden, mehr sogar als jetzt, da er ihr Verlangen stillen konnte. Und sich selbst für die Dauer dieses Treffens zu trennen, kam nicht in Frage. Es würde ihn umbringen, nicht in ihrer Nähe zu sein, wenn sie in diesen Zustand war. Was das anging, war mit dem Tiger nicht zu verhandeln.
 

Ihr fiel im wahrsten Sinne ein Stein vom Herzen, als er sie in die Decke gewickelt an sich zog. Doch noch wichtiger war, dass er sich ihr mitteilte. Solange er mit ihr sprach, würde sich nichts wie eine riesige, unüberwindliche Mauer zwischen ihnen auftun können.

Es mochte kitschig klingen, aber Paige war tief in sich drin wirklich überzeugt davon, dass sie alles irgendwie schaffen konnten, solange sie zusammen waren.

Was das Treffen mit dem Zirkel anging, musste sie ihm auch vollkommen Recht geben. Es war verdammt wichtig, dass sie daran teilnahmen. Und Paige brauchte nur einen Moment an Ai und Mia zu denken, um sogar absolut davon überzeugt zu werden. Wenn sie die Grenzen des Grundstücks sichern konnten, würde den beiden und auch ihren anderen Freunden nichts passieren können. Damit würden auch Ryon und Paige selbst sich besser auf ihre eigentliche Aufgabe konzentrieren können. Oder vielmehr diejenige, die sich zu einer Aufgabe gemacht hatte.

Nur wenn sie nicht um ihre Freunde bangen mussten, konnte sie wirklich und mit all ihren Kräften gegen Boudicca vorgehen.

Bei dem Gedanken an diese Hexe runzelte Paige die Stirn und löste sich etwas von Ryon, um ihm in die Augen sehen zu können. Er hatte eine Lösung für ihr derzeitiges Problem?

„Verrate es mir bitte trotzdem.“
 

Ryon schwieg noch eine Weile, dachte verbissen nach, um noch andere akzeptable Möglichkeiten zu finden. Aber keine Lösung wäre akzeptabel. Es gab einfach keine.

Schließlich seufzte er schwer und drehte sich ganz zu Paige herum. Er umfasste sie mit seinen Händen und hob sie hoch; setzte sie auf das Fensterbrett damit er ihr in gleicher Höhe in die Augen sehen konnte. Seine Hände lagen immer noch auf der Decke an ihren Seiten, während er ihr eindringlich in die Augen blickte.

„Bevor ich es dir sage, sollst du wissen, dass ich nicht damit einverstanden bin. Absolut nicht.“

Er seufzte noch mal und holte tief Luft, ehe er sich dazu durchringen konnte, es auch auszusprechen. Die Worte fühlten sich wie Steine auf seiner Zunge an, aber Paige hatte gefragt und er würde antworten.

„Du kannst mich zurückweisen und dadurch dafür sorgen, dass ich meine Finger von dir lasse. Ich werde deinen Worten immer gehorchen, sofern sie für dich keine Gefahr bedeuten.“ Vorausgesetzt sie hatte die Worte wirklich klar und ernst formuliert. Alles andere würde unter die Kategorie: Neckereien und Spiel fallen.

„Aber auch wenn mich das in meine Schranken weisen würde und ich den Ruf deines Körpers widerstehen könnte, würde sich für dich nichts ändern. Du müsstest immer noch leiden und ich will das nicht.“

Sie war seine Gefährtin, Herrgott noch mal! Nie würde er sie einfach so leiden lassen können. Aber genau dieser Umstand war es, der es ihr ermöglichte, so viel Macht über ihn auszuüben. Wäre sie nur eine Freundin für ihn, mit der er eine Beziehung hatte, hätten ihre Worte nicht diese tiefen, ursprünglichen Auswirkungen auf ihn und er könnte auch ohne weiteres seine Finger von ihr lassen, ohne dass sie etwas sagen müsste.
 

Die Worte schienen so viel mehr Informationen zu enthalten, als Ryon eigentlich ausgesprochen hatte. Schwer wiegende Informationen, wie sie in seinen goldenen Augen lesen konnte. Und doch verwirrte das Ganze Paige mehr, als sie darin eine wirkliche Lösung erkennen konnte.

Den konzentrierten Blick weiterhin auf seine Augen gerichtet, versuchte sie die Gedanken und das Gesagte in ihrem Kopf zu ordnen.

Ihn zurück weisen? Jedes Molekül, aus dem Paige zusammen gesetzt war, rebellierte allein beim Gedanken daran. Aber sie sollte das Problem und ihr Ziel im Auge behalten, wenn sie wirklich begreifen wollte, was Ryon ihr da vorschlug. Es war sogar dem ähnlich, was sie sich am Morgen unter der Dusche überlegt hatte. Sie könnte dafür sorgen, dass zumindest Ryon nicht mehr von seinen Gelüsten nach ihrem Körper gedrängt wurde.

Einfach so?

Jetzt suchte sie in seinen Gesichtszügen nach Anhaltspunkten dafür, dass er tatsächlich die Wahrheit gesagt hatte. Was sollte das denn heißen: Er würde tun, was sie ihm sagte. Immer.

Gut, sie selbst würde seinen Wünschen auch jederzeit entsprechen, wenn er sich selbst dadurch nicht gefährdete. Aber ihre Triebe würden seine Worte bestimmt nicht von einem Moment auf den Anderen ausschalten können. Doch sie glaubte sehr wohl, dass Ryon ihr diese Option nicht offenlegen würde, wenn es nicht funktionierte. So absurd es auch war, sie hatte anscheinend wirklich die Macht mit einer Ablehnung dafür zu sorgen, dass sich der Schleier der Hormone um seinen Verstand lichtete.

"Ist das dein Ernst?"

Sie fragte ganz offen und ruhig. Als würden sie sich darüber unterhalten, dass er sich ein neues Auto in Quietschgelb kaufen wollte. Allerdings konnten sie beide an der Atmosphäre, die zwischen ihnen herrschte, sehr wohl erkennen, dass es sich ganz und gar nicht um so etwas Profanes handeln konnte.

"Ich meine, mir ist klar, dass es dein Ernst ist, aber ... ich begreife nicht, wie ich so eine Macht über dich, nein, über euch beide haben kann."

Denn das war es doch. Die Worte, die seine Triebe in Schach halten sollten, wären mehr an den Tiger, als an den Mann gerichtet. Und dass dieser ihr gehorchen würde ... das fühlte sich eher unwahrscheinlich für sie an. Immerhin war sie dem Tier in seiner eigenen Gestalt wenn überhaupt nur für sehr wenige Momente begegnet.
 

Wenn das überhaupt noch möglich war, so wurde sein Blick noch intensiver, eindringlicher, obwohl er noch nicht einmal den Mund aufgemacht hatte.

In diesem Augenblick wäre es für Ryon unmöglich gewesen, sich diesen dunklen Seen in Paiges Augen zu entziehen. Stattdessen versuchte er ihr bis auf die Seele zu blicken, damit sie auch begriff, welche Tragweite seine Worte hatten, auch wenn es vielleicht nicht die waren, die sie gerne hören wollte.

Doch eines stand fest. Ein Gestaltwandler würde niemals eine Frau als Gefährtin ansehen, wenn er sie nicht lieben würde. Da er das aber erst jetzt erkannt hatte, war er noch zu verwirrt darüber, um das Thema offen anzugehen.

„Paige…“ Seine Stimme war leicht rau, also schluckte er einmal und versuchte es erneut, während seine Hände sich unter die Decke direkt auf Paiges nackte Seiten legten.

„Meine Rasse kann sehr aggressiv werden, vor allem wenn es um unsere Frauen geht.“, begann er schließlich versucht nüchtern, aber es gelang ihm nicht vollkommen. Seine Emotionen schwangen dennoch mit.

„Wir würden ohne zu zögern, jeden töten, wenn wir uns nicht vollkommen beherrschen können und man unsere Frauen auf irgendeine Weise bedroht. Mag es auch nur verbal sein. Das macht uns gefährlich. Aber die Natur hatte einen Plan, als sie uns erschuf. Unsere Frauen sind … wesentlich beherrschter als wir Männer und daher kann eine … Gefährtin ihren Partner in seine Schranken weisen und er wird gehorchen, wenn es notwendig ist.“

Ryon holte noch einmal tief Luft, da ihm der nächste Satz wahnsinnig viel Kraft kostete.

„Du … kannst mich in meine Schranken weisen, weil wir dich als unsere Gefährtin … auserwählt haben…“
 

Paiges Gedanken rasten. Im Kreis oder im Sechseck, es war völlig egal. Auf jeden Fall raubte ihr das aufgeregte Flattern, das sich über das gesamte Netz ihrer Nerven, durch ihren Kopf und vor allem bis in ihr Herz hinein zu ziehen schien, vollkommen den Sinn für Zeit und Raum. Und anscheinend auch für Kommunikation. Denn das, was sie glaubte zu hören, konnte Ryon gerade nicht wirklich gesagt haben.

Oder sie hatte es falsch verstanden. Vollkommen falsch! Denn das, was in ihrem Kopf als seine Worte wie Flummis herum hüpfte, konnte er nicht meinen. Es würde all dem widersprechen, was er ihr von Anfang an beteuert hatte. Es würde bedeuten...

War ihr gerade tatsächlich die Kinnlade herunter gefallen?

Paige klappte auf jeden Fall den Mund zu und öffnete ihn gleich wieder, um irgendetwas zu sagen. Nichts denkbar Kluges oder Angebrachtes. Aber irgendetwas! Sie konnte ihn doch da nicht so stehen lassen. Die warmen Hände auf ihren Seiten, mit einem Gesichtsausdruck, der so viel mehr darüber aussagte, als alles, was sie fragen konnte - sie hatte ihn richtig verstanden.

Sie hatte es schon öfter gesehen, doch jetzt schien es in Ryons Augen regelrecht zu leuchten. Das Gefühl, das Paige so verzweifelt gesucht und doch ignoriert hatte, weil er ihr gesagt hatte, er würde es für sie nie empfinden können. Die goldenen Seen waren... Ryons Augen waren voller Liebe.

"Ich... Ich weiß nicht, was ich..."

Statt einer wohl formulierten Antwort schlang sie ihre Arme um seinen Hals und küsste ihn. Ihre Natur hielt sich still, trat sogar einen Schritt zurück. Denn das hier hatte nichts mit Trieben zu tun. Sondern mit etwas, das sogar noch sehr viel tiefer ging.

"Ich war noch nie so glücklich...", hauchte sie gegen seine Lippen, bevor sie ihn sofort erneut küsste. Hexenzirkel hin, Lustprobleme her, in diesem Moment wollte Paige an nichts von alledem denken. Sie hätte am liebsten die ganze Welt umarmt.
 

Ryon hätte über Paiges Reaktion schmunzeln können, als er erkannte, dass die wahre Bedeutung seiner Worte bei ihr angekommen waren, doch ihm war im Augenblick ganz und gar nicht nach Erheiterung. Wonach ihm eigentlich wirklich war, konnte er nicht genau sagen, aber Paige nahm ihm dieses Rätsel ab, als sie die Arme um seinen Hals schlang und ihn küsste.

Ja, genau das wollte er. Sie küssen und fest halten, bis sie beide kaum noch Luft bekamen. Und das tat er auch.

Seine Arme schlangen sich um ihren Körper, er schob sein Becken zwischen ihre Beine, um ihr noch näher zu kommen und sie auf seiner Haut spüren zu können, während seine Lippen sich auf die seiner Gefährtin legten und er vollauf zufrieden die Augen schloss.

Zu hören, dass er sie glücklich machen konnte, war wie honigsüßer Balsam für ihn.

Trotz der Triebe, der Wachsamkeit seiner Raubkatze und der Tatsache, dass Paiges Duft ihn förmlich umhaute, wurde er weich, nachgiebig und anschmiegsam.

Sein Brustkorb vibrierte deutlich spürbar voller wohligem Schnurren, während seine Hände Paiges Rücken streichelten.

Er konnte seinen Mund nicht von ihrem nehmen. Nicht einmal, um irgendetwas ohnehin nicht Geistreiches zu sagen. Und obwohl sie noch immer Probleme ohne wirklicher Lösung hatten, so waren diese doch in diesem Augenblick weit weit weg. Hier war nur Paige und das war gut so.

Sie gehörte ihm, gehörte zu ihm und das sollte sich niemals wieder ändern!

Die Intensität ihrer Küsse raubte ihm am Ende so sehr den Atem, dass er sich gezwungen sah, von Paiges köstlichen Lippen abzulassen.

Doch er rieb stattdessen seine Wange an ihrem zarten Hals, küsste ihre Schulter, während er reichlich nach Luft schnappte.

„Es tut mir leid… Ich hatte es nicht früher erkannt… Erst, als du mich mit deiner Natur völlig eingenommen hast, ist mir richtig klar geworden, dass ich dich nicht einfach nur sehr mag, sondern du für mich die Einzige bist. Die Eine für die ich alles tun würde… Alles geben würde… Solange du bei mir bleibst…“

Es war nur geflüstert, ein Hauch dessen, was seine Stimme sonst ausmachte, doch es lag auch ebensoviel Schmerz wie Liebe darin. Denn so war es doch. Es tat weh, Paige zu lieben, da er nur zu gut das Gefühl von Verlust kannte. Von wirklichem Verlust, nicht einfach nur die Ahnung davon. Und dennoch, auch wenn er Angst hatte, sein Herz war für Paige so weit geöffnet, wie es nur ging. Er verschloss es nicht mehr vor ihr.
 

So sehr sie ihre dämonische und damit sehr ursprüngliche Natur auch bestimmte, in diesen ruhigen Momenten hätte nichts schöner sein können, als sich nur zu küssen, sich in den Armen zu halten und Ryons Wärme zu spüren.

Paiges Herz schien ihr gesamtes Wesen in gewisser Weise einzunehmen, wie eine große, glühende Kugel zu umschließen.

Umso mehr trafen Ryons geflüsterte Worte genau ins Schwarze. Etwas, das sie nur als Entsetzen bezeichnen konnte, hielt sie für einen Moment gefangen, bevor sie sich dazu durchringen konnte, zu antworten.

Mit leicht zitternden Händen zog sie seinen Kopf wieder zu sich herauf und blickte ihm so tief in die Augen, wie sie es nur vermochte.

"Sag bitte nie, dass dir sowas Leid tut. Das soll es nicht. Du hast mir gesagt, was du in diesem Moment empfunden hast. Das ist so viel besser, als wenn du mir nur das vorgegaukelt hättest, was ich hören wollte."

Paige schloss auch bei dem sanften Kuss nicht die Augen. Relativ schnell ließ sie wieder von ihm ab und lächelte.

Sie hatte ihre Entscheidung schon getroffen, als Ryon ihr den Vorschlag unterbreitet hatte. Es war die einzige Möglichkeit. Und die würden sie ergreifen müssen.

Ihre Augen funkelten, als Paige ihre Hände von Ryons Gesicht löste und sie stattdessen auf seinen Seiten legte, an denen sie dann langsam und genüsslich nach unten strich.

Das Treffen war erst Morgen...
 

„Ich werde dich nie anlügen.“ Es war zwar noch immer nicht das, was er genauso gerne sagen würde, wie er es auch nicht aussprechen konnte, aber zumindest entsprach es der Wahrheit und würde es immer tun.

Ryon könnte Paige nie hintergehen. Nicht, seit dem er so viel für sie empfand, wie jemand seiner Art nur für jemanden empfinden konnte.

Paiges Blick und ihre Hände, die seine Seite nach unten strichen, sagte mehr als Worte es je hätten tun können. Sie hatten noch Zeit, auch das drängende Verlangen war noch nicht so schlimm, dass sein Tiger ihm nicht diese Augenblicke der Ruhe gegönnt hätte. Das Tier verstand es nur zu gut und wollte seine Gefährtin ebenfalls mit Liebe und Zärtlichkeit in Besitz nehmen. Für rohen Sex war später immer noch genug Zeit. Ob sie nun wollten oder nicht. Die Natur war in diesem Fall die beherrschende Macht.

Ryon schob sich noch ein bisschen näher an Paiges Körper heran, so dass er halb mit unter die Decke kroch, die immer noch ihre nackte Haut vor der kühlen Abendluft schützte, die er so gerne roch. Er mochte den Duft von Natur und vermischt mit dem von Paige, war es das Beste, was man nur wittern konnte. Selbst wenn man kein Gestaltwandler war.

Er küsste zärtlich ihre Lippen, ihre Mundwinkel, ihre Wangen hinauf, hin zu ihren Augenlidern, über die temperamentvoll geschwungenen Balken ihrer Augenbrauen hinab zu ihrer Schläfe und blieb erst stehen, als sein Mund direkt auf ihrer pochenden Halsschlagader lag.

Seine Zunge glitt heiß und rau darüber, während seine Hände die Konturen ihres Körpers entlang streichelten. Noch hatte sie ihm nicht gesagt, er solle von ihr ablassen und solange sie das nicht tat, würde er es auch nicht können. Niemals. Außerdem war das Treffen mit den Hexen erst morgen und diesen Umstand würde er ausnutzen...

57. Kapitel

Mit Skepsis und einem tiefsitzenden Gefühl des Unbehagens, das auf mehrere Elemente zurück zuführen war, musterte Ryon das unscheinbare Haus mit dem weißen Lattenzaun und den Blumenkistchen unter jedem Fenster durch die Windschutzscheibe des Wagens hindurch.

Die Zahl auf dem ebenso weiß gestrichenen Briefkasten sagte ihm, dass sie hier richtig waren, obwohl kein Mensch auf der ganzen Welt auf die Idee gekommen wäre, hinter dieser unscheinbaren Maske aus verliebten Spielereien fürs Detail den Treffpunkt eines Hexenzirkels vorzufinden, während man bei dem Anblick doch eher an ein noch agiles Großmütterchen denken würde.

Aber genau darin lag schließlich der Sinn dieser Tarnung und da Mrs. McAndrews ihnen persönlich Ort und Zeit der nächsten Versammlung mitgeteilt hatte, würden sie sich einfach auf die Worte der Hexe verlassen müssen. Zumindest sah es schon einmal nicht nach einer Falle aus. Aber wehe wenn doch…

Der Tiger in ihm knurrte genauso aufgebracht, wie Ryons Stimmung nicht gerade die Beste war. Allein die Tatsache, dass er Paige unter fremde Leute brachte, während sie in dieser heiklen Phase war, widerstrebte ihm zutiefst. Lediglich der Umstand, dass sie hier vermutlich nur auf einen Haufen von Frauen treffen würden, beruhigte ihn etwas. Wäre auch nur ein Mann dabei, würde der Tiger wohl völlig durchdrehen und Ryon gäbe ihm nur allzu recht.

Rasch warf er einen flüchtigen Blick auf seine Gefährtin, ehe er die Wagentür öffnete und ausstieg. Tief sog er die kühle Abendluft in seine Lungen ein, um seinen Verstand zu klären.

So gerne hätte er Paige noch einmal in den Arm genommen, sie noch einmal geküsst und ihr leise Worte der Zuneigung zugehaucht, nun, da sie sich erneut in Gefahr begaben. Aber er konnte sie im Augenblick kaum ansehen, ohne es für sich selbst alles nur noch schlimmer zu machen. Eine einzige Berührung würde ihn regelrecht um den Verstand bringen.

Ryon hatte Paige zwar gesagt, dass es für sie beide eine Lösung war, wenn sie ihn abwies und dass sie die schwerere Bürde von ihnen beiden tragen würde, aber das hieß nicht, dass es ihn nicht ebenso quälte.

Dabei hatte sie ihn nicht einmal mit Worten abweisen müssen. Ein langer Blick der mehr sagte als tausend Worte, der erklärte, dass es nötig sei und nichts mit ihren Gefühlen für den jeweils anderen zu tun hatte. Dieser Blick war tiefer gegangen, als man mit den Augen sehen konnte. Es schien förmlich ein stilles Abkommen von Paiges Dämonin mit seinem Tiger gewesen zu sein und was auch immer genau dabei passiert war, es hatte zumindest den unbändigen Drang genommen, sich sofort wieder mit ihr vereinen zu wollen.

Natürlich war sein Tiger auch weiterhin unruhig und angespannt, so wie Ryon selbst es war, aber er kämpfte nicht mit der Vernunft um die Vorherrschaft, sondern litt lieber stumm vor sich hin, in der Hoffnung, dass auch das wieder vorbei gehen würde.

In diesem Sinne war es leichter, nicht den Trieben nachzugeben, aber schwer blieb es trotzdem. Und das, obwohl sie dem Bett gerade einmal vor knapp zwei Stunden entstiegen waren und davor auch nicht viel mehr getan hatten, als sonst in letzter Zeit.

Um sich von diesen schwierigen Gedanken abzulenken, die im Augenblick ganz und gar nicht sinnvoll waren, musterte Ryon skeptisch und mit äußerster Angespanntheit die Gegend. Alles war friedlich und der Wind trug ihm keine verräterischen Gerüche zu. Wenn er sich nicht irrte, roch es sogar nach Tee und Kuchen. Das hätte ihn auch nicht wirklich gewundert, wenn man an ihre erste Begegnung mit Mrs. McAndrews dachte.

„Die Luft ist rein, soweit ich das sagen kann.“, murmelte Ryon leise, so dass nur Paige ihn verstehen konnte, die ebenfalls aus dem Wagen gestiegen war.

Leise schloss er seine eigene Tür wieder und ging um den Wagen herum, blieb dicht hinter seiner Gefährtin stehen und achtete dennoch peinlichst darauf, sie nicht zu berühren. Dennoch konnte ihn nichts auf der Welt davon abhalten, sie beschützen zu wollen. Wenn nötig, mit seinem eigenen Körper als Schild.

In der Zeit ihrer fruchtbaren Phase war dieser Drang sogar noch weitaus intensiver und wenn man bedachte, wie Gestaltwandler mit ihren Gefährtinnen umgingen, hatte das wirklich noch etwas zu bedeuten.
 

Ihr Pferdeschwanz wippte leicht, als Paige zur Antwort nur andeutungsweise nickte. Rote Schuppen zogen sich in kleinen Wirbeln über ihren Nacken bis zu ihrem Haaransatz hinauf. Doch das war nur der winzige Teil, den man äußerlich von ihrer dämonischen Seite sehen konnte, während sie unter der Kleidung völlig in ihrer schützenden roten Haut steckte. Es besserte die Lage faktisch nicht wirklich, aber immerhin fühlte sie sich in dieser Form so, als könnte sie einem eventuellen Gefühlssturm in angemessener Art und Weise Luft machen. Wenn ihr diese runzelige Hexe auch nur einmal in die Parade fahren sollte, würde sie sämtlichen Nippes in ihrer Umgebung mit Wonne zum Schmelzen bringen!

Paiges Kiefer waren so fest aufeinander gepresst, dass sie schon nach der Stunde Kopfschmerzen zu bekommen drohte. Ihr war immer noch unbegreiflich, wie sie ihn hatte zurückweisen können. Noch dazu hatte es in dem Moment, als sie sich endgültig – zum Wohle aller Beteiligten – dazu durchgerungen hatte, Sinn ergeben. Etwas, das sich keine Sekunde später in Bedauern und Erschrecken aufgelöst hatte. Er würde sie noch nicht einmal berühren, verdammt noch mal!

Zerrissen von Wut auf sich selbst und ihrer beider Natur, außerdem auf die Situation, in der sie gezwungen waren, auf das zu verzichten, wonach die Dämonin, wie auch der Tiger schrien, wollte Paige nur irgendetwas in Flammen setzen. Die scheußlichen Gartenzwerge im Vorgarten schienen jeder einzelne eine dicke, fette Zielscheibe auf dem Bauch zu tragen.

„Lass’ uns den besch…“

Ein tiefer Atemzug zwischen den Zähnen hindurch, um sich von den 180 zumindest auf angemessene 90 herunter zu drehen. Ryon konnte doch als allerletzter etwas dafür, dass sie wütend auf alles und jeden war. Sogar auf ihn, weil er ihren imaginären Befehl nicht einfach ignorierte und wenigstens ihre Hand nahm! Warum konnte er nicht-?!

Mein Gott, dass es tatsächlich so schlimm werden würde…

Mit funkelnden Augen holte sie noch zweimal tief Luft, bevor sie entschlossen auf das Gartentor zuging. Je schneller sie es hinter sich brachten, desto schneller waren sie wieder zu Hause.

Toll. Was würden sie dann tun? Sich gegenseitig eine Gute-Nacht-Geschichte erzählen, bevor sie in einem jeweils anderen Raum ins Bett gingen?

„Scheiße.“ Jetzt hör’ schon auf!

Etwas Konzentration traute sie sich auch trotz der aufwallenden Hormone zu. Ihren Finger rammte sie trotzdem eher auf den Klingelknopf, als ihn einfach nur zu drücken, um ihre Ankunft anzukündigen. Wahrscheinlich wäre nicht einmal das nötig gewesen. Denn es dauerte kaum eine Sekunde, bis die Haustür geöffnet wurde und jemand – dem Schattenriss nach nicht Mrs. McAndrews – sie herein winkte.
 

In einer anderen Welt, einer anderen Zeit und einer anderen Situation, hätte er Paiges heftige Gefühlswallungen vielleicht sogar amüsant gefunden. Immerhin mochte er das Feuer in ihr, sowohl symbolisch als auch realistisch gesprochen. Aber im Augenblick konnte er ihr insgeheim nur zustimmen. Am liebsten hätte er mehr getan, als nur über ihre unzumutbare Lage geflucht. Denn im Grunde war es das doch. Einfach unzumutbar. Da würde ihm jeder Gestaltwandler recht geben, aber die meisten befanden sich zu dieser Zeit auch nicht im Krieg und somit höchster Alarmbereitschaft. Das erforderte leider solche Maßnahmen, so unerträglich sie auch waren.

Bevor Paige den Klingelknopf bestrafte, schloss Ryon noch einmal einen Moment die Augen, um sich zu sammeln. Als er sie wieder öffnete, schwang bereits die Eingangstür nach innen auf und obwohl er die Gestalt auf dem dunklen Flur nicht genau erkennen konnte, kam ihm der Geruch doch irgendwie bekannt vor. Aber das konnte er sich auch nur einbilden. Er war sich im Augenblick über gar nicht sicher, da im Grunde Paiges Geruch in seiner Nase das vorherrschende Element war und zugleich auch das quälendste.

Er musste sich noch stärker konzentrieren und konnte in dem bekannten Geruch keine bösen Absichten heraus filtern. Vielleicht so etwas wie Nervosität und Anspannung, aber nichts was auf einen bevorstehenden Überfall hinweisen würde.

Kaum dass Ryon nach Paige das Haus betreten hatte, wurde die Tür hinter ihnen wieder geschlossen und das mit so einer Endgültigkeit, dass es ihm die feinen Nackenhärchen aufstellte.

Ryon war natürlich kein Experte, aber er hätte seinen gestreiften Schwanz darauf verwettet, dass hier Magie im Spiel war. Weiße Magie. Diesen Unterschied konnte er durchaus noch erkennen.

„Guten Abend. Ihr werdet bereits erwartet. Folgt mir bitte.“

Nachdem Ryons Augen sich an das Dämmerlicht im Flur gewöhnt hatten, konnte er auch die junge Stimme mit der jungen Frau in Einklang bringen, dessen Erscheinung er nun klar und deutlich erkennen konnte. Sie kam ihm definitiv irgendwie bekannt vor. Aber woher hätte er auch jetzt nicht sagen können.

Sein Unbehagen stieg noch weiter an und in seinen Fingerspitzen kribbelte es.

Ryon ballte kurz die Fäuste, um seine Krallen am Ausfahren zu hindern und ging dann neben Paige den schmalen Flur entlang, mit dem Blick fest auf den Rücken der Frau geheftet, die er auf Anfang Dreißig schätzte.

Sein Verstand gab sich mit solch belanglosen Gedanken ab, um nicht an Paiges Nähe erinnert zu werden. Er hätte nur den kleinen Finger ausstrecken müssen, um ihren Arm zu berühren, aber stattdessen zog er sich noch etwas mehr zurück, soweit der beengende Flur das zuließ.

Die junge Frau mit den blonden kurzgeschnittenen Haaren führte sie in das ausladende Wohnzimmer des Hauses, das voller Frauen jeder Altersklasse zwischen Zwanzig und weit über Sechzig war.

Ryon blieb vor Paige im Türrahmen stehen, allerdings so, dass er sie nicht vollkommen verdeckte, aber auch offensichtlich in einer beschützenden Position. Das war eine rein instinktive Handlung, denn sein Verstand war von den vielen Gesichtern abgelenkt, die ihn mit verschiedenen Gesichtsausdrücken schweigend ansahen.

Die Geruchsmischung war verwirrend, da zwischen den Kräuterextrakten, dezenten Parfums und dem Geruch von Tee und Kuchen auch noch die ein oder andere Emotion heraus zu wittern war. Neugierde, Unbehagen, Erleichterung, Mitgefühl und Trauer, sowie Skepsis, Angst und … Empörung?

Keine der Anwesenden sagte etwas, stattdessen hatte Ryon das Gefühl sie hätten in ihren Tätigkeiten inne gehalten, sobald die Neuankömmlinge das Wohnzimmer mehr oder weniger betreten hatten.

Da Ryon nicht gewillt war, das Schweigen von sich aus zu brechen, musterte er die Frauen gründlich und obwohl viele unbekannte Gesichter darunter waren, so waren doch einige unter ihnen, die ihm vertraut waren. Schließlich blieb sein Blick an einer jungen schwarzhaarigen Frau mit stechend blauen Augen hängen, deren Gesichtszüge der ihrer Schwester so stark ähnelten, dass die Verwandtschaft nicht zu leugnen war.

Alices kleine Schwester Lea. Sie hatte früher ab und zu ihre ältere Schwester zu den Vollmondriten begleiten dürfen, die Marlene im engsten Freundeskreis abgehalten hatte. Und dem Blick nach zu urteilen, den die junge Frau ihm zuwarf, hatte sie ihn ebenfalls wiedererkannt. Dann fiel ihre Aufmerksamkeit neben Ryon auf Paige und obwohl sie es mit geübter Zurückhaltung tat, runzelte sie dennoch leicht vor Verwirrung die Stirn.

„Schön, dass ihr kommen konntet.“

Das war Mrs. McAndrews, die sich aus einem geblümten Sofasessel erhob und die Neuankömmlinge mehr oder weniger fröhlich anlächelte. Denn immerhin gab es nur noch wenig Grund zur Fröhlichkeit.

Ryon nickte ihr nur höflich zu, ließ aber keinen Moment lang seine Wachsamkeit fallen, denn nun wusste er den Grund, weshalb ihm einige Gesichter bekannt vorkamen. Er hatte sie, wenn auch meistens nur flüchtig, früher einmal gesehen. Ob nun auf dem Markt, wenn er Marlene begleitet hatte oder bei diversen Frauentreffen, an denen er zwar nicht teilnehmen hatte dürfen, aber dennoch jede der Damen ihm vorgestellt worden war, damit er sich versichern konnte, dass seiner Gefährtin keine Gefahr drohte. Auch wenn damals noch keiner hatte ahnen können, wie schlimm es in Wahrheit war oder besser gesagt, er alleine war im Dunkeln getappt. Unwissend und blind.

Seine Muskeln spannten sich merklich noch stärker an, als sie es ohnehin schon taten. Denn er erinnerte sich auch nur zu gut daran, dass einige von Marlenes altem Zirkel zu Boudicca übergelaufen waren. Keiner konnte behaupten, dass die hier Anwesenden nicht ebenfalls irgendwann nachgeben würden.

Sein Tiger stimmte ihm knurrend zu und schlich wachsam in seinem Kopf hin und her. Hoffentlich würde dieser Abend nicht zu lange dauern, denn irgendwann wäre eine emotionale Explosion bei dieser Anspannung nicht auszuschließen.
 

Paige stand in Ryons Schatten, halb von seinem Körper verdeckt. So, wie sie ihn inzwischen kannte, war das ein reines Zeichen dafür, dass er sie beschützen wollte. Was auch immer sie hier in diesem Raum voller fremder, magiebegabter Frauen erwarten würde.

Nur Frauen…

Paiges Schuppen kribbelten auf ihrer Haut, als sie darüber nachdachte. Wenn auch nur eine dabei war, die ihn zu lange anstarrte, dann würde hier im wahrsten Sinne das Höllenfeuer losbrechen!

Schon fast unnatürlich still standen sie beide da. Sie berührten sich nicht, hielten sogar so weit Abstand zu einander, dass Paige es als Qual empfand. Keine der Anwesenden würde auch nur Rückschlüsse ziehen können! Niemand würde auf die Idee kommen, dass sie beide zusammen gehörten. Und dabei pochte die Haut an ihrem Hals sogar noch sehr deutlich an der Stelle, an der Ryon sie im Verlaufe der vergangenen Nacht und des Tages immer wieder gebissen und sie mit ihrer Einwilligung als ‚sein’ gekennzeichnet hatte. Doch hier war keine Wandlerin anwesend. Niemand, der dieses Zeichen verstehen würde. Und genau das machte Paige schon rasend, bevor überhaupt mehr als diese karge Begrüßung ausgesprochen worden war. Sie wollte hier weg. Aber noch dringender wollte sie Ryon hier raus bringen. Fort von diesen vielen Frauen!

Für einen kurzen Moment stahl sich ihr Blick durch den Raum, solange alle Aufmerksamkeit noch auf ihren Begleiter gerichtet war. Tassen verharrten in vor Nervosität zitternden Fingern mitten in der Luft, Augen weiteten sich und Lippen öffneten sich leicht, um den erstaunten Ausdruck noch zu verstärken, den Ryon hervor rief. Sie schienen alle zu wissen, wer er war. Und was seine Anwesenheit zusätzlich zu bedeuten hatte. Mit ihm war auch das Schmuckstück hier und doch hatte Paige starke Zweifel, dass die Runde ihn nur wegen der Tatsache, dass er der Hüter des Amuletts war, mit solch einer … überwältigenden Menge an Gefühlen betrachtete.

Als die Stimmung ohne Umschweife in Mitgefühl umschwang, wurde Paige schlecht. Ein Kloß von der Größe eines Ankers bildete sich in ihrem Bauch und sie fühlte sich zurück in den Hausflur gedrängt, bevor auch nur das erste Stirnrunzeln sie erreichte. Kalt und abschätzend sah man sie an, auf die Art, wie nur Frauen es mit jemandem machen konnten, den sie nicht in ihrer Runde wollten. Aber warum genau…?

Verwirrung machte sich in Paige breit, die sie schon seit ihrer Teenagerzeit für überwunden geglaubt hatte. Was hatte sie denn jetzt schon falsch machen können? Sie hatte doch noch nicht einmal die Zeit gehabt, ein „Hallo“ über die Lippen zu bringen.

Nicht sicher, ob es die Sache besser machen oder sie sogar noch verschlimmern würde, trat sie einen Schritt aus seinem Schatten heraus, stellte sich mit Sicherheitsabstand neben Ryon und sah jeder der Anwesenden mit glühenden, dunklen Augen ins Gesicht.

„Guten Abend.“

Mrs. McAndrews sah für einen Moment so aus, als hätte sie in ihrem Tee einen Zitronenkern gefunden und ihn aus Versehen herunter geschluckt. Etwas, das Paige sogar die Kraft gab, ein Lächeln auf ihre schmal zusammen gepressten Lippen zu zaubern.

„Wir freuen uns ebenfalls über die Einladung.“

Ohne auf die Blicke zu achten, die sich aus verschiedenen Richtungen durch ihre Kleidung bohren wollten, ging Paige zum nächsten freien Platz auf einem Sofa und ließ sich so elegant sie es vermochte, darauf sinken.

Verdammt noch mal, wenn sie die lüsternen Blicke der Besoffenen im Fass aushielt, wenn sie nur mit einem leichten, weißen Kleidchen bekleidet herum lief, konnte sie wohl diese Weiber in die Tasche stecken.

Etwas pikiert bot Mrs. McAndrews Ryon einen Platz in einem einzeln stehenden Sessel an und schenkte den beiden neuen Gästen Tee ein, bevor sie zu so einer Art allgemeinen Begrüßung überging.

„Na, da wir alle wissen, warum wir hier sind, brauche ich ja gar nicht so viel zu sagen. Die meisten der Damen werden Ryon von der einen oder anderen Gelegenheit oder aus Marlenes Zirkeltreffen noch kennen.“

Sie lächelte einer jungen Frau zu, deren strahlend blaue Augen funkelten, bevor sie Paige einen derart kalten Blick zuschossen, dass sich deren Schuppen kurz klackernd auf ihrem Rücken aufstellten. Die filigrane Teetasse schien auf einmal tonnenschwer zu werden, wollte aus Paiges Hand gleiten, als diese endlich begriff was hier los war.

Nur mit Mühe konnte sie verhindern, dass ihre Hände in Flammen aufgingen, als sie auch noch verunsichert zu Ryon hinüber sah und damit ihre selbstauferlegte Sicherheitsgrenze überschritt. Der Anker in ihrem Inneren rutschte tiefer, während sich die schwere Metallkette um Paiges Herz wand und es zu zerquetschen drohte.

Ich will um Gottes Willen bitte bloß hier weg!
 

Es entging wohl keiner der anwesenden Frauen, dass Paige das Wort ‚wir‘ benutzt hatte. Für Ryon war es selbstverständlich, seine Gefährtin und sich als eine Einheit zu sehen. Untrennbar, egal in welcher Situation, aber für die Hexen in diesem Raum war es wohl so eine Art Bombe, die still und heimlich hoch ging und dennoch ihre Wirkung tat.

Ryon verstand das Ganze zuerst nicht. Er verstand weder, warum offensichtlich eine gleichgroße Mischung an Mitleid, wie auch an Empörung in der Luft hing, noch weshalb die Stimmung sich immer mehr zuspitzte.

Letztendlich war es sein Tiger, der ihn wild gebärdend darauf aufmerksam machte, wie seine Gefährtin still und leise von den anderen Frauen brüskiert wurde.

Ein Blick in die Runde und er stand nahe daran, das ganze Mobiliar zu Kleinholz zu verarbeiten.

Schlimm genug, dass er seine Gefährtin nicht einmal leicht berühren konnte. Aber dass man sie vor seinen Augen auch noch schweigend angriff und er dennoch nichts unternehmen durfte, ging gegen jeden seiner Instinkte. Der Tiger brüllte laut und zeigte wild fauchend seine Krallen, Ryon hingegen war dazu gezwungen, mit eisigem Schweigen den angebotenen Platz auszuschlagen und stattdessen mit verschränkten Armen im Türrahmen stehen zu bleiben.

Nicht in tausend Jahren hätte er jetzt einfach so dasitzen und Tee schlürfen können!

Als er auch noch Paiges Blick einfing und ihren sonst so lieblichen, aber nun deutlich verunsicherten Duft aufschnappte, verdunkelten sich seine Augen extrem auffallend, bis nur noch der flammend goldene Rand um seine Iris übrig blieb.

Jeder Muskeln in seinem Körper war angespannt und zum Angriff bereit und obwohl er sich keinen Millimeter von der Stelle gerührt hatte, lag der Tiger nun so dicht hinter der Oberfläche, dass manche Frauen unruhig auf ihren Plätzen hin und her rutschten, während anderen der Schweiß auf der Stirn ausbrach.

Oh ja, er war mehr als bereit zu töten, falls es die Situation erfordern sollte!

Doch anstatt seinem innersten Verlangen nachzugeben, richtete Ryon seinen stechenden Blick auf Mrs. McAndrews und meinte kurz und knapp mit eisiger Stimme: „Lassen Sie uns zum Punkt kommen – Boudicca. Wir – meine Gefährtin und ich – werden sie vernichten. Können wir mit eurer Unterstützung rechnen?“

Die Worte wir und Gefährtin betonte er extra, damit hier kein Zweifel bestand, wen die Damen hier so nonverbal angriffen. Und obwohl es für die meisten offenbar fast ein Schock war, dass er sich hier in aller Öffentlichkeit zu Paige bekannte, nachdem die meisten seine verstorbene Gefährtin gekannt hatten, fühlte Ryon bei seinen Worten dennoch nichts anderes als Stolz und Liebe für diese Frau. Niemals könnte er sie verleugnen, auch wenn er sie im Augenblick noch nicht einmal zu lange anblicken durfte. Es würde seine ohnehin schon brüchige Beherrschung völlig zertrümmern.
 

Paige glaubte ein Klicken zu hören. Es kam von nirgendwo her und schien doch so präsent, wie ein gedankliches Einrasten nur zu erspüren sein konnte. Welche der Damen diese Worte nicht verstanden hatte, würde wohl auch nicht wirklich von Nutzen sein.

Im ersten Moment war selbst Paige perplex über die Art, wie Ryon sie so selbstverständlich und derart nachdrücklich als diejenige vorstellte, die nun seine Gefährtin war.

Betretenes Schweigen breitete sich aus und Paige fiel auf, dass nur eine der Damen, die mit den dunklen Haaren und den stechend blauen Augen, ihren Blick auf sie gerichtet hielt. Neugierig diesmal, aber immer noch mit einem feindseligen Anteil, der sich nicht verleugnen ließ. Paige starrte zurück. Ihr war es nicht unangenehm, dass Ryon ausgesprochen hatte, in welcher Beziehung sie zu einander standen. Nicht einmal vor diesen Frauen, die wahrscheinlich alles Andere als positiv darüber dachten. Doch Paige wusste, dass sie Marlene nicht verdrängt hatte. Nicht einmal ihren Platz hatte sie bei Ryon eingenommen – hatte es nie tun wollen. Also auch kein Grund sich fälschlicherweise für die Tatsachen zu schämen oder ein schlechtes Gewissen zu haben.

Schon allein das schaudernde Zittern, das ihre Wirbelsäule beim Klang von Ryons eisiger Stimme hinunter lief, erinnerte Paige daran, wie er gewesen war, als sie sich kennen gelernt hatten. Nein – sie würde niemals ein schlechtes Gewissen haben können für das, was sie beide für einander empfanden. Ryon war Marlene immer treu gewesen. Sogar Jahre nach ihrem Tod. Solange er mit ihr – Paige – glücklich war, konnte kein noch so aggressives Damenkränzchen der Welt ihr einreden, dass es falsch sein konnte, was sie für ihn war.

„Ehm…“ Mrs. McAndrews hielt sich nach diesem direkten Anfang besser, als Paige vermutet hätte. Immerhin stand sie noch auf ihren Beinen.

„Ehm…“, räusperte sie sich noch einmal, um dann einen fragenden Blick in die Runde zu werfen, bevor sie etwas zusammenhängender weiter sprach.

„Natürlich. Boudicca ist unser aller Problem. Genau aus diesem Grund haben wir ja dieses Treffen anberaumt. Wir wollen uns gegenseitig helfen.“

„Na, so weit so gut.“, konnte Paige sich nicht verkneifen etwas aufstachelnd zu zischen. Mit weiteren Kommentaren hielt sie sich allerdings zurück, als eine Frau mittleren Alters sie völlig entgeistert und auf eine Weise ansah, die Paige verdeutlichte, dass es hier um mehr ging, als ihren soeben leicht angekratzten Stolz. Sie saßen alle im selben Boot. Und auch wenn diese Hexen es gut verbergen konnten. Sie hatten Angst.

„Ich wollte sagen, dass es mich freut das zu hören. Immerhin können wir für jede helfende Hand – vor allem wenn es magische sind, wie ihre – sehr dankbar sein.“

Ihre Stimme war wesentlich weicher und diplomatischer geworden. Warum das alles nun aus ihr heraus sprudelte, wusste Paige zwar nicht, aber aufhalten würde sie es erst, wenn sie hier mit Ergebnissen auf dem Tablett aufwarten konnten.

„Wie ich durch … Recherchen … heraus gefunden habe, wurden fast alle von ihnen von Boudiccas Schlägertrupps aufgesucht.“ Betretenes Nicken von den meisten.

„Gibt es denn jemanden, den sie noch nicht besucht haben? Jetzt, da wir uns in dieser Gruppe zusammen gefunden haben und uns einig sind, dass wir gegen sie vorgehen möchten, wäre es eine Möglichkeit über ihre Laufburschen heraus zu finden, wo sich Boudiccas Hauptquartier befindet.“

„Moment, Fe.“

Aus dem Mund einer ihr völlig Unbekannten hörte sich der Spitzname fast wie eine Pfeilspitze an. Stand das etwa auf den Plakaten für die Kopfgeldjäger? Paige fiel dazu nur ein, dass sie Mia schnellstens beibringen wollte, sie bei ihrem normalen Vornamen zu nennen.

„Und Sie sind?“

Die junge Hexe schien verwirrt wegen der Frage nach ihrem Namen. Hilfe suchend sah sie in die Runde, schien aber außer leeren Blicken keine Antwort zu bekommen.

„Becci.“

Paige grinste.

„Freut mich. Was wollten Sie sagen?“

Becci sah nicht so aus, als ob es sie freute, aber eine andere etwas ältere Dame grinste verstohlen in ihre Teetasse, während sie versuchte nicht weiter aufzufallen.

„Denken Sie denn tatsächlich, dass es klug ist, sich … sich in ihr Hauptquartier zu begeben?“
 

Ryon beobachtete stumm den Wortwechsel zwischen den Frauen. Es wurde von Minute zu Minute schwerer, sich auf das Gespräch zu konzentrieren und sein Nacken tat ihm bereits höllisch weh vor Anspannung. Aber er konnte sich einfach nicht lockern und obwohl er es zu ignorieren versuchte, dröhnte Paiges Duft doch wie Gongschläge in seinem Schädel. Da halfen selbst die vielen anderen Gerüche im Raum nichts.

Aber wenigstens gingen sie nicht mehr gar so feinselig seiner Gefährtin gegenüber vor. Was er den Anwesenden auch nur raten konnte. Es war im Augenblick nicht klug, ihn zu reizen.

„Wir denken, dass es vor allem klug ist, alle Informationen zusammen zu tragen, die wir über unseren Feind bekommen können. Aber selbst wenn es noch etwas dauert, am Ende läuft es darauf hinaus, dass Boudicca sich entweder selbst darum kümmert, ihre Ziele zu erreichen oder dass wir zu ihr gehen müssen, um das alles hier endlich zu beenden. Wir haben schon so viele … verloren und so viele Jahre in Angst gelebt. So kann es einfach nicht mehr weiter gehen.“

Ryons Stimme war immer noch eisig, aber nicht mehr schneidend. Er wusste doch zu gut, dass nicht nur er schwere Verluste hatte betrauern müssen, auch viele anderen der Frauen hatten jemanden verloren, den sie liebten.

„Dennoch sollte es allen voran darum gehen, die uns verbliebenen Verbündeten zu schützen, ehe wir auch nur an Angriff denken sollten. Ich kann nicht sagen, wie ihr es geschafft habt, so lange zu überleben, aber der Schutz, den meine Familie und Freunde hatten, ist nicht mehr ausreichend. Marlenes Zauber verblasst. Auch das ist ein Grund, weshalb wir heute hier sind.“

Einen Moment lang hielt Ryon in seinen Worten inne, während sich seine Augen zu einem besänftigten Gold umwandelten und er, obwohl innerlich kurz vorm Zerreißen, ruhig seinen Gedanken zu Ende aussprach.

„Wir brauchen eure Hilfe.“
 

Ein Raunen, das Paige schon früher erwartet hatte, ging erst dann durch den Raum, als Ryon davon sprach, dass Marlenes Zauber langsam Lücken zeigte. Worte, die das Gesicht eines nun toten Werwolfs von Paiges inneres Auge führte und sie hart schlucken ließ. Oh ja, sie brauchten ganz dringend Hilfe. Und es tat ihr jetzt wirklich Leid, dass sie sich mal wieder nicht im Griff gehabt, sondern die Anwesenden auch noch in gewisser Weise angegriffen hatte.

"Wissen Sie, was es für ein Zauber war, den Marlene benutzt hat?"

Es war die gleiche Frau, die in ihre Teetasse gegrinst hatte, die sie nun ordentlich auf der Untertasse auf dem Tisch abstellte. Sie sah Ryon auf eine Art an, die Paige verriet, dass ihr der Mann, der eigentlich nicht wirklich einer war irgendwie ... beängstigend vorkam. Als sie noch einen verstohlenen Blick in die Runde warf, während sie auf die Antwort wartete, fiel ihr auch auf, dass sich die Damen mit Paiges eigenem Auftreten nicht ganz wohl zu fühlen schienen.

Wie mussten sie beide auch auf diese Leute wirken? Wahrscheinlich hatten sie sie nur auf Suchplakaten mit einem saftigen Kopfgeld gesehen, bevor sie hier aufgetaucht waren. Oder hatten sogar nur von ihnen gehört. Dem Gestaltwandler und der halben Feuerdämonin. Wenn sie sich nun in die Rolle eines einfachen, noch dazu recht verängstigten Menschen versetzte, musste ihr Auftritt sehr seltsam angemutet haben.

Paige schlug die Wimpern nieder und zog die Schuppen zurück, die sich über ihrem Kragen auf ihrer Haut gezeigt hatten.

Es war leichter um Hilfe zu bitten, wenn man nicht auch noch ein unangenehmes Grundgefühl verbreitete. Oder hatte sie sich nur eingebildet, dass ihre Sitznachbarin auf dem geblümten Sofa leicht aufatmete, als sie die Veränderung an Paige bemerkte?
 

Obwohl er nicht genau sagen konnte, wieso, hatte Ryon eigentlich eher mit einer Ablehnung gerechnet, anstatt einer solchen Frage. Vielleicht lag es einfach daran, dass er nur noch sehr wenigen Personen vertraute und diese Frauen hier waren ihm alle ganz und gar fremd. Außerdem, warum sollten auch sie ihm vertrauen?

„Ich bin kein Experte in diesem Fach und da mich Marlene damals nicht in ihren Plan eingeweiht hat, kann ich nur Vermutungen anstellen.“

Es war unglaublich, wie sehr er sich doch in den letzten Wochen verändert hatte. Am Anfang war auch nur die Erwähnung ihres Namens eine Qual gewesen und auch wenn er jetzt immer noch einen tief sitzenden Stich in der Brust spürte, jedes Mal wenn er etwas im Zusammenhang mit seiner verstorbenen Gefährtin erwähnte, so konnte er doch darüber sprechen.

Ryon wusste, dass er das nicht alleine geschafft hatte. Umso mehr vertraute er seinen Freunden und vor allem Paige, die sein Herz wieder hatte warm werden lassen. Eigentlich sogar heißglühend, wenn man es recht bedachte.

„Ich gehe davon aus, dass es eine Art Verschleierungszauber ist. Wenn sich unbefugte dem Grundstück nähern, verspüren sie eine unerklärliche, aber tiefsitzende Furcht. Diejenigen, die sich dem widersetzen können, werden nur meilenweit Wald erkennen können, anstatt der massiven Grundstücksmauer. Ich denke, gewöhnliche Menschen oder magisch begabte Personen ohne ausgezeichnete Sinne wie die von Tieren, würden diesem Schutz im Augenblick auch weiterhin nichts entgegensetzen können. Aber vor kurzem hat es ein Werwolf geschafft, einzudringen, anhand von Geräuschen und Gerüchen. Das müssten wohl die ersten Komponenten des Schutzes sein, die nachlassen. Wenn auch noch der unsichtbare Schleier fällt, sitzen wir wie auf dem Präsentierteller.“

Und das war noch untertrieben. Aber die Ernsthaftigkeit der Lage konnte er auch so in den Gesichtern der Frauen ablesen. Es war vielleicht kein Werwolf, der bei der ein oder anderen von ihnen an die Tür geklopft hatte, aber bestimmt ebenfalls nichts, mit dem man sich anlegen wollte.
 

Die Vorstellung krabblete ihr die Wirbelsäule hinunter wie eine Horde Giftspinnen. Auf dem Präsentierteller... Sofort ergriff die Sorge um Ai, Mia und die Anderen Besitz von ihr. Und eine Welle schlechten Gewissens brandete über sie hinweg. Immerhin hatten Ryon und sie sich in den letzten Tagen und Nächten nicht gerade wie aufmerksame Beschützer aufgeführt. Oder auch nur wie ein ordentlicher Teil der kleinen, bunten Familie.

Paiges Wangen glühten unter der Erkenntnis, dass sie sich mehr wie Eltern verhalten sollten und nicht wie hormongesteuerte Teenager. Mit neu gefasster Entschlossenheit sah sie zum Türrahmen hinüber, in dem Ryon immer noch lehnte und bekam eine volle Breitseite dessen, was sie gerade noch mit eiserner Vernunft hatte herunter kämpfen wollen.

Wenn sie jetzt zu ihm hinüber ging...

Irgeneiner der Sätze, die im Raum herum schwirrten, riss sie aus ihren mehr als unanständigen Gedanken. Genau zum richtigen Zeitpunkt, denn der Hexe, die immer noch neben Paige auf dem Sofa ausharren musste, drohten die Augen aus dem Kopf zu fallen, die sie starr auf den blubbernd kochenden Tee in Paiges Tasse gerichtet waren.

"Tut mir leid...", murmelte Paige leise, auch wenn sie sehen konnte, dass es die Frau sicher nicht beruhigen konnte. Eher das Gegenteil schien der Fall zu sein.

"Ich denke jedenfalls, dass Ihre Vermutung richtig ist. Und sollte das stimmen, ist es kein Problem für uns, den Schutz zu erneuern."

Nun hatte Paige wirklich Grund aufzuhorchen.

"Es ist nur so, dass wir uns alle kaum noch aus unseren Häusern trauen. Immer wieder schleichen diese grässlichen-"

Die Frau, die sich in Rage geredet zu haben schien, hielt aprupt inne und sah mit vor Schreck geweiteten Augen zu Paige hinüber, als könnte diese auf ihre Andeutung einer Beleidigung hin doch noch ihr wahres, abschreckend hässliches Gesicht zeigen und sie alle zur Hölle jagen. Denn dort kamen die Dämonen doch her, nicht wahr? Zumindest soweit es den Aberglauben der Menschen anging.

Paige lächelte sanft.

"Dämonen. Diese Kerle, die vor ihren Häusern herum lungern und Boudicca bei ihrem düsteren Handwerk helfen, sind echte Dämonen. Was nicht heißt, dass sie unsterblich oder unbesiegbar sind. Nur härter zu knacken, wenn man so will."

Sie hatte versuchen wollen, die Damen zu beruhigen. Natürlich nur in einem Maße, wie es in dieser schwierigen Situation möglich war. Paige wusste doch noch zu gut, wie sie selbst vor den beiden Angreifern in jener Nacht vor Mrs. McAndrews Haus einfach geflohen war. Aber sie waren eine große Gruppe. Man konnte die Magie fast in der Luft knistern hören. Gemeinsam hatten sie gute Chancen. Wenn sie sich denn ihrer eigenen Fähigkeiten und ein wenig Mutes besinnen konnten.

"Es ist sehr gut, dass sie gegenseitig auf einander aufpassen. Das sollten wir auch alle weiterhin so pflegen. Vor allem solange wir noch versuchen heraus zu finden, was uns im Endeffekt bei der Beseitigung Boudiccas wirklich von Nutzen sein kann. Darf ich Sie nach ihren Informationen fragen? Immerhin haben Sie alle schon sehr viel länger und in viel direkterer Weise mit ihr zu tun gehabt, als wir."

Diesmal verkniff sie es sich, zu Ryon hinüber zu sehen. Konzentration war gefragt. Sonst würde sich der Abend unwillkürlich in die Länge ziehen. Etwas, das vermutlich keiner von ihnen wollte. Paige jedenfalls nicht.
 

Ryon spürte Paiges Blick wie warme, liebkosende Sonnenstrahlen auf seiner Haut, die ihn streichelten, ihn aufstachelten und noch mehr folterten, als es ihr Duft ohnehin schon tat. Nur ihrer Abweisung war es zu verdanken, dass er nicht quer durch den Raum marschierte, sie über seine Schultern warf und ein leeres Zimmer suchte, um ihr die Kleider vom Leib zu reißen und sie verlangend und wild gegen die Wand zu vögeln.

Aus diesem Grund und keinem anderen, zog er sich ein paar Zentimeter in den Hausflur zurück, während er seinen Blick konzentriert und Interesse vortäuschend auf die selbst auserkorene Sprecherin heftete, so dass er Paige noch nicht einmal in seinen Augenwinkeln sehen konnte. Denn ihre Anwesenheit war für den Rest seiner Sinne schon berauschend genug. Ein Blick und er müsste riskieren, das ohnehin beengende Ausmaß seiner extra dafür angezogenen Jeans, deutlich über zu strapazieren. Selbst der Gedanke, dass das der peinlichste Moment in seinem Leben sein würde, da er sich dabei mitten unter einer Vielzahl von Damen aufhielt, könnte ihn nicht mehr weit genug hinunter kühlen.

Das ihm ein kleiner, vereinzelter Schweißtropfen die Schlafe dicht am Haaransatz entlang hinunter lief, war wohl ein deutliches Zeichen, wie sehr er bereits in seinen eigenen Säften kochte, während er versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Den Damen mochte es vielleicht nicht bewusst sein, aber jeder der ihn kannte, hätte sofort gewusst, dass er sich nur noch mit Müh und Not beherrschen konnte.

„Nun, über Boudiccas Vergangenheit ist nicht sehr viel bekannt und ich nehme an, nur die wenigsten haben sie je zu Gesicht bekommen, ehe sie ihr Geheimnis auch schon mit ins Grab nahmen. Keiner weiß im Grunde wie sie aussieht, wie alt sie ist oder welche Schwachpunkte sie hat. Sie ist wie ein Schatten der Angst und Schrecken verbreitet.“

Dankbar für diese Ablenkung nickte Ryon gedanklich. Selbst Marlene hatte nichts Näheres über Boudicca berichtet und dabei war er sich sicher, dass sie ihm alles gesagt hätte, wenn sie es gekonnt hätte.

„Aber soweit wir bisher feststellen konnten, versucht sie jede begabte und weiße Hexe zu vernichten. Dazu benutzt sie ihre Handlanger und nicht wirklich Magie. Als wolle sie noch mehr Grauen verbreiten, in dem sie alle möglichen Geschöpfe und deren finsteren Seite über Unsereins herfallen lässt.“

„Stimmt.“

Alle Köpfe fuhren zu Alices Schwester Lea hinüber, die jedem einzelnen Anwesenden mit kühler Distanz und harten Gesichtszügen in die Augen blickte.

„Sie lässt uns lieber brutal verstümmeln und sorgt für ein anständiges Blutbad, als einen subtilen Zauber anzuwenden, der schnell und sauber töten würde.“

Ryon senkte, wie so manch andere betroffen den Blick. Sein begehrliches Verlangen wurde einen Moment lang zur Seite geschoben, um der Erinnerung an jene Nacht Platz zu machen, in der Marlenes beste Freundin grausam ermordet worden war.

Er hatte ja keine Ahnung gehabt, wie schrecklich die Bilder gewesen sein mussten, die Lenn in ihrer Vision gesehen hatte.

Seine Kiefer mahlten aufeinander, während seine Finger leise knackten, als er sie noch weiter anspannte.

„Das … wird nie wieder geschehen.“, knurrte Ryon leise, so dass sich nun alle Aufmerksamkeit wieder auf ihn richtete.

„Ich schwöre, solange ich atme, werde ich nicht zulassen, dass so etwas noch einmal geschieht. Eher lande ich in der Hölle.“ Um dort ein paar von besagten Dämonen zu verkloppen. Wieder und wieder und wieder, bis diese finsteren Kreaturen einmal ordentlich das Fürchten bekamen.

„Außerdem glaubt Boudicca doch, sie hätte es nur noch mit einzelnen, weißen Hexen zu tun, die sich hilflos in ihren eigenen Häusern verstecken. Aber was sie nicht weiß, ist die Tatsache, dass Marlenes Zirkel von damals vielleicht aufgehört hat, Rituale und Feste abzuhalten, aber so wie ihr hier heute vor mir steht, bin ich der Meinung, ihr Zirkel ist stärker denn je.“

Der Anflug von Hoffnung lag in seinem Blick. Dieses Mal nicht nur, weil er Paige versprochen hatte, nicht mehr negativ zu denken, sondern weil er wirklich davon erfüllt wurde. Der Zirkel war nicht zerbrochen. Das hatte Marlene nur geglaubt, da sie viele Mitglieder verloren hatte. Aber nun war doch deutlich, wie viele gute Hexen sich hier geschlossen zusammen hielten, um dem wirklich bösen Mächten entgegen zu treten und wenn es nur ihrem eigenen Schutz diente. Das war egal. Es war mehr, als das, womit Boudicca rechnen würde.

„Und solange wir zusammen bleiben und uns verbünden, kann sich diese schwarze Hexe auf Einiges gefasst machen!“

58. Kapitel

Die Diskussion war noch eine Weile so weiter gegangen. So schnell wurde man sich nicht einig, wenn es galt seine Angst in den Hintergrund zu kämpfen und sich auf einer sehr viel realeren Ebene in echte Gefahr zu begeben. Von sich aus und nicht, weil man von außen dazu gezwungen wurde. Angriff war nicht immer die beste Verteidigung. Das sahen auch viele der anwesenden Hexen so und Paige musste ihnen sogar Recht geben. Es war ein Unterschied, ob man sich versteckte und soviel tat, dass man selbst und andere geschützt waren oder ob man sich in den trotz allem unvermeidlichen Kampf stürzte.

Und dennoch hatten die meisten am Ende dem losen Plan zugestimmt, sich umzuhören, mehr Informationen zu sammeln, um über Boudiccas Handlanger an diese grausame Hexe heran zu kommen, die sich in mysteriöse Zurückhaltung hüllte. Paige brannte es unter den Nägeln zu erfahren, warum diese Frau sich nicht selbst um ihre Drecksarbeit kümmerte. Gerade wenn man bedachte, wie sehr sie an Ryon und das Amulett heran wollte. Es war schon irgendwie eigenartig, dass Boudicca Fehler von anderen riskierte, anstatt sich selbst auf die Suche zu machen und sich zu holen, was sie wollte. Oder konnte sie das aus irgendwelchen Gründen gar nicht tun?

In Grübeln versunken sah Paige aus dem Seitenfenster des Wagens. Sie war hinten eingestiegen, um der Hexe vorn Platz zu machen. Es war diejenige, die sich als Erste dazu durchgerungen hatte, Ryon und Paige eine Chance zu geben. Genauso wie der ganzen Aktion, Boudicca endlich das Handwerk zu legen.

Da war es kein großer Schritt gewesen Sally, so hieß die Dame, ein Stück mitzunehmen. Ansonsten hätte sie allein nach Hause laufen müssen. Und sie wollten ohnehin mehr oder weniger in die gleiche Richtung.

Indem sie das Fenster ein winziges Stück herunter kurbelte, ließ sie so viel Frischluft herein, dass die Duftzungen zerstreut wurden, die ihr schon wieder das klare Denken erschweren wollten.

Ryon saß am Steuer, durch die Autositze von ihr getrennt. Aber doch viel zu nah, um seine Anwesenheit ignorieren zu können. Vorhin, als sie eingestiegen waren, hätte Paige sich beinahe den Arm abbeißen müssen, um bloß nicht wie nebenbei seine Schulter zu berühren oder sich ihm sogar noch mehr zu nähern. Es war auch nicht mehr weit. Sobald sie Sally abgeliefert hatten, konnten sie nach Hause fahren.

Gerade als sie sich an diesem Gedanken mit Vorfreude festklammern konnte, bogen sie in dem Wohngebiet mit kleinen Zweifamilienhäusern um die Straßenecke. Paige hatte das Gefühl ihr Herz müsse stehen bleiben. Sie waren bereits vorbei, doch als sie sich vorsichtig umdrehte, war nur zu klar, dass sie sich nicht getäuscht haben konnte. Einem der beiden Männer in schwarz, die sich zielstrebig die Straße hinunter bewegten, war Paige schon einmal begegnet. Und sie erinnerte sich nicht gerade gern an dieses Zusammentreffen.

Beinahe hätte sie Ryon ins Lenkrad gegriffen, als der Sallys Anweisungen folgend auf die Bremse trat und in eine Hofeinfahrt bog, um schließlich vor einem in rosa gestrichenen Haus anzuhalten.

„Sally, ist das gesamte Grundstück durch einen Zauber geschützt? Oder nur das Haus?“

Von der Frage völlig überrumpelt drehte sich die Hexe um und sah Paige an, als wüsste sie nicht, was diese meinte. Allerdings schien der Ausdruck in Paiges lodernden Augen zu genügen, um eine Antwort auf ihre Zunge zu befördern.

„Das Grundstück. Bis zum Bürgersteig, aber...“

„Gut. Es tut mir Leid Sie zu beunruhigen, aber ich möchte, dass Sie ins Haus gehen. Drehen Sie sich am besten nicht um und zögern Sie nicht. Einfach reingehen. Und was auch passiert, kommen Sie nicht wieder raus, bis wir Sie angerufen haben.“

Paige hatte ihr Handy gezogen und sah Sally auffordernd an, die begriff und ihr eine Telefonnummer diktierte.

Im Angesicht dessen, was in wenigen Minuten passieren würde, hatte Paige sogar die Stärke, Ryon in die Augen zu sehen.

„Bring Sally zum Haus. Es sind zwei. Einen davon habe ich schonmal gesehen. Keine Ahnung, wer sein Partner ist.“

Damit war sie selbst schon aus dem Wagen gesprungen und lief die Einfahrt hinauf, um den Gehsteig hinunter zu spähen. Die beiden Männer hatten ihre Schritte beschleunigt und kamen auf das Haus zu, wie dunkle Rächer. Ihre Mäntel flatterten und Paiges grimmiges Lächeln wirkte vollkommen fehl am Platz. Aber es hatte seinen Grund. Der Zweite war nicht der Eisdämon, dem sie das letzte Mal nur so haarscharf entkommen war.
 

Ryon war dankbar, dass er fahren konnte, denn so musste er ein gewisses Maß an Konzentration unter allen Umständen beibehalten. Würde nicht das Leben von Paige und auch das von Sally auf dem Spiel stehen, wenn er einen Unfall baute, er hätte nicht einmal dazu die Kraft aufgebracht. Er konnte nur noch an das eine denken, woran Männer mindestens ihr halbes Leben lang dachten, während sie die andere Hälfte verschliefen und es wurde immer schlimmer. Als würde diese unsichtbare Macht, die ihn so vollkommen im Griff hatte, langsam aber sicher ihrem Höhepunkt zustreben und sich dabei immer weiter verstärken.

Als er jedoch um eine weitere Ecke bog, die Sally ihm angewiesen hatte, vernahm er sofort die kleinste Veränderung in Paiges Duft. Etwas stimmte nicht und als Ryon sie fragen wollte, was denn los sei, da kam sie ihm auch schon mit ihren Worten zuvor.

Sofort war er in höchster Alarmbereitschaft und wo zuvor noch ein roter Schleier der Erregung um seine Sinne gehangen hatte, herrschte nun vollkommene Klarheit.

Automatisch umfasste er das Lenkrad fester und versuchte die Straße im Auge zu behalten, während er durch den Rückspiegel auch immer wieder Paige beobachtete.

Endlich erwiderte sie seinen Blick und zog ihm mit ihren nächsten Worten beinahe den Boden unter den Füßen weg.

Er sollte Sally zum Haus bringen? Und was tat sie?

Keine Sekunde später bekam er auch schon die Antwort, als sie einfach so ausstieg, obwohl der Wagen, wenn auch langsam, immer noch fuhr.

Ryon hätte beinahe das Lenkrad verrissen, als nicht nur menschliche Panik ihn zu überrennen drohte, sondern auch der Tiger sich in seinem Kopf wild gebärdete. Sein Verstand hämmerte ihm ein, Sally einfach hier zu lassen und sofort zu Paige zu eilen, denn sie musste in Gefahr schweben. Er hatte es im Gefühl!

Ein weiterer Blick in den Rückspiegel und er trat statt auf die Bremse, wie er es eigentlich vorgehabt hatte, aufs Gas, um die letzte Strecke zu Sallys Haus so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Paige hatte ihn darum gebeten und nur deshalb würde er es tun. Kein Leben ging über das seiner Gefährtin. Wirklich keines.

Sally quietschte leise, als sie dank der harten Vollbremsung direkt in ihren Gurt geschleudert wurde, doch sie kam gar nicht dazu, sich wieder zu fangen, da hatte Ryon auch schon ihre Seitentür von außen geöffnet und den Gurt einfach durchtrennt.

Er warf sie sich wie ein Gepäcksstück einfach über die Schultern und vermutlich war es nur der nahezu greifbaren Gefahr zu verdanken, dass die Hexe sich nicht lautstark darüber beschwerte. Vielleicht hatte sie aber auch nur zu große Angst.

Ryon hatte die Frau auf alle Fälle schon vergessen, kaum, dass er sie durch das Gartentor geschoben hatte. Die nötigen Anweisungen hatte Paige ihr bereits gegeben. Er hatte dem nichts hinzuzufügen, sondern musste so schnell wie möglich mit ausgefahrenen Krallen, wildem Blick und mordlüsternen Gedanken zu seiner Gefährtin!
 

Der Abstand zwischen ihr und den beiden Männern schrumpfte zusehends. Sie kamen nun fast schon im Sprint näher und die Augen des Wasserdämons funkelten aufgebracht, als er Paige erkannte. Vermutlich hatte er damals nur einen kurzen Blick auf sie erhaschen können. Ihr Abgang war überraschend und schnell genug gewesen, um einer gepflegten Vorstellung zu entgehen. Dennoch schlug ihr der Hass so stark entgegen, dass ihre Panzerung unter der Kleidung sich noch verstärkte. Sie wäre auch sauer, hätte man sie einfach so über den Haufen gefahren. Außerdem war davon auszugehen, dass die Dämonen ganz schönen Ärger mit ihrer Chefin bekommen hatten, nachdem ihnen Paige entkommen war.

Je näher die beiden kamen, desto seltsamer kam es Paige vor, dass sich niemand in irgendeiner Weise äußerte. Weder die beiden Männer noch sie selbst gaben einen Ton von sich. Was hätten sie auch sagen sollen? Ein freundliches 'Hallo' würde es sicher nicht geben. Es reichten die Blicke, in denen die verschiedenen Elemente loderten. Ihr selbst wäre es bloß lieb gewesen, wenn sie in den grünen Augen des anderen Kerls erkannt hätte, welche Art von Gegner sie vor sich hatte. Eis war es nicht. Dafür war seine Haut nicht durchscheinend genug. Wasser war auch eher unwahrscheinlich. Aber was dann?

„Hey!“

Endlich hatte sich der Wasserdämon doch dazu durchgerungen, die Stille mit einem Wort zu durchschneiden. Nicht sonderlich kreativ, aber immerhin.

Etwa im Sicherheitsabstand von drei Metern vor ihr blieben die Männer stehen. Abschätzend sahen sie prüfend an Paige hinauf und hinunter.

„Du, heh?“

Am liebsten hätte sie ihn gefragt, ob er bis drei zählen konnte oder ob ihm dann sein Kopf aua aua machen würde.

„Verzieht euch.“

Dumpfes Lachen, das vom typischen Keuchen des halben Kiemenatmers unterbrochen wurde. Der Andere schien auch nicht sehr viel bewanderter in höflicher Konversation zu sein. Aber ein paar Worte mehr als sein Kumpel konnte er doch aneinander reihen.

„Und wer will uns dazu zwingen? Du und welche Armee?“

Es war unglaublich, völlig Fehl am Platz und dumm. Aber Paige prustete los, als Ryon genau in diesem Moment neben ihr auf der Bildfläche erschien. Groß, breit und so nah daran den Tiger auf die Männer stürzen zu lassen, dass der Vergleich sehr treffen war.

Sie fing sich keine Sekunde später und starrte den beiden Dämonen in die Augen.

Da habt ihr eure Antwort.
 

Ryon, der ohnehin nicht mehr sehr klar denken konnte, da in ihm einfach nur noch eine riesen Wut im Bauch war und der ungebändigte Drang, seine Gefährtin vor diesen Männern zu beschützen, verstand absolut nicht, was Paige so amüsierte, aber da sie im nächsten Moment auch schon wieder ernst wurde, konnte es nicht von großer Bedeutung gewesen sein.

Sein Körper straffte sich noch etwas mehr, während er sein Gewicht so verlagerte, dass er sofort losspringen könnte. Seine Krallen waren zum Angriff gekrümmt und obwohl seine Lippen regungslos aufeinander lagen, hätte man beinahe meinen können, das aggressive Knurren des Tigers hinter seinen Augen zu erkennen.

Ryons Atmung ging schwer und dehnte seinen angespannten Brustkorb jedes Mal bis zur Grenze der Belastbarkeit. Es gab keinen Muskel in seinem Leib, der nicht für einen Kampf bereit war, es fehlte nur noch der Funke, der ihn explodieren ließ. Denn es ließ sich nicht verleugnen, dass der Cocktail aus Verlangen, Begehren, Wut, Hass, Rachsucht und Beschützerinstinkt hoch explosiv war.

Schon unter normalen Umständen konnte Ryon gefährlich sein, aber gerade in dieser heiklen Phase, in der sich seine Beziehung zu seiner Gefährtin befand, war er absolut tödlich. Da sein nüchterner Verstand nur noch wenig mitzureden hatte.

Ein tiefes, bedrohliches Knurren vibrierte durch seinen Brustkorb, krallte sich seine Kehle entlang nach oben und wurde durch strahlendweiße, gefletschte Zähne, die seine sich zurückziehenden Lippen entblößten, nur noch untermalt.

Eine einzige falsche Bewegung und er würde den Tiger auf die beiden Männer ohne Rücksicht auf Verluste loslassen. Einen anderen Gedanken gab es einfach nicht.
 

Die beiden kapierten sofort. Ryons Knurren brach sich so derart bedrohlich durch die Nachtluft, dass selbst Paige sich die Nackenhaare zu Berge stellten. Wie hatte sie sich nur irgendwann auf ihn stürzen und glauben können, dass sie ihn besiegen konnte?

So schnell, wie er gekommen war, verdrängte Paige den Gedanken. Denn Bedauern wollte in ihr hochkommen, wenn sie an das Mal in Ryons Handfläche dachte. Eine Narbe, die er nie wieder loswerden würde. Und die er ihrem Feuer verdankte.

„Wir wollen nur eine Freundin besuchen. Was geht euch das an?“

Paige musste aussehen, als hätte ihr Gegenüber ihr gerade eröffnet, er sei ein Handelsvertreter für Wollknäuel. Dachte dieser Kerl denn wirklich, dass sie so dumm waren? Mit dieser müden Ausrede hatte er doch nicht gehofft sich aus der Affäre ziehen zu können.

„Die Freundin will euch nicht sehen. Und sie will auch nicht in Boudiccas illustre Gesellschaft eintreten, verstanden? Ich wiederhole mich nur ungern. Also zieht Leine.“

Die Augen des Wasserdämon huschten zwischen Paige und Ryon hin und her. Offensichtlich ging von dem Zweimetermann die größere Gefahr aus. Ein Irrglaube, den sie nachvollziehen konnte. Aber Paige würde nicht zulassen, dass Ryon sich auch so verhielt, als müsse er diesen aufziehenden Kampf allein schlagen.

Ihr Geduldsfaden spannte sich ins Unerträgliche, als die beiden Männer ein paar Schritte auseinander wichen. Nur ganz langsam, bedrohlich langsam, denn die Gesten ließen vermuten, dass es ein geplantes Manöver war. Paige Schuppen begannen langsam aber sicher unter der wachsenden Anspannung in ihrem Körper zu rebellieren. Erst recht, als sich der glänzend blaue Gegenpart über die menschliche Haut des Dämons ausbreitete. Schillernd wie ein Fisch sah er aus, in blau und Grüntöne gehüllt. Paige sah es kommen.

Die Wassergeißeln flitzten wie messerschafte Zungen auf sie zu. Aus den Fingerspitzen des Dämons schossen sie heraus und trafen Paige am Oberarm, wo sie ihren Mantel und den darunter liegenden Pullover aufrissen, ohne allerdings ihre Schuppen durchbrechen zu können. Das war genug.

Feuer umzüngelte ihren Körper, ließ die gesamte Kleidung in schwarzen Fetzen von ihr abfallen, die sich um sie verteilten und scheinbar orientierungslos ein wenig von der Hitze getragen in der Luft segelten, bevor sie zu Boden fielen.

Ohne genaue Vorstellung, was sie tun sollte, rannte Paige vorwärts, auf den Gegner zu, der ihr immer wieder Schläge verpasste, die ihre Flammen bedrohlich zischen ließen. Es hörte sich so an, als schütte jemand unablässig große Schlucke Wasser auf eine siedend heiße Herdplatte.

Sie erwischte ihn am Bein. Mit einem flammenden Tritt, der auch den Stoff seiner Hose in Feuer aufgehen ließ. Was den Dämon allerdings wenig beeindruckte. Eine Wasserfontäne prallte gegen Paiges Brust und raubte ihr den Atmen, schob sie zurück, bis sie keuchend mit dem Rücken auf dem Boden aufschlug.

Statt sich sofort erneut auf den Kerl zu stürzen, huschte ihr Blick für Sekundenbruchteile suchend umher. Wo war Ryon? Und wo – nein, noch wichtiger – was war der zweite Angreifer?
 

Obwohl Ryon beide Angreifer im Auge behielt, so richtete er seine volle Aufmerksamkeit eher auf den Mann, der Paige unangenehm fixierte. Seinen stillen Partner konnte man leichter vergessen, aber nicht vollständig.

Mit aller Gewalt rüttelte der Tiger an seinen Ketten, brüllte voller Wut und Hass, während er verzweifelt versuchte, sich zwischen seine Gefährtin und der Bedrohung zu stellen.

Nicht einen einzigen Kratzer sollte sie davon tragen, doch Ryons inzwischen sehr schwach gewordener, rational denkender Teil wusste, dass er Paige nicht vor allem beschützen konnte. Zumindest nicht alleine und wenn sie hier heil heraus kommen wollten, dann musste er ihr einfach vertrauen. Bedingungslos vertrauen und darauf hoffen, dass sie wusste, was sie tat.

Als der Wasserdämon jedoch den dummen Fehler machte, sie anzugreifen, rissen die Ketten des Tigers und auch noch der letzte Funke von rationalem Denken, war wie von einer heißen, brodelnden Welle aus kochender Wut und eiskaltem Hass weggespült.

Im gleichen Moment, als Paige neben ihm in Flammen aufging, explodierte sein Fleisch, seine Kleider wurden in Fetzen gerissen, noch während er zu einem Sprung ansetzen wollte, um den Dämon zu Fischstäbchen zu verarbeiten.

Doch anstatt die Pranken des Tigers in den Brustkorb des Wasserdämonen zu jagen, riss ihn etwas so hart von den Füßen, dass selbst seine Verwandlung einen Moment lang den Atem anzuhalten schien, ehe die Raubkatze sich mehrmals überschlug und einen Moment verwirrt und benommen liegen blieb.

Kaum eine Sekunde später kam der Tiger jedoch schon wieder auf die Beine, fauchte den zweiten Angreifer bedrohlich an, ehe es ihn förmlich wieder zum Kampf der Elemente zurück trieb, wo Feuer auf Wasser traf.

Wieder traf ihn etwas. Dieses Mal an der Schläfe und deutlich schwächer als noch zuvor, aber es ließ den Tiger gereizt herum fahren.

Sein Angreifer grinste ihn belustigt an und obwohl sich der zweite Treffer genauso echt angefühlt hatte, wie der erste, stand der Mann zu weit weg, um es selbst gewesen zu ein. Aber als der Tiger sich einen Moment lang umsah, erkannte er nichts, was man als Waffe hätte benutzen können.

Erneut fiel sein Blick auf den Kampf zwischen seiner Gefährtin und dem Wasserdämon. Wieder wollte er ihr zu Hilfe eilen, doch ein weiterer schwerer Schlag, der ihn im Rücken traf, verhinderte, dass er auch nur einen Satz nach vor tun konnte. Ein Stück Beton rollte ihm vor die Vorderpfoten und als er sich nach dem Angriff kurz schüttelte, rieselten kleine Steinchen von seinem Fell.

Warf der Kerl etwa mit Steinen nach ihm?

„Na, komm! Miez, miez, miez.”

Wenn der Tiger nicht ohnehin schon so unglaublich wütend gewesen wäre, spätestens jetzt stand das Todesurteil für diesen Mann fest. Tiger waren nicht ohne Grund die größten Raubkatzen der Welt. Sie wurden ihrem Stolz nur allzu gerecht.

Mit einem Brüllen, das ihm selbst durch Mark und Bein ging, stürzte er sich auf seinen Angreifer. Denn je schneller er diesem Idioten, die Kehle durchbiss, umso schneller konnte er seiner Gefährtin beistehen.

Obwohl das Raubtier wie eine gewaltige Dampflok mit Krallen auf den Mann mit den leuchtend grünen Augen zu donnerte, blieb dieser unbewegt stehen, noch immer mit diesem überheblichen Grinsen auf den Lippen.

Es würde dem Tiger eine Freude sein, ihm dieses Lächeln aus dem Gesicht zu fetzen.

Mit einem gewaltigen Satz sprang er mit voll ausgefahrenen Krallen direkt auf seinen Gegner zu, nur um zu spät zuerkennen, dass dieser genau darauf gewartet hatte.

Im Augenwinkel konnte der Tiger erkennen, dass etwas Großes, von schwarzgrauer Farbe seitlich auf ihn zuschoss und ihn förmlich aus der Luft fischte.

Ihm blieb die Luft weg, als das steinerne Geschoss seine Lungen zusammen quetschte und ein rasender Schmerz seine rechte Schulter hoch schoss, ehe er erneut im Staub auf dem Boden landete und noch ein kleines Stück über den Asphalt schlitterte.

Fassungslos, mit keuchender Atmung und einer sich ausbreitenden Taubheit in seiner rechten Vorderpfote, starrte er seinen Gegner mit gründlich musterndem Blick an, während er sich langsam wieder aufrappelte.

Der Asphaltbrocken, der nicht unweit von ihm auf dem Boden lag, war größer als der Kopf dieses Mannes und selbst wenn er nicht zu schwer zum Werfen gewesen wäre, sein Angreifer war direkt vor ihm gestanden, wie hätte er das Geschoss da von der Seite abfeuern können? Es sei denn, auch der Kerl war kein gewöhnlicher Mensch. Eigentlich hätte er damit rechnen müssen.

Der Tiger brauchte nur einen kurzen Blick auf den Kampf zwischen seiner Gefährtin und ihrer eigenen Bedrohung zu richten, um die nötige Kraft aus seiner erneut hoch schießenden Wut zu tanken. Wieder griff er den seltsamen Typen an, dieses Mal mit kleinen, kurzen Sätzen und dabei Haken schlagend, da ihn weitere Steingeschosse daran hindern sollten, näher zu kommen.

Wenn dieser Mann kein Dämon war, dann müsste das bedeuten, dass dieser sich nicht einfach mit einem Schuppenkleid schützen konnte und auch wenn er offenbar Stein beherrschte, so würde sein Körper doch immer noch bluten können.

Der Tiger würde es auf einen Versuch ankommen lassen.

Ohne auf die kleineren Geschosse zu achten, die er nicht rechtzeitig sehen konnte und ihn wie golfballgroße Hagelkörner trafen, schoss er unbeirrt auf seinen Gegner zu, dem das Lachen inzwischen vergangen war. Stattdessen traten Schweißperlen auf dessen vor Konzentration zerfurchte Stirn und ließen durchblicken, dass er nicht mehr allzu sicher war, einen großen Vorteil in diesem Kampf zu besitzen.
 

Mit einer Rolle entging Paige den Geißeln, die neben ihr einschlugen und den Asphalt aufrissen wie mürbes Leder. Sie kam auf die Füße und musste sich in der nächsten Sekunde ducken, um nicht noch weitere Schläge einzustecken, die langsam aber sicher blaue Flecken auf der Haut unter ihren Schuppen hinterließen.

Erneut stürzte sie vorwärts, warf dem Dämon Feuerbälle entgegen, von denen er die ersten mit einem massigen Wasserschild abwehrte, bevor die beiden letzten es durch die Barriere schafften, bloß um dann an seiner nassglänzenden Brust zu verdampfen.

Paiges Wut schraubte sich in die Höhe mit der Erkenntnis, dass diese Distanzangriffe nichts bringen würden. Dafür war ihre elementare Seite nicht gut genug ausgeprägt. Also noch näher ran.

Sie sprintete auf ihren Gegner zu, der wieder Fäden aus hartem Wasser auf sie einschlagen ließ. Doch was sie aus dem Tritt und fast zu Fall brachte, war das Brüllen, das irgendwo hinter ihr erklang. Paiges Haare zogen eine hell leuchtende Spur in die Nachtluft, als sie sich reflexartig nach Ryon umsah. Ihr Herzschlag war so hart und ängstlich, dass es ihr sofort Tränen in die Augen trieb, die sich in Wasserdampf auflösten, kaum dass sie über die Schwelle ihrer Lider getreten waren.

War er verletzt?

Das nächste was sie spürte, waren die schmerzhaften Folgen des Fehlers, den sie begangen hatte. Eine Wassergeißel, so dick wie ihr Handgelenk wand sich um Paiges Brust, drückte sie zusammen und ließ ihre Rippen bedrohlich knacken. Die Atemluft wurde aus ihr heraus gepresst, wie aus einem Luftballon und Paige wusste, dass es nichts brachte, um sich zu schlagen. Ihre brennenden Finger rutschten durch die Wassersäule, die doch so materiell war, um das Leben aus ihr heraus zu würgen.

Schmerzen schossen durch ihre Brust, brachten sie zum Keuchen, während sie in die Höhe und auf ihr Gegenüber zu gerissen wurde. Er schlug ihr gnadenlos mit der Faust ins Gesicht. Paiges Wange schien regelrecht in gleißendem Schmerz zu implodieren, während sie sich so stark auf die Lippen biss, dass Blut sich über ihr Kinn ergoss, bevor es blubbernd auf ihren Schuppen verkochte.

Der Druck um ihren Brustkorb verstärkte sich, ließ sie gequält aufstöhnen und vor Schmerzen und fehlendem Sauerstoff fast die Besinnung verlieren. Als er sie noch einmal mit voller Wucht ins Gesicht schlug gingen ihre Flammen zurück. Paiges Kopf rollte zur Seite, bevor sie wie betäubt in dem Klammergriff der Geißel hängen blieb.

Ihre Augen flackerten über den trüben Pupillen, während der Wasserdämon sie mit einem höhnischen Blick noch näher an sich heran zog.

„Ein Kätzchen und eine... was bist du, heh? Ein kleiner Feuersalamander, der gern ein Dämon wäre?“

Er hob ihr Kinn an, über das nun doch Fäden aus blutigem Speichel rannen. Im nächsten Moment veränderte sich sein Gesicht. Aus dem überheblichen Grinsen wurde Verwirrung, dann Erkennen, das sich in Todesangst wandelte, als er endlich begriff, dass es zu spät war sie loszulassen.
 

Der Tiger schaffte es nur, dem Kerl einen oberflächlichen Kratzer in die Brust zu ritzen, ehe dieser ihn mit einem weiteren Steinhagel zurück auf den Erdboden beförderte, dennoch sog dieser Mistkerl scharf die Luft ein, offenbar nicht an Schmerzen gewöhnt. Mochten sie noch so gering sein, im Vergleich zu dem, was der inzwischen geschundene Raubtierkörper alles hätte spüren müssen. Doch kein Schmerz war stark genug, um ihn daran zu hindern, den Mann immer wieder zu attackieren.

Zuerst hatte er noch versucht, den Steinschlägen auszuweichen, war dabei aber nie nahe genug an seinen Gegner heran gekommen, jetzt nahm der Tiger keinerlei Rücksicht mehr auf seine eigene Gesundheit.

Obwohl er sich mit seinen linken Läufen gegen den Aufprall der nächsten Steinschlägen stemmen musste, um nicht einfach umgenietet zu werden, schaffte es der Tiger seine rechte, inzwischen vollkommen kraftlose Pfote noch ein letztes Mal zu heben, um seinem verhassten Feind ein ordentliches Stück Fleisch aus dem Oberschenkel zu fetzen.

Sofort hörte der Angriff auf ihn auf und nichts konnte ihn mehr davon abhalten, dem Mann die Kehle durchzubeißen. Der Tiger straffte sich bereits für den tödlichen Angriff, als die einzige Sache der Welt, die ihn doch noch daran hindern hätte können, ihn erstarren ließ.

Das gekeuchte Stöhnen seiner Gefährtin ließ ihn herum wirbeln und als seine scharfen Raubtieraugen sahen, wie der Wasserdämon ihr mit der blanken Faust ins Gesicht schlug, drehte sein ohnehin schon angeknackster Verstand nun vollends durch.

Ohne noch weiter auf das klägliche winselnde Häufchen zu achten, dessen Blut ihm noch immer in der Nase hing, nahm er seine letzten Kräfte und wetzte auf den Wasserdämon zu, der seine Gefährtin quälte und somit sein Leben endgültig verwirkt hatte.

„Friss das … Scheißkatze‼“, brüllte der Steinbändiger hinter ihm her. Der Tiger reagierte nicht darauf. Nicht einmal, als etwas so dicht an ihm vorbei zischte, dass die Stelle, an der ihn das Geschoss berührte, brannte. Aber es brauchte schon mehr, um ihn aufzuhalten.

Ein verzweifeltes Schnauben entkam seinen gebleckten Zähnen, da er sich unbedachter Weise so weit von seiner Gefährtin entfernt hatte. Es waren zwar nur wenige Sekunden, die er brauchen würde, um sie zu erreichen, aber für ihn schienen sie sich in die Ewigkeit zu ziehen.

Erneut hörte er ein Zischen, auf das sofort ein weiteres, dieses Mal stärkeres Brennen in seiner linken Flanke aufflammte. Es tat nicht genug weh, um sich sorgen machen zu müssen und hinderte ihn auch keinen Moment lang am Weiterlaufen. Zumindest solange nicht, bis ihn eine ganze Salve davon erwischte. Überall kleine brennende Stiche, die in ihrer Anzahl ihn schließlich zuerst trudeln ließen, bis sein kraftloses Bein vollkommen unter ihm wegknickte und sein massiger Leib der Länge nach hinschlug.

Sofort rappelte er sich wieder auf, nur um daraufhin festzustellen, dass seine Muskeln ihm nicht mehr bereitwillig gehorchen konnten. Er fiel wieder hin.

Seine Sicht verschwamm vor seinen Augen. Schwarze Flecken tanzten um ihn herum und obwohl er nicht mehr weit von seiner Gefährtin entfernt war, die erneut einen Faustschlag hinnehmen musste, schaffte er es nicht, sich hoch zu kämpfen. Selbst dann nicht, als humpelnde Schritte von hinten auf ihn zu kamen.

Als der Tiger den Kopf drehte, um seinem Feind ins Gesicht zu blicken, erkannte er nur einen auf sich zurasenden Stiefel, der seinen wuchtigen Schädel zur Seite schleuderte.

„Es wird mir ein Vergnügen sein, dir jeden einzelnen Knochen zu brechen, nachdem deine Schlampe tot ist.“

Das Lächeln war wieder auf den Lippen des Mannes zurück gekehrt, als er erneut zutrat und die schwarzen Flecken vor den Augen des Tigers endgültig die Oberhand gewannen.

Die tiefe Verzweiflung über sein Versagen als Gefährte, die sein Herz auffraß, war unerträglicher, als alles, was er je verspürt hatte. Der Gedanke, nun auch Paige zu verlieren, brachte ihn schier um. Zumindest war das das Letzte, woran er denken konnte, als alles schwarz und still wurde.
 

Paige hörte Schritte hinter sich, jemanden, der schlurfend auf sie und den Wasserdämon zukam. Dieser fand seine Stimme wieder. Allerdings war sie schrill und von Panik verzerrt.

„Mach sie fertig!! Los, bring sie um!!“

Das Kreischen des Mannes ging nahtlos in einen Schmerzensschrei über. Die Augen wollten ihm aus den Höhlen treten, während er verzweifelt versuchte seine Hand von Paiges Kinn zu ziehen.

„Darf ich dir helfen... Dämon?“

Ihre Finger schlossen sich um sein Handgelenk, griffen fest zu und rissen seine Hand von ihrem Gesicht. Die Handfläche war nicht mehr als eine verkohlte, aufgerissene, blutende Masse, von der aus sich blubbernde Brandblasen seinen Arm hinauf zogen. Seine Haut platzte auf, verfärbte sich und gab seine Muskeln frei, die sich in Sekundenschnelle in verbranntes, kohlendes Fleisch verwandelten.

In seiner Todesangst zog der Wasserdämon seine Geißel noch einmal fester. Doch Paige legte ebenso unbarmherzig ihre Arme und Beine um ihn. Wie ein brennender Todesengel schlang sie sich um ihn, presste ihre Schuppen an seine, und ließ alle Schmerzen und Wut hinaus, die sich in ihrem Inneren zusammen gerottet hatten und für die er selbst verantwortlich war.

Paige spürte einen harten Schlag gegen ihren Rücken, der aber nicht verhindern konnte, dass sie in einem Ball aus Feuer aufging. Die Verteidigungsversuche des Wasserdämons verpufften im wahrsten Sinne des Wortes auf ihren gleißenden Schuppen. Ihre Panzerung leuchtete wie schmelzendes Glas, während sich der Dämon in Paiges Umklammerung unter gellenden Schreien immer weiter auflöste.

Sie sanken zusammen. Zu einem Häufchen aus schwelenden Knochen und Muskelresten, die einmal ein Dämon gewesen waren.

Paiges Schuppen bedeckter Körper hockte über ihm, sah auf das hinab, was vor Momenten noch ein Mann gewesen war. Einer, der sie nicht nur hatte töten, sondern auch beleidigen wollen. Und dabei hatte er von den beiden Angreifern noch den kleineren Fehler begangen.

Auf den Fußballen drehte sich Paige langsam herum. Ihr Blick fiel auf den zusammen gesunkenen, blutenden Körper des Tigers und dann auf den Mann mit dem verletzten Bein, der nur wenige Schritte von ihm entfernt stand.

Er hatte seine Augen auf das Häufchen rauchenden Drecks geworfen, das einmal sein Partner gewesen war.

Paige sah die gleiche Angst in seinem Gesicht, wie zuvor bei seinem Freund. Sie erhob sich. In wirbelnde Feuerzungen gehüllt ging sie gemächlich, mit fast schon elegantem Hüftschwung auf ihn zu, während der Kerl erst nach Sekunden realisierte, was passierte und erschrocken zurück taumelte.

Er schrie nicht, stattdessen winselte er um sein Leben. Er warf Steine nach ihr, spitz und hart. Solche mussten auch Ryon getroffen haben, dessen Flanke an vielen Stellen von den Angriffen gezeichnet war und blutete. Paige ignorierte sie einfach, auch wenn die scharfen Kanten es auch bei ihren Schuppen schafften Risse und Schnittwunden zu hinterlassen.

Der Mann ließ größere Geschosse auf Paige hinab regnen, die neben der leblosen Gestalt des Tigers stehen geblieben war und auf ihn hinunter sah. Er lebte. Doch sein Atem ging raspelnd und unruhig...

Ein angestrengtes Stöhnen ließ sie hoch und in die Richtung des Kerls blicken, der es gewagt hatte, Ryon zu verletzen. Zwischen ihnen schwebte ein Stein in der Größe eines Amboss in der Luft, erhob sich zitternd über Paiges Kopf, bevor der Kerl ihn losließ. Das Geschoss schlug dort ein, wo sie gerade noch gestanden hatte. Paige rannte vorwärts. Doch das hatte der Typ anscheinend voraus gesehen. Größere Brocken und scharfkantige Kiesel trafen sie im Gesicht, wollten ihren Lauf bremsen, bis der Mann einsah, dass sie sich nicht abhalten lassen würde. Sie wurde am Kopf getroffen, taumelte aber dennoch weiter. Der Angreifer ergriff die Flucht, rannte, als wäre der Leibhaftige hinter ihm her und schaffte es doch nicht, sich vor Paige in Sicherheit zu bringen, die sich mit einem Grollen, das aus ihrem tiefsten Inneren kam, auf ihn stürzte. Sie riss ihn zu Boden und deckte ihn zu. Mit einer Decke so warm, dass es seine Lungen verbrannte, die für einen letzten, erstickten Schrei nach Atem rangen.
 

Ein unmenschlicher Schrei riss an seinem Bewusstsein. Ließ seinen ohnehin schon rasenden Herzschlag wie Hammerschläge auf einem Amboss dröhnen und zwang seine verklebten Augenlider auseinander. Ein blutiger Schleier lag vor seinem Blick, der nicht viel mehr sah, als einen Haufen von etwas, das anhand einzelner Schenkelknochen noch als Mensch zu identifizieren sein konnte.

Ryons Verzweiflung schlug erneut mit voller Wucht zu, trieb ihn den Atem aus der Lunge und ließ einen unerträglichen Schmerz in seinem Brustkorb explodieren.

Der Schleier, der während des Angriffs des Tigers auf seinem Bewusstsein gelegen hatte, war verschwunden und auch wenn er sich ganz seiner tierischen Hälfte hingegeben hatte, so konnte er sich doch an alles haargenau erinnern.

Wo war Paige?

Verzweifelt versuchte er erneut auf die Beine zu kommen, oder wenigstens seinen Kopf zu heben, aber dieser schmerzte ebenso sehr, wie sein gepeinigtes Genick und der Rest seines wunden Körpers. Blut verklebte sein Fell, Staub und Dreck ließ seine Wunden brennen und die Tritte gegen seinen mächtigen Raubtierschädel schienen immer noch dröhnend dagegen zu donnern. Aber nichts war gegen die Pein, nicht zu wissen wo seine Gefährtin war!

‚Paige?‘

Es kam nur ein Laut, ebenso unmenschlich aber weniger laut, wie der, den er vorhin noch hatte hören können, über seine Lefzen und er sackte wieder in sich zusammen, da jede noch so kleine Bewegung sich so anfühlte, als würden kleine Seeigel in seinen Muskeln und unter der Haut stecken, die ihn bei jeder noch so kleinen Regung quälten.

Das Gewicht seines Schädels war zu schwer, um ihn weich zurück auf den Boden zu legen, stattdessen knallte er wieder auf den Asphalt und ließ Sterne hinter seinen Augenlidern explodieren, ehe die Dunkelheit und die Ungewissheit ihn erneut schluckte.
 

„Hätte er sich nicht noch wandeln können, bevor er k.o. ging?“

„Tyler!“

Paige half den beiden Männern dabei, Ryons schweren Raubtierkörper auf eine Trage zu hieven, um ihn ins Haus zu schaffen.

Es hatte keine zwanzig Minuten gedauert, bis Tyler und Tennessey nach Paiges telefonischem Hilferuf bei ihr gewesen waren. Man konnte fast sagen, dass sie wie die Notärzte auf dem Schlachtfeld erschienen waren, um die Verletzten einzusammeln. Paige selbst hatte es nicht großartig erwischt, mal von den blauen Augen und Blutergüssen abgesehen, die sich schillernd bunt auf ihrer Haut zeigen würden, sobald sie das Schuppenkleid fallen ließ.

Wie genau sie den massigen Körper des Tigers in den Kofferraum und die vorgeklappte Rückbank des Mercedes bekommen hatten, konnte Paige sich nicht erklären, aber das war auch weniger wichtig. Er war davon jedenfalls nicht aufgewacht. Und auch jetzt, da sie ihn über den Kiesweg einigermaßen holprig ins Haus bugsierten, wachte er nicht auf. Paiges Kopf wollte von ihrem ängstlich hämmernden Herzschlag explodieren. Sie hatte das Gefühl bereits die Risse fühlen zu können.

„Tennessey, ich weiß...“

„Ich muss ihn mir erst in Ruhe ansehen, Paige.“

Der Arzt sah sie ebenso besorgt an wie seinen bewusstlosen Patienten. Denn das Blut, das jener über dem Ohr im Fell kleben hatte, kam größtenteils von Paiges gerissenen Lippen, die nun höllisch brannten. Die ganze Fahrt über hatte sie beruhigend und doch voller Sorge auf ihn eingeredet. Er solle bloß nicht auf die Idee kommen, sie allein zu lassen!

„Na, also dann...“

In seinem Reich angekommen, knipste der Arzt die Untersuchungslampe an und machte sich so automatisch an die Arbeit, dass Paige direkt leichter ums Herz wurde. Wären die Verletzungen sehr viel bedenklicher als alles, was Ryon bisher nach Hause gebracht hatte, sie hätte es Tennessey bestimmt angesehen. So gut kannte sie den älteren Mann nun doch. Und außerdem glaubte sie nicht, dass er ihr etwas über Ryons Gesundheitszustand unterschlagen würde.

Trotzdem saß sie völlig verkrampft und nervös da, stand dann auf, lief im Zimmer umher, um sich dann wieder zu setzten und keine zwei Minuten später wieder von vorn anzufangen.

„Es geht ihm nicht so schlecht, wie es den Anschein hat. Keine Sorge. Das hält er schon aus.“

Die Augen des Doktors prüften nun doch sehr sorgfältig auch Paiges Gestalt. Seine buschigen Augenbrauen zogen sich grübelnd zusammen.

„Ist da noch mehr, was ich unter den Schuppen nicht sehen kann? Wie heißt es doch in meinem Beruf so schön: Sie dürfen sich bitte für die Untersuchung frei machen.“

Paige gehorchte nur, weil Ryon – nun etwas ruhiger atmend – eine Spritze bekam und im gleichen Raum weiter schlief, in dem Tennessey sie untersuchte.

Und auch wenn ihr das alles viel zu lange dauerte, war sie froh, als der Arzt auch ihr etwas gegen die Schmerzen gab, damit sie schlafen konnte.

„Wo sollen wir denn? Ich meine...“ Etwas Hilfe suchend sah sie Ryons Freund an. Er würde ihn doch nicht auf der Trage weiter schlafen lassen?

„Lass' das mal unsere Sorge sein.“
 

Paige hatte ihren Rücken vorsichtig an den weichen Bauch des Tigers gekuschelt. Am liebsten hätte sie ihre Arme um ihn geschlungen, um sich tief in seinem köstlich duftenden Fell zu vergraben. Aber das Risiko ihm Schmerzen zuzufügen war viel zu groß. Es war ohnehin schwierig gewesen ihn auf den Fußboden zu legen, ohne seine Seite zu stark zu belasten.

Tyler und Tennessey waren so nett gewesen, die Matratze ihres Bettes auf den Boden zu legen, damit sie es zumindest nicht so unbequem hatte. Räumlich auch nur einen Meter von ihm getrennt zu schlafen, das hätte Paige niemals gekonnt.
 

Ryon musste lange geschlafen haben. Traumlos, gefühllos … gedankenlos. Doch sofort, als sein Bewusstsein zurückkehrte und noch ehe er die Augen aufschlagen konnte, traf ihn alles wieder mit voller Wucht.

Er zuckte vor dumpfen Schmerz zusammen, als sich seine Pupillen nicht im hellen Licht des Tages zusammen zogen, wie sie es eigentlich hätten tun sollen, nachdem er seine Lider geöffnet hatte. Tennessey musste ihm schon wieder eine dieser höllischen Spritzen verpasst haben, denn obwohl seine Pupillen noch immer von den Drogen geweitet waren, so hatte er doch Schmerzen. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass sie nicht körperlich waren.

Etwas bewegte sich an seinem Bauch, vorsichtig und langsam, das ihn zuerst erstarren und dann ebenso vorsichtig seinen Kopf heben ließ.

Die schiere Erleichterung, die sich bei Paiges Anblick in Ryon ausbreiten wollte, verwandelte sich rasch in Wut und dann bitterer Enttäuschung über sich selbst.

Ihr Auge war geschwollen, ihre Lippe aufgeplatzt, auf ihrer Wange prankte ein Veilchen und wenn er sich so den Rest ihres Körpers ansah, der in einem großen Schlafshirt steckte, wurde ihm so dermaßen schlecht, dass er automatisch Ausschau nach der nächsten Topfpflanze hielt. Doch statt dem Gefühl nachzugeben. Schluckte er den bitteren Geschmack hinunter und schmiegte stattdessen voller Reue und um Vergebung bittend, seine breite Stirn sanft gegen Paiges Schläfe.

Ihr Geruch herrlicher, schöner und berauschender denn je, war ihm ein unendlicher Trost. Er hatte sie schon verloren geglaubt und nun schlief sie an seinen Körper gekuschelt bei ihm, eine Hand in sein dichtes Fell fest unterhalb seines Vorderlaufs gekrallt.

Ryon hätte weinen können, wenn er dazu in dieser Gestalt fähig gewesen wäre. Doch auch so, klangen seine leisen Laute traurig, entschuldigend und erleichternd zugleich.

Er hätte es nicht überstanden, wenn er sie tatsächlich verloren hätte. Das war eine Erkenntnis, die ihm dieser Kampf und der schreckliche Anblick von Paige, der man Gewalt angetan hatte, nur noch bestätigte. Ohne sie, könnte er keinen weiteren Atemzug mehr tun.
 

Tennessey hatte sich bereits im Voraus bei Paige entschuldigt. Mit der Dosierung für Ryon kannte sich der Arzt inzwischen so gut aus, dass er die Spritze mit dem Beruhigungsmittel im Schlaf aufziehen konnte. Aber der Halbdämonin wollte er nichts verpassen, was ihr am Ende auch noch schaden könnte. Also hatte er sich auf menschliche Maßstäbe beschränkt.

Was dazu führte, dass Paige wach lag. Sie war vollkommen müde und erschlagen, hatte das Gefühl nicht einmal die Augenlider heben zu können und doch war ihr Körper rastlos. Bleischwer und doch voller Energie, die dafür sorgte, dass sie sich herum warf, bloß um so immer wieder auf unangenehme Weise daran erinnert zu werden, dass nicht nur Ryon in diesem Kampf Einiges abbekommen hatte.

Er schlief neben ihr. Beruhigend tief und fest, mit gleichmäßigen Atemzügen, die seine gestreifte Brust hoben und senkten. Paige schaffte es ein paar Mal, die Augen zu öffnen und ihn immer wieder interessiert im Mondlicht zu betrachten. So lange war sie noch nie in Gegenwart des Tigers gewesen. Und irgendwie war es seltsam, dass er nicht bei Bewusstsein war und sie somit vielleicht den Mann im Inneren erkennen konnte. Ihre zähen Gedanken bildeten die Frage, ob sie Angst vor ihm haben sollte. Immerhin war er ein Raubtier, vollkommen orientierungslos, wenn er aufwachte. Und vermutlich noch auf die Ereignisse eingestellt, von denen er nicht wusste, dass sie längst vorüber waren.

„Es ist alles in Ordnung, hörst du?“

Sie konnte ihre Stimme selbst kaum hören, so leise und belegt klang sie.

Aber es war auch nicht nötig, dass sie noch länger mit ihm sprach. Denn eins wusste Paige, auch wenn ihr logisches Denken ihr sagte, dass sie es eigentlich gar nicht wissen konnte: er würde ihr niemals wehtun. Egal in welcher Form.

Also schloss sie wieder die Augen und streichelte mit einer Hand seinen weichen Bauch, das warme, helle Fell, das sich zwischen ihren Fingern einfach himmlisch anfühlte. Es beruhigte sie so sehr, dass Paige irgendwann doch Schlaf fand. Und wenn sie wieder aufgeschreckt wurde, von Träumen oder einem schmerzhaften Druck auf ihren Rippen, dann konnte sie sich an ihn schmiegen, den warmen Duft einatmen und ihn weiter streicheln.
 

„... bin wach...“

Ein warmes Schnauben strich über ihre Wange und ganz nah an ihrem Ohr hörte sie gurrende, aber dennoch nachdrückliche Laute.

Paige hatte keine Lust aufzustehen.

Wie sie es immer tat, wenn sie zu spät ins Bett gekommen war oder einfach nicht hatte schlafen können, rollte sie sich spielerisch zu einem Ball zusammen und vergrub sich im nächstbesten, was sie finden konnte. Normalerweise war das ein Kissen oder eine Bettdecke. Diesmal war es weiches, duftendes Fell.

Es traf sie so hart, als hätte man einen Kübel eiskalten Wassers über ihr ausgeschüttet. Paige löste zwar ihre Hände nicht vom Bauch des Tigers, streckte sich aber so weit aus, dass sie ihm in die großen, goldenen Augen sehen konnte. Sie schienen beide über die Situation etwas ... verwirrt. Paige genauso wie der Tiger, hinter dessen Augen sie versuchte Ryon zu sehen. Die beiden waren eins und doch so unterschiedlich.

„Geht's dir gut?“

Zur Antwort erhielt sie nur ein recht träges Blinzeln, aber sie wusste, was er vorhatte.

„Warte.“

Eine Wandlung hätte ihm nur noch mehr Schmerzen verursacht. Etwas, das Paige ganz sicher nicht wollte. Um den Tiger zum Bleiben zu bewegen, drückte sie ihren Stirn sanft an seine, rieb ihren Nase an seinem Fell und schlang ihre Arme um seinen Hals.

„Du musst nicht immer sofort Platz machen. Ich hab euch beide gern...“, flüsterte sie ihm ins flauschige Ohr, bevor sich ihre Finger daran machten, ihn dort ausgiebig zu kraulen.
 

Als sie ihn darum bat, zu bleiben, obwohl er im Augenblick nichts lieber getan hätte, als Paige mit seinen menschlichen Armen fest zu halten und sie nie wieder los zu lassen, tat er, worum sie ihn gebeten hatte.

Ihre Finger in seinem Fell fühlten sich gut an und als sie die Stelle hinter seinem Ohr kraulte, die ihn am Hals des Mannes ebenfalls besonders wahnsinnig machte, hätte er nur zu gerne vor Wonne geschnurrt, erst recht, als er ihre Worte vernahm, aber stattdessen wuchsen seine Schuldgefühle ins Unermessliche.

Er – sowohl Tiger wie auch Mann waren sich in diesem Punkt einig – hatten diese Frau nicht verdient, denn sie waren nicht in der Lage gewesen, sie zu beschützen. Schon wieder.

Erst Marlene und nun Paige… Wie könnte er sich jemals wieder ins Gesicht sehen?

Langsam ließ er seinen Kopf wieder auf eine seiner Vorderpfoten sinken und starrte ohne zu blinzeln die Tür an. Inzwischen hatte er sich so hingelegt, dass er nicht mehr ganz auf der Seite sondern hauptsächlich auf dem Bauch lag. So konnte er leichter den Raum überblicken, ohne sich anstrengen zu müssen.

Ganz automatisch hatte er seine Beine näher an sich heran gezogen und somit Paiges Körper halbmondförmig eingekeilt.

In diesem Augenblick wollte er vor Scham und Frustration im Erdboden versinken oder sich wenigstens an Paiges Bauch kuscheln und sein Gesicht darin vergraben. Doch weder das eine noch das andere würde passieren. Viel mehr zwang er sich dazu, ihr wieder ins Gesicht zu sehen, sich dem schmerzlichen Anblick ihrer Verletzungen zu stellen und ihr tief in die Augen zu blicken.

‚Es tut mir so leid, Paige. So unendlich leid‘

Seine Worte kamen als leise vibrierendes Summen aus seinem geschlossenen Maul, während sich seine runden Ohren förmlich nach unten und hinten zogen, wie auch sein Kopf sich leicht senkte. Voller Reue und doch, als er sie vorsichtig mit seiner Nase seitlich gegen ihre gesunde Wange stupste und ihr sachte ins Ohr atmete, war Reue nicht alles was er empfand.

‚Ich liebe dich.‘ Er schnurrte es fast und ließ dann seine große lange Zunge über ihren Hals gleiten. Nicht wie eine Katze oder der Tiger der er war, sondern langsam und hingebungsvoll, wie er – Ryon – es sonst immer allzu gerne getan hatte und immer noch tat.
 

Paige hielt ihre Hand still und beobachtete genau, was der Tiger tat. Er legte die Ohren an und senkte den Kopf, um sie von unten her mit einem Ausdruck anzusehen, den sie absolut nicht deuten konnte. Es war wesentlich schwerer in dieser Gestalt mit ihm zu kommunizieren, auch wenn sie wusste, dass er jedes ihrer Worte verstehen konnte.

Und doch konnte sie auch in diesen Augen sehen, dass es ihm nicht gut ging. Paige hatte das sichere Gefühl zu erkennen, dass es nicht unbedingt die körperlichen Schmerzen waren, die ihn quälten. Was sich nur noch verstärkte, als er ihr so nahe kam, wie in dieser Form noch nie zuvor.

Wieder konnte sie seinen Atem an ihrem Ohr spüren und wäre trotzdem beinahe zusammen gezuckt, als sie die leicht raue Zunge des Tigers auf ihrem Hals spürte. Es war ... etwas ganz Besonderes und Paige ließ sich diese sanfte Behandlung nur zu gern gefallen. Sie legte ihr Gesicht auf einer der weichen Tatzen des Tieres ab und hielt ihm ihren Hals hin, damit er weiter machen konnte. Dabei fielen ihr nach einer Weile wieder die Augen zu.

"Ich liebe dich auch...", brachte sie noch zustande zu sagen, bevor sie nur zu dankbar noch einmal in den Schlaf hinüber glitt. Trotzdem schaffte sie es noch zu hoffen, dass Ryon sich ebenfalls ein wenig Ruhe gönnen würde.

59. Kapitel

Hitze überzog seine Haut, schien tief aus seinem Inneren zu kommen und war zugleich überall. Seine Muskeln protestierten ebenso wie sie sich immer wieder anspannten. In seinem Kopf und seinem Körper herrschte ein immer stärker werdendes Pulsieren, das ihn unruhig werden ließ.

Ryon wollte noch nicht aufwachen, fühlte er sich hier doch so wohl und sicher.

Paige war dicht bei ihm, der Duft ihrer Haut war alles was er riechen konnte und als sich sein Mund öffnete, um mit seiner Zunge seine Lippen zu befeuchten, konnte er sie ebenfalls schmecken.

Er seufzte leise und bewegte sich etwas. Dabei schob er sich enger von hinten an sie heran, um sich an sie zu kuscheln und bemerkte erst dabei, dass seine freie Hand unter ihrem Schlafshirt direkt auf ihrem flachen Bauch lag. Beschützend und Besitzergreifend zugleich. Sein Daumen strich träge über die weiche Seide ihrer Haut, doch als er seinen Hand nur ein Stück weiter nach oben streichen ließ, zuckte er vor Schmerz zusammen. Ob seine Schulter nun gebrochen oder nur geprellt war, machte keinen Unterschied. Es weckte ihn so oder so auf, aber mehr auch nicht. Er blieb wo er war. Hielt still und wartete darauf, dass der aufflammende Schmerz wieder abflaute. Danach seufzte er wieder zufrieden und erleichtert, während sein ganzer Körper vor Hitze glühte und das Pulsieren in ihm immer noch zunahm.
 

Sie schlief zwar tief, aber dennoch hätte sie auch ein leichteres Zucken von Ryon aufgeweckt. Die Sorgen um ihn hatten sie auch im Traum nicht losgelassen. Wirr und dunkel waren bedrohliche Gestalten um sie geflackert, hatten den Tiger angegriffen, ihn schwer verletzt und sie hatte ihn einfach nicht mehr aufwecken können!

Das Übelkeit erregende Gefühl hing ihr bis in den wachen Zustand nach, ließ sie hart schlucken und ihre Augen brennen.

Paige wagte kaum nach Ryons Fingern zu greifen, über sie zu streicheln, obwohl es sie so sehr beruhigte, dass sie seine Wärme unter ihrer Hand und auf ihrem Bauch spüren konnte.

"Soll ich Tennessey holen?", flüsterte sie leise. Das bedrückte Zittern in ihrer Stimme war nicht zu überhören und als sie sich leicht drehte, um ihm in die Augen sehen zu können, hatte Paige das Gefühl, das Brennen auf ihrer Netzhaut würde immer schlimmer werden.
 

Ihre Hand auf seiner tat so gut. Sie zu spüren war eine reinste Wohltat und auch wenn sie nie an seine Körpertemperatur heran kommen könnte, schenkte sie ihm doch eine Wärme, die mit nichts zu beschreiben wäre.

„Es geht mir gut.“, flüsterte er leise, dicht an ihr Ohr, ehe sie sich langsam zu ihm herum drehte, damit sie sich in die Augen sehen konnten.

Sofort schnürte es ihm die Kehle zu, als er ihre Verletzungen im Gesicht sah und das Pulsieren in ihm drin wurde wieder schwächer.

Vorsichtig löste er seine Hand von ihrem Bauch und strich hauchzart mit seinen Fingerspitzen über die geschundenen Stellen.

„Ich…“ Er musste an dem Kloß vorbeischlucken, der schmerzhaft in seiner Kehle brannte. Dagegen war das Brennen in seiner Schulter fast schon angenehm.

„Ich hätte viel mehr auf mich genommen, wenn ich damit hätte verhindern können, wie dieser Bastard dich schlägt.“

Betrübt schloss er die Augen. Die Szene, als dieser Kerl ihr mit der Faust mehrmals ins Gesicht geschlagen hatte, würde sich für immer in seine Seele brennen. Man hatte ihr vor seinen Augen weh getan und er hatte es nicht verhindern können. Das tat noch viel mehr weh, als sein schmerzender Körper.

„Es tut mir so leid…“

Ryon öffnete seine schmerzerfüllten Augen halb. Küsste Paige voller Zärtlichkeit über die verletzten Stellen und hauchte immer wieder, wie leid es ihm tat, ehe er bei ihren Lippen ankam. Ebenfalls gepeinigt und aufgerissen, so dass er sie kaum zu küssen wagte.

„Ich liebe dich, Paige.“

Er zog sie ein Stück näher an sich heran und hauchte ihr mit geschlossenen Augen einen weiteren Kuss auf den Mund.

„So sehr…“
 

Er machte sich tatsächlich Vorwürfe? Paige konnte gar nicht recht begreifen, was er da sagte. Er hätte mehr auf sich genommen? Und das, wo er schon bewusstlos geschlagen worden war?

„Ryon...“ Zwischen seinen Küssen hatte sie kaum Zeit, auch zu Wort zu kommen. Dabei würde sie ihm so gern das Selbe sagen.

Lächelnd nahm sie schließlich sein Gesicht in ihre Hände und blickte ihm tief in die Augen. Damit stoppte sie ihn so sanft sie konnte.

„Bitte ... mach dich doch deshalb nicht so fertig.“

Selbstquälerei war das letzte, was sie an ihm sehen wollte.

„Du hättest nichts tun können. Und...“ Jetzt war es an ihr, hart zu schlucken und kaum mehr zu Worten zu kommen.

„Ich bin nur froh, dass du lebst.“

Vorsichtig schlang sie ihre Arme um ihn und küsste ihn sachte auf den Nasenrücken, um dann über Umwege zu seinen Lippen zu wandern.

„Ich liebe dich auch. Von ganzem Herzen. Und ich will dich für immer behalten. Und zwar wenn möglich an einem gesunden Stück, hörst du?“

Streichelnd schob sie ihm die Haare aus der Stirn.
 

Während sie ihm ein paar Strähnen zurück strich, schmiegte er sein Gesicht in ihre Hand und schloss wohlig die Augen.

„Ich kann nichts an dem ändern, was ich fühle, aber ich kann dir sagen, dass ich unendlich stolz auf dich bin. Wirklich sehr stolz.“

Er lächelte und sah seine Geliebte wieder an.

Seine Hand strich über ihren Rücken, während er ein Bein um ihre legte, um sie noch mehr in Besitz zu nehmen. Dass dabei seine Hüfte und vor allem sein malträtierter Hintern ganz schön protestierten, konnte er sehr gut verbergen.

„Ich hätte nie gedacht, dass ich verkohlte Fischstäbchen so gerne haben würde.“

Ryons Lächeln wurde zu einem kleinen Grinsen. Es tat gut, als sich die Atmosphäre auflockerte und das Vibrieren in ihm, nahm erneut zu.

Zunächst hatte er keine Ahnung, was genau es ihm sagen wollten, aber da jede Berührung von und durch Paige ein elektrisierendes Prickeln in ihm auslöste, wurde er sich den gegebenen Umständen wieder bewusst.

Seufzend und ergeben, vergrub er sein Gesicht in Paiges Haar, so dass seine Stimme deutlich gedämpft wurde.

„Ich kann nicht glauben, dass ich schon wieder an Sex denke.“

Den Duft seiner Gefährtin sollte man wirklich für Notzeiten in Flaschen abfüllen.
 

"Verkohlte Fischstäbchen, hm?"

Das, was mit dem Wasserdämon Dank ihr passiert war, derart auf die Schippe zu nehmen, fühlte sich im ersten Moment absolut Fehl am Platz an. Es beschwor die dunklen Bilder dessen hervor, was Paige mit ihrer dämonischen Seite anrichten konnte. Was sie einem Menschen und auch anderen Wesen antun konnte, wenn sie wollte.

Ein Blick in Ryons Augen ließ sie allerdings ruhiger werden. Nein, von "wollen" konnte nicht die Rede sein. Sie hatte sich verteidigt. Ihr Leben und denjenigen, den sie über alles liebte. Dass sie nur auf diese grausame Weise hatte entkommen können, war eben ein schlimmer Teil ihrer Fähigkeiten. Aber deshalb musste sie trotzdem keinen Gräuel vor sich selbst empfinden.

Sie schaffte es ebenfalls zu grinsen und gab ihm einen weiteren vorsichtigen Kuss auf die Lippen. Obwohl ihre eigenen schmerzten, würde sie sich davon nicht abhalten lassen.

Das Thema, das er allerdings anschnitt, während er sich in ihr Haar kuschelte, war etwas Anderes. Paige streichelte über Ryons angeschlagene Schulter, auf der bereits jetzt ein Bluterguss in vielen bunten Farben schillerte. Er musste große Schmerzen haben. Sehr viel mehr, als er hinter seiner heldenhaften Fassade zeigte.

Ihre Hand legte sich kühlend auf die geschundene Stelle während sich Paige noch etwas Zeit nahm nachzugrübeln.

"Ich weiß nicht..."
 

Paiges nachdenklicher Tonfall schaffte es, obwohl es eigentlich ganz und gar nicht witzig sein sollte, ihn zum Lachen zu bringen. Erst leise, wie ein sanftes Vibrieren, doch schließlich wurde es lauter und obwohl alle seine Muskeln stöhnten, konnte er sich nicht aufhalten. Er lachte einfach weiter.

Erst als Ryon sich etwas gefangen hatte, wobei er trotzdem immer wieder los kicherte, meinte er so ernsthaft, wie es eben ging: „Paige, das war eine Feststellung, keine Aufforderung.“

Er gluckste immer noch in ihr Haar, als er sich an sie kuschelte und seufzte.

„Ich freu mich schon darauf, wenn das alles vorbei ist.“ Nun wurde er tatsächlich ernst.

„Wenn die Gefahr vorüber ist, mich dein Duft nicht mehr so vollkommen wahnsinnig macht und wir uns einfach zu jeder Zeit und jedem Ort, den wir wollen, lieben können, ohne Konsequenzen.

Hättest du dann auch Lust mit mir zu verreisen? Es hat vielleicht nicht den Anschein gehabt, aber du bist die Einzige, mit der ich durch die Weltgeschichte reisen wollte und immer noch möchte.“
 

Paige staunte. Mit offenem Mund und strahlenden Augen, als wäre sie ein Kind vor der Süßigkeitenhandlung. Es erschütterte sie in ihrem Inneren, kitzelte jedes ihrer Moleküle und brachte sie ebenfalls zum lachen, auch wenn sie gar nicht wusste, was so komisch war. Seine Grübchen waren wunderschön.

Während er noch von den Nachbeben des Scherzes, den Paige verpasst hatte, sanft geschüttelt wurde, nahm sie seine Hand und streichelte darüber. Es war vermutlich mehr um sich selbst noch weiter zu beruhigen als Ryon.

Trotzdem schien er genau in diesem Moment ernst zu werden. Und stellte ihr eine Frage, verpackt in so viele Eventualitäten, dass sie es erst einmal in ihrem Kopf sortieren musste.

"Solange es nicht nach Ägypten geht, bin ich dabei."

Ohne Konsequenzen... es hallte nach. Ganz leise nur, aber es war da. Stilles Bedauern, dass sie Ryon niemals zeigen würde.

"Sollen wir aufstehen und sehen, ob Tyler an uns gedacht hat?"
 

Nein, nach Ägypten würde er mit ihr nicht mehr reisen. Erst musste dort Schnee fallen, ehe er es sich noch einmal überlegen würde.

„Das will ich für ihn hoffen. Ansonsten muss seine geheiligte Ordnung in der Küche dran glauben.“, brummte Ryon, gegen Paiges Hals, als er ihr dort einen Kuss zu hauchte.

Er war sogar verdammt hungrig. Kein Wunder. Er musste sich dringend Energie für seine Erholung beschaffen, aber allein der Gedanke, das kuschelige Nest mit Paige verlassen zu müssen, bremste seinen Drang nach Nahrung. Er wollte nicht aufstehen.

Tat es dann aber doch, um sich ein Handtuch umzubinden. Frische Sachen zum Anziehen würde er aus seinem Zimmer holen müssen. Allein dieser Umstand ließ ihn bereits überdenken, zu Paige zu ziehen. Sehr viel mehr konnten sie das Zimmer ohnehin nicht mehr derangieren und außerdem war es ihm inzwischen sehr viel vertrauter, als das fremde Gästezimmer, in dem er zu Anfangs geschlafen hatte.

„Treffen wir uns in der Küche?“

Ryon beugte sich vorsichtig zu seiner Gefährtin herab, um zärtlich mit seinen Lippen über die ihren zu streifen. Dabei verkniff er sich jegliche Reaktion auf die Schmerzen. Er kam sich vor, als hätte er Stacheln im Po. Am besten er sah vor dem Essen noch mal bei Tennessey vorbei. Vielleicht hatte dieser ein paar der Geschosse übersehen. Beim dichten Pelz des Tigers hätte es ihn nicht gewundert.
 

Mit einem Lächeln auf den Lippen nickte Paige ihm nur zu und ließ Ryon gehen, um ihn später in der Küche zu treffen. Als sie sich endlich vom Matratzenlager aufraffte, wäre sie beinahe wieder umgefallen. Die Welt schien zu schwanken, während von den Rändern ihres Sichtfelds aus dunkle Schatten wie Zahnräder zur Mitte hin drängten. Ihr wurde schlecht und Paige musste sich keuchend an den Bettrahmen stützen, während sie den freien Arm um ihre Körpermitte schlang.

Ihr Puls beruhigte sich nur langsam, aber damit ging erfreulicher Weise auch der Druck auf ihrer Brust und der Schwindel zurück. Wie auf Eiern bewegte sich Paige ins Bad, streifte das Schlafshirt ab und erstarrte vor ihrem eigenen Spiegelbild.

"Reife Leistung.", zischte sie zwischen den Zähnen hervor, während wieder die Bilder des vor Hitze zerschmelzenden Dämons vor ihrem Inneren Auge auftauchte. Bevor er das Zeitliche gesegnet hatte, hatte er Paige noch ganz schön zugerichtet. Natürlich hatten ihre Schuppen den Druck gedämpft, den seine Wassergeißel ausgeübt hatte, aber dennoch... Sie sah aus, als würde noch jetzt eine blau und purpur schimmernde Klemme um ihren Oberbauch liegen. Als sie mit einem Finger dagegen drückte, kniff sie die Augen zusammen. Was wiederum dazu führte, dass sie zusammen zuckte.

"Herrgott...!"

So schlimm hatte sie lange niemand mehr verprügelt. Aber trotzdem war es nicht das erste Mal. Und es würde heilen.
 

Nach einer nur lauwarmen Dusche, stand Paige vor ihrem Kleiderschrank. Überlegend hatte sie den Kopf zur Seite geneigt und überlegte, seit einiger Zeit einmal wieder ausgiebig, was sie tragen sollte. Obwohl sie nicht sagen konnte warum, war ihr heute nach einer auffälligen Farbe. Und irgendetwas, das nicht über ihre Haut scheuern konnte.

Es brauchte nur ein wenig hin und her, bis sie sich für eine rote Bluse entschied, die in fließendem Stoff locker ihren Körper umspielte und das Ganze mit einer schwarzen Hose kombinierte, die ihr locker auf den Hüften saß.

Zufrieden mit diesem Outfit ging sie in die Küche. Bloß um dort von dem alt gewohnten Bild empfangen zu werden. Ai saß mit Mia am Tisch und Tyler stand am Herd und kochte.

"Guten... ehm..." Paige stutzte und sah sich nach der Uhr über der Tür um.

"Nachmittag."

"Man könnte schon eher Abend sagen.", meinte Ai mit einem dieser dünnen Lächeln, die Paige nie so recht zuordnen konnte.

Als allerdings Mia auf Paige zugerannt kam und diese das kleine Mädchen kaum hochheben konnte, änderte sich der Ausdruck in Ais Gesicht. Diesmal konne Paige die Sorge im Gesicht ihrer besten Freundin nicht mehr falsch deuten.

"Es geht. Wirklich.", schob sie noch hinterher, nachdem auch Tyler sich umgedreht und seiner Skepsis mit einem Stirnrunzeln kund getan hatte.

"Feee..." Mias Augen leuchteten eher neugierig zu Paige hinauf. Das Mädchen streckte die Hand aus, um vorsichtig die angeschwollene, verfärbte Haut um ihr Auge zu berühren und so zart darüber zu streichen, als wüsste sie sehr genau, was das Veilchen zu bedeuten hatte.

"Weh?"

Ihr Stimmchen war leise und ... Paige hätte es nicht anders ausdrücken können ... mitfühlend.

"Ein bisschen. Aber es ist bald wieder gut."
 

Mit einem leisen Kling landete ein weiterer Splitter in einem kleinen Glasbehälter, der bereits ein paar andere blutige Andenken an den Steindämon oder was auch immer das gewesen war, beinhaltete.

„Und ich dachte immer, du wärst gründlich.“, zischte Ryon leise, als Tennessey sich mit einer langen spitzen Pinzette der nächsten Stelle an seinem Oberschenkel zuwandte, die zwar noch etwas verschorft, aber schon fast verschlossen war. Er heilte einfach zu schnell, weshalb der Doc die Haut über den kleinen Splittern erneut anritzen musste. Doch das machte ihm weniger aus, als der Rest von seinen Blessuren.

Ryon spürte die winzigen Schnitte kaum.

„Hätte ich dem Tiger den Hintern rasieren sollen?“ Tennessey grinste bei der Vorstellung, doch sein Blick wurde wieder konzentriert, als er versuchte, ein weiteres Geschoss aus Ryons Fleisch zu ziehen.

„Könntest du dich nicht in deine menschliche Gestalt verwandeln, hätte ich es getan, dann hätte ich auch bestimmt jede Stelle erwischt, also beschwer dich nicht. Nächstes Mal nimm eben einfach die Zielscheiben von deinem Hintern.“

Da Ryon die ganze Sache ohnehin schon unangenehm war, schwieg er, um nicht noch weitere Scherze von Tennessey ertragen zu müssen, während der ihm Splitter aus dem nackten Hintern zog. Es war schon peinlich genug.
 

Mit dem kleinen Glasfläschchen in der Tasche, das die gereinigten Edelsteinsplitter beinhaltete, die Tennessey ihm aus dem Hintern gezogen hatte, kam Ryon vollständig angekleidet in die Küche. So hätte man kaum erkannt, dass er verletzt war, da an die Treffer in seinem Gesicht nur noch eine leichte Rötung erinnerte. Alles andere, spielte sich unter seiner Kleidung ab und das in schön bunten Farben.

„Guten Abend.“, grüßte er die vollbesetzte Küche so ruhig, als hätte er nicht gerade die peinlichste Situation seines Lebens hinter sich.

„Katse!“ Mia rutschte von Paiges Schoß, auf dem sie sich immer wohler zu fühlen schien und kam ihm mit ausgestreckten Ärmchen entgegen gelaufen.

Sofort zauberte das kleine Mädchen mit den blonden Locken ihm ein Lächeln auf das Gesicht und er ging innerlich knirschend in die Hocke, um sie hoch zu heben und an seine eher unverletzte Schulter zu drücken.

„Hallo, Sonnenschein.“ Er gab ihr einen Kuss auf die Stirn und griff dann in seine Hosentasche.

„Ich hab ein Geschenk für dich, das wird dir bestimmt gefallen.“

Ryon zog das Glasfläschchen hervor. Es war mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt und gut versiegelt. Mia könnte es unmöglich öffnen, aber das musste sie auch gar nicht. Die Edelsteinsplitter sahen auch so in der Flüssigkeit ziemlich hübsch aus.

Er gab es ihr, als sie begeistert danach griff und es ins Licht hielt, um die schönen Steine zu betrachten.

„Siehst du den rosafarbenen Stein? Das ist ein Rosenquarz und das da ist ein Türkis.“

Mias große Augen machten sofort alle Schmerzen wett, die er dank dieser Steine erhalten hatte. Es war erstaunlich wie man etwas Übles in etwas Schönes verwandeln konnte. Ryon hatte also die richtige Idee gehabt, um seine Souvenirs zu behalten.

„Und das da nennt man Tigerauge.“

Während Ryon das sagte, ging er mit Mia zusammen zum Tisch und setzte sich vorsichtig neben Paige. Die Bedeutung dieses Steins und die Ironie darin waren ihm erst wirklich jetzt klar geworden.

Sanft griff er nach der Hand seiner Gefährtin und drückte sie. Sie hatten es überstanden. Dank ihr.
 

Paige spähte ebenfalls zwischen Mias kleinen Fingern in das Fläschchen hinein. Darin lagen in einer Flüssigkeit ein paar Halbedelsteine. Mit einer erhobenen Braue sah Paige Ryon fragend an. Aber sein schmunzelnd zuckender Mundwinkel sagte ihr, dass er keine näheren Informationen über die Herkunft dieser Steine geben würde. Und wahrscheinlich wollte sie es auch lieber gar nicht wissen.

"Darf ich fragen, was es zu essen gibt? Und brauchst du vielleicht Hilfe, Tyler?"

Die eine Hand immer noch in der von Ryon, legte Paige ihre Andere auf Mias Bauch und streichelte ihn leicht.

"Wenn ich dich so anschaue, wäre ein blutiges Steak das sinnvollste gewesen...", hörte man es nur von der Küchenzeile her, was Paige die Augen rollen ließ.

Als sich der Rothaarige allerdings umdrehte, erkannte Paige den Schalk in Tylers Augen. Man konnte ihm wohl wirklich nicht lange böse sein. Nichtmal für so eine Stichelei.

"Aber wir haben keins. Ich kann dir also einen Eisbeutel fürs Auge und frittierte Pilze zu Hähnchen als Abendessen anbieten. Dazu gibt es Tomatensalat und zum Nachtisch Baumkuchen."

"Was ist mit der Hilfe?"

Er winkte ab, was Paige mit einem scherzhaft eingeschnappten Blick quittierte.

"Ich kann auch kochen, weißt du?"

Ai war mit ihrem hellen Lachen keine rechte Unterstützung. Schon gar nicht als sie anmerkte, dass Toast mit Marmelade nicht unbedingt etwas mit Kochen zu tun hatte.

"Ah ja? Immerhin hab ich das mit der Marmelade drauf. Du machst immer nur Toast mit Butter."

Beide Frauen brachen in schallendes Gelächter aus, in das auch Mia einstimmte, obwohl sie gar nicht wissen konnte, worum es ging.

Ja, so musste es sich anfühlen, eine echte Familie zu haben.
 

„Na, dann habt ihr beiden Ladys noch mehr drauf, als unser Kater hier. Der schafft es sogar, Wasser anbrennen zu lassen, stimmt’s Ryon?“

Ryon schnaubte und starrte Tyler gespielt böse an.

„Ich muss nicht kochen können. Immerhin mag ich meine Steaks blutig. Pass also in Zukunft besser auf deinen Po auf. Am Ende fehlt dort noch ein Stückchen.“

Tyler fuhr am Absatz herum, legte sich theatralisch die Hand aufs Herz und starrte den Hünen fassungslos an.

„Oh mein Gott, er hat einen Scherz gemacht. Ein Wunder ist geschehen! Ich muss schnell in die Kirche rennen und zehn Avemarias beten!“

„Solange du vorher das Essen servierst.“

Ryon wandte sich mit zuckendem Mundwinkel Paige zu und wurde rasch wieder ernst, als er ihr Gesicht nun im vollen Lichte betrachtete. Er würde es nie vergessen können, egal wie viel Zeit auch vergehen würde.

„Wir müssen später darüber reden.“, flüsterte er ihr leise zu. Nicht nur über die Verletzungen, sondern auch was alles passiert war. Zwar hatte Paige zwei weitere Untertanen von Boudicca aus dem Weg geräumt, aber garantiert würde dafür schon bald Ersatz gefunden werden. Sie mussten sich ernsthaft eine Strategie ausdenken, wie sie weiter vorgehen sollten. Doch zuerst, sollten sie etwas Essen und sich danach ausruhen.

Er selbst hatte zwar lange geschlafen, war aber vollkommen kaputt. Trotzdem ließ er es sich nicht anmerken, als Tyler endlich das Essen servierte und Ryon sich daran machte, für Mia die Speisen klein zu schneiden, damit sie von seinem Schoß aus versuchen konnte, selbstständig zu essen. Was ihr inzwischen sehr gut gelang. Immerhin konnte sie nun auch schon den hungrigen Tiger in Menschenform füttern, bis ihr das Spiel zu viel wurde und er es selbst in die Hand nahm, seinen riesigen Hunger, zu bekämpfen.
 

Mia und Ryon beim Essen zuzusehen konnte man nur als reine Wonne bezeichnen. Selbst für Tyler musste der Appetit der beiden eine besondere Wertschätzung seiner Kochkünste darstellen. Paige jedenfalls freute sich am Anblick der beiden, wie sie tüchtig zulangten.

Sie selbst stocherte nur noch halbherzig in ihrem Salat herum oder aß kleine Bissen von dem leckeren Gericht auf dem weißen Teller vor ihrer Nase. Ryon hatte ihr mit seiner Andeutung eine gewisse Nervosität aufgezwungen, die sie sichtlich daran hinderte ihr Essen zu genießen. Ja, sie würden darüber sprechen müssen. Über das Treffen mit den Hexen und die Folgen, die daraus hervor gehen würden. Genauso sollten sie den Vorfall vor dem Haus von Sally nicht außer Acht lassen. Mit jedem Handlanger, den sie Boudicca nahmen, würden sie deren Hass schüren. Und damit sich selbst und ihren Lieben eine größere Zielscheibe umhängen.

Ihr Blick glitt zu Ai hinüber, während sie an einer Tomatenscheibe herum kaute. Ihre Freundin fing den etwas verunsicherten Blick auf und lächelte zurück. Die Augen der Asiatin waren voller Zuversicht.

Als Paige lächelte, spürte sie ihr blau geschlagenes Auge. Doch sehr viel weniger, als noch vor ein paar Minuten.

"Wie geht eigentlich die Neugestaltung des Wohnzimmers voran?"

Tyler sah bei diesem Stichwort von seinem eigenen Teller hoch und verzog etwas den Mundwinkel. Wohlerzogen schluckte er erst hinunter, bevor er antwortete.

"Es gestaltet sich aufwendiger, als ich gedacht habe. Allein der Boden war ... vollkommen untragbar. Aber es wird."

"Ich bin sehr gespannt, was du draus machst. Wirklich. Persönlich habe ich noch nie etwas von Grunde auf neu gestaltet."

Ai lenkte leise ein, lächelte aber auf die Art, die Paige sehr mochte. Denn es bedeutete, dass sie ihre Meinung noch ehrlicher meinte, als sonst.

"Dafür bist du sehr gut im Gestalten. Deine Wohnung hatte so tolle Ecken und Besonderheiten. Vielleicht solltest du..."

Sie brach ab und sah Ryon an. Dann wieder Paige, die sich nur lächelnd ein weiteres Stück Tomate in den Mund schob.

"Tyler macht das schon. Immerhin weiß er, was zum Stil des Hauses passt. Bei mir würde es bunt mit Schnörkeln."

60. Kapitel

Sie lagen zu dritt im Bett. Inzwischen war es schon lange dunkel und das matte Licht des halbleisen Fernsehers spendete angenehmen Trost und scheinbare Sicherheit. Ryon hätte im Augenblick alles darum gegeben, die Zeit anhalten zu können.

Mia lag in ihrer angestammten Position halb auf Paiges und halb auf seinem Bauch, während er seine Gefährtin vorsichtig im Arm hielt. Sowohl wegen ihren Verletzungen, wie auch seinen eigenen.

Das war wirklich ein guter Augenblick, um sich gegenseitig die Wunden zu lecken und seit kurzem schien auch endlich Paiges Fruchtbarkeitsphase ihren Höhepunkt überschritten zu haben. Nicht, dass das irgendetwas geholfen hätte. Das Verlangen war natürlich da, aber es scheiterte an der Umsetzung. Ryon konnte sich kaum richtig bewegen, ohne dass ihm nicht irgendein Knochen oder Muskel weh tat und im Augenblick fasste er Paige nur mit Samthandschuhen an.

Sie schien es ganz schön am Brustkorb abbekommen zu haben, weshalb er sich auch ziemliche Sorgen machte, aber das hätte er auch bei einer leichteren Verletzung getan.

Ohne den Cartoons zu folgen, die über die Mattscheibe flimmerten, streichelte Ryon durch Mias Haar und mit der anderen Hand über Paiges Seite.

Seine Gedanken waren weit weg von dem gemütlichen Raum an einem sehr viel düsteren Ort.

Schon eine ganze Weile hatte er die vergangene Szene wieder und wieder in seinem Kopf durchgespielt und war zu der Erkenntnis gelangt, so stark der Tiger auch manchmal sein mochte, gegen solche Gegner kam er nun einmal doch nicht an. Er war ein Raubtier und kein Krieger.

Das war natürlich auch bei seinen Kopfgeldjägerjobs kein unbekannter Faktor gewesen, aber seither schien so viel Zeit vergangen und so viel passiert zu sein, dass er es schon ganz vergessen hatte.

„Ich werde mir so bald wie möglich, meine Waffen holen müssen. So schutzlos wie heute, möchte ich nie wieder unserem Feind gegenüberstehen.“

Er sprach vermutlich zusammenhangslos, da er schon so lange in seinen Gedanken schwelgte, dass er gar nicht mehr daran dachte, dass Paige vielleicht anderes im Kopf hatte, aber sie würde schon schlau aus seinen Worten werden. Sie waren immerhin unmissverständlich.
 

Paige sah die bunten, bewegten Bilder, die vor ihr über die Mattscheibe tanzten, hörte aber schon die dazu gehörige Musik nicht mehr. Stattdessen konzentrierte sie sich auf Mias gleichmäßige Atmung, die Paige ebenfalls zu beruhigen schien. Und außerdem konnte sie beim Lauschen sogar manchmal Ryons nur allzu laute Gedanken überhören. Bereits bevor er den Mund aufmachte, war klar gewesen, um was es sich drehte. Immerhin hatte sein Gesicht ausgesehen, als hätte er die Aufgabe zu lösen einen Gewittersturm mit bloßen Händen aufzuhalten.

Für ihn schien es sich tatsächlich ähnlich schlimm anzufühlen.

"Auch wenn ich grundsätzlich etwas gegen Waffen habe... Du hast Recht. Je besser wir gewappnet sind, umso kleiner das Risiko."

Eigentlich wollte sie sich nicht darüber unterhalten. Bereits am Esstisch hatte sich alles in ihr dagegen gesträubt. Aber es war nunmal nicht zu vermeiden.

"Ich würde es ganz ehrlich gesagt, gern so schnell wie möglich angehen."

Sie sah ihm in die Augen und ob es nun Schwäche war, gemischt mit vollkommener Ehrlichkeit... Es war Paige in diesem Fall egal.

"Wenn das noch lange so weiter geht... Nein, es darf einfach nicht mehr lange so weiter gehen. Es macht zu viele Leute kaputt."
 

„Ich weiß, Paige.“ Ihn machte es schon sehr lange kaputt und das war gerade noch zu ertragen gewesen. Aber bei Paige, Mia, Ai, seinen Freunde, all die Frauen des Zirkels und die bereits geforderten Opfer. Es war bereits alles zu viel. So konnte und durfte es nicht mehr weiter gehen. Seine Gefährtin hatte nur allzu recht.

Sanft strich er ihr durchs Haar und schloss die Augen. Sein leises Schnurren sollte sie etwas beruhigen, aber letztendlich war es doch nur alles Schein und Lüge. So etwas wie absolute Sicherheit gab es nicht mehr und würde es auch nie geben, ehe sie die ganze Sache nicht endgültig beendet hatten.

„Trotzdem. Wir müssen uns noch einmal erholen, ehe wir es endgültig zu Ende bringen können.“
 

Es war mitten in der Nacht, als er endlich wieder die beruhigende Atmosphäre ihres gemeinsamen Schlafzimmers betrat, ohne das Licht anzumachen. Paige schlief bestimmt schon, weshalb er sich noch etwas vorsichtig die Lederjacke von den Schultern streifte und schwer über einen Stuhl hängte, der leise ächzte.

Das Gewicht lag nicht nur an dem echten Leder, sondern auch an den ganzen kleinen Accessoires, die an dem Innenfutter befestigt waren. Kleine Dolche, Messer, Reservemagazine für die Schusswaffen. Um nur einige zu nennen.

Ryon hatte heute den ganzen Tag damit verbracht, sämtliche Reservelager seiner Waffen zu plündern und in eine große metallene Truhe einzuschließen, die in der Garage stand.

Es hatte lange gebraucht, bis er alle Verstecke ausgeräumt hatte. Aber es war immer noch besser, als sich neue Waffen zu besorgen. Das hätte noch viel länger gedauert und unnötige Aufmerksamkeit erregt. Auch so war er von mehreren Leuten beobachtet worden, als er einen seiner Steckbriefe mit wütender Geste von der Wand gerissen hatte. Sollten sie sich doch trauen, ihn anzugreifen. Ob noch immer leicht angeschlagen oder nicht. Er heilte schnell und mit seinen Waffen war nicht zu spaßen. Immerhin war er auch früher sehr gefährlich gewesen, gerade weil er es seinem Tiger nie gestattet hatte, an die Oberfläche zu kommen. Seine Hände waren tödlich, auch wenn es nur Hände geblieben waren.

Nach einander öffnete er die Waffengurte um seinen Brustkorb und legte sie auf die Kommode. Obwohl die Waffen gesichert waren, konnte Mia dort trotzdem nicht an sie heran kommen, falls sie zufällig auf neugierige Erkundungstour gehen wollte, während er nicht in der Nähe war. Die Messer würde er ohnehin nicht aus den Augen lassen. Danach folgten seine Schuhe und Jeans, ehe er ins Bad ging, um sich den Staub und den Schweiß vom Körper zu waschen. Auch ohne das Licht, konnte er gut erkennen, dass die Kratzer und Prellungen kaum noch zu sehen waren und das schon nach zwei Tagen der Ruhe. Bei Paige würde es länger dauern, aber sie war stark und entschlossen. Was sie nicht mit raschen Selbstheilungskräften schaffte, machte sie mit ihrem Dickkopf wieder wett. Er liebte sie dafür, auch wenn er sich in eben solchen Maßen unglaubliche Sorgen machte. Trotz ihrer Schuppen erschien sie ihm so zerbrechlich. Er hatte wahnsinnige Angst um sie.
 

Paige war schon bei seiner Ankunft aus dem Schlaf hochgetaucht, doch sie hatte sich nicht ganz davon befreien können. War Ryon doch so leise, dass ihr die wenigen Geräusche, die er verursachte, nur wie wirkliches Hintergrundgesäusel vorkam und sie nicht beunruhigte.

Erst als sie Wasserrauschen aus dem Bad hörte, schaffte sie es ein Auge zu öffnen und sich das Kopfkissen so unter ihre Wange zu stopfen, dass sie in Richtung Badezimmertür sehen konnte. Kein Licht war durch den Spalt unter der Tür zu sehen.

"Ryon?"

Natürlich war er es, aber ihre heisere, leise Stimme konnte doch nicht ganz die Sorgen verbergen, die sie sich in seiner Abwesenheit gemacht hatte. Immerhin war er unterwegs gewesen, um seine Waffenkammern zu plündern. Orte, die ihre Feinde eventuell kennen und ihm dort auflauern konnten.

"Bist du's? Alles in Ordnung?"

Vollkommen verschlafen setzte sie sich schließlich doch im Bett auf und knipste die Lampe auf dem Nachtkästchen an. Was eigentlich nur dazu führte, dass sie blinzelte und noch weniger erkennen konnte, als in der Dunkelheit zuvor. Zumindest für ein paar Momente.
 

Nur mit einem Handtuch bekleidet, feuchten Haaren und Wassertröpfchen auf der Haut, kam er zu Paige ins Schlafzimmer. Er hätte sich auch noch angezogen, aber ihr beunruhigter Tonfall hatte ihn alarmiert.

„Alles in Ordnung.“, versicherte er ihr leise und gedämpft und setzte sich zu ihr. Mit einem Lächeln strich er ihr die unordentlichen Haare nach hinten und beugte sich herab, um sie vorsichtig zu küssen. Ihre aufgeplatzte Lippe sah inzwischen sogar noch fürchterlicher aus, als zu dem Zeitpunkt, als sie noch frisch war. Genauso wie der Rest ihres buntgefärbten Gesichts. Bei diesem Anblick könnte er jedes Mal irgendwo drauf schlagen, doch er beherrschte sich, um ihr nicht zu zeigen, wie schlimm ihn das alles traf.

„Tut mir leid, wenn ich dich geweckt habe.“ Noch ein Kuss.

„Aber ich habe alles erledigt, was ich wollte und es gab keine Zwischenfälle.“ Genau dadurch fühlte er sich jetzt ein bisschen besser. Nicht mehr ganz so nackt, wie bei dem Zusammentreffen mit diesen Dämonen.

Ohne es gewusst zu haben, hatten ihm seine Waffen gefehlt. Mit ihnen war er wieder vollständig der gefürchtete Jäger der Unterwelt, der er einmal gewesen war. Auch wenn es eigentlich ein trauriger Gedanke sein sollte. Vor einigen Jahren hätte er noch nicht einmal im Traum daran gedacht, eine Waffe in der Hand zu halten.

Lautlos stand Ryon wieder vom Bett auf, um sich aus Paiges Kleiderschrank eine Short zu suchen. Inzwischen hatte er ein paar Kleider mehr bei ihr deponiert. Zumindest so viel der Platz zu ließ, ohne sie zu verdrängen. Aber auch so gefiel ihm der Anblick der aneinander gekuschelten Kleidungsstücke, die ihnen beiden gehörten. Es fühlte sich einfach … richtig an.
 

Paige war zugegeben noch nicht ganz wach. Ryons Worte kamen genauso langsam in ihrem Hirn an, wie seine Küsse. Aber nachdem er sich nicht so anhörte und auch nicht so aussah, als wäre etwas im Argen, entspannte sie sich wieder und sofort wollten ihr die Augen zufallen.

"Kommst du ins Bett?"

Eigentlich war die Frage überflüssig gewesen. Das wusste sie auch schon, bevor er zu ihr unter die Bettdecke kroch. Aber etwas philosophischeres oder literarisch Hochwertigeres fiel ihr im Moment nicht ein.

Oder doch. Jetzt, wo ihr endlich bewusst wurde, was er den ganzen Tag getan hatte und damit was der Grund dafür war, warum er so spät nach Hause kam, hatte sie etwas, das sie sagen konnte.

"Wo willst du die Sachen lagern? Ich... Mia ist im Haus."
 

„Keine Sorge.“

Er zog Paige mit ihrem Rücken an seine nackte Brust und schloss die Arme vorsichtig um sie, ehe er ihr einen Kuss auf die Schulter gab.

„Bevor sie auch nur dieses Zimmer betritt, habe ich alles weggeräumt und der Rest ist sicher verwahrt in einer Metallkiste in der Garage, zu der nur ich einen Schlüssel habe. Sie wird nichts merken.“

Ryon kuschelte sich an Paige und schloss müde die Augen, während er daran dachte, dass er niemals zulassen würde, wie eine seiner Waffen in Kinderhände gelangte. Von dieser Welt wollte er Mia so weit wie ihm nur möglich war, fern halten. Sie sollte nie wieder mit dem Bösen zu tun haben und man konnte nur hoffen, dass sie ihre Entführung vergaß und einfach nur glücklich aufwuchs.

Zwar war er nicht ihr Vater und Paige nicht ihre Mutter, aber wenn möglich, würden sie ihr so gute Eltern werden, wie es eben ging. Doch erst mussten sie diese Sache hinter sich bringen. Sie brauchten dringend Informationen. Weshalb sie nächstes Mal besser vorbereitet sein sollten, so dass sie auch noch mit ihren Angreifern reden konnten, obwohl Ryon immer froh sein würde, dass Paige diese zwei Typen fertig gemacht hatte. Nicht auszudenken, was geschehen hätte können, wenn sie es nicht getan hätte.

„Ich liebe dich…“, murmelte Ryon verschlafen in ihr Haar und schob die düsteren Gedanken zur Seite. Morgen würde er sich mit Tennessey beraten. Er hatte da schon eine Idee, wie sie vielleicht an Informationen gelangen könnten.
 

Paige gab nach dieser Antwort nur ein zufriedenes Geräusch von sich. Natürlich hatte sie nichts Anderes erwartet, als dass Ryon sich gewissenhaft darum kümmern würde, dass für Mia und auch sonst niemanden im Haus Gefahr von seinen Waffen ausging. Und dennoch fand sie es ein wenig unangenehm, sie hier zu wissen.

Es hatte vielleicht etwas damit zu tun, dass es sie an ihre ersten Begegnungen erinnerte. Damals waren sie vollkommen anders gewesen. Ryon war ihr wie ein eiskaltes Monster vorgekommen. Wie eine effektive Tötungsmaschine, die nur diese Existenzberechtigung hatte.

Wie sehr sie sich damals getäuscht hatte, ließen seine sanften Worte erkennen, die ihr ein wohlig warmes Gefühl die Wirbelsäule hinunter laufen ließen.

"Ich liebe dich auch."

Das war in den letzten paar Nächten auch mit der einzige Grund gewesen, aus dem sie Schlaf gefunden hatte. Ryon war seit dem Überfall der Dämonen und der Hexenversammlung zum absoluten Fels in der Brandung für Paige geworden. Sie hätte es ihn nie merken lassen, aber oft riss sie nachts die Augen auf, geplagt von immer den selben albtraumhaften Bildern, die sich so schwer abschütteln ließen, weil sie sich aus der Realität in Paiges Geist gebrannt hatten. Wäre er nicht gewesen, ruhig atmend, wie er sie beschützend im Arm hielt, Paige war sicher, sie hätte nie mehr Ruhe gefunden.

Vermutlich würden die Albträume auch in dieser Nacht kommen. Aber irgendwann würde es vergehen. Es war an der Zeit, dass sie sich befreiten. Von allem, was ihnen auf die Seele gedrückt wurde wie scharfkantige Dornen.

Sie mussten es so schnell wie möglich und vor allem endgültig beenden.
 

„Und du bist dir da sicher?“

„Ja. Ich hab die Hütte schon ein paar Mal für Befragungen benutzt, um an die richtigen Informationen zu kommen.“

Tennessey hob eine Augenbraue und sah Ryon lange an, der jedoch blickte konzentriert auf eine Landkarte auf dem Schreibtisch und ließ sich noch einmal alles durch den Kopf gehen.

„Das ist der geeignetste Ort, den ich mir vorstellen kann. Schwer zu finden, es gibt viele Fluchtmöglichkeiten durch die umliegenden Wälder, falls man einmal Ärger bekommen sollte und dort wird sich auch sicherlich kein Wanderer hin verirren. Ist nicht gerade eine beschauliche Gegend.“

Ryon sah hoch. „Natürlich musst das letztendlich du entscheiden. Ich hoffe, du bist dir des Risikos bewusst, das du dabei eingehen wirst?“

Der Doc nickte ernst und entschlossen.

„Ich hab übrigens was für dich. Das dürfte deine früheren Jagdmethoden vereinfachen oder sollte es zumindest.“

Tennessey ging zu seiner großen Arzttasche und sortierte dort drin eine Weile herum, ehe er wieder an den Schreibtisch trat und Ryon eine Waffe hin hielt, die er dem Arzt gar nicht zugetraut hätte.

„Das ist wirklich nett von dir, Tennessey, aber ich bin schon gut bestückt.“ Er klopfte auf seine ausgebeulte Jacke, unter der er nun immer in greifbarer Nähe eine Waffe trug.

„So eine nicht. Das garantiere ich dir.“

Geschickt begann der Arzt die kleine handliche Waffe auseinander zu bauen, so dass Ryon das Magazin sehen konnte. Solche Patronen hatte er bisher immer nur in Actionfilmen gesehen.

„Was ist das?“

„Ein äußerst starkes Betäubungsmittel.“ Tennessey reichte ihm eine einzelne Patrone, die teilweise aus einem durchsichtigen Material gearbeitet war und somit einen Blick auf die darin enthaltene klare Flüssigkeit frei gab.

„Und du glaubst, das wirkt?“ Ryon war eher skeptisch.

„Sagen wir es mal so. Schieß dir bloß nicht aus Versehen in den Fuß. Du bist weg, bevor du überhaupt bemerkst, dass du dich selbst ausgeschalten hast und ich warne dich. Es ist ein gewisses Risiko dabei. Typen wie du oder diese Dämonen haben einen anderen Metabolismus als Menschen. Ich musste die Dosis anpassen. Also wenn du Pech hast, kannst du dem Betreffenden eine Impfung verpassen, die ihn für immer Schlafen lässt. Sollte er es aber überleben, kannst du dir sicher sein, dass er für Stunden schläft, sofern ich ihm nicht ein Gegenmittel verabreiche. Was es dir wiederum erleichtern sollten, deine Beute möglichst unverletzt zu dieser Hütte zu bringen, damit ich sie befragen kann.“

Schweigend betrachtete Ryon die Patrone in seiner Handfläche, ehe er sie dem Arzt zurück gab.

„Gut. Machen wir es so. Wenn ich dich anpiepe, kommst du zu dem Treffpunkt. Mal sehen, was sonst noch so in den Köpfen dieser Mistkerle vor sich geht. Vielleicht können wir den Spieß endlich einmal umdrehen und die Jäger zu Gejagten machen.“

Tennessey grinste spitzbübisch.

„Ich könnte mir keinen Besseren dafür vorstellen. Aber jetzt mach dich mal auf den Weg, um deine Gefährtin in die Sache einzuweihen. Nicht, dass sie dir noch die Ohren lang zieht.“

„Danke.“
 

„Also anstatt darauf zu warten, dass die Typen uns wieder angreifen, sollten wir darauf vorbereitet sein und wenn möglich, uns auch selbst auf die Suche nach ihnen machen. Wir müssen ohnehin noch ein paar der Hexen für den Schutz hierher eskortieren. Vielleicht bietet sich dort eine Gelegenheit, unseren Feind näher kennen zu lernen.“

Ryon war zwar eher nach auf und ab gehen zumute, aber stattdessen stand er still vor ihrem Schlafzimmerfenster und blickte hinaus in das trübe Licht der Landschaft, die sich immer weiter dem Herbst zuneigte und von Nebelschwaden eingehüllt war. Hinter jedem Baum schien ein Schatten zu lauern, doch seine Instinkte schlugen nicht an. Vorerst war alles ruhig.

„Tennessey hat sich bereit erklärt, in den Köpfen unserer Feinde herum zu wühlen. Er meinte, er wolle seine Fähigkeiten ohnehin nicht verrosten lassen und das das für ihn eine gute Übung wäre.“ Eine Ausrede, ganz klar. Ryon täte seinem Freund das nicht an, wenn sie eine andere Wahl hätten, aber so war der Doc ihr einziger Trumpf bei den Befragungen. Denn er würde sofort eine Lüge durchschauen auch ohne eine einzige Frage gestellt zu haben.

„Was meinst du dazu?“

Er drehte sich zu Paige herum. Ihre Meinung war ihm wichtig und wenn sie das alles für absoluten Blödsinn halten sollte, würde er sich danach richten.
 

Paige saß im Schneidersitz auf dem Bett und fummelte mit den Fingern an den kleinen Hautfetzen herum, die sich im Laufe des Heilungsprozesses immer wieder von ihrer aufgeplatzten Lippe lösten. Sie machte es zwar nicht besser, wenn sie daran biss oder zupfte, aber im Moment tat sie es ohnehin völlig unbewusst, während sie über das nachdachte, was Ryon ihr gerade eröffnet hatte.

Sie hatte Tennessey nur einmal seine Kräfte an einem Gegner einsetzen sehen. Und sie konnte sich nur zu lebhaft an die Folge dieser Aktion erinnern. Ein toter, stinkender Haufen von Werwolf und Tennessey, der für Stunden bewusstlos im Bett gelegen hatte.

Schon allein deshalb wollte sie den Vorschlag eigentlich sofort zurückweisen.

„Es ist mir nicht recht, dass Tennessey sich aufopfert. Er würde mir sicher die Ohren lang ziehen, wenn er mich hören würde, aber...“

Sie sah Ryon in die goldenen Augen, in denen sie sehr wohl Sorge lesen konnte. Es war noch mehr als normalerweise, weshalb sie wusste, dass es ihm ebenfalls nicht passte, das Angebot seines langjährigen Freundes einfach so anzunehmen.

„Meinst du, dass er es schaffen würde? Ich meine ... würde er sich selbst damit schaden?“

Tennessey war nicht mehr der Jüngste. Darauf wollte Paige nicht hinweisen, aber so war es nunmal. Und ihn durch diese Anstrengung zu gefährden, wollte ihr einfach nicht gefallen. Gab es denn keine andere Möglichkeit?

In jeder freien Minute hatten sie entweder gemeinsam oder jeder für sich ihre Probleme gewälzt. Darauf, dass es besser war, selbst zum Angriff über zu gehen, als auf einen zu warten, waren sie sich ohne große Umschweife einig geworden. Aber wie es geschehen sollte... Auf jeden Fall, ohne irgendjemanden mit in Gefahr zu bringen, bei dem es sich vermeiden ließe.

Wieder zupfte Paige an ihrer Lippe herum, bis es weh tat und ihr dadurch auffiel, was sie da überhaupt machte. Als sie die Zungenspitze über die Stelle streichen ließ, schmeckte sie Blut.

Die ganze Sache mit den Verhören war ihr zuwider. Jemanden zu töten oder ihm Schmerzen zuzufügen, weil man sich selbst schützen wollte, war manchmal nicht zu vermeiden. Aber Folter... Paige seufzte und hatte schon wieder angefangen mit ihren Zähnen ihre Lippe zu bearbeiten. Oder war Tennessey doch die einzige Möglichkeit, die sie hatten?
 

Ryon seufzte und senkten den Blick, als er sich mit seinen Händen am Fensterbrett abstützte, als würde ein tonnenschweres Gewicht auf seinen Schultern lasten, das ihn niederzudrücken versuchte. Es fühlte sich auch beinahe so an.

„Wenn es ihm wirklich schaden würde, hätte ich ihm selbst gesagt, dass er es lassen soll. Aber ich bin mir sehr wohl der Tatsache bewusst, dass die meisten Menschen ob übernatürlich oder nicht, nicht so wie dieser Werwolf sind. Nicht jeder schlechte Mensch hat auch einen ebenso kranken Verstand, wie dieser Typ ihn hatte. Tennessey kann damit umgehen. Ich kenne zwar seine Vergangenheit nicht genau, da er über das Meiste schweigt, aber ich weiß, dass er seine Fähigkeiten früher einmal beruflich eingesetzt hat und zwar für wichtige Personen. Er ist geübt darin und weiß bestimmt selbst, wann es ihm zu viel wird.“

Außerdem war die Alternative undenkbar. Folter… So etwas einem anderen lebenden Wesen anzutun, war ihm nur möglich gewesen, als er keine Gefühle mehr besessen hatte und selbst jetzt hütete er sich davor, zu viel über jene grausamen Dinge nachzudenken, die er in diesem kalten Zustand fertiggebracht hatte. Denn dieses Wissen war weitaus schlimmer, als so manche Scheiße die sein Freund vielleicht in den Köpfen ihrer Feinde finden würde.

Erneut folgte ein tiefer Atemzug seinen Gedankengängen.

„Ich will ehrlich mit dir sein, Paige. Ohne seine Hilfe, rechne ich uns wenige Chancen aus, überhaupt etwas über Boudicca zu erfahren. Selbst wenn man Menschen Schmerz zufügt, bedeutete das noch lange nicht, dass sie die absolute Wahrheit sagen. Nein, gerade dann sagen sie einem, was man hören will, nur damit es aufhört. Tennessey könnte sie befragen, ohne ihnen weh zu tun und würde trotzdem nur die reine Wahrheit ans Licht bringen. Es wäre einfach die humanste Lösung in diesem grausamen Krieg, den wir da führen.“
 

Endlich hörte Paige auf an ihren Lippen herum zu zupfen und warf über Ryons Schulter hinweg einen nachdenklichen Blick nach draußen. Zum jetzigen Zeitpunkt kam ihr der dunkle Himmel wirklich erdrückend und deprimierend vor.

Ryon hatte von human gesprochen. Zumindest humaner, als alle anderen Alternativen. Aber was bedeutete das schon? Grausam würde es trotzdem werden. Denn die Frage blieb immer noch, was sie mit denjenigen tun würden, die sie gefangen nehmen und ausfragen wollten. Was passierte mit ihnen, wenn sie erfahren hatten, was sie wissen mussten?

Normalerweise hätte Paige an dieser Stelle einfach aufgehört zu denken. In ihrem Leben war so etwas noch nie vorgekommen und sie hatte auch nie damit gerechnet, dass es einmal so weit kommen würde.

Sofort brannte eine unglaubliche Wut in ihr hoch, die sie auf die Füße trieb. Auf der Ecke der Matratze, auf der sie gerade noch vollkommen ruhig gesessen hatte, brannten sich ihre Zehen in das Leintuch und Flammen kräuselten sich auf Paiges Stirn. An allem war diese Boudicca Schuld! Dieses feige Miststück von Hexe, das scharenweise Unschuldige und Dumme in den Kampf schickte, um sich selbst die Finger nicht schmutzig machen zu müssen!

Paiges brennende Hand ballte sich zur Faust, als sie ein wütendes Grollen hören ließ und die Augen schloss, um sich einigermaßen wieder von ihrer Aggression herunter zu holen.
 

Als Ryon den Geruch von verbranntem Stoff und Aggression wittern konnte, drehte er sich nur leicht verwundert vom Fenster weg, um Paige anzusehen, die offenbar große Mühe hatte, ihre Emotionen zu beherrschen.

Wie gut er sie doch verstehen konnte. Er hätte selbst gerne auf etwas eingeschlagen, wenn es auch nur irgendetwas gebracht hätte. Doch manchmal war es besser, seine Wut zu sammeln, sie anwachsen zu lassen, bis der richtige Augenbick gekommen war, um sie frei zu lassen und daraus seine Kräfte zu beziehen.

Ohne zu zögern, obwohl Paige immer noch teilweise brannte, trat Ryon vom Fenster weg und ging auf sie zu. Er schlang seine Arme um ihre Taille und legte seinen Kopf an ihre Brust, während er leise schnurrte.

„Es wird alles gut, Paige.“

Ryons Hände strichen zärtlich über ihren Rücken, während er darüber nachdachte, dass es selbst gut werden würde, wenn sie alle dabei drauf gingen. Denn er glaubte an ein Leben nach dem Tod und dass man geliebte Menschen immer wieder in irgendeiner Form wieder traf. Doch bis dahin würden sie ihr bestmöglichstes tun und versuchen zu überleben.

Wie schön es wäre, wenn sie das alles überleben und endlich in Frieden leben würde.

Er würde für Paige, Mia und sich ein neues Haus bauen. Eines das ganz ihnen alleine gehörte, in dem sie sich wohl fühlten und glücklich sein würden. Er könnte seinen alten Job wieder ausüben, halbtags. Denn so oft er konnte, wollte er bei seiner Familie sein.

Gott, er würde alles dafür tun, dass ihnen nichts zu stieß!

„Ich liebe dich, Paige. Egal was passiert. Wir werden das alles schon irgendwie durchstehen. Gemeinsam.“
 

Sofort erstickten die Flammen auf Paiges Stirn und an ihren Fingern, als Ryon sie umarmte und sich leise schnurrend an sie drückte.

Er hatte Recht. Es brachte überhaupt nichts, hier in Feuer aufzugehen. Das traf nicht diejenige, die eigentlich gemeint war und verschwendete nur wertvolle Energien. Aber manchmal ging es einfach mit Paige durch. Das lag in ihrem Charakter.

Mit einem kleinen Seufzen gab sie sich diesmal jedoch sehr schnell geschlagen, schlang ihre nun ungefährlichen Arme um Ryons Schultern, fuhr mit ihren Fingern in sein Haar und küsste seinen Scheitel.

„Es tut mir leid. Ich weiß, dass alles gut werden wird. Die Dämonin wollte bloß auch mal ihre Meinung kundtun…“

Für ein paar Augenblicke ließ Paige es sich nicht nehmen, Ryons Nacken zu kraulen und den Geruch seiner Haare zu genießen, in die sie ihre Nase vergrub. Am liebsten wäre sie Ewigkeiten so verharrt und hätte alles um sie herum vergessen. Aber je mehr sie sich das wünschte, umso bewusster wurde ihr, dass es nicht ging. Sie mussten etwas tun, um ihre Familie zu beschützen.

Vorsichtig und liebevoll hob sie mit beiden Händen Ryons Kinn an und beugte sich hinunter, um ihn lange auf die Lippen zu küssen. Sie schmeckte leuchtende, warme Farben, in denen sie sich erneut nur allzu gern verlieren wollte.

„Ich liebe dich.“

Mit einem tapferen Lächeln stieg sie von der Matratze herunter und blieb dann grübelnd neben der Tür stehen.

„Wir sollten mit Tennessey besprechen, wie wir es am besten anstellen. Ich wüsste einen Ort, wo uns Boudiccas Laufburschen auf jeden Fall finden würden. Aber ich bin mir nicht sicher, ob es zu gefährlich wäre…“

61. Kapitel

Mit einem Auftritt, den er normalerweise niemals hinlegen würde, da er Unauffälligkeit stets bevorzugte, drückte Ryon die zerschrammte Tür zum ‚Fass‘ so stark auf, dass diese beinahe an die Wand krachte.

Obwohl er das Innere der Bar noch nie gesehen hatte, war ihm sowohl Paige, als auch ihre Beschattung vor so langer Zeit ein großer Nutzen dabei gewesen, sich für ein passendes Outfit zu entscheiden, um nicht gleich mit seiner Tarnung aufzufliegen. Zwar wollte er auffallen, aber es sollte nicht gleich ‚Vorsicht Falle‘ auf seiner Stirn geschrieben stehen. Darum hatte er sich in wuchtige Lederstiefel gesteckt, trug zerrissene Jeans und ein gewöhnliches schwarzes Shirt am Leib und rundete den Eindruck von ‚ungewaschen und immer auf Prügel aus‘ mit einem schmutzigen langen Mantel ab, dessen Saum die Haken seiner Stiefel beim Gehen streifte. Zudem hatte er seine Haare zerwuschelt und mit seinen Händen ein bisschen im Dreck gewühlt, nur um sie dann grob an seiner Jeans abzuwischen. Seine Krallen waren ein Stück weit ausgefahren und die dunklen Ränder darunter konnten alles Mögliche bedeuten. Dreck, Öl oder Blut.

Die Leute in der Bar hielten nur kurz mit ihrer Tätigkeit inne, um den Neuankömmling zu mustern, ehe sie sich wieder ihren Geschäften zuwandten.

Ryon ließ keinen Moment länger als nötig, frische Luft in die Bar, ehe er sich auch schon einen freien Platz in der Nähe des Ausgangs suchte, während er es vermied, nach Paige Ausschau zu halten. Seine eigene Mutter würde ihn im Augenblick kaum wiedererkennen und soweit es sich vermeiden ließ, wollte er nicht, dass man irgendeine Verbindung zu ihm und Paige herstellen konnte. Zwar wurden sie beide steckbrieflich gejagt, aber nicht im Zusammenhang. Ein Vorteil, den sie ausnützen mussten, so gut sie konnten.

Er und Paige würden die Unwissenden spielen, oder besser gesagt diejenigen, die glaubten, nicht geschnappt werden zu können, ansonsten würden sie sich ja wohl kaum mitten in die Öffentlichkeit stellen, wo jeder sie sehen und verraten konnte.

Hoffentlich würde diese Nacht erfolgversprechend sein, denn Ryons Nerven lagen bereits jetzt blank. Sein Tiger war ständig auf der Hut und sträubte schon seit Betreten der Bar die Nackenhaare, als würde er in der Falle sitzen. Es war auch nicht gerade die Gegend, in die Ryon sich freiwillig begeben würde. Wie Paige hier nur hatte arbeiten können, war ihm ein Rätsel, trotzdem ließ er sich nichts anmerken, sondern ritzte mit der Kralle seines Zeigefingers ungeduldig in der ramponierten Tischplatte herum, während er darauf wartete, dass man ihm einen ‚Drink‘ brachte.
 

Mit dem durchsichtigen, mit Glitter durchsetzten Tablett schlug Paige wie nebenbei eine aufdringliche Hand aus dem Weg und kam mit etwas zerzauster Perücke an der Bar an. Hinter dem dunklen Holztresen mit den silbernen Sternen darauf zapfte Jazz wie wild ein Bier nach dem Anderen, was ihn aber nicht davon abhielt immer wieder nervöse Blicke in die Runde und sorgenvolle in Richtung Paige zu werfen.

Er war nicht der Einzige, dem unwohl war bei dem Gedanken, dass sie angefragt hatte und nun wieder im Fass arbeitete. Nicht etwa, weil es nicht genug zu tun gab oder ihr Können nachgelassen hätte. Aber auch ihrem geldgierigen Chef hatte sie mit guten Argumenten kommen müssen, damit er das Risiko einging seine Kellnerin nach einer halben Schicht wieder zu verlieren, weil sie von irgendjemandem, der auf das Kopfgeld aus war, aus der Kneipe gezerrt wurde.

Bis jetzt war es aber noch nicht so weit. Und solange Paige ihren Job in gewohnter Weise erledigte, konnte niemand etwas gegen ihre Anwesenheit sagen. Auch wenn Jazz es zu Anfang der Schicht ein paar Mal versucht hatte.

Als Paige daran dachte, dass er ihr angeboten hatte, sie könne sich in seiner Wohnung verstecken, wurde ihr wegen des schlechten Gewissens ein bisschen flau im Magen. Sie konnte gegen andere Dämonen kämpfen, war bereit einem ganzen Heer von bösen Magiern und Hexen entgegen zu treten... Aber Jazz zu sagen, dass sie jemanden hatte, der auf sie aufpasste, war noch ein ganz anderes Kaliber. Die Angst, ihn endgültig als guten Freund zu verlieren, bohrte sich wie kleine Stacheln in ihr Herz. Doch es würde sich nicht vermeiden lassen, dass er früher oder später von Ryon erfuhr. Und Paige wollte auch, dass die Männer von einander wussten. Aber gerade jetzt war nicht der beste Zeitpunkt, um irgendwelche Beziehungen auszudiskutieren.

„Ey, Süße!“

Paige drehte sich langsam zu dem schmerbäuchigen Kerl herum, der wohl leider sie gemeint haben musste. Er hob beim Anblick ihres Gesichts die Brauen und war kein besonders guter Schauspieler, der hätte verhindern können, dass man ihm sein Erstaunen ansah. Eine ihrer Kolleginnen war so nett gewesen Paiges Veilchen mit einem lila Stern zu übermalen. Das hatte sogar ganz gut funktioniert, aber ihre Unterlippe leuchtete immer noch in recht eindeutigen Farben, die man selbst im Licht des 'Fass' zuordnen konnte.

„Ein Bier?“, fragte Paige, als der Kerl anscheinend seine Bestellung vergessen hatte. Er nickte nur und Paige gab Jazz ein Zeichen.

Als sie ihr Tablett wieder voll bestückt hatte, warf sie sich erneut in die Menge, lieferte den Alkohol an den Tischen ab und versuchte so unauffällig wie möglich Ausschau nach Ryon zu halten. Er hatte sie zwar darum gebeten, keinen Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass sie nichts mit einander zu tun hatten, aber bei ihrem Job konnte sie sich ja wohl darüber orientieren, wer alles zur Kundschaft gehörte.

Als sie ihn entdeckte, hätte sie am liebsten in ihr Plastiktablett gebissen, um sich das Lachen zu verkneifen. Ihre Lippen kräuselten sich dennoch zu einem Ausdruck, der gleichzeitig aus Unglauben und Anerkennung zu bestehen schien.

„Sexy...“, war ihr gemurmelter Kommentar, bevor sie von einem anderen Gast in Anspruch genommen wurde. Außerdem hatte sie im Augenwinkel gesehen, dass eine der Kolleginnen Ryon ebenfalls erspäht hatte und sich auf dem Weg zu ihm machte, um ihn zu bedienen.
 

Es herrschte dichtes Gedränge im ‚Fass‘, ganz so, als würde in der nächsten Stunde das Bier ausgehen und jeder versuchte noch einen letzten Schluck zu ergattern. Wie Paige hier hatte arbeiten können, konnte er sich wirklich nicht vorstellen. Andererseits wusste er auch nicht, wie es war, sich ständig Gedanken über Geld machen zu müssen oder wie es war, zu hungern.

Als Ryon Paige schließlich am anderen Ende der Bar erspähen konnte, wurde ihm wieder einmal bewusst, wie dünn und abgemagert sie beinahe gewesen war, als sie sich zum ersten Mal getroffen hatten. Nun, nach einigen Wochen unter Tylers Kost war ihr Körper einfach perfekt geformt. Zu seinem eigenen Leid und der gemeinsamen Bestürzung von ihm und seinem Tiger, schien das auch vielen der Gäste nicht entgangen zu sein.

Zuerst beobachtete Ryon Paige nur einfach bei der Arbeit, obwohl er seine Augen eigentlich wo anders haben sollte, doch er konnte seinen Blick einfach nicht von ihr lassen. Die Arbeitskluft für das ‚Fass‘ war einfach speziell und Paige sah darin so anders aus, als er sie sonst kannte. Nicht schlecht anders, sondern einfach anders.

Als dann aber die ersten Pranken nach ihrem Hintern grabschten und Ryon mit ansah, wie Paige die Hände meistens schon wie automatisch von sich ablenkte, baute sich ein tiefes Grollen in seiner Brust auf, das er nur mit Müh und Not unterdrücken konnte. Am liebsten hätte Paiges Gefährte die Kerle mit bloßen Händen umgebracht, alleine für die Blicke, die man seiner Gefährtin zuwarf!

Ryon ermahnte sich, dass er aus einem ganz bestimmten Grund hier war und nicht etwa, um seine Frau zu verteidigen, obwohl sie das ganz gut alleine konnte. Trotzdem wurde der Auftrag zusehends immer weiter in einen weniger wichtigen Teil seines Verstandes gedrängt. Der vordergründige Teil wollte sofort aufstehen und seinem Aussehen gerecht werden, das von vornherein Prügel versprach. Oh ja und wie er diese Schweine verprügeln wollte, bis Blut spritzte und sie keinen einzigen Atemzug mehr taten!

„Was darf’s sein, Schätzchen?“

Ryons Blick huschte zu der feenhafte Kellnerin hinüber. Sie hatte zwar versucht, die Anstrengungen dieses Jobs mit Make-up zu übermalen, doch man konnte es an ihren Augen ansehen, dass es ganz schön an einem zerrte, hier als Frau zu arbeiten.

Erst als sie einen guten Schritt von seinem Tisch zurück wich, glätteten sich Ryons Gesichtszüge, die gerade noch Bände über seine Gedanken gesprochen hatten und obwohl er sich nicht zu Freundlichkeit durchringen konnte, erschreckte er die Kellnerin doch so wenigstens nicht mehr.

„Ein Bier.“, grummelte er noch immer stinksauer, ehe er auch schon wieder zu Paige hinüber späte, nur um erneut in wütenden Hitzewallungen aufzugehen, die seine Krallen voll ausfahren und ihn beinahe die Zähne fletschen ließen.

Paige würde hier auf keinen Fall eine Nacht länger arbeiten. Nie wieder!

Die Kellnerin beeilte sich, seinem Wunsch nachzukommen und somit stand keine Minute später auch schon ein großer Humpen voll Bier vor ihm, auf das er so wütend hinab starrte, dass es ihn nicht gewundert hätte, wenn es gleich zu kochen anfangen würde. Aber auf jeden Fall war es besser, das Gebräu anzustarren, als Paige bei der Arbeit zuzusehen. Er musste wieder einen klaren Kopf kriegen. Immerhin tat er sich das hier nicht umsonst an und eigentlich sollte er wesentlich besser aufpassen. Schließlich waren Kopfgeldjäger hinter ihnen beiden her. Das durfte er auf keinen Fall vergessen.

Als die Tür zur Bar sich erneut öffnete, hob Ryon erst gar nicht den Kopf. Bestimmt war es nur ein weiterer Typ, der Paige an den Hintern fassen wollte.

Innerlich knurrend und brüllend, bemerkte er den Geruch nach Wolf viel zu spät, obwohl der Tiger bereits die Krallen ausfuhr, ganz Katze wie er war und keine Hunde ausstehen konnte. Oder zumindest nicht alle.

„Wow. Bist du das wirklich … Ryon?“

Ein großer Streifen nackter Haut mit einem funkelnden Bauchnabelpiercing in Form eines glitzernden Totenschädels schob sich in sein Sichtfeld.

Überrascht fuhr Ryons Blick hoch und starrte in ein ihm vage vertrautes Gesicht.

Weiße zu einem langen Zopf geflochtene Haare, graue schwarz umrandete Augen, kirschrote Lippen und ein Outfit, das jede Nutte blass vor Neid werden ließ. Ja, da rührte sich tatsächlich etwas in seinem Gehirn.

„De-lila?“, fragte Ryon zögernd. Er war sich nicht sicher. Immerhin war es Jahre her, dass er diese Frau nur für wenige Tage gekannt hatte. Aber er vergaß nun einmal nie einen seiner Jobs und sie war in dem Fall sozusagen sogar eine Mitstreiterin gewesen, obwohl er für gewöhnlich alleine arbeitete. Aber das war jetzt nicht weiter wichtig. Was zum Teufel machte sie hier?

„Jepp. Wie sie leibt und lebt, wie man so schön sagt.“ Sie grinste breit und klaute sich einfach einen Stuhl vom Nachbartisch, um ihn heran zu ziehen und sich darauf zu präsentieren. Denn anders konnte man das einfach nicht nennen.

„Aber sag‘ mal. Was machst du hier in so einer Bar? Als ich dich das letzte Mal gesehen habe, hatte ich dich so ziemlich anders in Erinnerung.“

Sie hatte sich dafür offenbar überhaupt nicht verändert. Soweit er noch wusste, war sie hinter jedem Schwanz her, der nicht bei drei auf den Bäumen war und damit meinte er nicht nur die tierische Verlängerung des Rückgrats und trotzdem, sie wirkte auch irgendwie ein bisschen reifer. Kein Wunder, es war ja schließlich auch drei Jahre her.

„Ich genehmige mir ein Bier.“ Ryon deutete auf sein unangetastetes Glas Bier, während er Delila keine Sekunde aus den Augen ließ. Zufälle gab’s, das konnte doch schon gar nicht mehr wahr sein.

„Aber die gleiche Frage könnte ich dir stellen. Wenn du auf Männerfang aus bist, wirst du hier kein brauchbares Material finden.“

Ihr Lächeln wurde breiter und der Schalk glitzerte in ihren Augen.

„Ich seh‘ das ein bisschen anders. Immerhin hab ich schließlich dich hier gefunden, wenn auch unerwartet.“

Ihre Offenheit war entwaffnend, doch gerade als Ryon etwas darauf erwidern wollte, winkte sie sanft lächelnd ab.

„Hey, das war ein Scherz. Ich bin nicht mehr auf Männersuche.“

Delila hielt eine Hand hoch, an der zwei kostbare Silberringe gleichzeitig an ihrem Ringfinger steckten. Wenn es nicht zwei gewesen wären, hätte Ryon angenommen, sie wäre verheiratet.

Auf seinen fragenden Blick hin, begann sie zu erklären, während sie beinahe zärtlich mit den Ringen spielte.

„Du kannst dich doch sicher noch an die Zwillingswerwölfe D und J erinnern? Nun, in meinem Fall war das der Doppel Jackpot. Wir haben sozusagen unser eigenes kleines Rudel gebildet und obwohl ich nur ein Gestaltwandlerwolf bin, hab ich mich von Anfang an als das Alphaweibchen behauptet. Seltsam was? Was sich so alles in drei Jahren verändert. Du hast dich auch ganz schön verändert, wenn ich mir da so deine Augen ansehe. Ich hatte dich ja noch als schweigsamen Eisbrocken in Erinnerung, aber offenbar hat sich da eine Frau in dein Leben gemischt.“

Sie zwinkerte ihm wissend zu und bestellte bei der Kellnerin, die sich wieder an ihren Tisch getraut hatte, einen Wodka pur.
 

"Kann irgendjemand mal auffüllen gehen?!"

Jazz, wirbelte hinter der Theke herum, zapfte Bier, schüttelte und rührte Cocktails zusammen und sah dabei so aus, als bewerkstellige er das alles ohne die geringste Mühe. Der Barkeeper hatte nur wenig Unterstützung von einem weiteren Herren, der aber noch in der Lernphase war und sich vom Andrang im 'Fass' schon überfordert zu fühlen schien.

"Ich geh schon!"

Paige steckte ihr Tablett hinter dem Spülbecken an die dafür vorgesehene Stelle und schnappte sich den Schlüssel zum Vorratsschrank. Bevor sie sich allerdings umdrehte, um in Richtung Hinterzimmer zu verschwinden, warf sie einen prüfenden Blick über ihre Schulter zu Ryons Tisch hinüber. Sofort als sie ein glitzerndes Bauchnabelpiercing und ein Zwinkern sah, zogen sich rote Schuppen über ihre Schultern und ihren Nacken hinauf bis unter die Fransen der pinken Perücke. War das schon eine von Boudiccas Leuten? Oder wurde Ryon einfach nur angegraben? Paige hätte nicht sagen können, was sie schlimmer fand.

Mit wehendem Kleidchen bog sie um die Ecke, warf die Feuerschutztür hinter sich ins Schloss und lehnte sich mit dem Rücken gegen das kalte Metall. Vielleicht war das hier doch keine so gute Idee gewesen.

Paige schüttelte heftig den Kopf, um sich zusammen zu reißen. Sie musste aufmerksam bleiben. Es stand zu viel auf dem Spiel, um sich von einer Verkleidung und der Aufmerksamkeit, die sie auf sich zog, verunsichern und ablenken zu lassen.
 

Dass Delila mit ihrer Aussage mitten ins Schwarze getroffen hatte, gab Ryon nicht zu. Er verriet sich noch nicht einmal mit einem Wimpernzucken. Denn selbst die Tatsache, dass er die Wölfin trotz ihrer offenen Art sympathisch fand, war das noch kein Grund, seine Privatangelegenheiten und vor allem Paige offen Preis zu geben. Beides war zu wertvoll und zu kostbar. Er wollte nichts riskieren, weshalb er noch nicht einmal einen flüchtigen Blick zu Paige hinüber schweifen ließ, damit er sie nicht verriet. Delila wäre es bestimmt sofort aufgefallen.

Er wechselte also einfach das Thema.

„Ich hatte damals eher den Eindruck, die Zwillinge würden dir nicht zusagen. Hast du nicht selbst sie als ‚Welpen‘ bezeichnet?“

Der Wodka kam und Delila ignorierte einen Moment lang Ryons Einwurf, schenkte stattdessen dem Glas in ihrer Hand einen Blick, als würde es ihr unendliche Qualen bereiten, es auch nur anzusehen, ehe sie den Drink in einem Zug hinunter stürzte und sich noch einen bestellte, bevor die Kellnerin sich überhaupt umdrehen konnte.

Ryon konnte sich keinen Reim auf diese seltsame Aktion machen, trotzdem machte es ihn nervös. Denn das gerade Gesehene beunruhigte ihn auf eine Art, die er nicht hatte deuten können. Wenn überhaupt, verzog man das Gesicht nicht nachdem man den Alkohol getrunken hatte und nicht schon davor?

„Nun, weißt du. Sie führen sich größtenteils immer noch wie ungezogene Welpen auf, aber in anderen Bereichen können sie durchaus ihren ‚Mann stehen‘. Wenn du verstehst, was ich meine.“

Sie schmunzelte verwegen. Ryon verstand und versuchte den Vorfall von vorhin einfach zu vergessen, als sie weiter über die Fähigkeiten und Unfähigkeiten ihrer beiden Männer zu erzählen begann. Besonders unter dem Einfluss des Wodkas wurde sie im Laufe der Nacht immer gesprächiger und obwohl Ryon die ganze Zeit wachsam blieb, glaubte er doch nicht mehr, dass sie diese Nacht Glück mit ihrer Falle haben würden. Es ging einfach alles seinen gewohnten Gang. Selbst die seltsame Beobachtung bei Delilas erstem Glas Wodka widerholte sich nicht mehr, bis er glaubte, sich die Regung lediglich eingebildet zu haben.

Sein eigenes Bier stand immer noch unberührt vor ihm.
 

„Und dann haben wir alle drei nackt den Mond angeheult!“ Delilas Lachen klang hell und glöckchenhaft durch die Bar, durchdrang sogar teilweise das besoffene Gegröle der anderen Bargäste, die wie die Wölfin ebenfalls schon zu tief ins Glas geguckt hatten und vermochte selbst zu so später Stunde, immer noch Aufmerksamkeit von diversen Männerblicken zu erregen. Wäre Ryon nicht am selben Tisch wie sie gesessen, sie hätte sich vor Angeboten sicherlich kaum retten können. So aber ließ man sie in ihrem Zustand zum Glück in Ruhe.

Selbst Ryon konnte sich ein Schmunzeln oft nicht mehr verkneifen, da die ausführlichen Berichte von Delila ebenso komisch, wie oftmals delikat und heikel waren.

Das schien sie allerdings nicht großartig zu stören und bis jetzt war Ryon noch kein Argument eingefallen, wie er die aufreizende Frau wieder hätte los werden können. Doch das änderte sich in dem Moment, als sich die grauen Augen von Delila plötzlich veränderten. Sie sagte nichts mehr. Lachte nicht mehr. Sondern starrte nur unendlich traurig die zerschrammte Tischplatte an. Ein guter Zeitpunkt, um zur Tat zu schreiten. Jetzt kam eindeutig die Depressionsphase des Rauschzustands.

„Ich bringe dich wohl jetzt besser zu einem Taxi.“

Delila blickte ruhig hoch, aus ihren Augen sprach mehr Tier als Mensch. Ryon wurde es bei diesem Anblick eiskalt. Hätte er auch nur im Ansatz wölfisch verstanden, hätte dieser eine Blick ihm Vieles sagen können, doch er konnte es nicht und sie sagte auch nichts weiter, sondern nickte dann schließlich nur.

Ryon bezahlte bei der Kellnerin gleich für Delila mit, ehe er einen wirklich sehr flüchtigen Blick in Richtung Paige warf, doch bevor seine Augen sie gefunden hatten, erhob auch die Wölfin sich und hätte sich mit ihren Meterlangen Absätzen und dem gewaltigen Alkoholpegel beinahe den Hals gebrochen, wenn er sie nicht noch rechtzeitig gestützt hätte.

„Ich hätte dich nicht so viel trinken lassen sollen.“

Delila krallte sich an seinem Shirt fest und sah vollkommen erledigt zu ihm hoch.

„Das hätt’ste mal versuchen sollen.“ Im nächsten Moment kicherte sie wieder los und machte Anstalten alleine zur Tür zu torkeln. Doch rasch fing Ryon sie wieder ein, bevor sie in eine Gruppe betrunkener und halb komatisierte Männer fallen konnte.

„Isch hab‘ nämlich auch Krallen, weißt du!?“

Ryon hatte keine Chance Paige irgendein Zeichen zu geben, dass er Delila nur zu einem Taxi bringen wollte. Aber hoffentlich verstand sie die Situation auch ohne große Erklärung. Eigentlich war die Wölfin an sich schon Erklärung genug. Er musste sie schon fast mit Gewalt aus der Bar buchsieren, weil sie beschlossen hatte, dass es ihr drinnen doch viel besser gefiel.

Ryon war sogar schließlich dazu gezwungen, sie sich kurzerhand vorsichtig über die Schulter zu werfen, da ihre eigenen Beine sie nicht mehr trugen, sie sich aber trotzdem noch kräftig zur Wehr setzte.

Kaum dass sie über seinem Rücken baumelte, begann sie wieder zu kichern und ließ sich willenlos wie ein Sack Kartoffeln hängen, während sie seinen Hintern betatschte.

„Wusstest du eigentlich … dass isch früher mal gerne mit dir … gebrödelt … gedödelt … nein … gevögelt, ja genau … hätte?“

Ryon beschloss darauf nicht zu antworten. Sie redete absoluten Blödsinn daher und würde sich später wohl kaum noch daran erinnern. Hoffentlich tat ihr wenigstens die kühle Luft etwas gut, auch wenn es bis an die Oberfläche noch etwas dauerte.

„Ey, Mister. Isch rede mit Ihnen!“

Einfach weiter gehen und ignorieren.

„War ja klar. Ihr Männer seid echt das Letzte! Erst groß reden und dann … dann lasst ihr einfach einen wie’n Haufen Dreck fallen.“

Aufmerksam sah sich Ryon nach allen Seiten um, da Delila mit ihrem Geschwafel ganz schön viel Lärm machte, doch in der Gasse, die er gerade durchschritt, war alles ruhig und unauffällig.

„Wer hat dich fallen gelassen? Die Zwillinge?“

Schweigen antwortete ihm, bis er schon glaubte, Delila sei eingeschlafen oder ohnmächtig geworden, doch dann hörte er sie leise schluchzen. Automatisch ging er langsamer.

„Nein. Mein Herr! Er hat versprochen… Er hat mir geschworen… Ich dachte ich würde meinen Kleinen wieder bekommen… Dafür musste ich Dean und James…“

Ryon konnte sie kaum noch verstehen, so heftig begann sie nun zu weinen. Sie zwang ihn damit sogar, stehen zu bleiben und sie von seiner Schulter zu lassen, damit er ihr in die völlig verweinten Augen sehen konnte, die ihn verzweifelt anblickten.

„Ich dachte … ich könnte ihn damit beschützen…“ Sie schluchzte heftiger, hörte sich dafür aber wieder deutlich nüchterner an. Ryon berührte sie sanft an den Schultern.

„Wen, Delila? Wen könntest du durch was beschützen? Was ist los?“

Die junge Frau hob erneut den Blick, ihr Make-up war verschmiert, ihre Augen rot gerändert, doch ihre Iris sah ihn auf eine Weise an, die ihm den Atem raubte. Vor allem, da ihr Gesicht mit einem Mal vollkommen ausdruckslos wurde.

Im nächsten Augenblick war es nicht nur ihr Anblick, der ihn am Atmen hinderte. Ryon sah es nicht kommen. In keinster Weise hätte er damit gerechnet, da war es auch schon zu spät, als er das Gefühl von kaltem Metall zwischen seine Rippen spürte und wie ihm kurz darauf etwas warmes über den Brustkorb lief und sein Shirt durchtränkte.

Ungläubig ließ er Delila los, die ihn noch immer ansah, dieses Mal erneut voller Qualen im Blick. Doch sie sagte kein Wort, als er zurück trat und das Messer zwischen seinen Rippen heraus zog, das sie bis zum Schafft hinein getrieben hatte.

„Warum, Delila?“, verlangte er zu wissen, nachdem die Waffe klirrend zu Boden gefallen war. Aber im nächsten Moment war er sich sogar ziemlich sicher, dass er die Antwort bereits wusste.

Kein Wunder, dass es die ganze Nacht friedlich gewesen war. SIE hätte eigentlich in die Falle gehen sollen, stattdessen war er direkt in die ihre gelaufen. Nur hätte sie damit rechnen müssen, dass ihn dieser Messerstich nicht gleich auf die Matte schickte. Er war schließlich ein Gestaltwandler. Aber vermutlich wusste sie das heute genauso wenig wie damals.

„Weil sie ihn sonst umbringen werden. Ich habe bereits Dean und James verloren. IHN werde ich niemals aufgeben!“

Wie auf einmal das zweite Messer in ihre Hand kam, würde Ryon wohl immer ein Rätsel bleiben, denn da hatte er auch schon die Betäubungspistole gezogen und einen Schuss zielgenau gesetzt. Delila sackte ohne jegliche Gegenwehr einfach in sich zusammen und ließ das Messer fallen.

Mit langsamen Bewegungen steckte Ryon die Waffe wieder weg, ging zu der Bewusstlosen hinüber, während er sein Handy aus der Tasche zog und Tennessey anpiepste, ehe er Paige eine SMS schickte, um sie zu bitten, den Job vor Schichtende zu schmeißen und sich stattdessen mit ihm zusammen zurück zu ziehen. Für heute Nacht hatten sie sich genug in Gefahr begeben.

Mit einem Ruck riss er sich ein gutes Stück Stoff aus seinem Mantelsaum und presste ihn sich auf die Wunde, während er Delila wieder über seine Schulter warf und auf Paige wartete. Auf dieses Verhör freute er sich schon einmal überhaupt nicht, obwohl er neugierig war.
 

„Wusstest du eigentlich … dass ich früher mal gerne mit dir ...“

Dunkle Augen blitzten unter einem pinken Pony hervor, durchsichtiges Plastik schmolz unter glühenden Fingerkuppen.

„HEY!“

Die Frau sah zu Paige hoch und wedelte in Richtung des Cocktailglases, in dem es vor sich hin brodelte.

„Salamander, den trink ich nicht mehr! Bring mir 'nen Neuen!“

Die Blonde konnte nur froh sein, dass Paige noch Herrin ihrer Sinne war und sie nicht mit dem attraktiven Wrack verwechselte, das Ryon gerade über die Schulter geworfen und aus der Bar getragen hatte. Die Tussi hatte seinen Hintern begrapscht, verdammt nochmal! Von dem verbalen Ausfall ganz zu schweigen!

Paige merkte, wie die Menschenmasse sich vor ihr teilte. Männer und Frauen stutzten oder zuckten vor der Hitzewelle zurück, die die Kellnerin um sich aussandte. Am liebsten hätte sie das `Fass` lichterloh in Brand gesetzt. Dieses Stück hätte ihn also früher gern gevögelt, ja?!

Mit Schwung donnerte Paige ihr völlig versengtes, zerschmolzenes Serviertablett auf die Theke und maulte Jazz ein „Mai Tai“ entgegen. Der Barkeeper sah sie nur mit hochgezogenen Brauen an und mixte den Cocktail so schnell, wie noch nie in seinem Leben.

Als das Handy in dem Riemen unter ihrem Rock vibrierte, hätte Paige am liebsten 'Was?!' geschrien. Ihre Miene war so finster, dass das kleine Ding eigentlich allein davon hätte schmelzen müssen. Doch es hielt durch, bis Paige die kurze SMS gelesen hatte und das Telefon wieder unter ihr Röckchen stopfte, während sie sich bereits durch die Menge boxte. Irgendjemand rempelte sie an, ein Anderer schrie hinter ihr her, doch das alles war für Paige wie ausgeblendet.

Die Schwingtüren der Bar donnerten gegen die Außenwand, als sie mit wehendem Kostüm um die Ecke in die Seitengasse bog. Die glitzernden Flügelchen auf ihrem Rücken wippten grazil und völlig unpassend, während Paige mit loderndem Blick ein paar Meter vor Ryon stehen blieb.

„Was ist-“

Ihr Herz blieb stehen. Paige war sicher, dass ihr gesamter Blutzyklus still stand und sie so bleich wurde, wie ihr Kleid.

„Scheiße...“ Es war mehr ein Wimmern, als ein echter Fluch.

Sofort war sie bei ihm, zog seine Hand mitsamt dem Stofffetzen von seinem Bauch und hatte das Gefühl noch weniger Farbe in den Wangen zu haben. Paige zerrte ihm das Stück Stoff aus den Fingern und drückte es fest auf die immer noch blutende Stichwunde.

„Lass' sie doch fallen, verdammt!“

Sie wollte sich so gern wütend anhören, doch die Panik fraß sich durch ihre Worte nach draußen. Mein Gott, wie konnte er bei dem Blutverlust nur noch grade stehen?
 

Oh Gott, er war so erleichtert, Paige zu sehen, dass er sie am liebsten an sich gezogen und nie wieder losgelassen hätte. Doch weder war dazu die passende Zeit noch der passende Ort. Außerdem ließ sie ihm gar keine Wahl, als einen Moment lang still zu halten, damit sie seine Wunde besser sehen konnte, was ihn fast zusammenfahren ließ. Es war zwar nichts wirklich Ernsthaftes, aber es tat trotzdem höllisch weh.

„Paige.“

Sie reagierte nicht, sondern drückte stattdessen den Stofffetzen nun fester auf seine Wunde.

„Paige!“ Er hob mit seiner freien Hand ihr Kinn an, damit sie von der blutenden Wunde weg und in seine Augen sah. Dass er sie dabei mit Blut beschmierte tat ihm leid, aber daran konnte er gerade nichts ändern.

„Es ist nicht so wild, wie es aussieht.“ Zumindest war ihm nur schlecht, ansonsten gab es noch keine bösen Warnzeichen.

„Und ich kann sie nicht fallen lassen. Wir müssen zum Wagen und sie an den Treffpunkt bringen. Es ist wichtig. Ich glaube, sie könnte uns … wertvolle Informationen geben.“ Er glaubte es nicht nur, er hatte auch noch so einige Befürchtungen. Denn obwohl Delila für ihn immer noch wie eine Fremde war, so war sie doch eine ehrliche und gute Frau gewesen. So sehr konnte er sich nicht in ihr getäuscht haben. Es musste irgendetwas nicht stimmen. Sonst hätte sie ihn wohl kaum angegriffen, auch wenn er das vermutlich nur selbst glauben wollte. Ryon konnte es immer noch nicht fassen, was sie getan hatte.

„Bringen-“ Er zuckte zusammen, da er zu tief Luft geholt hatte und sich das nicht gerade herrlich anfühlte. „Bringen wir sie zum Wagen.“

Ryon wollte nur sehr ungern weiterhin in der Gasse herum stehen, wo jeder sie angreifen konnte. Außerdem wurde die zierliche Frau über seiner Schulter langsam immer schwerer und er begann zu frieren.

„Es ist alles gut. Komm.“ Sein Tonfall war beruhigend, um Paige nicht noch mehr aufzubringen, als sie offensichtlich ohnehin schon war. Also zog er sie mit dem freien Arm an sich, damit sie weiter auf seine Wunde drücken konnte und gleichzeitig in Bewegung kam. Mit ihr zusammen machte er sich so rasch wie möglich auf den Weg zum Wagen und verbiss sich bei jedem Schritt ein Stöhnen, um seiner Gefährtin nicht noch mehr Sorge zu bereiten.
 

Der Weg verlief sich in den Minuten, die sie zum Auto brauchten. Paige zerrte zuerst den Schlüssel aus Ryons Hosentasche, presste dann seine Hand auf den Stofffetzen und schenkte ihm einen Blick, der ihm Schlimmeres als diese Verletzung prophezeite, wenn er auch nur daran dachte, sich mehr zu bewegen als nötig.

Sie riss den Kofferraum auf und zerrte Ryon die schmale Frau von der Schulter, um sie gewollt unsanft hinein zu befördern und die Klappe wieder zuzuschlagen. Als sie sah, dass Ryon auf die rechte Seite des Autos zusteuerte, zischte sie ihn an.

„Ooh nein! Ich fahre!“

Sie öffnete ihm die Tür, schnallte ihn sogar an, bevor sie um die Motorhaube herum hetzte und sich hinters Steuer warf. Der Motor kam für Paiges Geschmack viel zu langsam in Gang, doch sie riss sich zusammen und gab um Ryons Willen nicht sofort Vollgas.

Mit einem Seitenblick spähte sie mehr als besorgt auf die Stelle, an der sich der dunkel, feucht glitzernde Fleck auf seinem Shirt immer noch weiter ausbreitete.

Wäre Tennessey nicht, sie hätte die Frau im Kofferraum verdorren lassen und ihn auf schnellstem Wege zu einem Arzt geschafft. Wenn er ihr die Ernsthaftigkeit seiner Wunde verschwieg, konnte er was erleben!
 

Der Weg zum Wagen war die pure Folter. Dort angekommen brannte und pochte seine verletzte Seite so heftig, dass er kaum noch die Kiefer auseinander bekam, so fest verbiss er sich jeden Laut.

Unfähig zu protestieren, ließ er Paige die Kontrolle übernehmen und sank stattdessen fast schon erleichtert in den Beifahrersitz zurück. Es wäre schön gewesen, jetzt einfach die Augen zu schließen und eine kräftige Portion zu schlafen, um sich wieder zu erholen, doch stattdessen presste er sich den durchnässten Stoffstreifen noch fester gegen die Seite und gab Paige immer wieder ein paar Anweisungen, wo sie hinfahren musste, da sie noch nicht den genauen Weg kannte.

Seine Ausführungen waren knapp und präzise und seine Stimme immer noch kräftig, aber es kostete ihn Mühe und das begann er langsam zu spüren.

Ungeduldig blickte er immer wieder aufmerksam aus dem Fenster. Zuerst verließen sie die Stadt, dann fuhren sie durch kleine Dörfer, bis die Straße in einem holprigen und verwachsenen Waldweg überging, der sich mehrere höllische Minuten lang tiefer zwischen die Bäume schlängelte und schließlich ein Weiterfahren unmöglich wurde.

„Halt hier an. Das restliche Stückchen müssen wir zu Fuß gehen.“ Etwas, das Paige garantiert nicht passte, aber Ryon hatte keine Zeit, sich von ihr bemuttern zu lassen, obwohl er nichts lieber getan hätte. Stattdessen öffnete er etwas ungelenkig seinen Gurt und stieg innerlich vor sich hin fluchend aus. Wenigstens hatte die Wunde schon fast ganz zu bluten aufgehört, aber auch so fühlte er sich inzwischen ziemlich ausgelaugt und fertig. Inzwischen war Ryon sogar bereit, um es mit Tennesseys Nadeln aufzunehmen, wenn es denn wirklich sein musste, nur damit er zu Tropfen aufhörte.

Beim Kofferraum angekommen, schlief Delila immer noch tief und fest. Nicht einmal eine Atombombe hätte sie wecken können, aber dafür hatte sie in den letzten zwanzig Minuten ganz schön an Gewicht zugelegt.

Zum Glück waren es kaum fünf Minuten zu der kleinen windschiefen Hütte, die sie für die Befragungen ausgesucht hatten. So tief im Wald wie sie lag, war eine gute Schallisolierung nicht nötig. Auch so würde niemand sie hören oder gar stören. Hier kam einfach nie jemand vorbei.
 

Tennessey musste sie schon von weitem gesehen haben, denn er kam bereits aus dem Haus, bevor sie die kleine Lichtung betreten hatten. Ein Blick genügte und der Arzt hatte die Situation erfasst.

„Okay. Bring sie rein und leg sie auf die Pritsche. Ich will mir erst einmal ansehen, was du schon wieder angestellt hast.“

Ryon tat wie ihm befohlen und legte Delila auf das schmale Feldbett, das zusammen mit zwei Stühlen einem Tisch und einer alten Holztruhe alles an Einrichtung in der kleinen Hütte darstellte.

„Gut und jetzt setz dich.“, befahl Tennessey ganz Arzt wie er war in einem Tonfall, dem man sich nicht widersetzen konnte. Also setzte er sich auf den stabileren der beiden Stühle.

„Paige, du gehst auf seine andere Seite und passt auf, dass er auch sitzen bleibt.“

Warum sie das tun sollte, war Ryon ein Rätsel, aber er griff sofort nach ihrer Hand, als sie da war. Einfach nur, weil er sie berühren musste. Die ganze Nacht lang hatte er zusehen müssen, wie fremde Männer sie anfassen und noch viel Schlimmeres mit ihr anstellen wollten. Das hatte ihm ganz und gar nicht gefallen.

Tennessey stellte währenddessen seine Arzttasche auf den Tisch, die er immer bei sich zu haben schien und holte daraus eine Schere hervor, mit der er Ryons T-Shirt aufschnitt, danach zog er ihm langsam den Stoff zur Seite.

„Die Gute hat dich aber ganz schön erwischt. Ich hätte dich wirklich für vorsichtiger gehalten, Ryon!“, rügte der Ältere ihn und machte dabei mit einem Tupfer die Stelle um die Stichverletzung sauber.

„Paige, drück bitte seine Schultern runter und sorg dafür, dass er mir bloß sitzen bleibt.“

Schon wieder befürchtete sein Freund, Ryon wäre so blöd, einfach während der Behandlung vom Stuhl aufzuspringen, warum nur?

Als die warmen, prüfenden Finger direkt in die Stichwunde hinein fuhren, hatte er seine Antwort. Sofort wollte er vom Stuhl aufspringen, was Paige aber verhinderte, alleine durch die Tatsache, dass sie hier war und er sie nicht einfach über den Haufen rennen wollte. Also umschlang er ihre Taille rein instinktiv mit dem einen Arm, zog sie an sich und drückte sein Gesicht an ihren Körper, während er sich so fest mit der anderen Hand in die Tischkante krallte, dass er fast ein Stück raus brach. Er wollte vor Schmerz schreien, tat es aber nicht, stattdessen begann er flach und heftig zu Atmen, während Tennessey in ihm herum stocherte. Am liebsten hätte er seinem Freund in diesem Moment den Kopf abgerissen, denn selbst als es vorbei war, fühlte es sich immer noch so an, als hätte dieser seine ganze Hand in der Wunde.

„Du hast noch einmal Glück gehabt. Etwas weiter Links oder Rechts und es wären innere Organe ernsthaft verletzt worden.“

Ryon hörte seinen Freund kaum, hielt sich stattdessen immer noch an Paige und dem Tisch fest, während er einfach an nichts zu denken versuchte.

Gut, dass er nicht sah, wie Tennessey Nadel und Faden hervor holte, um die Wunde rasch und präzise zu vernähen. Die Stiche spürte er noch nicht einmal.
 

„Mein Gott...“

Paiges Augen wollten aus ihren Höhlen treten, als sie die Finger des Arztes in Ryons Bauch verschwinden sah. Sie merkte, wie sie bleich wurde und nur noch auf den Beinen stand, weil Ryon sie brauchte. Er hatte sein Gesicht an ihrem Bauch vergraben und den Arm fest um sie geschlungen. Seine Krallen drangen durch den dünnen Stoff ihres Kleides wie durch weiche Butter. Paige störte es nicht, denn Ryons sonst tödliche Waffen glitten an ihren Schuppen ab.

Hätte sie sich nicht absolut auf das konzentriert, was Tennessey tat, wären ihr vielleicht tatsächlich die Sinne geschwunden. Und obwohl sie das bei dem Anblick immer noch fürchtete, starrte sie auf jeden Handgriff des Arztes, verfolgte, wie er die Wunde sauber vernähte und anschließend ein riesiges Wundpflaster darüber anbrachte.

Ihr Bauch war heiß von Ryons schnellen, gequälten Atemzügen und er hielt sie immer noch umklammert wie einen rettenden Anker. Erst als Tennessey seine Instrumente wegpackte und Paige wieder einigermaßen klar denken konnte, bemerkte sie, dass sie schon die ganze Zeit Ryons Nacken und Rücken beruhigend streichelte. Immer wieder in großen sanften Kreisen, um ihn und sich selbst zur Ruhe zu bringen.

Vorsichtig sank sie in die Hocke und schlang beide Arme um Ryons Körper. Erst als sie seinen Atem an ihrem Hals spüren konnte, erlaubte sie sich ein paar Tränen, während sie in ihrem Kopf lauthals fluchte. Sie hatte immer noch das Gefühl, vor Angst um ihn einfach den Verstand verlieren zu müssen.
 

Langsam, ganz langsam flaute der Schmerz in seinem Körper ab und wich stattdessen Taubheit an der Stelle, wo er vorhin noch ein Loch gehabt hatte. Tennessey musste ihm wohl auch etwas Schmerzstillendes verabreicht haben, ohne, dass er es bemerkte, oder es lag einfach an Paiges Nähe, die ihm so viel mehr gab, als alles andere es hätte tun können.

Inzwischen hatte er beide Arme um sie geschlungen und sein Gesicht an ihren Hals geschmiegt, um bei jedem Atemzug ihren Duft tief einsaugen zu können und zu wissen, dass sie hier war. Sie gehörte ihm und er war der ihre. So und nicht anders sollte es sein. Die vielen Männer heute um sie herum, hatten ihn schier wahnsinnig gemacht. Selbst jetzt noch, würde er sich ohne zu zögern auf sie stürzen, wenn es die Situation erfordern sollte, auch wenn die Chancen auf Erfolg nun deutlich gesunken waren. Trotzdem würde er es tun.

Vorsichtig zog Ryon Paige schließlich auf seinen Schoß, um sie einfach fest zu halten. Er musste nicht mit ihr sprechen oder großartig etwas tun. Er musste sie einfach dringend eine Weile halten und spüren. Alles andere war im Augenblick unwichtig und das nutzte auch Tennessey aus, um nach dem Mitbringsel auf der Pritsche zu sehen und ihnen beiden somit einen Moment der Ungestörtheit zu bieten.

Als sein Freund schließlich langsam unruhig wurde, löste sich Ryon etwas von Paige, wischte ihr zärtlich die Nässe von den Wangen und küsste sie sanft auf die immer noch leicht geschwollene Unterlippe.

„Wie hoch stehen die Chancen, dieses Kostümchen mal in unserem Schlafzimmer zu Gesicht zu bekommen?“, flüsterte er ihr leise und mit schwachem Humor zu. Er konnte es nicht ausstehen, wenn sie sich Sorgen machte.

Tennessey räusperte sich vernehmlich am anderen Ende des Raumes. Nicht, dass er diesen Satz gerade gehört hatte, dazu war er viel zu leise gewesen, aber er verlangte offensichtlich genauso nach Aufmerksamkeit.

„Ich habe der Frau-“

„Delila.“

„Wie bitte?“

„Ihr Name ist Delila und sie ist eine Gestaltwandlerwölfin.“

Tennessey runzelte die Stirn, ließ sich dann aber doch nicht beirren.

„Okay, also ich habe Delila ein Gegenmittel gegeben. Sie wird nicht sofort aufwachen und auch nicht gleich wieder fit sein. Ich kann nichts mit ihr anfangen, wenn sie im Koma liegt, aber benommen genügt mir. Fesseln werden, denke ich, nicht nötig sein. Die Dosis war für ihre Statur ziemlich hoch.“

Wofür der Doc natürlich nichts konnte. Immerhin hatte er sicherlich nicht damit gerechnet statt einem riesigen Werwolf eine kleine Wölfin damit zu erwischen. Aber dass ihr Feind gerissen war, hatten sie inzwischen nur zu deutlich herausfinden können.

„Gut, willst du dann anfangen?“

Ryon drückte sich immer noch zittrig an Paige, aber seine Gedanken kamen langsam wieder zur Sache. Nun, da die Wunde verschlossen war, verbesserte sich sein Zustand wesentlich schneller. Zur Sicherheit schob er seine Hand in die Nähe einer seiner Waffen.

„Ja. Sie kommt langsam zu sich.“

Tatsächlich regte sich Delila schwach aber merklich auf dem Feldbett. Zumindest flatterten ihre Augenlider immer wieder hoch und gaben einen verirrten Blick frei, ehe sie sie mit einem Seufzen wieder schloss und offenbar versuchte, aus dem Dämmerzustand zu entkommen. Doch inzwischen hatte sich Tennessey den zweiten Stuhl heran gezogen und sich ans Kopfende des Bettes gesetzt, um ihr so leichter die Hände an die Schläfen legen zu können. Keine Sekunde später waren ihre Augen ganz geschlossen und ihre Bewegungen hörten auf. Eine Falte bildete sich auf der konzentrierten Stirn seines Freundes, der lange kein Wort sprach oder einen Muskel rührte, während er in Delilas Geist auf Wanderschaft ging.
 

Paige wollte ihr Gewicht eigentlich nicht auf Ryons Schoß lasten, doch er zog sie so Besitz ergreifend an sich, dass sie im wörtlichen, wie auch im übertragenen Sinne den Boden unter den Füßen verlor.

Er hätte tot sein können.

Nur wenige Meter von ihr entfernt von einer Tussi erstochen, die so aussah, als könnte Paige sie locker aus den Latschen kicken. Sie hätte Ryon verlieren können – einfach so! Ihr Körper fühlte sich fast taub an vor Sorge und Angst um ihn. Paige spürte den Kuss kaum und war doch so froh darum, dass Ryon ihr die Tränen von den Wangen wischte.

„Wie hoch stehen die Chancen, dieses Kostümchen mal in unserem Schlafzimmer zu Gesicht zu bekommen?“

Sie sah den Schalk ganz leise in seinen goldenen Augen glitzern und begriff doch erst, was er meinte, als sie an sich hinab sah. Das weiße Kleidchen war sogar noch ein Stück ihre Oberschenkel hinauf gerutscht, ihre Beine steckten immer noch in hoch geschnürten, glitzernden Stiefeln und Ryons Arm war unter einem Paar pinker Flügel um ihren Rücken geschlungen. Der Anflug eines Lächelns über ihr Erstaunen, ließ sie halb wütend die Augenbrauen zusammen ziehen. Ihre Faust boxte ihn nicht wirklich sanft auf die Schulter und Paige wollte gerade etwas Schnippisches erwidern, als Tennessey ihrer beider Aufmerksamkeit forderte.

Sie hätte nicht gedacht, dass sich ihr Körper noch mehr versteifen könnte, aber so war es, als Ryon den Arzt verbesserte und den Namen der Frau nannte, die dort noch immer ohnmächtig auf der Pritsche lag. Sie kannten sich also wirklich. Vielleicht nur aus dem Gespräch, das immerhin die halbe Nacht gedauert hatte... Paige empfand den Gedanken seltsamer Weise als nicht sonderlich beruhigend. Wären Ryons zitternder Arm und sein warmer Körper an ihrem nicht gewesen, sie hätte sich wohl kaum davon abhalten können, diese Delila sehr nachdrücklich und auf nicht gerade schöne Weise in den Wachzustand zurück zu holen.

Doch statt sich so gehen zu lassen, sah sie Tennessey konzentriert dabei zu, wie er seine Fingerspitzen sanft gegen den Kopf der Gestaltwandlerin drückte und schon bald ein verkrampfter Ausdruck auf seinem Gesicht erschien. Paige würde nie verstehen, was genau der ältere Mann tat, wenn er seine Kräfte einsetzte. Oder wie es für ihn sein musste, in einem Unterbewusstsein spazieren zu gehen. Es kam ihr unpassend vor, aber Paige fragte sich, ob es auch schön sein konnte...

62. Kapitel

Die ganze nicht unbeträchtliche Zeit, in der Tennessey nichts sagte oder tat, sondern einfach nur mit geschlossenen Augen dasaß, wagte Ryon kaum zu atmen. Jede Sekunde wartete er darauf, dass sein Freund auf irgendeine heftige Art und Weise auf das Gesehene reagierte, so wie es bei dem Werwolf der Fall gewesen war. Denn selbst wenn Delila früher einmal ein guter Mensch gewesen war, konnte niemand sagen, was sie inzwischen hatte durchmachen müssen. Oder vielleicht hatte er sich auch einfach nur gewaltig in ihr geirrt.

Kein Wunder, dass Ryon beinahe heftig zusammen fuhr, als sein Freund sich lediglich mit einem schweren Seufzen aufrichtete und sich die Augen nachdenklich rieb. Er hätte schließlich mit allem gerechnet, nur nicht damit.

Die Wölfin schien inzwischen ruhig zu schlafen, obwohl Tennessey die Verbindung mit ihr abgebrochen hatte. Zumindest atmete sie langsam und tief, während ihr Gesicht entspannt wirkte.

Obwohl es ihm auf der Zunge brannte, brachte Ryon ein einfaches ‚Und?‘ nicht über seine Lippen. Stattdessen gab er seinem Freund die Zeit, sich selbst über das Gesehene zu äußern und wieder ganz in die Realität zurück zu kehren. Dieser sagte aber nichts, sondern stand schließlich auf, ging zu seiner Arzttasche hinüber und kramte etwas daraus hervor, ehe er zur Tür ging und diese etwas öffnete, um sich eine Zigarette anzuzünden.

Ryon bekam einen schweren Kloß im Hals. Seit wann rauchte Tennessey?

Nachdem der Doc seine Zigarette bis zur Hälfte in tiefen Zügen geraucht hatte, dabei mit ausdruckslosem Gesicht ins Freie starrte und immer noch kein Wort sagte, hielt Ryon es nicht mehr aus und auch Paiges Unruhe war deutlich spürbar.

„Was ist los, mein Freund?“

Tennessey zuckte zusammen, als hätte man ihn gerade aus einer tiefen Trance gerissen. Zuerst sah er die fast aufgerauchte Zigarette in seiner Hand und dann endlich seine beiden Freunde auf dem Stuhl an, ehe er den Glimmstängel ausdämpfte und wegschippte.

„Sagen wir es einmal so.“ Seine Stimme war rau und klang wie ein verrostetes Gartentor.

„Wenn ich diese Boudicca zwischen die Finger bekäme, würde ich ihr Scheibchenweise das Gehirn herausschneiden und an ihre Untertanen verfüttern.“

Und das von dem gutmütigen Charles Tennessey!

Ryon schwieg betroffen. So hatte er seinen Freund noch nie erlebt. So ruhig und doch mit dieser unheimlichen Wut hinter den sonst so freundlichen Augen. Diese Seite an diesem Mann kannte er noch nicht.

Entschlossen sog Tennessey tief Luft in seine Lungen, ehe er erneut zu Delila hinüber ging. Doch anstatt den Platz wieder am Kopfteil der Pritsche einzunehmen, setzte er sich zusammen mit seiner Allroundtasche neben sie und holte ein Stethoskop hervor, mit dem er ihre Atmung überprüfte.

Er lauschte einen Moment, dann sprach er weiter.

„Im Kopf dieser Frau herrscht ein heilloses Durcheinander, aber nach allem, was ich erfahren habe, wundert mich das überhaupt nicht und glaubt mir, ich habe wirklich sehr viel erfahren können. Boudicca ist zu arrogant und selbstsicher, um ihre Machenschaften gründlicher zu verschleiern. Sie glaubt, sie wäre einzigartig und unbesiegbar. Wie sehr sich dieses verdammte Weib doch irrt.“

Tennessey stopfte das Stethoskop wieder zurück in seine Tasche und holte stattdessen eine Lampe und seine Lesebrille daraus hervor. Nachdem er sich Letzteres auf die Nase gesetzt hatte, begann er gründlich Delilas Arme nach irgendetwas abzusuchen, bis er schließlich an mehreren Stellen inne hielt und mit den Fingern darüber strich, ehe er mit seiner Tätigkeit fortfuhr und weiter sprach.

„Wenigstens wissen wir jetzt mit absoluter Sicherheit, dass Boudiccas spezielle Fähigkeit nicht im Kräutermischen und im Auswendiglernen von Zaubersprüchen liegt.“

„Und worin liegt sie dann?“, verlangte Ryon zu wissen, als sein Freund erneut in Schweigen verfiel und nun eine Stelle an Delilas Hals gründlich musterte.

„Was suchst du eigentlich?“

Tennessey ließ sich gründlich Zeit mit seiner Antwort, ehe er die Lampe weglegte und hoch blickte.

„Diese Hexe hat ungefähr die gleichen geistigen Fähigkeiten wie ich. Im Augenblick kann ich allerdings nicht sagen, wie stark sie sind, das werden wir aber spätestens dann herausfinden, wenn ich versuchen werde, den von ihr angerichteten Schaden in Delilas Gehirn wieder zu beheben. Und ich versuche heraus zu bekommen, wie viele Erinnerungen dieser Frau der Wahrheit entsprechen und wie viele davon nur eine Illusion sind.“

„Moment mal. Du meinst, Boudicca kann wie du in den Geist von anderen Menschen eindringen und könnte demzufolge auch der Reihe nach befehlen … einfach Tod umzufallen?“

Dieser Gedanke entsetzte ihn noch mehr, als es der Anblick des sterbenden Werwolfs getan hatte, der gegen Tennesseys Kräfte völlig wehrlos gewesen war.

„Nein.“ Sein Freund schüttelte den Kopf und so etwas wie Erleichterung wollte sich in Ryon ausbreiten. Aber eben nur sehr zögerlich.

„Sie ist, um es Gelinde auszudrücken, ungeübt. Zumindest habe ich bisher diesen Eindruck gewonnen. Denn normalerweise richte ich bei meiner Arbeit nicht so ein heilloses Chaos im Kopf eines anderen an. Sie arbeitet unsauber und teilweise nur rein instinktiv. Außerdem braucht sie bestimmt Körperkontakt, um jemanden mit ihren Gedanken umbringen zu können. Trotzdem sind ihre Kräfte nicht zu unterschätzen. Nur weil sie sie nicht vollkommen unter Kontrolle hat, heißt das nicht, dass sie trotzdem sehr stark sein können.“

Ryon verstand, was sein Freund damit sagen konnte. Boudicca war sozusagen wie ein Kind, dem man eine Waffe in die Hand gedrückt hatte. Ungeübt, aber dennoch gefährlich, wenn nicht sogar noch gefährlicher, als mit der nötigen Erfahrung.
 

Es lief ihr kalt den Rücken hinunter und ihre Schuppen, die sich dort hervor geschoben hatten, klapperten leise, als Ryon seine Gedanken aussprach. Auch Tennesseys Versicherung, dass Boudicca niemanden einfach so tot umfallen lassen konnte, konnte Paige kaum beruhigen. Was vermochte diese Wahnsinnige dann alles mit ihrer Fähigkeit anzustellen? Offensichtlich war es ihr jedenfalls scheißegal, wen und wie stark sie denjenigen verletzte. Ihre Diener waren wie Puppen für ein unartiges Kind. Paige wurde speiübel.

Sie sah sich die nun ruhigen Züge der Wölfin an, die entspannt schlief, während sich Tennessey um sie kümmerte. Die andere Frau war schön. Auch wenn man das unter ihrem verlebten Image kaum erkennen konnte. Sie mochte etwas älter als Paige selbst sein. Aber wahrscheinlich nur ein paar Jahre. Diese Jahre hatten sie allerdings gezeichnet.

Paige dankte dem Himmel dafür, dass ihr diese schwache, gebrochene Frau leid tun konnte. Obwohl sie Ryon mit einem Stück Schaschlickfleisch verwechselt hatte. Obwohl sie ihn hatte...

Sie seufzte und sank ein wenig in sich zusammen.

„Tennessey? Wie... Wie lange wirst du brauchen, um ihr zu helfen?“

Sie wollte eigentlich fragen, wie lange er brauchen würde, bis Delila ihnen wirklich wichtige Fragen beantworten konnte. Fragen, die ihnen weiter helfen würden und sie näher zu Boudicca brachten. Damit sie dieses Miststück endlich erledigen konnten.
 

Ryon wartete ebenfalls gespannt auf eine Antwort. Konnte er Delila überhaupt helfen?

Tennessey hielt eine Weile in seiner Untersuchung inne und betrachtete einfach nur nachdenklich das Gesicht der Gestaltwandlerin. Man sah ihm an, dass es hinter seiner Stirn heftig arbeitete, darum störte Ryon ihn auch nicht. Manche Dinge brauchten einfach ihre Zeit, egal wie wenig man davon hatte.

„Das kann ich momentan nicht genau sagen. Was ich gesehen habe, war nur die Oberfläche von dem, was Boudicca angerichtet hat. Der Schaden könnte noch viel tiefer sitzen und auch rein körperlich ist sie in keiner guten Verfassung.“

Tennessey kniff seine Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und sah für einen Moment so aus, als ob er gleich jemanden umbringen würde, doch dann nahmen seine Züge wieder die eines fachkundigen Arztes an, der schon vieles gesehen hatte und vielleicht sogar noch mehr, als Ryon überhaupt ahnte.

„Es steht für mich zumindest fest, dass, wenn ich die ganzen Blockaden, Programmierungen und Befehle, die Boudicca in ihren Kopf gepflanzt hat, auflöse, wir vorerst vermutlich nichts mehr mit ihr anfangen können. Ich befürchte nämlich, dass das Werk dieser Hexe der einzige Grund ist, was Delila noch aufrecht gehen lässt. Sie hat…“

Ryons Freund rang offensichtlich um die richtigen Worte, was ihn kein bisschen beruhigte. Ganz im Gegenteil. Immer mehr wollte sich ein grässliches Gefühl in ihm ausbreiten, dass er noch nicht einmal im Ansatz etwas von dem wusste, was Tennessey heraus gefunden hatte.

„Ihre Arme zum Beispiel“ Tennessey strich über die Stellen, an denen er vorhin schon einmal stehen geblieben war.

„Sie hat sehr helle Haut und ihrer Natur zu Folge sieht man sie kaum noch, aber sie hat hier überall verheilte Narben von Bisswunden. Man kann sie mehr fühlen als sehen, aber aus ihrem Gedächtnis habe ich entnommen, dass sie die nicht einfach nur in einem Kampf erlangt hat. Ich kann nicht genau sagen, wer die beiden Werwölfe sind, die ich gesehen habe, da Delila deren Identität verbissen verteidigt hat, aber wenn ich raten müsste, würde ich vermuten, dass sie ihr nahe stehen. Was bedeuten würde, diese beiden Werwölfe haben sie immer wieder auf Boudiccas Befehl hin angegriffen, verletzt und gequält, während sie sich nicht verteidigen wollte und das dürfte natürlich auch an Stellen Narben hinterlassen haben, die man nicht sehen kann. Versteht ihr?“

Tennessey seufzte zum wiederholten Mal schwer und vergrub einen Moment lang sein Gesicht in seinen Händen, um seine eigenen Gedanken neu zu ordnen.

„Ryon, ich weiß, es ist gegen alles, was wir abgemacht haben. Aber ich würde diese Frau gerne an einen sicheren Ort bringen und mich weiter mit ihr befassen. Ich hatte zwar eigentlich mit etwas ganz anderem gerechnet, als ich deine Nachricht erhielt, aber das ändert nichts an den Tatsachen. Ich gebe zwar keine hundertprozentige Garantie darauf, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass diese Frau nicht unser Feind ist. Vielmehr ist sie ein Opfer, das zum Werkzeug wurde. Aber das kann ich vermutlich beheben und wenn mir das wirklich gelingt, dann bin ich mir sicher, dass wir so einiges erfahren werden, das wir wirklich brauchen können. Immerhin war sie mitten in der Schlangengrube.“

Ryon war unentschlossen. Besser gesagt, kämpfte er mit dem, was er gehört hatte, dem was er wusste und mit dem wofür er verantwortlich war. Er kannte Delila nicht. Wusste nicht, ob sie einfach nur eine riesen Schwindlerin oder doch nur ein unschuldiges Opfer war. Konnte sie ihnen helfen, oder war das eine viel ausgeklügeltere Falle, als sie ihrer Feindin zutrauten?

Nein, er wollte sie auf keinen Fall einfach so aufgeben und die bestehenden Möglichkeiten von Vornherein ausschließen, aber er konnte sie auch nicht in den Schutz ihres Verstecks bringen. Das war einfach zu gefährlich!

Aber andererseits konnte er es auch nicht verantworten, Tennessey außerhalb der sicheren Grenzen ihres Zuhauses zu lassen. Er war nicht nur ein nützlicher Verbündeter, sondern ein bedeutender Freund und gehörte zur Familie. Gott, was sollten sie nur tun?

Fragend richtete er seinen Blick auf Paige und sah sie ernst an.

„Ich würde gerne deine Meinung hören. Was denkst du? Können wir es riskieren, sie in einem unserer Gästezimmer unter zu bringen, das rund um die Uhr bewacht wird, während sie es nicht verlassen darf, bis Tennessey genau weiß, welche Absichten hinter alledem stecken?“
 

Paige war die ganze Zeit über ruhig geblieben, hatte zugehört und versucht ihre Gefühle nicht nach außen zu lassen. Um Ryon nicht versehentlich in Brand zu stecken. Seinen Schoß zu verlassen war dennoch keine Option. Hätte sie es getan, wäre ihre Selbstbeherrschung sicherlich dahin gewesen.

Auch als Ryons Fragen schon lange verklungen waren, sah sie immer noch die Gestaltwandlerin auf der Pritsche an. Dann wanderte ihr Blick zu Tennessey und anschließend zu Ryon. Seltsamer Weise kam ihr das erste Mal in den Sinn, zu fragen, wie lange sie sich kannten. Und wie gut.

Sie waren offensichtlich verliebt. Zusammen glücklich. Und sie hatten ein gemeinsames Problem. Eines, das sehr viel schwerer wog, als diese Entscheidung. Dennoch wollte sich ein Kloß in Paiges Hals bilden, um sie am Antworten zu hindern. Sie sollte ehrlich zu ihm sein.

Erstaunen spiegelte sich in Ryons goldenen Augen, als er hörte, was sie zu sagen hatte.

„Ich weiß nicht, wie gut du diese Frau kennst. Ihren eigenen Worten nach etwas besser als nur flüchtig... Aber das tut nichts zur Sache.“

Entschuldigung lag in ihrem Blick, als sie offen Tennessey ansah, der noch immer neben seiner Patientin saß.

„Es ist nicht so, dass ich nicht gern glauben möchte, dass sie nur ein Opfer ist. Eine Verbündete mehr oder einfach nur eine Informantin, die auf unserer Seite ist, wäre wünschenswert.

Trotzdem bin ich dagegen sie im Haus unter zu bringen. Bewachung hin oder her. Für Ai und Mia wäre es zu gefährlich.“

Paige stand von Ryons Schoß auf und versuchte nicht verunsichert auszusehen. Sie spürte, dass die beiden Männer sich ihre Ausführungen zu Ende anhören würden. Aber sie waren beide anderer Meinung.

„Es gibt eine andere Möglichkeit. Sally hat angeboten den Schutz um das Grundstück zu erneuern. Sie würde ihre Magie bestimmt auch über diese Hütte hier legen.“

Mit angespannten Schultern wartete Paige auf die Reaktion. An sich war sie überstimmt. Aber wenn es sein musste, würde sie Ai und Mia eben zu einer der Hexen bringen, um sie dort in Sicherheit zu wissen. Und sie würde mit ihnen gehen, um sie zu beschützen.
 

Ryon verstand Paiges Einwand nur zu gut. Was die kleine und große Lady anging, kannte auch er keinen Spaß, wenn es um deren Sicherheit ging. Aber er war nun einmal auch niemand, der einem dem anderen vorzog. Für ihn war Tennessey ebenso wertvoll und wichtig und auch wenn er gerne glauben wollte, dass hinter dem freundlichen Gesicht, auch jemand steckte, der sich durchaus zu verteidigen wusste, es genügte ihm nicht. Denn trotz seiner Fähigkeiten war und blieb Tennessey ein Mensch und würde somit in gewisser Weise immer einem Gestaltwandler unterlegen sein, wenn es auf ein urwüchsiges Kräftemessen ankäme.

Müde rieb Ryon sich über die Augen und versuchte den dumpfen Schmerz in seiner Seite zu ignorieren. Was ihn nur wieder daran erinnerte, dass Größe und Kraft alleine nicht den Sieg ausmachte. Schließlich hatte Delila ihn ganz einfach überwältigen können. Vielleicht sollte er seine Meinung doch noch einmal überdenken.

"Ich bin nicht damit einverstanden, dich hier alleine mit ihr zu lassen. Sie ist trotz allem zur Hälfte auch ein Tier und könnte dir schaden."

Tennessey wollte gerade protestieren, doch Ryon ließ ihn mit einer Handbewegung verstummen.

"Nein, hör mir zu. Wenn wir es wirklich so machen, wie Paige gesagt hat, dann will ich, dass diese Frau permanent gefesselt ist, bis klar ist, auf welcher Seite sie steht. Mir ist egal, wie viele Drogen du ihr zur Beruhigung verabreichen musst, solange du keine Sekunde lang gefährdet bist. Hast du das verstanden?"

Sein Freund wollte erneut protestieren, doch Ryon ließ es gar nicht erst so weit kommen.

"Entweder das, oder du wirst mit meiner ständigen Anwesenheit rechnen müssen."

Was das anging, war Ryon zwar ganz und gar nicht begeistert davon, aber sein entschlossener Gesichtsausdruck machte nur zu deutlich, dass er es tun würde. Auch mit seiner Verletzung.

Was blieb dem Doc anderes übrig, als schließlich nachzugeben. Er war zwar nicht erfreut darüber, aber schließlich nickte er.

"Okay. Wenn du mir versprichst, dich so bald wie möglich hin zu legen. Sonst kannst du dich das nächste Mal selbst zusammen nähen."

Beide Männer starrten sich finster an, bis ihre Mienen wieder weicher wurden. Das war ihre Art zu sagen, dass sie sich gegenseitig umeinander Sorgen machten.

"Einverstanden."

Vorsichtig kramte Ryon sein Handy aus seiner Tasche, um Tyler schon einmal ein paar Vorbereitungen treffen zu lassen, damit Tennessey hier für ein paar Tage versorgt war, ohne ständig weg zu müssen.

Als er das erledigt hatte, legte er auf und sah Paige an.

"Ich weiß es ist spät … oder früh. Aber ich will Tennessey hier keine Minute länger, als nötig ohne Sallys Schutz lassen. Es wird Zeit, dass wir ihre Dienste in Anspruch nehmen, nachdem wir ihr vor diesen Typen die Haut gerettet haben." Auch wenn er sich momentan viel lieber einfach nur mit Paige zusammen ins Bett gelegt und einmal ordentlich ausgeschlafen hätte.
 

Paige nickte etwas verkrampft. Das alles gefiel ihr trotz der Einigung ganz und gar nicht. Diese Frau länger als unbedingt nötig in der Nähe der Familie zu wissen, ging ihr absolut gegen den Strich. Von Ryons Nähe ganz zu schweigen. Ein Bild blitzte in ihrem Hirn auf, das ihre Schuppen für eine Sekunde unter ihrer Haut, die Linie ihres Kinns entlang erscheinen ließ.

Mit einem nichts sagenden Blick, den sie mit starker Willenskraft aufrecht erhielt, blickte Paige noch einmal zu Delila hinüber, bevor sie ihr eigenes Handy aus ihrer Tasche holte und nach Sallys Nummer suchte.

Das Gespräch war kurz. Die Hexe war nach dem Vorfall bei ihrem Haus nur zu gern bereit, jede Macht aufzubringen, die sie hatte, um Boudicca endlich das Handwerk zu legen. Die Frauen einigten sich darauf, dass Paige kommen würde, um sie in der nächsten Stunde abzuholen.

Als sie auflegte, sah sie Ryons Augen glitzern.

„Du solltest mit deiner Verletzung nirgendwo hingehen.“ Aber hier bleiben sollte er auch nicht unbedingt. Etwas in Paige brüllte so laut und protestierend dagegen an, dass er in der Nähe dieser ... Fremden blieb, dass Paige kaum ihre eigenen Gedanken verstehen konnte.

„Andererseits weiß ich nicht, ob du hier sicherer bist.“

Sie war sich nicht sicher, ob er die Zweideutigkeit des Satzes verstehen sollte. Eigentlich lag es Paige fern, einen Streit vom Zaun zu brechen, aber ihre Eifersucht hatte sie noch nie derartig unter Kontrolle gehabt.

Mit einem ebenfalls besorgten Blick in die Richtung des Arztes, steckte sie ihr Mobiltelefon wieder ein und machte sich daran zu gehen.

„Passt bitte auf euch auf. Ich werde mich beeilen.“

Damit drückte sie Ryon einen Kuss auf die Schläfe und streichelte seinen Nacken, bevor sie auch schon durch die Tür war und zum Auto stapfte.

„Verdammt. Hör' auf dich wie eine Furie aufzuführen, Paige. Die Frau hat viel durchgemacht.“

Leichter gesagt, als getan.
 

Paige war so schnell draußen, dass er überrascht war. Normalerweise war er nicht so lahm, aber normalerweise hatte er auch kein Loch im Bauch. Daher erwischte er sie erst, als sie schon die Wagentür geöffnet hatte, um einzusteigen.

"Warte kurz, Paige."

Mit so viel Würde, wie er noch aufbringen konnte, humpelte er zu seiner Gefährtin hinüber, zog sie vom Wagen weg und umarmte sie innig.

"Pass bitte auch auf dich auf, ja?" Er schmiegte seine Wange an ihre, ehe er ihr einen zärtlichen Kuss auf die Lippen gab und leise flüsterte. "Ich liebe dich. Komm zu mir zurück, so bald du kannst."

Ein weiterer Kuss, dieses Mal leidenschaftlicher und er ließ sie gegen seinen Willen ziehen. Er konnte nicht immer in ihrer Nähe sein, um gemeinsam mit ihr gegen alle möglichen Gefahren zu kämpfen. Das machte Vertrauen wohl aus, aber momentan nagte er schwer daran. Obwohl er sehr wohl wusste, dass er sich auf ihre Fähigkeiten verlassen konnte. Trotzdem.
 

Zurück bei Tennessey und Delila in der kleinen Hütte, ließ er sich schwer auf den Stuhl sinken. Er brauchte einen Moment, bis er den Blick wieder hob und seinen Freund ernst in die Augen sah.

"Erzähl mir, wie du dir ihre Rehabilitation vorstellst. Zeit genug, haben wir ja." Leider. Er wollte zu seiner Gefährtin!
 

Etwas Bittersüßes erfasste sie, als sie Ryon auf sich zuhumpeln sah. Am liebsten hätte sie sich allein für ihre Eifersucht und ihr dummes Benehmen entschuldigt. Diese Seite an sich selbst hasste sie eigentlich zutiefst. Aber gegen Sorge konnte sie trotzdem kaum etwas machen. Bisher hatte noch jeder Mann in ihrem Leben sie enttäuscht und links liegen lassen. Angefangen bei ihrem Vater.

Und obwohl sie genau wusste, obwohl Paige fühlen konnte, dass Ryon sie nicht einfach fallen lassen würde...

Mit zusammen gepressten Lippen setzte sie sich hinters Steuer und fuhr los in Richtung Stadt, um Sally abzuholen. Nach der Verabschiedung war ihre Sorge wegen Delila zwar kleiner geworden, aber das nagende Gefühl, das Ryons Gesundheitszustand verursachte, blieb. Sie wollte die junge Hexe so schnell wie möglich zu der kleinen Hütte und danach auch gleich zum Haus schaffen. Dann konnte sie Ryon ins Bett stecken und wusste auch alle Anderen in Sicherheit.

Gott, wie sehr sie wünschte, dass diese Sache schon vorbei wäre.

63. Kapitel

Tennessey hatte doch tatsächlich versucht, ihm die Sache mit den Fesseln noch einmal auszureden, aber Ryon ließ sich in diesem Punkt nicht erweichen.

Hätte Delila ihn nicht höchstpersönlich niedergestochen, vielleicht hätte er sich die Sache dann noch einmal überlegen können, aber so kam es einfach nicht in Frage. Er würde seinem Freund nicht dem Risiko aussetzen, ebenfalls verletzt zu werden. Immerhin war dieser kein Gestaltwandler und somit wesentlich verwundbarer.

Irgendwann, nach endlosen Diskussionen sah Tennessey seine Niederlage endlich ein und setzte sich schweigend und vermutlich auch ein bisschen schmollend zu der Wölfin ans Bett, um eine weitere Reise in ihr Gedächtnis zu machen.

Er erklärte nichts, weshalb Ryon nicht genau sagen konnte, was sein Freund eigentlich da tat. So blieb ihm nichts anderes übrig, als sich mühsam hoch zu rappeln, sich seine Seite zu halten und an der offenen Tür auf Paige zu warten, um die er sich jede Sekunde lang Sorgen machte.

Ryon wollte sie wieder bei sich haben. Er fühlte sich immer schlecht, wenn er nicht genau wusste, dass es ihr gut ging. Und jeder Moment ohne sie, war einer zu viel für ihn. Wie sehr er doch hoffte, dass das alles hier endlich vorbei sein möge und sie in Frieden leben konnten.

Dass er sich diesen Zustand noch nicht einmal vorstellen konnte, war traurig, aber seine Hoffnung verlor er dadurch bestimmt nicht. Er durfte sie einfach nicht verlieren.
 

Beim Fahren fiel Paige erst richtig auf, wie spät es war. Die halbe Nacht hatte sie sogar gearbeitet und der Stress fiel auch jetzt sicher nicht von ihr ab, wo sie wieder dorthin steuerte, wo vor gar nicht allzu langer Zeit eine Schlacht stattgefunden hatte. Krampfhaft versuchte sie nicht daran zu denken, was Sally und die anderen Hexen wohl mit den Überresten der beiden Dämonen angestellt hatten.

Als sie in die richtige Straße einbog, wartete Sally bereits hinter der Grundstücksgrenze, wie sie es abgesprochen hatten. Innerhalb der schützenden, magischen Barriere, aber zum schnellen Einsteigen und Weiterfahren bereit. Zu lange wollte Paige auf keinen Fall an einem Ort verweilen. Schon gar nicht hier, wo sie eine Schwachstelle vermutete. Immerhin konnte es Boudicca nicht entgangen sein, dass zwei ihrer Handlanger in Rauch und Asche aufgegangen waren.

Daher ließ sie den Wagen nur sehr langsam, aber immer noch rollen, als sie an Sallys Haus kam und stieß von innen die Beifahrertür auf. Die Hexe begriff sofort und warf sich mitsamt ihrer recht großen Handtasche ins Innere des Wagens. Die Tür riss sie mit einem lauten Knall ins Schloss und sank dann sehr tief in ihren Sitz. Dass die Frau den Kopf einzog, war nur allzu verständlich und Paige gab so viel Gas, wie es zulässig war, um unauffällig zu bleiben.

„Wir brauchen ungefähr eine Dreiviertelstunde, bis wir an der Hütte sind. Dort sammeln wir Ryon ein und fahren dann zu seinem Haus. Wenn Sie möchten, kann ich Sie dann wieder nach Hause bringen. Oder sie frühstücken noch mit uns.“

Jetzt konnte sie ein Gähnen doch nicht mehr ganz unterdrücken und ihr Magen fing bei dem Gedanken an Essen nicht gerade leise an zu knurren. Sally wirkte etwas eingeschüchtert, nickte aber mit dem Kopf.

„Darf ich... Darf ich Sie etwas fragen, Paige?“

Überrascht wandte sie den Kopf und lächelte.

„Aber klar. Schießen Sie los.“

„Es ist vielleicht sehr persönlich.“ Die Hexe sah nervös auf die Tasche in ihrer Hand und schaffte es auch nicht den Kopf zu heben, als sie weitersprach.

„Aber... Was... Ehm... Was genau sind Sie eigentlich?“

Die Frage war wirklich direkt, aber Paige brauchte trotzdem nicht lange zu überlegen, bevor sie antwortete. Und peinlich war ihr das Gesprächsthema auch nicht. Immerhin wollte sie, dass Sally ihr vertraute. Und soweit sie das einschätzen konnte, vertraute keine Mensch etwas, das er nicht kannte.

„Ich bin halb Mensch, halb Feuerdämonin. Aber keine Sorge. Dämonen sind im Allgemeinen nicht das, was Sie aus dem Fernsehen kennen. Zumindest hoffe ich, dass mir keine schiefen, gelben Reißzähne gewachsen sind, seit ich das letzte Mal in den Spiegel gesehen habe.“
 

Sie unterhielten sich die ganze Fahrt über. Es ging um Paiges Natur, Sallys Erlebnisse als Hexe, als Mitglied eines Zirkels und natürlich um die Geschehnisse, denen sie sich gegenüber sahen. Nicht unbedingt die positivste Unterhaltung, aber zumindest verstrich die Zeit im Handumdrehen und Paige wunderte sich fast, wie schnell sie es bis zu dem Waldstück geschafft hatten, in dem die Hütte lag.

Jetzt bemerkte sie auch, dass Sally wieder nervöser wurde und sich immer wieder umblickte.

„Wir sind gleich da. Ryon, sein Freund Tennessey und eine Frau werden dort sein. Erschrecken Sie bitte nicht, aber die Dame steht vielleicht auf der anderen Seite. Daher kann man leider nicht wirklich von Gastfreundschaft sprechen.“

Sally nickte entschlossen und blickte nun geradeaus, bis die kleine Holzhütte in Sicht kam. Paige erkannte Ryon im Türrahmen und schüttelte ansatzweise den Kopf. Mit seiner Verletzung hätte er sich lieber hinlegen sollen.
 

"Sie sind da."

Bei Ryons Begeisterung hätte man eigentlich etwas davon in seiner Stimme hören müssen, aber das hatte er vermeiden können, damit er Tennessey nicht erschreckte und der irgendetwas in Delilas Gehirn verpfuschte.

Umso überraschter war er also, als sein Freund plötzlich hinter ihm stand und an ihm vorbei nach draußen blickte.

"Wegen Delila musst du dir keine Sorgen machen. Ich hab ihre Hände und Füße gefesselt, obwohl sie in einem komaähnlichen Zustand ist und bestimmt nicht daraus aufwachen wird, bevor ich es nicht so will."

Ryon nickte zufrieden, während er dem Auto beim Näherkommen zusah.

"Willst du nachher eigentlich Tyler mit den Sachen rüberschicken, oder soll ich sie mir selber holen. Die Frau wird sicherlich nicht weglaufen und wenn das mit dem Schutz auch nur halb so gut funktioniert, wie bei uns Zuhause, mache ich mir wegen Eindringlinge von Außen auch keine Sorgen."

"Ich will Tyler keinem unnötigen Risiko aussetzen und dich auch nicht. Ich bring dir die Sachen selber rüber."

Tennessey sah zuerst den Verband um Ryons Torso und dann seinen Freund zweifelnd an, ersparte sich aber eine Antwort, denn der Blick des anderen sprach Bände. Momentan war mit dem Kater wirklich nicht gut Kirschen essen. Von Verhandeln konnte da erst Recht keine Rede sein.

"Wenn du meinst." Er zuckte mit den Schultern.

"Bin ja mal gespannt, was Paige dazu sagen wird."

Ryon fuhr herum und wollte gerade zu einer herrischen Antwort ansetzen, als ihm nichts einfiel, was er hätte antworten können. Schließlich wussten sie beide, dass er sich nach Paige richten würde und was sie für das Beste hielt. Er konnte gar nicht anders. Das war der Gefährte in ihm, der sich nur um das Wohl und Glück seiner Gefährtin sorgte.

Um Tennessey nicht doch noch irgendetwas an den Kopf zu werfen, weil er momentan einfach keine Geduld mehr für diese Psychospielchen hatte, kam er den beiden Damen entgegen und ergriff sofort Paiges Hand, nachdem sie ausgestiegen war. Er musste sie einfach berühren. Gerade jetzt war ihm das ein ständiges Bedürfnis.

"Wie lange glauben Sie, wird der Zauber brauchen, bis er wirkt?"

Kein Hallo, kein schön Sie zu sehen, sondern einfach nur gleich auf den Punkt kommen. Seine Geduld war wirklich schon hart an der Grenze des Belastbaren.
 

Sally, die etwas eingeschüchtert von Ryons „Begrüßung“ dastand, als könnte sie gar nichts mehr sagen, suchte Hilfe suchend Paiges Blick.

„Keine Sorge, er ist nur so charmant, wenn man ihn eine Nacht lang nicht schlafen lässt und ihm stattdessen ein Messer in die Magengegend rammt.“

Sie drückte seine Hand, legte ihre andere sanft auf den Verband an seinem Oberkörper und schenkte ihm ein warmes Lächeln, das ihn ein wenig beruhigen sollte. Soweit Paige das beurteilen konnte, schien alles hier ganz gut verlaufen zu sein. Keine Spuren von einem Kampf. Zumindest keinem Körperlichen.

„Können Sie vielleicht trotzdem gleich anfangen? Bitte. Wir würden uns alle sehr viel wohler fühlen.“

Jetzt nickte die Hexe und zerrte ihre große Tasche vom Beifahrersitz ins Freie. Das Gepäck musste ziemlich schwer sein. Was Paige vorhin, als Sally eingestiegen war, gar nicht weiter ins Auge gefallen war. Als die andere Frau die Tasche anhob und ein Stück auf das Haus zutrug, hörte man es sogar leise darin klimpern. Als würden Glasfläschchen aneinander klicken.

Interessiert und fasziniert, weil sie noch nie einer Hexe bei ihrem Handwerk zugesehen hatte, wagte Paige einen Schritt nach vorn. Von ihrer typischen, großen Neugierde getrieben lehnte sie sich ein Stück vor, um über Sallys schmale Schultern in die Tasche sehen zu können. Dabei war sie immer noch ganz automatisch über ihre Hände mit Ryon verbunden, den sie bestimmt nicht vergessen hatte. Aber das, was sie zu Gesicht bekam, war einfach auch verdammt spannend.

Es handelte sich um eine Art Werkzeugkoffer mit verschiedenen Abteilen, in denen sich wirklich Fläschchen, andere Behältnisse aus Glas und auch Ton fanden. Alle fein säuberlich beschriftet. Und darunter in einem Säckchen aus weichem Samt waren noch weitere Dinge verborgen, die Paige sehr interessierten. Am liebsten hätte sie gleich selbst in diesem Wunderkoffer herum gekramt. Nicht zu vergessen eine Art Crashkurs in Sachen Zauberei von Sally bekommen. So, wie die Frau irgendwelche Kräuter und andere getrocknete Dinge in einen Mörser schüttete, kam Paige ihre dämonische Seite schon fast seltsam banal vor. Als könne jeder in Feuer aufgehen, wenn er sich nur genug anstrengte. Aber was Sally dort tat ... war reinste Handwerkskunst.

„Paige?“

Die Hexe zuckte zusammen, als sie die andere Frau so nah neben ihrer Schulter erblickte. Doch nach einem gegenseitigen Lächeln und dem Pink, das Paige in die Wangen schoss, erholte sie sich schnell wieder.

„Würden sie mir sechs möglichst runde Steine suchen? Etwa so groß.“

Mit Daumen und Zeigefinger beider Hände zeigte sie die Größe an und Paige war sofort mit Feuereifer dabei nach den Steinen Ausschau zu halten. Die ersten verwarf sie, weil sie nicht perfekt genug aussahen, fand dann nach einer Weile aber doch sechs annehmbare Brocken und brachte sie Sally, die mit der Pampe, die sie in dem Mörser fabriziert hatte, verschiedene Zeichen darauf malte.

„Es...“ Sofort wirkte sie wieder absolut klein und schüchtern, als sie sich an Ryon wandte, um ihm zu erklären, was sie vorhatte: „Es ist nicht der gleiche Zauber, den Marlene angewandt hat. Aber für diese kleine Hütte ist er sehr viel wirkungsvoller und schneller. Sobald die Steine in einem Sechseck in der Erde vergraben sind, wird niemand sich an diesen Ort heran trauen oder ihn finden, außer ihr Freund, der darin ist, möchte es so.“
 

Ryon blieb bei Paige, selbst als sie sich sehr für die Hexenkunst zu interessieren schien und für seinen Geschmack viel zu dicht, bei Sally war, um ihr zuzusehen. Er selbst starrte die ganze Zeit den Waldrand an, als ob er dort irgendeine Gefahr vermutete, doch dort war nichts. Das was ihn wirklich beunruhigte, war das, was direkt vor seiner Nase passierte.

Natürlich glaubte er an Zauberei, an die Hexenkunst und an das Handwerk, aber erneut dabei zu sein, erinnerte ihn unweigerlich an Marlene. Er hatte ihr gerne bei ihrer Arbeit zugeschaut.

Fast schon erleichtert, entließ er Paige zum Steine suchen, während er sich ans Auto lehnte und keine Sekunde lang, die Augen von ihr nahm. Seine Hand lag auf seiner Verletzung, die langsam wieder zu schmerzen begann, da vermutlich das Schmerzmittel nachließ. Gott, er freute sich schon aufs Bett.

„Wenn ich unseren Gast richtig verstanden habe, heißt das, ich könnte auch dich von hier fern halten?“

Mit einem unangebrachten Schmunzeln, lehnte sich Tennessey neben ihn an den Wagen und sah der Hexe dabei zu, wie sie Zeichen auf die Steine malte, die Paige gefunden hatte.

„Nur in deinen Träumen, mein Freund.“

Tennessey lächelte immer noch, ehe er sich kurz bei Sally vorstellte, um seinen Manieren alle Ehre zu machen. Währenddessen nahm Ryon Paige ein Stück zur Seite.

„Wenn Sally hier fertig ist, bringen wir sie zum Haus. Danach hatte ich noch vor die Sachen für Tennessey vorbei zu bringen. Willst du mit kommen?“

Eigentlich wollte er sie nicht unbedingt dabei haben, weil es erneut ein weiteres Risiko für sie wäre, andererseits wollte er auch nicht ohne sie sein.
 

Immer noch von dem, was die Hexe dort tat, fasziniert, ließ Paige sich trotzdem von Ryon ein Stück zur Seite bugsieren. Er sah ihrer Meinung nach wieder blasser um die Nase aus, was ihr gar nicht gefiel. Die lange Nacht ging ihm bestimmt genauso nach wie ihr. Von seiner Verletzung ganz zu schweigen. Plötzlich flammte Ärger über sich selbst in Paige auf. Sehr viel größer, als alle Neugierde und Eifersucht zusammen. Wie konnte sie sich nur immer wieder von seiner Fassade täuschen lassen?! Man hatte ihn fast erstochen, um Gottes Willen!

Es war auch eine entschuldigende Geste, dass sie sich nicht entsprechend um ihn gekümmert hatte, als sie sich an ihn drückte und ihre Hände kurz über seine Seiten streicheln ließ. Auch wenn es normalerweise nicht ihre Art war, ihre Beziehung in der Öffentlichkeit stark auszuleben, drückte sie Ryon einen langen und sehr zärtlichen Kuss auf die Lippen, bevor sie auf seine Frage antwortete.

„Ich werde dich auf jeden Fall begleiten. Aber ehrlich gesagt wäre es mir lieber, wenn ich dich im Bett wüsste, um dich auszuruhen. Könntest du es über dich bringen, mich mit Tyler herfahren zu lassen?“

Schon an der Falte zwischen seinen Augenbrauen erkannte sie das heraufziehende Donnerwetter. Und auch wenn Ryon es niemals direkt ausleben würde, wollte sie es doch gleich im Keim ersticken.

„Bitte. Stell' dir doch nur vor du wärst an meiner Stelle.“
 

Ryon zog sie noch ein Stück weiter zur Seite. Das hier ging die anderen nun wirklich nichts an.

Nachdenklich zupfte er an einem von Paiges zerknitterte Flügel herum und strich ihr dann vorsichtig über den überschminkten Bluterguss.

„Glaub mir. Ich weiß, was du denkst und mir sagen willst. Aber wenigstens heute will ich dich nicht mehr ohne meine Begleitung irgendwo hin fahren lassen. Ich…“

Er suchte nach den richtigen Worten, bis er ihr tief in die Augen blickte.

„Ob ich nun im Bett liege oder mit dir die Sachen hier her bringe. So oder so…ich brauche dich. Lass uns das noch gemeinsam erledigen und dann schließen wir diese Nacht ab. Sally wird bestimmt nichts dagegen haben, wenn sie ein bisschen länger bei uns bleibt, bis wir sie wieder sicher nach Hause bringen können. Tyler würde bestimmt auch lieber bei Ai bleiben. Ich will gerade ihr in ihrem Zustand nicht noch mehr Sorge aufladen. Aber wenn wir zwei fahren, ist das vielleicht nicht sicherer, aber Hauptsache wir haben uns.“

Ryon zog trotz der seitlichen Schmerzen Paige enger an sich und schmiegte sein Gesicht in ihrem Haar, während er ihr ganz dicht ans Ohr flüsterte: „Ich könnte mir keine bessere Rückendeckung vorstellen.“

Sanft lächelte er sie an. Seine Gefährtin war die einzige, auf die er wirklich zählte und der er sein Leben anvertraute. Selbst seine Freunde konnten das nicht von sich behaupten. Nur sie.
 

„Schmeichler...“

Mit einem kleinen Seufzen zog sie sich schließlich von ihm zurück und sah zu Sally hinüber, die den letzten der sechs Steine gerade in die Erde bettete, noch etwas murmelte, bevor sie ihn wieder bedeckte und dann aufstand. Wie eine Architektin schien sie sich eine Minute lang ihr Werk anzusehen, auch wenn Paige nichts Anderes erkennen konnte, als zuvor.

„Ist es... Ist es fertig?“, fragte sie etwas banal und sogar skeptisch, als die Hexe wieder zurück zu ihrer Tasche kam und sie ordentlich wieder schloss.

Mit einem zufriedenen Nicken lächelte Sally zu Paige und Ryon hinüber und kam sogar ein Stück auf die beiden zu. Ihr vollbrachtes Werk schien sie auch dem finster drein blickenden Wandler gegenüber sicherer zu machen. Was Paige nur als großen Pluspunkt werten konnte. Immerhin sollte sich die Hexe einigermaßen wohl fühlen, wenn sie eine Zeit lang im gleichen Haus mit ihnen allen verbringen musste.

Nun ja, nicht mit ihnen allen...

Paige trat nun ganz von Ryon weg und ging zu Tennessey hinüber, der im Türrahmen der kleinen Hütte stand und schon wieder rauchte. An den Anblick wollte Paige sich nicht wirklich gewöhnen. Aber sagen würde sie trotzdem nichts dazu. Es ging sie schlichtweg nichts an. Und in gewisser Weise konnte sie ihn sogar verstehen.

„Tennessey, es tut mir leid. Wenn Mia und Ai nicht wären...“

Was sollte sie sagen? Dann würde sie ihn hier draußen mit einer offensichtlich sehr gefährlichen Gestaltwandlerin nicht allein lassen? Was für eine müde Aussage.

„Mach dir keine Sorgen. Unkraut vergeht nicht.“

Selbst ein Lächeln brachte sie nicht zustande, sondern blickte in die Hütte, wo Delila immer noch scheinbar schlafend auf der Liege ruhte. Paige wusste einfach nicht, was sie von ihr halten sollte. Einerseits war ihr Mitleid groß, andererseits hatte sie Ryon verletzt. Was sie sonst noch mit ihm hatte tun wollen, versuchte Paige der Wölfin wegen außer Acht zu lassen und wandte sich lieber noch einmal dem Arzt zu, um freundschaftlich seinen Arm zu drücken.

„Gib' auf dich Acht, ja? Wir kommen nachher noch vorbei und bringen dir ein paar Sachen.“
 

"Ich kann schon auf mich aufpassen. Aber behalt' unseren Kater im Auge. Auf dich hört er wenigstens. Er soll bis spätestens Morgen Abend im Bett bleiben, bis zumindest oberflächlich alles genug Zeit zum Heilen hatte, damit nichts mehr aufbricht. Und Paige-"

Tennessey zog noch einmal tief an seiner Zigarette, während er Ryon betrachtete, der Sally zumindest inzwischen höflich beim Einsteigen ins Auto half.

"-keine körperlichen Anstrengungen für mindestens zwei Tage lang. Ich kenne ihn gut genug um zu wissen, dass ich bei dir mit diesem Rat besser aufgehoben bin."

Er schenkte ihr noch ein Lächeln, das Bände sprach, ehe er die Zigarette mit dem Fuß ausdämpfte und in die kleine Hütte zurückkehrte.
 

Als Ryon endlich halbwegs sauber - mehr als eine Katzenwäsche war es nicht - in die weichen Kissen und unter die Decke glitt, glaubte er, sich nie wieder daraus zu erheben. Allein der Gedanke daran, schien ihm viel zu anstrengend zu sein und das erst Recht, nachdem sich nach und nach seine Muskeln zu entspannen begannen. Er war fix und alle und zugleich hatte er es inzwischen so satt, ständig gejagt, verfolgt, verletzt und verraten zu werden. Wäre da nicht Paige, Mia und die anderen, er wäre einfach zu Boudicca spaziert und hätte ihr einen Kampf auf Leben und Tod angeboten. Dann hätten sie diese hinterlistigen Szenen wenigstens hinter sich und er hätte entweder seinen Frieden oder wäre erlöst. Aber das hier war die reinste Folter und zugleich wollte er doch nicht tauschen. Boudicca hatte ihm Paige beschert. Alleine dafür hätte er ihr dankbar sein müssen.

Sofort nachdem auch seine Gefährtin zu ihm unter die Decke gerutscht war, streckte er seine Arme nach ihr aus und zog sie nah an sich heran. Ryon sog tief den Duft ihrer Haut ein, genoss ihre kühle Wärme an seinem Körper und das Gefühl, sie uneingeschränkt bei sich zu haben. Obwohl es vollkommen seltsam war, so war er doch jeden Augenblick lang, den er mit ihr verbringen konnte, tief in sich drin glücklich. Egal was die äußeren Umstände ihm sonst noch so alles an Gefühlen entlocken wollten.
 

Beim Zähne putzen ließ Paige eine gedanklichen Checkliste herunter rattern. Mia, Ai und Tyler ging es gut. Tennessey war auch soweit in Sicherheit. Sally schlief in einem anderen Gästezimmer und Ryon... Ryon lag nebenan im Bett. Er hatte wirklich nicht gut ausgesehen, als sie ihn aus der Dusche bei seiner kurzen Wäsche beobachtet hatte. Entweder täuschte sie sich oder die Schmerzen wurden immer schlimmer, statt besser. Ihr wäre es lieber gewesen, wenn der Doktor ihnen noch etwas dafür mitgegeben hätte. Aber anscheinend hatte Ryon in letzter Zeit zu viel von dem Zeug nehmen müssen. Gut konnte das auch nicht sein. Allerdings... Ihn mit einer Stichwunde einfach so ins Bett zu stecken.

Erst als sie eine geschlagene Minute auf die Tür gestarrt hatte, die das Bad vom Schlafzimmer trennte, fiel ihr auf, dass sie sich nicht mehr die Zähne putzte. Als sie das wieder aufnahm, überlegte sie weiter. Ob sie sich zu viele Sorgen um ihn machen konnte? Oder zu wenig? Sie wusste nicht, was Ryon alles aushalten konnte und was nur Show war. Immerhin konnte er ein ganz schön harter Knochen sein, wenn er wollte.

Als sie sich noch kurz die Haare föhnte, fielen ihr schon immer wieder die Augen zu und der anschließende Weg ins Nebenzimmer schien ungewöhnlich lang zu sein. Der Gedanke, dass sie in diesem Zustand glücklicher Weise nicht so auf das Chaos im Raum achten konnte, streifte sie nur sehr kurz.

Vollkommen erledigt und dankbar für ein weiches Bett, glitt sie zu Ryon unter die Decke und legte sich vorsichtig in seine Arme. Sanft streichelten ihre Finger sein Kinn und seine Wange, bevor sie ihm einen Kuss gab. Selbst die Tatsache, ihm so nahe zu sein, ihn zu spüren, ließ ihre Sorge um ihn kaum kleiner werden. Sie würde sicherstellen, dass er so lange im Bett blieb und sich erholte, wie Tennessey geraten hatte. Und wenn sie ihn hier festbinden musste.

„Schlaf gut, mein Lieber.“

Am besten diesen ganzen Tag und die folgende Nacht hindurch, fügte sie in Gedanken hinzu und küsste Ryon noch einmal, bevor sie sich gemütlich an ihn kuschelte und selbst die vor Müdigkeit brennenden Augen schloss.
 

"Okay, also wenn sich etwas bei ihrem Zustand tut oder du etwas brauchst, melde dich. Bis dahin halten wir hier die Stellung."

Ryon steckte sich noch eine gefüllte Teigtasche in den Mund, während er Tennesseys Stimme am anderen Ende der Leitung zuhörte.

"Ja, vielleicht. Also, bis dann."

Er legte auf, bevor sein Freund den Gruß erwidern konnte. Ryon hätte beinahe geschnaubt. Er würde doch nicht noch unnötig länger hier im Bett sitzen und Däumchen drehen. Zwar war er noch immer nicht ganz fit, aber er war munter und das reichte bekanntlich schon, um ihn aus dem Bett zu bringen. Lediglich Paige hatte ihn bisher noch davon abhalten können und Essen war an sich keine schlechte Idee gewesen. Aber danach würde er auf alle Fälle aufstehen. Schließlich war er niemand, den man so einfach ans Bett fesseln konnte. Da müsste er schon im Koma liegen.

"Das war Tennessey."

Mit nachdenklicher Miene hielt er Paige eine der gefüllten Teigtaschen hin, um sie zu füttern. Seines Erachtens konnte sie ruhig auch noch etwas mehr ihre Energiereserven auffüllen. Gerade weil er nichts dagegen hatte, mit ihr zusammen im Bett Abend zu essen.

"Er meinte, Delilas Zustand würde sich bessern und dass er schon den Großteil der Blockaden in ihrem Gehirn gelöst hat. Er will nicht zu schnell alles lösen, weil er nicht sicher ist, ob Boudicca nicht doch irgendwo eine Falle eingebaut hat, aber nach allem, was er bisher gesehen hat, denkt er das nicht. Die Frau ist seiner Meinung nach eine blutige Anfängerin, die kaum weiß, was sie tut. Was auch gut so ist. Weil wir kaum eine Chance hätten, wenn sie mit ihrer Macht auch noch richtig umzugehen wüsste."

Er seufzte. Das alles war schon ziemlich hoch für ihn. Er war ein Kind der Natur und Wildheit. Alles was mit dem Inhalt von Köpfen zu tun hatte, war etwas, das er sich kaum vorstellen konnte. Aber dass es möglich war, hatte er ja gesehen. Darum gab es in diesem Punkt auch keine Zweifel.

"Vielleicht ist es gar nicht so schlecht, wenn wir noch etwas mehr Zeit dadurch gewinnen. Es würde mich sehr interessieren, was Delila hinter den feindlichen Reihen gesehen hat und nun, da der Schutz von Sally uns zusätzlich unterstützt, läuft uns ja so gesehen nichts davon." Auch wenn das nur ein Ausnahmezustand war und garantiert nicht als Dauerzustand akzeptiert wurde. Trotzdem war es gut, sich besser vorbereiten zu können. Es könnte schließlich alles davon abhängen.
 

Paige saß im Schneidersitz auf dem Laken und versuchte die Gesprächsfetzen einem Zusammenhang in dem Telefongespräch zuzuordnen. Vor ihr stand eine Tasse Kakao auf dem Tablett, das sie Ryon über die Beine gestellt hatte. Diese Dinger mit den ausklappbaren Stützen hatten sie schon immer fasziniert. Selbst hatte sie so eins nie besessen, aber dass Ryons Haushalt eines hatte, war klar gewesen.

In ihrer Tasse schwamm ein einzelner, großer Marshmallow, der sich ein wenig träge im Kreis drehte. Paige kniff ein Auge zusammen und er karamellisierte zu einer goldbraunen Oberfläche, während Ryon das Gespräch etwas rüde beendete. Dass er wegen der Tatsache, dass er das Bett hüten sollte, ziemlich angefressen war, konnte man beinahe riechen. Trotzdem würde sie dafür sorgen, dass er so lange wie irgendwie möglich hier blieb.

Die Teigtasche, die er ihr reichte, gab ihr glücklicher Weise etwas mehr Zeit, über einen Kommentar zu dieser ganzen Sache nachzudenken. Sie kaute lange und ausgiebig darauf herum, bloß weil ihr nichts Rechtes einfallen wollte, was sie hätte sagen können. Dabei wusste sie genau, was sie eigentlich sagen wollte. Welche Fragen sie gern gestellt hätte.

Um sich davon aber selbst abzuhalten, versuchte sie sich an das Thema zu halten, was in diesem Falle sogar unverfänglicher sein konnte.

„Wie ist Boudicca mit ihrer stümperhaften Art nur so weit gekommen? Wenn sie keine Ahnung von dem hat, was sie da tut... Warum kann sie die Leute überhaupt so weit manipulieren, dass sie ihr gehorchen?“
 

Ryon strich sich durch die strubbeligen Haare und zerzauste sie dadurch noch mehr. Doch das bemerkte er noch nicht einmal.

„Ich habe wirklich keine Ahnung. Soweit ich weiß, ist Tennessey in dieser Fähigkeit ausgebildet worden. Er hat vor Jahren einmal etwas Ähnliches durchklingen lassen. Aber was Boudicca angeht, weiß ich es nicht. Vielleicht hat sie jemanden gefunden, der es ihr grob zeigte, vielleicht hat sie aber auch einfach nur solange herum probiert, bis sie den Dreh heraus bekommen hat. Auf jeden Fall hege ich keine Zweifel daran, dass es in ihrem Dunstkreis genug unterbelichtete Opfer für sie gegeben hat, an denen sie sich versuchen kann. Es gibt genug Menschen die einen schwachen Geist haben und ihr wohl kaum Widerstand bieten können.“

Etwas erschöpft legte er seinen Kopf zurück an das ramponierte Kopfteil des Bettes und sah aus dem Fenster. Unbewusst rieb er sich leicht über seine Verletzung, während er nachdachte.

„Wer weiß, vielleicht hat sie was von diesem Duftspender gelernt. Seine Fähigkeiten funktionieren vielleicht etwas anders, aber das Prinzip scheint mir das gleiche zu sein.“

Dass der Typ ihm bloß nie wieder unter die Augen kommen sollte, war mehr als nur klar. Damals war Paige noch nicht seine Gefährtin gewesen und darum hatte es ihn noch nicht so sehr aufgeregt, was der Kerl mit ihr angestellt hatte, aber wenn er jetzt im Nachhinein so darüber nach dachte, könnte er schier an die Decke gehen!
 

„Wenn es so ist, befürchte ich, dass sie ziemlich schnell lernt. Ansonsten stünde wahrscheinlich nicht sie, sondern er am oberen Ende der Nahrungskette in dieser ... Organisation.“

Mit den Fingerspitzen fischte sie den Marshmallow aus ihrer Tasse, steckte ihn sich ganz in den Mund und ließ ihn sich auf der Zunge zergehen, während sie weiter nachdachte. Dabei fiel ihr Blick auf Ryons Sturmfrisur und sie musste schmunzeln. Inzwischen schien er von seinem geschleckt, perfekten Auftreten schon ein wenig abgekommen zu sein. Natürlich ließ er sich nicht gehen, das hätte sie auch nicht gewollt, aber gegen diese korrekte Frisur – wenn es denn eine gewesen war – hatte sie schon immer etwas gehabt.

Während sie sich etwas vorlehnte und ihm ein paar Strähnen zurecht zupfte, fiel ihr nur ein Begriff dazu ein. Ein wenig verschlafen und mit diesem jenseits von perfektem Haarschopf sah er einfach nur ... süß aus.

Als er ihr seinen Blick zuwandte, setzte sie keine entschuldigende Miene auf. Paige war durchaus klar, wie ernst das Thema war und dass sie alles Andere um die Ohren hatten, als ihr Aussehen, aber das änderte nichts.

Versonnen ließ sie ihre Hand zu seiner wandern und zeichnete kleine Kreise auf seinen Handrücken, während sie laut nachdachte.

„Was tun wir weiter, wenn Tennessey Delilas Geschichte kennt? Glaubst du, er wird auch mehr Informationen über Boudiccas Standort herausfinden?“

Danach zu fragen, was passieren würde, wenn Ryons alte Bekannte tatsächlich ein Mitglied der gegnerischen Seite war, wagte Paige zu diesem Zeitpunkt nicht.
 

Manche sind geborene Anführer, manche geborene Untertanen und irgendetwas muss sie an sich haben, dass so viele sie fürchten. Ansonsten würde ich dir zustimmen, was den Duftspender angeht. Allerdings hat er nicht so große Macht wie sie, wenn er nur ein Geschlecht kontrollieren kann und Boudicca offensichtlich nicht dazu gehört.“ Wer weiß, vielleicht war sie am Ende gar keine Frau und seine Schwester hatte er bereits entschärft. So schlecht standen ihre Chancen also gar nicht.

Ryon ergriff Paiges Hand und führte sie zu seinen Lippen, um einen zärtlichen Kuss in die Handinnenfläche zu hauchen.

„Wir werden sehen, was Tennessey heraus kriegt und bis dahin…“ Er zuckte mit den Schultern und sah Paige auf eine Weise an, die die ganze Welt ausschloss und sie als Einzige zu seinem Universum zu machen schien.

„Du weißt, dass ich dich liebe, Paige.“ Seine Stimme war sanft, schon fast einschmeichelnd.

„Aber wenn ich noch länger im Bett bleiben muss, könnte ich ganz schön ungemütlich werden.“

Er ließ ein nicht ernst gemeintes leises Knurren hören.
 

„Vielleicht ist sie erschreckend schön.“ Wie sie genau darauf kam, wusste Paige nicht. Sie hatte sich bis jetzt ehrlich noch nie darum gekümmert, wie Boudicca als Person aussehen könnte. Sie ging lediglich davon aus, dass sie eine gewisse Grundausstrahlung haben musste. Ganz ohne hätte sie trotz ihrer Fähigkeiten wohl nicht so viele Anhänger finden können.

Genau aus diesem Grund hätte der Duftspender, wie Ryon ihn so nett nannte, keinen Zirkel aufstellen können, wie Boudicca es getan hatte. ER besaß kein Charisma, sondern nur seine eigentümliche Macht Menschen durch Gerüche zu manipulieren. Etwas, das er vielleicht nicht 24 Stunden am Tag aufrecht erhalten konnte...

Ryon holte sie sanft aus ihren Gedanken, indem er sie mit einem Blick ansah, der ihr einen warmen Schauer über den Rücken jagte. Dieser verflüchtigte sich auch bei seinen Worten nicht, obwohl Paige darüber schmunzeln musste. Immerhin über 18 Stunden hatte er es im Bett ausgehalten. Er war brav gewesen, hatte sich für seine Verhältnisse lange erholt und auch wenn ein bisschen länger nicht geschadet hätte, konnte sie ihm das bei dieser nett vorgebrachten Bitte kaum antun.

Daher entzog sie ihm ihre Hand, stellte das Tablett zur Seite und schwang sich auf seinen Schoß, sodass sie ihn ansehen und sein Gesicht in ihre Hände nehmen konnte. Ihre Nasenspitzen rieben kurz aneinander, bevor sie ihn küsste. Sanft und forschend, mit einer Geduld und Zeit, die sie sich schon lange nicht mehr gegönnt hatte.

„Ich liebe dich auch.“ Sie hauchte es gegen seine Lippen und schloss die Augen, als sie ihn noch einmal genussvoll küsste. Danach sah sie ihn leicht tadelnd an.

„Aber das mit dem ungemütlich werden lässt du schön sein. Ich habe Tennessey versprochen, dass du dich zwei Tage lang körperlich nicht anstrengen wirst.“
 

„Ja, schrecklisch schön. Mit Betonung auf schrecklich.“

Als Paige sich auf seinen Schoß schwang und ihn mit so viel Liebe und Aufmerksamkeit küsste, wie sie es schon seit einer Weile nicht mehr hatten tun können, war Boudicca mit einem Schlag vergessen. Keine Frau könnte jetzt in seinen Gedanken sein, während seine Gefährtin bei ihm war.

Seine Hände strichen ihren Rücken entlang nach oben, um sie näher an sich heran zu ziehen.

„Ich kann auch gemütlich werden und mich nicht anstrengen, wenn du das willst…“ Er küsste hauchzart ihre Lippen und rieb seine Wange ganz in Schmusekatermanier an ihrer, während er tief ein und aus atmete. Gott, wie er diesen Duft liebte!

„…aber nur unter ein paar Bedingungen.“

Ryon zog sie weiter seinen Schoß hinauf. Küsste ausgiebig und mit aller Geduld der Welt ihren Hals, um ihr währenddessen leise zuzuflüstern: „1. Du teilst mit mir die auferlegte Folter und bleibst bei mir im Bett.“

Liebevoll biss er sie neckisch und leckte dann genüsslich über die Stelle.

„2. Du überdenkst die umfassende Bedeutung des Begriffs ‚Anstrengung‘ und 3. …“

Seine Hände umfassten ihr Gesicht, ehe er sie hingebungsvoll und voller Feuer küsste, bis ihm fast schwindlig wurde.

„… 3. wir beide müssen eben erfinderisch sein, um uns etwas die Zeit bis zu meiner Entlassung zu vertreiben.“
 

Gemütlich und nicht anstrengen hörte sich hervorragend an. Noch dazu, wenn er es so schön mit Küssen und Streicheleinheiten untermalte. Punkt eins der Bedingungen stimmte sie ohne Vorbehalte sofort zu, kraulte dabei Ryons Nacken, während sie seine Lippen auf ihren Hals unendlich genoss.

Wie lange war es denn schon her, dass sie sich Zeit für einander genommen hatten? In der realen Welt noch nicht sehr lange. Doch die Umstände schienen den Zeitraum ins Unendliche zu dehnen.

Wäre Paiges Blick nicht auf das Kopfteil des Bettes gefallen, auf die Stellen an denen tiefe Kerben das Holz schmückten und ganze Stücke darin fehlten, sie hätte sofort ja gesagt.

So mischte sich allerdings Sorge in ihren vor Liebe sprühenden Blick, als Ryon sich nach einem hingebungsvollen Kuss von ihr löste.

Ihre Hand streichelte über den dicken Verband und die Stelle, wo sich darunter noch immer die Stichwunde verbarg. Vielleicht war sie äußerlich sogar schon zugeheilt... Aber es war so knapp gewesen. Tennessey hatte gesagt, nur ein paar Zentimeter links oder rechts und Ryon hätte...

Als sich ihre Arme fest um ihn schlangen und Paige ihr Gesicht an Ryons Hals vergrub, war ihr klar, dass er sehr gut auf sich selbst aufpassen konnte. Er war stark und konnte sehr gut einschätzen, was zu viel für ihn wäre. Und dennoch... Sie wollte ihn keinesfalls auch nur im Geringsten gefährden. Mein Gott, es war so knapp gewesen. Er hätte tot sein können, während sie im Raum nebenan nicht einmal etwas davon geahnt hatte!

Mehrere tiefe Atemzüge lang blieb sie so an ihn geklammert. Erst als sie sich ruhiger fühlte, seine Wärme auf ihrem Körper und das Streicheln seiner Hände wieder richtig spüren konnte, hauchte sie einen Kuss auf seinen Hals.

„Für nichts in der Welt würde ich dich allein hier im Bett lassen.“, murmelte sie leise gegen seine Haut und küsste sich hinauf zu seinem Ohrläppchen.

„Aber weil der Doc mich damit beauftragt hat, dafür zu sorgen, dass du dich nicht überanstrengst...“

Sie sah ihm in die goldenen Augen, die ihr einmal wieder den Atem nehmen wollten. Doch sie musste sich selbst zur Ordnung rufen. Es war einfach zu riskant. Und außerdem hatten sie alle Zeit der Welt...

„... werd ich dir nur versprechen können, dass ich mir was Kreatives einfallen lasse, wenn du wieder ganz gesund bist.“
 

Er konnte sie spüren – Paiges Sorge um ihn und dass es ihr nicht leicht fiel, standhaft zu bleiben. Ryon selbst hätte diese Kraft kaum aufgebracht, allerdings, wen Paige verletzt wäre… Nein. Daran wollte er gar nicht denken.

„Du solltest nicht zu sehr auf diesen alten Mann hören.“, murrte Ryon leise, aber nicht böse, während er eine von Paiges Haarsträhnen immer wieder um seinen Finger wickelte, bis sie sich lockte.

„Aber das muss dann schon wirklich etwas sehr Kreatives sein. War da nicht etwas, dass auch mit Essen zu tun hatte?“

Aufheiternd lächelte er Paige an, ehe er sich erneut einen leidenschaftlichen Kuss von ihren Lippen stahl, bevor sie dagegen Einspruch erheben konnte. Am liebsten hätte er sie nie wieder los gelassen. Um nichts auf der Welt.

Zum Glück war ihre fruchtbare Zeit momentan vorüber, sonst wäre es wirklich gefährlich geworden, denn auch so war sein Hunger schon groß nach ihr. Groß genug zumindest, um viel zu verlockend zu sein, um anständig zu bleiben.

Da kannte er sich selbst viel zu gut.

„Was hältst du davon, wenn wir Mia als Anstandsdame zu uns holen und uns eine weitere Portion Cartoons gönnen? Glaubst du, das wäre unanstrengend genug?“
 

„Mhmmm...“ Ja, ihr kam ein Gedanke, der durchaus mit Essen und etwas sehr Unanständigem zu tun hatte. Aber das wollte sie Ryon jetzt noch nicht auf die Nase binden. Vorfreude war zwar die schönste Freude, aber quälen wollte sie ihn ja auch nicht.

Dafür ließ sie sich gern in den langen Kuss ziehen und machte es sich auf seinem Schoß ein bisschen gemütlicher, bis er ihr einen sehr vernünftigen Vorschlag unterbreitete.

„Das ist eine sehr gute Idee. Ich hab ihr vorhin, als ich unser Abendessen geholt habe, sowieso versprochen, dass sie dich heute noch besuchen darf.“

Er bekam noch einen kleinen Kuss auf die Nasenspitze, bevor sie ihm zuzwinkerte und aufstand.

„Sie hat dich schon viel zu lange nicht mehr gesehen.“

Paige schnappte sich mit neuer Begeisterung das Tablett und verschwand aus dem Zimmer, um Mia und ein paar Sachen einzusammeln. Zuerst setzte sie ihr Engelchen mit einem dicken Märchenbuch bei Ryon ab, um die beiden zu vertrösten, während sie noch etwas zu Trinken aus der Küche besorgte.

Dort traf sie auf Ai und Sally und sofort trat ihr eine peinliche Röte in die Wangen. Nicht nur stand sie im Schlafanzug hier, sondern hatte die Hexe auch schon fast vergessen. Eigentlich hatte sie versprochen, sie nach dem Abendessen nach Hause zu bringen.

Wie froh sie war, als Ai ihr aus der Patsche half, konnte sie gar nicht ausdrücken.

„Kann Ryon immer noch nicht aufstehen?“, wollte ihre beste Freundin besorgt wissen.

„Er könnte.“, antwortete Paige wahrheitsgemäß, fügte dann aber hinzu: „Aber er sollte nicht. Die Stichverletzung war selbst für seine Verhältnisse sehr ernst. Und ich bin froh, dass ich ihn nicht an die Matratze ketten muss, sondern nur Mia brauche, um ihn dort festzuhalten.“

Sie wandte sich an die Hexe, um sie einzuladen noch eine Nacht hier zu verbringen. Wahrscheinlich war es eher eine Bitte, aber Sally lehnte nicht ab. Anscheinend gefiel ihr der Gedanke hier zu bleiben, wo sie sicher und von Boudiccas Schergen sehr weit entfernt war.
 

Ein paar Minuten später war Paige zurück im Schlafzimmer und hörte noch beim Ende vom Froschkönig zu. Sie setzte sich zu Mia und Ryon aufs Bett und wurde von dem kleinen Mädchen sofort in die Geschichte mit einbezogen, indem sie die Erzählung unterbrach und mit einer Hand auf die Zeichnung der Prinzessin deutete, die sich über den Frosch ärgerte.

„Frosch pfui Sessin.“

Paige lächelte und nickte.

„Ich fände es auch nicht besonders schön, mit einem Frosch im Bett liegen zu müssen. Der ist bestimmt kalt...“

Mia kicherte, als Paige sie im Nacken unter den blonden Löckchen kitzelte und es dann Ryon überließ, den Schluss der Geschichte vorzulesen.
 

„Na, dann bin ich ja erleichtert. Ich dachte schon, ich müsste das Bett wegen einem Lurch räumen.“

Ryon lächelte breit, während er Mia am Bauch kitzelte und dann weiter an seine Brust heran zog, damit auch für Paige Platz war. Immer würde er zwar nicht für beide groß genug sein, aber bis dahin würden hoffentlich noch einige Jahre vergehen. Sehr viele Jahre. Denn dafür genoss er das alles hier zu sehr. Mia war sein Sonnenschein. Das hätte er niemals für möglich gehalten.

Mit einer gewissen väterlichen Euphorie erzählte Ryon das Märchen mit dem Froschkönig zu Ende, bis er das große Märchenbuch zuklappte und Mia auffordernd ansah.

„Morgen liest du mir aber der König der Löwen vor, ja?“

Die Kleine sah ihn zuerst etwas stutzig an, lächelte dann aber mit so viel Charme, wie es für eine so junge Lady verboten gehören sollte und schüttelte den Kopf. Offensichtlich wollte sie das Amt des Märchenerzählers nicht von ihm oder Paige nehmen. Nun ja. Später vielleicht.

„Okay. Dann muss eben der Roadrunner herhalten.“

Ryon sah Paige mit einem selbstzufriedenen Lächeln an, weil er ja nicht aufstehen durfte, um die DVD einzulegen, wenn es nach ihr ging.

„Wärst du so nett … Flame?“

Er schnurrte das letzte Wort mit so viel Gefühl, dass Honey, Schatz oder Darling niemals hätten heran reichen können. Und zugleich war es für ihn ein Andenken an eine Zeit, als er noch nicht einmal den Namen dieser wunderbaren Frau gekannt hatte.
 

Wenn sie nicht wüsste, dass er es ihr nicht heimzahlen wollte, hätte sie ihm für dieses Lächeln ins Ohr gebissen. Mal davon abgesehen, dass ihm das wahrscheinlich eher gefallen als ihn bestraft hätte...

Flame?

Paige konnte sich nicht erinnern, diesen Namen schon einmal direkt von Ryon gehört zu haben. Oder doch? Es gefiel ihr jedenfalls, denn hinter dem Wort schien so viel mitzuschwingen, wie sie es von einem Kosenamen kaum erwartet hätte.

„Aber klar doch.“

Sie legte die DVD ein, suchte den Videokanal und kuschelte sich dann mit der Fernbedienung in der Hand zu Mia und Ryon ins Bett.

„Die Folge mit der Rakete haben wir schon gesehen...“

„Eis!“, stimmte Mia zu und Paige war sehr positiv überrascht, dass sich das Mädchen daran erinnerte. Es war immerhin schon eine ganze Zeit lang her, seit sie zu zweit auf dem Sofa im Wohnzimmer gesessen und Eis löffelnd Cartoons gesehen hatten.

„Zu dritt macht das viel mehr Spaß, findest du nicht?“

Mia nickte begeistert und setzte dann eine so ernsthafte Miene auf, dass Paige die Fernbedienung wieder sinken ließ. Als das kleine Mädchen fröhlich losplapperte, war sie einigermaßen überrascht.

„Mia Katse lieb. Fe lieb.“

Zwar lächelte Mia, schien aber noch nicht fertig zu sein. Sie überlegte so angestrengt, dass Paige ihr liebend gern geholfen hätte.

„Du hast uns beide lieb, Mia?“

Sie nickte wieder und diesmal so stark, dass ihre Löckchen flogen.

„Wir dich auch. Sehr, sogar.“

Mit warmen, sanften Fingern strich sie Mia über den Kopf und wollte gerade Ryon ansehen, als dem Mädchen wohl endlich einfiel, was es die ganze Zeit über hatte sagen wollen. Das Wort platzte so freudig und ehrlich aus ihr heraus, wie es schöner nicht hätte sein können.

„Familie!“
 

„Ja, Mia. Wir sind eine Familie.“

Ryon lächelte das kleine Mädchen an, doch es lag nicht nur Freude und Liebe darin. Sein Herz tat ihm weh, wegen so vielen Dingen. Flüchtig schenkte er Paige einen Blick, der zu viel beinhaltete, als das man es in einem Satz hätte packen können, doch dann wechselte er das Thema und ließ nicht mehr länger hinter seine Fassade blicken.

„Also, Mia. Kannst du mir die Folge mit der Rakete erklären? Ich war da ja offensichtlich anderweitig beschäftigt.“ Er wusste nicht genau womit, aber er konnte es ahnen und es war gut so wie es war. Das sollte ihnen allen nicht den Abend verderben. Dafür war er zu kostbar.

64. Kapitel

Ryon schreckte schon beim ersten Vibrationsalarm seines Handys auf dem Nachttisch hoch und war sofort hellwach. Er schaltete nicht die Lampe ein, sondern warf nur einen kurzen Blick auf die Uhr, ehe er nach dem kleinen summenden Gerät grabschte und abhob.

Es war drei Uhr morgens und Tennesseys Nummer, die ihm auf dem Display entgegen geblinkt hatte, verhieß nichts Gutes.

„Was ist passiert?“ Seine Stimme klang noch rau und verschlafen, aber seine Nerven waren angespannt, während sich seine Nackenhärchen aus einem Instinkt heraus auf stellten, der höher ging, als seine menschlichen Sinneswahrnehmungen.

Sein Herz raste wie verrückt und als er einen Krach im Hintergrund hörte, als würde gerade jemand eine ganze Zimmereinrichtung demolieren, ohne die Stimme seines Freundes zu vernehmen, setzte es sogar einen Schlag lang aus. Danach war die Leitung tot.

Sofort sprang er aus dem Bett und erinnerte sich zu spät daran, dass Mia zwischen ihm und Paige eingeschlafen war. Vorhin hatte er sie bereits aufgeweckt, aber mit seiner hektischen Art jagte er ihr schließlich auch noch Angst ein, so dass sie zu weinen anfing.

Entschuldigend, hauchte er ihr einen flüchtigen Kuss auf die Stirn, drehte das Licht an, damit sie ihn sehen konnte und wandte sich dann an Paige, der das ganze schließlich auch nicht hatte entgehen können.

„Bring sie zu Tyler und Ai, während ich mich anziehe und alles nötige vorbereite. Tennessey steckt offenbar bis zum Hals in Ärger.“

Wehe wenn sein Freund sich nicht an die Regeln gehalten hatte. Dann konnte er was erleben!
 

Ihr Herzschlag sprang sofort in unermessliche Höhen, als Ryon wie von der Tarantel gestochen aufsprang und Mia sich weinend an ihr zu verstecken versuchte. Unentschieden, ob sie zuerst die Kleine beruhigen oder versuchen sollte, herauszufinden, was eigentlich los war, tat sie nichts von alledem, sondern starrte nur Ryon an.

Erst als der ihr sehr klar sagte, was sie tun sollte, kam sie in Bewegung, drückte Mia beschützend an sich und stand auf. Das Mädchen weinte immer noch und klammerte sich in Paiges Schlafshirt, während diese versuchte ihr gut zuzureden.

„Alles ist gut, Mia. Dad-“

Beinahe wäre sie über ihre eigenen Gedanken gestolpert. Stattdessen blieb sie wie angewurzelt mitten im Flur stehen, streichelte Mias Wange, so dass sie zu ihr hoch sah und lächelte. Dicke Tränen rollten immer noch aus ihren großen Augen, aber sie schien sofort ruhiger zu werden, sobald sie sah, dass Paiges Blick freundlich und warm war.

„Ryon und ich müssen kurz weg. Ich bringe dich zu Onkel Tyler und Ai, ja? Die beiden werden auf dich aufpassen, bis wir wieder da sind. Und dann frühstücken wir alle zusammen.“

Paige küsste eine der letzten Tränen weg und machte sich nun langsamer auf den Weg zu Tylers und Ais Zimmer, wo sie höflich und leise anklopfte. Allerdings ließ sie es nicht an Nachdruck fehlen, als sie die Situation erklärte und Ai das kleine Mädchen in die Arme drückte.

Danach rannte sie so schnell sie konnte zu ihrem eigenen Zimmer zurück, riss den Kleiderschrank auf und warf sich ein paar Sachen über. Die Haare in einen Pferdeschwanz zusammengenommen, war sie keine fünf Minuten später bereits loszufahren. Dabei wusste sie noch nicht einmal genau, was passiert war. Genauso wenig, wie Ryon, musste sie feststellen.

Er trat lediglich so stark auf's Gaspedal, dass sie sich an die Armlehne klammerte und versuchte geradeaus zu starren, damit ihr bei der halsbrecherischen Fahrt nicht auch noch schlecht wurde.
 

Ryon musste sich so sehr auf die Straße konzentrieren und auf den Umstand bei dieser Geschwindigkeit den Wagen nicht um einen Baum zu wickeln, dass er nicht dazu kam, Paige irgendetwas zu erklären. Es wäre auch sinnlos gewesen, weil er nicht gewusst hätte, was er hätte erklären sollen. Da war Lärm gewesen. Mehr wusste er nicht und trotzdem war er voll von Panik und Sorge. Selbst seine Krallen, die ihn im Augenblick eher hinderten, als nützlich waren, konnte er nicht einfahren.

Die Schlaglöcher durch den Wald machten ihn am Meisten zu schaffen. Jedes Holpern, Hüpfen und hin und her gerüttelt werden, riss an seiner Verletzung, die inzwischen schon wieder einigermaßen gut aussah, aber es tat trotzdem verdammt weh und doch bemerkte er es noch nicht einmal.

Als er in der Nähe der Hütte eine Vollbremsung hinlegte, war ihm sogar egal, dass er den Wagen abwürgte, weil er schneller raussprang, als er den Schlüssel herum drehen konnte. Er hatte es noch nicht einmal versucht.

Licht brannte hinter den verschmierten Fenstern, noch immer war krachender Lärm zu hören, aber in all dem Krach, hört er auch Tennesseys besänftigende Stimme heraus. Gott sei dank, er war noch nicht tot!

Ungeachtet seiner momentanen Einschränkungen stürmte Ryon zur Tür und riss sie beinahe aus den Angeln.

Für einen Moment war alles still, als man auf ihn aufmerksam wurde. Er erkannte den Raum fast nicht wieder.

Tennessey stand direkt neben ihm an der Wand und sah ihn überrascht an, während zwischen herum fliegenden Federn, Stofffetzen von einem Kissen, zertrümmerten Möbeln und herum liegenden Arztutensilien ein weißer Wolf stand und die Zähne bleckte.

„Ryon, was-“, begann sein Freund verblüfft zu fragen, kam aber nicht weiter dazu. Der Wolf griff an und zwar nicht Tennessey sondern ihn!

„Delila, nein!“

Tennesseys Ruf blieb ungehört, während Ryon von der Wucht des Aufpralls nach hinten geworfen wurde. Doch statt nun von der Wölfin zerfleischt zu werden, stürmte Delila los, in Richtung Waldrand.

Das konnte er unmöglich zulassen. Sie durfte nicht entkommen!

Ryon riss sich das Hemd vom Oberkörper und schlüpfte aus seinen Schuhen, ehe er auch schon dem weißen Schatten hinterher wetzte, um sie wieder einzufangen.

Ein Wolf hatte gegen einen Tiger keinerlei Chance und trotzdem versuchte Delila es. Erst lief sie weg, bis er sie umrundete und wieder zurück trieb und als sie immer mehr in die Enge getrieben wurde, griff sie ihn an.

Ein einziger Hieb hätte genügt, um sie zum Schweigen zu bringen, aber gerade als das Tier in ihm ausholen wollte, um sie endlich zur Ruhe zu bringen, hielt Tennesseys Schrei ihn auf.

„Ryon, nein! Denk an das Baby!“

Das was? Ryon erstarrte verwirrt mitten in der Bewegung und fing sich dafür einen schmerzhaften Biss in die Schnauze ein, da sein Fell zu dick war, um das Gewebe darunter zu verletzen und sie somit seinen Schwachpunkt angriff. Schließlich reichte es ihm endgültig.

Er warf sein Gewicht auf den Wolf, riss seine Kiefer auf und schloss sie so nachdrücklich um Delilas Nacken, dass die Drohung nicht deutlicher hätte sein können.

Endlich gab sie Frieden.

Sofort war Tennessey bei ihnen, verpasste Delila eine K.O.-Spritze, so dass Ryon sie endlich los lassen konnte.

Schwer keuchend verwandelte er sich wieder zurück und hielt sich die brennende Seite.

„Und jetzt will ich verdammt noch mal wissen, was du mit Baby gemeint hast!“

Er schrie seinen Freund tatsächlich an.
 

„Was zur Hölle?!“

Paige riss den Sicherheitsgurt auf, warf sich gegen die Autotür und war doch nicht schnell genug. Sie sah nur noch eine helle Silhouette, die Ryon umwarf und in den Wald davon raste. Es folgte der silberne Dunst, der ihr sagte, dass der Tiger ebenfalls auf dem Sprung war, doch was sie als Nächstes hörte, wollte ihr fast den letzten Geduldsfaden reißen lassen. Es fand eindeutig ein Kampf zwischen den beiden Tieren statt und in Ryons Zustand...

„Verdammtes Miststück!!“

Ohne auf Tennessey zu achten, der neben ihr her rannte, warf Paige einen Feuerball in die Luft, dessen Schein die Umgebung soweit erhellte, dass sie die beiden sehen konnte. Die Wölfin gab immer noch nicht gänzlich auf, obwohl sie bereits verloren hatte. Noch einmal fluchte Paige und wollte sich endgültig einmischen, als Tennessey nicht nur Ryon, sondern auch ihr mit seinem Ruf den Boden unter den Füßen wegzog.

Ihre Schritte schienen langsamer geworden zu sein, denn sie erreichte die Szene erst, als schon alles vorbei und Ryon dabei war, seinen Freund anzubrüllen.

Sie war sich das erste Mal seit Langem nicht sicher, ob er sie von sich stoßen würde, aber verdammt, seine Seite blutete wieder und sie würde nicht zulassen, dass er sich wegen dieser Wölfin noch schwerer verletzte, als es ohnehin schon der Fall war.

„Ryon...“ Sie trat genau zwischen die beiden Männer und legte beschwichtigend ihre Hände auf seine Arme, während sie es kaum wagte ihm in die Augen zu sehen. Die Schmerzen spiegelten sich dort so deutlich und waren so viel schlimmer, als die äußere Verletzung, dass Paige selbst Angst davor bekam.

Ein Baby.
 

Sein Zorn verrauchte nur etwas, als Paige ihn berührte, aber es half ihm enorm, Tennessey nicht an die Kehle zu gehen. Es war nicht nur die Sorge um ihn, die ihn so wahnsinnig gemacht hatte, sondern dass das alles hier überhaupt hatte passieren können und dann auch noch ein Baby?

Vor Wut bebend, drückte er Paige an seine unverletzte Seite, um sich noch stärker durch sie zu erden und ruhig zu bleiben. Das hier war einfach so schnell gegangen, dass seine Gedanken kaum hatte mitkommen können. Er war total verwirrt … und nackt.

Obwohl so etwas wie Reue in Tennesseys Miene zu lesen war, ließ er sich doch nicht von Ryon einschüchtern, sondern kniete sich stattdessen neben der bewusstlosen Wölfin ins Gras.

„Sie ist im dritten oder vierten Monat schwanger. Sie hat lange versucht, das vor mir zu verheimlichen, als ich es heraus fand, ist sie völlig durchgedreht und glaub‘ jetzt nicht, ich hätte sie nicht anständig gefesselt. Denn das hab ich.“

Tennessey sprach die Wahrheit. Es lag keine Lüge in seinen Augen oder in der Luft.

„Aber selbst du wirst doch wohl wissen, dass sich die körperliche Form beim Wandeln verändert und ihre Handgelenke schlüpften einfach durch die Fesseln hindurch. Außerdem weiß ich nicht, was du hier zu suchen hast. Ich hatte alles im Griff!“

Ehe Ryon endgültig an die Decke gehen konnte, ließ er Paige sicherheitshalber los und stapfte zum Auto zurück, während er seine zerrissenen Klamotten aufhob und sich an den kleinen Vorrat an Kleidung im Kofferraum zu schaffen machte, um sich anzuziehen.

Tennessey und Paige ließ er einfach zurück.

Der Doc prüfte den Puls von Delila, ehe er die zierliche Wölfin hochhob und Paige entschuldigend ansah.

„Ich weiß wirklich nicht, warum ihr hier seid, aber es tut mir trotzdem Leid, dass ihr das mit ansehen musstet. Eigentlich hätte sie gar nicht aus der Hütte kommen können. Vermutlich lag es daran, weil Ryon die Tür offen gelassen hat. Meine Sicherheitsprogrammierung sah vor, dass sie die Tür nicht öffnen kann.“

Er seufzte und schüttelte den Kopf.

„Das mit Delila wird wohl noch etwas dauern. Sie ist … verwirrt und voller Wut.“
 

Die beiden Männer hatten sie nun beide einfach stehen lassen und auch Paige beließ es noch einen Augenblick dabei, während sie Tennessey hinterher sah, der die Wölfin auf seinen Armen in die Hütte zurück trug.

„Da ist sie nicht die Einzige...“, brummte sie leise, bevor sie sich aufmachte und den anderen zur Hütte folgte. Ihr Weg führte sie direkt zu dem kleinen Gebäude. Allerdings nicht, um sich weiter mit Delila zu beschäftigen, die – ob schwanger oder nicht – bloß warten sollte, bis sie wach und für Paige ansprechbar war, sondern um sich Tennesseys Tasche zu schnappen. Der Arzt wollte protestieren, als ein Blick aus dunklen Augen ihn traf, vor dem selbst Ryon zurück gewichen wäre.

„Es mag euch allen nicht aufgefallen sein, aber seine Wunde hat wieder angefangen zu bluten.“

Damit zerrte sie die schwere Tasche mit sich aus der Hütte und zum Auto hinüber, wo Ryon sich gerade umständlich das Hemd überziehen wollte.

„Stop. Fallen lassen. Zuerst wird das gesäubert und wieder verbunden.“

Und keine Wölfin der Welt würde sie davon abhalten!
 

„Nein, Paige!“ Er wich ihr aus und gab es auf, sich vorsichtig in das Hemd schälen zu wollen, sondern zog es sich einfach mit einem Ruck über. Jede seiner Bewegungen war voller Wut und … etwas anderem.

Dass seine Seite dabei nur noch heftiger zu brennen begann und sich rasch ein roter Fleck auf dem weißen Stoff ausbreitete, ignorierte er einfach. Er wollte nur noch nach Hause und wieder ins Bett. Das alles hier war so…

Ryon hielt sich am Rahmen des Kofferraums fest und versuchte sich mit tiefen Atemzügen wieder zu beruhigen. Doch weder die ausgefahrenen Krallen, noch seine angespannte Haltung, konnte man übersehen. Am liebsten wollte er schreien, aber nicht mit Paige und trotzdem stand sie gerade mitten in der Schusslinie.
 

Ihr wurde von einer Sekunde auf die Andere speiübel. Etwas in Paige rollte sich zusammen, hob schützend die Arme über den Kopf und versuchte verzweifelt das Brennen in den Augen hinunter zu kämpfen, während sie dastand, die schwere Arzttasche umklammerte und Ryon einfach nur anstarrte. Sämtliche Farbe war aus ihren Wangen gewichen und sie hätte nicht sagen können, ob sie es schaffen würde, einen Schritt zu tun.

Er war ... so wütend.

Hätte er ihre Kräfte gehabt, wäre das Metall unter seinen Fingern und dem lodernden Blick geschmolzen, der sich früher oder später bestimmt wieder auf Paige richten würde.

Es macht ihr Angst. So viel mehr, als die Tatsache, dass er sie mit seinen Krallen vielleicht verletzen konnte. Er konnte viel mehr als das. Das kleine Mädchen, das sich in Paiges Innerem wimmernd zusammen krümmte, erwartete genau das.

„Entschuldige...“

Wie hatte sie nur so dumm sein können? Das Baby! Marlene... Sein Baby...

Die Tränen schienen ihren Kopf nach unten zu zerren, wo sie sah, dass ihre Finger um den Griff der Tasche zitterten. Ihr war heiß und kalt zugleich und am liebsten wäre sie weg gerannt. Genauso gern, wie sie noch näher kommen wollte, um ihn zu beruhigen. Aber er hatte sie schon zurecht gewiesen, nicht wahr. Sie durfte nicht näher kommen.
 

Vielleicht war genau dieses leise ‚Entschuldigung‘ von Paige der einzige Grund, der zwischen ihm und einem katastrophalen Ausbruch stand. Zumindest brachte es Ryon dazu, für einen Moment gequält die Augen zu schließen. Die Wut wurde weniger, der Schmerz nahm zu, aber nicht der in seiner Wunde.

Er hätte fast eine schwangere Frau geschlagen. Er hatte zugesehen, wie Delila sich Kübelweise Wodka rein schüttete und das in einer verrauchten Bar!

Das war … das war so…

„Paige…“, seine Stimme klang schwach und kraftlos. Er hatte einfach nicht mehr die Energie, seiner Wut gebührendem Ausdruck zu verleihen und um ehrlich zu sein, er wollte auch nicht mehr. Er wollte sich nicht mehr schuldig fühlen und sich mit Händen und Füßen dagegen wehren.

Ryon ließ das Auto los, nahm Paige die Arzttasche aus den zitternden Händen und zog sie an sich. Er umarmte sie einnehmend und so, als wäre es das letzte Mal.

Es tat so gut, sie halten zu können. Wenigstens etwas zu haben, dass ihn nicht ständig quälte.

„Es tut mir leid, Paige.“ Er flüsterte es ganz leise. „So leid.“

Sofort ging es ihm etwas besser. Mit seiner Gefährtin an seiner Seite, ging es ihm immer besser. Egal wo und in welcher Situation er sich gerade befand. Denn irgendwie schien es so zu sein, dass mit Paige doch eigentlich alles gelingen musste. Es war vielleicht nicht fair, aber sie war sein Blocker gegen alles, womit er selbst nicht mehr wirklich fertig wurde. Doch nicht dafür liebte er sie, sondern viel mehr, weil sie das Schlechteste von ihm gesehen hatte und dennoch bei ihm blieb.

„Ich will ins Bett, Flame. Einfach nur noch ins Bett."
 

„Ich weiß...“

Paige glaubte mehr aus seiner Entschuldigung heraus zu hören, als nur die Worte, die an sie gerichtet waren. Sie zitterte am ganzen Körper wie Espenlaub, als all das wieder in ihr Gedächtnis zurückkam, das sie völlig irrsinniger Weise vergessen hatte. Ryon hatte nur für Marlene gelebt. Und für ihr gemeinsames Kind. Jahre lang hatte er die Wunde selbst offen gehalten und sich schlimmer gequält, als jeder Andere es hätte tun können.

Wie hatte sie so dumm, naiv und blöd sein können, das nicht zu beachten? Wie hatte sie so ... eine verdammte Idiotin sein können, zu glauben, dass sie seine Wunden hatte heilen können?

Nicht einmal mehr weinen konnte sie, als ihr diese Gedanken kamen. Sie fühlte sich schwach und vollkommen müde, als sie sich langsam aus Ryons Umarmung löste und die Arzttasche wieder an sich nahm, um sie Tennessey zurück zu geben.

„Setz dich schon ins Auto. Ich fahr dich nach Hause.“
 

Ryon lehnte schwer an der zerschrammten Kommode in ihrem gemeinsamen Schlafzimmer und starrte schon eine ganze Weile nachdenklich ins Leere, während er einen Tupfer auf die leicht blutende Wunde an seiner Seite drückte. Das Einzige, was er von Paige angenommen hatte, als sie wieder zurück waren und das, obwohl er eigentlich hatte ins Bett wollen. Doch irgendwie erschien es ihm gerade unmöglich, sich nach diesem Weckruf einfach wieder hinzulegen und weiter zu schlafen. Er war vollkommen aufgewühlt und wusste dennoch nicht, wo anfangen. Außerdem war er von einer Müdigkeit erfüllt, die weit mehr war, als körperliche Erschöpfung. Er war das alles so müde.

Es war still im Raum. Vielleicht hatte Paige etwas zu ihm gesagt, Ryon konnte es nicht sagen. Vielleicht wartete sie aber auch einfach nur darauf, dass er sich in irgendeiner Form wieder bewegte und zu handeln begann. Wenn es so war, dann musste sie lange darauf warten, bis er endlich den Mund aufmachte und aus keinem richtigen Zusammenhang zu sprechen begann.

„Da gab es diese Organisation – ich weiß gar nicht mehr so genau, wie sie hieß. Moonleague oder so ungefähr. Auf jeden Fall irgend so eine menschliche Einrichtung, die nichtmenschliche Wesen registrieren, überwachen und zum Teil auch für sich arbeiten lassen wollte. Vor drei Jahren erfuhr ich zum ersten Mal von ihr und zugleich war das auch das letzte Mal, dass man etwas von ihr hörte. Bis heute wissen nicht viele der Nichtmenschlichengemeinde etwas von ihnen oder das es sie je gegeben hat.“

Ryon sah Paige nicht an, als er sich endlich einmal aus seiner starren Haltung löste und einen Blick unter den Tupfer warf. Er konnte nicht viel erkennen, da überall Blut klebte, aber zumindest tropfte er nicht mehr. Trotzdem drückte er das Stoffstück weiter auf seine Wunde und fuhr in seiner Ansprache fort.

„Nataniel – ein Raubkatzengestaltwandler wie ich – hat mich und fünf andere damals um Hilfe im Kampf gegen die Organisation gebeten: Unter anderem mich; Khan – ein Gestaltwandlergrizzly; Bruce – ein Gestaltwandlergorilla; die Werwolfzwillinge D und J und nicht zu vergessen Delila – die Gestaltwandlerwölfin.“

Ryon wartete nicht ab, bis Paige diese Information verdaut hatte, sondern fuhr einfach fort, als spule er ein Tonband in sich ab, dass er schon hundertmal gehört hatte und ihm somit auch keinerlei Emotion mehr entlocken konnte. So, als wäre er nie dabei gewesen.

„Das alles hat nicht lange gedauert und ich verschwand danach rasch von der Bildfläche, als die Sache erledigt war. Ich weiß bis heute nicht, ob Amanda, Nataniels Gefährtin, die Geburt ihres gemeinsamen Kindes überlebt hat, schließlich war sie auch … anders.“

Damals, bei diesem gemeinsamen Frühstück mit der ganzen Truppe, hatte er flüchtig den Geruch von Nataniels Gefährtin in sich aufnehmen können, um sicher zu wissen, dass sie damals schwanger gewesen war. Zum Glück hatte ihn das in einer Zeit getroffen, als er emotional nicht mehr ansprechbar gewesen war und somit nicht mehr wegen solchen Dingen austicken konnte, so wie momentan.

Seine Finger pressten sich bei dieser Erinnerung stärker an seine Seite und die Gefühle, die ihm damals gefehlt hatten, überkamen ihn nun mit voller Wucht. Er war unglaublich eifersüchtig auf das Glück, das den beiden vielleicht nun vergönnt war. Doch sicher wissen würde er es wohl nie.

„Auf jeden Fall nehme ich an, dass diese Werwölfe, von denen Tennessey erzählt hat, etwas mit den Zwillingen von damals zu tun haben und wenn es wirklich so sein sollte, müssen wir umso vorsichtiger sein. Die Jungs sind nicht nur unglaublich kindsköpfig, sondern für Werwölfe auch sehr gefährlich, da sie nur zusammen arbeiten. Wenn Boudicca sie wirklich in ihrer Gewalt hat, wird das kein leichtes Stück werden, an ihnen vorbei zu kommen und was Delila angeht … Ich könnte verstehen, wenn sie endgültig durchdreht.“

Es war eine Sache, als Gestaltwandlerfrau zwei Männer mit Leidenschaft, Hingabe und ohne Grenzen zu beherrschen und für sich zu gewinnen, aber eine ganz andere Sache, wenn es sich hierbei um eine Bindung wie die zwischen zwei Gefährten handelte.

Wenn Ryon nicht selbst erlebt hätte, dass ein Wandler zwei Frauen als wahre Gefährtinnen ansehen konnte, hätte er auch nicht geglaubt, dass eine Frau sich zwei Gefährten zur gleichen Zeit wählen und ebenso lieben konnte. Es klang für ihn immer noch absurd, aber andererseits hatte er den Schmerz in Delilas Augen gesehen, als sie ihn niederstach. Ein Schmerz, der einen dazu bringen konnte, Dinge zu tun, von denen man nicht gedacht hätte, dass man je dazu im Stande wäre.

„Was ich damit eigentlich sagen will, ist, dass ich schon vieles gesehen und erlebt habe und irgendwann …“ ‚…kann ich einfach nicht mehr.‘ Aber sein Versprechen Paige gegenüber zwang ihn dazu, es nicht auszusprechen. Stattdessen hob er den Blick und sah sie an.

„…kommt einfach die Wende. Zumindest kann ich das nur für uns alle hoffen.“

Mit einer trägen Bewegung löste Ryon sich von der Kommode und schlurfte ins Bad, um ein Handtuch mit Wasser zu tränken und sich das Blut von der Seite zu tupfen.

Schwer seufzend legte er schließlich das Handtuch beiseite und stütze sich auf dem Waschtisch ab, während er sein fertiges Spiegelbild mied.

„Eigentlich weiß ich heute gar nicht mehr, worauf ich hinaus will…“ Seine Stimme klang ebenso müde und erschöpft, wie er sich fühlte. Ryon wusste wirklich nichts mehr, außer, dass seit heute Nacht eine andere Wunde in ihm wieder zu bluten begonnen hatte.
 

Feindliche Organisationen, Kämpfe, Freundschaften, zerbrochene Beziehungen, Schwangerschaften... Paige zerrte ihren bleischweren Körper vom Bett hoch, auf dem sie gesessen hatte und ignorierte den Lärm, den ihre Schritte auf den Scherbe von Ryons Gefühlen hervor riefen. Depression und Kraftlosigkeit hingen so schwer im Raum, dass man sie beinahe wabern sehen konnte. Paiges Lippen schienen aufspringen zu wollen wir trockenes Pergament, als sie im Türrahmen zum Bad stehen blieb.

„Aber ich denke ich weiß, was du ausdrücken möchtest.“

Ihre Stimme klang für Paige selbst hohl und dumpf. Als würde der Raum zwischen ihnen sie einfach schlucken wollen, damit sie nicht zu Ryon durchkam. Auch deshalb überbrückte sie die Distanz mit ein paar Schritten, ignorierte das Knirschen wie von Glas unter ihren Sohlen und blieb in einem halben Meter Abstand vor Ryon stehen.

„Es reicht.“

Bevor sich die Verständnislosigkeit von seinen goldenen Augen weiter ausbreiten konnte, sprach Paige weiter. Vielleicht auch, um den Mut nicht zu verlieren das zu sagen, was ihr mit ihrem Herzen auf der Zunge lag.

„In den vergangenen Jahren hat es das Leben nur schlecht mit dir gemeint. Es hat dich geschunden, dir das Liebste und Teuerste genommen, das du hattest.“

Ihr Blick fiel auf das Amulett, das fast höhnisch glänzend um Ryons Hals baumelte. Wenige, für sie schrecklich schmerzhafte Momente lang, überlegte sie, ob sie sich für ihn wünschte, Marlene wäre an ihrer Stelle. Wahrscheinlich wüsste sie besser als Paige, wie ihm zu helfen war. Wie man Ryon die Last von seinen breiten Schultern nehmen konnte.

Seine Augen hatten fast die gleiche Farbe wie das eben noch so verhasste Metall an dieser verwunschenen Kette.

„Du konntest dich in den letzten Wochen vielleicht von Marlene und eurer Tochter verabschieden. Aber zum Trauern hattest du immer noch keine Zeit. Immer wirst du von einem Desaster ins Nächste gerissen, man zerrt an dir und nimmt dir dadurch die Kraft, die du für dich bräuchtest.“

Ob es Überraschung war oder etwas Anderes, was Ryon dazu bewegte, den Waschtisch loszulassen, war Paige nicht klar. Sie würde es vermutlich erfahren, aber noch konnte sie ihren Redeschwall nicht unterbrechen. Es gab noch so viel zu sagen...

„Ich hoffe so sehr, dass das nicht mehr lange so sein wird. Ob Gestaltwandler, Dämon oder Mensch. Jeder kann nur ein bestimmtes Maß an Prüfungen ertragen.“

Ihre Fingerspitzen berührten leicht das Schmuckstück, das nun auf seiner Brust lag.

„Sie würden mir beide zustimmen, denke ich. Im Moment ist es einfach zu viel... Du brauchst endlich Zeit, Ruhe und Frieden.“

Endlich sah sie zu ihm auf und verlor sie für einen Moment in den Lavaseen seiner Augen.

„Wäre Marlene hier, wüsste sie bestimmt, was sie sagen müsste. Sie könnte dir vermutlich besser erklären, was ich meine... Aber... Ryon, du musst das alles nicht allein schaffen. Es ist in Ordnung, ab und zu die Nerven zu verlieren und schwach zu sein.“

Sie würde es nicht schaffen.

Von einem Moment auf den Anderen schlug der Blitz der Erkenntnis in Paiges Herz, dass sie hier umsonst Worte in den Raum warf. Weder konnte sie wirklich formulieren, was sie ihm wirklich sagen wollte, noch kannte sie ihn gut genug, um zu wissen, wie sie es ihm klar machen konnte.

Ihre Hand rutschte von dem Amulett ab und nahm stattdessen seine Hand, während sie den Blick auf ihre nun verschränkten Finger senkte.

„Ich liebe dich. Und was ich sagen will, ist eigentlich nur, dass ich dich verstehe. Vielleicht ändert das nichts. Es tut trotzdem weh. Aber wenn du willst, musst du die Last nicht allein tragen.“
 

Seine Finger umschlossen die ihren warm und legten sie wieder auf sich, doch dieses Mal unterhalb des Amuletts direkt auf sein schlagendes Herz.

Lange sah er Paige aus schweren goldenen Augen an, schweigend und in dem Moment versunken, während ihre Worte langsam zu jeder Schicht seines Seins hindurch drangen.

Schließlich hob er seine freie Hand, umschmeichelte damit die Kontur von Paiges malträtierter Gesichtshälfte und empfand dabei tiefste Verbundenheit mit dieser besonderen Frau.

Paige musste ihn nicht fragen, ob er ihr etwas von seiner Last abgeben wollte. Er tat es von vornherein, obwohl es egoistisch und auch sadistisch von ihm war, aber wäre es anders, er hätte es nicht geschafft, sich für sie zu öffnen. Seine Liebe für sie zuzulassen und somit auch all das Leid, dass er damit verband.

„Du hast recht.“ Seine Stimme war rau und leise. Es kratzte ihm förmlich im Hals.

„Marlene und meine kleine Tochter … sie sind nicht hier … aber wenn ich Gott für eines danke, statt ihn zu verfluchen, dann ist es für die Tatsache, dass DU bei mir bist.“

Ryon zog seine Gefährtin näher zu sich heran, legte seine Arme um sie und obwohl er so viel größer und breiter war als sie, fühlte es sich doch wie ein schützender Ort an, als er sein Gesicht an ihrem Hals vergrub und die Augen schloss. Wenigstens für einen flüchtigen gestohlenen Moment lang.

Wenn ihn schon die Aussicht auf ihre düstere Zukunft nicht trösten konnte, dann war es doch wenigstens das Wissen, dass er zusammen mit ihr diesen Weg beschreiten würde und nicht alleine da stand.

Mit Paige zusammen, würde er sich durch jede Hölle wagen. Das Schlimme daran war nur, dass er das vielleicht auch tun würde müssen. Doch was blieb ihnen schon anderes übrig. Einige Dinge konnte man einfach nicht abwenden.

Einen langen Moment kostete er das Wohlbefinden, das ihm Paige immer wieder spenden konnte, noch aus, ehe er sich zusammenriss und aufhörte, sich so hängen zu lassen.

Die Nacht war einfach anstrengend gewesen, aber das war noch kein Grund, seine Gefährtin ebenfalls in dieses Loch zu ziehen, das er inzwischen nur allzu gut kannte.

Ryon richtete sich wieder auf und schlang Paige einen Arm um die Taille, um ihren Körper an seine Seite zu ziehen, während er sich langsam mit ihr zu ihrem gemeinsamen Bett begab.

Er sollte wenigstens die Momente noch nützen, die sie in Ruhe verbringen konnten und sie nicht mit seinem schweren Gemüt belasten. So schwer es auch fiel, doch wenigstens einen Teil seiner Last, wollte er wieder von Paiges Schultern nehmen.

Ryon ließ sich auf die Matratze sinken und zog seine Gefährtin mit sich auf seinen Schoß. Er sah ihr mit tiefer Ehrlichkeit in die Augen, während seine Arme sie umfangen hielten.

„Ich hoffe, du weißt, dass das Gleiche auch für dich gilt. Ich bin für dich da. Egal was auch kommt. Du kannst dich auf mich verlassen. Das verspreche ich dir.“

Sanft schmiegte er seine Stirn an ihre Halsbeuge und schnurrte leise und kaum hörbar, so dass seine leise Stimme gerade noch so zu hören war: „Für Immer und Ewig.“

Seine Lippen strichen hauchzart über die seidene Haut ihrer Kehle, während sein warmer Atem darüber glitt.
 

„Ja, das weiß ich.“

Dennoch war es beinahe so weit gewesen, dass sie gezweifelt hätte. Jetzt, da sie durch Ryons Haar streichelte, seine warmen Arme um ihre Taille spürte und seinen Atem an ihrem Hals, konnte sie das kaum mehr verstehen. Sobald er sie hielt, schien alles in Ordnung. Und doch hatte ihr seine abweisende Haltung vorhin einen ganz schönen Schrecken eingejagt. Auch wenn er ihr beteuerte, es wäre für immer und ewig. Paige würde es nicht so schnell glauben können. Dafür war sie zu ... unsicher. Dennoch wollte sie das Versprechen nur zu gern annehmen. Es einfach zuzulassen, fühlte sich das erste Mal in ihrem Leben richtig an.

Erst nach einer kurzen Weile ließ sie sich etwas gemütlicher auf seinem Schoß nieder, konnte aber nicht verhindern, dass sie sich insgesamt unwohl dabei fühlte. Ryon war immer noch verletzt. Und wie stark konnte Paige nicht einschätzen, weil er sie nicht hatte nach der Wunde sehen lassen.

Etwas umständlich, versuchte sie zwischen ihnen beiden hinab auf seinen Bauch zu sehen, was aber nicht wirklich gelang. Das Seufzen, das Paige gerade ausstoßen wollte, verformte sich ohne ihr Zutun zu einem tiefen Gähnen, das sogar ihren Körper mit einem Zittern schüttelte.

Mit weicher Stimme, sprach sie nah an seinem Ohr, während sie nicht aufhörte, seinen Nacken zu kraulen.

„Was hältst du davon, wenn ich dir aus deiner Hose helfe und mich auch für's Bett umziehe. Bis zum Morgen haben wir noch ein paar Stunden.“

Wertvolle Stunden, die sie für ein wenig Erholung so gut es ging nutzen sollten. Dass Delila sich so weit erholt hatte, dass sie fliehen wollte, war ja wohl ein Zeichen dafür, dass sie bald mit weiteren, sehr ernsthaften Problemen umzugehen hatten.
 

Ryon hätte schon im Sitzen einschlafen können und wollte sich daher so ganz und gar nicht mehr von der Stelle rühren, da es einfach bequemer war, als sich zu bewegen. Aber er sah ein, dass auch Paige müde war und er sie nicht länger von noch etwas Schlaf abhalten wollte, also nickte er leicht und ließ sich von ihr helfen.

Heute schien er besonders schwer und tief in die Kissen und die Matratze zu sinken, während Paige ihm half, die Decke hoch zu ziehen und er erschöpft die Augen schloss.

Die Zeit, die sie brauchte, bis sie sich umgezogen hatte, hielt er noch durch, doch kaum, dass sie bei ihm war, sank er auch schon in einen tiefen, zum Glück traumlosen Schlaf. Das alles hatte ihn wohl doch stärker mitgenommen, als er hatte zugeben wollen. Noch dazu, wo doch so ungewiss war, was jeder weitere Tag mit sich brachte.

65. Kapitel

Die Stimmung beim gemeinsamen Frühstück war seltsam und das konnte nicht nur Ryon so vorkommen. Schließlich fehlte Tennessey ganz und gar und an dessen Stelle saß nun Sally. Also absolut kein Vergleich mit seinem alten Freund.

Außerdem kam ihm die vergangene Nacht inzwischen eher wie ein Alptraum vor, als wie die Realität, aber anhand der zwei gerissenen Nähte, die er heute gründlich begutachtet hatte, war es doch realer gewesen, als er sich wünschen würde. Wenigstens war die Wunde inzwischen wieder geschlossen und wenn er sich weiterhin auf seine Heilungskräfte verlassen konnte, würde er vielleicht am Abend schon die restlichen Fäden ziehen können. Ein schönes Andenken würde es trotzdem bleiben.

Sogar Mia war heute seltsam ruhig, als wäre sie irgendwie bedrückt, aber wenn er sie darauf ansprach, grinste sie ihn nur schief an und hielt ihm einen Löffel voll matschiger Cornflakes hin. Sie war keine besonders gute Lügnerin, aber was konnte man auch schon von einem kleinen Mädchen ihres Alters erwarten? Wenn sie nicht wollte, würde man sie auch nicht dazu zwingen können.

Dabei war er selbst schließlich auch betrübt. Er würde Paige vermutlich nicht begleiten können, wenn sie Sally nach Hause brachte, da er vorher noch bei Tennessey rein schauen wollte und nur Gott wusste, wie lange das dauern würde. Nach der mitternächtlichen Aktion zu urteilen, sah es in dieser Hinsicht sehr düster aus. Vor allem, da er eigentlich gar nicht hin wollte.

Eine tiefsitzende Angst wollte ihn davon abbringen, dorthin zu fahren, doch es war lächerlich Tennessey der Gefahr wegen irrationalen Gefühlen auszusetzen. Schließlich konnte der Doc sie nicht mehr verständigen, wenn etwas passierte, da vermutlich sein Handy nun Schrott war.

Am liebsten hätte Ryon sich zerrissen, um beides Gleichzeitig tun zu können.
 

Paiges Cornflakes sanken bald genauso auf den Grund der Müslischüssel wie die von Mia, während sie nur in der Milch herum rührte. Ryon hatte noch geschlafen, aber wirklich fit sah er keinesfalls aus und auch sie selbst hatte nur oberflächlich Ruhe bekommen. Sie war viel zu besorgt um seine Gesundheit gewesen, als dass sie hätte tief schlafen können. Immer wieder war sie bei jeder seiner Bewegungen aufgewacht und hatte darauf geachtet, ob er wohl Schmerzen hatte. Ihre Finger waren hin und wieder zu seiner Wunde gewandert, um sicher zu gehen, dass sie nicht wieder angefangen hatte zu bluten. Jetzt fühlte sie sich wie gerädert, hatte Kopfschmerzen und schlechte Laune.

Was aber hauptsächlich an der Tagesplanung lag.

Schließlich gab sie es auf, ihren Cornflakes das Schwimmen beibringen zu wollen und lehnte sich stattdessen zurück.

„Sally, ist es Ihnen recht, wenn ich sie direkt nach dem Frühstück nach Hause fahre? Ich nehme an, wir haben Sie lange genug hier festgehalten.“

Hoffentlich hatte sie keine Katze, die während ihrer Abwesenheit Hunger leiden musste.

„Das ist absolut in Ordnung. Auf mich wartet niemand und machen Sie sich wegen des Aufenthalts keine Sorgen. Immerhin bin ich hier genauso sicher, wie zu Hause.“

Die Hexe lächelte sogar etwas aufmunternd, was Paige ziemlich entwaffnete. Zumindest jemand, der hier nicht den Kopf hängen ließ. Daran sollte man sich ein Beispiel nehmen.

„In Ordnung. Dann können wir los, sobald Sie fertig sind.“

An Ryon gewandt ging sie noch einmal durch, was sie ausgemacht hatten.

„Ich setze Sally zu Hause ab und fahre dann noch zum Supermarkt. Vielleicht wäre es auch nicht schlecht, wenn ich euch eine Pizza mitbringe oder sowas. Tennessey wird das kalte Essen schon zu den Ohren rauskommen.“

Tyler sah von seinem gebutterten Toast auf und räusperte sich.

„Du weißt, dass ich dein Essen liebe, aber eine warme Mahlzeit ist nunmal nicht zu unterschätzen.“

Als sie ihm auch noch ein Lächeln schenkte, gab er sich geschlagen und ging zum Herd, um Ai noch ein wenig gebratenen Schinken aufzutun. Ihre Freundin selbst sah Paige aus eher besorgten Augen an.

Paige war klar, was sie sagen wollte, deshalb lehnte sie sich zur Seite, sodass nur Ai ihre nächsten Worte verstehen konnte.

„Ich habe nur schlecht geschlafen. Mach dir keinen Kopf.“

Sobald sie sich wieder zurück gelehnt und Mia über die hellen Locken gestreichelt hatte, schob Sally ihren Teller ein Stück von sich.

„Ok, ich bin soweit. Wenn es in Ordnung ist, hole ich nur schnell meine Tasche und dann können wir los.“

Paige nickte und wollte gerade aufstehen, als sie bemerkte, dass sich kleine, warme Finger um ihren Daumen geschlossen hatten und sie festhielten.

Mia blickte so ernsthaft zu ihr hoch, dass Paige die Arme nach dem Mädchen ausstreckte und sie auf ihren Schoß zog.

„Was ist los, Engelchen? Du bist schon die ganze Zeit so still. Alles ok?“

Die Kleine sah Paige weiterhin an und ihre Lippen öffneten und schlossen sich, als wolle sie ihr etwas sagen. Paige wartete eine Weile geduldig und streichelte Mias Rücken, doch das Mädchen konnte ihre Gedanken am Ende wohl doch nicht zum Ausdruck bringen. Dafür drückte sie sich einmal fest gegen Paige ließ sich umarmen und dann wieder auf Ryons Schoß setzen.

Als Paige nun doch endlich aufstand, streichelte sie Ryons Wange und küsste ihn, bevor sie sich ganz aufmachte, um zu gehen.

„Ich schätze, dass ich schon ungefähr drei oder vier Stunden brauchen werde. Ich will sicher gehen, dass Sally gut nach Hause kommt, dann ein paar Umwege fahren, einkaufen und zu euch kommen.“
 

„Pass auf dich auf, Paige.“ Es war ein Flüstern, das nur seiner Gefährtin alleine galt und doch war es nicht einmal im Ansatz das, was er noch alles hätte sagen wollen. Allein die Vorstellung, sich von ihr zu trennen, behagte ihm ganz und gar nicht, während in regelmäßigen Abständen sich seine Nackenhärchen sträubten.

Ryon war einfach zu erledigt, um sich jetzt ohne Probleme von ihr trennen zu können, von dem einzigen Geschöpf auf Erden, das ihn beruhigen konnte, wenn er selbst nicht mehr dazu in der Lage war.

Mit Mia zusammen auf dem Arm begleitete er sie und Sally noch zum Wagen und gab ihr einen Abschiedskuss.

Wie schwer es war, sie gehen zu lassen, erkannte er daran, dass er erst wieder Atmen konnte, nachdem der Wagen mit den beiden Frauen schon längst zwischen den Bäumen verschwunden war.

Mia sah ungefähr genau so aus, wie er sich fühlte, weshalb er dem blonden Engel einen Kuss auf die Stirn gab.

„Na, komm. Tyler hat mir erzählt, er hat ein weiteres Märchenbuch in der Bibliothek ausgegraben, aus dem Ai dir vorlesen will. Das wird bestimmt toll.“

Skeptisch sah die Kleine ihn an, ehe sie seufzte. Offenbar vertraute sie seinem schwachen Lächeln nicht ganz, obwohl das schon mehr war, als man meistens von ihm erwarten konnte. Aber sie schien sich merkwürdig erwachsen zu verhalten und sich schließlich geschlagen zu geben, weshalb er auch schon eine dreiviertel Stunde später vor der Hütte stand, die er in nächster Zeit eigentlich am liebsten gemieden hätte.
 

Als sie die Augen öffnete, sah sie nur ein ihr bekanntes Muster. Holzdielen und die Fransen ihres grünen Läufers. Doch erst ihr eigenes Stöhnen und der dröhnende Kopf holten sie zurück in die Wirklichkeit. Sally griff sich an die Stelle an ihrer Stirn, die am meisten schmerzte und fühlte etwas klebriges auf ihren Fingerspitzen. Als sie die Hand vor ihre nur halb zu öffnenden Augen hielt, erkannte sie Blut daran. Ihr eigenes Blut.

„Oh Gott...“

Die Hexe wurde kreidebleich und stöhnte erneut auf, als sie sich zitternd vor Überforderung und Panik die Wand hinauf schob und auf wackeligen Beinen ins Wohnzimmer stolperte.

Die Lampe kippte von dem kleinen Schränkchen neben der Couch, als sie ihre Tasche davon herunter riss und in die Knie sank, während sie darin herum wühlte. Von ihrem eigenen, sich überschlagenden Atem wurde ihr schlecht und sie musste sich immer wieder das Blut aus den Augen wischen, während sie einfach nicht fand, was sie suchte.

Sie schrie vor Verzweiflung auf und Tränen begannen ihr die Wangen hinunter zu laufen, als sie es einfach nicht finden konnte. Gehetzt sah sie sich um und die Panik machte sich mit jeder verstreichenden Sekunde nur noch weiter in ihr breit. Es musste da sein!

Mit einem dumpfen Geräusch ließ sie die Tasche einfach auf den Boden fallen, als sie das rettende Gerät endlich in den verschmierten Händen hielt. Sie konnte die Tasten kaum sehen, als sie im Speicher nach der richtigen Nummer suchte.

„Bitte...“

Bei jedem Ton in der Leitung wimmerte sie leise und zuckte erschrocken zusammen, als am anderen Ende abgenommen wurde.

„Ryon? Sind ... sind Sie das?“

Sie ließ ihn kaum das einsilbige Wort aussprechen, sondern klappte nur noch weiter in sich zusammen, als sie versuchte, ihm zu sagen, was passiert war.

„Es tut mir so Leid! Es waren so viele und ... und sie waren so schnell. Ich hab gar nicht gesehen, wo sie herkamen, ich...“

Sie konnte zwischen den Schluchzern kaum ein Wort hervor bringen und doch fühlte es sich so an, als könne sie vielleicht irgendetwas tun. Wenn sie schon Nichts von dem, was passiert war, rückgängig machen konnte.

„Bitte, es tut mir so Leid! Sie müssen mir glauben. Ich hab versucht ihr zu helfen. Aber sie hat mich einfach ins Haus gestoßen. Einer hat mich angegriffen und Paige...“

Wieder unterbrach sie sich selbst mit einem schmerzlichen Schrei, den sie mit ihrer Hand vor dem geöffneten Mund erstickte.

„Sie haben sie mitgenommen. Sie haben ihr … sie hat bestimmt keine Luft bekommen. Dann haben sie sie in den Kofferraum geworfen und einfach mitgenommen.“

Sally bekam nicht mit, welche Reaktion sich auf ihre Geschichte hin abspielte. Unter Entschuldigungen und hysterischen Panikattacken, die ihren Körper schüttelten, brach sie nach ein paar Minuten einfach zusammen.
 

„Ich habe Ihnen schon einmal gesagt, ich war es, der Ihre Gedanken wieder befreit und nicht eingesperrt hat. Wenn Sie schon einen Schuldigen suchen, dann wenden Sie sich besser an diese Hexe Boudicca.“

Tennessey musterte die halbnackte Frau auf der ramponierten Pritsche gründlich, während seine Worte zu ihr durchdrangen. Ryon war ihm im Augenblick keinerlei Hilfe, um Delila davon zu überzeugen, dass sie hier bei den Guten und nicht bei den Bösen war. Doch bis jetzt war die Wölfin skeptisch und abweisend geblieben. Sie glaubte ihnen kein Wort, woran selbst Ryons Erscheinung nichts ändern konnte. Denn er rührte keinen Finger, um Tennessey bei der Überzeugungsarbeit zu helfen, sondern starrte nur gedankenabwesend aus dem verschmutzten Fenster, während er nervös mit der Fußspitze leicht gegen das ohnehin schon wackelige Stuhlbein stieß. Tock Tock Tock...

Er versuchte sich von dem Geräusch nicht wahnsinnig machen zu lassen, sondern sich stattdessen auf seine nicht mehr ganz so verwirrte Patientin zu konzentrieren. Es war und blieb ein einziger Kampf.

„Ihr gehört doch alle zu dem gleichen Haufen, hältst du mich für so dämlich, alter Mann? Vielleicht war es doch gar nicht diese verdammte Hexe, die mir das angetan hat, sondern du und um mich davon zu überzeugen, ich könne dir und diesem nervösen Kater vertrauen, hast du dein Werk einfach wieder rückgängig gemacht.“

Aus ihrer Stimme sprach reinstes Gift, aber wenigstens versuchte sie nicht mehr ihn anzugreifen oder sich zu wandeln. Was ihr im Augenblick auch nicht gelungen wäre, denn er hatte ihr ein Mittel gegeben, dass die dafür nötigen Enzyme betäubte. Schließlich war sie nicht die erste Gestaltwandlerin mit der er zu tun hatte.

„Sie wissen ganz genau, dass das Unsinn ist. Warum würde ich Sie sonst ständig fragen, wo wir diese Hexe finden, damit wir ihr endlich das Handwerk legen können?“

Tennessey fuhr sich genervt durch die Haare. Wenn das so weiter ging, würde er bald keine mehr haben. Diese Frau war mehr als stur und leider auch ziemlich hartnäckig in den Dingen, die er in ihrem Kopf gesehen hatte. Es war nicht genug, um großartig etwas damit anfangen zu können, aber doch schon mehr, als ihr lieb gewesen war. Er wusste, wenn ihre Hände nicht gefesselt wären, sie würde ihn töten oder es zumindest versuchen.

„Das ist bloß ein Trick. Ich versteh‘ nur nicht … wieso?“

Delilas Blick war immer noch wütend und aggressiv, aber in ihren Augen lag deutlich Leid und Schmerz. Außerdem war sie vollkommen erschöpft, was ihren geistigen Widerstand anging.

„Ihr habt doch schon alles, was ich je besessen habe. Was wollt ihr denn noch von mir? Ihr habt mich doch schon dazu gebracht, sogar IHN“ Sie deutete mit einem Nicken zu Ryon hinüber, der dem Gespräch offenbar doch halbherzig folgte, weil er auf Delilas nächste Worte hin wenigstens ein bisschen zusammen zuckte.

„-nieder zu stechen, obwohl ich ehemaligen Kampfgefährten niemals etwas antun könnte, wenn es nicht die Situation erfordert. Ihr verdammten Schweine reitet einfach auf meinen Gefühlen herum, dreht sie durch die Mangel und werft sie dann weg wie Dreck! Und dass ihr dann auch noch meine Gedanken und Handlungen kontrolliert, ist einfach nur noch Widerwärtig. Ihr seid alle total krank!“

Delila stand kurz davor, erneut auszurasten, doch das mordgierige Glitzern in ihren Augen wurde schließlich hinter ihren Händen vergraben, als ihr Leid sie erneut übermannte und sie am ganzen Körper bebend versuchte, ihre Tränen zu verstecken. Das hätte ihren Stolz nur noch stärker verletzt, als er es ohnehin schon war.

„Verdammt, ihr habt versprochen, dass ich ihn wieder bekomme, wenn ich Ryon verletze. Hätte ich ihn etwa auch noch töten sollen?“

Leise und brüchig war ihre Stimme zunächst kaum zu hören, bis sie erneut wütend hoch fuhr.

„Ich würde diesen Scheißkerl jetzt sogar mit Freuden umbringen, jetzt da ich weiß, dass er zu diesem ganzen Abschaum gehört!“

Ryons Stuhl fiel laut polternd zu Boden, als plötzlich wieder Leben in ihn kam und er aufsprang, um der Wölfin mit ebenso viel Aggressivität entgegen zu treten. Offenbar hatten seine Nerven einen kritischen Punkt erreicht.

Tennessey hätte sich spätestens jetzt am liebsten raus gehalten und den Kopf eingezogen. Zwei wütenden Gestaltwandlern sollte man sich nicht in den Weg stellen, aber er blieb trotzdem. Schließlich war das, was Delila sagte, ebenso aufschlussreich, wie die Dinge, die sie ihm nicht sagen wollte. Vielleicht verplapperte sie sich noch. Zumindest hoffte er das. Die Zeit lief ihnen langsam aber sicher davon. Das konnte schließlich nicht ewig so weiter gehen.

„Also hatten Sie gar nicht vor, ihn zu töten?“

Delilas Blick blieb auf Ryon geheftet, der bedrohlich aber schweigend da stand, wie kurz vor dem Sprung.

„Natürlich nicht. Selbst wenn ich es gewollt hätte, hätte ich es nicht gekonnt. Diese nette mentale Fessel hat mich dazu gezwungen, alles genau nach Befehl auszuführen. Aber damit müsstest DU dich doch bestens auskennen!“

„Das stimmt.“ Tennessey kannte sich tatsächlich damit aus, aber sicherlich nicht wegen dieser ganzen Boudicca-Affäre.

„Und wen sollten Sie wiederbekommen? Etwa … Kevin? Den Namen, den ich aus ihrem Gedächt-“

Ryon reagierte schneller, als Tennessey blinzeln konnte. Delila war wie eine Furie hoch gesprungen und wollte sich selbst in gefesseltem Zustand auf ihn stürzen, als sein Freund sie einfach in der Luft abfing und wieder auf die Pritsche beförderte, als koste es ihn noch nicht einmal die kleinste Anstrengung. Dabei sah er aber so aus, als würde er sich enorm beherrschen müssen. Seine ganze Haltung war verkrampft und angespannt. Man sah deutlich, dass er ihr am liebsten etwas getan hätte, wenn Delila ihm die richtigen Gründe dafür geben würde. Das leicht zerrissene Hemd und die paar Kratzer von ihren Fingernägeln auf seiner Brust reichten dazu offensichtlich noch nicht aus. Wie lange würde der Tiger sich noch zurückhalten können?

„Du verdammtes Arschloch, weißt ganz genau, von wem ich rede!“

Delila wehrte sich gegen Ryons Hände, die sie davon abhielten, sich erneut auf Tennessey stürzen zu können, aber ihr den Mund verbieten konnte keiner.

„Wo ist er? Was habt ihr mit ihm gemacht!? Ich schwöre euch, wenn ihr ihm etwas angetan habt, bring ich euch alle um‼“

Beinahe hockte Ryon schon auf der nackten Frau, die unter ihm wie eine Wilde tobte und herum schrie, als würde sie endgültig den Verstand verlieren.

Tennessey konnte das Bild kaum noch mit ansehen. Sein Freund tat ihr bestimmt nicht mit Absicht weh, doch sie wehrte sich so verbissen gegen ihn, dass sie durch seinen Griff schon blaue Flecke an den Handgelenken bekam und Ryon immer wieder etwas abbekam, wenn sie ihm durch die Finger schlüpfte.

„Verdammt noch mal, beruhig dich endlich, wir wollen dir nichts tun, sondern dir helfen!“

Ryons Tonfall war voller unterdrücktem Zorn, weshalb seine Worte der Wahrheit Lügen straften.

„Fick dich, Arschloch!“

Sie verpasste Ryon einen weiteren Schlag, der ihm die Wange blutig kratzte. Das Knurren des Tigers hallte laut und bedrohlich durch die kleine Hütte, doch was Tennessey eine Gänsehaut verursachte, schien die Frau nicht im Geringsten zu beeindrucken.

„Delila, Herrgott noch mal, denken Sie wenigstens an Ihr Baby!“

Wie als hätte der verbale Schlag sie getroffen, erschlaffte die Wölfin unter Ryons Griff und auch er zog sich betroffen zurück. Der Kampf war ebenso rasch vorbei, wie er gekommen war.

Verächtlich richtete sich Delila wieder auf und sah Tennessey an.

„Glaubst du wirklich, ich würde mich der falschen Illusion hingeben, dass es überleben wird? Wenn ihr mit uns allen fertig seid, werden wir sowieso sterben. Boudicca hat mir bereits versichert, dass meine Richter Dean und James sein werden. Darum geht es mir gar nicht. Aber sie soll verdammt noch mal ihr Versprechen einhalten, dass sie wenigstens unseren Sohn, am Leben lässt!“

Als hätten die letzten Worte alles Leben aus dem Raum gesaugt, wurde es gespenstig still. Selbst die Vögel draußen zwitscherten nicht mehr und der Wind, der ansonsten immer durch alle Ritzen gezogen hatte, schwieg ebenfalls.

Das Klingeln von Ryons Handy war daher so laut, als würde eine Bombe in ihrer Mitte einschlagen.

Tennessey wusste sofort, dass es nicht Paige sein konnte, denn Ryon hatte einen anderen Klingelton für sie eingestellt. Ein Grund, warum sein Freund vermutlich noch einmal mit Nachdruck Delila anstarrte, ehe er sein Handy hervor kramte und in Ruhe abhob.

Die darauf folgende Verwandlung würde Tennessey nie wieder aus dem Gedächtnis bekommen.

Von einer Sekunde auf die andere schien Ryon zugleich wie zu Stein zu erstarren, während er kreidebleich wurde und sich das Gold seiner Augen immer weiter zurück zog, bis sie pechschwarz waren und jegliches Leben aus ihnen gewichen war.

Zunächst atmete er gar nicht, doch dann wurden seine Atemzüge immer tiefer und schneller, während er noch immer ins Leere starrte und dem anderen Teilnehmer am Telefon zuhörte.

Als das Plastikgehäuse des Handys knackte, wusste Tennessey schon längst, dass etwas mit Paige passiert sein musste. Keinen Moment später zerbröselte es in Ryons Handfläche.

Das Telefongespräch war beendet.
 

Paige hustete sich die Lunge aus dem Leib, während sie gleichzeitig versuchte auch nur irgendwie zu Sauerstoff zu kommen. Die Geräusche hallten laut von Wänden wider, die sie im Dunkeln nicht erkennen konnte. Sie hatte keine Ahnung, wo sie war. Und dass sie eine Ahnung hatte, warum, machte es nicht besser.

Mühsam arbeitete sie sich auf Händen und Knien hoch und schaffte es sogar, sich auf ihre Fersen zu setzen.

Mit tiefen, brennenden Atemzügen versuchte sie ihre malträtierte Lunge zu beruhigen, die das aber nur als weiteren Angriff wertete.

Auch wenn sie kaum mehr als Schemen erkennen konnte, reichte es, um das Stück Plane, das noch um ihre Füße hing, voller Hass und Wut zur Seite zu strampeln. Am liebsten hätte sie das gesamte Ding, in das man sie gewickelt und in dem man sie im Kofferraum des Wagens beinahe hätte ersticken lassen, zum Schmelzen gebracht. Aber auch der Dämonin machte diese Behandlung zu schaffen. Mehr sogar als der menschlichen Frau, die nun panisch umher tastete, um etwas in die Hände zu bekommen, mit dem sie sich würde ansatzweise verteidigen können. Denn dass sie das musste, war Paige ebenso klar, wie die Tatsache, dass man ihr keine lange Ruhepause gönnen würde.
 

Ryons unermesslicher Zorn wusste nicht mehr wohin. Als ihn auch noch Panik, Angst und Sorge übermannten, war er außer Stande, richtig zu denken. Nur noch eines kam ihm immer wieder in den Sinn: Nicht noch einmal!

Die scharfkantigen Teile des zerbrochenen Handys gruben sich noch tiefer in das Fleisch seiner rechten Hand, die er so fest zu einer Faust ballte, dass die Fingerknöchel knackten. Seine Kiefer waren so hart aufeinander gepresst, dass selbst seine Zähne protestierten, doch das war nichts gegen den Schmerz in seiner Brust, der ihn bei jedem einzelnen seiner rasenden Herzschläge folterte und seine Lungen bei jedem seiner Atemzüge in Feuer badete.

Sie hatten Paige. Sie hatten seine Gefährtin. Dafür würden sie bezahlen…

Mit einer Handbewegung wischte Ryon den malträtierten Tisch zur Seite, bis er an der Wand endgültig zerschellte und kam mit einem Blick auf Delila zu gestürmt, der sogar Tennessey in seine Schranken wies.

Der Doc wusste offenbar ganz genau, würde er sich jetzt einmischen, könnte er selbst mit dem Leben dafür bezahlen. Ryon würde nicht eine Sekunde zögern. Also hielt er sich klugerweise zurück, während sein rasender Freund die verletzte Hand um Delilas zierlichen Hals legte und sie vom Bett hoch zerrte, um sie gegen die Wand zu nageln.

Dass die Wölfin nicht einmal mehr mit Furcht reagierte, obwohl sie kaum noch Luft bekam, sagte ihm, dass sie mit ihrem Ende bereits abgeschlossen hatte. Und das schon vor längerer Zeit.

Doch anstatt sie wütend anzuschreien, oder sie mit einem Hieb zu töten, wie man es anhand seiner wahnsinnigen Wut eigentlich erwartet hätte, lag nur Härte in seinen harschen Worten.

„Liebst du deine Gefährten, deinen Sohn und das ungeborene Kind in dir?!“

Delila hatte offenbar nicht damit gerechnet, so etwas zu hören und auch nicht, dass sich die Hand um ihren Hals etwas lockerte. Ihre Überraschung war ihr deutlich anzusehen. Trotzdem schwieg sie lange. Zu lange für Ryon, könnte man meinen, doch er blinzelte noch nicht einmal, sondern starrte sie weiter mit diesen furchteinflößend schwarzen Augen an, die sie bereits kannte.

„Ja, ich liebe sie alle.“, gestand Delila schließlich leise. Trotz ihres eisernen Stolzes brachen sich schließlich doch Tränen ihren Weg über ihre Wangen.

„Was würdest du tun, um auch nur einen Einzigen von ihnen zu retten?“

Ryon bohrte unbeirrt weiter und tiefer in der offenen Wunde.

Delilas Antwort kam unbeirrt schnell.

„Alles. Einfach alles.“

Unvermittelt ließ Ryon sie sanft auf die Füße zurück.

„Dann unterscheidet dich nichts von mir.“

Ryon ließ ihren Hals los und marschierte direkt auf die Tür zu, während er Tennessey fast von den Beinen fegte. Beim Hinausgehen rief er noch: „Lass sie gehen. Soll sie die Wahrheit doch selbst von den Lügen trennen.“

Tennessey starrte ihm verdattert hinterher, warf schließlich nur noch einen kurzen Blick auf die junge Frau, ehe er Ryon nachlief. Beim Wagen holte er seinen Freund wieder ein.

„Warte, Ryon. Wo willst du hin? Was ist überhaupt passiert?“

Ryon riss den Deckel des Kofferraums auf, wühlte einen Moment darin herum und förderte schließlich ein paar Anziehsachen von Paige ans Licht, die er Tennessey gegen die Brust drückte.

„Gib das Delila und danach rufst du Tyler an, damit er dich von hier wegschafft.“

Ryon förderte ein zweites Handy aus seiner Hosentasche, das er extra für Tennssey mitgenommen hatte, ohne auch nur eine von dessen Fragen zu beantworten. Danach stieg er ein und fuhr los, ohne auch nur einen letzten Blick in den Rückspiegel zu werfen.

Sein Freund war sicher, nun da sie Paige und somit ein sicheres Mittel hatten, um ihn zu Boudicca zu bringen.
 

Sie hatte Recht behalten. Kaum hatte sich ihr Körper in ihre schützende Hülle aus roten und schwarzen Schuppen zurück gezogen, hatte die andere Seite Maßnahmen ergriffen. Rosaroter Gestank quoll aus jeder erdenklichen Richtung auf sie ein, troff wie dicker Sirup von der Decke auf sie herab und legte sich überall auf Paiges Körper.

Es war so widerlich, dass sie wieder kaum atmen konnte.

Jetzt, da sie dieses Gestank-Desaster vor ihren dämonischen Augen wabern sehen konnte, wäre ihr die absolute Dunkelheit von vorhin lieber gewesen. Da hatte sie zumindest nicht da Gefühl gehabt, sich früher oder später in ein Stöckchen mit Zuckerwatte verwandeln zu müssen.

Die Kette, die mit einem breiten Ring um ihr Fußgelenk befestigt war, gab ein leises Geräusch von sich, als Paige zum wiederholten Male ihre Umgebung mit Schritten ausmaß. Sie schien in der Mitte eines kreisrunden Raums festgemacht zu sein, an dessen äußerem Rand nicht etwa Wände, sondern dicke Gitterstäbe angebracht waren.

Wenn sie ihre Hand nach oben streckte und das wenige Feuer, zu dem sie im Moment fähig war, an ihren Fingerkuppen aufglimmen ließ, konnte sie erkennen, dass sich die Stäbe irgendwo über ihrem Kopf zu einer Spitze zusammen fanden.

„Passt zu dir, du -“

Als sie sprach, quoll sofort eklig süßer Belag auf ihre Zunge und brachte sie zum Husten und Würgen. Gezwungener Maßen zog sie sich von dort, wo der rosa Dunst am dicksten war in die Mitte ihres Gefängnisses zurück und sah verächtlich auf das Möbel, das man dort aufgestellt hatte.

Ein lila Samtsofa mit goldenen Mustern war das Sahnehäubchen auf der Niedertracht, die der Magier sich für Paige ausgedacht hatte.

Wie eine Trophäe für den Stinkstiefel saß sie in einem goldenen Käfig.

„Hast du nicht mehr drauf?! Stink hier nicht rum, sondern zeig dich, damit ich dir den Arsch abfackeln kann!“

Nur ihre eigene laute und wütende Stimme wurde von den Wänden zurück geworfen. Ansonsten erhielt sie keine Antwort. Nicht einmal die Geruchswölkchen wurden dichter.

Außer sich vor Wut riss Paige eines der gold gesäumten Kissen vom Sofa, griff es an zwei der mit Fransen verzierten Ecken und wedelte damit in der von Gestank geschwängerten Luft herum. Es half wenig, aber sie konnte zumindest eine Lücke in dem Pink erkennen, das sie umgab.

„Wieso...?“

Mit fragend zusammen gezogenen Augenbrauen kam Paige das erste Mal, seit sie hier war der Gedanke, warum sie in diesem wabernden Meer aus Manipulation überhaupt noch denken konnte. Hätte sie nicht längst ... aufgeben müssen?

Als sie langsam die Hand hob, bis sie sich im Stockdunkeln vor ihren Augen befand, konnte sie es sehen. Den Grund dafür, dass sie noch Zeit hatte. Zeit, hier heraus zu kommen. Und die Macht zum Widerstand.

Vor ihr sah sie ihren Arm, ihre Hand und konnte ihre Finger erkennen. Alles an ihr war von einem leichten, zurückhaltenden Farbton überzogen, der vor dem rosa Hintergrund des Gestanks angenehm zart orange leuchtete.

Paige lächelte.

„Ich liebe dich...“

66. Kapitel

Ryons Verstand überschlug sich, weil er nicht genau wusste, wo er anfangen sollte. Sollte er die Adresse auskundschaften, die sie bei der Zurückverfolgung der Telefonnummer auf den Steckbriefen herausgefunden hatten? Sollte er zu Sally fahren und sie nach allen Einzelheiten ausquetschen? Aber selbst wenn, die gute Hexe würde sicherlich noch immer nicht den Aufenthaltsort von Boudiccas Versteck wissen. Also blieb nur die erste Möglichkeit, so wage sie auch war.

Beinahe hätte er Delila überfahren, die plötzlich Mitten auf der Waldstraße stand und sich nicht von der Stelle rührte. Nach ihrem gehetzten Atem zu urteilen, musste sie gerannt sein, um ihn jetzt noch einzuholen, was nicht schwer gewesen sein dürfte, wenn sie einfach querfeldein gelaufen war.

Ryon bremste erst im letzten Moment ab, nicht sicher, ob er sie nicht doch einfach überfahren hätte sollen. Seine Wut hätte es ihm auf jeden Fall gestattet. Sein rationaler Verstand jedoch nicht.

Ohne zu fragen, ging sie um das Auto herum und stieg auf der Beifahrerseite ein.

Paiges Klamotten an ihrem Leib zu sehen, war für ihn fast unerträglich, also fuhr er wieder weiter, ohne den Blick von der Straße zu nehmen.

„Wie hast du das vorhin gemeint, dass ich mich nicht mehr von dir unterscheide?“

Delila starrte ebenfalls gerade aus, während sie den Haltegriff an der Tür fest umklammert hielt und sich trotz ihrer Kühnheit von gerade eben, so weit von ihm entfernt hielt, wie es ihr in dem beengenden Raum nur möglich war.

Ryon biss die Zähne zusammen. Er wollte nicht darüber reden, da es zu sehr weh tat und Mann und Tier nur noch mehr aufbrachte, als ohnehin schon. Trotzdem…

„Ich habe schon einmal eine Gefährtin und ein Kind an den Tod verloren. Boudicca ist gerade dabei, mir beides noch einmal zu nehmen und wenn du auch nur noch einen Funken von Verstand besitzt, dann wirst du wissen, dass ich die Wahrheit sage.“

Dass er sich in diesem Moment eingestand, Paige zusätzlich mit einem Kind zu verbinden, das in einer möglichen Zukunft lag, war sich Ryon nicht bewusst. Er wusste nur, dass er dabei war, erneut alles zu verlieren und dass er nur hoffen konnte, Delila hätte endlich ein Einsehen, was die Wahrheit anging.

Sie schwieg so lange, dass sie schon auf halber Strecke in die Stadt waren, bis sie endlich wieder den Mund aufmachte.

„Bieg‘ dort links ab und dann immer gerade aus. Wenn du genauso fühlst wie ich, bringe ich dich direkt in die Hölle und du wirst keine Sekunde zögern.“

Daran hatte Ryon keinen Zweifel, als er Delilas Anweisungen schweigend folgte, ohne über die Folgen nachzudenken.
 

Zuerst war sie nicht sicher, ob es bloß die Kopfschmerzen waren. Sie hatten sich leise angeschlichen, zuerst mit Druck auf die Schläfen und einem leichten Ziehen in ihrem Nacken, dann mit immer schlimmer werdenden Stichen direkt unter der Schädeldecke. Als hätte sich dieser klebrige Geruch in ihrem Hirn gesammelt, hatte Paige nun jede Sekunde das Gefühl, sich vor Ekel übergeben zu müssen. Alles waberte, troff, überzog sich wie mit rosa farbenem Schleim und schien ihr keinen Ausweg zu lassen. Sie fühlte sich wie eine Fliege, die ihren Tod klebend an einem süßlichen Fliegenfänger finden würde.

Alles schien sich seit einigen Minuten um die eigene Achse zu drehen und das Gefühl von Seekrankheit noch zu verstärken. Nur dass Paige den Horizont nicht sehen konnte, um zumindest ihren Blick daran festzuhalten.

Das Einzige, woran sie sich halten konnte, war das leicht orange Glimmen, das sich gegen den Gestank von außen an ihr zu behaupten versuchte. Doch es ließ nach. Paige hatte mit Entsetzen festgestellt, dass sie ihre Fingerspitzen kaum noch in diesem Ton sehen konnte. Wie ein verschrecktes Tier, zog sich die Farbe an ihr weiter zurück.

Ein Grund, warum sie bei dem aufkommenden Geräusch in ihrer Nähe nicht dem Instinkt nachgab und sich vollkommen in Flammen hüllte, war die Tatsache, dass die Mischung aus Ryons und ihrem eigenen Geruch vor allem in ihren Kleidern hing.

Es waren Schritte, die sie gehört hatte. Nur sehr leise und in einiger Entfernung, doch sie kamen näher. Es konnten weder normale Schuhe, noch Stiefel sein, sonst hätte der umgebende Stein sie stärker zurück geworfen. Aber gerade weil es weiche Sohlen waren, konnte Paige kaum orten, von woher man auf den Käfig und sie zuging.

Immer wieder wirbelte die Geruchswand um sie herum auf, als sie sich schnell umdrehte, gehetzt atmete sie die klebrigen Duftstoffe ein, wenn sie das Gefühl bekam, jemand würde in ihrem Rücken auftauchen. Ihr war schwindelig und übel und doch wagte Paige es nicht, sich des Scheins ihres Feuers zu bedienen. Diese Kräfte würde sie noch brauchen. Sie musste sich schonen.

'Komm nur näher...'

In ihrem Inneren schrie sie erschrocken auf, als sein Gesicht plötzlich aus den wirbelnden pinken Gerüchen auftauchte. Er schien für eine Sekunde frei zu schweben, bis sich auch der Rest des Körpers in Paiges Sichtfeld schälte und sie einen langen, goldenen Dolch in seiner Hand erkennen konnte.

Nun übernahm die Dämonin das Handeln und auch entgegen ihres guten Wissens, flammten Paiges Hände auf.

Das Feuer tauchte die braune Haut des Magiers in warmes Licht und brachten das Metall in seiner Hand zum Schimmern. Als er den Mund öffnete, hätte Paige am liebsten den Kopf vor dieser verhassten Stimme eingezogen.

Er konnte nur froh sein, dass die goldenen Stäbe, die zwischen ihnen lagen, ihn schützten.

„Fe-lein... Du bist immer noch schön...“

„Und du immer noch zum Kotzen. Glaubst du dein Messerchen erschreckt mich? Komm doch hier rein, wenn du dich traust.“

Das Lächeln auf seinem Gesicht wurde schmal und grausam.

„So widerspenstig... Naja, wir werden sehen, wie lange noch...“

Der Dunst wurde noch einmal dichter, als er darin verschwand. Paige konnte ihn nun fast wie tastende, krabbelnde Finger auf ihrer Haut fühlen.

„Du Scheißkerl!!! Komm zurück und ich zeig dir, was widerspenstig ist!!“
 

„Das ist es also?“

Ryon sah skeptisch auf den modernen Glasbau, der mitten in der Stadt fast schon in der Erscheinung störte und auf jeden Fall hervor stach. Von Unauffälligkeit konnte nicht die Rede sein, aber gerade deshalb würde man nie vermuten, dass hier keine reiche Firma, sondern eine Hexe und ihr Gefolge tätig waren.

Er konnte es nicht glauben, aber Delilas Blick, in dem sich sowohl Angst, Abscheu und Sehnsucht spiegelte, war Antwort genug.

„Mehr kann ich nicht für dich tun.“

Oder sie wollte es nicht. Das ließ ihr Tonfall offen. Sie vertraute ihm immer noch nicht, aber das hätte ihn auch gewundert.

„Eine Sache gebe es da noch…“

Ryon riss sich von dem Anblick des Gebäudes los und sah stattdessen die Wölfin an. In Delilas Gesicht lag fast schon so etwas wie Resignation, offenbar wollte sie sich bereits wieder mit ihrem Schicksal abfinden. Wie viel es brauchte, um so etwas bei einem Gestaltwandler zu verursachen, dessen Gefährten man entrissen hatte, wusste nur Gott. Wenn Ryon eines wusste, dann dass er es niemals so weit kommen lassen würde. Paige würde er niemals aufgeben!

„Ich habe einen Plan. Vielleicht könnte er auch dir nützlich sein.“

Delila schnaubte leise, als könne sie es nicht glauben, sie sah ihn trotzdem an. Wartend.

„Was für ein Plan?“
 

Mit aller Gewalt versuchte er sich ein Gähnen zu unterdrücken. Er hätte gestern nicht mehr mit seinen Kumpels um die Häuser ziehen sollen, dann würde er jetzt vielleicht nicht mit der Langeweile und vor allem der Müdigkeit kämpfen.

Phil, sein Kollege, stieß ihm schon wieder den Ellenbogen in die Rippen, um ihn aufzuwecken.

„Soll ich dir einen Kaffee mitbringen oder wäre es besser, wenn gleich du gehst?“

Er schüttelte den Kopf.

„Schon okay. Ich geh‘ schon. Halt du hier die Stellung.“

„Besser, als du auf jeden Fall.“

„Ha Ha.“

Er überprüfte routinemäßig noch einmal, ob seine Pistolen auch an der richtigen Stelle unter dem Angestelltenanzug saßen, ehe er den Empfangstresen verließ und in Richtung Pausenraum aufbrach, während Phil die Monitore beobachtete, oder wohl eher das Fußballspiel auf dem kleinen Minifernseher.

Als er mit zwei dampfenden Bechern zurück kam, warf er nur gewohnheitsmäßig einen Blick auf die gläsernen Eingangstüren, durch die ohnehin kaum jemand anderes, als ihre eigenen Leute kamen. Höchstens einmal eine Mutter mit Kind, um das WC zu benützen, aber das war’s dann auch schon an Aufregung.

Als sein Blick dieses Mal zwei Gestalten streifte, die sich gerade mit der wieder selbst schließenden Flügeltür abmühten, verbrühte er sich an den Kaffeebechern die Finger.

Die süße Wolfsschnecke war zurück und offenbar auch noch mit ihrem Auftrag.

Mit einem Schlag war er hell wach, ließ die Kaffeebecher fallen und zog seine Pistole. Er hatte den riesigen Kerl auf den Steckbriefen sofort wieder erkannt, auch wenn er halb bewusstlos über der zarten Schulter der Frau hing; seine Klamotten zerrissen, der Oberkörper von blutigen Kratzern übersät, den Kopf schlapp gen Boden hängen lassend und mit den Händen auf den Rücken gebunden, so dass er mit seiner blutenden Wunde an der Seite den schönen auf hochglanz polierten Marmorfußboden einsaute.

Phil war ebenfalls von seinem Stuhl aufgesprungen und um den Tresen herum gerannt. Die Waffe im Anschlag auf die Beiden gerichtet.

Mit einem mühsamen Stöhnen ließ die Wolfsbraut den Gefangen auf den Boden fallen.

„Könnte mir einer von euch Lahmärschen mal vielleicht helfen? Der Kerl wieg glatt eine halbe Tonne!“

„Sag bloß, ne süße Puppe wie du, hat den Kerl gefangen? Hätte ich dir gar nicht zugetraut.“

Phil gab ihm mit einem Blick zu verstehen, dass er ihm Feuerschutz geben sollte, während er seine Waffe wieder einsteckte und auf den riesigen Kerl zu ging, der sich nicht rührte.

„Schnauze. Was kann ich dafür, wenn Typen wie ihr zwei, nichts auf dem Kasten haben. Macht euch gefälligst nützlich und schleppt ihn zu ihr.“

Es juckte ihn im Finger, die Tussi einfach abzuknallen, aber dann wäre er nicht nur seinen Job sondern auch noch sein Leben los. Nein danke, das war sie nicht wert.
 

Sie lag auf dem Boden, zusammen gerollt mit einem kleinen Bündel ihrer eigenen Kleidung in den Armen. Mit jedem ihrer Atemzüge schien nicht nur das kleine, orange Leuchten, sondern auch ein Stück Hoffnung zu schwinden.

Paiges Gedanken waren inzwischen so zähflüssig, wie die verdichtete, rosa-pinke Masse um sie herum. Der Ekel davor hatte immer noch die Oberhand, aber genau deshalb war sie in den Stunden, die sie nun hier liegen musste, auf die Frage gekommen, was mit ihr passieren würde.

Leider erinnerte sie sich noch sehr gut daran, was der Magier bei ihrer letzten Begegnung mit ihr im Sinn gehabt hatte. Dass sich das nicht geändert haben konnte, war ebenso klar. Aber ... war sie nur deswegen hier?

Paiges Herz pochte ängstlich mit ihrem schmerzenden Kopf um die Wette. Natürlich war das nicht der einzige Grund. Boudicca. Sie musste ganz nah sein. Und wenn sie wusste, dass Paige Ryons Gefährtin war...

Ihre Arme schlossen sich enger um das Kleiderbündel und Paige vergrub verzweifelt ihre Nase darin, während sie versuchte keine Bilder in ihrem Verstand hochkommen zu lassen. „Ich will nicht, dass man dir was antut...“

Er würde kommen, um sie zu befreien. Das war so sicher, wie jeder Morgen, der auf eine Nacht folgte. Doch was würde passieren, wenn Ryon es bis hierher schaffte? Wäre Paiges Gehirn dann bereits Matsch? Würde man mit ihr so verfahren, wie mit Delila?

Die Wölfin hatte sehr lange und gegen alle möglichen und unmöglichen Versuche durchgehalten, sie zu manipulieren. Sie war sich selbst nie vollständig untreu geworden. Und wenn sie das schaffte...

Paige schloss die Augen und versuchte ruhig zu atmen. In der Dunkelheit, die sie umgab konnte sie nichts hören. Es war erschreckend still.

Als sie ihre Augen wieder öffnete, fanden sie das orangene Glimmen nicht mehr. Wie ein winziges Stückchen Glut war es verloschen. Paige hob den Kopf und konnte stattdessen etwas Anderes sehen. Das Rosa schloss sich wie ein unaufhaltsamer Wirbel um sie.
 

Eines musste man Delila lassen. Wenn es um einen guten Plan ging, war sie außer ordentlich gründlich. Vielleicht war sie das ohnehin, aber wie sollte Ryon das schon wissen. Er kannte sie schließlich kaum. Auf jeden Fall tat ihm dank ihr wieder alles weh und er sah bestimmt so aus, wie er sich fühlte. Es war einfach perfekt.

Selbst den letzten Schlag, der ihn halb bewusstlos schlagen sollte, hatte sie ohne zu zögern und mit einer Präzession ausgeführt, die man nur beneiden konnte. So musste er nicht den hilflos ausgelieferten Gestaltwandler spielen, den man in einen Aufzug schleifte, um dann mehrere Stockwerke nach oben zu fahren.

Er war ausgeliefert. Ganz und gar. Seine Hände waren gründlich auf seinem Rücken gefesselt, seine Beine fühlten sich wie Wackelpudding an und sein Schädel dröhnte so stark, dass er sich am liebsten eine ganze Ladung Aspirin hinunter gekippt hätte. Doch genau so sollte es sein, also beschwerte er sich nicht, sondern hielt still, ließ mit sich machen, was seine Feinde wollten, während er sich darauf konzentrierte, wieder schnell zu klarem Verstand und zu Kräften zu kommen.

Die würde er brauchen, wenn man ihn zu ihr – Boudicca – bringen würde. Woran er keine Zweifel hegte. Delila spielte ihre Rolle perfekt und selbst wenn sie es nicht tat und ihn wirklich herein gelegt hatte, sie war ihm trotzdem nützlich. Sonst wäre er nicht hier.

Paige… Ich komme…

Ryon versteifte sich bei dem Gedanken an sie und was man ihr alles angetan haben könnte, während er sich hier Zeit ließ. Doch um nicht zu sehr Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, stöhnte er leise vor Schmerz und ließ sich noch schwerer auf die Arme der beiden Typen fallen, die ihn halbwegs aufrecht hielten.

„Hast dir ja lange Zeit mit ihm gelassen, Süße. Warum das? Ist dir was ‚dazwischen‘ gekommen?“

Beide Männer lachten bei dem anzüglichen Tonfall, aber anhand ihres Geruchs ließ sich leicht erkennen, dass das nur Unsicherheit und Anspannung war.

Delila konnte es ebenfalls riechen, weshalb sie nicht weiter darauf einging, sondern stattdessen einfach schwieg.

Diese Typen waren echt das Letzte und an Delilas wütendem Geruch konnte man die unausgesprochene Drohung erkennen, die über den beiden Idioten lag. Sollte sich eine Gelegenheit bieten, so würden die beiden sicher als erstes dran glauben müssen.

Das erlösende Klingeln des Aufzugs und das sanfte Geräusch der auseinandergleitenden Fahrstuhltüren kamen gerade rechtzeitig, bevor Delila die Hand auskommen konnte.

Doch zugleich bedeutete es, Ryon kam ihrem wahren Feind unangenehm Nahe. Angst breitete sich in ihm aus, die so tief saß, wie diese Sache schon dauerte, doch zugleich konnte es ihm gar nicht schnell genug gehen. Jede Sekunde zählte, in der Paige etwas Schreckliches passieren konnte oder man ihr bereits etwas antat. Vielleicht war sie aber auch schon…

Nein!

„Hey, halt‘ ihn bloß fest. Er wird langsam wieder lebhaft.“

„Wie wär’s, wenn wir ihm noch einen Schlag verpassen? Nur um sicher zu gehen?“

„Wenn ihr zwei Hohlköpfe riskieren wollt, dass Boudicca noch eine Stunde länger warten muss, bis sie mit dem Gefangenen reden kann, nur zu. Ich halte euch nicht auf.“

Delilas Tonfall war schnippisch und voller Verachtung, aber er hielt die beiden Idioten zuverlässig davon ab, Ryon einen weiteren Schlag zu verpassen, der ihn vielleicht ganz ausgenockt hätte.

Schweigend schleiften sie ihn aus der Kabine, Delila mit ungebrochenem Selbstbewusstsein voran, durch einen edel ausgestatteten Flur mit weichem Teppichboden, Kunstobjekten und mehreren Türen.

Hier stank es überall unangenehm süßlich und zugleich nach Kräutern und Mixturen. Sie mussten ganz nahe an der Höhle des Löwens sein.
 

„Hi!“

Das Mädchen saß auf dem lila Sofa und lächelte. Sie mochte Anfang zwanzig sein, aber in ihrem gelben Sommerkleid, mit den Schleifen im rotblonden Haar, sah sie aus wie ein kleines, fröhliches Mädchen.

„Hallo.“

Es war seltsam, dass sie hier auf dem Boden lag. In einem Raum, der vollkommen leer war, bis auf die Couch, auf der das Mädchen saß und einem kleinen Häufchen Kleider neben ihr, die irgendwie...

„Ich hab dir was zum Anziehen mitgebracht.“

Ihr Gegenüber hatte sich vorgebeugt und hielt ein zusammen gefaltetes Kleidungsstück in Grün in den Händen. Als sie es weiter nach vorn streckte, glitzerten goldene Ornamente darauf.

„Es... Es ist fast durchsichtig...“

Als das blonde Mädchen aufsprang, erfüllte ihr glockenklares Kichern den ganzen Raum.

„Aber besser als das, was du jetzt trägst. Außerdem ist es dort, wo wir hingehen, schön warm.“

Sie hielt ihr die Hand hin, um ihr aufzuhelfen und kaum dass sie auf ihren Füßen stand, musste sie dem Mädchen Recht geben. Es wäre besser, als vollkommen nackt dorthin zu gehen.

„Wie heißt du denn?“

Die blauen Augen des Mädchens sahen sie freundlich und neugierig an. Mit einem kleinen Glitzern, das auch sie lächeln ließ. Obwohl die Frage sie etwas verstörte.

„Ich... Ich weiß es nicht.“

Eigentlich wusste sie gar nicht so genau, wer sie war und wie sie hierher gekommen war. Oder warum sie komisch rote Haut hatte, die sich mit dem Rosa biss, das überall zu sein schien und um ihre bloßen Füße waberte.

„Ach, das macht nichts. Er wird dir einen geben.“

Sie sah das Mädchen fragend an, doch es antwortete nur mit einer auffordernden Handbewegung.

„Los, zieh dich an. Dann können wir los. Du hast bestimmt auch Hunger.“

Langsam nickte sie und nahm den weichen, fließenden Stoff entgegen. Es war eine halb durchsichtige Tunika, die eine ihrer Schultern frei ließ und auch sonst nicht wirklich viel verdeckte, obwohl sie ihr bis über die Knöchel reichte.

„Sieht super aus! Na komm'.“

Als das Mädchen ihre Hand nahm und begeistert loseilte, musste auch sie lächeln. Ob es schön dort war, wo sie hingingen?
 

Ryon wurde mit dem Gesicht nach unten auf einen glattpolierten Holzboden gestoßen, der nicht nur eine seltsam gefleckte dunkle Farbe aufwies, sondern auch sehr merkwürdig roch. Es war eine Mischung aus Holz, Ölpolitur, Kräutern, Kreide, Asche und … Blut.

Der Gestank drehte ihm beinahe den Magen um, weshalb er sich mühselig etwas aufrichtete, um wenigstens nicht mehr direkt die Nase darauf zu haben. Doch sofort trat ihm ein fester Schuh ins Genick und drückte sein Gesicht wieder nach unten.

„Halt gefälligst den Kopf unten und erweise Respekt vor unserer Herrin!“

Der Tiger in ihm brüllte vor Wut, doch Ryon konnte das aggressive Knurren unter drücken. Seine Hände rissen unbemerkt an seinen Fesseln, um wieder ein Gefühl hinein zu bekommen, doch sie rührten sich keinen Millimeter.

Da er nichts sehen konnte, außer dem Zeugen vergangener Bluttaten, versuchte er mit seinen restlichen Sinnen, den großzügigen Raum zu erkunden, in den man ihn gebracht hatte.

Es roch nach Kerzenwachs, den beiden Männern, die ihn her gebracht hatten und nach Delila, die nun sonderbar still geworden war, während ihr Geruch so viele Facetten angenommen hatte, dass man die einzelnen Emotionen kaum noch heraus filtern konnte.

Woran mit Sicherheit die beiden Werwölfe schuld waren, die er ebenfalls witterte.

Der Geruch einer menschlichen Frau ging da fast unter, wenn er nicht so scharf und stechend gewesen wäre, wie es nun einmal Hochmut und Arroganz an sich hatten.

Boudicca…

Sie musste es sein. Da es ihm die Nackenhaare schier zu Berge stehen ließ und sein Herz heftig raste. Ryon hatte keine Zweifel daran.

Zusätzlich zu den schweren Düften der Gegenstände im Raum und der Anwesenden hing noch etwas anderes in der Luft. Etwas, das er nicht benennen konnte, da er es nicht wirklich mit der Nase wahrnahm, sondern eher nur ein niederdrückendes Gefühl war. Etwas, das ihn irgendwie … abstieß und aufforderte, sofort das Weite zu suchen und doch schien es ihn zugleich anzuziehen, wie etwas Vertrautes.

Es verwirrte ihn total.

„Geht wieder auf euren Posten. Ich kann euch hier nicht gebrauchen.“

Ryon wurde los gelassen und auch der Druck in seinem Nacken verschwand.

„Nein. Delila, du bleibst. Du bist mir eine Erklärung schuldig, wieso das solange gedauert hat.“

Die Stimme – Boudiccas Stimme – war sonderbar normal und doch so Befehlsbeton, dass man sich dem kaum wiedersetzen konnte. Zumindest nicht, wenn man unter ihrer Fuchtel stand, was die meisten der Anwesenden offensichtlich taten, denn keiner protestierte.

Als die Tür sich hinter den beiden Männern wieder geschlossen hatte, richtete Ryon sich mit einem Ruck auf. Er wollte dem Teufel in die Augen sehen, wenn er ihm schon gegenüber stand und wissen, wessen Kehle er zerfetzen würde, sobald sich die Gelegenheit dazu bot.

Allerdings kam er nicht so weit, sondern blieb wie angewurzelt an dem Amulett auf Boudiccas Brust hängen. Das verstörende Gefühl ging nicht etwa von dieser Hexe aus, sondern von dem Schmuckstück. Es war…

„Ah, wie ich sehe, erkennst du es. Gut.“

Boudiccas Tonfall war schmeichelnd und schnurrend, ganz und gar anders, als der zuvor und zugleich riss er Ryon aus seiner Erstarrung. Stattdessen musterte er die Frau nun als Ganzes.

Sie hatte es sich in einer Chaiselongue aus rotem Samt gemütlich gemacht. Ihr langes Kleid, das fast an eine Robe erinnerte, dabei aber doch zu eng dafür an ihre dünne Gestalt geschmiegt war, verstärkte den düsteren Eindruck, den die blasse Frau ohnehin aus jeder Pore ausstrahlte. Ihr dunkles Haar war zu einem komplizierten Gebilde an dem Hinterkopf hochgesteckt und obwohl Ryon sein ganzes Vermögen darauf verwettet hätte, sie wäre nichts weiter als eine hässliche Kröte, konnte er es doch nicht sagen. Sie war … in ihrer finsteren Art, schön und trotzdem genauso herzerwärmend wie eine Eiskulptur.

Ein Mann hätte sich liebend gerne neben einem toten Fisch gelegt, ehe er auch nur sie angefasst hätte. Zumindest ein Mann, der noch bei klarem Verstand war, denn dicht an sie geschmiegt, lagen die beiden Werwölfe, die sich aufs Haar glichen und Ryon keine Sekunde lang aus den Augen ließen.

Nicht nur anhand ihrer furchteinflößenden Größe, sondern auch an ihrem Verhalten konnte man auf den ersten Blick erkennen, dass das hier keine Hunde und auch keine normalen Wölfe waren. Dazu waren sie zu still und mit viel zu menschlichen Augen, die alles genau beobachteten.

Und doch waren sie nichts weiter mehr, als Boudiccas Schoßhündchen. Ryon konnte Delilas Schmerz verstehen. Es war absolut erniedrigend.

„Um das Amulett zu bekommen, wirst du mich töten müssen.“

Eine Feststellung, nichts weiter.
 

Sie waren nur um zwei oder drei Ecken gerannt, als sie vor einer großen Holztür stehen blieben, hinter der gedämpft Musik zu hören war.

„Du darfst nicht gucken, ok? Es ist eine Überraschung. Und ich bin sicher, dass es dir gefallen wird.“

Inzwischen hatte sich das Mädchen vorgestellt. Sie hieß Zimt. Das war ein schöner Name und passte zu ihrem Haar. Sie sagte, dass ihr Beschützer sie so genannt hatte. Früher wäre sie genauso ohne Namen gewesen, wie alle anderen, die der Beschützer aufgenommen hatte. Ob sie auch so einen schönen Namen bekommen würde?

Ein wenig Aufregung flatterte in ihrem Bauch und sie fasste Zimts Hand fester.

„Keine Sorge. Alle werden nett zu dir sein. Versprochen.“

Zimt zwinkerte mit einem Lächeln und drückte ihre Hand, bevor sie ihr mit dem Zeigefinger einmal an die Nase stupste.

„Augen zu. Ich sag dir, wann du sie wieder aufmachen kannst.“

Obwohl sie von einer Sekunde zur anderen immer aufgeregter und nervöser wurde, gehorchte sie mit einem leisen: „Okay.“

Sie ließ Zimt's Hand nicht los, schloss aber ihre Augen, so wie sie es gesagt hatte. Nachdem sich Zimt versichert hatte, dass sie nicht spitzelte, hörte man die große Tür aufgehen. Musik quoll lockend und erfrischend zugleich heraus und schien die beiden Frauen einzuhüllen.

Zimt zog sie ein Stück mit sich. Vorsichtig und langsam, damit sie auf dem manchmal ein wenig holprigen Boden nicht stolperte. Vermutlich waren sie über die Schwelle getreten, als sich Zimts Arme um ihre Schultern legten und sie das Kinn des Mädchens auf ihrer Schulter spürte. An ihrem Ohr hörte sie die leisen und dennoch freudigen Worte.

„Jetzt darfst du gucken.“

Um von dem bunten Licht nicht geblendet zu werden, musste sie ihre Augen mit der Hand abschirmen. Hier war es so viel heller, als in dem Raum mit dem Sofa. Aber auch so viel ... gemütlicher.

Ihr blieb für eine Weile der Mund offen stehen und sie sah sich staunend um, während Zimt sie noch weiter in den großen Raum hinein schob. Das Auffälligste neben den kunterbunten, leuchtenden Bonbonfarben überall, war der riesige Brunnen in der Mitte des Saals. Er hatte drei Ebenen, reichte über eines der beiden Stockwerke des Raumes und sein sprudelndes Wasser verströmte noch mehr der rosa wattigen Wölkchen, die hier überall gegenwärtig waren.

Die Wände strahlten in jeweils einer anderen Farbe: Blau, Gelb, Lila... Immer in leichtem Pastell, das den Eindruck der anderen Farbtöne nur noch unterstützte. Überall lagen dicke, weiche Kissen herum, auf denen man sitzen oder sich sogar hinlegen konnte. Die Musik kam aus Lautsprechern, die wie Süßigkeiten geformt waren und überall gab es kleine Tischchen, auf denen Leckereien drapiert lagen.

Doch was sie wirklich faszinierte, waren die vielen ... Personen. Hauptsächlich waren es Frauen, die zusammen saßen, sich unterhielten, miteinander tanzten oder allein irgendwo saßen oder schliefen. Ein paar hatten sich ganz in der Nähe um einen der wenigen Männer versammelt und kicherten, als dieser offensichtlich einen Witz erzählte. Ein zweiter Mann, näher am Brunnen zeigte immer abwechselnd auf zwei Mädchen und als sein Finger stoppte, kicherte die Gewählte, bevor sie den Arm des Mannes ergriff und die beiden zusammen hinter einem glitzernden Perlenvorhang verschwanden.

„Wo gehen sie hin?“

Zimt winkte gerade ein paar anderen Mädchen, die alle ein bisschen aussahen wie Alice im Wunderland. Mit langen blonden Haaren, kurzen Kleidchen mit einer weißen Schürze und Ringelstrümpfen.

„Hm? Oh, das erzähl ich dir später. Der Beschützer hat sowieso allen gesagt, dass nur er dich mitnehmen darf. Wahrscheinlich weil du neu bist.“

Das verstand sie nicht ganz. Aber gerade kam ein Pärchen aus einer Öffnung mit einem Perlenvorhang und lehnte sich an die gelb und blau geringelte Brüstung auf der oberen Empore. Sie sahen beide recht zufrieden aus und der Mann machte irgendein Zeichen mit den Fingern, das einen anderen unten neben dem Brunnen zum Lachen brachte. Hinter den Perlenvorhängen musste also etwas Gutes passieren.

Sie gingen weiter und Zimt zeigte ihr besonders schöne Eckchen, mit den flauschigsten Kissen, den leckersten Törtchen und anderen Dingen. Bald hätte sie sich von all diesen Eindrücken vielleicht überfordert gefühlt, als Zimt auf einmal ihre Hand losließ. Stattdessen legten sich zwei Hände auf ihre Wangen und ein Mann trat auf sie zu. Er trug ziemlich viel Schmuck und dem Ausdruck in Zimts Gesicht nach, musste er sehr nett sein. Zimt sah aus, als hätte man ihr gerade ein Geschenk gemacht.

„Hallo... Schön, dass du doch noch hierher gekommen bist.“

Doch noch?

„Ich verstehe nicht, ich-“

„Ist schon gut.“

Der Mann lächelte ein sehr breites Lächeln und ließ seine Hände zu ihren Schultern wandern. Er trat einen Schritt zurück und sah sie sich genau an.

„Du siehst ... wunderschön aus. Das Gewand steht dir sehr.“

Sie neigte leicht den Kopf und bedankte sich.

„Bist du ... der Beschützer?“

Von seinem Lachen war sie überrascht. Auch Zimt kicherte neben ihr. Genauso wie ein paar andere Frauen, die neben ihnen standen. Es war ein wenig verunsichernd.

„Habe ich etwas Falsches gesagt?“

Hilfesuchend sah sie Zimt an und dann den Mann, der ihr immer noch gegenüberstand. Keine Sekunde später zog er sie an sich, schlang seine Arme um sie und streichelte ihr Haar. Sie konnte hören, wie er an ihrem Hals schnupperte.

„Aber nein, meine Fairy. Du hast nichts Falsches gesagt. Ganz im Gegenteil.“
 

„Tapfere Worte für jemanden, dem sein eigenes Leben egal ist. Und glaube mir, sollte mir am Ende nichts anderes übrig bleiben, werde ich diese Möglichkeit in Betracht ziehen. Aber bis es soweit ist, schlage ich vor, dass du mir das Denken überlässt. Ich verlöre nur ungern einen so prächtigen Kämpfer an meiner Seite.“

Ryons Blick verfinsterte sich noch weiter, da er sich die Doppeldeutigkeit von Boudiccas Worten durchaus bewusst war. Aber soweit würde er es nicht kommen lassen.

„Nur in deinen Träumen, Miststück!“

Boudiccas Miene blieb unberührt, trotz der Beleidigung, die er ihr an den Kopf geworfen hatte. Stattdessen musterte sie ihn gründlich mit leicht schräg gelegtem Kopf.

„Delila. Bring mir den Anhänger auf seiner Brust.“

Die junge Frau neben ihm zuckte leicht unter dem Befehl zusammen, der sich plötzlich auf sie richtete und trotzdem zögerte sie keine Sekunde, ihm nachzukommen.

Furchtlos, was an mehreren Gründen liegen mochte, trat sie dicht neben Ryon und berührte sein Schmuckstück.

Wäre er nicht darauf vorbereitet gewesen, er hätte aus reinem Reflex nach der Hand geschnappt, die ihm das Amulett wegnehmen wollte, doch so ließ er es einfach geschehen und unterdrückte den Drang, die Kette zu beschützen. Stattdessen starrte er unentwegt Boudicca an.

Delila hob den Anhänger lediglich von seiner Brust hoch, ehe sie sich an ihre Herrin wandte.

„Die Kette hat keinen Verschluss.“ Und sie war zu klein, um sie ihm einfach über den Kopf zu ziehen.

„Die Kette ist mir egal, bring mir das Amulett. Sofort!“

Ryon hatte es zwar kommen sehen, war aber von Delilas Stärke überrascht worden, mit der sie kräftig an der Kette riss.

Es knackte leise in seinem Genick, als er ruckartig zur Seite gerissen wurde und doch nicht ganz auf dem Boden aufschlug, sondern stattdessen von dem zierlichen Goldkettchen gewürgt wurde, bis er sein Gewicht mit einem Knie wieder selbst auffangen konnte.

„So so. Daher die Narbe um deinen Hals.“

Boudicca hörte sich nicht gerade enttäuscht an, sondern eher, als wäre sie nun in ihrer Vermutung bestätigt.

„Ich sagte bereits, dass du das Amulett nicht bekommen wirst.“, knurrte Ryon leise, als er wieder genügend Luft bekam.

Erneut riss er an seinen Fesseln, was dennoch sinnlos war. Delila wusste definitiv wie man Knoten machte und noch dazu waren seine Hände so gebunden, dass er sich selbst mit seinen Krallen nicht befreien konnte.

„Du sagtest, dass ich dich dazu töten müsste. Allerdings bin ich da anderer Meinung. Dean, halt ihn fest.“

Sie schnippte einmal mit den Fingern, woraufhin sich der linke Werwolf erhob und sich noch auf halber Strecke zu ihm in einen ausgewachsenen, nackten Mann verwandelte, den Ryon kaum wieder erkannte.

Wäre da nicht das tätowierte ‚D‘ in dessen Nacken, er hätte geglaubt, es mit einem völlig anderen Werwolf zu tun zu haben. Aus den jugendlichen Zügen und Leichtsinn in Deans Gesicht war inzwischen Härte und grausames Schweigen geworden. Die Augen eines Killers schweiften ebenso emotionslos über sein Gesicht, wie das über Delilas. Als würde er sie nicht einmal als seine Gefährtin wieder erkennen.

Sofort wich die Wölfin vor dem Mann zurück und senkte den Blick, damit man die schmerzliche Sehnsucht nicht in ihren Augen sehen konnte.

Ryons Wut steigerte sich, weshalb er sich gegen den festen Griff des anderen zur Wehr setzte, weil er es nicht ertragen konnte, von einem solchen Verräter auch nur angefasst zu werden. Am liebsten hätte er dem Werwolf den Kopf abgerissen, in dem Wissen, was dieser Kerl seiner Gefährtin alles bereits angetan hatte!

In der unterlegeneren Position hatte Ryon keine Chance gegen den Werwolf, gab aber trotzdem erst Frieden, als dieser ihm beinahe das Genick brach und ihm den Kehlkopf zusammen quetschte. Erst als er sich wirklich nicht mehr rührte, glitt Boudicca von der Chaiselongue und kam – begleitet von ihrem zweiten Wachhund – auf ihn zu.

„Auch du wirst noch lernen, dass Wiederstand völlig zwecklos ist. Nur wer sich fügt, wird von mir belohnt werden.“

Ryon hätte der Schlampe am liebsten die Meinung gegeigt, aber er bekam noch nicht einmal richtig Luft, um ein einziges Wort zu formulieren. Stattdessen knurrte er sie einfach an. Was ihr lediglich ein müdes Lächeln abrang.

„Wollen doch mal sehen, was so alles in deinem Kopf vor sich geht. Dass du sehr viel denkst, bezweifle ich. Männer wie du bestehen nur aus Muskeln und wenig Gehirn. Wie praktisch für eine Frau wie mich.“

Sie tätschelte den wuchtigen Kopf des Werwolfs, ehe sie ihre beiden Hände ausstreckte, um Ryons Schläfen zu umfassen.

Ryon wehrte sich erneut, gegen den Stahlharten griff von Dean, nur um nun wirklich keine Luft mehr zu bekommen.

Als ihm schon fast schwarz vor den Augen wurde, fühlte er die kühlen Finger seines verhassten Feindes auf sich. Sofort versuchte er seine Gedanken zum Erliegen zu bringen, damit Boudicca nichts in die Hände bekam, das sie gegen ihn verwenden konnte. So hatte es ihm Delila und auch Tennessey einmal erklärt, aber natürlich war es fast unmöglich.

Denn Hass auf diese Frau musste er nicht verbergen und dass er vorhatte, sie in alle erdenklichen Fetzen zu reißen, wenn er erst einmal frei war.

Boudicca lachte leise.

„Wie interessant. Und warum willst du das tun?“

Ein kurzes Bild von Paige flackerte bei dieser Frage in ihm auf, ehe er es tief in sich vergraben und mit anderen Bildern des Amuletts überdecken konnte. Ryon hoffte, dass sie nichts gemerkt hatte, während er sich gegen den Druck von Außen auf seinen Geist standhaft wehrte.

Momentan versuchte sie nur, seine Gedanken und Erinnerungen zu lesen, was schwerer zu verhindern war, als er angenommen hatte. Sehr viel schwerer, gestand sich Ryon ein. Was würde passieren, wenn sie versuchte, ihn zu kontrollieren?

Ryon musste zugeben, dass er sich seiner Sache nicht mehr allzu sicher war.

Diesen Gedanken konnte er nicht rechtzeitig unterdrücken, ehe Boudicca ihn Ryon mit einem zufriedenen Lächeln entriss.
 

Beim ersten Probieren nahm sie ihren Zeigefinger, stippte damit etwas Creme von dem bunten Cupcake und steckte sich beides in den Mund. Als sich der zuckersüße Geschmack in ihrem Mund ausbreitete, musste sie grinsen und ihre Augen leuchteten auf.

„Siehst du, ich hab dir gesagt, die sind gut.“

Zimt saß ihr mit zwei anderen Frauen gegenüber. Eine trug eines dieser Alice-Kostüme in schwarz-weiß kariert, die andere hatte eine ähnliche Toga an, wie 'Fairy'. Nur war ihr Lila. Die beiden hießen Sunshine und Sugarplum.

„Mhm...“

Als sie begeistert in das Gebäck biss, hinterließ es regenbogenfarbene Creme auf ihrer Nasenspitze und in den Mundwinkeln, die sich zu einem noch breiteren Grinsen hoben. Es schmeckte einfach göttlich und je mehr sie aß, desto mehr hatte sie das Gefühl, vor dieser Mahlzeit schon länger nichts mehr zu sich genommen zu haben.

„Die da schmecken nach ... Apfel, Banane, Schokolade, Nougat, Kokos und Himbeere.“

Sunshine zählte alle Cupcakes ab und nahm sich dann den mit Kokos auf der Creme, um auf einer Seite die Creme herunter zu schlecken.

'Fairy' kaute weiter, weil sie ihre Frage nicht mit vollem Mund stellen wollte und sah sich dabei um. Inzwischen waren kaum noch Männer hier und die Lampen waren etwas herunter gedreht worden. Als würde es allmählich spät werden.

„Ist es bald Zeit zum Schlafengehen?“, wollte sie daher wissen.

„Ja. Die Lichter werden immer dunkler und dann gehen wir schlafen, bis sie wieder hell werden.“

Zimt zwinkerte gerade einem etwas gelangweilt aussehenden Mann zu, der ein buntes Papier in den Händen hielt. 'Fairy' betrachtete ihn einigermaßen neugierig, wagte aber nicht, nach dem Papier zu fragen. Allmählich kam sie sich ein bisschen dumm vor, weil sie überhaupt nichts darüber wusste, wie alles hier funktionierte.

Sugarplum, die neben ihr saß, half ihr aus der Patsche, indem sie sich an 'Fairy' schmiegte, ihre Arme um deren Hals wand und mit einem Finger auf den Mann zeigte.

„So ein Papier bekommen sie, wenn sie für die Chefin des Beschützers etwas Tolles gemacht haben. Dann dürfen sie hierher kommen und mit uns zusammen sein. Ein paar von denen kommen öfter, Andere nur einmal.“

Sie kicherte ganz nah an 'Fairys' Ohr.

„Aber sie sind alle besonders.“

Während sie sich fragte, was an dem Mann besonders war, biss 'Fairy' wieder von ihrem Cupcake ab. Es gefiel ihr hier, ganz wie Zimt es versprochen hatte. Aber gerade diese Männer machten sie irgendwie ... sie mochte den Gedanken einfach nicht, dass sie hier jederzeit herein schneien und bei ihnen sein konnten. Auch wenn sie nett waren, neigten die meisten von ihnen doch dazu, den Mädchen ziemlich unanständig nahe zu kommen. Einer hatte Sugarplum sogar mit beiden Händen an den Po gefasst und fest hinein gekniffen.
 

Taumelnd zwischen den Welten von Bewusstsein und Ohnmacht, wurde es immer schwieriger, sich gegen Boudiccas mentale Angriffe zu verteidigen. Immer mehr Informationen entschlüpften ihm, weil die Atemnot ihn zusätzlich schwächte, aber zum Glück nahm es ihm auch die Fähigkeit zu stark nachzudenken und somit noch mehr Bilder frei zu geben.

Bisher war es eher belangloses Zeug. Gedanken, die ihn im Augenblick beschäftigten und sich um Boudicca und das Amulett drehten. Doch jedes Mal, wenn er glaubte, nun würde es ein Ende haben, in dem er endgültig in Ohnmacht fiel oder Boudicca genug hatte, wurde ihm wieder etwas mehr Luft gelassen, während diese verdammte Hexe erneut den Mund aufmachte, um für ihn verheerende Dinge zu sagen, die eine neue Bilderflut auslösten.

Inzwischen hatte sie eine wahre Freude für sein Leid entwickelt und bohrte nur zu gerne, immer gründlicher nach.

„Ihr Name war also Layla. Wirklich ein hübsches Baby. Schade, dass sie nicht überlebt hat. Sie wäre sicher nach ihrer Mutter gekommen. Da hast du dir wirklich eine sehr zerbrechliche Gefährtin ausgesucht.“

Ryon zitterte inzwischen am ganzen Leib, während der Tiger sich ebenso vor Qualen wand wie er, während die Bilder nur so aus ihm heraus sprudelten. Genug. Es sollte aufhören. Er konnte einfach nicht mehr, zumal er sich noch nicht einmal einen einzigen Gedanken an Paige erlauben durfte, um seinen Entschluss des Wiederstandes zu festigen.

Zu spät, bemerkte Ryon, dass Boudicca wieder zu sprechen aufgehört hatte und die hämmernden Kopfschmerzen machten ihm deutlich, dass sie bereits wieder ans Werk gegangen war.

„Paige. Warum hör ich immer wieder dieses Echo ihres Namens in deinem Gedächtnis?“

Er antwortete nicht. Versuchte seine Gedanken still zu halten.

„Das ist doch die Diebin, die ich dir an den Hals gehetzt habe und ebenfalls auf der Flucht war. Dass sie jetzt im Hühnerstall dieses eingebildeten Klosteins hockt, weißt du wohl noch nicht.“

Der Schmerz schnürte sich wie ein Stacheldrahtzaun um sein Herz. Harem? Paige? Klostein?

Beinahe hätte Ryon dieser verdammten Hexe die Stirn mit seiner eigenen zertrümmert, wenn Dean hinter ihm, ihn nicht rechtzeitig zurück gehalten hätte.

Erneut knackte es laut in einem seiner Wirbel und für einen Moment sah er nur noch schwarz, während er schlaff und benommen schwer im Griff des Werwolfs hing.

Boudiccas Lachen, war das einzige, dass er noch richtig wahrnahm.

„So ist das also. Na dann. Delila, hol den Duftbaum und lass ihn gleich sein neuestes Spielzeug mitnehmen. Ich bin mir sicher, dass wird ein amüsanter Abend werden.“

67. Kapitel

Nachdem sie etwas gegessen hatten, war Zimt aufgestanden und hatte aus einem Fach an der Wand ein Spielbrett mit bunten Steinen hervor geholt.

'Fairy' würfelte und zog ein paar der Steine über das Brett. Sie war noch nicht gut in dem Spiel, aber die Regeln waren leicht. Wenn sie noch eine Weile Zeit hatten, bis es ganz dunkel wurde, konnte sie es bestimmt bald.

Sugarplum war an der Reihe und machte einen geschickten Zug, der eine von Zimts Figuren vom Brett beförderte. 'Fairy' machte sich schon auf ein kleines Gezeter gefasst. Zimt war keine besonders gute Verliererin. Soviel hatte sie in der kurzen Zeit zumindest verstanden.

Doch statt sich laut und mit Schmollmund darüber auszulassen, dass Sugarplum zu viel Glück hatte, schenkte Zimt dem Spiel überhaupt keine Aufmerksamkeit mehr. Sie starrte verklärt an 'Fairy's Schulter vorbei auf einen Punkt hinter ihrem Rücken. Der Blick der Anderen folgte ihrem, als sie darauf aufmerksam wurden.

„Was ist denn los?“

Als auch 'Fairy' ihren Kopf wandte, konnte sie ihre Frage selbst beantworten. Der Beschützer kam auf sie zu. In goldene und silberne Stoffe gewandet, schwebte er nahezu zu ihnen herüber und lächelte so großzügig, dass einem warm ums Herz werden musste. Die drei Mädchen um sie herum, wurden sogar ein wenig rot, als er sich auf ein Knie herunter ließ, um auf ihrer Augenhöhe zu sein.

Umso überraschter war 'Fairy', als er nicht eine der Anderen sondern sie ansprach.

„Meine Schöne, würdest du mir einen Wunsch erfüllen?“

Aber natürlich würde sie das tun. Sie nickte stumm mit vor Erstaunen geöffneten Lippen und legte ihre Hand in seine, um sich aufhelfen zu lassen. Als sie vor ihm stand, strich er ihre Tunika glatt und sah sie warm an.

„Ich möchte, dass du mit mir kommst. Wir gehen zu meiner Chefin.“

„Deiner Chefin?“

Er wirkte etwas gequält und ungeduldig, weswegen sich 'Fairy' ihrer Frage wegen sofort schämte.

„Ja. Sie ist eine böse alte Hexe. Aber sie hat leider im Moment noch das Sagen. Also müssen wir zu ihr gehen, weil sie es so haben möchte. Verstehst du, Kleines?“

Sie nickte und hörte das Kichern der anderen Mädchen hinter ihrem Rücken, als er von seiner Chefin als böse Hexe sprach.

„Was soll ich tun, wenn ich mit dir komme?“

Diesmal streichelte er sogar ihre Wange, bevor er antwortete.

„Nur das, was dir gesagt wird. Entweder von mir oder der bösen Hexe. Von niemandem sonst, verstanden?“

Wieder nickte sie nur. Doch diesmal schien das nicht zu genügen. Der Griff um ihr Kinn wurde auf einmal fest und schmerzhaft, sodass sie erschrocken zusammenzuckte. Die Augen des Beschützers waren auf einmal kalt und hart. Als wäre er wütend auf 'Fairy'.

„Du hörst auf niemanden sonst! Ob du das verstanden hast, habe ich gefragt!“

„Ja.“

Er ließ sie los und 'Fairy' raffte ihre Tunika ein wenig nach oben, um ihm über die verstreuten Kissen schnell genug folgen zu können. Warum seine Chefin sie wohl sehen wollte? Und wer würde noch da sein?

'Fairy' machte sich ziemliche Sorgen darüber, dass sie keinen guten Eindruck hinterlassen könnte.
 

Während er vollkommen benebelt da hing und Boudicca es sich wieder auf der Chaiselongue gemütlich machte, wurden die Fesseln an seinen Händen durch metallenen Ketten ausgetauscht, die er nicht nach einiger Zeit durchgewetzt haben würde, wenn er nur geduldig genug an ihnen zerrte.

Das Ganze ging trotz seines geschwächten Zustands nicht ganz reibungslos über die Bühne und auch wenn es Boudicca nur noch mehr Spaß machte, wie er sich wehrte, würde er doch nicht so einfach nachgeben. Weshalb er erneut Prügel bezog und das von einem Werwolf!

Selbst wenn die Chancen ausgeglichen gewesen wären. Gegen einen so jungen und starken Werwolf würde selbst sein Tiger alles an Kräfte aufbieten müssen, um zu gewinnen. Bei zwei auf einmal sah er hingegen keinen Hoffnungsfunken. Sie würden ihn einfach zerfetzen. Und das mit D und J im Augenblick überhaupt nicht zu Spaßen war, konnte er an seiner pochenden Seite nur zu deutlich spüren. Dennoch würde es nichts gegen den Schmerz in seiner Brust sein. Er hatte Paige verraten und keiner konnte sagen, was passieren würde, wenn sie bei ihnen eintraf.

Eine Seite in ihm wollte einfach nur sicher gehen, ob es ihr gut ging und freute sich somit auf die Zusammenkunft, doch der größere, vernünftigere Teil verfluchte seine Unachtsamkeit. Er hatte sie förmlich ans Messer geliefert und wenn er wollte, dass die Katastrophe nicht gar so schlimm ausfiel, würde er schon bald all seine Selbstbeherrschung zusammen nehmen müssen, um ihr nicht noch mehr Leid zu bringen.

Er durfte sich auf keinen Fall zu seiner wahren Gefährtin bekennen. Das wäre ihr Tod.
 

Als Delila zurück kam und verkündete, dass Paige und der Duftspender gleich da sein würden, schaffte man Ryon aus der Mitte des Raumes auf die Seite, damit er nicht im Weg herum stand. Der Fleck, auf den er bisher gehockt hatte, war von Blutspritzern verziert und irgendwie erklärte das, die alten Flecken und den Geruch in den Holzdielen. Er war sicherlich nicht der erste, der dort vor der Hexe gekauert hatte, aber wenn er es zu verhindern wusste, würde er der Letzte gewesen sein.

Dean nahm ihn wieder in dem altbewährten Klammergriff, während sich James halb vor Boudicca auf den Boden legte und ganz in Wachhundmanier wachsam die Ohren spitzte.

Auch Ryon konnte sie kommen hören.

Voller Panik wusste er nicht, was er tun sollte. So weit hatte sein Plan nie gereicht. Dafür war einfach nicht die Zeit geblieben.
 

'Fairy' war dem Beschützer wortlos und so schnell wie es ihr möglich war gefolgt. In dem großen Haus kannte sie sich nicht aus und sie wusste auch, nachdem sie mit dem Aufzug gefahren waren, nicht, zu welcher Tür sie gehen würden. Hier sah alles ganz anders aus, als unten im Reich des Beschützers. Es war alles viel weniger farbenfroh und freundlich.

Sie kaute nervös auf ihrer Unterlippe herum und fragte sich, ob die Chefin wohl wirklich eine böse Hexe sein konnte. Und wenn ja, was würde sie mit ihr machen, wenn sie doch aus Versehen etwas Falsches sagte oder tat?

Als der Beschützer schließlich vor einer Tür stehen blieb und klopfte, waren 'Fairy's Hände vor Nervosität ganz feucht. Sie strich sie noch einmal an ihrer Tunika ab, gerade bevor sich die Tür öffnete und sie einen Raum dahinter sehen konnte. Ein Raum, der ihr nicht nur wegen der düsteren Einrichtung nicht gefiel.

Als sie eingetreten waren, sah 'Fairy' sich verstohlen um. Es waren ein paar Personen in dem Zimmer: Eine junge Frau, ein Mann, der einen Anderen festhielt und ein furchteinflößender Hund, der zu Füßen einer Frau vor einem Sofa lag. 'Fairy' kannte keinen von ihnen und fühlte sich in der ganzen Situation sehr unwohl. Sie hatte das Gefühl, von jedem angeglotzt zu werden. Und das in dieser dünnen Tunika.

„Ah, sehr schön, da seid ihr ja.“

Die Frau in dem schwarzen Kleid hatte sich von dem Sofa erhoben und den Hund, der vor ihr gesessen hatte, einfach mit dem Fuß zur Seite geschoben. Ob sie die böse Hexe war? Es schien so, denn der Beschützer verbeugte sich leicht vor ihr und 'Fairy' beeilte sich, das Gleiche zu tun.

Irgendetwas kam irgendwo hinter ihr in Aufruhr und 'Fairy' wollte sich danach umdrehen, doch die Hexe war schnell bei ihr und legte ihre kalten Finger auf ihre Wangen. 'Fairy' runzelte die Stirn, versuchte aber das zu tun, was man ihr aufgetragen hatte. Sie würde nur etwas tun oder sagen, wenn die Chefin oder der Beschützer sie dazu aufforderten. Selbst wenn der Tumult hinter ihr noch lauter werden sollte.

„Du bist also Paige.“

Gerade wollte sie selbst widersprechen, als der Beschützer ein Hüsteln vernehmen ließ und die Chefin sich mit einem unpassend genervten Blick zu ihm wandte.

„Was?!“, fuhr sie ihn an. Sie schien wirklich nicht besonders nett zu sein.

„Sie kennt diesen Namen nicht. Gar nichts mehr, das passiert ist, bevor sie hierher kam. Sie heißt Fairy.“

Er schenkte 'Fairy' ein Lächeln, aber als sie wieder die Chefin ansah, bemerkte sie, dass deren Augen vor Wut zu schäumen begannen, bevor der Eindruck wieder verschwand und etwas Anderem wich. Etwas, das 'Fairy' noch nie bei jemandem gesehen hatte. Es machte ihr Angst.

„So? Du kannst dich also an nichts mehr erinnern?“

Die kalten Finger schlossen sich nun um 'Fairy's Handgelenk und wirbelten sie herum, sodass sie die beiden Männer ansehen musste, die neben der jungen Frau an der Wand standen. Derjenige, der festgehalten wurde, war verletzt. Er blutete und sah aus, als hätte er große Schmerzen. Er tat 'Fairy' ziemlich leid.

„Kennst du den Mann mit dem Amulett?“

Halb drehte sie sich herum, um im Gesicht der Chefin erkennen zu können, ob es eine ernst gemeinte Frage war. Erst dann betrachtete sie den Mann genauer. Er hatte bunte Haare und war ziemlich breit gebaut. 'Fairy' war sich ziemlich sicher, dass er auch einer von denen war, die Sugarplum „besonders“ genannt hatte. Aber was hatte er bloß falsch gemacht, dass die Chefin ihn so bestrafen musste?

Langsam schüttelte sie den Kopf.

„Nein. Ich habe ihn noch nie gesehen.“
 

Bei Paiges Anblick warf sich der Tiger nicht nur gegen Ryons mentale Ketten, sondern auch noch gegen den Griff des Werwolfs. Doch nur für einen kurzen Moment, bis Ryon sich wieder im Zaum hatte. Zumindest vorerst, doch innerlich kochte er vor tödlicher Wut, selbst wenn eine leise Stimme ihm zuflüsterte, dass es ihr wenigstens den Umständen entsprechend gut ging. Sie hätte auch tot sein können.

Zu hören, dass sie sich offenbar nicht mehr an ihren Namen erinnern konnte, war etwas völlig anderes, als aus ihrem Mund zu hören, dass sie sich nicht mehr an ihn erinnerte, während sie es ihm direkt ins Gesicht sagte.

Ihr Anblick war es, der ihn zugleich quälte und doch aufrecht hielt, um nicht verzweifelt den Kopf sinken zu lassen.

In ihren Augen lag kein Erkennen. Nicht der geringste Funke von Hoffnung für ihn. ‚Paige…‘

„Ich mache dir einen Vorschlag.“

Seine Augen richteten sich nur langsam wieder auf Boudicca. Er konnte seinen Blick einfach kaum von Paige nehmen. Er begriff das alles noch nicht in seiner vollen Tragweite.

„Du bekommst Paige in ihrer Vollkommenheit zurück, dafür bekomme ich das Amulett und deine Dienste auf Lebenszeit.“

Fast schien es so, als wollten Ryon und der Duftspender gleichzeitig protestieren, doch letzten Endes hielten sie beide den Mund. Jeder aus seinen eigenen Gründen heraus.

„Nein.“ Es klang kalt und abweisend. Doch innerlich zerriss es ihn, auch wenn er wusste, dass er Paige dadurch retten konnte. Zumindest hoffte er es.

„Was sollte ich mit dieser Frau tun? Sie interessiert mich nicht. Wie du schon so treffend sagtest.“ Seine Stimme senkte sich zu einem Knurren herab. „Meine Gefährtin ist tot. Keine andere Frau könnte je wieder mein Interesse wecken.“

Boudiccas Lippen verzogen sich zu einem verächtlichen Lächeln, während sie ihn gründlich musterte.

„Vielleicht sagst du die Wahrheit, aber vielleicht auch nicht. Ich werde schon noch heraus bekommen, was das hier auf sich hat. Ich warte schon so lange auf das Amulett, da macht es mir nichts aus, noch etwas länger zu warten. Bis jetzt habe ich noch jeden Widerstand gebrochen. Selbst diese läufige Hündin dort, tut was ich ihr sage, obwohl sie das sturste Drecksstück war, das mir je begegnet ist.“

Sie nickte herablassend auf Delila, die schweigend zu Boden starrte und sich unbemerkt näher an Dean heran geschoben hatte. Ihre Finger zuckten, als wollte sie ihn berühren, doch dass sie es nicht wagen würde, war ebenso offensichtlich, wie das Zittern ihres Körpers. Es war entsetzlich, mit anzusehen, dass eine einfache Berührung so viel Schmerz bringen konnte, obwohl es doch eigentlich das Gegenteil sein sollte. Doch im Augenblick hatte jeder mit seinen eigenen Dämonen zu kämpfen und Ryons brüllte so laut, dass ihm fast der Schädel berstete. Sein Tiger akzeptierte es absolut nicht, dass er seine Gefährtin verleugnete und auch der Mann stimmte ihn mit jeder Faser seines Herzens zu. Doch manchmal musste Vernunft über jedes Gefühl gehen.

Boudicca wartete einen Moment, ob Ryon noch etwas dazu zu sagen hatte, als er jedoch schwieg, wandte sie sich an den Duftspender.

„Falls du dein neuestes Spielzeug noch nicht ausprobiert hast, solltest du das so bald wie möglich nachholen. Ich kann dir nicht versprechen, dass du noch lange deine Freude an ihr haben wirst. Hängt ganz von dem Kater dort ab.“

Ryons Krallen fuhren in ihrer vollen Länge aus, während er wütend die Kiefer aufeinander biss, um keine Reaktion seinerseits preis zu geben. Darauf wartete diese Schlampe doch nur. Aber allein die Vorstellung, Paige in den Händen des Duftspenders…

Beinahe erstickte er an seinem unterdrückten Zorn und der Energie, die er für einen Angriff immer weiter ansammelte und doch nicht hinaus ließ, stattdessen starrte er einfach nur an die Decke und versuchte diesen Alptraum auszuschließen. Er ertrug es einfach nicht!

„Ihr könnt gehen. Lassen wir ihn ein bisschen schmoren, vielleicht ist er morgen kooperativer.“

Boudicca winkte den Duftspender und Paige hinaus, während sie sich wieder gemütlich hinsetzte und J nachdenklich durch die Haare strich, als wäre er ein zahmes Hündchen.

Der Scheißkerl benahm sich allerdings auch nicht anders. Ganz im Gegensatz zu seinem Bruder, der Ryon beinahe die Arme auskugelte.

Nein, Paige durfte nicht mit diesem perversen Arschloch mitgehen!
 

'Fairy' hatte zwischen den Sprechern verwirrt und erstaunt hin und her geblickt. Sie verstand nicht, um was es ging, auch wenn es offensichtlich etwas mit ihr zu tun hatte. Warum sollte sie den Mann denn kennen? Und was hieß, dass er diese Paige wiederhaben konnte?

Hilfe und Erklärung suchend, sah sie zum Beschützer hinüber, der allerdings mit seinen Augen giftige Pfeile auf den Fremden abschoss, als hätte der ihm etwas getan. Wieder verstand sie nicht.

Aber als die Chefin davon sprach, dass der Beschützer sein Spielzeug ausprobieren sollte, regte sich etwas in 'Fairy'. Es war nur schwach und so schnell wieder verschwunden, wie es gekommen war. Aber es war da gewesen. Als wäre er vielleicht dafür verantwortlich, sah sie noch einmal zu dem Mann mit dem Amulett hinüber. Er sah an die Decke und erst als er die böse Hexe fixierte, konnte 'Fairy' ihm kurz in die Augen sehen. Darin war nichts, was sie interessiert hätte.

„Komm.“

Der Beschützer packte sie unerwartet fest am Oberarm und zerrte sie förmlich aus dem Raum, so dass sie nicht einmal mehr einen Blick auf seine Chefin werfen konnte.

„Hätten wir uns nicht verabschieden sollen?“, fragte sie noch auf dem Weg zum Fahrstuhl, der anscheinend nicht schnell genug kam, denn der Beschützer hämmerte mit seinem Zeigefinger regelrecht auf den Knopf ein.
 

„Ich mag aber nicht...“

Zimt zupfte an ihr herum, rückte das Tablett in ihrer Hand gerade und versuchte sie davon zu überzeugen, dass ihre Aufgabe gar nicht so schlimm sei.

„Ach Fairy. Du sollst ihm nur sein Essen und etwas Wasser bringen. Sonst musst du nichts tun. Nichtmal mit ihm reden.“

Endlich schien sie ihrer Vorstellung zu entsprechen, denn Zimt schob Fairy weiter auf die Metalltür zu, hinter der sich der Käfig des Gefangenen befand.

„Kannst du nicht für mich gehen?“, versuchte sie es noch einmal mit Quängeln. Was ihr aber auch nichts nutzte.

„Nein. Es ist deine Aufgabe. Denk einfach dran, dass der Beschützer dir eine besondere Belohnung versprochen hat.“

Eine besondere Belohnung. Ja, daran erinnerte sie sich. Und die Augen des Mannes hatten fast so geglitzert, wie sein Schmuck. Deshalb war es bestimmt eine ziemlich große, schöne Belohnung.

„Oookaay.“

Immer noch vollkommen lustlos und auch ziemlich ängstlich zog sie die Metalltür auf, warf noch einen Blick auf Zimts ermutigendes Lächeln und tastete dann mit der freien Hand nach dem Lichtschalter.

Die Tür schloss sich hinter ihr, als das Licht aufflammte und sie den Fremden vom vorherigen Abend sehen konnte. Der Käfig, in dem er saß, war nicht so groß, wie der, in dem sie aufgewacht war. Auch war er nicht golden. Statt des Sofas, war nur eine Art Liege darin und sonst nichts.

Nur, weil man es ihr befohlen hatte, tat sie die paar Schritte auf die Gitterstäbe zu und blieb bei der kleinen Klappe stehen, durch die sie das Tablett mit dem Essen und dem Wasser schieben sollte. Da sie nicht genau wusste, ob der Mann sie angreifen würde, ließ sie ihn nicht aus den Augen.
 

Als grelles Licht seine goldenen Augen blendete, hatte er gerade mal eine Stunde geschlafen, während er die restliche Zeit davor wie wild an der Kette um seinen Fuß gerissen hatte. Selbst eine Verwandlung hatte nichts gebracht, seine angeschwollene Pranken war einfach zu groß, um hindurch zu schlüpfen und selbst wenn er sich von der Kette hätte befreien können, die Gitterstäbe konnte er nicht einfach so überwinden. Dafür waren sie eindeutig zu massiv.

Zudem hatte er sich noch einmal gründlich mit Dean angelegt, als der ihn von den Handfesseln befreit hatte.

Ryon hatte zwar nicht gewonnen, aber durch die Schlägerei einen Großteil seiner aufgestauten Wut los werden können. Zumindest für eine Weile, bis ihn die Gedanken an Paige und den Duftmagier erneut in den Wahnsinn getrieben hatten.

Vielleicht rechnete er deshalb als letztes mit ihrem Anblick, als sie den Raum ganz alleine und nur mit einem Tablett voller Essen bewaffnet den großen Raum betrat.

Sofort war Ryon auf den Beinen und wollte erleichtert an die Gitterstäbe stürmen, doch ein Blick in die angsterfüllten Augen seiner Gefährtin und seine Schritte wurden langsamer, bis er ganz zum Stehen.

Paige konnte sich nicht an ihn erinnern. Eine Tatsache, die er weder glauben konnte, noch wollte.

„Paige? Was hat-“ Ryon musste sich stark zusammen reißen, um ruhig zu bleiben. Es fiel ihm unglaublich schwer.

„Was hat er mit dir gemacht, Paige?“

Langsam humpelte er noch einen Schritt näher, die Kette klirrend hinter sich her schleifend.
 

Sie verschüttete etwas Wasser aus dem Becher, als sie erschrocken zusammen fuhr. Der Mann war so schnell von der Liege aufgesprungen. Er hätte genauso schnell an den Gitterstäben sein und sie verletzen können. Sie zitterte immer noch, als er nun sehr viel langsamer auf sie zukam.

Allein die Tatsache, dass man ihr gesagt hatte, sie müsse ihm sein Essen bringen, sorgte dafür, dass sie nicht davon rannte.

"Mein... Mein Name ist nicht Paige."

Er kam immer noch näher, aber je besser sie dadurch sein Gesicht sehen konnte, desto mehr begann sie zu zweifeln, dass er ihr etwas tun wollte. Er sah nicht wirklich böse aus. Eher ... traurig.

"Ich soll Ihnen nur was zu Essen bringen. Und Wasser."

Als müsse sie die Wahrheit ihrer Aussage unterstreichen, hielt sie ihm das Tablett etwas näher hin.
 

„Ich will nichts essen, Paige. Ich will, dass wir gemeinsam von hier verschwinden.“

Ryon trat langsam ganz dicht ans Gitter und umfasste mit seinen Händen die massiven Metallstangen, während er seine Gefährtin keine Sekunde lang aus den Augen ließ.

Es schmerzte ihn, dass kein Erkennen, sondern nur Angst in ihrem Blick lag. Würde er sich nicht mit den Händen an dem Metall festhalten, er wäre versucht, seine Hand nach ihr auszustrecken. Aber so wie sie aussah, wäre das ein Fehler.

„Es tut mir leid. Ich hätte dich nicht alleine fahren lassen dürfen.“

Leicht zitternd legte er seine heiße Stirn an die kalte Gitterstange und schloss die Augen, während sich seine Fäuste noch fester um das Metall bogen. Er würde sich das nie verzeihen können.

Gequält sah er wieder hoch. Sah Paige an, die in einem anderen halb durchsichtigen Kleid steckte, als würde sie zur Schau gestellt werden. Für ihr Schlafzimmer hätte er es passend gefunden, aber er war nicht der Einzige der sie … so sehen konnte.

Aber schlimmer noch als ihr Anblick, war ihr Geruch.

Ihr Duft, der sich so einmalig mit seinem vermischen konnte, war nur noch ein Hauch und wurde vom Gestank des Duftspenders übertüncht, als hätte sie darin gebadet.

Dass Paige nach einem anderen Mann roch, ließ ihn förmlich rot sehen. Dass sie es auch noch zuließ, machte alles nur noch schlimmer.

Um den Zorn in seinen Augen zu verbergen, wandte er sich schließlich wieder von den Gitterstäben ab und schlurfte mehr, als das er ging, durch den Käfig.

Er war ein Tiger. Eine Raubkatze die nur die Freiheit kannte. Umso schlimmer, dass er hier eingesperrt war und nichts tun konnte. Vor allem nicht für seine Gefährtin.

Abrupt blieb er stehen, schwer atmend vor Wut und Aggression, die gegen ihre Feinde gerichtet waren, ohne, dass er sie hätte in etwas Nützlichem umwandeln können.

„Ich schwöre dir, Paige. Wenn er dich auch nur einmal anfasst, kastriere ich ihn mit meinen bloßen Händen!“
 

Sie legte den Kopf schief, wie ein kleines Kind, das die Welt um es herum zu verstehen versuchte. Das Tablett immer noch in der Hand, versuchte sie in dem Verhalten des Mannes zu lesen, was mit ihm los war. Ob er eine Krankheit hatte? Oder ob er sie einfach nur mit dieser Paige verwechselte?

Auf seinen ersten Satz hin, schüttelte sie sehr abweisend den Kopf.

„Nein, ich kann nicht weg gehen. Bloß in unseren Saal und hierher. Aber hierher auch nur in Zimts Begleitung. Damit ich nicht verloren gehe.“

Wenn das überhaupt möglich war, sah sie ihn noch fragender an, als zuvor.

„Sie müssen sich keine Gedanken machen. Ich bin nirgendwo hin...“

Ein Bild blitzte vor ihrem inneren Auge auf und verschwand sofort wieder. Ähnlich dem Gefühl, als man sie als Spielzeug bezeichnet hatte, konnte Fairy den Eindruck nicht festhalten. Aber dass er da gewesen war, hallte leicht in ihr nach.

Was der Fremde mit seiner vehementen Ausdrucksweise aber sofort wegwischte, als hätte er ihr das Tablett entrissen und laut gegen die Wand geworfen.

Ganz so war es zwar nicht, aber die Dinge schepperten trotzdem, als sie erneut erschrocken zusammen zuckte. Ihre Augen wurden weit und ihr Mund blieb zitternd für eine Weile offen stehen, bevor sie ihre Sprache wieder fand.

„Sie... Sie sind...“

Vollkommen entsetzt stellte sie das Essen vor der kleinen Klappe ab, hielt sich so weit davon entfernt, wie sie konnte und es gleichzeitig möglich war, das Tablett ins Innere des Käfigs zu schieben.

Als sie aufstand, zitterte sie am ganzen Körper. Der Mann war vielleicht besonders. Auf jeden Fall besonders gefährlich, wenn er auch nur ansatzweise Taten auf Worte folgen ließ.

„Essen Sie was. Sonst heilen Ihre Wunden nicht.“

Woher sie wusste, dass es wichtig war, dass er aß, um seine Kräfte beizubehalten und seine Wunden schneller heilen zu lassen ... diese Frage stellte sie sich gar nicht. Als sie die Zelle verließ und die Metalltür hinter sich schloss, wartete auch schon Zimt auf sie, um sie abzuholen.
 

Noch ehe er seinen Zorn zügeln konnte, lief Paige auch schon davon und die schwere Tür schloss sich unerbittlich hinter ihr.

„Paige!“

Ryon lief zu den Gitterstäben und schlug verzweifelt dagegen, während er immer wieder ihren Namen rief. Doch der Wiederhall seiner eigenen Worte blieb lange die einzige Antwort, auf sein flehentliches Rufen.

Heiser und mit aufgeschlagenen Knöcheln, ließ Ryon sich schließlich kraftlos am Rande seines Gefängnisses zu Boden gleiten und vergrub das Gesicht in seinen pochenden Händen.

Der Verlust seiner Gefährtin riss tiefe Wunden in sein Herz und in seine Seele, war er doch ohne sie nicht mehr ein Ganzes, sondern fehlerhaft und unvollkommen.

Boudiccas Angebot, Paige wieder zu bekommen, wenn er sich fügte, wurde von Minute zu Minute verlockender, doch zugleich roch er nur zu genau die Falle, die sich dahinter verbarg.

Mit der Macht beider Amulette konnte diese Hexe sie alle vernichten und selbst wenn sie es nicht täte, er wäre niemals frei und Paige somit auch nicht, denn wenn sie auch nur annähernd so für ihn empfand wie er für sie, würde sie ihn nie verlassen. Selbst wenn es zu ihrem Besten wäre.

Andererseits, er ertrug diese Folter nicht. Der fremde Geruch an ihr machte ihn wahnsinnig und allem voran, die Angst vor ihm in ihren Augen, quälte ihn. Dabei könnte er ihr niemals etwas antun!

Nein, er musste sich etwas einfallen lassen. Einen Plan, wie er hier heraus kam und zwar bevor man Paige etwas antun konnte. Ihr eigener Vater hatte sie schon einmal gequält, er wollte sie nicht erneut leiden sehen. Sie verdiente das einfach nicht!

Allerdings war es schwer nachzudenken, wenn man ein wildes Raubtier im Nacken hatte, dass sich wie wild gebärdete und nach seiner Gefährtin verlangte. Alles was Ryon momentan tun konnte, war sich zu beruhigen und darauf zu hoffen, dass er erneut Gelegenheit bekam, mit Paige zu sprechen. Ihre Erinnerungen konnten schließlich nicht ganz verschwunden sein. Es lag wohl alles nur an diesem Gestank, der hier überall in der Luft hing und ihn beständig verhöhnte.

Das Essen nicht anrührend, griff Ryon schließlich nur nach dem Wasserglas und stellte es neben sich ab. Danach riss er sich einen schmalen Stoffstreifen von einem seiner Hosenbeine und tauchte ihn ins Wasser, um seine Wunden etwas zu säubern, um sich einen besseren Überblick über seine Lage verschaffen zu können.

Delilas Stichwunde war immer noch die schwerste Verletzung und auch wenn sie inzwischen mehr Zeit gehabt hatte, innerlich zu heilen, so waren doch die Wundrändern wieder aufgerissen worden.

Es würde eine unsaubere Narbe bleiben, doch daran dachte er im Moment nicht. Stattdessen wusch er sich langsam das Blut ab, während er sich überlegte, was er bei einer weiteren Gelegenheit tun und sagen würde, wenn er Paige zu Gesicht bekam.

Falls er sie wieder zu Gesicht bekam.

68. Kapitel

„Ist der Beschützer nicht hier?“

Sie saßen alle in einem großen Kreis auf Kissen um den Brunnen herum. Es gab kleine Pralinen, Canapés und Knabbereien zum Frühstück. Und jede von ihnen hatte einen eigenen Becher bekommen, welchen Fairy nun fragend in der Hand hielt. So unauffällig sie konnte, beobachtete sie die anderen Frauen und stellte erstaunt fest, dass es nichts Anderes, als das Wasser aus dem Brunnen zu trinken gab. Das Wasser, das die kleinen, rosa Wölkchen so zuverlässig im Raum verteilte, wenn der Beschützer nicht hier war, um es selbst zu tun.

Vorsichtig und ziemlich zögerlich hielt Fairy ebenfalls ihren Becher über dass Wasser. Dort schwebte er einige Zeit unentschlossen in der Luft, bevor ihr Körper doch so stark nach etwas zu trinken verlangte, dass sie das Gefäß in die Flüssigkeit tauchte.

Es schmeckte überraschend frisch. Gar nicht so, wie das Rosa roch.

Sugarplum schüttelte ihre hellblonden Korkenzieherlocken und hatte wohl endlich ihr Mini-Brötchen hinunter gegessen, um antworten zu können.

„Beim Frühstück ist er nie hier. Er schläft eine Menge und kommt erst gegen Mittag aus seiner Kammer.“

Das Mädchen deutete auf die Stirnseite der zweiten Ebene hinauf und legte so schnell ihre Hände auf Fairys Schultern und zog sie in eine Umarmung, dass diese kaum reagieren konnte. Die Locken kitzelten ihre Wange, als Sugarplum ihr etwas ins Ohr flüsterte.

„Wenn er aufwacht, bekommst du bestimmt deine Belohnung.“

Als sie Fairy wieder losgelassen hatte und ihr entgegen strahlte, waren Sugarplums Wangen rosig.

„Du musst mir dann alles erzählen, ja?“
 

Als sich dieses Mal eine andere Tür öffnete, nahm Ryon das nichts von seinem Enthusiasmus. Er kam schnell auf die Beine, in der Hoffnung Paige zu sehen, doch als drei Gestalten sich aus den Schatten außerhalb des Käfigs lösten, raste sein Herz nicht vor Sehnsucht, sondern vor Wut.

Boudicca kam mit einem selbstzufriedenen Lächeln samt Gefolge auf ihn zu. Die Zwillinge trugen dieses Mal kein Fell sondern zerrissene Jeans, als hätten sie sich die Hosen nur schnell über gestreift und sie waren verschwitzt.

Ryon wich ein Stück vor ihnen zurück und senkte den Kopf, dennoch traf ihn die volle Breitseite eines eindeutigen Geruchs nach Sex.

Der Gestank reizte ihn, ließ er doch im Grunde keine Fragen offen. Diese Wichser, ob manipuliert oder nicht, hatten Delila nicht verdient!

„Heute Morgen keinen Appetit?“

Boudicca trat dicht an das Gitter, jedoch nicht nah genug, um nach ihr fassen zu können und deutete auf das unangetastete Essen.

„Nicht ganz dein Geschmack oder warst du nicht allzu sehr von der Bedienung angetan?“

Fast erstickte er an dem aggressiven Knurren, dass ihm in der Kehle steckte, doch Boudicca eine Reaktion zu schenken, war das Letzte, was er tun würde. Dann könnte er gleich Öl aufs Feuer gießen.

„Merkwürdig.“ Sie zuckte galant mit den Schultern und ging den Käfig in aller Ruhe entlang, immer von ihren beiden Schoßhündchen gefolgt.

„Ich dachte, ihr Anblick würde dich vielleicht dazu inspirieren, mir etwas entgegen zu kommen. Aber wenn du willst, kann ich dir in Zukunft das Essen bringen. Momentan ist sie ohnehin sehr beschäftigt, wenn du verstehst, was ich meine.“

Boudiccas Lächeln war nicht nur verwegen sondern auch grausam und sie traf ihn mit ihren Worten mitten ins Herz.

Es wurde immer schwerer, ruhig zu bleiben, während alles in ihm danach schrie, dieser Frau die Kehle heraus zu reißen.

„Also ich muss schon sagen, dieser Luftverpester ist wirklich unersättlich. Während er einen ganzen Harem zu seinem Vergnügen braucht, begnüge ich mich lediglich mit meinen beiden hier.“

Sie lächelte kokett, während Ryons Sicht sich ins Rote verschob und die Vorstellung wie Paige und der Kerl…

„Du verdammtes Drecksstück‼!“

Es fehlten verfluchte drei Zentimeter und er hätte ihr die Haut vom Gesicht gefetzt, wenn ihn nicht die Gitterstangen und die Kette um seinen Fuß aufgehalten hätten. Doch anstatt erschrocken über seinen Angriff zu reagieren, wurde Boudiccas Lächeln nur noch breiter und grausamer.

„So so. Na dann … Jungs?“ Sie winkte ihre beiden Speichellecker herbei und gab ihnen ein Zeichen.

„Haltet ihn fest, ich würde gerne sehen, ob ich heute ein paar Fortschritte mit seinem Gehirn mache.“

Eine Sekunde lang, funkelte Ryon die Hexe mit purem Hass und Mordlust an, ehe auch schon die Tür zu seinem Käfig geöffnet wurde und er sich nicht mehr länger beherrschen konnte. Diese verdammten Wölfe sollten nur versuchen, ihn fest zu halten! Niemand sperrte ihn ein! Niemand!
 

Je näher der Mittag heran rückte, desto aufgeregter murmelte Fairys Magen vor sich hin. Als hätte sie etwas Schlechtes gegessen. Aber sie war nur ein bisschen aufgeregt.

Keiner hatte ihr gesagt, was der Beschützer normalerweise als Belohnung verschenkte. Oder was in seiner Kammer passierte, wenn eine der Frauen dort hinein gerufen wurde. Sugarplum hatte angedeutet, dass es unterschiedlich sei, was man dort tat oder erlebte. Also konnte Fairy sich auf nichts vorbeireiten. Sie wusste es nicht genau, aber es kam ihr so vor, als wären Überraschungen dieser Art nicht unbedingt etwas, das sie mochte.

„Du bist dran.“

Zimt sah sie mit glitzernden Augen herausfordernd an und hielt ihr den Würfelbecher hin. Fairy hatte schon seit Beginn des Spiels nicht aufgepasst, sondern würfelte halbherzig und zog ihre Figur, bevor sie weiter grübelte, was wohl passieren würde, wenn der Beschützer aufwachte.

Zwei Spielzüge später kamen zwei Männer herein, die in Fairys Augen seltsam aussahen. Sie hatten keine Haut, wie die meisten Mädchen hier, sondern blaue und grüne Schuppen, die irgendwie nicht zu ihren dunklen Haaren passen wollten. Fairy starrte die Männer an, als diese sich zwei Mädchen heraus suchten und hinter zwei unterschiedlichen Perlenvorhängen verschwanden.

Umso erschrockener fuhr sie zusammen, als das Einsetzen der Musik das verkündete, auf das sie schon den ganzen Tag gewartet hatte.

„Er ist wach.“, bestätigte Sunshine neben ihr und kicherte hinter vorgehaltener Hand, als sie Fairys nervös zitternde Finger bemerkte.
 

Er landete direkt vor ihren Füßen, mit einer ganzen Tonne an Gewicht auf seinem Rücken, während man ihm seine Arme so nach hinten drehte, dass sie fast aus den Schultergelenken sprangen.

Am ganzen Leib zitternd, wusste er nicht mehr, wo er seine Kräfte hernehmen sollte, also blieb er liegen. Vorerst.

„Du glaubst gar nicht, wie sehr ich diese Shows genieße. Schade, dass du nicht ebenfalls Gefallen daran finden kannst. Man sieht dir doch an, dass es dir irgendwie Spaß macht, dich mit meinen Jungs zu prügeln, aber offenbar bevorzugst du es, deiner wilden Natur nicht ihren Willen zu lassen.“

Ryon spuckte Blut auf den Saum ihres schwarzen Kleides und bäumte sich erneut auf, mit einer Kraft, die ihm die zwei Werwölfe wohl nicht mehr zugetraut hätten. Sonst hätte er niemals den Kerl auf sich abwerfen können.

Kaum, dass er wieder die Hände frei hatte, stürzte er sich mit all der Wut im Bauch auf die Zwillinge.

Sie waren jung, sie waren stark und sie waren zu zweit. Zwei Minuten später lag Ryon mit einer halben Gehirnerschütterung erneut vor Boudiccas Füßen. Dieses Mal stand er nicht wieder auf.

Schwer atmend musste er seine Niederlage einsehen und Panik erfüllte ihn, als die Hexe sich zu ihm herab beugte und sein blutig geschlagenes Gesicht umfasste, während ihre beiden Wachhunde aufpassten, dass er ihr nicht doch noch etwas antat. Als hätte er das gekonnt! Ryon konnte kaum noch den kleinen Finger bewegen. Seine Kräfte waren vollkommen erschöpft.

Er spürte kaum den Druck in seinem Kopf, als sie sein Gehirn aufknackte und sich alles zu nehmen begann, was sie finden konnte.

Mit verzweifelter Kraft, hielt er sich dabei stets an einem Bild fest: Marlene und wie sehr er sie immer lieben würde.

Boudicca würde niemals begreifen, dass er an seiner verlorenen Liebe fest hielt, um Paige, seine neu gewonnene Liebe zu beschützen.
 

Mit der Hand schob sie den nächsten Perlenvorhang zur Seite und schlüpfte durch die Lücke. Hinter ihr klimperten bereits zehn dieser bunten Abtrennungen, durch die sie gegangen war und vor ihr schienen noch ein paar zu liegen, die das Zimmer des Beschützers vom Rest seines kleinen Reiches trennten.

Fairy ging langsam. Sie mochte das Klimpern und die Art, wie sich das Licht der bunten Scheinwerfer aus dem großen Saal, das über die Galerie in den Gang fiel, in den vielen Vorhängen brach. Wie unzählige Regenbogen.

Als sie nach unten sah, bemerkte sie, dass der rosa Dunst dichter wurde und sich wie kräuselnde Finger zuerst um ihre Füße und Knöchel und dann um ihre Beine legte. Sie musste der Kammer schon sehr nahe sein.

Endlich erreichte sie einen großzügigen Raum, der dem Gemeinschaftssaal vor allem deshalb ähnelte, weil ebenfalls viele große Sitzkissen herum lagen. Außerdem gab es mit bunten Stoffen abgedunkelte Lampen an den Wänden und an vielen Stellen glitzerten goldene Ornamente. Fairy fiel auf, dass die Farben hier sehr viel dunkler gehalten waren, als unten, wo sie sich sonst aufhielt. Und es war ruhiger. Wirklich ein abgeschlossener Raum, in den nur wenig von außen dringen konnte.

„Schönheit...“

Sie bemerkte ihn erst, als sich ein größerer Schatten hinter einem halbdurchsichtigen Vorhang bewegte. Neben dem Beschützer konnte sie einen großen Schemen erkennen, wahrscheinlich sein Bett.

Mit einem Lächeln, das Fairy nicht so recht deuten konnte, kam er ihr entgegen, nahm ihre Hände in seine und küsste sie auf beide Wangen.

„Schön, dass du hier bist. Komm' setz dich.“

Er schlang einen Arm um ihre Hüfte und führte sie zu einem niedrigen, sehr tiefen Sofa hinüber, auf dem zuerst er Platz nahm und sich halb hinlegte. Fairy blinzelte etwas verlegen und unschlüssig. Zum Hinsetzen war für sie nun kein wirklicher Platz mehr.

„Na komm, keine Angst.“

Wieder nahm er ihre Hände und zog sie zu sich hinunter auf das Sofa. Sie musste auf seinem Schoß sitzen, ob sie nun wollte oder nicht. Eine kleine Stimme in ihrem Inneren, wollte sie davon überzeugen, dass es keine gute Sache war, ihm so nahe zu sein. Diese Stimme wurde sogar etwas lauter, als er eine ihrer Hände losließ und damit über ihre Haare streichelte.

Doch er lächelte sie nur an, sein Schmuck glänzte warm im Schein der Lampen und die Stimme in Fairys Kopf wurde erstickt, als sich der Duft des Magiers wie eine Schlange durch ihre Nase in ihren Verstand wand.

Er zog Fairy zu sich hinunter und raunte ihr ein paar Worte ins Ohr.
 

„Nimm die Kette ab.“

Die Stimme in seinem Kopf war leise, fast glaubhaft freundlich und bittend, doch der scharfe Schmerz in seiner Stirnhöhle verlieh dem Befehl mehr Nachdruck, als es etwas anderes sonst hätte tun können.

Ryon wehrte sich.

Sein Körper war kaum noch im Stande, sich zu rühren und auch sein Kopf wollte am liebsten nichts weiter tun, als endlich abschalten, doch sie ließ ihn nicht. Immer wieder wallten rasende Kopfschmerzen hinter seiner Stirn auf, als würde Boudicca ihm glühendheiße Nadeln in die Augen treiben. Er wollte schreien, doch selbst dazu fehlte ihm die Kraft.

„Gib mir die Kette!“

Seine Finger zuckten unkontrolliert. Ganz ohne seinem Zutun, wollten sie sich heben, bis er sie mit Nachdruck dazu brachte, sich zu Fäusten zu ballen und auch so zu bleiben. Er würde dem Befehl nicht gehorchen!

„Du wirst mir die Kette geben und zwar sofort!“

Die nächste mentale Klinge in seinem Kopf machte ihn für einen Moment fast blind. Da war nur dieser heiße, schneidende Schmerz und der verzweifelte Drang, nachzugeben, in dem Wissen, dass dann auch der Druck vergehen würde. Doch das konnte er nicht.

„Nein…“

Ryon riss die Augen auf und starrte Boudicca fest an.

Sie war so nahe, er hätte einfach die Hände um ihren dünnen Hals legen und ihr das Genick brechen können. Aber seine verfluchte Schwäche ließ es nicht zu.

„Du wirst tun, was ich dir sage. Gib mir die Kette!“

Ihr Blick war inzwischen grimmig und jede Spur von Amüsement war aus ihren Zügen gewichen.

„Nein!“

Sein Knurren war tief und hallte wie Gewittergemurmel durch den ganzen Raum. Sein Tiger kam ihm zu Hilfe.

Die Hände auf seinen Schläfen trieben die spitzen Fingernägel noch tiefer in sein Fleisch, doch es war nichts gegen den scharfen Schmerz, der eine Sekunde später dank seines Rückenmarks durch seinen ganzen Körper zog.

Gewaltsam biss er die Zähne zusammen, um den schmerzerfüllten Schrei zurück zu lassen.

Etwas Heißes lief ihm aus der Nase und tropfte ihm vom Kinn. Er konnte nicht mehr.

Plötzlich ließ Boudicca ihn los, woraufhin er wie ein nasser Sack auf dem Boden landete, nicht fähig, sich zu rühren.

„Du hast Glück, dass ich dich lebend will. Aber Vorsicht. Reize mich nicht zu sehr, oder ich komme noch einmal in Versuchung, dein Gehirn zu Brei zu verarbeiten!“

Ihre Stimme klang wie ein Zischeln und blieb doch schon ungehört. Kaum, dass der Druck in seinem Kopf nachgelassen hatte, überfiel ihn die Dunkelheit und der Schmerz verschwand.
 

„Schafft mir diese Dämonenschlampe her. Sie soll sich um ihn kümmern. Ich weiß zwar nicht, was zwischen den beiden los ist, aber ich bin mir sicher, das werde ich schon bald heraus finden.“

Entschlossen warf sie noch einen letzten Blick auf das Häufchen Elend zu ihren Füßen. Zufrieden, dass sie es erneut geschafft hatte, etwas so Starkes und Wildes in nichts weiter als einen blutenden Haufen von Fleisch zu verwandeln, wandte sie sich ab. Die Genugtuung immer noch die Oberhand über diese niederen Kreaturen zu haben, ließ sie diabolisch Lächeln. Schon bald, würde sie unbesiegbar sein. Dafür brauchte sie sich nur noch etwas in Geduld zu üben und wer würde das nicht, wenn die Zeit des Wartens doch so viel Spaß machen konnte.
 

„Tanz für mich...“

Das hatte er zu ihr gesagt, dabei ihre Seite hinunter gestreichelt und seine Lippen hatten sie unangenehm feucht neben ihrem Ohr berührt. Fairy erlaubte sich allerdings kein Schaudern. Er war der Beschützer, meinte es also gut mit ihr. Sie sollte sich darüber freuen, dass er ihr und keiner sonst so viel Aufmerksamkeit schenkte.

Deshalb und weil sie doch ein wenig froh war, etwas Abstand zwischen sie beide zu bekommen, stand sie wieder von dem Sofa auf und trat ein paar Schritte zurück.

„Aber... es gibt keine Musik...“

Ihre Stimme war leise und unschlüssig. Die Vorstellung, in diesem dünnen Kleid vor einem Mann zu tanzen... Das behagte ihr einfach überhaupt nicht.

„Das kann man ändern, Schönheit.“, raunte der Magier so tief, dass es ihm fast in der Kehle stecken zu bleiben schien und hob seine Hände, um einmal zu klatschen. Zuerst konnte Fairy keine Veränderung feststellen, doch dann bewegten sich die Tücher um sie herum leicht von der anschwellenden Musik.

„Tanz. Tanz für mich.“

Er hatte seinen Kopf ein wenig gesenkt und sah sie unter seinen golden getuschten Wimpern mit einem Ausdruck an, der Fairy bekannt vorkam, sie aber sicher nicht beruhigen konnte. Ihre Hand zuckte, als würde sie hinter sich irgendetwas fassen wollen und ihr Puls beschleunigte sich unangenehm.

Dabei hatte sie keinen Grund Angst zu verspüren. Er war doch der Beschützer...

Rosa Dunst hüllte sie ein, streifte über ihr Kleid und ihre Haut, als sie sich langsam zu bewegen begann. Ihre Hüften kreisten ein wenig, während sie die Hände ausstreckte und versuchte zu vergessen, dass sie keine Ahnung hatte, welche Art Tanz dem Magier vorschwebte. Was, wenn sie das Falsche tat? Wenn ihm nicht gefiel, wie sie sich bewegte?

Als sie keine Reaktion als seinen sehr konzentrierten Blick bekam, der über ihren ganzen Körper kroch, versuchte Fairy es mit etwas Anderem. Langsam drehte sie sich einmal um die eigene Achse. Oder wollte es zumindest.

Denn bereits auf der Hälfte wurde sie gestoppt. Zwei Arme schlangen sich von hinten um sie, pressten sie gegen einen warmen Körper und begannen verlangend und sehr unwirsch ihren Bauch zu streicheln. Je höher die Hände wanderten, desto mehr wurde auch das Kleid nach oben gezogen und gab bald Fairy Knie frei, zwischen die der Magier von hinten sein eigenes Bein schob.

Aus reinem Reflex heraus schob Fairy ihre Ellenbogen nach hinten und traf auf etwas. Als Antwort darauf erhielt sie ein Stöhnen und wurde nur noch heftiger an den Beschützer heran gerissen. Sie konnte seine Lippen auf ihren Schultern, ihrem Hals und seine Hände überall auf ihrem Körper spüren. Hätte sie sich diesen Gedanken erlaubt ... wäre sie am liebsten einfach nur weg gerannt.

„Hey, Klostein!“

Er ließ sie so schnell los, dass sie zur Seite stolperte und beinahe einem der beiden Männer in die Arme getaumelt wäre, die fast geräuschlos den Raum betreten hatten. Fairy kannte die beiden – und war nicht besonders angetan davon, sie wieder zu sehen.

„Hoffentlich bist du schon zum Zug gekommen, Boudicca braucht nämlich dein Spielzeug.“

Beide lachten so laut, dass es Fairy kalt den Rücken hinunter lief. Eine Pranke schloss sich wie eine Fessel um ihr Handgelenk und bevor sie auch nur lauthals protestieren konnte, warf sie einer der beiden über eine breite Schulter und trug sie lachend hinaus.
 

„Nein! Nein, nein, ich will da nicht rein!“

Wie ein gehetztes Tier stemmte sie sich gegen den Stock der offenen Käfigtür und drückte sich mit aller Kraft, die sie hatte gegen die Pranken des Mannes, der sie hinein befördern wollte.

„Stell' dich nicht so an. Der ist k.o. - der tut dir nichts.“

Wieder dieses Lachen, das ihr bloß noch mehr Panik verursachte.

„Lass' mich los! Ich will nicht!“

„Ok.“

Weil sie damit nicht gerechnet und falsch reagiert hatte, fiel sie mit einem dumpfen Geräusch und sehr schmerzhaft auf den Rücken, als er sie einfach losließ. Sofort wurde sie allerdings an Armen und Beinen wieder in die Höhe gerissen und wie ein nasser Sack ins Innere des Käfigs geworfen.

Die Tür knallte so nachdrücklich ins Schloss, dass Fairy selbst der Protestschrei im Hals stecken blieb.

„Flick' ihn zusammen. Sonst bekommst du verdammt großen Ärger, verstanden?“

Zwischen den Gitterstäben hindurch schubsten ihr die Männer noch einen Arzneikoffer zu und verließen dann unter brüllendem Lachen den Raum.

Fairy starrte wie ein verschrecktes Kaninchen auf den Jäger. Der Mann, der ihr selbst jetzt in seinem schlechten Zustand riesig und monströs kräftig vorkam, machte ihr so viel Angst, dass sie kaum atmen konnte. Sie hatte gesehen, wie einer der beiden Schoßhunder der Chefin ihn hatte festhalten müssen. Und er hatte gedroht dem Beschützer -

Fairy schluckte hart und versuchte nicht einmal das winzigste Geräusch von sich zu geben. Vielleicht musste sie nur eine bestimmte Zeit hier aushalten. Selbst wenn sie ihn nicht verarztete ... man würde sie trotzdem hier rauslassen? Oder nicht?
 

Paiges verzweifelte Stimme rührte an seinem schlafenden Bewusstsein. Er konnte sie hören, wenn er auch schon nicht dazu in der Lage war, irgendwie darauf zu reagieren. Trotzdem konnte er sie hören.

Panisch versuchte er die Augen aufzuschlagen, zu überprüfen, was er gehört hatte, damit er sich sicher war, es sich nicht nur eingebildet zu haben. Doch es gelang ihm nicht und nach einer Weile war es wieder still. Viel zu still.
 

Als er das nächste Mal aus der Dunkelheit gerissen wurde, kam es von dem Gefühl, nicht alleine zu sein, das ihn weckte. Er konnte nicht richtig wittern, weil hier überall der gleiche Gestank herrschte und sein Kopf so stark dröhnte, dass er sich nicht konzentrieren konnte. Also versuchte er sich zu bewegen.

Ryon lag immer noch so dort, wie Boudicca ihn zurück gelassen hatte. Halb verdreht auf der Seite und dem Bauch, mit der pochenden Stirn auf dem kühlenden Boden. Sein getrocknetes Blut direkt vor der Nase.

Wenn er nicht alleine war, wer war dann noch hier? Bestimmt hätte er es gespürt, wenn es Boudicca gewesen wäre. Selbst wenn die Frau schwieg, war ihre Anwesenheit dennoch äußerst unangenehm. Doch diese Präsenz…

Der Instinkt, die Kraft und die Stärke seines Tigers brachten ihn dazu, sich schwer atmend auf die Seite zu drehen und als er seinen goldenen Blick öffnete, schien er zu fantasieren.

Paige stand in einem wunderschönen, reizvollen Kleid da, beobachtete ihn, so wie er sie betrachtete. Ihr Haar fiel ihr offen über die Schultern und der Stoff ihres Kleides umhüllte jede ihrer Konturen auf sehr schmeichelnde Weise.

Ja, er musste fantasieren, denn sie konnte nicht hier sein.

Ihr Anblick ließ ihn schwach lächeln und zugleich schnürte es ihm die Kehle zu. Ihr Verlust schmerzte ihn so ungemein, dagegen waren die restlichen Qualen die reinste Freude.

Sein Blick vor seinen Augen verschwamm und er musste mehrmals blinzeln, um ihre Gestalt nicht aus den Augen zu verlieren, doch der feuchte Schleier wollte nicht weichen und irgendwann war er auch zu müde, um weiter zu kämpfen. Also gab er das Bild frei und fiel erneut in Ohnmacht.
 

Sie war zu dem Schluss gekommen, dass man sie nicht früher hier raus lassen würde. Es sah nicht einmal jemand nach, ob sie tat, was man von ihr verlangt hatte. Oder zumindest hatte Fairy niemanden bemerkt, der nach ihr und dem Gefangenen gesehen hätte. Und obwohl sie das nun für sich hingenommen hatte, wagte sie es dennoch nicht, sich dem Fremden zu nähern.

Seit sie hier war, hatte er sich keinen Zentimeter gerührt, bis – ja bis gerade eben. Das Herz schlug ihr immer noch bis zum Hals und trotzdem war sie nicht sicher, ob das nicht das kurze Aufbegehren war, bevor es einfach sang- und klanglos stehen blieb. Er lebte noch.

So, wie sie ihn zugerichtet hatten, wäre Fairy davon nicht unbedingt ausgegangen. Irgendwie schien sie die Erkenntnis, dass der Mann noch lebte und atmete, sogar zu beruhigen.

„Aber...“

Sie seufzte und das Geräusch kam ihr so laut vor, dass sie instinktiv den Kopf einzog und die Arzttasche, die sie als eine Art Verteidigung schon die ganze Zeit vor ihren Körper hielt, noch fester an sich presste.

„Flick' ihn zusammen...“, wiederholte sie leise die Worte, die man ihr befohlen hatte.

Dann sah sie hilflos die Tasche in ihren Armen an, um dann wieder zu dem Fremden zu blicken. Ein paar Mal huschten ihre Augen unentschlossen hin und her, bis sie fest die Lippen auf einander presste und vorsichtig einen Schritt nach vorne tat.

Fairy hielt die Luft an.

Mit aufgerissenen Augen und zitternden Knien erwartete sie eigentlich, dass er aufspringen und sie beißen würde. Oder irgendetwas in der Richtung. Wie sie jetzt genau auf diese Idee kam... Sie schüttelte über sich selbst den Kopf und wagte sich dann noch einen einzelnen Schritt nach vorn.

Prüfend sah sie den Fremden an, der sich immer noch nicht rührte. Ging noch einen Schritt näher. Dann noch einen. Bis sie neben ihm stand und auf ihn hinab sah.

„Du bist ganz schön groß.“, flüsterte sie leise, bevor sie sich – hinter der Tasche versteckt – in die Hocke sinken ließ.

„Und ich habe keine Ahnung, wie genau ich dich ... zusammenflicken soll.“

Nachdem er noch nicht einmal eine Wimper rührte, ließ sie die Tasche neben sich auf den Boden sinken und öffnete so leise wie möglich die beiden Schnallen, die sie verschlossen. Wenn sie bloß vorsichtig und still genug war, konnte sie möglicher Weise ihre Aufgabe erfüllen und hier raus sein, bevor er auch nur seine Augen noch einmal aufschlug.

Spätestens, als sie ihm mit einem in Alkohol getränkten Tupfer eine Wunde an der Stirn säuberte und er daraufhin ein leises Stöhnen von sich gab, ging ihr diese Hoffnung flöten.
 

Es war mehr reiner Reflex, als sonst etwas, das seine Hand hochschnellen ließ, um nach der Ursache für den plötzlichen Schmerz an seinem Kopf zu packen. Sein Griff war nicht einmal besonders fest, da er noch nicht die Kraft dazu hatte, doch als sich seine Finger um weiche, warme Haut schlossen, stieß er den Schmerzverursacher nicht von sich, sondern zog ihn ganz im Gegenteil näher zu sich heran.

Ryon drückte die weiche Haut trotz des Widerstandes an seine Nase und Lippen, um den Geruch besser wahrnehmen zu können.

Enttäuscht roch er auch jetzt nichts weiter, als diesen eklig süßen Gestank, der hier überall zu hängen schien und wäre da nicht, der wirklich sehr schwache Hauch von etwas Vertrautem, er hätte sich nicht die Mühe gemacht, die Augen zu öffnen.

Als er Paige vor sich knien sah und auch die Furcht in ihren Augen erblickte, ließ er sie erschrocken los. Aus Angst, er würde sich nur wieder täuschen und sie wäre nicht wirklich hier.

Ihr Geruch fehlte ihm ganz und gar und nur seinen Augen alleine, wollte er momentan nicht trauen.

„Paige?“ Seine Stimme war brüchig, wurde aber bereits wieder kräftiger. Ihr Anblick trieb ihm seine Kräfte förmlich zurück in seinen Körper, trotzdem blieb er reglos liegen. Wenn sie erneut verschwand, würde er durchdrehen. Noch einmal konnte er Boudiccas Tortur nicht stand halten, denn ohne Paige, fehlte ihm auch ein Großteil seiner Stärke.
 

Sie erschrak so sehr, dass sie nur weiß um die Nase wurde, aber keinen Ton über die Lippen brachte. Adrenalin hämmerte durch ihren Kreislauf, als der Fremde ihre Hand am Gelenk zu seiner Nase zog und daran roch.

'Er wird sie abbeißen!'

Kaum, dass er sie doch einfach losließ, fiel Fairy auf ihren Hintern und wollte sich halb robbend in Sicherheit bringen, stieß aber nicht weit von dem Gefangenen entfernt gegen die Gitterstäbe, die sie eigentlich trennen sollten.

Ihr Atem ging so schwer und gehetzt, dass ihr fast Lichtpunkte vor den Augen tanzten.

Warum hatte die Chefin nur von ihr verlangt, dass sie versuchte, ihn zu verarzten? Warum holte sie niemand hier raus? Wo war denn der Beschützer?

„Bitte, tun Sie mir nichts.“

Seinen Augen war kaum standzuhalten. Sie schienen immer mehr zu lodern, je länger er sie ansah.

„Ich... Man hat mir gesagt, ich soll mich um Ihre Wunden kümmern.“

Entgegen jedem Sinn drückte sie sich noch fester gegen die kalten Gitterstäbe in ihrem Rücken und versuchte ihn in keiner Weise zu provozieren.

„Wenn Sie das nicht wollen... Ich... Es... Bestimmt kommt bald jemand.“
 

Nun drang doch etwas sehr deutlich durch den eklig süßen Gestank. Es war scharf und schneidend und es kam von Paige.

Ryon witterte ihre Angst und das so greifbar, dass er sich plötzlich sicher war, sie wäre wirklich hier. Etwas, dass er kaum fassen konnte.

Seine Lebensgeister kehrten bei ihrer Stimme wieder zu ihm zurück. Ihre Worte und dass sie ihn immer noch nicht erkannte, schmerzten ihn, doch davon ließ er sich nicht unterkriegen. Er hatte schon so viel Schmerz hingenommen, was machte das schon noch aus?

Langsam kam er auf zitternden Händen hoch und musste einen Moment lang innehalten, bis sich die Welt um ihn herum zu drehen aufgehört hatte. Danach sah er wieder seine Gefährtin an. Nicht die Gitterstäbe, die Kette um seinen Fuß oder die Schatten außerhalb des Käfigs. Nein, er sah nur sie.

„Ich würde dir nie weh tun.“

Seine Stimme sank eine sanfte Oktave tiefer, während er sich langsam auf allen Vieren auf sie zu bewegte. Es war zwar nur ein kleines Stück, das sie trennte, doch die Furcht in ihren Augen war das größte Hindernis für ihn.

Diese Angst zu ignorieren und stattdessen dem Drang zu flogen, sie wieder bei sich zu wissen, war schwerer, als es eigentlich sein sollte. Doch vielleicht war gerade der fehlende Geruch der Vertrautheit auf ihrer Haut, in ihrem Haar und ihrer Kleidung der Grund, weshalb es ihm so schwer fiel.

Noch immer spukte ihm die Vorstellung im Kopf herum, wie seine Gefährtin mit diesem Duftspender… Verdammt, sie roch sogar nach ihm und das aus jeder Pore!

Sein Blick wurde finster und seine Schwäche wich noch weiter seiner Wut.

Instinktiv suchten seine Augen nach Spuren eines anderen Mannes auf ihrer Haut, doch gerade weil er durch ihre knappe Kleidung mehr sehen konnte, als er an ihr gewohnt war, steigerte das nur noch den Drang, diesem stinkenden Haufen Dreck die Kehle durchzubeißen.

Mit einer Hand stützte er sich an einer der Gitterstangen ab, während er mit der anderen seine völlig verängstigte Gefährtin vorsichtig über die Wange strich, als er auf sie hinab sah.

Es machte ihn wahnsinnig, dass sie nicht mehr nach ihm roch und er selbst ihren eigenen wunderbaren Duft kaum noch richtig wahrnehmen konnte.

Vermutlich war es in seiner derzeitigen Lage ein Fehler, doch Ryon konnte nicht anders. Impulsiv drückte er sein Gesicht in Paiges Halsbeuge, suchte weiterhin nach ihrem Geruch, während seine Hand ihren Rücken umfasste und sie an seine nackte Brust zog.

„Ich liebe dich.“, flüsterte er gegen die unendlich weiche Haut unterhalb ihres Ohres, ehe er sie dort küsste. Sein Verlangen nach ihr und seine Gefährtin wieder im Arm zu halten, war stärker, als die Warnung in seinem Kopf, dass sie das momentan nur noch weiter entfremden könnte. Er ignorierte es einfach.
 

Sie wollte schreien. Sie wollte weinen und um sich schlagen. Doch das Einzige, was sie tat, war mit großen Augen denjenigen anzusehen, der nichts Anderes vorhaben konnte, als sie im nächsten Moment zu töten.

Fairy wusste nichts von ihm und auch nichts von dieser Paige, die er mit ihr verwechselte. Aber spätestens, wenn er erkannte, dass sie es nicht war... Ihr wurde so kalt, dass sie glaubte dort in dieser verängstigten Position festfrieren zu müssen. Irgendetwas bewegte sich unter ihrer Haut und ließ sie nun tatsächlich fast den Verstand verlieren.

„Bitte...“

Es war nicht mehr, als ein leises Wimmern, das nicht einmal bis zu seinen Ohren drang. Stattdessen zog er sie an sich.

Und setzte die Welt um Fairy herum für Sekunden in orangene Flammen. Wie ein Buschfeuer schienen sich Duftfetzen um sie auszubreiten, sich an sie zu klammern, wie die Finger hilfloser Ertrinkender. Und doch machte es ihr keine Angst. Es war fordernd, beinahe erschlagend und doch so... Das andere Gefühl, das in ihr aufkam, konnte Fairy nicht beschreiben. Es war so stark, dass ihre Finger sich wie von selbst zuerst fast sanft um die Schulter des Fremden legten, bevor sie ihn von sich schob.

„Ich bin nicht... Paige.“

Als hätte man nur auf dieses Stichwort gewartet, wurde die Tür aufgerissen und Zimt kam mit einem riesigen Schlüsselbund auf den Käfig zugerannt. Ihre Stimme erschien Fairy schrill und viel zu laut, doch sie folgte trotzdem, als Zimt ihr zurief, sie solle schnell aus dem Käfig kommen.

Den Mann ließ sie zurück. Dass es ihr einen kleinen Stich versetzte, noch einmal in seine Augen zu sehen, konnte sie nicht verstehen.
 

Er war genetisch darauf programmiert, sich dem Willen seiner Gefährtin zu fügen, wenn sie es für richtig hielt und es wirklich nichts gab, das dem widersprechen könnte. Doch nicht nur deshalb, musste er sie los lassen, als sie ihn von sich schob, sondern wegen der schlichten Tatsache, dass er momentan sogar gegen eine alte bettlägerige Oma verloren hätte.

Beinahe hätte er wie ein Hund gewinselt, als ihre Wärme ihm entzogen wurde und sie vor ihm davon lief. Es war nicht nur verletzend, dass sie es überhaupt tat, sondern auch noch mit einer solchen Geschwindigkeit, als würde der ganze Käfig jeden Moment explodieren.

Die Türen schlossen sich wieder hinter ihr und als er alleine war, sackte er an den kalten, leblosen Metallstangen entlang zu Boden und wollte eigentlich nur noch eines – sterben.

Aber auch wenn er sich so elendig fühlte, dass dieser Gedanke sich einfach nur noch erlösend anhörte, er würde niemals aufgeben, bis er nicht wirklich alles versucht hatte und selbst wenn Paige wirklich nichts mehr von ihm wissen wollte, er würde sie niemals in den Händen dieser Bastarde lassen. Niemals!

Erneut begann Wut die Oberhand über sein Denken zu übernehmen. Boudicca spielte mit ihm. Sie war sich nicht sicher, was Paige für ihn bedeutete, also setzte er sie ihm immer wieder vor. Natürlich war das gut so, denn nicht zu wissen, ob es seiner Gefährtin gut ging, war sogar noch schlimmer, als das Wissen, dass sie zwar keine Erinnerungen mehr hatte, aber wenigstens gesund war. Trotzdem. Es war die reinste Folter!

Mit voller Absicht steigerte Ryon sich in seine Gefühle hinein, gaben sie ihm doch die Kraft, die er sonst nicht mehr so leicht aufgebracht hätte und zu gleich lockte es auch seinen Tiger hervor.

Ryon unternahm nichts, um den zweiten Teil seiner Seele aufzuhalten. Wenn schon er nicht frei war, so sollte es wenigstens seine andere Seite sein. Vielleicht kam er dadurch wenigstens irgendwann aus dieser Kette!

Sorgfältig zog Ryon sich seine Hosen von den Hüften und zog sie aus, damit er später nicht nackt herum rennen musste. Danach verwandelte er sich trotz der Schmerzen und seiner Schwäche.

Seine Pranke war immer noch zu geschwollen, um aus dem Metallring zu schlüpfen, aber es fehlte nicht mehr viel und dank seiner Natur würde die Schwellung hoffentlich schneller abklingen. Er konnte warten. Er musste es einfach.

69. Kapitel

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70. Kapitel

Sie waren zuerst dem Hauptgang gefolgt, den Paige schon einige Male gegangen war. Dann zweimal links abgebogen, um genau die Route zu meiden, die sie dorthin führen konnte, wo bonbon-farbene, brechreizauslösende Süße sie erwarten würde. Mehr als das. Trotzdem seufzte Paige, als sie wieder vor einer Öffnung standen.

„Ich habe keine Ahnung, wo wir sind.“, sagte sie leise. „Hätte ich auch nur zwei Murmeln in meinem Kopf in der richtigen Reihenfolge behalten, wären wir schon längst-“

Sie quetschte seine Hand so stark, dass selbst Ryon zusammen zuckte und ihrem stierenden Blick folgte, der direkt auf den Boden vor ihren Füßen gerichtet war.

Wie rosa Tentakel, die nach ihr fischten, breitete sich der Gestank aus. Paiges Schuppen klapperten aufgeregt und am liebsten wäre sie einfach nur gerannt. Doch sie hörte eine weibliche Stimme, die unentwegt auf jemanden einredete.

„Zimt...“
 

Als Paige mit beeindruckenden Kräften versuchte, ihm die Hand zu brechen, waren Ryons Muskeln bis zum Zerreißen angespannt. Er war schon die ganze Zeit wachsam und immer auf der Hut gewesen, aber als sie ihn auf den Geruch aufmerksam machte, den er zwar nicht sehen, aber durchaus riechen konnte und der geradewegs unter der Tür hindurch quoll, wechselte er in sofortige Angriffshaltung.

Ryon musste Paiges Hand los lassen, damit seine aggressiv gekrümmten Krallen sie nicht verletzten.

Ohne auch nur daran zu denken, seiner Gefährtin Bescheid zu geben, oder gar die Türklinke zu benützen, schob er Paige ein Stück hinter sich und trat mit der ganzen Wut, die in seinem Bauch brodelte, diese verdammte Tür ein.

Er hatte ihr bereits einmal gesagt, was er mit diesem Bastard von Luftverpester tun würde, wenn er sie auch nur einmal anfasste und das betraf seiner Ansicht nach, nicht nur körperliche Berührungen. Dieser abartige Wichser hatte auf ihrer Haut gelegen, wie ein stinkender Schweißfilm, den man einfach nicht mehr abbekam.

Es wurde Zeit seine Fertigkeiten der Entmannung an diesem Arschloch auszuprobieren!

Die Tür zerschmetterte an der Wand und alle Anwesenden im Raum fuhren zu ihm herum. Mordgier glitzerte in Ryons Augen und wurde nur noch von seinem jähzornigen Knurren untermalt, das seinen ganzen Brustkorb zum Vibrieren brachte, als dieser widerliche Gestank ihn wie ein Faustschlag im Gesicht traf.

Er würde diesem Raumspray endgültig den Hahn zudrehen und das wortwörtlich gemeint.

„Paige? Bring die Frau weg und bleib aus der Reichweite dieses Sprühnebels. Ich komme gleich nach.“

Ryon erkannte seine eigene Stimme nicht wieder, aber er drehte sich auch nicht zu seiner Gefährtin herum, um ihr zu zeigen, dass er es ernst meinte. Das war anhand seines Tonfalls auch gar nicht nötig. Jedes Wort war ein geballtes Versprechen für Schmerz und hätte sie in diesem Augenblick in seine Augen gesehen, so hätte sie lange nach dem Gold suchen müssen, das nur dank ihr, überhaupt noch dort zu finden war. Meistens jedenfalls.

Momentan war sein Blick so schwarz, wie das Ausmaß seiner dunklen Gefühle, die im Augenblick sein ganzes Denken einnahmen. Oh ja, er würde diesen Kerl in alle Einzelteile zerlegen. Das war schon einmal sicher.
 

Ein Schrei gellte durch den Raum und Paige war sich nicht sicher, von welcher der beiden Personen, die vor ihnen stand, er gekommen war. Der Magier hielt Zimts Handgelenk umklammert, zog sie mit einem Ruck vor sich und spähte hinter ihr auf die sehr reale Bedrohung, die Ryon darstellte. Für Leben und sogar noch mehr für den Leib des selbst ernannten „Beschützers“. Paige hätte gern ein Stück Stoff gehabt, um es sich vor Mund und Nase binden zu können. Der Gestank war unerträglich.

Doch noch einen drauf setzte das Verhalten des Mistkerls, der vor ihnen bibberte wie ein Häufchen Elend es nicht besser gekonnt hätte. Noch bevor Paige irgendwie hätte agieren können, um Zimt aus den Händen des Duftstengels zu befreien, stieß er die junge Frau nach vorn. Sie strauchelte und wäre gefallen, wenn Paige sie nicht im letzten Moment aufgefangen hätte.

Kaum dass sich der bunte Perlenvorhang bewegt hatte, stürmte Ryon wie ein riesiger, dunkler Schatten an ihnen vorbei. Hinter dem Magier her und hinein in den Saal, den Paige am liebsten nie wieder von innen sehen wollte.

Ein tiefes Seufzen brachte einen kurzen Hustenanfall hervor, der Zimt in ihren Armen hochschrecken ließ.

„Du bleibst hier, verstanden? Zimt...“

Paiges Stimme war warm und freundlich. Ihr fiel nicht zum ersten Mal auf, dass sie nicht einmal den richtigen Namen der jüngeren Frau kannte.

„Bitte. Ich will nicht, dass dir was passiert.“
 

Es mochte vielleicht absurd klingen, zu behaupten, Ryon hätte den Bastard eingefangen, weil dieser ‚nur‘ ein Mensch war und somit weit nicht so schnell wie er, doch an der Tatsache ließ sich nicht rütteln und im Grunde war er froh, dass er dieses Schwein nicht erst auch noch hatte lange einfangen müssen.

Über Kissen und kleinen Tischchen mit Tabletts voller Süßigkeiten stolpernd, war seine Beute nicht einmal das Wort ‚Fang‘ wert, als Ryon ihn viel zu leicht erwischte.

Ein Hieb in den Rücken des Magiers und dieser brach schreiend zusammen, um sich vor Schmerz am Boden zu krümmen. Dabei waren die Kratzer noch nicht einmal tief genug gewesen, um dessen Rückgrat zu zerfetzen. So leicht wollte Ryon es dem anderen nun doch nicht machen.

Mit wütenden Tritten katapultierte er samtene Kissen, die nur so nach diesem Abschaum stanken zur Seite, um den Weg frei zu haben. Danach packte er den Magier im Genick und zog ihn wieder auf die Beine. Seine Hand dabei so eng um dessen Hals geschlungen, dass dem Arschloch kein Laut mehr über die Lippen kam.

Ryon wollte nichts hören. Kein Winseln, kein Flehen und schon gar nicht irgendwelche hohlen Entschuldigungen, die nicht einmal ein Beichtvater angenommen hätte.

Stattdessen war er es, der dem Kerl leise ins Ohr knurrte.

„Hör genau zu.“

Seine freie Hand wanderte am zitternden Körper des Magiers hinab, während er die Krallen provokativ über dessen Kleidung zog, damit dieser sie auch deutlich spüren konnte und je näher die Klauen dessen Leistengegend kam, umso verzweifelter zappelte dieser wie eine Puppe an ihren Fäden und versuchte Ryons Hand um dessen Hals zu lockern. Selbst dass der Kerl ihn blutig kratzte, störte ihn nicht.

„Sei froh, dass ich nicht mehr Zeit für dich habe und ich der einzige Gefährte einer Frau sein werde, der sich je bei dir für deine Taten revanchiert.“

Einen Moment lang, in dem der Duftspender vollkommen erstarrte, schwebe Ryons Hand direkt mit ausgefahrenen Krallen über dessen edelsten Teilen, doch anstatt ihn sofort auf der Stelle zu kastrieren, hob er den Magier noch etwas weiter hoch und trieb seine Klauen direkt in die Innenseite dessen Oberschenkels.

Ein keuchendes Röcheln war alles, was man als Zeichen des Schmerzes von ihm hören konnte, doch dem Kerl brach sowohl der Schweiß aus, wie er auch vollkommen bleich wurde. Das lag aber nicht nur an dessen Todesangst, sondern an dem Blut, das sein Hosenbein zu durchtränken begann. Erst tropfend, dann rinnend und als Ryon seine Klauen schließlich aus dem warmen Fleisch zog, sprudelte es regelrecht.

„Deine Oberschenkelarterie ist zerfetzt. Drei Minuten. Dann bist du tot.“

Das war viel zu gnädig für diesen Bastard, aber Ryon hatte nicht mehr viel Zeit. Hätte er sie, diese drei Minuten wären noch nicht einmal ein Wimpernschlag in der Zeitspanne, die er sich für diesen Kerl genommen hätte.

Noch dazu, würde dieser Stinkstiefel vor lauter Schock nichts mehr spüren und vermutlich auch viel zu schnell ohnmächtig werden, doch als Ryon den Sack wieder auf den Boden gleiten ließ, um sich über ihn zu beugen, hatte er nicht vor, den Magier die verbleibende Zeit genießen zu lassen.

Noch einmal ließ er unheilverkündend seine Krallen knacken, nur um dann mit seinem Werk zu beginnen.
 

Paige hatte ihre Hände langsam von Zimts Ohren genommen und löste sich nun auch ganz von deren zitterndem Körper, um aufzustehen. So, wie sich der Gestank in einer irrsinnigen Geschwindigkeit verflüchtigte, musste die Stille nun tatsächlich das Ende sein. Das Ende des Magiers und seiner Herrschaft über diese manipulierten Frauen.

Es hatte sie mitgenommen, die Todesschreie des Mannes zu hören. Doch nicht etwa, weil er ihr mehr Leid getan hätte, als jedes andere lebende Wesen. Nein, er hatte es sogar verdient. Ihr ging es nicht darum. Aber das Töten sollte endlich vorüber sein.

Als sie den leise klimpernden Vorhang teilte und lautlos hindurch schlüpfte, bildete sich ein fester, scharfkantiger Kloß in ihrem Hals. Verwirrt und entgeistert sah sie sich um, blickte auf die Bonbonfarben und all das Andere... Dekor, das hier so fehl am Platze war. Wie das Puppenhaus eines verspielten Vergewaltigers.

Stumm trat sie neben Ryon und sah auf den blutenden Haufen Fleisch hinab, der vor seinen Füßen lag. Der Ekel, mit dem sie sich abwandte, konnte trotzdem nicht alles fassen, was sie in diesem Raum immer noch empfand. Sie wollte hier raus. Die Frauen alle in Sicherheit bringen.

„Hoffentlich... werden sie sich langfristig erholen.“

Einige Frauen, die sich in Grüppchen hinter dem Brunnen oder in angrenzenden Zimmern versteckt hatten, kamen langsam und vorsichtig wieder zum Vorschein. Als hätte man sie aus tiefem Schlaf oder einer Art Drogenrausch geweckt, blickten sie meist orientierungslos um sich. Viele hielten sich die schmerzenden Köpfe und wenige rollten sich in tiefem Schock einfach zu einer wimmernden Kugel zusammen.

Paige spürte, dass sie unter ihren Schuppen blass wurde, als sie unter diesen schwer Getroffenen auch ein bekanntes Gesicht entdeckte. Sugarplum.
 

Er würde mindestens eine ganze Flasche Shampoo brauchen, um den Magier aus seinen Haaren zu bekommen, doch im Moment war Ryon schon froh, wenn er endlich hier heraus war.

Erst als Paige an seiner Seite stand und er wieder einen Blick für andere Dinge bekam, wurde ihm klar, dass er Publikum bei seiner Metzgerarbeit gehabt hatte. Überall kamen verängstigte, verwirrte, halbnackte Frauen hervor und allein deren große Anzahl ließ Ryon auf der Stelle wünschen, noch einmal drei Minuten mit diesem elendigen Bastard zu haben. Doch es war gut so, dass er sie nicht mehr hatte. Es musste endlich ein Ende haben. Das alles hier.

Paige plötzlich aufmerksamen Blick folgend, sah Ryon zu einer Gruppe von Frauen hinüber, die kaum wagten, näher zu kommen. Und aus deren Mitte stach ihm ein bekanntes Gesicht hervor. Er wurde leichenblass und für einen Moment lang, blieb ihm das Herz stehen.

Völlig fassungslos betrachtete er die Frau, die einst eine gute Freundin seiner verstorbenen Gefährtin gewesen war und schon seit Jahren als vermisst galt. Hätte er nicht vor kurzem noch nach dieser Frau geforscht und ein paar anderen, er hätte sie vermutlich nicht wiedererkannt. Aber als er sich mit großen Augen im Raum umsah, sich jedes Gesicht einzeln einprägte, begann er zu zittern. Einige von ihnen erkannte er anhand von Bildern wieder, da er sie sonst noch nie gesehen hatte. Aber auch das war mehr, als er je zu hoffen gewagt hätte.

„Die Vermissten…“, hauchte er nur, ehe er zur ersten Frau zurückkehrte und einen Schritt auf sie zu ging.

„Sarah? Sarah O’Neal?“
 

In Sugarplums Gesicht schien sich noch mehr Verwirrung zu spiegeln. Auch wenn Paige vor Sekunden noch sehr stark bezweifelt hatte, dass das überhaupt möglich war. Doch ihr selbst ging es kaum anders, als Ryon zuerst von Vermissten sprach und dann auch noch Sugarplum mit einem sehr real klingenden Namen ansprach.

Kannten sie sich etwa?

Es sah ganz so aus, auch wenn beide noch zu zweifeln schienen. Sugarplum – oder vielleicht besser: Sarah – wagte keinen Schritt näher zu kommen, suchte aber sehr intensiv etwas in Ryons Gesicht. Ihre Lippen bewegten sich, als spreche sie ein stummes Mantra, während die Falten auf ihrer Stirn immer tiefer wurden.

„Ryon?“

Wie unglaublich dieses Wiedersehen war, konnte Paige kaum fassen. Einerseits wollte sie sich gern darüber freuen, dass anscheinend eine Verbindung zwischen Ryon und dieser jungen Frau bestand. Das hieß, dass es noch Andere geben konnte, die sich freuen und sehnlichst auf sie warten würden. Und die ihr helfen würden den Schock und die psychischen Qualen, die ihre Gefangenschaft sicher nach sich ziehen würde, zu verarbeiten.

Immer mehr der Frauen kamen näher, wischten sich über die Augen oder erkannten sogar einander wieder. Als wären sie sich seit Jahren einfach auf der Straße wieder begegnet.

„Wir müssen sie alle hier raus bringen...“
 

Einen Moment lang, betrachtete er das Gesicht von Sarah, die langsam immer stärker aus seinen Erinnerungen zurückkehrte. Abende voller Lachen. Einen reich gedeckten Tisch. Die pulsierende Energie von einem Ritual, das nur für Frauen bestimmt war und die er trotzdem, selbst vom Haus aus hatte spüren können. Reine, gute, wohlbringende Magie. Sarah war eine gute Hexe. Vielleicht war sie deshalb hier gelandet.

„Du hast recht.“

Ryon riss sich vom Anblick der Frauen los und wandte sich an Paige. Er trat zu ihr, berührte sie jedoch nicht, als er die Stimme senkte, damit nur sie ihn hören konnte. Er wollte ihr nicht zu nahe kommen, so wie er jetzt aussah.

„Wir werden sie alle niemals unbemerkt hier heraus schaffen können. Bestimmt ist Boudicca schon informiert. Aber wir haben ja noch das hier.“ Er schloss seine Hand fest um das blutbespritzte Amulett, das wie immer auf seiner Brust lag.

„Wenn es sein muss, werden wir eben verhandeln. Trotzdem will ich, dass du dich so weit wie möglich von ihr fern hältst. Bitte, ich will nicht, dass sie dich noch einmal als Druckmittel einsetzt. Dieses Mal werde ich nachgeben.“
 

Paige schluckte ein Schnauben hinunter, als Ryon sie an das Schmuckstück erinnerte. Sie wusste sehr wohl, dass Marlene nur das Beste gewollt hatte, als sie es ihm gab. Aber hätte Ryons damalige Gefährtin gewusst, was mit diesem Amulett alles verbunden war... Sie hätte ihm diese Bürde niemals auferlegt.

Entschlossen und mit einem grimmigen Ausdruck in den Augen nickte Paige. Doch ihre Antwort fiel wahrscheinlich nicht so aus, wie Ryon es gern gehabt hätte. Im Moment konnte sie das schlecht einschätzen. Aber genauso wenig konnte sie etwas gegen ihr Bedürfnis tun, ihn nicht noch einmal irgendwelchen seelischen Qualen auszusetzen, die mit ihr zu tun hatten.

„Ich werde auf mich aufpassen. Und ich werde an deiner Seite bleiben.“

Mit einem einladenden Lächeln, das vor allem Erstaunen in den Gesichtern der anderen, zahlreichen Frauen hervor rief, drehte sie sich um. Ihre Arme ausgebreitet, sprach sie alle Anwesenden auf einmal an.

„Ladys, wir werden jetzt alle diesen Keller und dann das Haus verlassen.“

Über das Gemurmel fügte sie ohne den geringsten Anflug von Peinlichkeit hinzu: „Es wäre schön, wenn eine von euch den Weg wüsste.“
 

Da er ohnehin nicht damit gerechnet hätte, Paige würde ihn alleine in den Kampf ziehen lassen, war er schon froh, von ihr zu hören, dass sie aufpassen würde. Mehr konnte er von einer so starken Frau vermutlich nicht erwarten und es war, trotz des schlechten Gefühls in seinem Magen, gut zu wissen, dass er wenigstens ihr vertraute und sich auf sie verlassen konnte. Zumindest würde sie ihn nun nicht mehr einfach vergessen, denn dieses Problem hatten sie nun definitiv beseitigt und Boudicca würde er nicht einmal in ihre Nähe lassen. Niemals sollte mit seiner Gefährtin passieren, was mit Delilas Gefährten geschehen war. Sich selbst schloss das ebenfalls mit ein. Bevor er Paige so etwas antat, würde er sich eher umbringen.

„Ich weiß, wie wir hier heraus kommen. Ich musste ein paar … Botengänge erledigen.“

Eine blonde Schönheit, die nahezu für diesen Hauch von Nichts, das sie am Leib trug, maßgeschneidert zu sein schien, trat vor. Auch ihr sah man noch die Verwirrung an, doch in ihren Augen konnten man auch etwas anderes erkennen. Etwas, das über die hübsche Fassade hinaus ging und einem das Fürchten lehren konnte. Sie war wütend, sie war beherrscht, aber allen voran, schien sie auch mehr als nur eine einfache Hexe zu sein.

Wer auch immer sie war, der Duftspender konnte sich glücklich schätzen, schon im Reich der Toten zu sein. Diese Frau hier hätte sicher auch so einige Tricks auf Lager gehabt, um ihm einen schönen Abgang zu bescheren und doch war sie deshalb nicht weniger gut, als Ryon. Das sagte ihm sein Instinkt.

„Gut. Dann los. Die Zeit drängt.“

71. Kapitel

Es brauchte nicht lange, bis alle Frauen dicht zusammen gedrängt die unheimlichen Flure des Kellergewölbes entlang liefen. Sie waren sehr still und hielten sich oftmals gegenseitig fest, was auch gut so war. So konnte wenigstens keine von ihnen verloren gehen.

Paige, die Blonde und Ryon waren an der Spitze der Truppe. Von hinten erwartete niemand mehr einen Angriff, darum bildeten sie die vorderste Verteidigungsfront.

Anfangs war Ryon noch etwas skeptisch gewesen, was die Fähigkeiten ihrer Führerin anging, immerhin vergaß er nicht so schnell, unter wessen Einfluss sie alle hier gestanden hatten, doch dem Gefühl nach kamen sie tatsächlich immer höher, bis sie schließlich die dunklen Gänge hinter sich ließen und in der hellen Empfangshalle ankamen. Sie war nicht einfach nur leer, sondern wie ausgestorben. Als hätten alle das Gebäude fluchtartig verlassen. Bis auf einen.

Ryon fuhr auf dem Absatz herum, als sein scharfes Gehör hastige Schritte im Treppenhaus aufschnappte. Sofort drängte er die Damen auf den Ausgang zu, während er angriffsbereit die Tür zum Treppenhaus im Auge behielt.

Zum Glück musste er nicht einmal etwas sagen, sonder die Blonde meinte knapp: „Ich kümmere mich schon um sie.“ Ehe sie die vielen halbnackten Frauen fort von diesem schrecklichen Ort führte.

Kaum dass die letzte von ihnen, das Foyer verlassen hatte, schwang die Tür zum Treppenhaus auf und Delila kam ganz in Gestaltwandlergeschwindigkeit heraus geschossen.

Beinahe wäre sie in ihn hinein gelaufen, wenn sie nicht noch rechtzeitig vor ihm schlitternd zum Stehen gekommen wäre.

Ihre Augen waren vor panischer Angst geweitet, als sie ihn erblickte, doch im nächsten Moment drückte sie fast schon fauchend das kleine Kind – es war nicht einmal annähernd so alt wie Mia – an ihren zitternden Leib und ihre ausgefahrenen Krallen waren nicht nur reine Deko. Sie drohte ihm, mit allen Waffen die sie hatte.

„Geh mir aus dem Weg!“

Ryon rührte sich keinen Zentimeter.

„Was hast du vor? Wieso bist du nicht schon früher abgehauen? Ich dachte, dank mir, hätte sie dich gehen lassen.“

Delila schnaubte und stampfte auf dem Boden auf, was im krassen Gegensatz zu den leicht schaukelnden Bewegungen des Kindes in ihren Armen stand.

„Glaubst du ernsthaft, diese Frau würde auch nur ein einziges Mal ihr Wort halten? Ich musste warten, bis ihr zwei genug Chaos gestiftet habt, so dass ich dabei unwichtig wurde. Und jetzt lass mich gehen. Das hier geht mich nichts mehr an. Sie ist hinter euch her!“

Nun war Ryon es, der schnauben musste.

„Dann geh und lass deine Gefährten im Stich! Los, bring deinen Sohn in Sicherheit. Ich verstehe das, also hau ab!“

Warum er plötzlich so wütend war, verstand er selbst nicht. Schließlich war ihm klar, dass Delila Prioritäten setzen musste, aber wäre er an ihrer Stelle … könnte er Paige verlassen, selbst wenn die Sicherheit ihres Kindes auf dem Spiel stand?

Darüber nachzudenken, dauerte zu lange und der Schmerz in Delilas Augen machte ohnehin klar, dass sie sich dieser Tatsachen sehr wohl bewusst war. Sie musste retten, was sie retten konnte. Er verstand es durchaus, auch wenn ihm der Gedanke daran selbst weh tat.

Langsam trat er zur Seite, ohne sie noch einmal anzusehen.

„Geh.“

Delila ging langsam an ihm vorbei, als hütete sie sich davor, ihm den Rücken zuzudrehen, doch schließlich blieb sie noch einmal stehen.

„Sie sind im obersten Stockwerk…“

Hastig drehte sie sich um und begann zu laufen.

Ryon sah ihr nicht hinterher, sondern griff nach Paiges Hand und zog sie mit sich. Weg von den Fahrstühlen. Er würde nicht riskieren, dort drin festzuhängen, da nahm er lieber jede einzelne verdammte Treppe in Kauf, die sie nach oben Laufen mussten.
 

Verdammt, wie gern hätte sie auch einmal ihre Antipathie so gezeigt, dass man es mehr wahrnahm, als das Aufstellen ihrer Schuppen. Denn diese klapperten mit der Aggression der Dämonin zusammen im Einklang, als Delila einmal mehr aus dem Nichts auf der Bildfläche erschien.

Wäre das kleine Kind nicht gewesen, Paige hätte sich kaum beherrschen können. Dass Ryon mit der Gestaltwandlerin auch nicht gerade sanft ins Gericht ging, schmeichelte auf unerklärliche Weise Paiges Ego. Sie hätte es weder vor ihm noch sich selbst jemals laut zugegeben, aber die Aussage der Wölfin aus dem 'Faß' machte ihr immer noch etwas zu schaffen. Umso besser, dass Delila so schnell verschwand, wie sie aufgetaucht war und auch noch einen wichtigen Hinweis hinterließ.

Ryon gab ein strenges Tempo vor und sie hetzten die Treppenstufen so schnell hinauf, wie Paige es nicht für möglich gehalten hätte. Doch je höher sie kamen, desto deutlicher beschlich sie ein seltsames Gefühl von Endgültigkeit. Wenn sie das oberste Stockwerk betraten, würden sie unweigerlich Boudicca gegenüber treten. Jemandem, von dem Paige nie gedacht hätte, das es ihn in ihrem Leben geben würde: Einem Todfeind.

Die Gedanken verflogen und ohne zu zögern trat Paige hinter Ryon durch die Feuertür des Treppenhauses, um auf einem Gang zu landen, an den sie sich schemenhaft erinnern konnte. Selbst die Topfpflanzen neben der Holztür machten sie wahnsinnig.

Prüfend schnellte immer wieder ihre dunkle Zunge zwischen ihren Lippen hervor, tastete in der Luft nach jeder Spur, die hier nichts anderes als Unheil bedeuten konnte. Die Dämonin war auf der Hut und so stark an Paiges Oberfläche, wie schon lange nicht mehr.

„Vielleicht hätte ich Dad's Elixier doch nicht vernichten sollen...“, murmelte sie leise, als sie Ryon den Gang hinunter folgte und jedem dabei auch dem kleinsten Geräusch lauschte. Hier war es auch wieder dringend an der Zeit, sich immer wieder umzudrehen. Die beiden Werwölfe waren zwar groß, aber auf leisen Sohlen konnten sie sich bestimmt trotzdem bewegen, wenn sie es darauf anlegten.
 

Seine Nerven lagen vollkommen blank und er musste sich stark zusammen reißen, um sich nicht auf der Stelle zu verwandeln. Gerade in diesen Situationen war er lieber in seinem dicken Pelz, als in dieser dünnen, leichter zu verletzenden Haut. Doch die Jahre als Kopfgeldjäger in denen er sich nie verwandelt hatte, hatten zumindest diesen einen Vorteil gebracht, dass er sich auch auf seine bloßen Hände verlassen konnte, wenn es darauf ankam.

Vielleicht war es die angespannte Situation oder die Aussicht auf ein baldiges Ende, die Ryon zu Paige herumfahren ließ, als er ihre leisen Worte sehr deutlich hatte hören können.

„Paige, ich weiß, dass hier ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für so etwas, aber…“ Vielleicht würde es nie wieder einen passenden Zeitpunkt dafür geben. „…egal. Ich will nur, dass du eines weißt und auch wenn das jetzt hart klingt, aber dein Vater war ein mieses Arschloch, das dich als Tochter gar nicht verdient hat. Denk‘ also nicht einmal eine Sekunde daran, dich in etwas verwandeln zu wollen, dass du nie wirklich sein wirst, weil du das nicht bist. Und ich schwöre dir, wenn ich dich noch einmal fast ertränken müsste, würde ich mir eher beide Arme abschneiden, als das noch einmal zu tun. Egal ob Gefährtin oder nicht, was das angeht, würdest du gegen eine Wand reden.“

Abrupt zog er sie an sich und umarmte sie fest.

„Ich liebe dich so wie du bist und du solltest das auch tun.“, hauchte er ihr leise ins Ohr, küsste sie ein letztes Mal zärtlich auf den Hals, ehe er sie wieder los ließ.

Da bis jetzt noch niemand aufgetaucht war, nahm er an, dass man sie bereits erwartete. Er könnte sich ansonsten keinen anderen Grund vorstellen, warum man sie immer noch nicht angegriffen hatte.

Boudicca blieb offenbar in jeder Lage unvorstellbar selbstsicher und von sich eingenommen. Das würde sich schon bald ändern.
 

Etwas in Paiges Innerem schob sich an eine andere Stelle und es machte ganz leise klick. Sie verstand nun etwas, das ihr bis zu diesem Moment in dem Ausmaße nicht bewusst gewesen war. Obwohl sie nicht verstehen konnte, wie ihr das niederschmetternde Detail bis jetzt hatte entgehen können, schob sie es auch dieses Mal zur Seite, um nicht abgelenkt zu werden. Auch wenn sie seinem Wunsch nicht sofort nachkommen konnte, nahm sie sich Ryons Worte zu Herzen.

„Keine Sorge. Mit jedem Moment, den ich dich lieben und glücklich machen darf, komme ich mir selbst ein bisschen näher.“

Kaum hatte sie den Satz ausgesprochen, wurde ihr Blick hart und entschlossen. Hinter dieser Tür wartete man auf sie. Ob nun auf sie beide oder nur auf Ryon und das Amulett war vollkommen nebensächlich. Was wichtig war, blieb die Tatsache, dass sie diejenigen sein würden, die aus dem Zusammentreffen am Ende als Sieger herausgehen würden.

Noch einen tiefen Atemzug erlaubte sie sich, bevor sie neben Ryon vor die Tür trat.

„Na dann los.“
 

Es gab nur diese eine Tür, an die er sich erinnern konnte, als man ihn hier herauf geschleift hatte. Also musste es die richtige sein.

Obwohl Ryon angespannter war, als in der Nähe des toten Mistkerls unten im Keller, trat er die Tür dennoch nicht ein, sondern öffnete sie sogar relativ ruhig. Die Augenblicke, in denen sie sich strampelnd und kämpfend gegen ihr Schicksal gewehrt hatten, waren nun vorüber. Dass sie das hier nun zu Ende bringen würden, ob so oder so, war unausweichlich. Warum also noch dagegen ankämpfen? Sie würden sehen, was die Zukunft brachte und Ryon war unendlich dankbar dafür, dass Paige dabei an seiner Seite war. Natürlich hätte er sie gerne in Sicherheit gewusst, aber das Thema war längst durch. Sie war hier und das war gut so.

Die Tür schwang lautlos auf, als sie den Raum betraten, den er hoffentlich nach diesem Tag nie wieder sehen würde. Boudicca lag in alter Manier auf ihrer Chaiselongue, die Lippen zu einem selbstgefälligen Lächeln verzogen, als hätte sie mit nichts anderem, als ihrem Erscheinen gerechnet, während Dean und James wie schweigende Statuen neben ihr standen, die Blicke ausdruckslos, als wären sie nichts weiter als Marionetten, die auf den Befehl des Puppenspielers warteten.

Vermutlich waren sie im Grunde auch nichts anderes.

„Du hast mich warten lassen, Ryon. Aber da du das Amulett mitgebracht hast, werde ich dir noch einmal verzeihen.“

Ihr sanftmütiges Lächeln war so falsch, dass es einen bitteren Geschmack auf Ryons Zunge hinterließ und er sich am liebsten geschüttelt hätte. Der Frau das Maul zu stopfen, würde ihm wirklich Freude bereiten.

Langsam richtete Boudicca sich auf.

„Wie ich sehe, hast du auch deine Freundin mitgenommen.“ Sie lachte kurz, über Ryons immer weiter verdüsterndes Gesicht.

„Oh ja, ich weiß wer sie ist. Nach der Nummer, die ihr beide in dem Käfig abgezogen habt, stand das für mich eindeutig fest. Sehr erfrischend, mitanzusehen.“

Ryons Fingerknöchel knackten und er biss sich so stark auf die Zähne, dass sie schmerzten.

„Hast du den wirklich geglaubt, ich wüsste nicht, was in den Räumen dieses Luftverpesters vor sich ging? Dass du ihn umgebracht hast, war wirklich ein großer Gefallen für mich. Er wurde mir langsam lästig.“

Ryon trat einen Schritt vor, geballte Aggression lag in der Luft und in seinem Kopf hämmerte förmlich der Wunsch, diese Hexe zu töten. Jeder einzelne seiner Muskeln wollte diesem Hämmern folgen, doch er war nicht dumm. Er wusste, wozu diese kranke Frau fähig war und trotzdem, als sie galant von ihrer Sitzgelegenheit glitt, sich in aller Ruhe die Falten aus ihrem Kleid strich und schließlich mit einem warmen Lächeln die Hand ausstreckte, das ihn frösteln ließ, war es genug.

„Gib mir das Amulett und deine Freundin kann unbeschadet gehen.“

Mehr als genug.

Boudicca seufzte, als sie die Antwort auf ihre unausgesprochene Frage deutlich in seinem Gesicht ablesen konnte.

„Dann eben auf die harte Tour. Dean… James … ihr könnt seine Freundin haben.“

Was danach kam, ging zu schnell, um noch genau sagen zu können, wie der Ablauf am Ende gewesen war.

Ryon wusste nur noch, dass er sich in der gleichen Sekunde auf Boudicca stürzte, als die beiden Werwölfe von ihrer Seite wichen, um haargenau ihrem Befehl zu befolgen.

Die Hexe hatte sich vermutlich auf seinen natürlichen Beschützerinstinkt seiner Gefährtin gegenüber verlassen und angenommen, er würde sich auf die beiden Zwillinge stürzen, doch er schlüpfte lediglich zwischen den beiden hindurch, um seine Hände direkt, um Boudiccas Hals zu legen.

Natürlich schrie alles in ihm, sofort die Hände von dieser Frau zu nehmen und stattdessen Paige zu Hilfe zu eilen, aber wenn er ihr nicht jetzt vertraute, dann würde er es wohl niemals vollkommen tun. Und das tat er. Er vertraute auf alles was sie war so sehr, dass er nur noch fester zudrückte und dann … ließ er die Hexe unvermittelt los, als sie ihre Hände auf sein Gesicht legte und ihn ein rasender Schmerz durch den ganzen Körper jagte, als hätte er mehrere Hirnschläge hintereinander.

Blut lief ihm aus der Nase und den Ohren, als er mit ihr zusammen zu Boden ging, doch dann ließ der Schmerz plötzlich nach und sein angeschlagener Kopf war erfüllt von der Stimme dieser Hexe. Mit ihren zerzausten Haaren, den langsam aufleuchtenden Blutergüssen um ihren Hals und den wilden Augen, sah sie mehr denn je wie das aus, was in ihrem Inneren wohnte – wahnsinnig.

Ihre Stimme schrie in seinem Kopf so laut, dass er sich am liebsten die Ohren zugehalten hätte, selbst wenn es nichts nutzen würde, doch seine Hände taten etwas ganz anderes.

Er wehrte sich gegen ihren Geist in seinem Kopf, was man an seinen zittrigen Fingern erkennen konnte, doch je mehr er sich wehrte, umso schlimmer wurde der Schmerz hinter seiner Stirn und Boudicca machte den Eindruck, dass es ihr schließlich egal war, ob sie ihn umbrachte oder nicht. Sie wollte nur noch eines – das Amulett.

Ihre Stimme in seinem Verstand schrie ihm diesen Befehl wie einen einzigen Singsang entgegen. Bis er kaum noch eine Pause zwischen den Worten hören konnte.

Ryon hatte das Gefühl, sie würde sein Gehirn aufbrechen, während er hilflos zusah, wie seine Hände ohne seinen Befehl zu seinem Hals wanderten und langsam begannen, die Kette über seinen Kopf zu streifen.

In seinem Geist brüllte er voller Protest auf, doch es war vergebens.

Er versagte und verlor den stillen Kampf.
 

Die beiden Männer, waren so groß wie Ryon, wirkten aber sogar noch ein Stück breiter, als sie sich im Lauf verwandelten und in ihrer wilden Form auf Paige zugehetzt kamen. Sie schienen für eine Sekunde gelinde gesagt verwirrt darüber, dass die Frau, die sie in Fetzen reißen sollten, einfach so vor ihnen stand und keine Anstalten machte, das zu ändern. Lediglich ihre Augen zogen sich zu Schlitzen zusammen und ihre Zehen krallten sich ein wenig in den vom Blut dreckigen Fußboden.

Die Brüder waren perfekt auf einander abgestimmt, agierten weniger wie ein Team, als wie eine Einheit, die sich mit aufgerissenen Kiefern und Reißzähnen auf Paige stürzte. Sie ließ sie bis auf einen Meter heran kommen. Paige konnte sogar den Widerschein des Leuchtens in der Iris der beiden sehen, als sie die Arme hochriss und sich selbst auf den Rücken fallen ließ. Die mahlenden Kiefer der Werwölfe verfehlten ihr Ziel und bekamen stattdessen Paiges brennende Handflächen zu spüren, die sie so weit sie es konnte an den Körpern der beiden entlang zog.

Keuchend und nun erst richtig wütend trieben die Werwölfe ihre Krallen in die Tür und den Boden, um sich zu großen Sprüngen davon abzudrücken, während Paige wieder auf ihre eigenen Füße kam. Die arme lodernd vor sich gestreckt, vertraute sie ganz ihrer dämonischen Seite, die sich zu einer sehr vulgären Geste hinreißen ließ.

„Na kommt, Wölfchen...“

Sie folgten dem Zischen auf dem Fuße. Und rannten in den Vorhang aus Feuer, den Paige in weniger als einer Sekunde vor sich hochzog. Ein schmerzerfülltes Jaulen ließ ihre Schuppen klappern und sie warf sich durch ihre selbst erschaffene Mauer, um zu beenden, was sie angefangen hatte. Nicht nur ihr Peiniger würde für seine Taten bezahlen. Für jede Wunde, für jeden Schmerz, den die beiden Brüder Ryon zugefügt hatten, würde Paige ihnen das stinkende Fell über die Ohren ziehen!
 

„NEIN!“

Delila warf sich zwischen ihre Gefährten und Paige, die kurz davor stand, die beiden Werwölfe zu Hotdogs zu verwandeln.

Obwohl die beiden nicht lange brauchen würden, um wieder auf die Beine zu kommen, damit sie erneut angreifen konnten, stellte sich Delila mit verzweifelten Augen und ausgebreiteten Arme vor sie und sah Paige fest an, obwohl die Hitze des Feuers ihr Schweißperlen auf die Haut trieb.

„Hör auf, bitte! Sie können nichts dafür!“

Dean kam als erstes wieder auf die Beine. Kein Wunder, er war der stärkere der Brüder. Sein Maul schnappte nach Delilas ausgestreckten Arm und riss sie zu sich herum, um das Hindernis zu beseitigen, das ihn von seinem Befehl abhielt.

Delila liefen Tränen über die Wangen, doch nicht vor Schmerz oder Angst, sondern aus Verzweiflung. Angst um ihr eigenes Leben hatte sie schon lange keine mehr und der Schmerz war etwas, das ihr inzwischen zu vertraut war.

Obwohl ihre eigenen Gefährten sie zu töten versuchten, sah sie Paige noch einmal fest an.

„Ich kümmere mich um die beiden, also geh! Geh und kümmere dich um deinen eigenen Gefährten. Wenn er Boudicca die Kette gibt, sind wir alle tot!“

Sie nickte nur kurz in die Richtung des anderen Kampfes, der still und ohne großes Gerangel von sich ging, doch nicht weniger heftig war.

Ryon zuckte am ganzen Leib, weil er sich so sehr gegen Boudiccas Einfluss zu wehren versuchte, dass seine Nerven nicht mehr wussten, welchen Befehlen sie nun gehorchen sollten, doch Tatsache war, dass er nicht stark genug war, um zu verhindern, dass er sich die Kette über den Kopf zog.

Delila wandte sich schließlich ab und verpasste ihrem Geliebten einen Schlag auf die Schnauze, die ihn aufjaulen ließ. Sie mochte vielleicht kein Werwolf sein, aber auch Gestaltwandlerfrauen waren nicht harmlos und zum Schutz ihrer Gefährten würde sie es dieses Mal in Kauf nehmen müssen, ihnen weh zu tun. Es ging nicht anders.
 

Paige war rasend vor Wut. Ihre Pupillen hatten sich so stark verengt, dass selbst Stecknadelköpfe dagegen riesig wirken würden und ihre Schuppen schabten aggressiv übereinander. Damit erzeugte sie ein lautes Geräusch, das mit dem einer Klapperschlange vergleichbar war, die kurz vor dem tödlichen Angriff stand. Und von ihrem Ziel abgehalten wurde!

Feuerzungen glitten von ihrer Haut auf den Boden, steckten das Holz in Brand und krochen in immer länger werdenden Armen durch den Raum. Wellenartig breitete sich die Hitze aus und ließ die Luft flimmern. Ein Fingerschnalzen hätte genügt, um den Punkt, an dem Delila und die beiden Werwölfe standen, für immer aus diesem Haus zu radieren.

Sogar die Atmosphäre um sie herum schien zu knistern, als sie einen drohenden Schritt auf die drei zuging.

„Wenn einer von euch uns in den Rücken fällt...“ Paiges Stimme wurde von einem lauten Zischen untermalt, das mit dem Klicken ihrer Schuppen verschmolz, die sich wie eine perfekte Panzerung an ihre Haut anlegten. Sie brauchte gar nicht mehr zu sagen, denn die Wandvertäfelung, die unter aufwallenden Flammen zu Asche zerbröselte, zeigte sehr genau, was sie meinte. Das gleiche Schicksal würde auch die Werwölfe oder Delila treffen, falls sie es wagen sollten.

„Bring sie hier raus. Sofort.“

Damit hoffte sie Delila das letzte Mal gesehen und gesprochen zu haben und zog sich zurück. Allerdings nur, um im nächsten Moment vollkommen die Beherrschung zu verlieren. Für einen Moment schien Ryon noch ihr aller Schicksal in den Händen zu halten, bis – bis er es einfach losließ, um es Boudicca in die Hände gleiten zu lassen. Das leise klimpern der Kette auf dem Metall des Amuletts schien wie ein Glockenschlag durch den Raum zu hallen. Die Zeit schien sich zu dehnen, während Paiges Augen sich ungläubig weiteten und ihr Puls beim Anblick des schrecklichen Bildes – alle Macht in Boudiccas Händen - einfach aussetzte.

„Nein.“

In Flammen gehüllt stob sie auf die Hexe zu. Ryon, der immer noch von Krämpfen geschüttelt zu Boden gegangen war, wurde nicht einmal von einem flammenden Züngelchen getroffen. Sein Körper musste wirken wie von einem unsichtbaren Kokon umhüllt, von dem sich das Feuer auf seltsame Weise fern hielt.

Ganz im Gegensatz zu Boudicca, die nicht von den Flammen allein, sondern zusätzlich von Paiges Körper zur Seite und in die Ecke hinter dem Chaiselongue gerissen wurde. Ein gellender Schrei zerriss die Luft und die Frauen rangen für Momente um die Schmuckstücke.

Bis Paige die Amulette atemlos in ihrer beschuppten Handfläche hielt. Sie pulsierten.

Als würde eine Macht, größer als alles, was Paige in ihrem Leben erfahren hatte, in die Schmuckstücke hinein gezogen, gingen sogar die Flammen zurück. Das Feuer duckte sich, wie ein magisches Tier, das das Unheil in jeder Zelle spüren konnte, bevor es geschah.

„Es ist meins!!“

Mit grabschenden Händen riss Boudicca Paige die verbundenen Amulette aus den Händen. Doch das änderte nichts daran, dass etwas sich darum zusammen zog. Etwas Großes. Paige wusste immer noch nicht, ob sie überhaupt atmete, lebte oder das alles schon Nachwehen ihres Todes waren. Doch sie wusste, dass sie versuchen würde, Ryon zu schützen.

Unter dem spitzen, wahnsinnigen Lachen der Hexe in ihrem Rücken, schnellte sie in die Höhe, überbrückte mit einem Sprung die Distanz zwischen Wand und dem einzigen Möbelstück im Raum und riss es um.

Aus dem Lachen wurde plötzlich ein grauenvoller Schrei.

Sie begrub Ryon und sich selbst so gut es ging unter dem Möbelstück – und wurde plötzlich samt ihm und dem Mobiliar in die Luft gerissen.

Die Explosion traf Paige so hart im Rücken, dass es ihr den Sauerstoff aus den Lungen trieb. Trotzdem versuchte sie zu schreien. Mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, krallte sich Paige an Ryon fest, bis sie beide gegen irgendeinen Widerstand geschleudert wurden und sie ihn fast verlor. Sie spürte ihr eigenes Blut spritzen, als ihr Trommelfell unter der Druckwelle riss und verlor das Bewusstsein, bevor sie ganz sicher war, ob Ryon nichts geschehen konnte. Ihm galt ihr letzter Gedanke, bevor es dunkel um sie wurde. Für ihn – musste sie wieder aufwachen.

Sie beide mussten es.
 

„Oh mein Gott. War das eine Bombe?!“

Die Fragestellerin musste wegen des dichten Staubs husten, der hier immer noch schwer in der Luft hing und sie war nicht die einzige. Es kratzte ihnen allen unangenehm der Hals, aber das hielt sie nicht davon ab, weiter zu gehen, mögliche Trümmer und Hindernisse aus dem Weg zu räumen und das nicht immer nur mit ihren bloßen Händen.

Faith, alias die Blonde, war ganz vorne mit dabei und packte schließlich die weißhaarige Frau an der Schulter, um sie davon abzubringen, mit ihrem schwer verletzten Arm und den vielen restlichen Blessuren die Trümmer aus dem Weg zu räumen.

Faith hatte sie als Führerin mitgenommen, nicht um den anderen Frauen die Last abzunehmen. Davon trug sie offenbar selbst schon mehr als genug.

„Lass mich!“ Die Frau riss sich los, um den Teil einer zersplitternden Holztür aus dem Weg zu räumen, der den Gang blockierte.

„Du wirst dich noch selbst umbringen, wenn du so weiter machst und ist es das, was du willst, nachdem du das alles hier hinter dir hast?“

Die Verletzte fuhr zu ihr herum, während die anderen Hexen sich schweigend an die Arbeit machten, um derweil weiter die Trümmer zu beseitigen. Die Zeit drängte, wenn sie noch Überlebende finden wollten. Bzw. zwei Überlebende.

„Du kannst das nicht verstehen. Ich…“

Delila presste ihren zerstörten Arm einen Moment lang an ihre Brust, ehe sie die andere Frau mit festem Blick fixierte.

„Ich habe diesen beiden unvorstellbare Dinge angetan und trotzdem hat sie mich und meine … beiden, gehen lassen. Zumindest das, bin ich ihnen schuldig, selbst wenn sie es nicht…“

Sie verstummte. Konnte es nicht aussprechen, woraufhin die blonde Frau ihr noch einmal die Hand auf die Schultern legte, ohne dass sie sich noch einmal davon befreite.

„Glaub mir. Wenn ich danach gehen würde, was ich während des Einflusses hier getan habe, müsste ich direkt zur Hölle fahren. Aber, auch wenn es mir und uns allen hier schwer fällt, wir wissen doch tief in uns drin, dass wir das nicht waren. Nicht wirklich jedenfalls und was die beiden angeht, wir werden sie finden und nach Hause bringen. Wir sind ihnen allen zu Dank verpflichtet. Also komm. Wenn du dich schon nützlich machen willst, dann setz für uns deine Nase ein, sonst finden wir sie nie unter den Trümmern.“

72. Kapitel

Er war tot. Musste er einfach sein, denn wenn er sich je Gedanken darüber gemacht hatte, wie der Himmel wohl aussah, dann war es das hier.

Weiche, saubere, duftende Kissen. Eine flauschige Bettdecke, warme Sonnenstrahlen die auf seiner nackten Haut kitzelten. Paiges Duft intensiv in seiner Nase, ihre Nähe keine zehn Zentimeter neben ihm zu spüren und als er mit geschlossenen Augen nach ihr griff, fühlte er sich so leicht und glücklich, als könne er fliegen.

Ihre Finger waren kühl auf seiner Haut, doch er spürte das Knistern, das dieser Berührung einherging und sie somit nur noch lebendiger für ihn machte.

Oh Gott. Er mochte vielleicht tot sein, aber sie war bei ihm, mehr hätte er sich für das Leben danach niemals wünschen können.

„Hallo, Sonnenschein.“

Tylers Stimme klang wie Engelsgeläut. Wer weiß, vielleicht war er auch ein Engel. Ein rothaariger, mit derben Sprüchen und fantastischen Kochkünsten ausgestatteter Engel.

Ryon musste lächeln.

„Mann, Tennessey, wenn ich so seinen seligen Gesichtsausdruck deute, hast du ihm definitiv zu viel Morphium gegeben.“

„Kann schon sein.“

Die Stimme des Arztes schien ein Grinsen zu unterdrücken wollen. Vergeblich.

„Und wie geht’s ihr?“

Tyler wurde ernst und sofort schloss sich Ryons Hand unter der Decke enger um die von Paige. Sein Herzschlag beschleunigte sich und auf einmal war er nicht mehr ganz so selig.

„Sie hatte Glück.“

Okay, anstatt Endorphine durch die Adern gepumpt zu bekommen, war da jetzt definitiv etwas, das man Panik nannte und sich förmlich durch seinen Blutkreislauf ätzte. Ryon schlug die Augen auf und richtete sich so hastig auf, dass er fast vornüber gekippt wäre.

„Hey, ganz langsam, Ryon.“

Tyler hielt ihn bei den Schultern, bis die Welt aufgehört hatte, sich um ihn zu drehen. Doch das kümmerte ihn gar nicht, stattdessen berührte er Paiges Gesicht. Sein ganzer Körper schien irgendwie taub und losgelöst zu sein. Wofür er vermutlich Tennessey danken musste. Auf jeden Fall machte es seine Panik nicht besser, dass er Paiges Haut nur dumpf an seiner spüren konnte.

Er beugte sich zu ihr herab und legte seine Stirn an ihre.

„Paige?“, flüsterte er leise, ohne die Verzweiflung in seiner Stimme vertreiben zu können. Sanft, aber unnachgiebig strich er ihr über die Wangen.

„Sie kommt schon wieder in Ordnung. Lass ihr nur etwas Zeit, ja?“

Ryons Krallen fuhren aus, als er sich wütend seinem Freund widtmen wollte, doch Tennessey kam ihm zuvor.

„Komm, Tyler. Lass die beiden in Ruhe. Nur Gott weiß, was sie die letzten Tage durchstehen mussten. Mehr können wir momentan auch nicht für sie tun. Außerdem muss ich mich noch um meine beiden Patienten kümmern. Wenn Delila weiterhin nichts isst, wird sie nicht mehr miterleben, wie ich ihr diese zwei Hundebabys wieder auf Vordermann bringe.“

Tyler schnaubte einvernehmlich.

„Langsam kommt endlich wieder Leben in dieses Haus.“

Ihre beiden Stimmen entfernten sich und verstummten ganz, als sie die Tür hinter sich schlossen.

Ryon, der keine Sekunde lang von Paige abgelassen hatte, sah erst jetzt, dass er nicht in ihrem gewohnten Zimmer war, sondern in Marlenes und seinem ehemaligen Schlafzimmer. Etwas seltsam, hier zu sein. Andererseits war es der schönste Raum im Haus, denn das Licht fiel wie goldene Schleier in das hell möblierte Zimmer, dass immer etwas nach dem duftenden Öl riechen würde, mit dem die Möbel behandelt worden waren.

Doch im Augenblick kümmerte ihn das wenig. Stattdessen zog er Paige vorsichtig auf seinen Schoß und lehnte sich gegen das hölzerne Kopfteil des Bettes, während er sie betrachtete, in seinen Armen wiegte und streichelte. Tränen liefen seine Wangen hinab und obwohl er spürte, wie sie atmete und ihr Herz kräftig schlug, war die Angst, sie zu verlieren, noch immer niederschmetternd.
 

Unter zitternden Wimpern hatte sie Schemen wahrgenommen. Von Menschen, die sie kannte. Ihre Namen wollten ihr nicht einfallen. Um überhaupt darüber nachzudenken, war sie zu müde.

Lediglich ein sehr tiefer Atemzug war von ihr zu hören, als sie von warmen, kräftigen Armen hochgehoben wurde und sich dann noch gemütlicher gebettet fühlte, als zuvor. Gern hätte sie jetzt gelächelt. In ihrem Inneren tat sie es auch, aber bis nach außen konnte ihre Empfindung sich nicht durchkämpfen. Dafür war sie zu geschwächt, zu müde und zu sicher an diesem Ort.

Erst einige Zeit später – vielleicht sogar Stunden, wurde sie wieder wach. Es war nicht besonders schwierig, die Augen aufzuschlagen. Aber es fühlte sich seltsam an – als würden ihre Wimpern … nachfedern. Überhaupt war ihr Körpergefühl irgendwie taub oder verschoben. Was sie allerdings in dem Moment zur Seite schob und als unwichtig erachtete, als ihr bewusst wurde, dass sie in Ryons Armen lag.

Sein Kinn war auf seine Brust herab gesunken und er atmete leise und gleichmäßig. Wer wusste schon, wie lange er in dieser unbequemen Position verharrt hatte. Paige traute ihm da einiges zu. Doch nicht nur deshalb zog sie sich ein wenig an ihm hoch und küsste ihn vorsichtig auf die Nasespitze.

Es wunderte sie kaum, dass seine goldenen Augen sofort aufflammten und sie sehr wachsam ansahen. Bloß die andere Empfindung darin, wollte Paige das Herz zuschnüren. War es immer noch nicht vorbei?

Der Verdacht, dass sie es immer noch nicht überstanden hatten, ließ ihren Puls so stark rasen, dass sie das Gefühl hatte, sofort wieder ohnmächtig werden zu müssen. Ihre Finger krallten sich in Ryons Arm und sie wollte sich losmachen, auf ihre Füße kommen und dann bloß hier weg!
 

Er brachte keinen Ton heraus. Selbst dann nicht, als Paige offensichtlich kurz davor stand, in Panik auszubrechen.

Ihre Krallen in seinem Arm spürte er kaum. Unnachgiebig hielt er sie in seiner Umarmung fest, egal, wie sehr sie aufstehen wollte, sie war momentan nicht nur zu schwach dafür, was das anging würde er ihr an Stärke immer überlegen sein, wenn er etwas wirklich nicht wollte. Und so war es auch jetzt.

Ryon wollte Paige nicht los lassen. Nie wieder. Nicht auch nur für eine Sekunde.

Sanft legte er eine Hand auf ihre Wange und schloss die Augen, um ihre Panik in den ihren nicht mehr sehen zu müssen. Innerlich war er inzwischen vollkommen ruhig geworden.

Er hatte Zeit gehabt. Zeit zum Nachdenken, zum Nachfühlen und zum Loslassen.

Das vertraute Gewicht des Amuletts auf seiner Brust fehlte, ebenso wie seine geschärften Sinne.

Anfangs hatte er diesen Effekt auf die Wirkung des Morphiums geschoben, doch nun spürte er sich wieder. Spürte jede einzelne Zelle, jedes einzelne Molekül, als würde er es das erste Mal wirklich tun. Der Schatten des Amuletts fehlte und mit ihm war es, als wäre ihm eine gewaltige Bürde von den Schultern genommen worden.

Wenn es nicht vorbei wäre, er hätte es mit Sicherheit gewusst. Er hätte irgendetwas spüren müssen. Eine langjährige Verbindung zu dem Schmuckstück, oder etwas in dieser Art. Doch es war fort. Vermutlich zerstört, denn alles was er spürte, war sich selbst und Paige in seinen Armen.

Trotz der nachgelassenen Sinneswahrnehmung empfand er endlich Frieden.

Sein Kopf senkte sich, während seine Wimpern ein Stück aufflatterten und sich seine Lippen unendlich sanft auf die von Paige legten. Immer wieder. Streichelnd, beruhigend, liebkosend und voller Liebe, bis sie ruhiger in seinen Armen wurde. Danach zog er sie ein Stück höher, bildete mit seinen Beinen einen schützenden Käfig um sie herum und schmiegte seine Wange an ihre.

„Es ist vorbei.“, hauchte er leise, ohne auch nur den geringsten Zweifel zu hegen.
 

Seine Küsse schmeckten nach Farben. Orange, rot, dunkles, sattes Sonnengelb. Farben, in die sie sich jederzeit verlieben und verlieren wollte. Paiges Atmung wurde wieder ruhiger, ihr Körper entspannte sich langsam in Ryons Umarmung und ihre Panikattacke ließ nach. Es war also wirklich vorbei.

Als würde sie es doch noch einmal nachprüfen wollen, streichelten ihre Fingerspitzen sacht über die Stelle, an der das Amulett immer auf Ryons Brust gelegen hatte. Jetzt sah es fast so aus, als würde ihm etwas fehlen.

Paige schloss kurz die Augen, als sie an Marlene dachte. Auch ohne das Schmuckstück würde seine verstorbene Gefährtin immer bei ihm sein.

„Was ist passiert?“, wollte sie leise wissen, während sie versonnen ihre Fingerspitzen aneinander rieb. Im Moment wollte sie lieber nicht wissen, warum genau Tennessey ihr eine derartige Ladung Schmerzmittel verpassen musste, dass sie selbst jetzt kaum ihre Beine spürte.

„Ist mir dir alles in Ordnung?“

Sie sah ihn wieder an. Prüfend diesmal, doch sie konnte zumindest in seinem Gesicht nichts finden, das sie noch mehr beunruhigt hätte.

„Wie lange... Wo sind wir eigentlich?“

Sie hatte so viele Fragen. Wahrscheinlich hätten sie alle noch eine Weile warten können. Ein unterdrücktes Gähnen machte das sogar sehr offensichtlich. Aber sie wollte trotzdem wissen, ob es Ryon wirklich gut ging.

„Ich bin so froh, dass du hier bist...“
 

„Ich weiß es nicht…“ Und eigentlich war es ihm momentan auch vollkommen egal. Es war egal, was passiert war, für ihn zählte in diesem Augenblick nur, dass sie genau hier waren, wo sie sich gerade befanden.

Sanft strich er Paige eine Strähne ihres Haares glatt und betrachtete sie eingehend. Er hatte sie während ihres Schlafs angesehen. Hatte ihren Körper nach jeder einzelnen Verletzung abgesucht und war sicher gegangen, dass Tennessey mit seinen Versorgungskünsten auch wirklich nichts ausgelassen hatte.

Es musste schlimm gewesen sein, doch nach seinen eigenen Verletzungen zu urteilen, waren sie Tagelang nicht aufgewacht. Er trug nur noch ein paar blaue Flecken, ein paar schmerzhafte Prellungen, Risse und oberflächliche Kratzer an sich. Also ja, es ging ihm gut. Endlich.

„Wir sind … Zuhause, Paige…“

Schwach lächelte er, sein Blick war zwar traurig, aber wegen nichts Bestimmtem. Nur, dass er dieses Haus endlich wieder als das anerkannte, was es schon sehr lange nicht mehr für ihn gewesen war und dazu hatte er fast erneut eine Gefährtin verlieren müssen, um das zu erkennen.

„Ruh dich noch etwas aus … Flame… Ich werde hier sein, wenn du wieder aufwachst.“

Ryon küsste sie zärtlich auf die Stirn und blickte sie mit dem Stolz eines Mannes an, der das kostbare in Händen hielt, was man sich nur wünschen konnte – sein Herz und seine Seele verloren an diese Frau.
 

***
 

„Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber für mich scheint die Sonne irgendwie heller in letzter Zeit.“

Ryon blickte zu den bodenhohen Fenstern hinüber, hinter denen er von hier aus zwar nur Baumwipfel erkennen konnte, doch das einfallende Sonnenlicht beleuchtete die sich langsam verfärbenden Blätter auf eine Weise, die ihm warm ums Herz werden ließ.

Dann sah er Paige an, die von großen Kissen gestützt aufrecht in dem riesigen Doppelbett saß, mit einem kleinen Tischchen über ihren Beinen, auf dem ein ganzer Berg Köstlichkeiten aus Tylers Küche stand, um sie wieder auf die Beine zu bringen.

Er nahm sich einen Pancake von dem Stapel, strich etwas Sirup darüber und steckte ihn sich dann Stück für Stück in den Mund, während er Paige immer wieder mit Blicken bedachte, als wäre sie ein Magnet und seine Augen ein anderer. Sie zog ihn immer wieder an.

Sie sah heute besser aus. Nicht mehr so blass und erschöpft, wie noch beim ersten Mal, als sie erwacht war. Er hätte Tennessey beinahe verprügelt, weil der ihm einfach nicht hatte sagen wollen, wie schlimm es um Paige wirklich gestanden hatte, doch vielleicht war es am Ende doch besser so und sein Freund wusste es. Es ging ihr im Augenblick besser und das war es, was zählte.

„Weißt du, dass das Haus vor lauter Bewohnern fast aus den Nähten platzt?“

Er schüttelte leicht den Kopf, als er an all die inzwischen wieder fröhlichen Hexen dachte, die durch die Gänge huschten und viele von ihnen es nicht eilig zu haben schienen, wieder nach Hause zu kommen. Andere waren sofort gegangen, doch die meisten waren geblieben und eigentlich hatte niemand so recht etwas dagegen. Irgendwie war es… Ryon war dankbar, dass sie hier waren. Denn wenn er schon nicht wusste, wie schlimm es um Paige gestanden hatte, so erkannte er doch zumindest gute Hexenkunst, wenn er sie sah und ihre Bandagen waren erfüllt von Kräuterdüften und Salben.

Er war sich sicher, dass diese Frauen in der Tat der wahre Grund dafür waren, dass seine Gefährtin hier noch vor ihm sitzen konnte.
 

Sie sah ihm dabei zu, wie er begeistert von dem Pancake abbiss, zufrieden kaute und sie dabei selbst nicht aus den Augen lassen wollte. Paige schmunzelte.

„Kein Wunder, bei der großartigen Verpflegung.“

Nein, ihr kam die Sonne nicht heller vor, als sonst. Aber der Rest schien in gewisser Weise mit ihr um die Wette zu strahlen. Als hätte sich alles besonders heraus geputzt, oder Tyler wochenlang nur den Mob geschwungen. Bei der Vorstellung musste sie wieder ein bisschen lächeln.

Sie hatte kurz mit Tennessey gesprochen. Ohne dass Ryon davon wusste und ohne dass er davon erfahren würde. Der Arzt hatte ihr nicht viel gesagt, außer dass sie für einige Zeit würde recht kurz treten müssen. Doch der Schatten in seinem sonst so weichen Gesicht, hatte mehr klar gemacht, als viele Worte es gekonnt hätten.

Paige nahm sich ein Stück Rhabarberkuchen, biss davon ab und dachte sich, dass es doch seltsam sein konnte, eine Familie zu haben. Eine echte, intakte Familie. In der man auch auf sich selbst Acht geben musste, damit die anderen sich nicht zu viele Sorgen machten. Daran würde sie sich vermutlich gewöhnen müssen. Aber mit etwas Übung...
 

***
 

„Komm' schon. Sei nicht so streng mit mir...“

Paige lag auf Ryon ausgestreckt und zupfte mit ihren Zehen an dem Bettbezug herum. Ryon sah sie sogar sehr streng an, als würde er ihre Bitte zwar ernst nehmen, aber eben nicht bewilligen wollen. Dabei zuckte sein Mundwinkel allerdings schon sehr verräterisch, als Paige ihren Hundeblick aufsetzte und die Unterlippe nach vorn schob.

„Bitte. Ich – werd auch – ganz – vorsichtig – sein.“

Zwischen jedem Satz drückte sie ihm einen Kuss auf die breite Brust und strich dabei mit den Füßen seine Waden auf und ab.

Als sie an diesem Morgen aufgewacht war, hatte sie sich noch ganz andere Dinge gewünscht, als lediglich nach unten gehen und sich ein bisschen mit den Anderen in die Küche setzen zu dürfen. Dass sie Ryon von diesen Wünschen nichts sagte, war bloße Taktik. Wenn sie das mit dem kleinen Spaziergang hinbekam, traute er ihr vielleicht am nächsten Morgen schon... ein bisschen mehr Aktivität zu.
 

Ryon schnaubte gespielt böse.

„Ich erinnere mich da an eine Situation, ich weiß nicht, ob du sie noch kennst, da wollte ich auch unbedingt aufstehen und ein bisschen mehr, aber da hat mir jemand es genauso streng verboten, wie ich es jetzt tue. Also sie das als meine kleine Revanche an.“

Vorsichtig glitten seine Arme Paiges Wirbelsäule hinauf, über ihre Schultern zu ihre Gesicht, ehe er sich zu ihr hoch streckte, um ihr einen Kuss von den Lippen zu stehlen, denn wenn sie noch länger seine Brust auf so quälend verlockende Weise anbettelte, würde er definitiv nachgeben. In vielerlei Hinsicht.

Als sich ihre Lippen wieder lösten, hatte er eigentlich schon längst verloren. Dieser Frau konnte man sich nur schwer widersetzen, aber Paige machte es einem auch wirklich nicht einfach.

„Na gut.“ Er seufzte.

„Unter einer Bedingung.“ Sein Blick wurde ernst, weil er sich immer noch Sorgen um sie machte, die nur langsam mit jedem Tag weniger wurden.

„Deine Füße berühren kein einziges Mal den Boden, verstanden? Du wirst dich damit zufrieden geben müssen, ein Taxi durchs Haus in Anspruch zu nehmen. Ansonsten bleibst du hier, bis du Wollmäuse zwischen deinen Zehen ansammelst.“
 

"Hey... Das ist nicht fair. Du solltest nur zwei Tage im Bett bleiben. Ich hänge jetzt schon fast zwei Wochen hier rum."

Als er sie küsste, glühte ein Fünkchen Hoffnung auf, dass er doch nachgeben würde. Es war doch auch wirklich nicht anstrengend. Einmal die Treppe hinunter und dann zwei Türen. Das würde sie doch wirklich schaffen.

Allerdings brauchte sie gar nicht zu argumentieren, denn Ryon gab seufzend nach.

"Welche Bedingung?", wollte Paige skeptisch wissen und war nicht besonders erstaunt, als sie die Regeln ihres kleines Ausflugs mitgeteilt bekam. Das kannte sie ja schon.

Ein breites Grinsen schlich sich in ihr Gesicht und sie setzte sich ein wenig auf, zog die Knie ganz nah an Ryons Körper und gab ihm einen langen, aber doch noch recht unschuldig wirkenden Kuss auf die Lippen.

Ihre nächsten Worte wirkten allerdings gar nicht mehr so unschuldig.

"Um die Wollmäuse mache ich mir keine Sorgen, aber ständig im Bett mit dir sammle ich schon seit einiger Zeit was ganz anderes an..."

Sanft biss sie ihn in die Unterlippe und streichelte seinen Hals. Oh verdammt, so würde sie mit ihrem Plan für den nächsten Morgen bestimmt nicht weit kommen.
 

Ryon starrte Paige mit halb offenem Mund an, während ihm ein heißer Schauer durch den Körper jagte. Okay… das war jetzt wohl doch etwas … zu viel gewesen. Schließlich war sie nicht die Einzige, die schon seit einiger Zeit etwas ansammelte.

Sein Herz schaltete mit einem Mal ein paar Gänge höher und so sanft Paiges Biss in seine Unterlippe auch war, so knisternd war es auch.

Ohne groß darüber nachzudenken, fingen seine Hände ihr Gesicht ein. Er küsste sie heiß und innig, nur um sich keine Minute später wieder von ihr zu trennen, als hätte er sich an ihr verbrannt, was im gewissen Sinne auch gar nicht so falsch war.

„Oookay. Dann lass uns doch keine Zeit verlieren. Ich brauch auch etwas … Bewegung.“ Nein, Abkühlung wäre eher das richtige Wort dafür gewesen.

Hastig sprang er aus dem Bett, während er Paige wohlweißlich nur seine Kehrseite zeigte. „Ich zieh mir nur schnell etwas Richtiges an und hol dir deinen Morgenmantel.“

Danach war er auch schon im Bad verschwunden, nachdem er Hose und Hemd vom Sessel neben der Tür mit sich gerissen hatte.

Fünf Minuten später kam er salonfähig wieder heraus, mit Paiges Morgenmantel in der Hand, in den er ihr half. Es war zwar bestimmt egal, wenn sie mit einem Schlabbershirt herum lief, aber für seinen Geschmack waren definitiv zu viele Fremde im Haus, um Paige NICHT in einen Morgenmantel zu stecken.

Als sie zu seiner Zufriedenheit bekleidet war, nahm er sie vorsichtig hoch, als wäre sie aus einem zerbrechlichen Zuckergebilde, das schon bei einem Hauch von zu viel Druck irreparabel beschädigt werden könnte. Trotzdem hielt er sie eng an seine Brust gedrückt und schmiege kurz seine Wange an ihre Stirn, ehe er mit ihr zusammen, das Schlafzimmer verließ.

„Sag‘ mir bitte gleich, wenn es dir zu viel wird, okay? Hier ist ganz schön viel los in letzter Zeit, auch wenn es langsam ruhiger geworden ist, nachdem drei weitere Hexen sich entschlossen haben, doch nach Hause zu gehen.“ Oder zumindest nach ihren noch lebenden Verwandten zu suchen. Manche von ihnen waren schließlich schon länger Boudiccas Gefangene gewesen, als Marlene überhaupt diesen Namen gekannt hatte.

Unten am Treppenabsatz angekommen, hopste ein weißer Welpe mit silbergrauen Augen an seinen Füßen vorbei und Mia lief quietschend hinterher. Sie sah ihn noch nicht einmal, aber der kleine Sonnenschein hatte Paige in letzter Zeit ohnehin viel zu oft in Beschlag genommen. Wogegen Ryon eigentlich überhaupt nichts hatte. Schließlich waren seine beiden Ladys sein Ein und Alles.

„Der Junge wächst wie verrückt.“, murmelte Ryon eher zu sich selbst und schüttelte leicht ungläubig den Kopf. Was die Eltern des kleinen anging, war das noch eine ganz andere Baustelle. Eine, die er Paige momentan sicherlich nicht zeigen wollte.

„Also, Ma’am wohin möchten Sie?“
 

Paige sah dem Welpen und Mia hinterher, ohne auf Ryons Frage zu achten. Sie waren also hier? Ihr wurde ein bisschen flau im Magen und ihre Haut fing in sehr vertrauter Weise zu jucken an. Paige versteifte sich und bereute ihren Ausflug schon jetzt. Am liebsten hätte sie sich sofort wieder ins Schlafzimmer bringen lassen.

Die Wölfe waren hier.

Womöglich auch noch in der Nähe des Hauses? Paige warf Ryon einen fragenden und zugleich doch recht wütenden Blick zu. Nein, er wäre nicht so unvorsichtig! Er würde die Brüder niemals in Mias und Ais Reichweite bringen.

Oder hatte Delila ihn irgendwie dazu überreden können?

Eifersucht und grenzenloses Misstrauen fraß sie fast von innen auf, während ihre Schuppen immer näher unter ihre Hautoberfläche rückten.

Dabei wollte sie nicht wütend auf Ryon sein. Sie wollte sich keine Sorgen mehr machen müssen. Aber warum hatte er die Gefahr so nah zu ihrer Familie gebracht?

„Ich möchte Ai sehen.“, war alles, was sie ihm als Richtungsangabe gab. Aber das war auch alles, was sie hervor brachte, ohne zu explodieren.
 

Als Paige ihm ihren Wunsch mitteilte und er eine scharfe Note in ihrem Duft feststellen konnte, obwohl sein Geruchssinn in dieser Form nun schwächer war, wollte er schon fragen, was los sei, doch … er hielt den Mund und ging durch die Eingangshalle in Richtung Küche, wohin auch der kleine Welpe und Mia gestürmt waren.

Ai war wie immer dort, wo auch Tyler sich oft aufhielt und das war bei der momentanen Anzahl an hungrigen Mägen eben direkt an der Quelle.

Schon von weitem konnte man das Lachen von Frauen hören. Inzwischen war Ryon daran gewöhnt, weil das inzwischen fast Gang und Gebe zu sein schien. Die Hexen verstanden sich einfach sehr gut mit Ai, Tyler, Tennessey und er gab es zu, auch er fand sie sympathisch. Vor allem Faith die Blonde war eine ziemlich mächtige Hexe und trotzdem hielt sie die kleine Frauenqulique immer auf Trab und sorgte dafür, dass sich das Haus nicht in einen Hühnerstall voller gackernder Weiber verwandelte. Sie war es auch gewesen, die immer wieder etwas aus Marlenes Kräuterküche nahm, um daraus die Salben für Paige zu machen oder ihr einen speziellen Tee zu zubereiten. Ebenfalls Dinge, die er eigentlich nicht erwähnt hatte, aber nur, weil sie ihm nicht mehr so wichtig erschienen. Paige ging es besser. Das war das Einzige, was für ihn zählte.

Faith tat jedoch noch etwas für sie. Sie studierte alle Materialien, die sie über die Amulette zusammen getragen hatten, um genau herausfinden zu können, was nun wirklich passiert war, als Ryon sein Amulett und den Kampf bereits für verloren geglaubt hatte.

Dass Boudicca tot war, stand außer Frage, da zumindest noch Gebissabgleich möglich gewesen war. Aber der Rest von ihr war regelrecht pulverisiert worden.

Als sie die Küche betraten, war Faith gerade dabei, Tyler beim Schneiden der riesigen Gemüseberge zu helfen, während eine Hexen zuerst Mia in einen Kinderstuhl setzten und dann den kleinen weißen Welpen auf ihren Schoß hochnahm, während die andere den Tisch deckte. Vermutlich würde es bald etwas zu Essen geben.

Ai saß auf ihrem Stammplatz und sowohl ihr Blick, als auch alle anderen richteten sich auf die Neuankömmlinge, kaum dass die Küchentür aufgeschwungen war.
 

Als sie die Küche erreichten, wollte Paiges Stimmung sofort in sehr viel positivere Gefilde schwingen. Bloß der kleine weiße Welpe, der unruhig auf dem Schoß einer der anwesenden Frauen herum zappelte, hielt ihre Gemütstemperatur noch ziemlich weit oben.

„Paige?“

Ai stand umständlich auf und zeigte einen nun doch sehr beeindruckenden Kugelbauch, als sie auf Ryon und Paige zukam und ihre Arme um ihre beste Freundin schlang. Sofort war ihr wohler in ihrer Haut, auch wenn sie immer noch ein wenig prickelte.

„Hey, Süße. Ihr beiden seht toll aus?“

Vorsichtig und mit großer Zuneigung streichelte Paige Ais Bauch und sagte auch dem ungeborenen Baby 'Hallo', bevor Ryon sie auf einem der freien Stühle am Tisch absetzte und sie den Hexen vorstellte. Die große Blonde, die neben Tyler am Herd gestanden hatte, schüttelte Paige mit einem Ausdruck die Hand, der ihrem sehr gleichen musste.

„Fangen wir nochmal von vorne an, würde ich sagen. Ich bin Paige.“

Die Frau nickte und nannte ihren richtigen Namen. Faith – nicht etwa „Sunshine“, wie Paige sie im Harem des Duftmagiers genannt hatte.

Die Runde wurde wieder geschäftiger und Paige hatte weiter Gelegenheit ein paar Worte mit Ai zu wechseln. Wenn auch leider nicht über ihre Sorgen, die sie immer noch quälten. Dafür würde sie eine ruhigere Minute abwarten müssen. Wenn es ihr auch überaus schwer fiel. Jede Sekunde schien ihr die Gefahr immer noch im Nacken zu sitzen. So zuckte ihr Blick auch immer wieder prüfend zu dem kleinen Welpen hinüber und dann zur Tür.

Wenn sich Gestaltwandler auch nur ansatzweise ähnlich waren, würde Delila ihren Sohn nicht für lange hier alleine lassen.

Als hätte sie nur auf ihren großen Auftritt und dieses Stichwort in Paiges Kopf gewartet, schwang die Küchentür auf und die junge Gestaltwandlerin kam herein spaziert. Paiges Augen funkelten, doch sie blieb ruhig sitzen. Eine Szene wollte sie hier nicht veranstalten.

Allerdings hielt sie auch nichts mehr auf ihrem Stuhl, als die andere Frau sie endlich entdeckte und wie angewurzelt mitten in der Küche stehen blieb. Paige kam auf die Füße und warf Ryon einen Blick zu, der selbst ihn inne halten ließ. Sie wollte seine Hilfe nicht! Nicht jetzt. Vor Delila wollte sie aus eigener Kraft stehen können!
 

Es lag deutlich Spannung in der Luft, selbst als alles seinen normalen Ablauf nahm, während sie in der Küche saßen und Ryon Mia schon einmal ein paar kleine Appetithäppchen zusteckte, was die Kleine zum Lächeln anregte.

Immer wieder warf er verstohlen einen Blick auf sie und beobachtete sie heimlich. Sie schien unruhig zu sein und ihr eigener Blick huschte immer wieder durch den Raum. Am liebsten hätte er sie gefragt, was genau sie so stark beunruhigte, schließlich wusste er selbst, dass hier nichts mehr passieren konnte, ohne dass es einen mords Aufstand geben würde und das zu ihren eigenen Gunsten. Sie waren nun in der Überzahl und im Grunde war niemand mehr darauf aus, irgendetwas anzuzetteln. Alle hatten sie genug von alledem.

Als Delila in die Küche kam, stellten sich seine Nackenhaare auf, aber nicht etwa, weil an dieser Frau zu viele schlechte Erinnerungen hafteten, sondern weil er irgendwie auf Paige reagierte, die schließlich aufstand. Was ihn dazu brachte, ebenfalls von seinem Stuhl aufzuspringen, doch ihr Blick hielt ihn zurück und er war klug genug, das zu akzeptieren.

Delila selbst sah inzwischen nur noch wie ein Schatten ihrer selbst aus. Als er sie kennen gelernt hatte, war sie jung, immer auf Zack, voller Lebensfreude und Energie gewesen, doch jetzt…

Kevin durchbrach die erdrückende Stille in der Küche, in dem er vom Schoß der Hexe hopste und wie der kleine ungeschickte Welpe, der er noch war, auf seine Mutter zustolperte.

Man sah Delila an, dass das der einzige Grund war, weshalb sie sich bewegte – um den nun nackten kleinen Jungen auf den Arm zu nehmen, der seine kleinen Ärmchen nach ihr ausstreckte. Allerdings ließ sie dabei Paige keine Sekunde aus den Augen. Nicht einmal, als sie ihre Strickjacke auszog, um den Kleinen darin einzuwickeln.

Das Zittern in ihren müden Augen, war der einzige Kampfeswille, der darauf hindeutete, dass sie trotz der Übermacht niemals aufgeben würde, wenn es um ihr Kind ging. Bei dem Rest, nun ja. Sie verbrachte viel Zeit in Dean und James Nähe, soweit Ryon wusste, obwohl Tennessey sie immer noch in so eine Art Koma hielt, weil es in deren Gehirnen offenbar viel zu lösen gab. Einmal war auch Ryon zu ihnen gegangen, um sich wirklich zu versichern, dass Faiths Bannkreis um sie herum, stark genug war, um sie gegebenenfalls aufzuhalten. Sonst hätte er sie nie in der Nähe des Hauses akzeptiert.

Delila hatte zu der Zeit einfach nur dagesessen und ihre beiden Gefährten angestarrt. Schweigend, ausdruckslos, wie die Hülle, die ihre Geliebten momentan waren.

Tyler räusperte sich einvernehmlich, um die Stimmung etwas zu lockern.

„Hier, für Kevin.“

Er drückte Delila eine Flasche voller Milchgrieß in die Hand, woraufhin sie den Kopf senkte und einen leisen Dank murmelte.

„Ich will mit dir reden.“

Instinktiv rutschte Ryon näher, als Paige das sagte.

„Alleine.“

Delila nickte, erneuerte noch einmal den Griff um Kevin, ehe sie sich umdrehte und in das inzwischen neu renovierte Wohnzimmer ging.

Ryon war klar, dass er hier bleiben musste. Aber er würde nicht weit weg sein. Das war sicher.
 

Paige stand unsicher auf ihren Beinen, was aber nicht unbedingt an ihrer körperlichen Schwäche lag. Sie kam sich vor wie der Henker, der eine schwangere, junge Mutter zur Schlachtbank führte. So zumindest schienen sie alle in der Küche angesehen zu haben, als sie nach Delila den Raum verließ um ihr ins Wohnzimmer zu folgen.

„Scheinbar hat sich vieles verändert...“, sagte sie leise, als sie den Raum betrat, der bereits genutzt aussah und von dem sie bis gerade eben noch nicht einmal gewusst hatte, dass Tyler ihn bereits wieder frei gegeben hatte.

Mit schwer klopfendem Herzen und immer noch einer gehörigen Portion Wut im Bauch betrachtete Paige ihr Gegenüber für ein paar Augenblicke. Delila sah gelinde gesagt schrecklich aus. Abgemagert, ausgezehrt und übernächtigt. Mitleid für diese arme Frau wollte Paige vor allem deshalb übermannen, weil Delila ihren Sohn Kevin immer noch auf dem Arm hielt, es aber noch nicht einmal wagte, ihm das Fläschchen zu geben, nach dem der Kleine mit aufgerissenen Augen und kleinen Händchen grapschte.

„Bitte. Setz' dich.“

Paige bot Delila einen Platz auf der großen Couch an und ließ sich ebenfalls in die weichen Kissen sinken, die akurat aufgereiht vor der Rückenlehne platziert waren. Zwar hielt sie den Blick der jungen Frau, versuchte aber nicht mehr ganz so aggressiv auszusehen, dass diese sich sofort in die Ecke gedrängt fühlen musste. Paiges Wut verrauchte allmählich. Aber dennoch gab es ein paar Sachen zu sagen, die sie einfach nicht ungeklärt lassen konnte.

„Wie geht es den beiden?“

Die Frage war ehrlich gemeint. Auch wenn sie mehr bedeutete, als dass Paige etwas über die Genesung der beiden Werwölfe herausfinden wollte. Sie wollte wissen, wie groß die Gefahr immer noch war, dass sie das Haus und damit Mia oder Ai angriffen.
 

Delila setzte sich vorsichtig, als Paige sie dazu aufforderte. In einer ihr schon lange vertrauten Geste, legte sie Kevin in die Beuge ihres linken, noch bandagierten Armes, während sie mit der rechten noch einmal die Temperatur an ihrem linken Handgelenk überprüfte. Als sie damit zufrieden war, gab sie ihrem Sohn schließlich die Flasche zu trinken, richtete noch einmal die Jacke um ihn herum, damit er es bequem hatte. Nicht etwa, weil er sonst nackt wäre oder frieren würde. Er war der Sohn seiner Väter. Er würde höchstens in der Arktis frieren.

Nachdem alles zu Kevins Zufriedenheit war und er genüsslich an der Flasche sog, hob Delila wieder ihren Blick und versuchte den von Paige stand zu halten.

Sich selbst beruhigend strich sie durch den weißen Flaum auf Kevins Kopf. Er war ihr in vielem so ähnlich, aber für sein Alter war er schon sehr groß, bestimmt würde es nicht nur bei seinen Gestaltwandlergenen bleiben.

„Der Doktor meint, körperlich betrachtet, geht es ihnen wieder besser, auch wenn ihre Wunden langsamer heilen. Man kann ihnen momentan nur flüssige Nahrung einflößen.“, meinte sie viel zu ruhig und tonlos.

Verletzungen, die sie ihnen beigebracht hatte. Denn, auch wenn sie kleiner und schwächer als ihre beiden Jungs war, so kannte sie doch von jedem ihre Schwächen sehr genau. Niemals hätte sie gedacht, dass sie dieses Wissen einmal gegen sie einsetzen würde.

„Was ihren Verstand angeht … er meinte, er bekommt das wieder hin. Es braucht nur seine Zeit weil, soweit ich das verstanden habe, die ganzen Programmierungen in ihrem Kopf schon so festgefahren und eingeprägt sind, dass er sie nur langsam lösen kann, wenn er ihnen keine bleibenden Schäden zufügen will. Trotzdem weiß ich nicht, ob…“

Delila ließ den Kopf hängen, als ihr Sohn jedoch die Augen aufschlug, lächelte sie ihn müde an. Er hatte viel durchgemacht, sie wollte nicht, dass es noch länger so weiter ging. Wenigstens für ihn wollte sie ein gewisses Maß an Schein bewahren.

„Wir werden sehen, ob ich mit Kevin alleine nach Hause fliegen werde.“, fügte sie schließlich an und versuchte dabei gar nicht so zu tun, als wisse sie nicht ganz genau, was passieren würde, wenn die Zwillinge immer noch unter Boudiccas Einfluss standen. Den Tod ihrer Gefährten, hatte sie schon lange auf harte Weise zu akzeptieren gelernt. Darüber machte sie sich keine Illusionen mehr.
 

Eines würde ihr in ihrem Leben auf alle Fälle verwehrt bleiben: Die Verhältnisse von Gestaltwandlern zu ihren Gefährten vollkommen zu verstehen. Aber das musste sie auch nicht. Es war lediglich nötig sich vorzustellen, was sie an Delilas Stelle tun würde. Oder getan hätte, wenn sie die Qualen der jungen Frau hätte erleben müssen.

„Tennessey weiß, was er tut, Delila. Er würde nicht sagen, dass er sie wieder hinbekommt, wenn er es nicht so meint.“

Warum war es so leicht, Delila das verständlich machen zu wollen, wenn sie doch selbst noch Zweifel daran hegte, dass ihr Freund die beiden Werwölfe zuverlässig unter Kontrolle hatte. Konnte es nur daran liegen, dass Delila auch beinahe entflohen war?

„Ich... Ich nehme an, wir sind uns darüber einig, dass wir vergessen sollten, wie wir uns kennen gelernt haben.“

Nun war es an Paige kurz den Kopf zu senken, damit die Gestaltwandlerin nicht sah, wie ihr die Röte ein wenig in die Wangen und die eigene Schwäche ihr in die Augen stieg.

„Es mag ziemlich unfair von mir sein, aber...“

Sie sah wieder hoch und in ihrem Blick war keine Wut, kein Abscheu, sondern nur Offenheit zu erkennen.

„Du hättest Ryon fast getötet. Ich weiß, dass du es aus verständlichen Gründen getan hast. Um deine Familie, dein Kind zu beschützen. Aber... das werde ich vermutlich nicht so schnell vergessen können.“

Vergeben hatte sie ihr bereits. Wie grausam hätte sie sein müssen, um es nicht zu tun. Denn wäre sie in Delilas Situation gewesen, sie hätte vermutlich kaum anders gehandelt. Aber vielleicht eben doch.

Sehr wackelig kämpfte sie sich von dem Sofa hoch und brachte sogar ein kleines Lächeln zustande, als sie der Gestaltwandlerin eine Hand auf die Schulter legte.

„Sie kommen wieder in Ordnung.“
 

Delila sah Paige reglos an, hatte nur ganz kurz zurückgezuckt, als die andere Frau ihr die Hand auf die Schulter gelegt hatte und sie nun leicht anlächelte.

Zuerst kam das Zittern, dann der Kloß in ihrem Hals, bis schließlich das Brennen an dieser Stelle so intensiv wurde, dass ihre Augen sich mit den ganzen Tränen füllten, die sie in den letzten Tagen nicht hatte vergießen können.

Heiß liefen sie ihr über die Wangen, als sie zu schluchzen anfing und vorsichtig Paiges Hand berührte.

Es tat ihr so leid. So unendlich leid…

„Ich…“ Sie holte mehrmals Luft, konnte sich aber nicht wirklich beruhigen, sondern löste sich stattdessen nur noch weiter auf.

„Ich … weiß, wie es ist … seinen Gefährten… Oh Gott, ich werde mir das niemals verzeihen können!“

Delila vergrub ihr Gesicht in ihrer Hand, während sie ihren armen Sohn vor lauter Zittern regelrecht durchschüttelte, doch sie konnte nicht mehr. Sie konnte einfach nicht mehr.

„Es tut mir so leid, Paige.“ Ihre Stimme war heiser, brüchig, kaum zu verstehen.

Das Schlimmste an der Sache war, dass sie Paiges Wut und Hass mit Recht hatte ertragen können, aber das hier…
 

Was hätte sie anderes tun können, als sich vor dem Sofa auf die Knie sinken zu lassen und das Häufchen Elend, das Delila darstellte, festzuhalten. Die dünne Frau zitterte wie Espenlaub und konnte ihren kleinen Sohn kaum auf ihrem Arm halten. Paige wollte ihr das beruhigende Gefühl ihres Kindes sicher nicht nehmen, unterstützte den Halt aber mit einem Arm, während ihr anderer sanft über Delilas Rücken strich.

„Das solltest du aber. Denk' an Ryon. Er hat dir offensichtlich verziehen. Wenn er es kann... dann darfst du es auch.“

Sie hielt die zitternde, weinende Wandlerin lange im Arm. Bis diese sich wieder ein wenig beruhigt hatte, wieder durchatmen konnte und so aussah, als würde sie nicht sofort wieder in Tränen ausbrechen.

„Wahrscheinlich hat dir das jeder hier schon einmal gesagt, aber... Es wäre wirklich gut, wenn du dich ein bisschen ausruhen würdest. Und Tyler kocht wirklich ausgezeichnet...“
 

Paige würde vermutlich nie wissen, wie gut es Delila tat, im Arm gehalten zu werden. Vor allem für einen Gestaltwandler, der trotz der artlichen Unterschiede immer ein äußerst soziales Wesen sein würde, der Berührungen brauchte, war es nahezu lebenswichtig. Und Delila hatte, was das anging, eine Monate lange Durststrecke hinter sich, die sie selbst mit ihrem Sohn nicht mehr hatte auffüllen können. Sonst hätte sie ihn nämlich gar nicht mehr aus dem Arm gegeben und dabei war es offensichtlich, dass es ihm auch immer besser ging, je mehr er wieder andere Dinge um sich hatte, als Isolation. Die kleine Mia tat ihm ebenfalls unglaublich gut. Das sah man an seinen Verwandlungskünsten, die sich rasant verbessert hatten.

„Danke.“

Delila rieb sich über die feuchten Wangen und zum ersten Mal war ihr Gesicht nicht wie der des herannahenden Todes, stattdessen waren ihre Wangen leicht gerötet und ihre Augen wieder klar und nicht mehr getrübt. Sie würde noch sehr lange an dieser ganzen Sache zu beißen haben, aber diese eine Berührung, hatte schon geholfen. Sehr sogar.

„Wir sollten vielleicht beide… etwas ausruhen. Wenn Ryon auch nur annähernd so wie meine Jungs früher waren, ist, dann wirst du dir etwas anhören können, weil du wieder von selbst herumläufst.“

Sie versuchte schwach zu lächeln und das Hicksen unter Kontrolle zu bringen.

„Andererseits … wird er gerade jetzt, da du noch geschwächt bist, umso nachgiebiger sein. Das kann ich dir versprechen.“ Sie wusste es aus Erfahrung.

Noch immer leicht zittrig, nahm sie ihren Sohn wieder ordentlich auf die Arme und stand dann langsam auf. Delila half Paige vom Boden auf.

„Komm. Lass ihn nicht länger warten. Er frisst sich vermutlich gerade selber vor Sorge auf.“
 

Mit einem Lächeln ließ sie sich hoch helfen und ignorierte das Gefühl von Wackelpudding in ihren Gelenken. Delila würde sie bestimmt nicht als Stütze benutzen, also hielt sich Paige an Möbelstücken und Wänden fest, bis sie die Küchentür erreicht hatte. Sobald Ryon auch nur ihre Nasespitze im Raum sah, war er ohnehin bei ihr, hob sie hoch und sah ihr sorgenvoll und auch ein wenig strafend ins blasse Gesicht. Zur Antwort schlang Paige ihm nur die Arme um den Hals, legte ihren Kopf an seine Schulter und bat darum, dass ihr persönliches Taxi sie wieder ins Bett brachte.
 

***
 

Paige hatte schweißnasse Hände, die sie sich immer wieder an ihrer Jeans abrieb, bloß um dann nervös kleine Feuerbälle zwischen ihren Fingern tanzen zu lassen. Dabei war sie nicht diejenige, für die es hier um alles oder Nichts ging. Besorgt sah sie bestimmt zum tausendsten Mal zu Delila hinüber und versuchte ihren Blick aufzufangen, der schon wieder unangenehm beherrscht wirkte. Selbst wenn Paige die junge Frau in den letzten Tagen nicht ein wenig besser kennen gelernt hätte, wäre ihr klar, dass es in deren Inneren ganz anders aussehen musste.

„Wir hätten später herkommen sollen... Das Warten ist schrecklich.“ Paige zappelte von einem Bein auf das andere und versuchte hin und wieder etwas von Ryons natürlicher Ruhe in sich aufzunehmen. Was aber auch nicht einmal im Ansatz funktionierte. Ganz im Gegenteil wurde sie mit jeder Minute immer nervöser. Und dabei vertraute sie Tennessey. Es würde bestimmt alles gut gehen. Für Delila und deren eigene Famile musste es das einfach.

73. Kapitel

Ryon legte seinen Arm um Paige, vielleicht half es etwas, sie zu beruhigen. Ihm half es auf jeden Fall beim Anblick der beiden dürftig bekleideten Männer in dem unsichtbar gezogenen Bannkreis von Faith, nicht sofort seine Krallen auszufahren und sich seinen Pelz anzulegen.

Es war bisher zwar alles ruhig verlaufen und selbst die Stimmung bestand größtenteils lediglich aus gespanntem Warten, dennoch war jeder einzelne seiner Nerven aufs Höchste alarmiert.

Während Tennessey sich noch einmal auf seine Arbeit vorbereitete, Faith den Schutzkreis ein letztes Mal abschritt und Delila wie eine Galionsfigur erstarrt da stand und ihre Gefährten betrachtete, sah Ryon sich ebenfalls etwas um, um sich selbst abzulenken.

Sie standen mitten im Wald, um sie herum fielen immer wieder rote und goldene Blätter von den Bäumen. Ein deutliches Zeichen, dass der Herbst nun endgültig die Oberhand gewonnen hatte.

Hinter ihnen, keine fünf Minuten entfernt, lag das Haus. Von innen verriegelt und durch die restlichen Hexen geschützt, musste er sich keine Sorgen machen, sollte hier etwas schief gehen. Zumindest nicht um Mia und die anderen. Und selbst hier würden sie bestimmt mit den beiden Werwölfen fertig werden. Sie waren vor Hunger geschwächt und deutlich in der Unterzahl.

Sie hatten keine Chance, sollten sie etwas versuchen und es wäre ihre letzte gewesen. Wenn sie es jetzt nicht schafften, gab es keine Zukunft mehr für sie. Das wussten sie alle.

„Okay, ich bin soweit.“ Tennessey rieb sich die Hände und atmete vernehmlich tief ein und aus.

„Ich auch.“ Faith trat zurück und ließ Delila alleine mit Tennessey und den Zwillingen im Schutzkreis zurück, schloss ihn aber noch nicht vollkommen, sondern wartete auf den Arzt.

Tennessey legte beiden Männern die Hand auf die Stirn und schloss die Augen.

Eine Minute verging. Zwei Minuten. Dann noch eine und noch eine.

Die Stimmung wurde unruhig, doch plötzlich richtete sich Tennessey auf und trat zurück, außerhalb des Kreises, der mit bloßem Auge nicht sichtbar war. Aber sie alle konnten ihn spüren. Faith schloss ihn mit einer knappen Handbewegung.

Ryon hielt gespannt den Atem an und zog Paige noch enger an sich heran, während sich sein ganzer Körper straffte.

Delilas Atmung ging gepresst, als sie zuerst bemerkte, wie Deans Fingerspitzen zuckten und kurz darauf von James Zehen gefolgt wurden.

Sie hätte dort nicht stehen müssen, doch es war ihr Wunsch gewesen und die Entschlossenheit in ihrem Gesicht nahm zu, trotz des stärker werdenden Zitterns in ihrem Körper.

Die Atmung der Zwillinge beschleunigte sich. Man sah es nur zu deutlich an ihren entblößten Brustkörben, wie diese sich immer rascher hoben und senkten, als hätten sie einen Alptraum. Ryon würde es nicht wundern, wenn es so wäre.

Dean bewegte sich als Erstes. Er verzog das Gesicht und schlug sich eine Hand davor, ehe er sich zur Seite rollte und sich krümmte.

Automatisch war Ryon bei der ersten Bewegung zusammen mit Paige einen halben Schritt zurück gewichen. Seine Krallen fuhren aus und trotz der weniger geschärften Sinne, konzentrierte er sich voll und ganz darauf, was im Inneren des Kreises vor sich ging.

Niemand sagte etwas. Dann begann sich auch James zu rühren. Wie sein Bruder schon zuvor, schien er sich vor Schmerzen oder was auch immer zusammen zu rollen und hielt seinen Kopf, als dröhne ihm der Schädel.

„Oh, Scheiße! Ich hab das Gefühl, als hätte mich ein Panzer überrollt.“

Rasch überflog Ryon Delilas Gesicht. Sie war kreidebleich und obwohl sie das Zittern inzwischen wieder etwas eindämmen konnte, sah man ihr die Angst an. Ihre Augen waren vor Panik geweitet und sie atmete nur noch flach. Sehr flach. Trotzdem rührte sie sich nicht von der Stelle.

„Dito.“ James versuchte sich auf seinen Ellenbogen abzustützen, ließ es aber schon nach dem ersten Versuch wieder bleiben. Stattdessen rollte er sich noch enger zusammen.

„Was für ein Mordskater! Und dann erst dieser abgefuckte Traum…“

Dean hatte es geschafft, sich aufzurichten und seinen Blick zu heben. Als er sich im Kreis umsah und schließlich an Delilas Anblick hängen blieb, die auf einmal schützend die Arme um sich schlang, erbleichte er so schnell, als hätte sich das Blut in seinem Kreislauf einfach in Luft aufgelöst. Er hatte die Situation sofort erfasst.

„J?“ Seine Stimme war plötzlich nur noch brüchig.

„Was?“

„Das … war kein Traum…“

Der Werwolf konnte seine Augen nicht mehr von seiner Gefährtin nehmen, obwohl es ihm sichtlich immer mehr Schmerzen verursachte, sie anzusehen, ohne dass diese körperlich gewesen wären.

„Ach, quatsch. Erzähl keinen…“ J sah zuerst seinen Bruder an und als er seinen Gesichtsausdruck sah, fuhr er zur Quelle von dessen Aufmerksamkeit herum.

Vor Fassungslosigkeit blieb ihm der Mund offen stehen.

„D-Deli?“ Seine Stimme war noch nicht einmal mehr brüchig. Sie klang wie pures Entsetzen. Atemlos und so hoch, dass man sie kaum noch hörte.

Delila rührte sich nicht. Sagte nichts. Tat nichts. Sie starrte ihre beiden Männer nur stumm an, selbst als diese sich langsam aus ihrer eigenen Erstarrung lösten und taumelnd auf die Beine kamen, rührte sie sich nicht. Wich noch nicht einmal einen Schritt zurück, so wie Ryon es gerne getan hätte. Ihm stellten sich sämtliche Nackenhaare zu Berge.

„Deli…“ Dean streckte die Hand langsam nach ihr aus und wollte einen Schritt auf sie zu machen, blieb aber wie festgekettet stehen, als er sah, wie sie vor Angst nun doch zurück wich. Ryon hingegen zog es plötzlich nach vor. Der Drang, diese Frau zu beschützen, war mit einem Mal noch stärker. Doch er tat nichts, sondern blieb an Paiges Seite. Solange die beiden nichts anstellten, würde er nicht eingreifen.

Dean ließ die Hand sinken, ging den halben Schritt wieder zurück und sah aus, als hätte man ihm direkt unter die Gürtellinie getreten. Seinem Bruder schien es nicht besser zu gehen. Er presste die Lippen fest aufeinander und beide bebten sie um die Wette. Ihre Augen voller Reue und Qual.

Sie wussten, was sie getan hatten. Das sah man ihnen nur zu deutlich an. Da half selbst die Ausrede nichts, dass sie es nicht aus eigenem Willen getan hatten.

Lange sagte oder tat niemand etwas. Sowohl im als auch außerhalb des Kreises nicht. Das Schweigen wurde nur noch niederschmetternder, bis Delila ihre Erstarrung mit einem Ruck löste und nun ohne Zögern auf die beiden Werwölfe zu ging.

Ryons Hände spannten sich an. Bereit, sofort zuzuschlagen.

Delila kam ihm zuerst.

Die beiden schallenden Ohrfeigen, die sie ihren Gefährten schonungslos gab, hallten noch weit im Wald nach.

Tief getroffen senkten die Jungs simultan ihre Köpfe und obwohl sie Delila um so vieles überragten, schienen sie förmlich vor ihr zusammen zu schrumpfen.

„Macht! Das! Nie! Wieder‼“

Mit jedem geschriehenem Wort knallte sie den beiden noch eine und noch eine, bis ihre Wangen flammend rot waren und Dean ihr Handgelenk greifen musste, damit sie sich nicht noch selbst verletzte.

Diese eine Berührung war der Schlüssel zu allem und Delila wäre fast vor den Füßen ihrer Gefährten zusammen gebrochen, wenn Dean sie nicht beschützend an sich gezogen und hochgehoben hätte, so dass sie ihre Beine um seine Taille schlingen konnte.

Ihre Hände umklammerten seinen Nacken, als wäre er der einzige Halt, den sie noch hatte, doch James war direkt hinter ihr und umschlang ihre Taille, während er sich an ihren Rücken drückte. Jeder auf seiner Seite schmiegte hingebungsvoll seine Wange an die ihre und hielt sie einfach nur fest, während sie von heftigen Weinkrämpfen geschüttelt wurde.

Es wäre gelogen, zu behaupten, dass die Nässe auf ihren Wangen nur allein von ihr kam.

Die Drei sahen aus, wie ein einziges Kummerbündel und trotzdem beruhigte der Anblick Ryon. Natürlich war es auch verdammt traurig, aber er war beruhigt. Mehr als das. Er musste Paige selbst auf seinen Arm nehmen und sie an sich drücken.

Eigentlich hatte er noch nie ein anderes Gestaltwandlerpaar außer seine Eltern in Aktion gesehen und in diesem Fall waren sie sogar zu dritt. Aber er erkannte es, wenn er es sah. Die zwei würden in ihrem jetzigen Zustand Delila niemals etwas antun. Dafür bekam man nur zu deutlich immer mehr den Eindruck, wer hier das Alphatier war. In diesem Fall eine Wöflin unter Werwölfen.
 

***
 

Es war kein herzlicher Abschied und doch schien er voller Hoffnung zu sein. Ryon konnte es nur allzu sehr nachvollziehen.

Wüsste er nicht, was in den vergangenen Wochen und Monaten alles passiert war; das Bild dieser jungen Familie die ihre Sachen in den Leihwagen packte, hätte einen völlig anderen Eindruck auf ihn gemacht. Er hätte zwei fürsorgliche Väter gesehen, die sich leise darum stritten, ihren Sohn im Kindersitz sicher anzuschnallen und sich dann schließlich irgendwie einigen konnten, wie sie es wohl in allen Bereichen dieser ungewöhnlichen Familienkonstelation tun mussten, während Delilah die wenigen Habseligkeiten im Kofferraum verstaute.

Ryon könnte sich nicht vorstellen, Paige mit einem anderen Mann zu teilen. Nicht einmal, wenn es sein eigener Bruder gewesen wäre.

Doch sowohl Delilah wie auch die Zwillinge schienen endlich wieder eine Einheit zu sein. All die kleinen Dinge unter Gestaltwandlerpaaren tauschten nun auch sie wieder aus. Man sah noch die Vorsicht in den flüchtigen Berührungen und das nur langsam heilende Vertrauen untereinander. Doch Delilah liebte ihre Gefährten noch immer. Das ließ sich nicht leugnen.

Ryon gab Paige einen flüchtigen Kuss auf die Stirn und schlang noch enger seinen Arm um ihre Hüfte, um sie an seine Seite zu ziehen. Wie froh er doch war, dass nun alles vorbei war und schon bald auch der letzte Gast ihr Haus verlassen haben würde.

Die kleine Wolfsfamilie war eine der letzten Besucher, die ihre Sachen zusammen gepackt und ihr Haus verlassen hatten.

Obwohl Ryon inzwischen sicher war, dass Dean und James in Ordnung kommen würden, war die Lage doch immer noch sehr angespannt geblieben und so war er nun froh, dass sie endlich zurück nach Hause fuhren. Dort wie sie hin gehörten und ihre eigenen Wunden lecken konnten.

Als alles sicher im Wagen verstaut und auch nichts vergessen worden war, drehte sich die kleine Familie zu ihrem Abschiedsgefolge um.

Es wurden keine Hände gereicht und auch keine Worte der falschen Freundlichkeit ausgetauscht. Dafür war zu viel geschehen. Einzig Mia auf Ryons Arm wusste nicht, was geschehen war und quängelte, um noch einmal den weißen Welpen sehen zu können, der ihr in den letzten Tagen ein treuer Spielgefährte geworden war. Doch die Erwachsenen schwiegen, bis Ryon schließlich das Schweigen brach.

"Kommt gut Heim und passt auf euch auf."

Vielleicht würden sie sich eines Tages wieder sehen, doch die Chance war gering.

"Und kümmert euch gut um die werdende Mama."

Tyler trat unerschrocken wie eh und je nach vor und überreichte Delilah noch ein kleines Lunchpaket.

"Flugzeugfraß ist widerlich. Das wird euch hoffentlich ein bisschen darüber hinweg helfen."

Delilah nahm mit einem winzigen Lächeln das Paket an und sofort traten Tränen in ihre Augen.

Nicht zuletzt lag es an den Hormonen, doch Ryon war sich sicher, dass hier noch sehr viel mehr im Spiel war und das sahen auch Dean und James so, die ihr sofort die Hand auf die Schultern legten und sie erdeten.

"Danke, das werden wir.", versprachen sie synchron und nickten auch den anderen noch zum Abschied zu.

"Danke für alles."

Delilahs Blick heftete sich auf Paige und ihn, ehe sie auf dem Beifahrersitz platz nahm und auch die Zwillinge einstiegen.

Mia begann in Ryons Armen schließlich leise zu weinen, als das Auto die Einfahrt entlang fuhr und somit der kleine weiße Welpe in Form eines Jungen sie verließ.

Ryon wiegte sie leicht im Arm und auch Paige streichelte ihr über die Wange, um sie zu beruhigen, während sie alle schweigend dem immer kleiner werdenden Auto hinterher sahen.

Eine Weile sagte niemand etwas, bis Faith - die letzte noch verbliebene Hexe in ihrem Haus - das Schweigen brach.

"Ich habe übrigens herausgefunden, was es mit den Amuletten auf sich hatte und warum Boudicca sich selbst pulverisiert hat."

Ryon sah Paige an und sie blickte mit dem gleichen Gesichtsausdruck zurück.

"Ich hätte jetzt Lust auf Milchkaffee und Cupcakes."

Er lächelte und wischte Mia eine Träne von der Wange.

"Ich auch."

Zu dritt machten sie sich auf den Weg in die Küche. Tyler war mit Ai schon vor gegangen, nur Tennessy blieb bei Faith.

Vermutlich war sein Forschergeist gespannt auf Faiths Theorie oder was auch immer sie herausgefunden hatte. Doch Paige und Ryon waren sich zumindest im Augenblick einig darüber, dass das Amulett schon genug Platz in ihrem Leben eingenommen hatte. Für eine Weile konnten sie auch einmal ohne es auskommen. Und das würden sie auch.

Epilog

Paige stand in ihrem roten Sommerkleid, mit den großen, orangen Blumen im Wohnzimmer. Zwei große Handtücher über ihren Arm gehängt und zwei Gläser mit Ingwerlimonade in der Hand. Auf der Terrasse schlüpfte sie in ihre Flipflops und konnte schon von Weitem Mias Lachen und Wasserplantschen hören.

Entweder waren die beiden mit dem Schwimmunterricht schon weiter gekommen, als in zehn Minuten zu erwarten gewesen war oder sie legten eine ihrer ausgiebigen Spiel- und Spaßpausen ein. Mit einem breiten Grinsen vermutet Paige eher Letzteres.

Als sie an den Steg kam, die beiden Gläser unter dem Sonnenschirm neben den bunten Sitzkissen abstellte und die Handtücher ablegte, sah sie schon eine Fontäne dort explodieren, wo Mia gerade quietschend ins Wasser gefallen war. Bloß gut, dass zumindest Ryon das mit dem Schwimmen im Griff hatte. Sonst hätte Paige wahrscheinlich schon öfter einen Herzinfarkt bekommen, wenn die beiden so ausgelassen im Wasser herum tollten.

"Hey!" Sie winkte und bekam einen wildes Armwedeln von Mia als Antwort, die sich in Ryons Armen sehr wohl zu fühlen schien. So wie immer. Das hatte sich in den letzten drei Jahren wirklich kein Stück geändert.

"Es gibt Limonade! Ihr seid doch schon ganz aufgeweicht!", schrie Paige ihnen zu und winkte noch einmal. Sie konnte weder sicher sein, dass ihre Lieben sie verstanden hatten, noch dass es sie bewegen würde, aus dem See zu kommen. Da hatten sich wirklich zwei Wasserratten gefunden.

Ein Handy läutete. Dem Klingeln nach musste es Ryons sein und Paige suchte in dessen Hosentaschen, bis sie das kleine Gerät fand, auf dessen Display eine unbekannte Nummer angezeigt wurde.

"Hallo?

Doch, doch, das ist seine Nummer. Er kann nur gerade nicht ans Handy kommen. Kann ich was ausrichten?

Ok. Hat er-?

Ja, gut.

Wiederhören."

Im nächsten Moment schrie Paige laut auf vor Schreck, als ihr eine Ladung Wasser gegen den Rücken platschte und sie anschließend lautes Gekicher vom Stegrand hören konnte. Paige wusste gar nicht so recht, was sie sagen sollte. Sie stand da, wie ein begossener Pudel, triefte die gerade gebrachten Handtücher voll und konnte nicht anders, als schallend los zu lassen.

"Na toll, euch bring ich nochmal Limonade!"

Aber lange war sie ihren beiden nicht böse. Das war sie nie. Stattdessen half sie Mia aus dem Wasser, fing Ryon bei seinem Aufstieg mit einem Kuss ab und sah dann zu, wie sich beide in der Sonne auf dem Steg trockneten. Da sie fast so nass war, wie ihr Wasserrattenpärchen, legte sie sich dazu und drückte Ryon einen weiteren Kuss auf die Wange.

"Da war ein Anruf für dich. Ein Nataniel. Er wollte nur fragen, ob dein Angebot noch gilt. Es sei wohl ein paar Jahre her."

Fragend sah sie in diese goldenen Augen, die sich nur minimal veränderten, als sie den Namen des Anrufers ausgesprochen hatten. Doch das reichte, um Paiges Finger sich fester mit denen von Ryon verschlingen zu lassen.
 

"Eigentlich mache ich so etwas nicht mehr.", meinte Ryon ruhig, während er Mia eines der belegten Brötchen hin hielt, die auf einem Teller im Schatten standen und nur er mit seinem langen Arm erreichen konnte.

Mit einem breiten Grinsen biss sie ab und rollte sich mit einem genuschelten Danke wieder auf den Rücken, um in der Sonne zu baden.

Sie war viel zu schnell groß geworden und doch war er froh, sie und Paige so glücklich zu sehen, denn auch er war es.

"Ich sollte mir zumindest einmal anhören, was er zu sagen hat. Immerhin ist er einer von uns."

Ryon brauchte eigentlich nicht lange zu überlegen. Das Leben hier war schön, doch bisweilen verlangte es ihm nach einer Herausforderung. Dennoch würde er nie wieder in sein altes Geschäft zurückkehren. Aber die Sache konnten sie sich zumindest einmal ansehen.

"Außerdem habt ihr beiden Amerika ohnehin noch nie gesehen."

Selbst wenn er ablehnte, sie konnten immer noch einen längst überflälligen Urlaub machen.
 

******************************************************************************
 

Danksagung:
 

Ich möchte hier natürlich allen Lesern danken, die bei unserer Geschichte dabei waren und es bis hierher geschafft haben. Natürlich gilt das sowohl für die Blackreader wie auch diejenigen, die uns netter weise auch Kommentare hier gelassen haben. An euch noch einmal einen extra Dank. Ohne euch wäre es nicht das selbe. :)
 

Ich persönlich möchte auch noch -maneki-neko- danken, mit der ich schon so lange so viel Spaß habe und ohne die ein Werk wie dieses gar nicht erst hätte entstehen können. Es tut mir leid, das wir nicht mehr so viel Zeit füreinander haben, aber ich werde immer die guten alten Zeiten in Erinnerung behalten. Danke meine Liebe, dass es dich gibt. Ohne dich wäre mein Leben um einiges ärmer. *umarm*
 

Nachtrag vom 1. 12. 2012:
 

Ich habe nachträglich den Namen Liasana durch Faith ersetzt, da der Name noch in einer anderen Geschichte vorkommt und es mir lieber ist, wenn jeder Charakter samt Namen Einzigartig ist. Leider hatte ich noch nicht daran gedacht, als wir die Geschichten geschrieben haben, daher hoffe ich auf eure Mithilfe, falls noch irgendjemand hier Liasana im Text gefunden hat. Ich hoffe, ihr könnt mir diesen kleinen Fehler verzeihen.
 

Lg Darklover



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Kommentare zu dieser Fanfic (9)

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Von:  Yamasha
2018-09-19T19:13:59+00:00 19.09.2018 21:13
Ok, mein anderer Kommentar ist zwar noch nicht soo lange her, aber ich muss trotzdem noch einen loswerden :
Ich LIEBE eure Gestaltwandlergeschichten!!! Sie sind einfach soo toll!!! <3 die von Amanda und Nataniel, die hier und die von Delilah und ihren beiden Jungs. (vielen Dank übrigens, dass die Geschichte der drei gut ausgegangen ist. Ich wäre in eine kleine Krise gestürzt, wenn nicht...) und wenn es nicht zu viel verlangt wäre, würde ich um die Fortsetzung bitten, die hier im Epilog angedeutet ist... ^^' und natürlich fänd ich es super, wenn sie sich wieder mit Delilah und den Jungs treffen würden... Aber ich hab natürlich mal wieder zu viele Wünsche...
Auf jeden Fall will ich euch/dir für diese drei Geschichten danken, die mich die letzten zwei Wochen begleitet, vom schlafen abgehalten und manchmal in Krisen gestürzt haben. :D ich lass diese Welt nur ungern gehen. :)
Antwort von:  Yamasha
19.09.2018 21:19
Wobei ich auch zu gerne noch gewusst hätte, was es mit diesem bescheuerten Amulett auf sich hatte. Aber das werden wir wohl nie erfahren. Oder? ;)
Von:  Yamasha
2018-09-19T16:36:36+00:00 19.09.2018 18:36
Ich hab in den letzten zwei Wochen oder so nichts anderes gelesen als deine drei Gestaltwandlergeschichten. ^^' Sie sind einfach zu spannend :)
Der wahre Grund aber, wieso ich mich grade melde, ist der, dass ich dieser Schlampe von Hexe grad am liebsten den Hals umdrehen würde!!! Dass sie so was Delilah uns Dean und James antut, ist unter aller Sau!!! Ganz im Ernst!!! Ich hasse sie dafür!!!
Von: abgemeldet
2012-09-23T10:23:33+00:00 23.09.2012 12:23
Woow... ich vergöttere eure geschichten !!! ich liiiebe sie und bin sooo traurig das ich nun alle abgeschlossenen storys von euch durch habe .... ich seit super super autoren und eure gischichten sind der hammer ich liebe alle charactere!!!
ich kann gar nicht anders als euch zu loben und dafür zu danken solche schönen geschichten online gestellt zu haben!!! ich bin ein riesen fan von euch!!!
also biiiiiitte schreibt weiter ;)

ganz liebe grüße und ein mega großes danke an euch!!! ihr seid super!!!!
Von:  Elane_Shio
2011-11-01T22:50:27+00:00 01.11.2011 23:50
Zuallererst:
Super schreibstiel und ne spannende Story - wenigstens bis jetzt.
Ich habe mir schon vor Tagen vorgenommen das hier mal zu lesen, war aber jedesmal eingeschüchtert als ich die Menge an Seiten gesehen habe xDD
Aber nun bin ich froh, dass ich mich schonmal durch den Prolog gelesen habe und werde sofort weiterlesen :D [ Erstes Kapitel Win ]

Ich hoffe wirklich das die Quelle, wo diese Geschichte entstanden ist, noch nicht versiegt ist und noch viele weitere Storys folgen werden :D
Von:  FallenHealer
2011-10-18T08:48:37+00:00 18.10.2011 10:48
Wieder Mal hervorragende Arbeit.
Irgendwann mache ich euch noch liebesbekundungen und sogar meine Mutter hat angefangen eure Geschichte zulesen und ist begeistert.

xoxo Fallen
Von:  FallenHealer
2011-09-04T13:25:36+00:00 04.09.2011 15:25
Hey,
ich bin definitiv süchtig!
Eure Geschichte hat super Suchtpotenzial.
Irgendwie wird alles immer besser.
Die Emotoinen die hier toben springen ja förmlich auf einen über.

xoxo Fallen
Von:  FallenHealer
2011-08-29T15:12:27+00:00 29.08.2011 17:12
Hey,
Ich kanns wirklich verstehen das du kurz gezweifelt hast weil keiner dir Feedback gegeben hat. Ich selbst habe es dann einfach einmal aufgegeben. Ich hatte keine Favoriten und keine Kommentare.
Aber davon solltest du dich nicht beeindrucken lassen, denn deine Story ist großartig und wird es auch mit oder ohne Kommentar bleiben. Deine Charaktäre sind nun Mal ziemlich eingensinnig und handeln nicht vorraussehbar, was sie einzigartig, symphatisch und liebenswert macht.
Es gibt hier nun mal viele die unglaublich auf auf einfach gestrickte und durchschaubare Charakter stehen.
Und wenn man dann noch einen Vampir dazu packt kann es noch so schlecht sein, alle stehen darauf.
Also lass dich nicht unterkriegen, du und deine Geschichten sind grandios.

P.S. Vielleicht versuchst du es mal auf FanFiktion.de ich glaube die stehen da mehr auf anspruchsvolleres. Zumindest einige.

xoxo Fallen
Von:  FallenHealer
2011-08-27T14:03:28+00:00 27.08.2011 16:03
Hey,
ich verstehe absolut nicht wie so eine fantastische Geschichte nicht ein positives Feedback hat. Schon allein die einfallsreiche und durchdachte Storyline ist großartig.
Der Schreibstil ist phenomenal und man kann gut nach vollziehen was sich zwischen den Protagonisten abspielt und wieso sie eine gewisse handlung ausführen. Ihre Beweggründe sind vollkommen schlüssig und sie sind äußerst sympathisch aufgezogen.
Ryon der Eisschrank, der sich eigentlich nur schützen will und eine Schwäche für Kinder hat.
Und Paige das "Heißblut" das gerne mal so berherrscht wäre wie ihr zweckgemeinschaftlicher Partner.
Ich finde es desweiteren äußerst Interessant das nicht ersichtlich ist ob es nun Freundschaft wird oder etwas anderes zwischen den beiden.
Und als besonders süßes extra empfinde ich Ai und Taylor, sowie die kleine Mia.

xoxo Fallen


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