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Lumiél

Königreich der Monde
von

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Es ist noch nicht zu spät

„Ach komm schon~!“, quengelte Alistair, „Er würde es überhaupt nicht mitbekommen. Naja, nicht im ersten Moment jedenfalls. Und sobald er wieder aufwacht, ist alles vorbei. Keine Zeit mehr übrig, er muss zurück, keine Tischgespräche, alles gut!“

Ishara dagegen war von der Idee nach wie vor nicht allzu angetan, während beide den Weg in ihre Gemächer suchten und die steinernen Korridore der Kreuzwegfeste hinab spazierten. „Du erwartest nicht wirklich irgendeine Form von Zustimmung von mir, hoffe ich, oder?“ Im Handumdrehen schüttelte sie den Kopf über sich selbst. Nein, erwartete er nicht. Aber sie wusste genau, dass er trotzdem darauf hoffte. Und sei es nur, weil sie sich verplapperte oder zur Schonung ihrer eigenen Nerven einfach nachgab.

„Ninafer ist sehr präzise mit ihren Giften! Sie hat sogar von Reva ein paar Tricks dazulernen können“, wandte Alistair hartnäckig weiterredend ein.

„Er ist mein Vater!“, echauffierte sich Ishara schließlich ein wenig und warf ihrem Liebsten einen galligen Blick zu, „Wir werden ihn ganz sicher nicht vergiften. Schon gar nicht am Frühstückstisch!“

„Aber… aber er will mit uns reden~! Da kommt nie was Gutes raus! Kann es gar nicht! Hast du je davon gehört, dass ein Gespräch mit „Wir müssen reden!“ begonnen wurde und irgendwas Gutes herauskam? Nein! Und weißt du, warum? Weil das unmöglich ist! Das ist schlicht Naturgesetz oder so!“

„Ich denke, mit denen kenne ich mich weit besser aus als du“, belehrte Ishara seufzend, aber auch grinsend. Thorin war für sie alles andere als einschüchternd. Oh er konnte es, zweifellos. Er konnte es noch immer, selbst nach all der Zeit. Wenn dieser Mann die Stimme hob, dann spürte man einfach instinktiv, dass man drauf und dran war, sich den Zorn einer Naturgewalt zuzulegen. Nichts, das man leichtfertig riskieren sollte. Aber ja… er war ihr Vater.

Ein warmes Lächeln umspielte ihre Lippen, wo zuvor das amüsiert-enervierte Grinsen seinen Platz gehabt hatte. Er war ihr Vater

Eine Weile liefen sie schweigend einher. Alistair folgte schlicht. Kein unangenehmes Schweigen – er spürte, dass sie in Gedanken war. Angenehmen Gedanken, ausnahmsweise einmal. Momente wie diesen würde er nicht zerstören, nicht absichtlich allemal. Erst als er die Stille der Feste bei Nacht nicht mehr recht aushielt, unterbrochen nur von leichten Winden, die die Vorhänge offener Fenster gespenstisch tanzen ließen, während Mond- und Sternenlicht Geisterfiguren unter sie zauberten, setzte er leise wieder an. „Bitterrosenöl in seinem Tee?“

Sie musste auflachen. Ganz unweigerlich auflachen. Sie hätte nicht einmal genau sagen können, worüber sie lachte. Vielleicht Alistairs Hartnäckigkeit. Vielleicht, weil sie glaubte, das unter all dem Witz, den er aufbot, dem Schabernack, den er vorschlug und seinen Mühen, ihren anstrengenden Tag etwas aufzulockern, tatsächlich noch immer ein wenig Sorge steckte. Oder regelrechte, echte Furcht. Vor Thorin. Eine ganz grundsätzlich gesunde Lebenshaltung, wie sie befand. Aber vielleicht lachte sie auch über die Vorstellung, wie ihr Vater am Tisch saß, gepflegt an seinem hübsch bemalten Teetässchen nippte. Oder darüber, wie er im Anschluss – wenn das Öl zu wirken begann – sich nichts anzumerken lassen versuchte, während er sich bemühte, sich zu konzentrieren und ein ernstes, wichtiges Gespräch über, nun, irgendwas zu führen – während seine Innereien in Aufruhr waren und ihn eigentlich nur dazu treiben wollten, sich zu erleichtern.

„Du bist unmöglich“, flüsterte sie leise, nachdem sie sich etwas beruhigt hatte. Ohnehin waren sie inzwischen angekommen und Ishara bemühte sich, die Tür im Dunkel aufzuschließen. Mit einem zutiefst ehrlichen „Danke“ seinerseits und einem Antwortlächeln auf ihren Lippen traten sie schließlich gemeinsam ein, schlossen die Tür und… es fühlte sich gut an, abzuschließen.

Der Tag war vorbei. Jetzt mit einer gewissen Endgültigkeit. Natürlich war selbst die rein empfunden – das Drehen des Schlüssels im Schloss bedeutete letztlich überhaupt nichts. Wenn ein Notfall eintrat, konnte jemand klopfen. Oder, wie sie in Erinnerung an eine amüsante Begebenheit mit einem gewissen Herrn Papa zufügte, jemand könnte die Tür auch einfach einrennen. Zugegeben, er hatte geglaubt, es sei ein Notfall, es sei dringend, er habe keine Zeit und möglicherweise wäre ihr Leben bedroht…

… dann wiederum glaubte er das offensichtlich sehr häufig und generell wirklich schnell.

Keiner von beiden dachte daran, Licht anzuzünden. Der Tag war vorbei. Schlafenszeit. Und obgleich sie Alistair gern sah, gern ansah und auch nur zu gut wusste, dass auch er sich aus irgendeinem ihr unerfindlichen Grund an ihr ebenso wenig sattsehen konnte, bestand sie nicht darauf. Das tat keiner von ihnen je.

Aus ihren Sachen geschlüpft und das Nachthemd übergeworfen, kletterte sie in das viel zu große Bett und vergrub sich unter zwei, drei Decken. Alistair folgte kurz darauf. Sie spürte seine von der Nachtluft kühle Brust an ihrem Rücken. Seinen Atem im Haar ihres Hinterkopfes. Allein das Gewicht seines Körpers auf der Matratze neben sich, noch immer nicht vollständig vertraut und gewohnt, aber doch beruhigend. Es verschaffte ihr eine Form von Frieden, die sie noch immer nicht begreifen konnte.

Er schob einen Arm unter ihr Kopfkissen, legte den anderen um ihre Taille und zog sie noch ein Stück dichter an sich. Ganz unweigerlich seufzte sie. So ließ es sich leben, spukte ihr ein verwaister Gedanke durch den Kopf, während ihre Lider schwerer wurden, ihre Gedanken zäher. Vor allem aber, ließ es sich so wirklich gut schlafen.

Theoretisch.

Erst als seine Hand sich langsam löste, merkte sie auf. Sein Atem war nur unmerklich ruhiger geworden. Seine Fingerspitzen rutschten behutsam, tänzelten regelrecht, gaben ihr Zeit, jede Menge Zeit. Um zu widersprechen, sich zu weigern, seine Hand wieder an ihre Position zu ziehen. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen in der nächtlichen Dunkelheit ihres Zimmers, als er seine Finger zögerlich über ihren Bauch herab führte. So dicht, wie er an ihr lag? Oh sie konnte nur zu gut spüren, was er im Schilde führte. Nicht, das es nicht ohnehin subtil genug gewesen wäre.

Langsam hob sie ihren oberen Schenkel, gewährte ihm mehr Bewegungsfreiheit, mehr… Spielraum. Und wurde sich unweigerlich im gleichen Moment darüber klar, dass der Tag noch nicht gänzlich vorbei war, sondern noch ein wenig mehr Kraft und Energie von ihr verlangen würde. Dann wiederum gab es sehr viel schlimmere Wege, selbige auszugeben als hier mit ihm. Unter einem ersten, wohligen Seufzen wandte sie sich vom Rascheln der Decken und Kissen begleitet zu ihm um. Die Küsse wurden rasch leidenschaftlicher, sein Atem stoßartiger, als sie nach ein wenig Selbstüberwindung ohne jegliche Scheu – scheinbar, zumindest – zugriff und den Gefallen erwiderte, den er ihr zukommen ließ.

Es war der Auftakt. Inzwischen zumindest. Sie erinnerte sich noch nur zu gut an die Zeiten, in denen Nervosität, Aufregung und ein Überschuss an gleichen Teilen Schüchternheit wie Neugier ihnen so manchen Abend sehr viel kürzer als erwartet gestaltet hatte. Mit der Zeit hatte sich das… reguliert. War keineswegs verschwunden, gewiss nicht – sonst würde ihr nicht jetzt noch das Herz bis zum Halse schlagen, wäre sie nicht jetzt noch fürchterlich nervös und voller Zweifel, ob sie das, was sie da tat, eigentlich gut tat. Aber sie hatte sich belesen. Soweit man das eben konnte. Und sich gut und sehr, nun, ausführlich beraten lassen. Vielleicht vertraute sie noch immer nicht  ganz darauf, zu wissen, was sie hier tat.

Aber sie war inzwischen soweit, darauf vertrauen zu können, das Alistair sich vermutlich beschweren würde, wenn ihm etwas nicht gefiel.

 

Tiefste Nacht. Zwei schlafende Gestalten in einem viel zu großen Bett. Zugezogene Vorhänge in den Gemächern der Herzogin Acedia. Ein großer Hund schlief am Fußende. Des Wächters ungeachtet, trat eine Gestalt behutsam näher heran. Jede knarrende Diele war gefährlich, konnte Verrat und Tod bedeuten. Doch er erreichte die trügerische Sicherheit des Teppichs, der noch trägen, bettwarmen Füßen am Morgen einen Moment länger die grausame, kalte Realität des Erwachsens ersparen sollte. Etwas weniger angespannt nun, aber noch immer vorsichtig, schlich die Gestalt weiter vorwärts, näher an das schlafende Paar heran.

Er zog die Schriftrolle, entfaltete sie sehr langsam. Er hatte Zeit. Stunden. Und es war schlicht wichtiger, lautlos zu sein, als schnell zu sein.

Ein einziger Blick auf die Rolle offenbarte seinen Irrtum. Er beherrschte sich, würgte das leise Fluchen herab und legte die Rolle sehr behutsam auf dem Bett ab. Achtete genau, sie lautlos so zu knicken, dass sie sich nicht geräuschvoll eigenständig wieder zusammenrollen würde. Als das erledigt, die Rolle gesichert war, zog er eine kleine Phiole hervor. Den Korken herausziehen war eine Kunst für sich, er sah die Hand vor Augen kaum.

Einmal den Trank befreit, verschwand der Inhalt rasch in seiner Kehle, während der Korken seinen Platz zurück fand und der dünnwandige Glasbehälter wieder verstaut wurde. Es dauerte einen Moment, ehe die Wirkung einsetzte. Eine Wärme, sich rasch steigernd, die seine Augen betraf, in seine Schläfen abstrahlte. Sie wurde unangenehm, wurde heiß, wurde brennend, sengend. Er presste die Hände darauf, entschied sich einen Moment später eines Besseren und presste sie sich auf den Mund, während er mit aller Kraft die Lider zukniff und versuchte, irgendwie die Schmerzen zu überwinden, ohne einen Mucks von sich zu geben.

Er sah den Hund kurz zucken und glaubte, sein Herz bliebe stehen.

Dann realisierte er: Er sah den Hund zucken.

Der Schmerz ließ nach. Er konnte sehen. Gut und zuverlässig und… seltsam farbarm. Aber Farbe war nicht nötig. Vorsichtig löste er eine zweite Schriftrolle, entwickelte auch diese und legte sie behutsam, ein Glas als Gewicht darauf verschiebend, auf dem Nachttisch ab. Dann erst nahm er die erste Schriftrolle vom Bett wieder zur Hand. Die Formel stand nun perfekt lesbar darauf. Im Geiste rezitierte er sie wieder und wieder, bemüht, sie sich einzuprägen, eine… Verbindung herzustellen, wie der Wandermagier so schön gesagt hatte.

Es dauerte seine liebe lange Weile, bis er endlich irgendeine Verbindung hatte. Aber wenigstens funktionierte es tatsächlich.

Kurz war er besorgt. Wirklich aufrichtig besorgt. Gut, eher schon… panisch, vielleicht auch ein wenig hysterisch, als die Schriftzeichen auf der Rolle langsam nach und nach aufzuleuchten begannen.

Sie leuchteten. In einem stockdusteren Raum!

Wenn er diesen verdammten Magier je wieder in die Finger bekäme…! Sowas gehörte gefälligst beim Verkaufsgespräch erwähnt. Einfach nur unprofessionell…!

Das Leuchten ließ nach, die Zeichen verblassten und eine leere Rolle Pergament blieb zurück. Dafür hatte er nun arkane Energien, die als schwarzer Wirbel sichtbar um seine Hand zirkulierten. Siegessicher und sehr zufrieden nickte er sich selbst bekräftigend zu. Das war gute Arbeit. Das war ein Plan, gut ausgeführt!

… dann wurde ihm klar, dass er Herzogin Acedia damit würde berühren müssen.

Seufzend blickte er auf das Bett. Warum musste es so verdammt groß sein?! Vielleicht ja gerade deswegen. Damit Attentäter und dergleichen erst einmal mit den weichen Matratzen der feinen Damen und Herren kämpfen, in ihren watteartigen Decken einsinken und gegen Heerscharen an Kissen bestehen mussten. Ein lächerlicher Gedanke, doch die Realität zeigte deutlich auf, wie effektiv dieser Wall war. Zu viel Herumrutschen und die Herzogin und ihr Verlobter würden wach werden. Oder der Hund. Und den ganzen Plan ruinieren.

Also belastete er zunächst vorsichtig das Bett. Ganz, ganz vorsichtig. Erst mit einem Knie. Sank tief ein. Dann mit dem anderen. Sank noch tiefer. Er beugte sich vor, stützte sich mit der freien Hand auf und reckte und streckte sich, so weit er nur konnte – nicht weit genug, um an sie heranzukommen.

Er verbiss sich ein enerviertes Seufzen. Stattdessen robbte er im Verlauf einer halben Stunde Millimeter um Millimeter vor, stockte zwei Mal für mehrere Minuten, als sich der Hund wieder regte, drehte, im Traum irgendetwas sehr unterschwellig und leise anknurrte. Und dann, endlich, erreichte er die Herzogin. Er musste sich weit, weit vorbeugen und seine Balance war mehr als wackelig, aber er konnte-

Sie drehte sich.

Wie schon bei ihrem verdammten Köter zuvor blieb er zunächst schreckstarr, wie und wo er war – nur mit dem zusätzlichen Hindernis, gehörig um seine Balance rudern zu müssen, während ihr Gewicht auf der Matratze sich verschob und damit auch zusätzlich an seiner Balance riss.

Kalter Schweiß rann ihm von der Stirn über Schläfe, Brauen, Nasenspitze. Er spürte jeden Luftzug in seinem feuchten Nacken. Er spürte das Zittern in seinen Händen. Wie ihm das Herz rasend aus der Brust zu springen versuchte. Er atmete flach, in raschen Stößen, noch immer um Lautlosigkeit bemüht. Wieder verstrichen Minuten. Er versuchte sich zu beruhigen, versuchte durchzuatmen, versuchte Fassung zu bewahren, Balance zu finden. Aber diesmal vergeblich. Sie hatte sich umgedreht. Sie lag mit dem Gesicht ihm zugewandt. Wenn sie nun auch nur eine Sekunde verschlafen die Lider nur den kleinsten Spalt öffnen würde, könnte sie ihn sehen. Ihn direkt ansehen. Sein Gesicht sehen.

Die bloße Vorstellung schuf Panik. Genug für zwei, eigentlich.

Einen Moment noch gab er seinem zum Scheitern verdammten Vorhaben, dann überwandte er sich und senkte die verzauberte Hand langsam und vorsichtig nach vorne, in Richtung ihres Gesichts – denn der gesamte Rest ihres Körpers war unter dieser verflixt dicken Hermelindecke begraben.

 

Als Alistair am Morgen erwachte, war er sofort alarmiert. Das mochte einerseits daran liegen, das Ishara nicht mehr im Bett war. Und sie eigentlich immer zusammen aufstanden, wenn sie es konnten. Die Morgenstunden waren angenehm friedlich und selbst, wenn sie nicht mit dem jugendlichen Hunger frisch Verliebter übereinander herfielen, so genossen sie es doch beide, eine Weile schweigend oder mit seichtem Gespräch aneinandergeschmiegt zu liegen, in der Gegenwart des anderen zu rasten, darin zu schwelgen.

Was ihn alarmierte, war das wuchtige, kräftige Klopfen an der Zimmertür. War der Umstand, dass er im Bad kein Wasser laufen hörte. Das Cyron aber hier lag, sichtlich verwirrt, ebenfalls gerade aus dem Schlaf hochschreckend. Und die Stimme hinter jener Zimmertür, die ungeduldig ein „Ich weiß genau, das ihr da drin seid – ihr könnt euch nicht drücken, macht auf!“ verlauten ließ und sehr eindeutig zu einem schon früh am Morgen sehr ungehaltenen Glatzkopf gehörte.

Den Befehl vorläufig ignorierend und von Cyrons Unruhe angesteckt, sah er sich im Raum um und fand schließlich die Notiz auf dem Nachttisch.

 

An den Verlobten der Herzogin Acedia.

 

Ich entschuldige mich zunächst für die Anrede. Trotz gründlicher Recherche war es mir nicht möglich, euren Namen in Erfahrung zu bringen.

Dies ist der 23. Entwurf, bitte seht mir nach, dass ich nicht noch mehr Pergament verschwenden will. Auch meine Nacht war lang.

Wir Ich habe eure Verlobte! Entführt. Ich habe eure Verlobte entführt.

Wenn ihr sie lebend wiedersehen wollt, werdet ihr unsere meine Forderungen erfüllen! Die Erste lautet: Ihr werdet niemanden hierüber informieren! Weitere Forderungen werden kommen, sobald ihr euer Einverständnis erklärt. Zündet dazu eine rote Kerze im Tempel an.

 

Gezeichnet: Der Entführer

 

Es lag eine gewisse… Faszination darin, mit der Alistair die Notiz las. Wieder und wieder. Dabei blendete er unweigerlich alles aus, was um ihn herum geschah. Weshalb er weder Cyrons Fiepen und Winseln mitbekam, als der den Raum nach Ishara absuchte und dann die Tür ankläffte, um Thorin Notstand zu signalisieren, noch, wie selbiger nach ihm rief und ihm… diverse unschöne Dinge androhte.

Bis der Aufschlag kam. Beim ersten Mal hörte man das Holz knirschen und knacken, vermutlich verzog sich gerade der Rahmen und Alistair schrak furchtbar zusammen. Er konnte gerade noch dem felligen Verräter einen strafenden Blick zuwerfen, als der Hüne beim zweiten Anlauf durch die Tür brach.

Nicht schon wieder eine Tür…

Der Krieger wirkte… nun, ungehalten wurde dem nicht ganz gerecht und er trat eiligen Schrittes auf ihn zu, weshalb Alistair unweigerlich das Einzige tat, was ihn jetzt noch retten konnte. Zugegeben, eine eher reflexartige, instinktive Handlung – er riss die Arme und Hände hoch und… präsentierte damit unweigerlich die Notiz.

Thorin entriss ihm diese ohne Zögern und las den Text selbst. Ebenfalls mehrmals, wie Alistair vermutete, als er dann und wann etwas zögerlich zu dem Hünen hinauf schielte. Nur, das ihre Reaktionen sehr, sehr unterschiedlich waren. Alistair machte sich Sorgen um Ishara, so war es nicht. Aber er kannte sie. Kannte sie gut. Es war eindrucksvoll, sicherlich, dass sich jemand hier hatte hereinschleichen und sie entführen können. Und ein wenig beleidigend – auch wenn er das nicht zugeben würde. Stattdessen setzte er sich in den Kopf, bei passender Gelegenheit einfach nochmal mit Ishara darüber zu reden, wie sich die Kreuzwegfeste, die Flure, Zimmertüren und ihr Zimmer insbesondere sicherer gestalten ließen.

Er machte sich aber keine allzu großen Sorgen darum, das Ishara tatsächlich getötet werden könnte. Oder, dass man ihr etwas Ernstes antat. Die Notiz des Entführers war unprofessionell. Er verriet manche Sachen – scheinbar wohl, ohne es zu wissen. Natürlich mochte ein brillanter Verstand dahinter stehen, der sie mit falschen Hinweisen und gezielt gestreuten Fährten in die Irre führen wollte, doch… das hielt der Dieb nicht für allzu wahrscheinlich.

Was allem voran hieß, dass just in diesem Moment Ishara, seine Verlobte, seine Herzallerliebste, das tat, was sie am besten konnte: Ihren Gegnern eine Plage sein. Ihnen den letzten Nerv rauben. Sie an jeder Ecke ausmanövrieren. Und generell ihr Dasein als unverwüstliches Unkraut pflegen.

Für Alistair war es keine Frage, ob sie Ishara wiedersehen würden oder ob sie dann noch leben würde. Es war eher eine Frage des Wann, des Wieviele blaue Flecken mochte sie wohl haben? und des Wie sehr mochte ihr Entführer sich wohl entschuldigen und darum betteln, dass man sie wieder mitnahm?

Dem gegenüber stand Thorin. Die Notiz wäre zweifellos in Flammen aufgegangen, hätte er auch nur über ein Nadelöhr an Magiezugang verfügt. Selbst hätte man ihm Wassermagie gegeben, die Notiz wäre dennoch in Flammen aufgegangen. Er vermochte sowas. Das Unmögliche umzusetzen.

Alistair bezweifelte, dass der vernünftige Thorin glaubte, das Isharas Leben tatsächlich bedroht war. Nicht nach dieser Notiz. Obwohl der vernünftige Thorin wohl ebenso die Möglichkeit eines hintergründigen Strippenziehers nicht ausschloss. Zu dumm nur, dass jemand ausgerechnet Ishara bedrohte. Mehr noch, sogar bereits entführt hatte. Dadurch war der vernünftige Thorin gerade diese unglaublich kleine Figur, weggesperrt in einem sehr soliden Käfig, während der Vater Thorin wütete und raste und vermutlich Schaum vorm Mund hatte.

Als der Stein zermürbende Blick des Kriegers den Dieb traf, glaubte der kurz, seine Knochen hätten spontan entschieden, Stein zu sein. „Gibt es im Tempel rote Kerzen?“

Alistair nickte vorsichtig. Nur keine hastigen Bewegungen, keine weitere, unnötige Provokation. „Schon, ja. Sie werden zu Festtagen rausgeholt, aber die Kiste ist voll davon und steht jedem offen zugänglich herum.“

Thorin nickte sichtlich bis zum Bersten gespannt. „Zieh dich an. Du gehst beten.“

 

So kam es, dass sie kurz darauf im Tempel standen und Alistair zu eben jener Kiste ging, sich eine der roten Altarkerzen nahm und sie sorgfältig aufstellte und anzündete. Thorin derweil stand am Tor – und verriegelte es gerade. Gerüstet und die Axt gezogen, wollte der Priester natürlich sofort wissen, was das zu bedeuten hatte. Immerhin war dies ein Ort spirituellen Rückzugs und Friedens, ein Ort von Einklang mit den Göttern und der Hoffnung.

Der Hüne widmete ihm nicht mehr als ein abfälliges Schnauben, während er mit barschem Befehlston alle Anwesenden zusammentrieb wie Schafe. Der Priester, zwei Messdiener, drei Gäste. Unter letzteren befand sich Floran, dem Alistair kurz etwas peinlich berührt zuwinkte – denn selbst der schien nach Thorins Ermessen nicht über jeglichen Verdacht erhaben.

Der Krieger ging dann nach Lehrbuch seine Einschüchterungs- und Verhörtaktiken durch. Floran widerstand dem, wie zu erwarten war, ziemlich gut. Der Rebell war zwar sehr schüchtern und auch grundsätzlich zart besaitet, aber er kannte Thorin inzwischen gut genug und Alistair hatte, in Thorins Rücken stehend, die Zeit genug, dem Rebell ein paar grobe Ideen zu verpassen, warum das alles hier eigentlich überhaupt gerade stattfand.

Der Priester und seine Messdiener waren rasch aus dem Schneider. Sie wussten nichts und gaben sich eher empört über die Unterstellung, dem könne anders sein. Damit wanderte die Aufmerksamkeit unweigerlich zu den beiden verbliebenen Gästen. Einer angeblich nur ein Händler aus Samara, der Teppiche verkaufte. Auf dem Weg nach Sundergrad und ein kurzer Zwischenstopp in der Kreuzwegfeste, um vielleicht nochmal eine bequeme Nacht zu haben und ein paar Münzen zu gewinnen. Der andere ein Schuster aus Sundergrad, dem die Stadt nach Jahren der Arbeit doch zu heiß geworden war und der sein Geschäft wieder nach Samara verlagern wollte. Er reiste ohne viel Gepäck und war noch nicht dazu gekommen, sich auch nur im Gasthaus einzuquartieren.

Aus irgendeinem Grund versteifte sich Thorin bemerkenswert schnell auf den Schuster. Und das noch während Floran von ihm beauftragt unterwegs war, um nach dem beschriebenen Pferdegespann voller Teppiche zu schauen.

Das Gespann gab es. Die Teppiche auch. Und die Geschichte hätte einfach nur sorgfältig aufgezogen sein können. Doch tatsächlich knickte der angebliche Schuster unter Thorins bohrendem Blick ein, wie er dort stand, Minute um Minute ihn niederstarrend, noch bevor Floran zurückkehrte.

Was Thorin daraufhin aus ihm herausquetschte – sehr zu Alistairs Überraschung sogar tatsächlich, ohne Hand an den Mann zu legen -, war nicht viel. Ein Zahnrad im Getriebe, das die Uhr nicht kannte. Er war angeheuert worden, um den Tempel zu beobachten. Tag und Nacht, falls nötig. Bis jemand – nicht einmal Alistair, die Stümper, einfach nur jemand – eine rote Kerze anzünden würde. Dann sollte er einen Botenvogel losschicken. Der wiederum fand sich tatsächlich in seiner sehr spärlichen Habe im Gasthaus, in einem bereits vor mehreren Tagen angemieteten Zimmer.

Während Thorin herumzog und ein paar Vorbereitungen traf, kam Alistair nicht umhin, sich – und schließlich ihn – ein paar Dinge zu fragen. „Warum der Schneider?“, allem voran.

„Seine Hände“, erwiderte der Krieger zunächst nur knapp wie eh und je. Beide pflegten nicht unbedingt das innigste Verhältnis, weshalb es wenig überraschend war, dass Thorin sich nicht allzu begeistert über Alistairs Einmischung zeigte. Nichtsdestotrotz hatte der auf seine Beteiligung bestanden. Immerhin hatte der Entführer nur mit ihm Kontakt gewünscht und Thorin war eher zufällig hineingepoltert. Wortwörtlich. Außerdem war Ishara schließlich seine Verlobte. Das daraufhin von Thorin natürlich ein „Und meine Tochter!“ zurückkam, war zwar zu erwarten gewesen – entkräftete jedoch keineswegs sein Argument, wie Alistair befand und ihn wissen ließ. Außerdem war nicht immer jedes Rätsel mit Einschüchterung und roher Gewalt zu lösen. Ein Vermerk, der ihn rasch den Kopf zwischen die Schultern ziehen ließ, als ihn daraufhin der reichlich ungnädige Blick des Kriegers traf.

Eine stille Herausforderung. Oder  vielleicht ein ‚Das wollen wir doch mal sehen‘.

„Was war mit seinen Händen?“, hakte der Dieb verwirrt nach. Sie waren normal gewesen. Keine Verletzungen, keine Missbildungen, nichts. Alistair hatte als Dieb ein gutes Auge für Details, aber ihm war nichts diesbezüglich aufgefallen.

„Du hast noch nie etwas genäht, oder? Man sticht sich. Und wenn man das über Jahre hinweg macht, sticht man sich sehr oft. Zumal er meinte, die Hitze hätte ihm zugesetzt und er würde nach Samara zurückkehren. Zu wenig Bräune. Das ließe sich vielleicht durch umsichtige Arbeit erklären, Sonnenschutz, Schatten, dergleichen. Aber Hitze für jemanden, der sie nicht gewohnt ist? Das lenkt ab, schlaucht. Man sticht sich noch öfter. Seine Hände hätten sehr viel mehr Hornhaut haben müssen. Sie waren aber fein, wie die von jemandem, der kein Handwerk kennt.“

Alistair dachte eine Weile darüber nach. Thorins Argumentation mochte einleuchtend wirken, nur… „Der Teppich-Kerl hatte auch feine Hände…?“

Thorin nickte und erst, als Alistairs erwartungsvoller Blick nicht nachließ, grummelte er und erklärte sich abermals. „Der war aber auch Händler. Er kauft die Dinger an und verkauft sie weiter. Er stellt sie nicht tatsächlich her. Und hast du gesehen, wie langsam er sich erhob, als ich dazu aufforderte? Das war kein Trotz oder weil er es so wollte. Er konnte nicht schneller. Das Alter macht ihm zu schaffen. Das heißt, dass er vermutlich jemanden dafür bezahlt, die Dinger zu schleppen. Teppiche sind schwer.“

Langsam nickte der Dieb. Nun… so ungern er es zugab, auch das leuchtete ein. Er selbst hatte sich immer nur damit beschäftigt, wie er die Dinge, die er wollte, bekam. Was er dazu tun musste. Ablenkungen schaffen, schnell sein, geschickt sein, Fluchtpläne haben. Er hatte sich nie damit befasst, wie schwer ein Teppich war oder wie sich Hände veränderten, wenn man ständig mit Nadeln hinein stach. Doch mehr noch als die breit gefächerte Wissensgrundlage Thorins beeindruckte Alistair tatsächlich dessen Geistesschärfe. Ishara war entführt worden, ihr Leben bedroht – zumindest laut Text.

Und dennoch hatte sich der Hüne genug unter Kontrolle, Floran nicht in Tränen ausbrechen zu lassen, den Priester nicht rauszuwerfen und niemandes Arme, Beine oder Rückgrate zu brechen. Das war sehr  viel mehr, als er ihm zu Beginn dieser Aktion zugetraut hatte.

„Außerdem roch er nach diesem widerlichen Lilienöl, das sie im Gasthaus als Badezusatz reichen und angeblich hatte er da kein Zimmer…“, schob Thorin nach.

Irritiert und – nach einem Moment – auch recht amüsiert blickte Alistair erneut zu seinem Komplizen und nickte grinsend. „Verstehe.“

Von da an wurde es etwas leichter. Die Vorbereitungen waren schnell getroffen. Den Botenvogel einzuspannen, war müßig gewesen. Allem voran, weil Medea ständig Fragen stellte, statt zu tun, was man ihr gesagt hatte: Zu vermitteln. Aber nachdem sie sich einig geworden waren, dass dem Tier nichts geschehen würde, verriet der Vogel das Ziel seiner Reise. Und gab sich damit zufrieden – statt dorthin zurückzukehren -, in Medeas Dienst zu verweilen.

Der Ort ihres vermeintlichen Unterschlupfes erregte dabei nicht nur Thorins ungezügelten Unmut, sondern auch Alistairs umfassende Verwirrung: Die Flachwasserfeste.

Wie lange brauchte ein Botenvogel bis dorthin? Und dann musste ein weiterer Vogel mit neuen Anweisungen zurückflattern. Jeder einzelne Austausch würde Wochen dauern. Wochen. Und sie war Ishara Königsend – wer war so brillant gewesen, zu glauben, dass ihr spontane Abwesenheit sich wochenlang verbergen ließ? Es sprach einmal mehr für die Theorie von Leuten, die einen wirklich schlechten Plan ausgearbeitet und mit mehr Glück als Verstand erfolgreich umzusetzen angefangen hatten.

 

Es war nicht mehr warm. Das war das Erste, was Ishara klar wurde, als sie langsam, sehr langsam, zu sich kam. Nein, es war kalt und zugig. „Alistair… mach das Fenster zu…“, nuschelte sie leise, noch benommen, ehe ihre Sinne schlagartig zu ihr zurückkehrten. Eine Festung, ja, aber nicht ihre Festung! Das hier war nicht ihr Schlafzimmer, sie lag nicht in ihrem Bett und befand sich nicht in Gesellschaft ihres Verlobten. Stattdessen saß sie an einen Stuhl gefesselt in der Mitte eines beeindruckend leeren Raumes, der neben ihrer Sitzgelegenheit nur noch einen schlichten und hierher unpassend wirkenden Tisch samt weiterem Stuhl aufbot. Und natürlich dessen gegenwärtigen Besetzer.

„Morgen“, grüßte der fremde Mann sie.

Zunächst ignorierte sie ihn völlig. Er machte keine Anstalten, aufzustehen. Er machte keine Anstalten, zu zaubern – so er dazu überhaupt fähig war. Er machte, vorläufig, keine Anstalten, überhaupt irgendetwas anderes zu tun als das, was er bereits die ganze Zeit getan zu haben schien. Und das bedeutete, dass er zumindest für den Moment weiter dort sitzen, ihre allgemeine Existenz ignorieren, Äpfel vom Tisch nehmen, schälen und zu kunstfertig geschnittenen Figuren modelliert wieder auf den Tisch stellen würde.

Jeder brauchte ein Hobby, so vermutete sie.

Der Raum war darüber hinaus karg und doch gab es genug, ihr so manches zu verraten. Der Stein war alt, stellenweise brüchig und verwittert. Diese Anlage war also ebenfalls vom Zahn der Zeit zernagt worden. Dazu kam die Seeluft, die durch die fensterlosen Maueröffnungen hereinzog und eine frische, kalte Brise und eine hohe Feuchtigkeit mit sich brachte. Dann das gelegentliche Kreischen von Möwen. Der reichlich umständliche Blick aus dem Fenster verriet darüber hinaus, dass sie sich offenbar recht hoch befanden. Und die Festung zudem auf einer Landsenke auf Wasserniveau stehen musste, während nur einige dutzend Meter entfernt eine Steilküste aufragte.

Alles in allem, war es nicht schwierig, darauf zu kommen, dass sie sich in der Flachwasserfeste befanden.

Und das entlockte ihr, allem voran, ein erleichtertes Aufatmen. Und sie hatte schon gedacht, es sei etwas Ernstes oder Gefährliches…

Noch dazu entlockte es ihr jedoch auch ein Seufzen. Sie… ahnte zumindest, was folgen würde. Und bevor es dazu kam, wollte sie noch ein paar Fragen beantwortet wissen. Sie hätte nie geglaubt, dass irgendwer jemals auf die Idee kommen könnte, sie zu entführen. Thorin hatte sie diesbezüglich eindringlich zu warnen versucht, aber seinerzeit hatte sie es als seine übliche, übervorsichtige Art abgetan, sie beschützen zu wollen. Alistair hingegen hatte Fallen installieren wollen – und sie war ganz entschieden dagegen, ihren Fuß zu verlieren, nur weil sie in einem unbedachten Moment oder verschlafen am Morgen auf die falsche Stelle am Boden trat.

Unter anderen Umständen hätte sie sich vielleicht Sorgen gemacht. Sich gefürchtet. Wäre nervös oder unsicher geworden. Aber inzwischen hatte sie eine vage Vorstellung davon, was es hieß, eine Herzogin zu sein. Was in ihrer Macht stand. Was damit einher kam. Sie war lebendig sehr viel mehr wert als tot. Sehr viel mehr. Und irgendwo dort draußen waren ihr Vater und ihr Verlobter – und eine halbe Rebellion -, die daran arbeiten würden, sie zu befreien.

Als sie zunehmend wacher die frische Seeluft tief in ihre Lungen sog… da fiel es ihr schlicht schwer, sich in Panik zu sehen. Überhaupt Panik zu fühlen. Ein vages Empfinden von Sorge, sicherlich. Das hier war alles schließlich sehr… unangenehm. Aber tatsächliche Angst? Sie war schon mit ganz anderen Situationen fertig geworden.

Und auch schon mit ganz anderen Leuten.

„Wie kam ich hierher?“, fragte sie leise.

„Ham‘ dich hergebracht“, erwiderte  die Wache schulterzuckend.

„Ja, schon – aber wie?“, erkundigte sie sich seufzend. Nicht der Hellste also. Von der Flachwasserfeste bis zur Kreuzwegfeste – wie viele Tagesreisen mochten das wohl sein? Eigentlich war das nur möglich per-

„Teleportation“, antwortete ein fein gekleideter junger Mann, der gerade die quietschende Tür aufschiebend den Raum betrat und offenbar die Wache ablöste. Er setzte sich, wartete, bis die noch immer scheußlich quietschende Tür zugezogen worden war und begann dann… die Apfelfiguren zu essen.

„Dann seid ihr ein Magier?“, erkundigte sie sich vorsichtig. Mit dem Zirkel war nicht zu spaßen, wie Thorin immer wieder betonte…

„Ganz. Sicher. Nicht“, erwiderte ihr Gegenüber unerwartet hart und entschlossen. Dann vielleicht einer dieser Verräter-Magier, von denen Meister Lamerak und Herrin Tanveer erzählt hatten? Oder ein Hexer? Aber Hexer trugen keine edlen Kleider, oder? Dann wiederum, was hatte Mortimer so schön gesagt? Kleider machen Leute.

„Und warum… bin ich hier?“, hakte sie nun doch mit einem Nachhall früherer Nervosität und Unsicherheit in der Stimme nach.

„Ihr habt nichts von uns zu befürchten, dass versichere ich euch“, erklärte er zunächst einem Apfelschwan den Kopf abbeißend, „Solange euer Verlobter sich an die Anweisungen hält, versteht sich. Ihr seid gewissermaßen unser Unterpfand für Verhandlungen.“

Ishara nickte erleichtert. Das war gut zu hören – es hieß, dass ihre Vermutung zutraf. Sie war lebendig sehr viel mehr wert. Es hieß auch, dass sie ein Stück weit kooperieren konnte, um Alistair mehr Zeit zu verschaffen, und ihre Ausbruchsbemühungen am besten auf den Moment seiner unweigerlichen Ankunft verschob. Bis dahin galt es also, so viel wie möglich an Informationen zu erringen. „Ihr… macht einen höflichen, gebildeten Eindruck. Dann… sollten wir das nicht vielleicht richtig machen? Ich bin Ishara. Ishara Königsend. Ist mir eine Freude, euch kennenzulernen, Herr…?“ Einen Versuch war es ja schließlich wert, nicht? Irgendwann mussten die zahllosen, zähen, nervenaufreibenden Lektionen Thorins über Etikette und gutes Benehmen und gebräuchliche Floskeln ja auch mal zum Einsatz kommen. Außerhalb tatsächlicher diplomatischer Treffen und Bälle, verstand sich.

Ihr Wächter dagegen schüttelte lächelnd den Kopf. „Vielleicht, wenn diese ganze leidige Angelegenheit beendet ist und wir euch gehen lassen können. Bis dahin, so fürchte ich, werde ich so unhöflich sein müssen, euch meinen Namen vorzuenthalten.“

Ishara seufzte innerlich. Nun einen Versuch war es dennoch wert gewesen. Das warf nur die Frage auf, wie es weitergehen sollte und… das wiederum war glücklicherweise ein Problem, das sich von selbst löste. Gewissermaßen. „Ich muss aufs Klo.“

Nunmehr seufzte ihr Gefängniswärter. „Ihr werdet es mir nicht leicht machen, oder?“

Nachdenklich zog die Halbelbe die Stirn kraus. „Das ist kein Trick.“

„Ach nein?“, hakte er sichtlich vom Gegenteil überzeugt nach.

„Nein!“, beharrte sie, „Ihr habt mich im Schlaf entführt. Müsst ihr früh nicht aufs Klo? Und überhaupt - was dachtet ihr, wie das abläuft? Die Flachwasserfeste ist viele Tagesreisen entfernt, vielleicht Wochen. Selbst mit Botenreitern oder Vögeln dauert das Hin und Her eine Weile, außer ihr teleportiert ständig herum. Was auch ziemlich anstrengend sein muss. Wollt ihr mir erzählen, dass ich in all der Zeit nicht aufs Klo gedurft hätte? Hätte ich nichts zu essen oder zu trinken bekommen?“ Allein zu sehen, wie seine Augen sich weiteten und er ein wenig blasser wurde, war erschreckend. Ihre eigenen Pläne waren selten Meisterwerke der Strategie und Taktik gewesen, aber das?! Wie konnte man das nicht bedenken?!

Vielleicht färbte Thorin auch einfach inzwischen zu stark auf sie ab, als das sie solche Fehler ebenfalls noch als etwas wahrzunehmen fähig wäre, das man hätte übersehen können.

Immerhin, er besann sich und löste nach einigem Hin und Her ihre Fußfesseln, sodass er sie unter Geleitschutz zum Klo führen konnte. Dort angelangt, wandte sie sich um und wartete… und wartete… und wartete unter seinem allmählich ungeduldiger werdenden Blick eine ganze Weile, ehe sie seufzend die zusammengebundenen Handgelenke hob. „Sofern ihr mir nicht das Nachthemd heben und abwischen wollt-“, brachte sie kleinlaut und mit hochrotem Kopf, den Blick zu Boden gesenkt, hervor. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er ebenso bis in die Ohrenspitzen errötete.

Ninafer wäre sicherlich stolz auf sie gewesen.

Er löste ihre Hände und nach einem weiteren, weniger subtilen Hinweis darauf, dass sie ganz sicher nichts tun würde, solange er immer noch die Tür offen hielt und zusah, ließ er auch die endlich zufallen. Natürlich prüfte sie zunächst sehr genau ihre Möglichkeiten, doch die waren tatsächlich – wie erwartet – sehr begrenzt. Sie spürte in der Festung drei Dutzend Leute, keine Tiere. Bemerkenswerterweise keine Tiere – offenbar wusste man doch das eine oder andere über sie und ihre Fähigkeiten und hatte vorzusorgen versucht.

Wie viel sie wohl wussten?

Der Mauerspalt taugte indes nicht zur Flucht, zumal es an der Außenseite über sehr glitschigen Stein steil in die Tiefe ging. Aber die empfindliche Kälte an ihren Nieren erinnerte sie daran, ihn abermals freundlich darauf hinzuweisen, dass sie für die Dauer ihres Aufenthaltes vielleicht etwas mehr benötigen würde als nur ein dünnes Nachthemd. „Sonst hole ich mir den Tod und ihr habt keinen Unterpfand mehr“, erklärte sie mit Nachdruck. Und siehe da, es tauchten passende Kleider für sie auf. Wobei passend ein relativer Begriff war. Es handelte sich tatsächlich um ein Kleid samt Zubehör – ein klein wenig zu groß für sie und Ishara besaß eindeutig nicht ansatzweise hinreichend Oberweite für das offenbar eingeplante Dekolleté. Das hieß also, dass nicht nur Männer in den Reihen ihrer Entführer verweilten.

… oder ein paar von denen hatten sehr ausgefallenen Geschmack…

 

Einige Tage später.

„Ey – was’n das da?“, hakte einer der Wachen nach und stieß seinen Kumpan an der Schulter. Er deutete zum Himmel empor und dessen Blick folgte. „Ist’s’n Vogel?“, rätselte er und kniff die Augen zusammen.

„Nee. Is‘ so’n Goblinflugding?“, vermutete der.

„Glaub nich‘, is‘ eher…“

Ein dritter Wächter kam dazu, sah nur kurz in die Richtung, die die volle Aufmerksamkeit seiner Kollegen fesselte und bekam große Augen. „Vor allem ist’s groß und kommt schnell näher!“, fluchte er und riss die zwei gerade noch rechtzeitig an den Schultern nach unten, als unter einem gellenden Aufschrei ein Greif über ihre Köpfe hinwegstürzte.

Begleitet von einem hysterischen Gelächter, das den Männern eine Gänsehaut bescherte.

Alistair hatte in seinem Leben selten zuvor so etwas erlebt. Fliegen zu können war… beeindruckend. Ein Gefühl von Freiheit, wie er es nicht gekannt hatte. Er konnte Isharas Begeisterung nun sehr viel besser nachvollziehen. Zudem war das Fell des Greif sehr weich, angenehm warm. „Komm schon“, stachelte er sein Reittier an und klopfte ihm gegen den Hals, „geben wir ihnen Saures! Ich hoffe, du bist wirklich so wendig, wie Medea sagte…!“

„Angriff! Wir werden angegriffen!“ erklang weit unten derweil der Warnruf des dritten Wachmanns auf der Festungsmauer. Rasch strömte eine gewaltige Schar an Leuten aus den verschiedenen Häusern der Feste. Manche schossen mir Armbrüsten auf sie, andere warteten mit ihren Bögen, bis sie weiter unten wären – und von mancher Seite kamen Zauber. Ein Feuerball jagte an ihnen vorbei und explodierte lautstark irgendwo hoch über ihnen, während der Greif im Sturzflug nach unten jagte. Alistair hielt sich so gut er nur konnte im Fell der Kreatur fest, kniff die Augen zusammen, um gegen den Wind überhaupt noch irgendwas sehen zu können.

Dann fegte das Tier mit seiner gewaltigen Flügelspannweite und den zwei ausgestreckten Tatzen über die nördliche Mauer hinweg und beförderte drei Mann von den Zinnen in den Sturzflug – glücklicherweise ins Wasser, wie Alistair mit einem Blick zurück bemerkte. Er war nicht darauf aus, unnötig zu töten.

Blieb nur zu hoffen, dass die schwimmen konnten…

Ein paar weitere Attacken konnte er fliegen, unter allem Beschuss wegsegelnd und fortduckend, ehe er die nächste Angriffsphase einleitete und den Greif inmitten der inzwischen hübsch über den Verlauf der Attacken zu einem geballten Haufen zusammengetriebenen Schützen landen ließ. Alistair rollte gekonnt ab, während die Schützen auf den Wällen zu feuern zögerten, da immerhin auch viele ihrer eigenen Leute mitten im Gedränge waren. Mit einigen beherzten Schlägen um sich konnte der Greif nicht nur viel Staub aufwirbeln – wortwörtlich – und einige Verwirrung stiften, er verletzte auch zahlreiche Schützen in unterschiedlichsten Graden. Hier eine gebissene Schulter, dort ein gebrochenes Bein – er fegte die Leiber der Männer und Frauen wie Puppen herum. Es war beinahe beängstigend, wie viel Kraft in so einem gewaltigen, muskulösen Löwenleib steckte.

Alistair derweil jagte durch die Menge und tat nicht mehr, als auszuweichen und dann und wann einzige Nadeln um sich zu werfen oder mit ihnen zuzustechen. Ninafer war sehr entgegenkommend gewesen und das Gift wirkte wirklich bemerkenswert schnell. Eine Nadel in der Wade, eine Nadel in der Hand, eine Nadel in den Bauch und eine Nadel im Hals. Je nach Trefferort dauerte es ein paar Sekunden, aber unweigerlich wurden sie Opfer der Paralyse. Mit der zusammengetriebenen Schützengruppe fertig, verschaffte der Greif ihm noch einiges an Deckung durch das Aufwirbeln von noch mehr Staub, Stroh und Wind, ehe er sich in die Luft erhob und mit einigen akrobatisch kunstvollen Manövern der Feste entkam. Er trat den Rückweg an, heimwärts, denn sein Part war erfüllt.

Alistair dagegen erwies sich mit seinen Nadeln auch weiterhin als sehr gefährlich – bis er die Mauern zu erstürmen versuchte und jemand ihm etwas an den Kopf hielt.

„Da sind Feuerbälle drin“, mahnte der Wächter, „Sei so gut und lass die Hände da, wo ich sie sehen kann. Hier so reinzuplatzen war eine wirklich, wirklich dumme Idee.“ Einundzwanzig der sechsunddreißig Männer waren bereits ausgeschaltet, zumindest für die nächsten Stunden. Ein Großteil des Rests war damit beschäftigt, sich um die Verletzten zu kümmern, sie vom Platz zu schaffen, auf Betten zu hieven, ihre Wunden zu versorgen. Drei Mann befassten sich damit, Alistair von Nadeln und Dolchen zu befreien und ihn ordentlich zu verschnüren.

Weshalb nach einigen Minuten dreiundzwanzig ausgeschaltet waren und man sich darauf besann, ihn einfach nur zu verschnüren.

Die Mauerwache war damit auf eine Rumpfmannschaft reduziert, zumindest vorübergehend. Die bezogen ihren Posten – und erblassten prompt gehörig.

„Scheiße… is‘ dat Thorin?“, meinte der Erste, nachdem alle drei sich sofort bei jenem Anblick hinter die Zinnen geduckt hatten.

„Warum hat’n der’n Kater? Dacht‘ immer, der sei mehr so’n Hundetyp…?“, rätselte der Zweite und sah nochmals zum Strand, um festzustellen: Ja, da stand noch immer der gerüstete Hüne, mit einem schneeweißen Kater auf dem Arm, den er kraulte.

„Ist das dein Ernst? Dich interessiert der verdammte Kater?!“, blaffte der Dritte ungläubig.

„Jo, schon?“, erwiderte der Zweite.

Noch immer ungläubig spähte der dritte Wächter wieder hervor, zum Strand. Sah den nachtschwarzen Raben auf Thorins Schulter sitzen. Sah die schier unüberschaubaren Legionen an Raben überall um ihn herum sitzen. „Der Kater…“, gab er ungläubig  von sich, „Nicht die beschissene Armee an Krähen, nein, der verdammte Kater.“

„Ick glob‘, des sin‘ Raben“, korrigierte der Erste.

„Ich komm jetzt rein, aus dem Weg!“, mahnte Thorins weithin hallende Stimme alle verbliebenen Verteidiger der Feste, die daraufhin beklommen wieder ihre Stellungen einnahmen.

„Der kommt hier nicht rein… die Zugbrücke ist oben…!“, redete sich der Dritte gut selbst zu, „Und das Tor ist zu… der kommt hier nicht rein…!“ Es gab immer wieder jene Momente, in denen man Lenikki herausforderte, oftmals unabsichtlich, und das Schicksal selbst dazu veranlasste, belehrend, mahnend, manisch grinsend über einen hereinbrechen zu lassen. Dies war einer davon.

Firie erhob sich in die Lüfte, Kommandant einer großen Heerschar. Der Rabenschwarm tat, was Ishara schon früher vollbracht hatte und sabotierte den Mechanismus der Zugbrücke. Natürlich war diese Schwäche besteigt worden – weshalb sie stattdessen hackend, kratzend, pickend, kreischend und flügelschlagend in den Hof brachen und über die armen Seelen herfielen, die die großen Räder der Zugbrücke blockiert hatten. Einer der Männer stolperte schlicht rückwärts vor dem Ansturm davon und überließ den Raben, die Blockade des Rades zu lösen. Der andere machte es ihnen noch einfacher – er versuchte sich zu verteidigen. Erst schlug er mit seinem Messer nach den Tieren, erwischte aber gefühlt einfach nichts und niemanden, während seine Hände allmählich blutig gepickt das Messer losließen. Er brauchte etwas Breiteres! Etwas Größeres! Einen Knüppel…!

Er zog das Holzstück, welches das Rad blockierte und schlug damit erfolgreich den Rabenschwarm in die Flucht. Nein, das hatte nichts damit zu tun, dass sie ihre Arbeit erledigt hatten und sich einfach zurückzogen… er hatte gewonnen. Er hatte den Schwarm im Kampf bezwungen. Während irgendwo anders ratternd und rasselnd die Ketten nachgaben und die Zugbrücke ungebremst in ihre Fassung donnerte.

Oberhalb des Tores, auf der Mauer hinter Zinnen verschanzt sitzend, begann der dritte Wächter just zu begreifen, was er mit wenigen Worten angerichtet hatte und fluchte innerlich. „Der kommt hier nicht rein“, klammerte er sich weiterhin verzweifelt an sein Mantra. Da war noch immer ein sehr massives Holztor, mit Eisenbeschlägen verstärkt, das-

Ein brachiales Krachen ertönte. Den Aufschlag hatte man in der ganzen Feste spüren können. Ein massives Rütteln, eine Erschütterung, die als Vibrieren durch den ganzen Stein zog. Dann ein brachiales Schreien, tief und kehlig und furchteinflößend. Obwohl die drei Wächter sehr überzeugt davon waren, das sie wirklich, wirklich, wirklich nicht sehen mussten, was da gerade das Tor eingerissen hatte, krochen sie doch auf dem Bauch robbend zum Vorsprung und spähten herab.

Und bereuten es.

Im Hof stand ein Höhlentroll. Ein gewaltiges Monstrum mit zwei Köpfen, das gerade ein zersplittertes Stück des eingerannten Tores aufhob und offenbar als Keule zu verwenden gedachte. Und ein Thorin stieg langsam vom Rücken des Trolls herab. Und – als wäre all das nicht ohnehin bereits schlimm genug gewesen -… im gleichen Moment brach unter Jaulen und Heulen und Kläffen und Blaffen eine ansehnliche Sippe an Hunden in den Hof, angeführt von einem Tier, das eher als zotteliges Kalb durchgehen mochte.

„Hundetyp, sag ich doch…“, nuschelte der zweite Wächter beklommen und kreidebleich.

Der Dritte richtete sich auf, blickte auf seine zwei Kameraden herab. Keiner von ihnen machte einen sonderlich kampffähigen Eindruck. Im Gegenteil, die gelbliche Lache unter Wächter Nummer eins erklärte eher, dass der Kampf für diese Beiden sehr deutlich vorbei war. Er hingegen… er gedachte nicht auf der Mauer kauernd unterzugehen, nachdem er so viel erträumt und sich hiervon erhofft hatte! Er würde für seine Träume kämpfen! Er würde dort runter gehen und-

Die vermeintliche Keule des Trolls jagte um kaum einen halben Meter an ihm vorbei. Geworfen wie ein unförmiger Speer. Nicht einmal wirklich auf ihn gezielt – glaubte er jedenfalls -, aber er hatte das Holz riechen können. Er hatte die Zugluft gespürt. Sein Blick folgte dem Geschoss zunächst, wie es mühelos über die Mauer jagte. Wie ein Hochspringer. Dann sah er zum Ursprung. Dort stand ein Troll. Ein richtiger, echter, zweiköpfiger Troll. Und starrte ihn sehr herausfordernd an. Und direkt neben ihm wischte ein Thorin Königsend gerade mit einem seiner Mitstreiter den Boden.

Wortwörtlich.

Er hatte nicht einmal gehört, wie er das Schwert fallengelassen hatte. Er erinnerte sich auch generell nicht, wann er es überhaupt gezogen hatte. Aber er griff, sich ganz langsam vorbeugend, nach der Halterung an der Wand. Oder vielmehr, der Fackel darin. Sie war nicht entzündet. Aber er musste ja nur auf der innenseitig nicht von Sinnen vor weiteren Wurfgeschossen geschützten Mauer entlang um die Ecke laufen, die Treppen herab, quer über den Hof ins Hauptgebäude, dort in den vermutlich inzwischen vor tollwütigen Hunden wimmelnden Schlafsaal, sich erinnern, welches Bett seins war, den Schlüssel aus der Tasche ziehen, die Vorratstruhe zu Füßen des Bettes aufschließen, die Zundersteine aus seinem Gepäck wühlen, einen Funken auf die Fackel geben und dann mit der entzündeten Fackel in den Hof zurückkehren, wo dann hoffentlich immer noch ein wartender Troll stand.

Spaziergang.

Und dann… beugte sich der Troll auf irgendeinen Befehl Thorins hin vor. Der nahm ihm das Halsband ab und legte ihm ein anderes an und… und plötzlich war da… da war schon wieder ein… „Ach kommt schon…“, entfuhr es ihm nahezu tonlos.

Begleitet vom streitlustigen Kreischen des Greifs fiel der dritte Mauerwächter schlicht in Ohnmacht…

 

Es begann mit einer Explosion, irgendwo hoch oben am Himmel. Bei helllichtem Tage war nicht gut auszumachen, wo genau, aber es musste weit weg sein. Dann erklangen Befehle, Geschrei, das Fauchen, Zischen und Knistern anderer Zauber. Ishara wusste, dass der Moment gekommen war. Wenn sie fliehen konnte, dann jetzt.

Genauer genommen… würde sie fliehen. Es gab kein Scheitern. Nur hatte sie in den letzten Tagen ein wenig begriffen, was hier vor sich ging. Wer diese Leute waren. Weshalb sie all das taten. Und auch, wie Maximilian, ihr Anführer, tickte. Glaubte sie jedenfalls. Also war dies offenkundig der Moment, ein paar von Ninafers anderen Lektionen zu erproben.

„Max?“, versuchte sie sich langsam seine Aufmerksamkeit zu sichern. Er war bei den ersten Geräuschen furchtbar zusammengezuckt, hatte sich rasch draußen erkundigt, was vor sich ging und lauschte seither auf die Geschehnisse. Nur langsam riss er sich von seinem Versuch los, alles zu erfahren, ohne etwas riskieren zu müssen.

„Hm?“

Ishara vermutete, dass es mit seiner Konzentrationsfähigkeit und Aufmerksamkeit nicht viel besser als das werden würde, also galt es gut, schnell und entschlossen zu handeln. Sie raffte ihren Mut, packte so viel Entschlossenheit und Bestimmtheit in ihre Stimme, wie sie nur konnte und hob an. „Das hier ging jetzt lange genug! Du weißt, wer dort draußen ist“, fuhr sie ihn an, ganz die Herzogin, „Du weißt, das ihr keine Chance gegen sie haben werdet. Lass mich frei, auf der Stelle, und ich versichere, dass ich mir euer Anliegen anhören werde. Euch wird kein Leid geschehen, das ihr nicht selbst über euch bringt und ich bin nicht die Krone, ich misshandle keine Gefangenen! Gebt auf und das alles hier kann noch glimpflicher gelöst werden als-“

Glimpflich?!“, fluchte Maximilian aufbegehrend, sichtlich angespannt und mit aufgeriebenem Nervenkostüm, „Dein Verlobter hätte den Mund halten sollen! Stattdessen taucht er hier mit einer verdammten Armee auf! Habt ihr nicht irgendwie eine Rebellion zu kämpfen?! Sind die ganzen Soldaten da nicht gefragter?! Müsst ihr keine Festung verteidigen?!“

Oh. Offenbar war er… eher hastig und lückenhaft informiert worden. Eine Armee? Nun zugegeben, Ishara spürte nicht ohne eine gewisse Freude, das Firie hier war – und das mit sehr vielen ihrer Artgenossen. Und das auch Cyron hier war. Abermals mit sehr vielen Artgenossen aus Numaths Züchtung. Sie spürte auch die sich stetig verändernde Lebenskraft Ba’als, spie spürte Alistair und Thorin, hatte ihren alten Bekannten vorhin kreischen und dann davonfliegen spüren. Doch das war nicht die Art von Armee, die Max hinter alledem vermutete. Vielleicht war das aber auch besser so? Er wäre vermutlich gekränkt und trotzig – eine sehr gefährliche Einstellung in der kommenden Situation -, hätte er erfahren, dass im Grunde nur zwei Männer und einiges an Getier seine gesamte Bande schlugen.

„Darüber haben wir schon geredet!“, begehrte sie entsprechend auf, „Es hätte unmöglich dauerhaft ein Geheimnis bleiben können, das ich weg bin!“

„Die schlachten meine Leute ab!“, kreischte Maximilian ihr regelrecht entgegen.

Nun, nein, taten sie nicht. Bisher hatte es tatsächlich keine Verluste gegeben. Einigen ging es übel, wirklich übel – aber tot war niemand und soweit sie das sehen konnte, lag auch keiner im Sterben. Doch sie bezweifelte, dass er ihr glauben würde. Gerade hier und jetzt.

„Max, es ist noch nicht zu spät…!“, mahnte sie, doch sie hatte seine Aufmerksamkeit bereits wieder verloren.

Verdammt…!

 

„Aaaaaahhhhhh…!“, schrie Gunther. Er war als Koch angeheuert worden. Als Koch. Man hatte ihm erklärt, dass es nahezu ausgeschlossen sei, dass er in Kämpfe verwickelt werde. Denn er war ja schließlich nur der Koch. Und dann war alles schiefgelaufen und jemand hatte ihm plötzlich einen Dolch in die Hand gedrückt und dieser pferdegroße Köter hatte das gesehen und falsch verstanden und obwohl er den Dolch, der wirklich nicht mal seiner war, hatte fallen lassen, rannte er jetzt die Gänge entlang, schrie sich panisch die Seele aus dem Leib und traute sich nicht einmal, zurückzuschauen, wie nah das Tier war. Er konnte ihn immer noch kläffen hören! Per Echo. Irgendwo.

Am anderen Ende des Ganges hingegen holte Thorin in weitem Schwung aus und schleuderte die Axt dem Flüchtenden hinterher. Sie traf ihn im Kreuz, kurz bevor er um die Ecke biegen konnte, verpasste ihm zusätzlichen Schwung und ließ ihn die Kurve verpassend gegen die Mauer prallen, woraufhin er ächzend zu Boden ging und ohnmächtig liegen blieb.

„Wie machst du das…?“, rätselte Alistair.

„Hm?“

„Du wolltest ihn nicht töten, richtig?“ Der Krieger nickte. „Aber du hast eine Axt geworfen.“ Der Krieger nickte. „Und du hast ihn nicht mit der Schneide getroffen, sondern mit dem stumpfen Ende.“ Der Krieger nickte. Alistair starrte ihn erwartungsvoll an und wiederholte schließlich schlicht nach einigen Augenblicken ungeduldigen Lauerns seine Frage. „Wie machst du das?!“

Thorin dagegen zuckte mit den Schultern – was in Alistairs Kopf die Frage wachrief, wie glücklich sich Gunther der Koch schätzen sollte, noch am Leben zu sein…

Sie kamen nach kurzem Marsch an einer Tür an, die sichtlich nachträglich eingebaut worden war. Das Schloss war… solide. Tatsächlich versuchte sich Alistair daran, aber Thorins ständige, ungeduldige Nachfragerei brachte ihn rasch nahezu um den Verstand. „Wird nicht schneller, wenn ich mich nicht konzentrieren kann…!“, merkte der Dieb an.

„Dann konzentrier‘ dich verdammt nochmal ordentlich!“, drängte der Kahlkopf und Alistair war sehr, sehr froh, dass sein Mitstreiter das Augenrollen nicht sehen konnte. Allerdings brachte die kurze Spitze an Wut, die Alistair piekste, ihn auf eine unterhaltsame Idee. Sorgfältig betrachtete er nochmals die Tür samt Schloss, ehe er sich halb zu Thorin umwandte.

„Weißt du, vielleicht liegt’s auch an meinen Händen. Die sind noch etwas steif von letzter Nacht.“ Das drohende Funkeln in Thorins Augen war ein gutes Indiz dafür, dass er sich auf der richtigen Spur befand, nur… wollte er wirklich nicht unter diesem Blick sitzen, ihn auf sich spüren, oder über solche Themen reden. Schon gar nicht mit Thorin. „S-Sie waren schließlich ü-überall a-an i-ihr… w-wenn du w-wüsstest, wie sie s-so ist… z-ziemlich w-wild u-und-“

Alistair hätte nicht gewusst, was er noch weiter hätte sagen sollen. Sie war wild und… ja und was eigentlich? Er gedachte ganz sicher nicht, irgendwelche tatsächlichen Informationen preiszugeben. Das ging Thorin, Vater hin oder her, einen Dreck an! Doch glücklicherweise übernahm dessen Vorstellungskraft offenkundig sehr zuverlässig und bereitwillig den notwendigen Part und trieb dem Krieger die Zornesröte ins Gesicht. Er setzte ein Stück zurück, holte Schwung und ein äußerst wuchtiger Tritt, der ihn vermutlich mit dem Brustkorb sehr schmerzhaft gegen die Tür geschmettert hätte, traf stattdessen die Tür und brach das Schloss ein Stück aus den Angeln.

Alistair hingegen richtete sich vorsichtig auf, klopfte sich die Kleidung ab, nachdem er sein Werkzeug weggesteckt hatte. „T-Tad-da…? Offen. Und zügig a-auch n-noch… sowas k-können n-nur Meisterd-diebe!“

Eine der Brauen Thorins wanderte in die Höhe, ehe er an die Tür trat und sie mit einem kräftigen Ruck seiner Schulter vollständig aufbrach. „Dünnes Eis“, mahnte er Alistair mit einer unangenehmen Ernsthaftigkeit, „Sehr dünnes Eis.“

 

Es gab offenbar ein letztes Widerstandsnest direkt vor der Tür ihres Gefangenenzimmers. Sie hörte den Kampflärm, laut und brachial. Hörte Aufschläge gegen Wände, an der Tür selbst, hörte Thorins Aufschrei. Sie hoffte inständig, dass keiner von beiden verletzt wurde. Es wäre immerhin ihretwegen gewesen. Hätte sie nur mehr auf die zwei gehört, hätte sie Alistair die verdammten Fallen einbauen lassen…

„Max, bitte hör mir zu!“, begann sie abermals, „Sie sind jeden Moment hier, du weißt das, du hörst das da draußen so gut wie ich. Du kennst Thorin nicht, nicht so wie ich. Wenn du mich bedrohst, wird er keine Gnade zeigen! Gib einfach auf, leg die Waffe weg und binde mich los, mein Angebot steht noch immer!“

„Nein“, begann der Hexer, „Ich… w-wir können noch gewinnen! Wir haben immer noch dich! Wir können noch gewinnen…“

Draußen wurde es derweil verdächtig still. Die Auseinandersetzung war heftig gewesen… aber kurz.

„Max… es gibt kein wir mehr. Deine Mitstreiter sind alle dort draußen. Es… es geht ihnen gut, ehrlich. Ich kann es spüren. Du weißt, dass ich das kann. Viele von ihnen sind verletzt, aber keiner ist tot, keiner liegt im Sterben. Bitte vertrau mir! Ich hätte fliehen können, das weißt du! Ich hätte Blitze werfen, ich hätte euch sabotieren können. Aber ich habe kooperiert, oder nicht?“

„Du kennst Thorin nicht. Du weißt nicht, was er früher schon alles getan hat…!“

Doch, das weiß ich!“, widersprach sie augenblicklich und vehement. Damit wiederum schien sie sich seine Aufmerksamkeit zu sichern. „Bitte vertrau mir. Es… es ist noch nicht zu spät…“

 

Erst gab es einen Ruck. Der war noch recht unscheinbar, hätte er nicht irgendwie fast die gesamte Wand betroffen. Dann… wurde plötzlich ein Großteil der Wand – direkt neben der Tür – einfach herausgerissen. Es war ein Bild für die Götter: Ba’al setzte das Mauerstück vorsichtig an eine andere Mauer angelehnt ab, Thorin stand die Axt kampfbereit gehoben, die Drachenschuppe auf den Arm geklemmt, für alles gewappnet bereit. Leicht hinter ihm versetzt stand Alistair, ein Schatten des Kriegers, einen Dolch in der einen Hand und einige Giftnadeln zwischen den Fingern der anderen. Neben Thorin stand Cyron, leicht gepanzert und zähnefletschend. Er gab sich – sehr erfolgreich – alle Mühe, so furchteinflößend und eindrucksvoll wie nur möglich zu wirken. Und dann war da natürlich noch Firie, die bei dieser Kampfaufstellung irgendwie einfach nicht recht ins Bild passen wollte…

 

„Hey Jungs“, grüßte Ishara mit einiger Röte in den Wangen. Noch saß sie, rieb sich die Handgelenke, während Maximilian sich hastig aufrichtete und den Dolch fallenließ, mit dem er eben noch hockend ihre Fußgelenke von den Fesseln befreit hatte.

„Aw… kein Bosskampf?“, hakte Alistair nach. Vorsichtig schüttelte Ishara den Kopf, versuchte, Reaktionen abzuschätzen. Alistair packte seinen Dolch und die Nadeln behutsam weg, Ba’al hingegen zuckte mit den Schultern, wandte sich ab und ging einfach. Cyron brauchte natürlich nur ein paar Herzschläge, um zu verstehen und zu ihr zu springen, ehe sie von ihm herzlich begrüßt wurde, und er von ihr ebenso.

Sorge bereitete ihr, wie so oft, Thorin. Der Hüne stand noch immer kampfbereit und schien abzuwägen, ob er dem letzten verbliebenen ‚Gegner‘ den Schädel einschlagen sollte oder nicht.

„Thorin?“ Er reagierte nicht. „Thorin.“ Er reagierte noch immer nicht. „Papa?“ Es war… ein bemerkenswerter Wandel. Er zuckte nicht wirklich zusammen, nichts, das so… extrovertiert gewesen wäre. Aber er löste langsam seinen Blick von Maximilian und der Entscheidung über dessen Leben oder Tod, um sie mit einer Wärme anzublicken, die man selten in seinen Augen fand. „Bitte nicht.“ Er zog die Stirn kraus und Ishara, Cyron langsam von sich drückend, stand auf. „Es geht mir gut. Alles ist gut. Er hat mir nichts getan. Als ich es wollte, bekam ich essen. Als ich es brauchte, bekam ich Kleidung. Das… es ist… es geht mir gut, es ist nichts passiert. Und… du solltest ihn anhören.“

Es gab ein überaus bedauerliches, tragikkomisches Element an den Geschehnissen dieser letzten Tage.

Maximilian war Hexer. Ein treuer und loyaler Bürger Ulthwes. Und einige seiner Brüder und Schwestern waren ihm in diesen Kampf gefolgt. Aufrechten Herzens und mit guten Absichten, aber schlechter Planung und ohne Erfahrung. Lumiél stand auf der Kippe. Die Magiefähigen streckten ihre Hände danach. Der Zirkel in gewohnter Gier, die Hexer in verzweifelter Hoffnung. Man wusste, dass die Rebellen hier mit Hexern Seite an Seite standen.

Und man glaubte sie verraten.

Denn es war so viel schwerer zu akzeptieren, das Magi des Zirkels abtrünnig werden würden, als das man das verächtliche, mordlüsterne Hexerpack verraten würde. Meister Lamerak, Herrin Tanveer und eine kleine, überschaubare Schar anderer Verbündeter – ihre bloße Präsenz in den Reihen der Rebellion hatte auf der Weltbühne offenkundig falsche Signale gesendet. Oder zumindest für einige Verwirrung gesorgt. Es hatte allerdings auch einen Grund, warum Maximilian ohne offiziellen Auftrag Adira Ibadahs hier war, der Königin Ulthwes – oder, aufgrund ihrer bereits dreißig Jahre andauernden Regentschaft in einem von Bürgerkrieg zerrütteten Land, auch die Ewige genannt.

Anders als Maximilian und seine Anhänger… hatte sich die Ewige nicht zu vorschnellen Schlüssen hinreißen lassen.

 

„So war das also?“, erkundigte sich Myron skeptisch. Ishara saß in seinem Büro. Nicht länger das kleine, muffige Zimmer voller Papiere und Unterlagen in der Kanalisation Samaras. Nein, sie – die Rebellion als Ganzes – hatten sich verbessert. Er hatte jetzt Anspruch auf ein kleines, muffiges Zimmer voller Papiere und Unterlagen in der Kreuzwegfestung. Er war zugegeben nur selten hier, meist nur zu bestimmten Anlässen…

Ishara überlegte kurz, prüfte ihre Erzählung auf Vollständigkeit und nickte dann. „Und deshalb habe ich jetzt sechsunddreißig neue Rekruten, die Mehrzahl von denen magisch befähigt, und keiner hat eine gottverdammte Ahnung, an welcher Seite man ein Schwert anfasst…?“ Wieder erwog sie kurz mögliche Antworten, bedachte sich dann eines Besseren und nickte erneut.

Myron nickte ebenfalls bedächtig.

Dann beendete Ninafer ihre Arbeiten an seinem Bein. Sie packte ihre kleine Tasche zusammen und erhob sich. Bevor sie den Raum verließ, blieb sie nochmals kurz bei Ishara stehen und legte ihr die Hand auf die Schulter. „Wir sehen uns nachher beim Tee? Ausgezeichnet! Wir haben uns ein paar lustige Sachen zu erzählen.“ Mit einem Blick zurück zu Myron setzte sie nach, „Und danke für die Ablenkung. Ich mag mir nicht vorstellen, wie es gewesen wäre, hätte er ständig herumgezappelt und sich beschwert, was nicht alles weh täte und ob das Narben ergäbe.“

Ein Grinsen huschte über das Gesicht der Halbelbe, ehe die Giftmischerin sich davon machte.

Myron hingegen betrachtete stirnrunzelnd den Verband an seinem Unterschenkel und blickte dann zu Ishara. „Die Geschichte ist gut, wirklich. Aber was ich immer noch nicht ganz verstehe…“ Unwillkürlich wurde sie hellhörig. Wenn sie noch etwas ergänzen konnte, gut. Wenn Fragen offen waren, gut. Sie würde natürlich tun, was sie konnte. Entsprechend nickte sie ihm bekräftigend zu, dass er ruhig fragen könne… und bereute die Entscheidung nur Sekunden darauf, hochrot anlaufend…

„… warum eine Drahtfalle, in meinem Arbeitszimmer…?“



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