Zum Inhalt der Seite

Dark Circle

von
Koautor:  Caracola

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Prolog

Die hauchdünnen, perlmuttfarbenen Flügel wippten leicht, als die kleine Frau sich durch die Menge kämpfte. Nur die wenigsten Gäste der überfüllten Bar traten ein Stück zur Seite, um Platz zu machen. Nicht zum ersten Mal in dieser Nacht nutzte Paige das runde, durchsichtige Plastiktablett als Schutzschild. Damit schob sie sich an den Kerlen vorbei, die es bei dem Anblick ihres kurzen weißen Kleidchens nicht schafften, ihre Hände bei sich zu behalten. Der Boss sah es nicht gern, wenn sie den Kunden auf die Finger klopfte, aber wenn sie jedes Mal, wenn sie begrapscht wurde, den Rausschmeißer rief, wäre die Bar bald leer. Und das konnte er noch weniger wollen.

„Hey, Süße!“

Mit einem entwaffnenden Lächeln ihrer lila glitzernden Lippen drehte sie sich zu dem Mann um, der breitbeinig und mit den Armen über der Lehne der Bank dasaß. Er war vollkommen in schwarzes Leder gekleidet. Wenn man mal von seiner bloßen, behaarten Brust absah, die zwischen den Reißverschlüssen der Jacke hervorlugte.

„Was kann ich dir bringen?“

Ihre Stimme strafte die freundliche Frage Lügen, da sich fast eine Eisbrücke zwischen dem Mann und Paige zu ziehen schien.

Wer sie Süße nannte, hatte von vornherein verloren und wurde nur bedient, nichts weiter. Selbst das Lächeln war nun bloß noch aufgesetzter Standard, während sie auf seine Bestellung wartete und gleichzeitig die leeren Gläser vom Tisch räumte.

„Ein Wodka auf Eis...“ Er hatte sich vorgelehnt und seine Hand, die bereits auf seinem Knie ruhte, zuckte eindeutig in Richtung ihrer Hüfte.

„Aber gegen ein wenig Dessert hätte ich auch nichts einzuwenden.“

Im nächsten Moment entkam ihm ein schmerzvolles Stöhnen und er sah mit weit aufgerissenen Augen zu ihr auf.

Sein kleiner Finger, den sie zwischen ihrem Zeigefinger und Daumen festhielt, wechselte von weiß zu leuchtend rot, bis sich kleine Bläschen darauf bildeten.

„Ich bring dir deinen Wodka und ein bisschen Eis extra. Alles klar?“

Der Kerl nickte nur mit angespannten Kiefermuskeln und zog seinen verbrannten Finger so schnell zurück, wie er konnte. Sein Kumpel, der sich bis jetzt nicht geäußert hatte, aber genauso überrascht dreinschaute, bestellte auf diesen Schock noch ein Bier und einen Kurzen.

Wer im 'Fass' zu Gast war, ließ sich von so einem kleinen Zwischenfall doch nicht vom Trinken abbringen. Schon gar nicht, wenn er selbst nicht der Leidtragende war.

„Jazz, einen Wodka mit Eis, einen Kurzen und ein Bier.“

Der Barkeeper mit dem roten Pferdeschwanz, der unter dem schwarzen Hut hervorsah, grinste ihr zu und begann das Bier zu zapfen. Als er ihr das Glas hinstellte, nickte er zu dem Tisch hinüber, den sie gerade verlassen hatte.

„Heute drehen sie wieder ein bisschen am Rad, was?“

Mit einem schiefen Lächeln stellte Paige das große Bierglas auf ihr durchsichtiges Tablett.

„Was hast du erwartet? Es ist Freitag. Das bedeutet selbst bei uns hier unten endlich Wochenende.“

Der Barkeeper drehte sich mit einem Schmunzeln zu seinen Vorräten um und beschaffte die anderen Getränke, damit sie weiter arbeiten konnte.

Ja, Freitag war hier im wahrsten Sinne immer die Hölle los. Die menschlichen Gäste, die sich ein wenig daneben benahmen, waren da noch das kleinste Problem. Immerhin hatten die wenigsten von ihnen das Bedürfnis, über denjenigen, der sie schief angesehen hatte, mit Reißzähnen herzufallen oder ihn mit Krallen aufzuschlitzen.

Paige strich sich eine pinke Strähne aus der Stirn und packte das nun volle Tablett. Nur noch drei Stunden. Dann war ihre Schicht zu Ende. Anschließend aufräumen und heim ins Bett. Wenn sie Glück hatte, würde sie der Barkeeper sogar bis vor die Tür begleiten. Er war ein netter Kerl. Auch wenn sie mit Vollblutdämonen normalerweise nicht so viel am Hut hatte. Zu kompliziert und im Bett einfach grässlich egoistisch.

Mit wehendem weißen Röckchen und schwingenden Flügeln warf sie sich wieder in die Menge. Setzte ihr einstudiertes Lächeln auf und freute sich bloß darauf, dass sie dieses Wochenende einen Auftrag zu erledigen hatte. Da konnte sie ein bisschen aufgestauten Dampf ablassen. Genau das richtige nach einer Freitagnacht.
 

***
 

Das Schloss klickte nur ganz leise, als Ryon den Schlüssel herum drehte und aus dem stockfinsteren Flur in seine ebenso dunkle Wohnung trat. Hinter sich ließ er das Schloss wieder einrasten, ehe er für einen Moment die Stille der Wohnung auf sich wirken ließ.

Alles wie immer.

Lautlos durchstreifte er die kalten Ruinen seiner Räume, während er sich auf den Weg zu seinem Schlafzimmer machte.

Die Tür rechts im Flur führte zu einer kleinen mindestens zwanzig Jahre alten Einbauküche, einem wackeligen Tisch und einem ausrangierten Stuhl, auf den schon seit Ewigkeiten keiner mehr gesessen hatte.

Hinter der Tür gegenüber der Küche befand sich ein ehemaliges Gästezimmer, in dem sich nur noch ein klappriges Metallbett mit zerschlissener Matratze, ein paar leere Kartons und eine ausrangierte Trainingsbank mit schweren Gewichten aufhielten. Wie auch größtenteils der Rest der Wohnung, schrie auch dieses Zimmer lautstark nach Vernachlässigung. Er betrat es nie.

Die letzte Tür im Flur sah ebenso unscheinbar aus, wie alle anderen davor auch, doch sie war wesentlich schwerer und unter dem brüchig wirkenden Holz befand sich eine massive Metallplatte, die selbst einer Explosion standhalten würde. Genauso wie der Türrahmen. Obwohl von diesem schon der Lack abblätterte, trog doch dieser uralte Eindruck.

Ryon hatte einiges an Geschick dafür verwendet, eben diesen Eindruck zu erwecken, obwohl er nicht glaubte, dass jemals irgendjemand genug Interesse an dieser Wohnung haben würde, um hier her zu kommen. Dafür sah sie viel zu verlassen und einfach nur erbärmlich aus.

Er zog einen weiteren Schlüssel aus einer versteckten Tasche in seinen Kleidern hervor, um die Tür zu öffnen.

Sanfte Wärme schlug ihm zusammen mit dem vertrauten Geruch seines persönlichen Reiches entgegen, während er hinter sich abschloss.

Obwohl es hier ebenso stockdunkel war, wie auch der Rest seiner Wohnung, erkannte Ryon doch ohne Probleme das massive Holzbett, dass speziell für seine Größe angefertigt worden war.

An der gegenüberliegenden Wand befand sich eine ganze Schrankserie. Sie war aus hartem Kirschholz gefertigt und würde selbst Feuer sehr lange trotzen. Zudem war er mit seinen antiken Schnitzereien und der dunklen Färbung ein Eingeständnis an Ryons Geschmack. Darin befand sich alles, was er zum Leben und Überleben brauchte. Was in Anbetracht seiner Lebensweise, nicht besonders viel war.

Während er den geschmackvoll, aber spartanisch eingerichteten Raum durchquerte, zog er seine verschmutzten Kleider aus und ließ sie achtlos zu Boden fallen. Erst im Badezimmer schaltete er das Licht an.

Was den anderen Räumen fehlte, hatte er hier mit sehr viel Bedacht und Gefühl für Ästhetik ausgeglichen.

Das Bad war mit schwarzem Marmor ausgelegt, die Wände waren ordentlich verputzt und mit warmen Rottönen ausgemalt worden. Alle Armaturen waren aus rostfreiem Edelstahl, das stets wie auf Hochglanz poliert erschien. Das Bad hatte sowohl eine riesige Dusche mit durchsichtiger Glaskabine, wie auch eine ebenso enorme Wanne, in der er sich vollkommen ausstrecken konnte, wenn er denn einmal dazu Zeit hätte.

Weiche Bade- und Handtücher waren ordentlich in den mit Leinöl eingelassenen Holzschränken gestapelt und hinter dem großen Spiegel war alles, was er für seine Körperpflege benötigte.

Als er schließlich davor trat, war er bereits vollkommen nackt, bis auf das schwere, goldene Amulett um seinen Hals, das er weder zu lange ansehen, noch zu lange ablegen konnte.

Ryon hob nur kurz den Blick, um den kalten, schwarzen Augen in seinem fast makellosen Gesicht zu begegnen.

Es war blutverschmiert.

Ein tiefer Atemzug, der vielleicht einmal als Seufzer hätte durchgehen können, war alles was er sich daraufhin gestattete, ehe er sich unter das heiße Wasser seiner Dusche stellte, um sich den Schmutz abzuwaschen.

Dabei war es erst Freitag.
 

***
 

„Guten Morgen...“

Paige spürte, wie das Gewicht der Person die Matratze neben ihr eindrückte. Und sie konnte Tee riechen. Süßen Früchtetee, genauso wie sie ihn mochte. Vielleicht sogar Toast mit Butter dazu.

Mit einem schmalen Lächeln öffnete sie die Augen und blinzelte zwischen ihren Haaren hindurch, die ihr in mitternachtschwarzen Strähnen vor dem Gesicht hingen. Schlanke Finger schoben ihr ein paar Locken hinter ein Ohr, nachdem das Tablett mit Brot und Tee neben ihr abgestellt worden war.

„Na, ausgeschlafen?“

Die Frau mit den asiatischen Zügen lächelte sanft auf Paige hinunter und legte den Kopf etwas schief. Ihr roter Schlafanzug schien ihre eigenen pechschwarzen Haare nur noch mehr glänzen zu lassen.

Mit einer geschmeidigen Bewegung schob sie sich ebenfalls unter Paiges Bettdecke und hob das Frühstückstischchen auf ihren Schoß.

„Du lässt mich nur essen, wenn ich mich hinsetzte, stimmt's?“, fragte Paige immer noch verschlafen und mit einem wenig damenhaften Gähnen. Noch einmal kuschelte sie sich in ihre warme Decke, bevor sie sich demonstrativ ächzend und windend daraus hervor schälte und sich mit dem Rücken an die Wand lehnte.

Mit einem zufriedenen Nicken und einem Zwinkern drückte ihr die Asiatin die bunte Tasse mit dem abgeschlagenen Henkel in die Hände. Der Duft von Apfeltee stieg Paige angenehm warm in die Nase und weckte sofort ihre Lebensgeister.

„Bei euch beiden alles in Ordnung?“ Mit einer vom Tee warmen Hand streichelte sie über den runden Bauch der anderen Frau und sah fragend zu ihr auf. Paige war mit ihren 1,70 Metern nicht klein, aber in 'World Underneath' konnte sie mit kaum einem Wesen mithalten. So war auch die Dame in ihrem Bett gute zehn Zentimeter größer als sie selbst. Außerdem war sie so schön, dass sich sämtliche Modemagazine noch vor einigen Monaten um sie gerissen hatten. Bis sie sich hatte schwängern lassen. Sogar aus Liebe. Aber dann war es doch anders gekommen.

„Ja, alles in bester Ordnung. Es bewegt sich außerordentlich viel.“

„Na ja, es ist immerhin Wochenende.“, meinte Paige nur lapidar, während sie fasziniert beobachtete und mit ihren Händen spürte, dass im inneren des Bauches wohl gerade entweder eine Party gefeiert oder ein Kickboxturnier abgehalten wurde.

Mit einem weiteren Gähnen streckte Paige ihre Beine aus und wackelte mit den Zehen, bis sie unter der Decke am Ende des Bettes hervorschauten. „Wie spät ist es denn? Ich muss heute noch was erledigen.“

Um auf ihren Wecker zu sehen, der schief auf dem hölzernen Nachtkästchen balancierte, musste sie sich vorlehnen. Dabei entging ihr der Blick ihrer Freundin keinesfalls.

Um der anderen Frau allerdings gar keine Chance für jeglichen Einspruch zu lassen, steckte Paige sich eine Scheibe Toast zwischen die Zähne, schwang sich aus dem Bett und stellte die Teetasse auf dem Fußboden ab. Mit Schwung schob sie den dünnen grünen Vorhang zur Seite, der ihr als Schranktür diente und wiegte sich überlegend in den Hüften.

Sie hatte keine Ahnung, was sie erwarten würde. Was trug man zu einem Schmuckraub? Die einzig richtige Antwort stach ihr beinahe schmerzhaft in die Augen, als sie ein enges Oberteil aus dem Wust ihrer auf Bügeln hängenden Kleider zog.

Auf den Zehenspitzen und immer noch mit der Toastscheibe im Mund drehte sie sich herum und hielt sich das Oberteil vor.

„Was meinst du? Türkis ist die Farbe diesen Herbst.“
 

***
 

Es war erst Mittag, als bereits alles erledigt war, was er sich für diesen Samstag vorgenommen hatte. Seine ruinierten Klamotten waren wie schon so oft im Müll gelandet und jedes Mal wenn das passierte, war ein Besuch bei seinem privaten Schneider angesagt. Denn es gab kaum ein Kleidergeschäft, das mit ihm fertig wurde. Seine Größe war zwar immer wieder ganz nützlich, aber in den meisten Fällen dann tatsächlich eher hinderlich.

Nach dem der Auftrag für seine Ersatzkleider aufgegeben worden war, hatte er sich bei seinem derzeitigen Auftraggeber das Kopfgeld für den tollwütigen Werwolf abgeholt, der schon seit mehreren Wochen für den harten Stoff von menschlichen Legenden gesorgt hatte. Aber letztendlich war er genau zu dem geworden, was er verkörpert hatte – Geschichte.

Ryon musste das dicke Bündel Banknoten unter seinem Jackett nicht berühren, um zu wissen, dass er heute mehr verdient hatte, als so mancher Durchschnittsbürger in einem halben Jahr.

Wie viel Glück diese Leute hatten, wussten sie vermutlich gar nicht. Es war nur Geld. Belangloses Papier, das für ihn schon längst seinen Reiz verloren hatte. Aber es sorgte wenigstens immer für genügend Essen auf dem Teller und essen musste er. Weshalb er sich auch für ein nachträgliches Frühstück und Mittagessen zugleich, in eines der Luxusrestaurants auf der Oberfläche gesetzt hatte, das zwar genauso teuer wie alle anderen war, jedoch dafür auch anständige Portionen anzubieten hatte. Mit Portionen für Kinder oder Magersüchtigen fing er grundsätzlich nur wenig an und wer ihm das auftischte, der würde ihn nie wieder als Kunden zu Gesicht bekommen.

Während Ryon in einer abgelegenen Ecke auf seine Bestellung wartete, blätterte er die Tageszeitung der Menschen durch, um einen gewissen Schein von Normalität zu wahren. Denn weder interessierten ihn die Nachrichten dieser Spezies, noch mochte er es, angestarrt zu werden. Aber selbst die Breite der Zeitung bot ihm nicht genug Sichtschutz vor ein paar der Anwesenden Gäste, die sich zwar zu fein waren, um offen zu starren, aber deren Blicke er dennoch immer wieder über sich hinweg gleiten spürte.

Sie alle strafte er mit Nichtachtung, während er zugleich ständig alles und jeden im Raum mit seinen Sinnen sondierte. Es wäre nicht das erste Mal, dass er beim Essen gestört wurde.
 

Etwa zwei Stunden später saß sie mit einem Chai-Latte und einem dicken Schmöker bewaffnet in einem Café.

So unauffällig und nebensächlich wie möglich, ließ sie ihren Blick immer wieder ins Restaurant auf der anderen Straßenseite wandern.

Kein Zweifel möglich. Den Typen hätte sie auch ohne das leicht verknitterte Foto erkannt, das zwischen den ersten Seiten ihres Buchs steckte. Wer den Kerl übersehen wollte, musste schon blind sein. Und selbst dann wäre man wahrscheinlich ohne Ausweg irgendwann gegen diese Ziegelmauer aus Muskeln und Eis gerannt und hätte sich ordentlich den Kopf geschlagen und die Zähne ausgebissen.

Gott sei Dank erwartete ihr Auftraggeber keine schnellen Ergebnisse. Ihm oder ihr war es egal, in welchem Zeitraum Paige das Schmuckstück besorgte. Hauptsache sie kam überhaupt daran. Allerdings war bei schneller Arbeit auch wesentlich mehr Kohle drin, was in ihrer Situation für zusätzlichen Ansporn sorgte.

Paige nahm noch einen ordentlichen Schluck Chai und hoffte inständig, dass dieser Muskelberg das Ding bei sich zu Hause in einem Safe aufbewahrte. Das wäre wahrscheinlich noch wesentlich einfacher zu knacken als der Mann selbst, den sie keinen Moment lang aus den Augen ließ.
 

Angenehm gesättigt bezahlte Ryon schließlich mit seiner Amex Platinum Card, die auf einen gewissen Richard Twain lief. Obwohl es natürlich seine eigene war. Genauso wie seine erkaufte Identität, was seine Geldtransfere aller Art um vieles erleichterte.

Wie nützlich falsche Ausweise waren, hatte er bisher oft genug erfahren und wusste sie daher umso mehr zu schätzen. Es war unmöglich ihn Anhand von seiner Sozialversicherungsnummer, Krankenakten oder irgendwelchen anderen Dokumenten zurück zu verfolgen. Für den Staat existierte er schlichtweg als Ryon Tuwa nicht. Außerdem, wer brauchte schon eine Krankenversicherung, wenn man mögliche Krankenhausaufenthalte bar bezahlen könnte? Nicht dass er je das Risiko eingehen und sich als letzten Ausweg dorthin schleppen würde. Lieber verblutete er, wenn es denn einmal so weit kommen sollte. Sogar sehr viel lieber.

Nachdem er seine Brieftasche wieder in seinem sandfarbenen Jackett verstaut hatte, machte er sich auf den Weg zu seiner Bank, um den Verdienst der letzten Tage einzubezahlen.

Zwar fürchtete er sich nicht vor einem Raubüberfall, aber so viel Geld bei sich herum zu tragen, war absolut unsinnig. Er hätte es genauso gut als Brennmaterial verwenden können, so sehr hing er daran. Doch dort wo er es hin gab, würde es sich wenigstens langsam aber sicher weiter vermehren und dafür sorgen, dass er nicht doch noch irgendwann mittellos da stand.

Seine Erledigungen in der Bank dauerten fast fünfzehn Minuten.

Obwohl er als einer der besten Kunden eine gesonderte Behandlung bekam, war er nie schneller fertig, als die Leute die sich in der Schlange hinter dem normalbürgerlichen Schalter anstellen mussten. Vielleicht sollte er sich einfach einmal aus Trotz dort anstellen, aber dann würde er vermutlich die junge Bankangestellte noch nervöser machen, als sie es ohnehin schon war. Sie musste neu sein.

So ließ er also die ermüdenden Schleimereien des Managers über sich ergehen, der ihm jedes Mal einen Vortrag darüber hielt, wie sicher ihre Bank doch sei und wie gut Ryon daran tat, sein Geld bei ihnen anzulegen, wo es in dem und dem Zeitrahmen so und so viel Gewinn machen würde, bei diesem und jenen Prozentsatz.

Kein Wunder, dass er Kerl nur so selten wie möglich aufsuchte. Aber es gab eben immer ein nächstes Mal.
 

Der Kerl machte in den paar Stunden, die sie ihm folgte, ganz schön Kilometer. Zuerst ging es von dem Nobelschuppen direkt zu einer der großen Banken in der Innenstadt. Dort passte ihr zukünftiges Opfer allein wegen seiner Aufmachung hin. Unter all den Anzugträgern, die wie hypnotisiert durch die Gegend rannten und nichts um sie herum wahrnahmen, musste Paige sich noch nicht einmal verstecken. Sie stand einfach an einer Straßenecke und blätterte in einem Stadtplan herum.

Das gab ihr auch die Gelegenheit, immer wieder einen verirrten Blick in die Runde zu werfen und den Eingang der Bank im Auge zu behalten.

Als sich der Aufenthalt des Mannes in dem Hochhaus für diese erste Tarnung zu lange hinzog, stopfte Paige ihre Karte in die riesige schwarze Handtasche, schob die blonden Strähnen ihrer Perücke hinters Ohr und inszenierte einen Anruf mit einer Freundin.

„Ich weiß nicht genau, wo ich hin muss... Wie?... Ja, klar hab ich eine Karte dabei, aber wenn ich keinen Schimmer habe, wo ich bin, nützt die auch nichts.“ Übertrieben fröhlich lachte sie über einen nicht erzählten Witz, während auf der anderen Straßenseite der riesenhafte Schatten des Mannes hinter der Glastür der Bank in Sicht kam.

„Schätzchen, ich muss Schluss machen. Ja, ich nehm’ einfach die nächste Linie zu dir. Bis dann. Ciaoi!“

Sie nahm den Finger vom Cancel-Knopf des Handys und steckte es in die Tasche. Es war ihr am Anfang einmal passiert, dass sie bei so einem Manöver wirklich angerufen worden und ihre Tarnung geplatzt war.

Das blaue Auge hatte ihr eine gehörige Standpauke ihres Chefs im Fass eingebracht. Und außerdem keinen müden Heller.

Tja, aus Fehlern wird man klug.
 

Die Fahrt mit der U-Bahn war dahingehend richtig erholsam. Dicht gedrängt standen die vielen Menschen an diesem Samstagnachmittag zusammen und schafften es mit ihrer Masse, sogar Ryon nicht auffallen zu lassen, während er sich mit einem Arm an einem der Haltegriffe festhielt und an die dunkle Tunnelwand blickte, die rasend schnell an ihm vorüber zog.

Die bunten Gerüche waren eine interessante Abwechslung, genauso wie die sich bietende Gelegenheit, auch immer wieder ganz alltägliche Situationen zu beobachten. Ryon hatte schon lange den Anschluss an so ein Leben verloren, weshalb er die alte Oma mit ihren Einkaufstaschen oder den abgehetzt wirkenden Managertypen mit dem Aktenkoffer fast beneidete. Er hätte sogar mit dem pickeligen Teenager getauscht, der eine Gruppe quirliger Mädels mit sehnsüchtigen Blicken anstarrte, als hätte er etwas vor Augen, das er nie haben könnte. Doch Ryon konnte genauso wenig aus seiner Haut, wie der Junge die Mädchen ansprechen konnte. Das Schicksal war eben ein grausames Miststück.

Schließlich kam seine Haltestelle und trotz seiner Größe, gelang es ihm beinahe wie durch Zauberhand, sich gewandt aus der Masse zu befreien und wieder ein eigenständiges Individuum zu werden.
 

Langsam lief sie hinter dem Mann her. Bei der Statur konnte sie ihn auf keinen Fall aus den Augen verlieren. Das war auch in der U-Bahn ein Vorteil. Die Wagen waren zwar völlig verstopft, aber selbst über mehrere Sitzreihen hinweg sah sie ihn nah am hinteren Eingang stehen. Er sah sich die Leute an, die um ihn herum saßen, zeigte aber keinerlei Regung.

Eindeutiger Egomane, was?

Aber das konnte man nach so kurzer Zeit noch nicht sagen. Bloß weil er kein Lächeln vor sich her trug, musste das nicht heißen, dass er im Allgemeinen ein übellauniger Typ war. Immerhin hatte Paige selbst einige Masken, die sie im Alltag und nicht zuletzt in diesem Augenblick trug, damit ihr niemand zu nahe treten konnte.

Trotzdem irgendwie seltsam. Er schien ein Ziel zu haben, auf das er zusteuerte und das ihm keinesfalls fremd war. Nicht ein einziges Mal wanderten seine auffällig geformten Augen zu dem U-Bahn-Plan über den Türen.

Paige hätte es nicht gewundert, wenn er auf dem Weg nach Hause gewesen wäre. Man hatte ihr mitgeteilt, dass der Mann keine Familie hatte. Niemanden, mit dem er zusammen lebte. Das waren aber auch die einzigen Informationen, die bis jetzt in ihrem kleinen, mit bunten Blumen bedruckten Notizbuch standen.

Natürlich war es lächerlich, aber Paige mochte es, ein wenig Detektivin zu spielen. Mehr über den Mann zu erfahren, den sie bestehlen sollte, war eine gute Sache. Zumindest für sie.

Am Garden stiegen sie aus.

Die Menschen drängten sich scharenweise die alten Treppen hinauf ins Tageslicht, um sich dann in alle Winde zu zerstreuen. Das war das erste Mal, dass Paige darauf achten musste, nicht entdeckt zu werden. Sie war mit dem Strom der Ankommenden einfach mitgezerrt worden und stand nun kaum drei Meter von dem Riesen entfernt, der allerdings keinen Blick zurückwarf, bevor er sich mit weit ausholenden Schritten Richtung Park aufmachte.

Den Mp3-Player aus der Tasche gekramt, die große Sonnenbrille aufgesetzt und sie hatte wieder genügend Abstand.

Als er allerdings auf die Wiese abbog, an dem großen, alten Brunnen vorbei lief und auf eine Gruppe Kinder zusteuerte, wurde es knifflig. Entweder riskierte Paige näher heran zu gehen und entdeckt zu werden oder sie hielt sich zurück und konnte ihn aus den Augen verlieren.

Ohne wirklich zu zögern entschied sie sich für Ersteres. Meistens fiel man am wenigsten auf, wenn man sich nicht unauffällig verhielt. Also pflanzte sie sich ein Stück vom Brunnen entfernt ins Gras, holte ihr Buch aus der Tasche und lümmelte sich einigermaßen gemütlich hin. Allerdings in einer Position, die ihr erlauben würde, jederzeit aufzuspringen und keine Zeit vergeuden zu müssen, bevor sie wieder die Verfolgung aufnehmen konnte.

Sie war überrascht, dass er tatsächlich zu den Kindern wollte.
 

Der Park war so riesig, wie er auch schön war und stellte zugleich die einzige Grünanlage dar, die er im Umkreis von ein paar Kilometern einfach so erreichen konnte, ohne einen längeren Aufwand dafür hinnehmen zu müssen.

Die Wege waren teilweise für die Skater und Rollerblader asphaltiert worden, doch auch einige kleine Pfade aus weißem Kies waren vorhanden, die von bunten Blumenarrangements eingerahmt wurden.

Im Park gab es zwar überall kleinere Springbrunnen, doch genau in der Mitte war ein riesiger Brunnen, der besonders nachts eine eindrucksvolle Erscheinung darstellte.

Ryon ging an ihm vorbei, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen. Stattdessen fasste er eine Gruppe von spielenden Kindern ins Auge, die sich auf einer ausgedehnten Grünfläche niedergelassen hatten.

Schon von weitem erkannte er Amelias weizenblondes Haar, das in der Sonne schimmerte, während sie einem zweijährigen Mädchen lachend hinterher lief, das sich weigerte, das kleine Hemdchen wieder anzuziehen.

Kaum dass Mia ihn erblickte, kam sie auch schon auf ihren kleinen Füßen auf ihn zugeeilt. Ohne Probleme fing er den kleinen Wildfang ein und brachte sie zu Amelia zurück, welche die elternlosen Kinder betreute.

Sie grinste ihn breit an, wandte sich aber an das Mädchen in seinen Armen, als sie meinte: „Na Mia. Wieder mal einen guten Fang gemacht, wie? Hi, Ryon. Gut, dass du kommst. Die Rasselbande wird schon ganz wild. Noch ein paar Minuten länger und sie würden sich auch ohne dich auf den Eismann stürzen.“

Er nickte nur und streckte die Hand nach Mias Hemdchen aus. Danach ging er mit ihr in die Hocke, um der Kleinen das Kleidungsstück wieder überzuziehen, die ihn dabei vergnügt anlächelte.

Keines der anwesenden Kinder die sich langsam um ihn herum scharten, als wäre er das achte Weltwunder, störte sich daran, dass er völlig unbeeindruckt blieb. Manche hatten immerhin die gleichen, gefühllosen Gesichter wie er. Sie verstanden sich alle, auch ganz ohne Worte.

„Leute, jetzt dürft ihr euch auf den Eismann stürzen, aber schön einer nach dem anderen, klar?“, ermahnte Amelia die kleine Rasselbande von gut einem dutzend Kindern in allen möglichen Altersstufen. Woraufhin sich die Schar grölend zu dem Eiswagen aufmachte, der nicht unweit in der Nähe stand. Nur Amelia und Mia blieben an seiner Seite.

„Ist Susan nicht hier?“, wollte er wissen, während er sich mit den beiden ebenfalls aber wesentlich langsamer auf den Weg machte, um sich ein Eis zu holen.

„Nein, sie hat sich erkältet. Aber da Samstag ist, hat sie sich keine Sorgen darüber gemacht, ich müsste mich alleine um die Kinder kümmern. Sogar Ted wollte kommen, aber ich hab ihm gesagt, er muss schon die ganze Woche im Büro arbeiten, da soll er einmal den Samstag für sich haben.“

Wieder ein Nicken von Ryon. Amelias Mann war ein guter Kerl, wenn auch zeitweise etwas überarbeitet. Aber die beiden kamen gut damit klar.

Mia fing in seinen Armen leicht zu zappeln an, als sie beim Eismann angekommen waren. Also bestellte er für sie einen kleinen Plastikbecher mit Vanille- und Schokoeis.

Sie war noch zu klein, um gefahrlos eine Tüte halten zu können. Aber dieses Ritual mit dem Becher hatten sie schon längst intus. Solange er es war, der sie mit dem Eis fütterte, gab sie auch Ruhe, obwohl sie auch sehr anstrengend sein konnte. Ihre Mutter war immerhin eine drogenabhängige Vierzehnjährige gewesen, die auch ihrem ungeborenen Kind diese Sucht mitgegeben hatte. Kein besonders guter Start in ein neues Leben.
 

Es lag vielleicht an seiner offiziellen Aufmachung. Dem Anzug der so aussah, als dürfte er nicht zerknittert werden und der Krawatte, die so korrekt saß, dass man wahrscheinlich eine Wasserwaage daran ausrichten konnte. Andererseits verliehen ihm die bunten Haare eine gewisse Lässigkeit. Wenn Paige auch davon ausging, dass er sich die von einem guten Frisör hatte anstylen lassen. Der Typ war ihrer Meinung nach alles, bloß nicht lässig.

Das machte aber weder dem Kind, das er auf den Arm nahm, noch der blonden Frau etwas aus.

War da vielleicht doch jemand, auf den sie achten musste? Jemand, der außer ihm in der Wohnung sein könnte, wenn sie einbrach? Paige würde sich das Geschehen noch eine Weile ansehen müssen, um das beurteilen zu können.

Na ja, vor Liebe schien er jedenfalls nicht überzuquellen. Kein Kuss zur Begrüßung, keine Berührungen. Mal von dem kleinen Mädchen abgesehen. Vielleicht seine Exfrau? Dann wäre das Mädchen vermutlich seine Tochter...

Die konnte man als Gefahr außer Acht lassen. Wenn er nicht daheim war, würde es das Kleinkind sicher auch nicht sein.

So wie er mit den Kindern umging, würde er keines allein zu Hause lassen und dennoch fehlte da irgendwas. Es war nicht zu übersehen, dass er wusste, wie man mit der Rasselbande umging, aber da war irgendetwas an diesem Bild...

„Irgendwas ist ... falsch.“ Paige murmelte in ihr Buch und blätterte eine der Seiten um, der sie keinen Blick gewidmet hatte. Unter den dunklen Gläsern ihrer Brille konnte aus der Entfernung niemand sehen, dass sie sich nicht der Lektüre, sondern der Horde Kinder und den beiden Erwachsenen widmete.
 

Mit einer unendlichen Geduld kümmerte Ryon sich um Mias Appetit nach dem Eisbecher. Er hatte sich dazu etwas abseits von den anderen Kindern mit der Kleinen ins Gras gesetzt, damit sie diese kleine Zeremonie in Ruhe abhalten konnten.

Erst das Lätzchen umgeschnallt, dann die richtige Sitzposition gefunden und schließlich das Mund auf, eine kleine Portion rein und Mund wieder zu Spielchen. Denn obwohl es einfach klang und Mia wirklich auf das Eis versessen war, ließ ihre Konzentration doch schnell nach, weshalb sie ihre Aufmerksamkeit schon nach den ersten Bissen, immer wieder auf andere Dinge richtete.

Ein Käfer im Gras, der so faszinierend zu sein schien, dass sie Ryon beinahe vom Schoß krabbelte. Auch die verschiedenen Rot- und Blondtöne seiner Haare mit den schwarzen Strähnen darin, machten sie neugierig und brachten sie dazu, mit ihren klebrigen Fingern daran zu ziehen.

So war es nicht verwunderlich, dass die anderen Kinder schon längst mit ihrem Eis fertig waren, während Mia gerade mal die Hälfte der Miniportion verdrückt hatte, bis sie es auch schließlich nicht mehr wollte. Weshalb er es am Ende in den nächsten Mülleimer warf. Es war ohnehin schon zu einer Suppe geworden.

Für gewöhnlich plante Ryon für die Kids immer gut zwei Stunden ein. Aber es sah langsam nach Regen aus, weshalb sie lieber früher alles zusammen packten, um noch rechtzeitig wieder im Waisenhaus anzukommen, bevor der Regenguss wirklich einsetzte. Immerhin war es ein weiter Weg und da Amelia dafür sorgen musste, dass ihr auch ja keines der Kinder verloren ging, dauerte alles gleich noch viel länger.

„Soll ich dich wirklich nicht begleiten?“, hakte Ryon noch einmal nach, während er der blonden Frau beim Zusammenpacken half.

„Nein, nein. Das geht schon. John hilft mir schließlich, auf die Kleineren aufzupassen. Nicht wahr, John?“

Ein ungefähr zehn Jahre alter Junge mit braunen Haaren und freundlichen Augen blickte hoch, ehe er grinste.

„Klar doch. Irgendeiner muss schließlich auf diese Bälger aufpassen. Das ist doch der reinste Kindergarten.“

Amelia lachte.

„Wem sagst du das. Wenn ich da an Neulich denke, wo Tommy mit der Unterhose von Mrs Direktorin Grieskram auf dem Kopf herum gerannt ist, um den Mädchen einen Schrecken einzujagen. Weißt du noch, wie sich die Mädchen alle schlapp gelacht haben?“

Nun begann auch John zu lachen.

„Klar weiß ich das noch. Soweit ich mich erinnern kann, waren das Snoopieschlüpfer von einer Fünfzigjährigen. Da fragt man sich doch, wer von uns in die Kindergartengruppe gehört.“

Ryon konnte sich die Szene bildlich vorstellen, da er die alte Schachtel von Direktorin schon ein paar Mal gesehen hatte, die das Heim leitete.

Wenn man die Frau nur sah, musste man unwillkürlich an eine zerfledderte Vogelscheuche denken. Sich diese verbitterte alte Frau in Snoopieunterwäsche vorzustellen, war einfach zu komisch. Trotzdem lachte er nicht mit und verzog auch nicht die kleinste Miene. Es war komisch, aber es rang ihm kein Lächeln ab.
 

Zwanzig Minuten später war ihr der linke Fuß eingeschlafen und sie langweilte sich so sehr, dass sie fast versucht war, wirklich in dem Buch zu lesen.

„Tu was. Geh' heim, triff dich mit irgendwelchen Mafiosi hinter dem Baum da hinten. Meinetwegen greif dir die Blonde und nimm sie hier direkt auf dem Rasen, aber tu was.“

Gott, wie konnte man so langweilig sein? Der Kerl hatte wirklich die Ausstrahlung und den Charme eines Plastersteins. Wenn auch eines sehr teuren Steins.

Jetzt hoffte Paige noch mehr, dass er den Schmuck daheim hatte, sonst müsste sie am Ende auch noch persönlich Kontakt mit ihm aufnehmen.

Entnervt setzte sie sich hin, legte das Buch auf den Boden und massierte das Kribbeln aus ihrem Fuß, während sie die spielenden Kinder nur noch nebenbei beobachtete.

Es war seltsam faszinierend, dass die Kleinen von dem Mann nicht genug bekommen konnten. Auch ihnen schenkte er kein Lächeln, nicht mal ein Zucken der Mundwinkel und doch schienen sie irgendeine Verbindung zu einander zu haben.

Beinahe hätte sie verpasst, dass er sich anschickte zu gehen.

Endlich!

Vor Erleichterung hätte sie glatt vergessen, dass sie hier allein auf weiter Flur lag und es verdammt offensichtlich gewesen wäre, hätte sie jetzt ihre Sachen zusammen gepackt und wäre ihm hinterher gestiefelt. Also massierte sie weiter an ihrem Fuß herum und packte zumindest das Buch in ihre Tasche.

So ein Aufbruch musste vorbereitet werden. Ein paar Blicke auf die Armbanduhr. Checken des Handys. Ein wenig neue Schminke auflegen und noch mal auf die Uhr sehen. Dann zusammen packen und sich langsam auf den Weg zum nächsten Ausgang machen.

Es gab nur zwei mögliche Richtungen, die er einschlagen konnte. Paige hoffte, dass er wieder zur U-Bahn zurückgehen würde. Ansonsten hätte sie einen ganz schönen Spurt zum Nebeneingang vor sich.
 

Nachdem die Sachen gepackt und die Gruppe aufbruchbereit war, verabschiedete Ryon sich noch von allen, was ihm von ein paar der kleineren Kinder eine regelrechte Knuddelattacke einbrachte. Zum Glück war es ihm egal, wie seine Kleidung danach aussah, sonst hätte er schon längst Grund gehabt, wegen den ganzen Falten und teilweise auch Flecken auszuflippen. Bei seinem nächsten Termin musste er sowieso die Kleidung wechseln. Also war das alles nicht weiter schlimm.

„Sehen wir uns dann nächsten Samstag?“, wollte Amelia etwas abseits der Gruppe noch leise wissen, da die Kinder immer so schnell enttäuscht waren, wenn sie sofort erfuhren, dass er einen Samstag einmal nicht konnte.

„Im Augenblick sieht es gut aus. Aber ich melde mich, falls sich noch etwas ändert.“, versprach er wie immer, ohne sich festlegen zu wollen.

Wenn er einen Auftrag ganz überraschend bekam, wollte er immer flexibel sein und keine Termine sollten sich überschneiden.

„Okay. Bis dann also. War heute wieder schön, dass du da warst. Wir sehen uns.“

Wieder nickte er nur und sah der Rasselbande noch eine Sekunde lang nach, ehe er den Weg in die Stadt einschlug. Die paar Blocks würde er zu Fuß hinter sich bringen, das wäre bereits ein gutes Aufwärmprogramm für den späteren Abend.
 

Die Kinder kamen in einem lärmenden, kleinen Pulk direkt auf Paige zu, doch der Riese war nicht dabei. Er hatte sich vor wenigen Augenblicken von der Gruppe verabschiedet und war stehen geblieben.

Wenn er den Kindern noch einen Moment länger hinterher sah, würde sein Blick unweigerlich auf Paige fallen. Immerhin waren die Ersten schon an ihr vorbei und liefen plappernd in Richtung Verkehrsinsel.

Den Kopf etwas gesenkt, damit ihr noch mehr blonde Strähnen ins Gesicht fielen, stand Paige angespannt neben der Bank und versuchte gewaltsam mit der Hecke hinter sich zu verschmelzen. Selbst wenn er sie sah, hieß das nicht, dass er sie registrieren würde. Nur eine Frau, die verdammt blöd in der Gegend herumstand und nichts tat...

Er hatte weggesehen. Das war zwar gut, aber gleichzeitig hatte er ihr den Rücken zugekehrt und war auf dem Weg zum Nebeneingang.

Verdammt, sie hätte es ahnen müssen. Und solange die Rasselbande nicht vorbei war, konnte sie nicht losrennen.

Die junge Betreuerin warf Paige ein breites Lächeln zu, als sie mit dem kleinen blonden Mädchen auf dem Arm an ihr vorbei ging. Paige nickte mit einem winzigen Lächeln und tat so, als wäre sie von der Truppe in ihrer eigentlich eingeschlagenen Richtung aufgehalten worden.

Sie musste dem Mann auf knirschenden Absätzen hinterher.

Beinahe wäre sie an einem der beiden Säulen hängen geblieben, die den Ausgang kennzeichneten. Aber sie bekam in letzter Sekunde doch die Kurve und schaffte es sogar gefasst auf die Straße hinaus zu treten.

Hier war wenig los. Bloß ein paar Spaziergänger, die ebenfalls den Park verließen und eine Mutter mit Kinderwagen.

Paige schlängelte sich durch die Passanten, blieb immer wieder an einem Schaufenster stehen und warf kurze Blicke nach vorn, wo der breitschultrige Kerl gemäßigten Schrittes den halben Bürgersteig für sich einnahm.

Als sie sein Ziel offensichtlich erreicht hatten, sah Paige wenig überrascht den Aufdruck auf den Türen und der Fensterreihe im ersten Stock. Na, das hätte sie sich eigentlich denken können.

Da war wohl wieder lesen angesagt.

Wäre sie mit seinen Gewohnheiten bereits vertraut gewesen, hätte sie wahrscheinlich eine Sporttasche dabei gehabt. Ein Fitnessstudio wäre sogar eine der leichtesten Gelegenheiten, ihm ein bisschen auf den Zahn zu fühlen. Aber da sie das ohnehin lieber vermeiden wollte, war sie für die verpasste Gelegenheit ganz dankbar.
 

In dem gut ausgestatteten, aber nicht überteuerten Fitnessstudio seiner Wahl, das er schon seit langem benutzte, fühlte er sich immer recht wohl.

Hier sah man ihn nur noch ab und zu schräg an, wobei die meisten wohl glaubten, er würde frisch aus den geheiligten Hallen der Bodybuilder kommen. Dabei kam er wohl eher gerade aus den Männerumkleideräumen, wo er seinen Spind mit den Sportsachen hatte.

Mit einer grauen Jogginghose, einem schwarzen Muskelshirt, den Laufschuhen und einem Handtuch bewaffnet, griff er noch nach einem kleinen schwarzen Samtbeutel an seinem Hosenbund, während er sich zu den Laufbändern begab.

Aus dem kleinen Beutel holte er seinen i-Pod hervor, wählte seine Lieblingsplaylist und gab sich die volle Dröhnung, während er auf schnellem Tempo mit Steigung zu laufen begann.

Erst als es draußen vor den großflächigen Panoramafenstern fast gänzlich dunkel geworden war, stieg Ryon endlich von dem Laufband.

Seine Haare und Kleider klebten ihm verschwitz auf der Haut, doch er war nur leicht außer Atem, als er sich auf den Weg zu den Duschen machte.

Das goldene Amulett schien ihm dabei am anschmiegsamsten auf der Haut zu liegen. Immer knapp zwischen seinen Schlüsselbeinen. Dabei war es seltsam, wie sauber und glänzend es doch blieb, obwohl es bereits jahrelang den verschiedensten Bedingungen ausgesetzt gewesen war. Aber Ryon hatte schon lange aufgehört, sich darüber zu wundern.
 

Es wurde spät. Und es wurde kalt. In einem Anflug von Resignation hatte Paige sich sogar dazu hinreißen lassen, zu dem Laden zwei Häuser weiter zurück zu laufen und sich ein eingeschweißtes Sandwich zu kaufen.

Sollte der Kerl jetzt in Aktivität ausbrechen und ein Auto klauen, um auf große Fahrt zu gehen, war es ihr auch schon egal. Ihre Zähne klapperten nur dann nicht aufeinander, wenn sie von ihrem Avocado-Truthahn-Sandwich abbiss.

Sie gab sich noch fünfzehn Minuten. Danach wäre es einfach zu auffällig hier auf der Straße herum zu stehen, immer wieder zu zappeln, um ein wenig Wärme in ihren Körper zu bekommen und an einem Brot herumzunagen.

„Scheiße, wenn ich wüsste, wo du wohnst, müsste ich dir gar nicht hinterher rennen...“

Hätte man ihr nicht diese wahnsinnige Summe versprochen, sie wäre längst weg. Ai wartete bestimmt mit dem Abendessen. Irgendwas Warmes. Gemüseeintopf oder vielleicht sogar ein bisschen Fleisch, wenn sie auf den Markt gekommen war.

Paiges Züge verdüsterten sich und sie straffte mit Gewalt ihren Körper, um die Kälte endgültig zu vertreiben. So ein bisschen Kälte würde sie nicht davon abhalten, das Geld zu beschaffen, zumindest im Moment noch nicht. Immerhin könnte sie vielleicht sogar heute noch an das Schmuckstück rankommen...

Bei dem Gedanken an das Festessen, das Ai und sie dann aufkochen konnten, lief Paige das Wasser im Mund zusammen. Dem Baby würde das auch wahnsinnig gut tun. Ai war sowieso viel zu dünn, selbst für ihre natürliche Statur. Das konnte nicht gut für das Kind in ihrem Bauch sein.

Sorgen begannen mehr an Paige zu nagen als die Kälte, die ihren Atem in kleinen Wölkchen zum Himmel steigen ließ, als die Tür ihr gegenüber aufgeschoben wurde und ihr Opfer mit feucht strähnigen Haaren und geröteten Wangen heraus kam.
 

Mit feuchten Haaren und aufgewärmten Muskeln trat er schließlich auf die Straße, um sich auf den Weg zurück in die World Underneath zu begeben.

Eine Sache gab es noch, die er zu erledigen hatte, ehe er endlich nach Hause konnte. Eigentlich war ihm heute nicht danach, da er gestern schon den Werwolf zur Strecke gebracht hatte. Aber Tony hatte ihm wegen der Sache schon seit Wochen in den Ohren gelegen, bis er schließlich zugesagt hatte. Jetzt konnte er auch nicht kneifen und vielleicht war das auch ganz gut so.

Je näher er der verlassenen Lagerhalle unter den Straßen der Stadt kam, in der sich nur allzu oft illegale Aktivitäten abspielten, umso finsterer und gefährlicher wurde die Gegend. Mit ihren dunklen Ecken, verzweigten Gassen und Winkeln, war es ein idealer Hinterhalt, sofern jemand dumm genug war, hierher zu kommen.

Ryon hatte nichts zu befürchten. Er hatte hier einen Ruf, der ihm eigentlich schon Sonderrechte verschaffte, wenn er denn auf welche wert gelegt hätte. Dieser Ort gab ihm nur eine Sache, die er wollte. Zwar nicht unbedingt heute, aber an manchen Tagen war er seine Rettung.
 

„Vielleicht hat er eine missglückte Schönheits-OP hinter sich... Oder bei einem Autounfall wurden ihm die Wangenmuskeln durchtrennt...“

Während sie inzwischen schlechtgelaunt hinter ihm herstapfte, kaum noch darauf bedacht, den Sicherheitsabstand einzuhalten, erschuf sie wilde Theorien.

Mit einem Lächeln hätte der Typ wahrscheinlich gar nicht mal schlecht ausgesehen. Er war groß und manche Frauen standen bestimmt auch auf diese Muskelberge. Die Augen waren auch interessant, wenn man sie mal näher betrachten könnte. Aber die ganze Aura, die der Kerl vor sich herschob, war einfach nur zum davonlaufen.

Erst als sie am Tor ankamen, fiel Paige auf, wohin sie gelaufen waren.

Der Pfad war für sie so natürlich, dass sie gar nicht hatte darüber nachdenken müssen, wohin sie ihre Schritte lenkte. Der alte U-Bahnschacht auf der Baustelle gähnte wie ein großer Schlund in der Dunkelheit und hatte den Hünen so schnell verschluckt, als handelte es sich tatsächlich um das Maul eines riesenhaften Tieres.

Ohne zu zögern, trat sie in den finsteren Schacht, in dem ihre Schritte unangenehm laut widerhallten. Aber sie war nicht die Einzige, die hier entlang lief. Der gebeugte Mann, der in eine Decke gehüllt am Boden saß, einen kleinen Plastikbecher vor sich, in dem zur Tarnung sogar ein paar Münzen lagen, schenkte ihr nur einen kurzen Blick. Er war nicht der einzige Wachmann am Weg zur World Underneath, aber alle ließen Paige passieren. Wer so schnurstracks unter die Stadt lief, wusste, was ihn dort erwarten würde.
 

Alleine der Lärm, der nur leicht gedämpft durch die zerschrammte Bürotür drang, machte Ryon klar, dass Tony gewaltig die Werbetrommel für seine Käfigkämpfe gerührt haben musste, denn es waren mindestens doppelt so viele Zuschauer anwesend, wie gewöhnlich.

Dicht gedrängt auf provisorischen Sitzgelegenheiten umringten die Schaulustigen einen großen Käfig, der an einen von der Sorte erinnerte, in der man im Zirkus Raubkatzen bändigte. Nur dass es in diesem Fall alle möglichen Bestien waren, bloß keine einfachen Tiere.

„Drei Kämpfe. Wie du es mir versprochen hast. Danach kannst du nach Hause gehen.“, erklärte Tony mit seiner rauchigen, deutlich geschäftsmäßigen Stimme. „Wenn du das dann auch noch willst.“

Eigentlich war es dumm, hier völlig umsonst mitzumachen, wo doch die Gewinner immer große Prämien bekamen. Aber Geld hatte Ryon genug, weshalb er sicherlich nicht aus Geldnot ab und zu an diesen Kämpfen teilnahm. Viel eher war es eine Notwendigkeit, ohne die er schon lange nicht mehr leben könnte.

„Drei Kämpfe und ich werde nach Hause gehen. Also leg dich heute Nacht nicht mit mir an. Ich halte mich an die Abmachung, halte du dich also auch an die deine.“, gab Ryon gelassen zurück.

Er könnte dem kleinen Glatzkopf mit der dicken Wampe ohne Probleme den Hals umdrehen, wenn er denn wollte und das wussten sie beide, weshalb Tony sich auch davor hütete, es zu weit mit seinen Forderungen zu treiben. Ryon war immerhin ein wahrer Publikumsmagnet für all jene, die hier her kamen, um ihn kämpfen zu sehen. Bessere Werbung für seine Käfigkämpfe würde der kleine Gauner sicherlich nie bekommen.

„Ja ja, schon klar. Ich hab verstanden. Aber dann mach die drei Runden wenigstens nett, ja?“

Ryon schenkte dem widerlichen Kerl einen langen Blick, der ihn eigentlich zu einem Eiszapfen hätte gefrieren lassen müssen, doch Tony zuckte lediglich etwas zurück.

„Ich werde sehen, was sich machen lässt.“

Sein Jackett hängte Ryon zusammen mit seiner Krawatte über die Lehne eines ausrangierten Stuhls, ehe er seine Hemdsärmel hochkrempelte.

Auch diese Klamotten würden diese Nacht nicht heil überstehen. Gut, dass er sich heute Morgen beim Schneider gleich mehrer Outfits bestellt hatte.
 

Paige war versucht, den massigen Arm um ihre Schultern einfach anzukokeln, aber das hätte bloß für die falsche Art von Aufmerksamkeit gesorgt. Außerdem war der Trunkenbold, der sich bei ihr abstützte und immer wieder Bier über sein eigenes Kinn verschüttete, absolut harmlos. Ganz im Gegensatz zu den anderen Typen hier in dieser Lagerhalle. Mal von den Bestien im Käfig völlig abgesehen.

Und da hab ich dich für einen Langweiler gehalten..., meinte sie mit einem abschätzenden Gesichtsausdruck.

Die kleine Arena kochte wie ein Hexenkessel, angefüllt mit dem Unrat der World Underneath.

Wären nicht sämtliche Blicke ohnehin auf den Käfig in der Mitte des berstend vollen Raumes gerichtet gewesen, hätte es Paige nicht gewundert, wenn alle Anwesenden ohne Grund übereinander her gefallen wären. Aber bei der Show, die sie zu sehen bekamen, war mehr Blut wohl nicht nötig.
 

Im Grunde handelte er im Käfig immer nach demselben Muster.

Die ersten beiden Gegner ließ er sich vollkommen verausgaben, um einen gewissen Showeffekt zu erzielen, ehe er sie mit gezielten Schlägen dazu zwang, aufzugeben. Ob nun freiwillig oder nicht, lag hierbei nicht immer an seinen Gegnern. Wer ohnmächtig oder tot war, konnte immerhin nur schwer etwas sagen. Meistens jedoch waren sie klug genug, frühzeitig ihre Niederlage zu erkennen, ehe sie wirklich ernsthaft Schaden nahmen. Denn dass Ryon kein Mitleid kannte, war gerade der Kick an diesen illegalen Kämpfen zwischen übernatürlichen Wesen. Wenn es darum ging, eine Sache zu Ende zu bringen, hatte er noch nie gekniffen und würde es auch nie tun.

Der dritte Gegner zog jedes Mal ohne Ausnahme den schwarzen Peter. Bisher hatte das keiner überlebt. Ob Wandler, Dämon, Vampir oder sonst irgendwelche Kreaturen aus dem tiefsten Schlund der Hölle, sie alle mussten als Ryons dritte Gegner unweigerlich ins Gras beißen. Das war inzwischen ein Naturgesetz und auch in dieser Nacht, war es nicht anders.

Ryons Gegner war ein kräftiger, äußerst flinker Dämon, der genauso gefährlich aussah, wie er war. Die langen, scharfen Krallen waren gemein und schnell und verpassten ihm den ein oder anderen blutigen Kratzer. Nicht tief, um endgültig Spuren zu hinterlassen, aber sie machten deutlich, was passieren könnte, wenn Ryon einmal nicht schnell genug ausweichen oder abblocken konnte.

Die beiden Kontrahenten hetzten sich quer durch den Käfig, als würde der Geruch von Blut sie nur noch mehr anstacheln. Doch obwohl der Dämon ihm alle möglichen Schimpftiraden und Provokationen an den Kopf warf, schwieg Ryon die ganze Zeit, reagierte kein einziges Mal auf das Gesagte, sondern nur auf die Dinge, die getan wurden.

Selbst als sein Gegner ihn dazu aufforderte, endlich mit den Spielchen aufzuhören und seine wahre Natur zu zeigen, blieb er völlig unbeeindruckt.

Warum die wahre Natur zeigen, wenn die verborgene ebenso ausreichte, um mit dieser Kreatur fertig zu werden?

Natürlich ließ er den offenbar geübten Kämpfer bis zum Schluss im Glauben, er wäre der Überlegene von ihnen beiden, bis dieser sich mit entsetzt geweiteten Augen seinen Irrtum eingestehen musste.

Ryon riss ihm mit einem einzigen gezielten Schlag seiner flüchtig ausgefahrenen Krallen den Leib vom Bauchnabel angefangen bis hin zum oberen Teil des Brustbeins auf.

Er musste sich nicht einmal zu seinem am Boden liegenden Gegner umdrehen, um zu wissen, dass dieser gerade seine letzten gurgelnden Geräusche von sich gab und Mühe haben dürfte, seine Eingeweide bei sich zu behalten.

Eine Dusche … das war jetzt alles, was er noch wollte, nun da er sich vollkommen verausgabt hatte.

Herrlich erschöpft und zugleich mit einem Gefühl im Bauch als müsse er sich gleich übergeben, verließ er den schon allzu vertrauten Käfig, um seine Sachen zu holen, ohne auch nur einmal auf den tosenden Beifall zu reagieren. Weder hörte er auf die tobende Menge, noch auf Tony, der ihm zu dem hervorragenden Kampf gratulieren wollte.

Er hatte einen Mann getötet. Einfach so. Dazu brauchte man ihm nun wirklich nicht zu gratulieren.
 

Soweit sie es mitbekommen hatte, waren die ersten beiden Kontrahenten noch lebend aus dem Spektakel heraus gekommen. Aber mit dem Dämon, der nun mit offenem Bauchraum auf dem schmutzigen Boden lag und die letzten abgehakten Atemzüge von sich gab, ging es nur allzu ersichtlich zu Ende.

Der Riese war schnell gewesen. Viel schneller, als man ihm zugetraut hätte. Aber nicht weniger grausam, als Paige sich hatte vorstellen können.

Er hatte seine versteckte Natur nicht an die Oberfläche gelassen, aber doch konnte keinem entgangen sein, was in ihm schlummerte.

Ihre Auftraggeber hatten sie auf ein Monster angesetzt.
 

***
 

Nackt, sauber, unglaublich müde und mit einem absoluten Gefühl der Leere tief in sich drin, fiel er in sein Bett und schlief ein, ohne auch nur noch einmal an die vergangenen Stunden zu denken.

Zu töten belastete ihn schon lange nicht mehr. Er fühlte einfach gar nichts dabei. Außer, dass er mit jedem weiteren Tod, ein Stückchen mehr von sich selbst umbrachte. Was er ganz und gar begrüßen konnte. Es ging ohnehin viel zu langsam.
 

Vorsichtig und verstohlen, war sie ihm bis zu seinem Haus gefolgt. Eines der Gebäude, das hier unten noch am Ehesten an die Gebäude der Oberwelt erinnerte. Ein Wolkenkratzer unter Tage, so zu sagen. In welcher Wohnung er lebte, hatte Paige an dem schwachen Licht erkennen können, das im vierten Stock angegangen war.

Sie würde Morgen wieder kommen.

„Mal sehen, wie ein Ungeheuer seinen Sonntag verbringt.“
 

***
 

Als sie zu Hause im Bett lag, Ais gleichmäßiges Atmen neben sich im Raum hören konnte, dachte sie über den Mann nach, den sie den ganzen Tag beobachtet hatte.

So schnell konnte sich der Eindruck ändern. Und so viele unterschiedliche Masken hatte sie innerhalb kürzester Zeit noch nie wechseln sehen. Der geschniegelte Geschäftsmann, der friedliche Kinderfreund, der Sportfreak und schließlich das Monster, das seine Kräfte wie bei einem Zirkuskampf vorführte.

Paige konnte nicht sagen, welches dieser Abziehbildchen tatsächlich auf den Mann passte. Sie kannte noch nicht mal seinen Namen. Und doch kaufte sie ihm keine seiner Masken hundertprozentig ab. Irgendetwas passte absolut nicht zusammen. Als ergäben die Puzzleteile, die er ihr gezeigt hatte, kein Bild.

Mit einem Grummeln warf sie sich im Bett herum und zog sich die Decke bis zu den Ohren hoch. Es war auch völlig egal, was er war. Sie wollte nur den Schmuck.

Wenn alles gut lief, war Morgen schon alles vorbei. Und sie musste ihn nie wieder sehen.

Dadurch ein wenig beruhigt, schaffte sie es endlich die Augen zu schließen und zusammen gerollte einzuschlafen.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  Elane_Shio
2011-11-01T22:50:27+00:00 01.11.2011 23:50
Zuallererst:
Super schreibstiel und ne spannende Story - wenigstens bis jetzt.
Ich habe mir schon vor Tagen vorgenommen das hier mal zu lesen, war aber jedesmal eingeschüchtert als ich die Menge an Seiten gesehen habe xDD
Aber nun bin ich froh, dass ich mich schonmal durch den Prolog gelesen habe und werde sofort weiterlesen :D [ Erstes Kapitel Win ]

Ich hoffe wirklich das die Quelle, wo diese Geschichte entstanden ist, noch nicht versiegt ist und noch viele weitere Storys folgen werden :D


Zurück